Festschrift für Johannes Hager zum 70. Geburtstag am 09.07.2021 [1 ed.] 9783428580620, 9783428180622

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Festschrift für Johannes Hager zum 70. Geburtstag am 09.07.2021 [1 ed.]
 9783428580620, 9783428180622

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Festschrift für Johannes Hager zum 70. Geburtstag am 09. 07. 2021

Herausgegeben von

Timo Fest und Christian Gomille

Duncker & Humblot . Berlin

TIMO FEST und CHRISTIAN GOMILLE (Hrsg.)

Festschrift für Johannes Hager zum 70. Geburtstag am 09. 07. 2021

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 536

Festschrift für Johannes Hager zum 70. Geburtstag am 09. 07. 2021

Herausgegeben von

Timo Fest und Christian Gomille

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: medialis Offsetdruck GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-18062-2 (Print) ISBN 978-3-428-58062-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Johannes Hager wuchs in der Münchener Au auf und besuchte das humanistische Wilhelmsgymnasium im nahegelegenen Stadtteil Lehel. Nach dem Abitur 1970 blieb er seiner Heimatstadt zunächst treu und begann an der Ludwig-Maximilians-Universität das Studium der Volkswirtschaftslehre. Offenbar konnte er sich für die Zusammenhänge bei der Erzeugung und Verteilung von Gütern und Produktionsfaktoren jedoch nicht nachhaltig begeistern und studierte ab 1971 zusätzlich Rechtswissenschaft. Seine beiden Staatsexamina legte er (selbstverständlich mit herausragendem Erfolg) 1975 und 1978 jeweils am Prüfungsstandort München ab. Unmittelbar im Anschluss an das Assessorexamen wurde Johannes Hager wissenschaftlicher Assistent von Claus-Wilhelm Canaris, was er bis zu seiner Habilitation 1988 auch blieb. Kennengelernt hatten beide einander bereits einige Jahre zuvor, als Johannes Hager seinen späteren akademischen Lehrer am Rande von dessen Methodenlehre-Vorlesung um ein Gutachten für ein Stipendium der Hundhammer-Stiftung bat. An die Assistentenzeit in München schlossen sich Lehrstuhlvertretungen in Erlangen, Gießen und Heidelberg an. 1989 folgte Johannes Hager einem Ruf auf den Lehrstuhl für Privatrecht an der neu gegründeten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und wurde damit zum ersten Ingolstädter Rechtsprofessor seit 189 Jahren. Einen gleichzeitig ergangenen Ruf an die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg lehnte er ab. Die Erfahrungen aus drei Jahren erfolgreicher Aufbauarbeit in Ingolstadt waren ihm gewiss nützlich, als er 1991 an die wieder gegründete Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin berufen wurde und dort 1992 den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Handelsrecht, Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht übernahm. Das Leben und Lehren in der im Um- und Aufbruch befindlichen Bundeshauptstadt mag zuweilen herausfordernd gewesen sein, bot aber zugleich enorme Gestaltungsmöglichkeiten, die der Jubilar gern ergriff. Unter anderem wirkte er auch als Dekan an der stetigen Weiterentwicklung der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität mit und engagierte sich im Vorstand der Juristischen Gesellschaft zu Berlin. Insgesamt wurde er, woran seine Familie gewiss ihren Anteil hatte, in der ehemaligen preußischen Hauptstadt sehr viel heimischer als man es von einem Bayern gemeinhin erwartet. Dementsprechend ist es jedenfalls in der Rückschau auch nicht allzu überraschend, dass 1997 die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit dem Versuch scheiterte, Johannes Hager für ihre Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät zu gewinnen. Berlin war er letztlich nur für eine Stadt bereit aufzugeben, nämlich für seine alte Heimat München. 2002 kehrte er dorthin zurück, um an der Ludwig-Maximilians-Universität Professor für Bürgerliches Recht und Medienrecht zu werden. Diesen Lehrstuhl hatte er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2016 inne.

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Vorwort

Trotz mancher Warnung, er werde damit am Markt vorbei schreiben, hat Johannes Hager seine beiden Qualifikationsarbeiten zu zentralen Themen des bürgerlichen Rechts verfasst. Tatsächlich zeigte sich bereits zu dieser Zeit ein Trend zu einer stetig voranschreitenden Spezialisierung jenseits der ersten drei Bücher des BGB. Mit seiner klassischen und doch ungewöhnlichen Schwerpunktsetzung war Johannes Hager damit in gewisser Weise ein Exot unter den Civilisten. Dennoch, oder gerade deshalb, entwickelte er in Verbindung mit seinem konsequent verfolgten rechtsdogmatischen Ansatz ein Profil, mit dem er während seiner gesamten Karriere ein von hochrangigen Universitäten umworbener Wissenschaftler war. In seinem Œuvre zeigt sich seine große Begeisterung für die präzise Analyse des geltenden Rechts sowie für die Rückführung vermeintlich neuer Phänomene auf bekannte Strukturen und deren sachgerechte Erfassung mit bewährten rechtlichen Konstruktionen. Wer diese für Johannes Hager typische Herangehensweise an juristische Problemstellungen einmal exemplarisch nachvollziehen möchte, dem sei insbesondere der Beitrag über „Die Versteigerung im Internet“ (JZ 2001, 786 ff.) zur Lektüre empfohlen. Hier kann man lernen, dass auch manche Auktion des 19. Jahrhunderts strukturell nicht wesentlich anders ablief als heutzutage die Auktionen bei eBay & Co. Bei aller Begeisterung für das reine Zivilrecht zählt aber auch dessen Stellung innerhalb der Gesamtrechtsordnung zu den Themen, die Johannes Hagers Arbeit von jeher prägen. So bildet die verfassungskonforme Auslegung von Normen den gedanklichen Ausgangspunkt für die Thesen, welche er im Rahmen seiner Dissertation zu der „Gesetzes- und sittenkonformen Auslegung und Aufrechterhaltung von Rechtsgeschäften“ aufstellte. Auch in seiner Habilitationsschrift über den „Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb“ widmete er dem Einfluss von Art. 14 GG auf die entsprechenden Bestimmungen des einfachen Rechts ein eigenes Kapitel. In seiner Berliner Antrittsvorlesung erörterte er eingehend, weshalb er die Grundrechte im Privatrecht für unmittelbar wirksam hält und welche Folgerungen sich daraus ergeben. Dieser Gedanke von der unmittelbaren Geltung der Grundrechte im Privatrecht durchdringt schließlich auch seine zahlreichen Schriften zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht einschließlich seiner Kommentierung des § 823 BGB im Staudinger. Seine Habilitationsschrift zum Sachenrecht und sein auch darüber hinaus ausgeprägtes Interesse an Fragestellungen aus allen fünf Büchern des BGB lassen es fast zwangsläufig erscheinen, dass Johannes Hager früher oder später in engen Kontakt und wissenschaftlichen Austausch mit dem Berufsstand der Notare und dessen hervorragenden Vertretern kommen sollte. Erste Impulse zur Gründung eines notarrechtlichen Instituts unter Beteiligung von Johannes Hager gab es bereits gegen Ende seiner Zeit in Berlin. Zwar wechselte er nach München, noch bevor dieses Projekt realisiert werden konnte. Der Kontakt zu den Notaren war aber hergestellt und so dauerte es nicht lange, bis auf Initiative von Rainer Kanzleiter (damals Vorstand des Deutschen Notarvereins), Ulrich Bracker (damals Präsident der Landesnotarkammer Bayern), Hans Wolfsteiner (damals Präsident des Bayerischen Notarvereins) und Johannes Hager an der Ludwig-Maximilians-Universität die Forschungsstelle für Notarrecht gegründet wurde, die Johannes Hager als geschäftsführender Direktor bis zu

Vorwort

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seiner Pensionierung mit großem Engagement und Erfolg leitete und für die er nach wie vor tätig ist. Resultate der Arbeit in der Forschungsstelle sind u. a. die im Nomos Verlag erscheinende Reihe „Schriften zum Notarrecht“, die bislang 54 Einzeltitel umfasst, sowie der seit 2011 regelmäßig in der NJW erscheinende Bericht über die „Entwicklung des Notarrechts“, den Johannes Hager von Anfang an federführend verfasst. Als akademischer Lehrer betrachtete Johannes Hager seine Schüler stets als Gesprächspartner auf Augenhöhe, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um Habilitanden, Doktoranden, Mitarbeiter des Lehrstuhls oder Studenten handelte. Nicht selten etwa eilte er montagmorgens in unsere Büros, um mit uns über ein uns bis dahin völlig unbekanntes Problem zu diskutieren, welches er bereits das gesamte Wochenende über im Kopf gewälzt hatte. Es schmeichelte uns natürlich, dass er uns offenbar zutraute, das Problem sofort zu begreifen und gemeinsam mit ihm ad hoc den zündenden Gedanken zu entwickeln. Unsere Beiträge mögen zwar in einigen wenigen dieser Situationen hinter den vermeintlichen Erwartungen zurückgeblieben sein. Gelernt haben wir dabei aber dennoch etwas nicht nur für den akademischen Diskurs außerordentlich Wichtiges, nämlich dass man sich auf überraschende Situationen und unerwartete Fragen mitunter rasch einstellen muss. In Johannes Hagers Seminaren offenbarten sich den Teilnehmern zuweilen ganz ähnliche Überraschungen. Immer wieder kam es vor, dass ein Teilnehmer des Professors Meinung zu dem von ihm zu bearbeitenden Seminarthema gründlich recherchiert hatte, diese in seinem Referat sodann als richtig und absolut vorzugswürdig vortrug und für die anschließende Aussprache nichts weiter erwartete als lobende Worte. Hier war das Erstaunen groß, wenn Johannes Hager kurzerhand in die Rolle seiner eigenen Kritiker schlüpfte und der Referent nun vor der unvorhergesehenen Aufgabe stand, des Professors Thesen gegen diesen selbst verteidigen zu müssen. Manche waren nach derlei Diskussionen reichlich konsterniert und wohl der Meinung, irgendetwas ganz schrecklich falsch gemacht zu haben. Gesteigert wurde die Verwirrung der Betroffenen nur dadurch, dass sie zum Abschluss des Seminars wegen ihrer vom Inhalt unabhängigen, methodisch sauberen Leistung eine gute Note mitgeteilt bekamen. Zum Berufsbild des Universitätsprofessors gehört neben der Forschung, der Lehre, dem Prüfungswesen und der Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung noch der besonders schöne Aspekt des internationalen Austauschs. Seine in dieser Hinsicht regelmäßig entfalteten Aktivitäten führten Johannes Hager in den letzten Jahren mit wechselnden Studentengruppen zu Seminarreisen auf die Insel San Servolo in der Lagune von Venedig, wohin wir Herausgeber zu unseren Mitarbeiterzeiten ihn mehrfach begleiten durften, sowie zu Forschungs- und Vortragsreisen nach Japan, Korea und China, wohin er jedoch lieber mit seiner Familie als mit seinen Mitarbeitern flog. Johannes Hager wird am 9. Juli 2021 siebzig Jahre alt. Wir Herausgeber freuen uns außerordentlich, dass so zahlreiche seiner Kollegen und Weggefährten, von denen viele im Laufe der Jahre zu Freunden geworden sind, ihm mit dieser Festschrift

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Vorwort

zu seinem Geburtstag gratulieren. Wir wünschen ihm alles Gute und noch viele gesunde und fröhliche Jahre mit seiner Frau Christine und seinen Töchtern Sophia und Theresa. Wir danken allen, die an der Entstehung dieses Geburtstagsgeschenks mitgewirkt haben, sehr herzlich für ihr Engagement und ihre Beiträge. Darüber hinaus gebührt besonderer Dank der Forschungsstelle für Notarrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ohne deren äußerst großzügige Unterstützung dieses Werk nicht hätte entstehen können. Wir freuen uns sehr, wenn es zugleich als ein weiterführender Beitrag zum Notarrecht angesehen wird. Kiel und Saarbrücken, April 2021

Timo Fest und Christian Gomille

Inhaltsverzeichnis

I. Grundfragen und Allgemeiner Teil Helmut Köhler Notariell beurkundete Rechtsgeschäfte demenzkranker Personen . . . . . . . . . . . .

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Dirk Looschelders Schutz des Geschädigten durch Versicherungspflichten bei Amtspflichtverletzungen von Notaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Peres Das Verhältnis von empirischer zu normativer Auslegung in der Rechtsprechung

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Jens Petersen Kants Idee eines Weltbürgerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Riehm Totgesagte leben länger? 20 Jahre elektronische Form im BGB . . . . . . . . . . . . .

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Rudolf Streinz Notarrecht als Prüfungsgegenstand des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Geschichte des Notariats Masahisa Deguchi Die Rolle des Notars als vorsorgender Rechtspfleger in Japan . . . . . . . . . . . . . . 113 Hans-Georg Hermann und Georg Suppé Priesteranwesenheit bei Testamentserrichtung: Kurzbilanz eines Paradigmenwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Susanne Lepsius Notare als Rückgrat der Justiz im kommunalen Italien (12. – 15. Jh.) . . . . . . . . . 147 Johannes Platschek Juristen und Formulare in Cicero, Pro Murena 28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

III. Grundstücksrecht und Wohnungseigentum Dagmar Coester-Waltjen und Michael Coester Ausländische Notare beim Erwerb eines in Deutschland belegenen Grundstücks 181

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Inhaltsverzeichnis

Rainer Kanzleiter und Thomas Lemcke Zur Beurkundungsbedürftigkeit späterer Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Winfried Kössinger Die Wirksamkeit der Zustimmung nach § 5 ErbbauRG und § 12 WEG . . . . . . . 205 Klaus Vieweg Nachbarschaftsregelnde Dienstbarkeiten – Problemanalyse und Anregungen für die notarielle Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Volkert Vorwerk Teilung eines bebauten Grundstücks – worüber ist zu belehren? . . . . . . . . . . . . . 237 Markus Würdinger Vertragsfreiheit und Verteilung der Maklerkosten beim Immobilienkauf . . . . . . 243

IV. Familien- und Erbrecht Makoto Arai Freiwillige Vormundschaft (Vorsorgevollmacht) und Notariatspraxis in Japan . . 259 Anatol Dutta Ausländische „Schwarzgeld“-Stiftung und Rechtsnachfolge von Todes wegen nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Christian Gomille Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht im Erbgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Johannes Hecht Die Sittenwidrigkeit anspruchserweiternder Eheverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Hannes Ludyga Erbfähigkeit und post-mortem-Befruchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Herbert Roth Die richterrechtliche Ausformung des notariellen Nachlassverzeichnisses (§ 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB) als Beispiel einer missglückten Rechtsfortbildung 339

V. Wirtschafts- und Unternehmensrecht Timo Fest Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Eigentumsgarantie für die Ausgestaltung des Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Barbara Grunewald Die Auswirkungen der geplanten Neuregelung für Beschlussfassung und Beschlussmängel bei Personenhandelsgesellschaften auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Partnerschaftsgesellschaft und den Verein . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Inhaltsverzeichnis

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Mathias Habersack Wertpapiergeschäfte zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades) . . . . . . . . . . . 381 Michael Martinek Der Vertragszulieferer als Pendant zum Vertragshändler. Eine Untersuchung zur geschäftsbesorgungsvertraglichen Rechtsnatur von Kfz-Zulieferverträgen . . . . . 399 Leo Schuster Bankpolitik in Zeiten der Corona-Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Christine Windbichler Der Notar im kollektiven Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

VI. Prozessrecht und Rechtsdurchsetzung Wolfgang Hau Zur Widerruflichkeit außergerichtlicher und gerichtlicher Feststellungsverträge 453 Peter Kindler Der Beitrag des Schadensrechts zum Schutz der Gerichtsstandsvereinbarung (BGH III ZR 42/19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Christoph G. Paulus Über den Rückgang der Zivilprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Walter Seitz Notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärungen im Äußerungsrecht. Eine Aufforderung zur Emanzipation des Äußerungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Wolf-Dietrich Walker Sportschiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

VII. Varia Reinhard Singer Die Grundrechte in den Zeiten von Corona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Andreas Spickhoff Zur möglichen Verpflichtung von medizinischem und in der Pflege tätigem Personal zu Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539

Verzeichnisse Dissertationen und Habilitationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Schriftenverzeichnis des Jubilars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

I. Grundfragen und Allgemeiner Teil

Notariell beurkundete Rechtsgeschäfte demenzkranker Personen Von Helmut Köhler

I. Einführung Nicht selten werden Notare von Angehörigen demenzkranker Personen gebeten, Vorsorgevollmachten, Testamente1 oder Erbverträge dieser Personen zu beurkunden. Beurkundet der Notar derartige Rechtsgeschäfte, stellt sich die Frage, ob sie wegen Geschäftsunfähigkeit dieser Personen nach § 105 Abs. 1 BGB nichtig sind und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben.2 Die nachfolgende Untersuchung ist Johannes Hager in kollegialer und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet.

II. Demenzerkrankung als gesellschaftliches, medizinisches und juristisches Problem Demenzerkrankung ist weltweit zu einem gesellschaftlichen Problem geworden. Allein in Deutschland sollen etwa 1,7 Millionen Menschen an Demenz (demenzielles Syndrom) erkrankt sein (Stand 2018), Tendenz steigend aufgrund der euphemistisch sog. „demografischen Entwicklung“. Es handelt sich dabei um eine Erkrankung des Gehirns, die zu Störungen von Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen führen kann. Dabei werden in der medizinischen Literatur gewöhnlich drei Stadien des Schweregrads der Demenz unterschieden. Ein frühes Stadium (u. a. Störungen des Kurzzeitgedächtnisses); ein mittleres Stadium (Schwierigkeiten bei den Aufgaben des Alltags) und ein spätes Stadium (Gravierende Einschränkungen der Sprache, Angehörige werden nicht mehr erkannt, Betroffene sind in allen Bereichen auf Hilfe angewiesen). Doch ist jeder Krankheitsverlauf individuell verschieden und die einzelnen Stadien sind nur schwer abgrenzbar. Jedoch besteht Einigkeit darüber, dass die Einschränkungen im Lauf der Zeit immer gravierender werden.3 1

Vgl. dazu die §§ 2231, 2232 BGB. Zur Geschäfts- und Testierfähigkeit von Demenzkranken vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Schmöckel, NJW 2016, 433. 3 Zu Einzelheiten vgl. auch die Angaben bei Schmöckel, NJW 2016, 433. 2

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Helmut Köhler

Die ärztliche Beschreibung des Zustandes einer Person, etwa in einem Sachverständigengutachten im Rahmen eines Prozesses, ist aber von der rechtlichen Beurteilung dieser Person im Hinblick auf ihre Geschäftsunfähigkeit zu unterscheiden. Denn die Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Ziff. 2 BGB ist kein medizinischer Befund, sondern ein Rechtsbegriff, dessen Voraussetzungen ein Gericht unter kritischer Würdigung eines solchen Gutachtens festzustellen hat.4 Aussagen eines ärztlichen Sachverständigen im Hinblick auf die Geschäfts(un)fähigkeit einer Person sind daher für das Gericht nicht bindend, zumal dann nicht, wenn das Gutachten von falschen tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder Widersprüche aufweist5 oder eine unrichtige oder unzureichende Vorstellung von der rechtlichen Bedeutung der Definition der Geschäftsunfähigkeit und ihrer Auslegung durch die Gerichte hat.6

III. Feststellung der Geschäftsunfähigkeit von Demenzkranken durch den Notar Eine erste Frage ist, ob es Aufgabe des Notars ist, vor der Beurkundung die Geschäftsfähigkeit einer Person, die möglicherweise an Demenz erkrankt ist, zu prüfen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BeurkG soll die Beurkundung abgelehnt werden, wenn einem Beteiligten nach der Überzeugung des Notars die erforderliche Geschäftsfähigkeit fehlt, und nach § 11 Abs. 1 Satz 2 BeurkG soll der Notar in der Niederschrift Zweifel an der erforderlichen Geschäftsfähigkeit feststellen. Ergänzend heißt es in § 11 Abs. 2 BeurkG, dass bei einer schweren Krankheit eines Beteiligten dies in der Niederschrift vermerkt und angegeben werden, welche Feststellungen der Notar über die Geschäftsfähigkeit getroffen hat. Bemerkenswert dabei ist, dass es sich um Sollvorschriften und keine zwingenden Vorschriften handelt. Da der Notar bei Beurkundung in Ausübung eines Amts handelt, bedeutet dies, dass er nur ausnahmsweise, also in atypischen Situationen davon abweichen darf. Das Problem bei § 11 Abs. 1 BeurkG ist, dass es auf die Überzeugung des Notars ankommt, die falsch oder richtig sein kann. Um sich eine Überzeugung bilden zu können, muss er entsprechende Fakten, wie etwa das äußere Erscheinungsbild und das Verhalten der Person, die Antworten auf bestimmte Fragen und ggf. die Wahrnehmungen Dritter, einschließlich etwaiger ärztlicher Gutachten prüfen und dazu entsprechende Feststellungen treffen, wie sich indirekt aus § 11 Abs. 2 BeurkG ergibt. Ergänzt wird dies durch die spezielle Regelung in § 28 BeurkG. Danach soll der Notar seine Wahrnehmungen über die erforderliche Geschäftsfähigkeit des Erblassers in der Niederschrift vermerken. 4

Vgl. BGH, NJW 2021, 63 Rn. 18. Vgl. BGH, NJW 1999, 1778 (1799 m. w. N.). 6 Vgl. BGH, NJW 2021, 63 Rn. 21. 5

Notariell beurkundete Rechtsgeschäfte demenzkranker Personen

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Der Notar muss sich bei der Bildung seiner Überzeugung an der gesetzlichen Regelung der Geschäftsunfähigkeit in § 104 Ziff. 2 BGB orientieren. Danach ist geschäftsunfähig, „wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.“ Einen Sachverhalt wie den der Demenzerkrankung unter diese Vorschrift zu subsumieren, ist allerdings schwierig, weil es – wie ausgeführt – leichte, mittelschwere und schwere Stadien dieser Erkrankung gibt.

IV. Zur Auslegung des § 104 Ziff. 2 BGB 1. Beweislast Nach ganz h. M.7 ist Geschäftsfähigkeit die Regel, ihr Fehlen die Ausnahme. Dementsprechend hat derjenige, der sich auf Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Ziff. 2 BGB beruft, ihre Voraussetzungen darzulegen und zu beweisen. Dies gilt nach der Rspr. des BGH und anderer Gerichte8 auch für die Nichtigkeit einer Vorsorgevollmacht.9 Das bedeutet, dass bloße Zweifel am Vorliegen der Geschäftsfähigkeit im Sinne eines Verdachts nicht ausreichen, um auf eine Geschäftsunfähigkeit schließen zu lassen. Dies gilt auch für die Feststellung der Geschäftsunfähigkeit durch das Gericht von Amts wegen gem. § 26 FamFG.10 2. Partielle und relative Geschäftsunfähigkeit Gerade im Zusammenhang mit der Beurteilung der Geschäftsunfähigkeit von Demenzkranken spielt die Frage einer partiellen und einer davon zu unterscheidenden relativen Geschäftsunfähigkeit eine Rolle. Hierzu hat die Rspr. folgende Grundsätze aufgestellt: a) Partielle Geschäftsunfähigkeit und partielle Geschäftsfähigkeit Eine sonst bestehende Geschäftsfähigkeit kann für einen gegenständlich beschränkten Kreis von Angelegenheiten ausgeschlossen sein (sog. partielle Geschäftsunfähigkeit). Das ist der Fall, wenn es der betreffenden Person infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit nicht möglich ist, in diesem Lebensbereich ihren Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Störung zu bilden oder nach einer zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln, während das für andere Lebensbereiche 7

Vgl. Palandt/Ellenberger, 80. Aufl. 2021, BGB § 104 Rn. 8 m. w. N. Vgl. OLG München, DNotZ 2011, 43. 9 Vgl. BGH, NJW 2016, 1514 Rn. 11; BGH, NJW-RR 2017, 1411 Rn. 9 m. w. N.; BGH, NJW 2021, 63 Leitsatz 1 und Rn. 13. 10 Dazu BGH, NJW 2016, 1514 Rn. 19. 8

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Helmut Köhler

nicht zutrifft.11 Umgekehrt kann auch trotz erheblicher Zweifel an der Geschäftsfähigkeit eine „partielle Geschäftsfähigkeit“12 beispielsweise für die Eheschließung (§ 1304 BGB)13 oder für die Erteilung einer Vorsorgevollmacht14 zu bejahen sein. b) Relative Geschäftsunfähigkeit Im Gegensatz dazu gibt es nach der Rspr.15 keine „auf besonders schwierige Geschäfte“ beschränkte partielle Geschäftsunfähigkeit (sog. relative Geschäftsunfähigkeit). Dies würde nämlich zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten und unerträglicher Rechtsunsicherheit führen.16 3. Anwendung dieser Unterscheidung auf demenzkranke Personen Bezogen auf Demenzerkrankungen bedeutet diese Unterscheidung, dass vermutlich eine partielle Geschäftsunfähigkeit ausscheidet, ebenso eine Verneinung der Geschäftsfähigkeit in Bezug auf besonders schwierige Geschäfte. Entscheidend muss hier sein, ob die krankhafte Störung der Geistestätigkeit so weit reicht, dass die Person in Bezug auf das konkrete Rechtsgeschäft ihren Willen nicht mehr frei und unbeeinflusst von dieser Störung bilden oder nach einer gewonnenen Einsicht handeln kann. Diese Grenze dürfte bei einer Vorsorge- bzw. Generalvollmacht dann noch nicht überschritten sein, wenn die Person das Wesen dieser Erklärung erkennt und diese in Ausübung freier Willensentschließung abgibt. Es reicht aus, dass der Vollmachtgeber erkennt, dass ein Dritter für ihn alles erledigen soll, was für ihn wichtig und in seinem Interesse ist, auch wenn er die Details einer solchen Vollmacht nicht im Einzelnen versteht oder sich dafür nicht interessiert und er nicht einem fremden Willenseinfluss unterliegt. Ein Schutz des damit verbundenen Vertrauens in den Bevollmächtigten wird durch die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht und die Möglichkeit der Bestellung eines Betreuers mit entsprechenden Vollmachten gewährleistet. Darauf ist noch zurückzukommen. Liegen aus medizinischer Sicht leichte bis mittlere Störungen der kognitiven Fähigkeiten vor, dürfte daher zumeist die Geschäftsfähigkeit noch zu bejahen sein, wobei es allerdings auf den individuellen Zustand der betroffenen Person ankommt. Jedoch ist dabei stets zu beachten, dass die Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Ziff. 2 BGB kein medizinischer Befund, sondern ein Rechtsbegriff ist, dessen Voraussetzungen das Gericht unter kritischer Würdigung von medizinischen Sachverständi11 BGH, NJW 2021, 63 Rn. 20. Klassisches Beispiel dafür ist für Fragen der Ehe die krankhafte Eifersucht (BGHZ 18, 184). 12 Dazu BGH, NJW 2021, 63 Rn. 21. 13 BayObLG, FGPrax 2003, 322; BVerfG NJW 2003, 1382. 14 OLG München, NJW-RR 2009, 1599; BGH NJW 2021, 63 Rn. 20. 15 Vgl. BGH, NJW 1953, 1342; BGH, NJW 1970, 1680 (1681) m. w. N. 16 Palandt/Ellenberger, 80. Aufl. 2021, BGB § 104 Rn. 8 aE.

Notariell beurkundete Rechtsgeschäfte demenzkranker Personen

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gengutachten festzustellen hat.17 Dabei hat das Gericht auch bei demenzkranken Personen die Möglichkeit eines „lichten Augenblicks“ (lucidum intervallum) im Zeitpunkt der Beurkundung zu berücksichtigen.

V. Nachträgliche Überprüfung der Geschäftsfähigkeit 1. Das Problem Ein Problem entsteht insbesondere dann, wenn der Notar trotz Zweifel an der Geschäftsfähigkeit einer am Rechtsgeschäft beteiligen demenzkranken Person die begehrte Beurkundung vornimmt, es später aber zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Rechtsstreit kommt, weil ein Dritter die Geschäftsfähigkeit dieser Person im Zeitpunkt der Beurkundung bestreitet und die Nichtigkeit des betreffenden Rechtsgeschäfts behauptet. Dieser Fall kann beispielsweise bei einer beurkundeten General- oder Vorsorgevollmacht eintreten, wenn später für die demenzkranke Person ein Betreuer bestellt wird, in der Zwischenzeit aber der Bevollmächtigte Grundstücke im Namen dieser Person verkauft und übereignet oder Abbuchungen von deren Bankkonto vornimmt, der Betreuer aber die Notwendigkeit dieser Maßnahmen bezweifelt. In diesem Fall dürfte es nur ausnahmsweise möglich sein, die Geschäftsunfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit der Person noch längere Zeit nach der Beurkundung gleichsam rückwirkend festzustellen. Denn bei Demenzerkrankung ist davon auszugehen, dass die geistigen Störungen im Lauf der Zeit zugenommen haben, so dass ihr jetziger Zustand keine Rückschlüsse auf den früheren Zustand zulässt.18 2. Nachträglicher Beweis der Geschäftsunfähigkeit durch „Anerkenntnis“? Diese Fragestellung erscheint eigenartig, kommt aber in der notariellen Praxis vor, so dass darauf einzugehen ist. In einem Vertrag über einen „Zuwendungsverzicht“, betreffend einen Erbvertrag wurde beispielsweise ein „Anerkenntnis der Unwirksamkeit“ mit folgendem Inhalt beurkundet: „X anerkennt die Rechtsauffassung der Betreuer, dass am [Datum] bei Y keine Geschäftsfähigkeit mehr vorlag. Der Erbvertrag zur Urkunde … vom [gleiches Datum] ist daher insgesamt unwirksam“. Hier ist zunächst klarzustellen, dass die Frage der Geschäftsunfähigkeit einer Person nicht zur Disposition Dritter steht und ein Anerkenntnis eines Dritten daher keinerlei Beweiswert für das tatsächliche Vorliegen einer Geschäftsunfähigkeit in einem Rechtsstreit hat. Ein prozessuales Anerkenntnis i. S. des § 307 Satz 1 ZPO ist es nicht, weil diese Vorschrift voraussetzt, dass eine Partei in einem Zivilprozess einen gegen sie geltend gemachten (prozessualen) Anspruch einseitig anerkennt. 17 18

Vgl. BGH, NJW 2021, 63 Rn. 18. Vgl. BGH, NJW 2021, 63 Rn. 25.

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Helmut Köhler

Ebenso wenig handelt es sich um ein Anerkenntnis i. S. des § 781 BGB, weil es sich auch nicht um das Anerkenntnis eines Schuldverhältnisses handelt. Denkbar wäre allenfalls, dass es sich um ein pactum de non petendo handelt, das aufgrund der Vertragsfreiheit grundsätzlich zulässig ist. Jedoch wäre eine Vereinbarung dieses Inhalts nach § 134 BGB nichtig, weil sie das Grundrecht der betroffenen Person auf Selbstbestimmung, insbesondere auf Testier- und Vertragsfreiheit verletzt, und dieses Grundrecht mittelbare Drittwirkung auf das Vertragsrecht hat.19

VI. Zur Bestellung eines Betreuers trotz Wirksamkeit einer Vorsorgevollmacht Nach § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB kann das Betreuungsgericht für einen Volljährigen einen Betreuer bestellen, wenn er auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Allerdings darf nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Betreuer nur für Aufgabenbereiche bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Eine Betreuung ist nach Satz 2 dieses Absatzes jedoch nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten […] ebenso gut wie durch den Betreuer besorgt werden können. In diesem Zusammenhang sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. Einmal der Fall, dass die Erteilung der Vorsorgevollmacht wegen Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers nichtig war. In diesem Fall gilt § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB uneingeschränkt, so dass eine Betreuung zulässig ist. Was aber soll gelten, wenn sich die Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers nicht positiv feststellen lässt und daher eine Geschäftsfähigkeit nur zu vermuten ist? Hierzu hat der BGH20 in Abkehr von seiner früheren Rspr.21 entschieden, dass Zweifel an einer wirksamen Bevollmächtigung nur dann zur Erforderlichkeit einer Betreuung führen, wenn die Akzeptanz der Vollmacht im Rechtsverkehr eingeschränkt ist. Das ist der Fall, wenn Dritte die Vollmacht unter Berufung auf diese Bedenken zurückgewiesen haben oder weil Entsprechendes konkret zu besorgen ist. Auf letztere Fallgestaltung ist wegen ihrer praktischen Bedeutung gesondert einzugehen.

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Vgl. Palandt/Ellenberger, 80. Aufl. 2021, BGB § 134 Rn. 4. BGH, NJW 2016, 1514 Rn. 12 m. w. N. 21 BGH, NJW 2011, 285 Rn. 11; BGH, NJW 2016, 159 Rn. 27. 20

Notariell beurkundete Rechtsgeschäfte demenzkranker Personen

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VII. Pflichten des Betreuers im Falle von Zweifeln an der Geschäftsfähigkeit des Betreuten bei Erteilung einer Vorsorgevollmacht 1. Überblick Nach § 1896 Abs. 3 BGB kann als Aufgabenbereich des Betreuers auch die Geltendmachung von Rechten des Betreuten gegenüber seinem Bevollmächtigten bestimmt werden (sog. Vollmachtsüberwachungs- oder Kontrollbetreuung). Zu diesen Rechten gehören insbesondere Ansprüche auf Auskunft und Rechenschaft (§ 666 BGB), Herausgabe des Erlangten (§ 667 BGB) und auf Schadensersatz wegen Pflichtverletzung.22 Nach § 1833 Abs. 1 Satz 1 i. V. mit § 1908i Abs. 2 BGB ist der Betreuer dem Betreuten gegenüber dem Betreuten für den aus einer Pflichtverletzung entstehenden Schaden verantwortlich, wenn ihm ein Verschulden zur Last fällt. 2. Anwendung dieser Vorschriften auf Missbräuche der Vorsorgevollmacht Praktische Bedeutung können diese Vorschriften insbesondere dann erlangen, wenn der Bevollmächtigte seine Vollmacht dazu missbraucht, sich persönliche Vorteile zu verschaffen, etwa Gegenstände des Betreuten in seinem Namen zu veräußern und den Erlös für sich zu behalten oder Überweisungen vom Bankkonto des Betreuten zur Tilgung eigener Verbindlichkeiten vorzunehmen. Insoweit stellt sich zum einen die Frage, welche Ansprüche dem Betreuten gegen den Bevollmächtigten zustehen, zum anderen die Frage, welche Pflichten den Betreuer bei der Durchsetzung etwaiger Schadensersatzansprüche des Betreuten treffen. Denn für schuldhafte Pflichtverletzungen kann er nach den §§ 1833 Abs. 1, 1908i Abs. 1 BGB dem Betreuten haftbar sein. a) Ansprüche des Betreuten gegen den von ihm Bevollmächtigten Kann die Unwirksamkeit einer Vorsorgevollmacht wegen Geschäftsunfähigkeit nicht positiv festgestellt werden, verbleibt es nach der erwähnten neueren Rspr. bei der wirksamen Bevollmächtigung. Jedoch sind die vom Bevollmächtigten getätigten Rechtsgeschäfte nach den Grundsätzen über den Missbrauch der Vertretungsmacht zu beurteilen. Danach trägt der vertretene Betreute grundsätzlich das Risiko des Missbrauchs, das Rechtsgeschäft ist also wirksam, jedoch hat der Betreute gegen den Bevollmächtigten einen Anspruch auf Schadensersatz aufgrund einer schuldhaften Verletzung seiner Pflichten aus dem Innenverhältnis nach § 280 BGB. Anders verhält es sich, wenn der Geschäftsgegner weiß, dass der Bevollmächtigte von der Vollmacht einen objektiv pflichtwidrigen Gebrauch macht oder wenn der Miss22

Vgl. Palandt/Götz, 80. Aufl. 2021, BGB § 1896 Rn. 23.

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brauch für ihn ohne weiteres erkennbar war (objektive Evidenz des Missbrauchs). Das ist anzunehmen, wenn der Vertreter von seiner Vollmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch gemacht hat, so dass beim Geschäftsgegner begründete Zweifel entstehen mussten, ob nicht ein Treueverstoß des Vertreters gegenüber dem Vertretenen vorliegt.23 In diesem Fall gelten die §§ 177 ff. BGB analog.24 Die Wirksamkeit des Vertrags für und gegen den Vertretenen hängt von dessen Genehmigung ab. Lehnt der Betreuer in Vertretung des Betreuten eine Genehmigung ab, so ist der Vertrag unwirksam und nach den §§ 812 ff. BGB rückabzuwickeln. Der Bereicherungsanspruch gegen den Dritten steht dem Betreuten zu. Im Fall der Überweisungen vom Konto des Betreuten besteht gleichfalls ein Anspruch des Betreuten gegen den Bevollmächtigten auf Schadensersatz nach § 280 BGB, gegebenenfalls auch nach den § 823 Abs. 2 BGB i. V. mit § 266 StGB. b) Ansprüche des Betreuten gegen den Betreuer Zu den Pflichten des Betreuers, dem nach § 1896 Abs. 3 BGB die Geltendmachung von Rechten des Betreuten gegenüber seinem Bevollmächtigten zugewiesen ist, gehört es, entsprechende Schadensersatzansprüche gegen diesen geltend zu machen. Unterlässt er dies schuldhaft, macht er sich seinerseits schadensersatzpflichtig.

VIII. Zusammenfassung Die rechtliche Bewältigung von Rechtsgeschäften demenzkranker Personen stellt Notare, Gerichte und Betreuer vor große Probleme. Doch sind durch den Bundesgerichtshof wichtige Weichenstellungen erfolgt, die im Streitfall akzeptable Lösungen ermöglichen.

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Vgl. BGH, NJW 2008, 69 Rn. 69. Vgl. BGHZ 141, 357 (364).

Schutz des Geschädigten durch Versicherungspflichten bei Amtspflichtverletzungen von Notaren Von Dirk Looschelders

I. Einführung Die Haftung des Notars für Amtspflichtverletzungen ist in § 19 BNotO eigenständig geregelt. Die Vorschrift statuiert eine persönliche Haftung des Notars bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung der ihm gegenüber einem anderen obliegenden Amtspflicht. § 19 Abs. 1 Satz 4 BNotO schließt eine Haftung des Staates anstelle des Notars ausdrücklich aus. Obwohl der Notar als unabhängiger Träger eines öffentlichen Amtes auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege tätig wird (§ 1 BNotO), findet also keine Haftungsverlagerung auf den Staat gemäß Art. 34 GG statt.1 Dies wird verfassungsrechtlich u. a. damit gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber durch die Versicherungspflichten nach § 19a BNotO und § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO für eine angemessene Abdeckung der mit der Tätigkeit von Notaren verbundenen Risiken gesorgt habe.2 Die Vorschriften beruhen auf dem am 1. 1. 1983 in Kraft getretenen Ersten Gesetz zur Änderung der BNotO. Die Gesetzesbegründung weist darauf hin, dass das Problem der Zahlungsunfähigkeit des in Anspruch genommenen Notars im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Staatshaftungsgesetzes (StHG) besondere Bedeutung erlangt habe. Wenn der Notar aufgrund seiner Sonderstellung nicht in die Staatshaftung einbezogen werde, müsse der Gesetzgeber sicherstellen, dass die geschädigten Mandanten bei Amtspflichtverletzungen nicht wegen Zahlungsunfähigkeit des Notars leer ausgehen.3 Das BVerfG hat das StHG mit Urteil vom 10. 10. 1982 für nichtig erklärt.4 Die Notwendigkeit einer Statuierung von Versicherungspflichten in der BNotO ist damit aber nicht entfallen. Das Streben nach einem umfassenden Schutz des Geschädigten bei Pflichtverletzungen von Notaren hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber sich nicht damit begnügt hat, den Notar nach § 19a BNotO zum Abschluss einer individuellen Haftpflichtversicherung zu verpflichten. Die Notarkammern sind vielmehr darüber hinaus nach 1

Vgl. BGHZ 62, 372 (376 ff.); 135, 354 (356); zu der bis 31. 12. 2017 geltenden Ausnahme für baden-württembergische Notare im Landesdienst BeckOK BNotO/Schramm, 1. 8. 2020, § 19 Rn. 174 ff. 2 Papier, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 34 Rn. 279. 3 BT-Drs. 9/24, S. 1 (4). 4 BVerfGE 61, 149.

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§ 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO gehalten, Versicherungsverträge zur Ergänzung der Haftpflichtversicherung nach § 19a BNotO abzuschließen, um solche Gefahren aus Pflichtverletzungen abzudecken, die nicht durch Versicherungsverträge nach § 19a BNotO gedeckt sind, weil die durch die Pflichtverletzung verursachten Vermögensschäden die Deckungssummen der Haftpflichtversicherung nach § 19a BNotO überschreiten oder auf vorsätzlichen Handlungen beruhen, die nach den AVB vom Versicherungsschutz ausgenommen sind. Zur Abdeckung dieser Schäden können die Notarkammern nach § 67 Abs. 4 Nr. 3 BNotO auch Einrichtungen unterhalten, um die betreffenden Risiken selbst als Versicherer abzudecken.5 § 67 Abs. 4 Nr. 4 BNotO ermächtigt die Notarkammern weiter, Einrichtungen zu unterhalten, die bei bestimmten Schäden, welche nicht durch eine Pflichtversicherung nach § 19a BNotO oder § 67 Abs. 4 Nr. 3 BNotO gedeckt sind, ohne rechtliche Verpflichtung die Erbringung von Leistungen ermöglichen.6 Der Gesetzgeber hat damit ein komplexes System von Pflichtversicherungen geschaffen, welches von den Notarkammern durch weitere Schutzinstrumente ergänzt werden kann und soll.7 Die Elemente dieses Systems sollen im Folgenden aus versicherungsrechtlicher Sicht gewürdigt werden. Der Beitrag ist Johannes Hager zum 70. Geburtstag gewidmet, zu dessen langjährigen Forschungsschwerpunkten das Notar- und das Haftungsrecht gehören.

II. Berufshaftpflichtversicherung des Notars als Basisversicherung 1. Einordnung in das System des Versicherungsvertragsrechts Primäres Instrument zum Schutz des Geschädigten ist die in § 19a BNotO geregelte Pflicht des Notars zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung (sog. Basisversicherung).8 Die Berufshaftpflichtversicherung der Notare weist für sich genommen keine Besonderheiten gegenüber der Pflicht-Haftpflichtversicherung für andere Berufsgruppen (etwa Rechtsanwälte) auf. Es handelt sich um eine Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung in Form einer Pflichtversicherung. Die Basisversicherung dient nicht nur dem Schutz des Geschädigten, sondern auch dem Schutz des Notars vor den wirtschaftlichen Belastungen, die mit einer Schadensersatzpflicht für schuldhafte Pflichtverletzungen verbunden sind.9 Versicherungsnehmer ist allein der Notar. Die Leistungspflicht des Versicherers richtet sich nach § 100 VVG. Der Versicherer schuldet dem Notar also die Abwehr unberechtigter Ansprüche und die Freistellung von berechtigten Ansprüchen des Geschädigten. 5

Näher dazu Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 776. 6 Dazu unten VI. 7 Zu der mit der Kompetenzzuweisung verbundenen Erwartung des Gesetzgebers BGHZ 112, 163 (167). 8 BeckOK BNotO/Schramm, 1. 8. 2020, § 19a Rn. 7. 9 Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 781b.

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2. Der Begriff des Versicherungsfalls und das Problem der Spätschäden Der Begriff des Versicherungsfalls wird in § 100 VVG nicht definiert. Die Parteien haben daher insoweit einen gewissen Spielraum, der für die einzelnen Formen der Haftpflichtversicherung unterschiedlich ausgefüllt wird. So folgen die neueren AVB bei der Allgemeinen Haftpflichtversicherung (Ziff. 1.1. AHB 2016) der Schadensereignistheorie. Maßgeblich ist die letzte Tatsache, die zu dem Schaden geführt hat.10 Auf den Zeitpunkt der Schadensverursachung kommt es nicht an. Bei der D&O-Versicherung gilt dagegen das Claims-Made-Prinzip. Versicherungsfall ist die erstmalige Geltendmachung eines Haftpflichtanspruchs während der Dauer des Versicherungsvertrags.11 Beide Ansätze sind bei der Berufshaftpflichtversicherung der Notare und der Rechtsanwälte nicht geeignet, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen. § 19a BNotO und § 51 BRAO schreiben nämlich übereinstimmend vor, dass die Haftpflichtversicherung alle Haftpflichtrisiken aus der beruflichen Tätigkeit abdecken und für jede einzelne Pflichtverletzung gelten muss, die Haftpflichtansprüche gegen den Notar bzw. Rechtsanwalt zur Folge haben könnte. Der Versicherungsschutz muss während der gesamten Amtszeit des Notars bzw. der gesamten Zulassung des Rechtsanwalts bestehen.12 Die Versicherung hat auch Schäden abzudecken, die nach Beendigung des Versicherungsverhältnisses wegen Berufsaufgabe oder Tod eintreten. § 5 Ziff. 1 AVB-N und § 5 Ziff. 1 AVB-RSW stellen daher auf den Verstoß ab, der Haftpflichtansprüche gegen den Versicherungsnehmer zur Folge haben kann.13 Dies führt zu einer uneingeschränkten Nachhaftung des Versicherers für Spätschäden. Die AVB beschränken die Nachhaftung des Versicherers allerdings regelmäßig auf Schäden, die dem Versicherer innerhalb einer bestimmten Frist (vier oder sechs Jahre) nach Beendigung des Versicherungsvertrags gemeldet worden sind (vgl. § 2 Ziff. 1 AVB Verm). In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass solche Klauseln bei Pflichtversicherungen wegen unbilliger Benachteiligung des Versicherungsnehmers nach § 307 BGB unwirksam sind.14 Der BGH hat eine Ausschlussfrist von vier Jahren in den AVB der Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern mit der Maßgabe für wirksam erachtet, dass der Versicherer sich nicht auf eine unverschuldete Fristversäumnis berufen kann.15 Da die Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern ebenfalls eine Pflichtversicherung darstellt, lässt 10

BGH, NJW 2014, 2038 Rn. 40; Looschelders, in: FS Schwintowski, 2017, S. 150 (153). Haehling von Lanzenauer/Kreienkamp, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl. 2016, Anh. C Rn. 90. 12 Zu § 19a BNotO BeckOK BNotO/Schramm, 1. 8. 2020, § 19a Rn. 36. 13 Allg. zur Berufshaftpflichtversicherung Prölss/Martin/Lücke, VVG, 31. Aufl. 2021, AVB Verm § 5 Rn. 1; zu § 5 Abs. 1 AVB-N Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 784. 14 So Brügge, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, B. Rn. 25. 15 BGH, VersR 2011, 1173 (1175). 11

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diese Rechtsprechung sich auf die Berufshaftpflichtversicherung übertragen. Für die Zulässigkeit einer Ausschlussfrist spricht, dass der Versicherer ein berechtigtes Interesse an der zeitlichen Begrenzung seiner Einstandspflicht hat. Die Interessen des Versicherungsnehmers und des Geschädigten werden nicht unbillig beeinträchtigt, sofern die Frist ausreichend lang bemessen ist und der Entlastungsbeweis zugelassen wird.16 3. Die Rechtsstellung der Geschädigten Die Geschädigten haben in der Berufshaftpflichtversicherung nicht die Stellung von Versicherten; sie werden über die Vorschriften betreffend die Pflicht-Haftpflichtversicherung (§§ 113 ff. VVG) geschützt. Den Geschädigten steht damit im Allgemeinen kein unmittelbarer Anspruch gegen den Versicherer zu. Ausnahmen bestehen nach § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 VVG lediglich bei Insolvenz oder unbekanntem Aufenthalt des Notars.17 Die „Sozialbindung“ der Haftpflichtversicherung zeigt sich im Übrigen darin, dass Verfügungen des Versicherungsnehmers über den Freistellungsanspruch gegen den Versicherer dem Geschädigten gegenüber nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VVG unwirksam sind. Bei Insolvenz des Notars kann der Geschädigte außerdem nach § 110 VVG abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Notars verlangen. Bei Pflicht-Haftpflichtversicherungen hat diese Möglichkeit im Hinblick auf den Direktanspruch des Geschädigten nach § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VVG erheblich an Bedeutung verloren.18 4. Risikoausschluss bei wissentlicher Pflichtverletzung des Notars a) Allgemeines § 19a Abs. 2 BNotO enthält eine abschließende Aufzählung der zulässigen Risikoausschlüsse. Praktisch steht der Ausschluss der Leistungspflicht bei wissentlicher Pflichtverletzung nach Abs. 2 lit. a im Vordergrund (vgl. § 4 Ziff. 3 AVB-N).19 Es handelt sich um einen subjektiven Risikoausschluss, auf den der Versicherer sich auch im Rahmen eines Direktanspruchs nach § 115 Abs. 1 Satz 1 VVG berufen kann.20. Versicherungsrechtlicher Anknüpfungspunkt ist § 103 VVG. § 4 Abs. 3 AVB-N unterscheidet sich allerdings insofern von § 103 VVG, als der Vorsatz sich nur auf die Pflichtverletzung und nicht auch auf den Schaden beziehen 16

So auch Prölss/Martin/Lücke, VVG, 31. Aufl. 2021, AVB Verm § 2 Rn. 2. Vgl. Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 795. 18 Brügge, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, A. Rn. 209. 19 Vgl. BeckOK BNotO/Schramm, 1. 8. 2020, § 19a Rn. 23. 20 Vgl. OLG Düsseldorf, VersR 2019, 1491 (1494) (zur Berufshaftpflichtversicherung der Rechtsanwälte). 17

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muss.21 Die Verkürzung des Verschuldensbezugs wird indes dadurch kompensiert, dass der Versicherungsnehmer nur für direkten Vorsatz (dolus directus zweiten Grades), nicht aber für dolus eventualis einzustehen hat.22 Die Verkürzung des Verschuldensbezugs erscheint sachgemäß. Bei wissentlicher Pflichtverletzung ist ein etwaiges Vertrauen auf das Ausbleiben eines Schadens nicht schutzwürdig. Die Klausel führt daher nicht zu einer unangemessenen Benachteiligung des Versicherungsnehmers.23 Bei der Berufshaftpflichtversicherung der Notare gilt dies umso mehr, als der Gesetzgeber die Zulässigkeit des Risikoausschlusses der wissentlichen Pflichtverletzung in § 19a Abs. 2 Nr. 1 BNotO selbst festgelegt hat.24 b) Voraussetzungen und Nachweis der wissentlichen Pflichtverletzung Der Risikoausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung setzt voraus, dass der Versicherungsnehmer die verletzte Pflicht positiv gekannt und bewusst gegen sie verstoßen hat.25 Der Versicherungsnehmer muss also das Bewusstsein gehabt haben, pflichtwidrig zu handeln.26 Ein Verbotsirrtum schließt daher die Wissentlichkeit aus.27 Der Versicherer trägt für die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung die Darlegungs- und Beweislast.28 Da es sich um eine innere Tatsache handelt, legt die Rechtsprechung dem Versicherungsnehmer aber eine sekundäre Darlegungslast auf. Hat der Versicherer einen Sachverhalt vorgetragen, der auf die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung hindeutet, muss der Versicherungsnehmer aufgrund seiner sekundären Darlegungslast aufzeigen, aus welchen Gründen die vom Versicherer vorgetragenen Umstände doch keinen Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung rechtfertigen.29 Welche Umstände der Versicherer vortragen muss, um die sekundäre Darlegungslast auszulösen, hängt von der Art der verletzten Pflicht ab. Im Fall einer Verletzung elementarer beruflicher Pflichten, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung 21 OLG Düsseldorf, BeckRS 2008, 25291; VersR 2019, 537 (539); KG, BeckRS 2016, 119567 Rn. 29. 22 BGH, VersR 1991, 176 (178); OLG Düsseldorf, VersR 2019, 537 (539); krit. Dilling, VersR 2018, 332 ff. 23 Vgl. BGH, VersR 1991, 176 (179); VersR 2001, 1103 (1104); Gräfe, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, E. Rn. 223. 24 Zur entsprechenden Argumentation bei § 51 Abs. 3 Nr. 1 BRAO OLG Düsseldorf, VersR 2019, 1491 (1494). 25 BGH, VersR 2015, 181 Rn. 15; VersR 2006, 106 (107 f.); KG, BeckRS 2016, 119567 Rn. 28; OLG Düsseldorf, VersR 2019, 537 (539); VersR 2019, 1491 (1495); Therstappen, AnwBl. 2014, 182 (183). 26 Gräfe, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, E. Rn. 225. 27 BGH, VersR 1986, 647 (648); KG, Urt. v. 24. 9. 2019 – 9 U 1/18 –, juris Rn. 37. 28 BGH, VersR 2015, 181 Rn. 16; OLG München, VersR 2016, 1183; OLG Düsseldorf, BeckRS 2008, 25291. 29 BGH, VersR 2015, 181 Rn. 22; OLG Köln, r+s 2017, 348 (349); Lange, VersR 2020, 588 (591).

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von jedem Berufsangehörigen zu erwarten ist, kann schon aus dem äußeren Geschehensablauf und dem objektiven Pflichtverstoß auf Wissentlichkeit geschlossen werden. Wurde keine solche Kardinalpflicht verletzt, so muss der Versicherer weitere Tatsachen vortragen, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung anzusehen sind.30 Welche Pflichten als sog. Kardinalpflichten anzusehen sind, kann für die unterschiedlichen Arten der Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung nicht einheitlich beurteilt werden. Es kommt vielmehr darauf an, welche Regeln für den jeweiligen Beruf so fundamental sind, dass ihre Kenntnis nach der Lebenserfahrung von jedem Berufsträger zu erwarten ist. Da Notare aufgrund ihrer Stellung in besonderem Maße zu einer gewissenhaften Berufsausübung verpflichtet sind, ist grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass sie die für die Ausübung ihres Amts geltenden Vorschriften und Regeln kennen.31 Zu den Kardinalpflichten des Notars gehört etwa die Pflicht, Auszahlungen von einem Anderkonto erst vorzunehmen, wenn er die Auszahlungsvoraussetzungen geprüft hat.32 Der Notar handelt auch dann bewusst pflichtwidrig, wenn er sich ohne persönliche Kontrolle darauf verlässt, dass seine Angestellten die Voraussetzungen geprüft haben.33 Das Gleiche gilt, wenn er der Bank einen Blankoscheck übersendet und die Prüfung der Höhe des Auszahlungsbetrags damit der Bank überlässt.34 Weitere Kardinalpflichten des Notars sind die Pflicht zur Neutralität35 und die Pflicht zur Verschwiegenheit.36 Von elementarer Bedeutung ist auch die Pflicht des Notars, sich nicht an betrügerischen Handlungen Dritter zu beteiligen (§ 14 Abs. 2 BNotO).37 c) Zusammentreffen von wissentlichen und fahrlässigen Pflichtverletzungen Bei einem Zusammentreffen von wissentlichen und fahrlässigen Pflichtverletzungen des Versicherungsnehmers wurde früher zum Teil die Auffassung vertreten, dass der Versicherungsschutz nur dann entfällt, wenn der Risikoausschluss für alle in Betracht kommenden Pflichtverletzungen eingreift.38 Der BGH hat dagegen in neuerer Zeit zur Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung klargestellt, dass der Leistungsausschluss auch dann eingreift, wenn der Schaden nicht nur durch eine wissentliche Pflichtverletzung, sondern auch durch weitere, nicht wissentliche Pflichtverlet30

BGH, VersR 2015, 181 Rn. 20; OLG Düsseldorf, VersR 2020, 1491 (1495). Allg. dazu Gräfe, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, E. Rn. 314. 32 OLG Frankfurt a. M., DNotZ 2000, 378; OLG Hamm, VersR 1996, 1006. 33 OLG München, VersR 2000, 1490 (LS) = BeckRS 1999, 22447. 34 OLG Bremen, BeckRS 2014, 22447 Rn. 20 ff. 35 OLG Düsseldorf, r+s 2005, 155. 36 OLG Düsseldorf, BeckRS 2008, 25291. 37 KG, BeckRS 2016, 119567. 38 So etwa OLG Düsseldorf, VersR 2002, 748. 31

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zungen verursacht worden ist. Der Senat stützt sich dabei auf die zutreffende Erwägung, dass der Leistungsausschluss sonst solche Versicherungsnehmer begünstigen würde, die einen Schaden mittels mehrerer teils wissentlicher, teils unbewusster Pflichtverstöße herbeiführen.39 Diese Erwägung passt allerdings nicht auf den Fall, dass die Pflichtverletzungen mehreren versicherten Personen zur Last fallen. Insoweit gilt vielmehr der Grundsatz der Einzelwirkung subjektiver Risikoausschlüsse.40 Hat eine versicherte Person nur fahrlässig gehandelt, so muss sie sich wissentliche Pflichtverletzungen anderer versicherter Personen nicht entgegenhalten lassen.41 Bei der Berufshaftpflichtversicherung der Notare ist zu beachten, dass der Notar dem Geschädigten für eine Pflichtverletzung des Notarvertreters gemäß § 46 Abs. 1 BNotO neben dem Vertreter als Gesamtschuldner haftet. Da die Haftpflichtversicherung des Notars nach § 19a Abs. 1 Satz 1 und 3 BNotO auch die Risiken aus der Tätigkeit von Personen abdecken muss, für welche der Notar haftet, kommt dem Notarvertreter bei Fehlen eigenen Versicherungsschutzes die Stellung einer mitversicherten Person zu. Bei einem Zusammentreffen von Vorsatz bzw. Wissentlichkeit des Vertreters und Fahrlässigkeit des Notars wird der Versicherungsschutz des Notars nach dem Grundsatz der Einzelwirkung dennoch nicht durch den Vorsatz des Vertreters in Frage gestellt. Die AVB sehen demgemäß vor, dass die Haftpflicht des Notars aus einem vorsätzlichen Verstoß seines amtlichen bestellten Vertreters mitversichert ist, sofern dem Notar höchstens Fahrlässigkeit zur Last fällt. Der Versicherungsschutz durch eine Vertrauensschadenversicherung hat Vorrang. d) Bindungswirkung des Haftpflichturteils im Deckungsprozess In prozessualer Hinsicht ist zu beachten, dass das Haftpflichturteil im Deckungsprozess gegen den Versicherer im Hinblick auf die zum Schadensersatz führende Pflichtverletzung Bindungswirkung entfaltet.42 Bei einer Mehrheit von möglichen Pflichtverletzungen des Notars führt dies dazu, dass im Deckungsprozess keine andere Pflichtverletzung als im Haftpflichtprozess zugrunde gelegt werden kann. Hat das Gericht sich im Haftpflichturteil allein auf die fahrlässige Pflichtverletzung gestützt, so kann der Versicherer sich also nicht darauf berufen, dass dem Versicherungsnehmer noch eine andere – wissentliche – Pflichtverletzung zur Last fällt.43 Nach dem Grundsatz der Voraussetzungsidentität haben die Feststellungen im Haftpflichturteil allerdings nur für solche Umstände Bindungswirkung, die sowohl für die 39

BGH, VersR 2015, 1156 (1157). Vgl. Bruck/Möller/Brand, VVG, 9. Aufl. 2010, § 47 Rn. 26; Looschelders, VersR 2018, 1413 (1415 ff.). 41 Prölss/Martin/Lücke, VVG, 31. Aufl. 2021, AVB Verm § 4 Rn. 20. 42 BGH, VersR 2015, 181 Rn. 11. 43 BGH, VersR 2015, 181 Rn. 12; VersR 2011, 203 Rn. 13; OLG Düsseldorf, VersR 2020, 968 (975). 40

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Haftpflichtfrage als auch für die Deckung relevant sind.44 Da für den Schadensersatzanspruch eine fahrlässige Pflichtverletzung ausreicht, kommt den Feststellungen zum Grad des Verschuldens keine Bindungswirkung zu. Die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung muss daher im Deckungsprozess jeweils selbständig geprüft werden.45 5. Individuelle Anschlussversicherung der Notare Die Mindestversicherungssumme der Basisversicherung beträgt nach § 19 Abs. 3 BNotO 500.000 E. Der Notar kann zudem eine freiwillige Anschlussversicherung abschließen. Eine solche Versicherung unterliegt nicht den Vorgaben des § 19a BNotO. Die Vorschriften über die Pflichtversicherung (§§ 114 ff. VVG) gelten aber nach § 113 Abs. 3 VVG entsprechend.46

III. Gruppenanschlussversicherung der Notarkammern 1. Allgemeines Da die Mindestversicherungssumme der Basisversicherung keinen ausreichenden Schutz des Geschädigten gewährleistet, sind die Notarkammern nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO zum Abschluss einer Anschlussversicherung verpflichtet, die über die Deckungssumme der Basisversicherung hinausgehende Schäden abdeckt. Die Versicherungssumme muss für jeden versicherten Notar und jeden Versicherungsfall mindestens 500.000 E betragen, wobei die Leistungen für alle innerhalb eines Versicherungsjahres von einem Notar verursachten Schäden auf den vierfachen Betrag der Mindestversicherungssumme begrenzt werden kann. Eine individuelle Anschlussversicherung des Notars soll nach den üblichen Vereinbarungen der Parteien zwecks Vermeidung einer partiellen Doppelversicherung erst eingreifen, wenn auch die Versicherungssumme der Gruppenanschlussversicherung überschritten ist.47 2. Rechtsstellung der Notare Die Gruppenanschlussversicherung der Notarkammern ist ebenfalls eine PflichtHaftpflichtversicherung. Versicherungsnehmer ist nicht der Notar, sondern die Notarkammer. Die Anschlussversicherung schützt aber auch den Notar vor Belastungen 44

BGH, VersR 2004, 590; Prölss/Martin/Lücke, VVG, 31. Aufl. 2021, § 100 Rn. 60. BGH, VersR 2015, 181 Rn. 13; OLG München, VersR 2016, 1183; OLG Düsseldorf, VersR 2020, 968 (972 ff.); Gräfe, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, E. Rn. 324 ff. 46 Hogl, in: Beck’sches Notar-Handbuch, 7. Aufl. 2019, § 35 Rn. 81. 47 Vgl. Brügge, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, A. Rn. 499 ff. 45

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aus der Inanspruchnahme durch Dritte. Es handelt sich damit um eine Versicherung für fremde Rechnung (§§ 43 ff. VVG), wobei die Notare als Mitglieder der jeweiligen Notarkammer die Stellung versicherter Personen haben.48 Die Notare sind nach § 44 Abs. 2 VVG an sich nicht berechtigt, die Rechte aus dem Versicherungsvertrag gerichtlich zu verfolgen.49 Die AVB sehen aber meist abweichend von § 44 Abs. 2 VVG vor, dass die Notare ihre Ansprüche gegen den Versicherer selbst geltend machen können (vgl. § 7 Abs. 1 Ziff. 2 AVB-N).50 3. Rechtsstellung der Geschädigten Die Anschlussversicherung der Notarkammern wird auch zugunsten der Geschädigten geschlossen.51 Es handelt sich auch in dieser Hinsicht um eine Versicherung für fremde Rechnung in Form einer Versicherung für Rechnung „wen es angeht“ (§ 48 VVG). Die AVB gewähren dem Geschädigten kein eigenes Klagerecht gegen den Versicherer. Bei einer Versicherung für fremde Rechnung besteht zwischen dem Versicherungsnehmer und den versicherten Personen aber ein gesetzliches Treuhandverhältnis, aus dem der Versicherungsnehmer verpflichtet ist, die Entschädigung beim Versicherer einzuziehen und an die versicherte Person auszukehren.52 Die Pflicht der Notarkammern zum Abschluss einer Gruppenanschlussversicherung hat zudem gerade den Zweck, die Entschädigung des Geschädigten sicherzustellen.53 Dieser Zweck kann nur durch Einziehung und Auskehrung der Entschädigung an den Geschädigten verwirklicht werden. Lehnt die Notarkammer die Geltendmachung des Anspruchs ab, so ist der Versicherer nach Treu und Glauben gehindert, sich auf die fehlende Verfügungsbefugnis des Geschädigten zu berufen.54 In den Fällen des § 115 Abs. 1 Nr. 2 und 3 VVG kann dem Geschädigten ein Direktanspruch gegen den Versicherer zustehen. Dass der Geschädigte zugleich mitversicherte Person ist, steht der Anwendung des § 115 Abs. 1 VVG nicht entgegen.55 Der Wortlaut der Vorschrift geht zwar vom Regelfall eines Ersatzanspruchs gegen den Versicherungsnehmer aus. Bei der Versicherung für fremde Rechnung kommt aber auch die versicherte Person als Anspruchsgegner in Betracht.56 Anspruchsgegner sind die Notare als mitversicherte Personen. Damit entfällt auch der Einwand, dass § 115 Abs. 1 VVG auf die Notarkammern als Körperschaften des öffentlichen 48

Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 799. BGH, BeckRS 2011, 23623 Rn. 12. 50 Sassenbach, in: Höra, Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 4. Aufl. 2017, § 18 Rn. 117. 51 Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 802. 52 Allg. dazu BGHZ 64, 260 (264); Bruck/Möller/Brand, VVG, 9. Aufl. 2010, § 46 Rn. 12. 53 Vgl. BGHZ 113, 151 (155); Bruck/Möller/Brand, VVG, 9. Aufl. 2010, § 46 Rn. 16. 54 BGHZ 115, 275 (282); BGH, VersR 1998, 1016 (1017). 55 Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 115 Rn. 7. 56 Bruck/Möller/Beckmann, VVG, 9. Aufl. 2013, § 115 Rn. 24. 49

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Rechts nicht passt.57 Der Direktanspruch ist daher gegeben, wenn beim Notar die Voraussetzungen des § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder 3 VVG vorliegen.

IV. Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern 1. Funktion und Mindestversicherungssumme Bei Vorsatz bzw. Wissentlichkeit des Versicherungsnehmers oder des Versicherten können Haftpflichtversicherungen keinen Versicherungsschutz bieten. Um die damit drohende Deckungslücke für den Geschädigten zu schließen, verpflichtet § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO die Notarkammern, auch Gefahren aus solchen Pflichtverletzungen der Notare zu versichern, die als vorsätzliche Handlungen durch die AVB der Basisversicherung vom Versicherungsschutz ausgenommen sind. Zur Umsetzung dieser Pflicht haben die Notarkammern Vertrauensschadenversicherungen abgeschlossen, die durch den Notarversicherungsfonds verwaltet werden. Diese Versicherungen dienen in erster Linie der Schadloshaltung der Geschädigten; mittelbarer Zweck ist die Wahrung des Vertrauens in den Notarstand.58 Die Versicherungssumme muss für jeden Notar und jeden Versicherungsfall mindestens 250.000 E betragen. Die Gesamtleistungen für alle von einem Notar in einem Jahr durch wissentliche Pflichtverletzungen verursachten Schäden dürfen auf 1.000.000 E begrenzt werden. Bei Überschreitung dieser Summe ist § 109 VVG entsprechend anwendbar.59 Die Zahl der versicherten Fälle wird durch eine Excedentenversicherung erweitert, welche die Notarkammern über den Notarversicherungsfonds freiwillig abgeschlossen haben.60 2. Rechtsstellung des Notars und der Geschädigten Die Vertrauensschadenversicherung ist wie die Gruppenanschlussversicherung eine Versicherung für fremde Rechnung.61 Anders als bei der Gruppenanschlussversicherung hat der Notar aber nicht die Stellung einer versicherten Person.62 Versicherte Personen sind allein die Geschädigten.63 Nach §§ 44 Abs. 2, 45 Abs. 1 VVG steht 57 So aber Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 802. 58 BGHZ 113, 151 (153); BGHZ 115, 275 (278); Grote, in: Langheid/Wandt, Münchener Kommentar zum VVG, 2. Aufl. 2017, VSV Rn. 180; Fetzer, VersR 1999, 793. 59 BGH, VersR 2011, 1261 Rn. 38 (zu § 156 Abs. 3 VVG a. F.). 60 Näher dazu Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 774. 61 BGHZ 113, 151 (152 ff.); BGH, VersR 2011, 1435 (1436); Ihlas, VersR 1994, 898. 62 BGHZ 113, 151 (154); BGHZ 115, 275 (280); OLG Köln, NVersZ 2002, 515 (516). 63 Vgl. Looschelders/Waiblinger, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl. 2016, Anh. D. Rn. 7.

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die Verfügungsbefugnis über den Anspruch auf die Entschädigung auch hier der Notarkammer als Versicherungsnehmerin zu. Aufgrund des mit der Notarkammer bestehenden gesetzlichen Treuhandverhältnisses können die Geschädigten aber verlangen, dass die Notarkammer die Versicherungsleistung beim Versicherer geltend macht und an sie auskehrt.64 Falls die Aufsichtsbehörde wegen Verletzung der Dienstaufsicht über den betreffenden Notar nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG haftet, stellt der Anspruch des Geschädigten gegen die Notarkammer eine anderweitige Ersatzmöglichkeit i. S. d. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB dar.65 Verweigert die Notarkammer die Geltendmachung des Anspruchs, so ist der Versicherer nach Treu und Glauben gehindert, sich auf die fehlende Prozessführungsbefugnis des Geschädigten zu berufen.66 Bei Insolvenz oder unbekanntem Aufenthalt des Notars gilt § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 VVG entsprechend.67 3. Die Vorbildfunktion der Pflicht-Haftpflichtversicherung Die Vertrauensschadenversicherung ist keine Haftpflichtversicherung, sondern eine (Vermögens-)Schadensversicherung.68 Aus der Funktion der Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern, die Berufshaftpflichtversicherung bei vorsätzlichen bzw. wissentlichen Amtspflichtverletzungen zu ergänzen und den Geschädigten dadurch einen der Staatshaftung vergleichbaren Schutz zu verschaffen, folgt aber, dass sie sich bei vielen Aspekten nach den für eine Pflicht-Haftpflichtversicherung maßgeblichen Regeln zu richten hat. a) Trennungsprinzip und Bindungswirkung des Haftpflichturteils Die Parallelität mit der Haftpflichtversicherung äußert sich zunächst darin, dass das die Haftpflichtversicherung prägende Trennungsprinzip und die Bindungswirkung des Haftpflichturteils im Deckungsprozess auch bei der Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern gelten.69 Dass die Notarkammer als Versicherungsnehmerin nicht mit dem Schädiger identisch ist, muss nach dem Zweck der Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern außer Betracht bleiben.70 Da der Notar in der Vertrauensschadenversicherung nicht als versicherte Person einzuordnen ist, 64 BGHZ 113, 151 (154); BGHZ 135, 354 (366); BGH, VersR 2011, 1435 (1436); Fetzer, VersR 1999, 793 f. 65 BGHZ 135, 354 (366 ff.). 66 BGHZ 115, 275 (280); BGH, VersR 1998, 1016 (1017); OLG Köln, NVersZ 2002, 515 (516). 67 So wohl auch BeckOK BNotO/v. Stralendorff, 1. 8. 2020, § 67 Rn. 54. 68 Allg. dazu Looschelders/Waiblinger, in: Looschelders/Pohlmann, 3. Aufl. 2016, Anh. D. Rn. 4. 69 BGH, VersR 1998, 1016; KG, VersR 2008, 211 (212); Brügge, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, A. Rn. 523 ff. 70 BGH, VersR 1998, 1016 (1017); krit. Wagner/Wahl, DNotZ 1999, 794 (796 ff.).

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kann ihm der Versicherer im Haftpflichtprozess allerdings keine Abwehrdeckung gewähren.71 Der Zweck der Vertrauensschadenversicherung würde indes unterlaufen, wenn die Grundlagen der im Haftpflichtprozess getroffenen Entscheidung im Deckungsprozess zwischen Notarkammer und Versicherer wieder in Frage gestellt werden könnten. Nach dem Grundsatz der Voraussetzungsidentität umfasst die Bindungswirkung aber auch hier nicht die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung.72 b) Mitverschulden des Geschädigten Da die Vertrauensschadenversicherung eine Schadensversicherung mit dem Geschädigten als versicherter Person darstellt, müsste der Versicherer der Notarkammer eine grob fahrlässige Mitverursachung des Versicherungsfalls durch den Geschädigten an sich nach § 47 Abs. 1 i. V. m. § 81 Abs. 2 VVG entgegenhalten können. Der Anspruch auf die Versicherungsleistung wäre damit nach der Schwere des Verschuldens des Geschädigten zu kürzen. Da eine solche Kürzung den Grundsätzen der Haftpflichtversicherung widerspräche, kann § 81 Abs. 2 VVG auf die Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern aber nicht angewendet werden.73 Auf haftungsrechtlicher Ebene kann ein Mitverschulden des Geschädigten zwar die Kürzung des Anspruchs nach § 254 Abs. 1 BGB rechtfertigen. Bei wissentlicher Pflichtverletzung des Notars wird die grobe Fahrlässigkeit des Geschädigten im Rahmen von § 254 Abs. 1 BGB im Allgemeinen aber vollständig oder doch zumindest weitgehend zurücktreten.74 c) Einstandspflicht des Versicherers für mittelbare Schäden Bei der Vertrauensschadenversicherung wird die Einstandspflicht des Versicherers durch die AVB häufig auf unmittelbare Schäden begrenzt. Der Ausschluss mittelbarer Schäden wird bei der Vertrauensschadenversicherung für Unternehmen meist für wirksam erachtet.75 Bei der Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern beeinträchtigt die Beschränkung auf unmittelbare Schäden dagegen den Zweck der Versicherung, dem Geschädigten bei Vorsatz bzw. wissentlichen Pflichtverletzungen den gleichen Schutz wie die Staatshaftung nach § 839 BGB i. V. m.

71 Krit. zur Bindungswirkung daher MüKoVVG/Grote, 2. Aufl. 2017, VSV Rn. 182; Fetzer, VersR 1999, 793 (798); Hagen, DNotZ 2000, 809 (822). 72 KG, VersR 2008, 211 (213). 73 BGH, VersR 1998, 1504 (1505) (zu § 61 Abs. 2 VVG a. F.); Looschelders/Waiblinger, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl. 2016, Anh. D. Rn. 7; Fetzer, VersR 1999, 793 (798 f.). 74 Allg. dazu BeckOGK/Looschelders, 1. 9. 2020, BGB § 254 Rn. 320. 75 OLG Düsseldorf, VersR 2019, 159 (162); Grote, in: Langheid/Wandt, MüKoVVG/ Grote, 2. Aufl. 2017, VSV Rn. 40; Thiel, VersR 2019, 163 (164 f).

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Art. 34 GG oder eine Pflicht-Haftpflichtversicherung zu gewähren. Der BGH hat die entsprechende Klausel daher nach § 307 BGB zu Recht für unwirksam erklärt.76 4. Begriff des Versicherungsfalls und Ausschlussfrist Das VVG enthält für Vertrauensschadenversicherungen keine Vorgaben zum Begriff des Versicherungsfalls und zur zeitlichen Bestimmung des Versicherungsschutzes. Aus dem Zweck der Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern, die für den Geschädigten bestehende Schutzlücke in der Berufshaftpflichtversicherung der Notare bei vorsätzlichen bzw. wissentlichen Pflichtverletzungen zu schließen, folgt aber, dass der Versicherungsfall auch hier nach dem Verstoßprinzip zu bestimmen ist.77 Eine angemessene zeitliche Begrenzung der Nachhaftung ist nicht nach § 307 BGB unwirksam, sofern der Versicherer der Notarkammer danach keine unverschuldete Fristversäumnis entgegenhalten kann.78

V. Verhältnis von Basisversicherung und Vertrauensschadenversicherung Ob die Basisversicherung des Notars oder die Vertrauensschadenversicherung der Notarkammer einstandspflichtig ist, hängt bei feststehender Amtspflichtverletzung oft allein von der Wissentlichkeit der Pflichtverletzung ab. Um im Fall eines Streits über die Wissentlichkeit eine zügige Regulierung zu ermöglichen, sieht § 19a Abs. 2 Satz 2 BNotO eine Vorleistungspflicht des Berufshaftpflichtversicherers vor. Die Vorleistungspflicht betrifft nicht nur den Fall, dass der Geschädigte und der Haftpflichtversicherer des Notars über die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung streiten; sie greift vielmehr auch dann ein, wenn die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung im Verhältnis zwischen dem Geschädigten und dem Berufshaftpflichtversicherer des Notars feststeht, der Vertrauensschadenversicherer der Notarkammer aber die Wissentlichkeit weiter in Abrede stellt.79 Steht (auch) im Verhältnis zum Vertrauensschadenversicherer fest, dass eine wissentliche Pflichtverletzung vorliegt, so lässt sich eine Vorleistungspflicht des Berufshaftpflichtversicherers nicht mehr rechtfertigen. Der Geschädigte kann sich dann nur an den Vertrauensschadenversicherer halten.80 Stellt sich im Nachhinein heraus, dass eine wissentliche Pflichtverletzung vorliegt, so kann der Haftpflichtversicherer bei dem Vertrauensschadenversicherer 76

Vgl. BGH, VersR 2011, 1261; VersR 2011, 1392; Looschelders, VersR 2013, 1069 (1071). 77 Vgl. Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 850. 78 BGH, VersR 2011, 1173 (1175). 79 BGH, VersR 2014, 947. 80 OLG Düsseldorf, VersR 2019, 1415.

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gem. § 19a Abs. 2 Satz 3 BNotO Regress nehmen. Sinn und Zweck der Vorleistungspflicht des Haftpflichtversicherers treffen somit nur dann zu, wenn der Vertrauensschadenversicherer bei Feststellung einer wissentlichen Pflichtverletzung für den Schaden einzustehen hat. Soweit die Einstandspflicht des Vertrauensschadenversicherers wegen Erschöpfung der Versicherungssumme, des Ablaufs einer Ausschlussfrist oder aus anderen Gründen ausgeschlossen ist, scheidet daher auch eine Vorleistungspflicht des Haftpflichtversicherers aus.81

VI. Der Notarversicherungsfonds Die Mindestversicherungssumme für vorsätzliche bzw. wissentliche Pflichtverletzungen ist mit 250.000 E vergleichsweise niedrig. Die damit verbundene Deckungslücke wird durch den Notarversicherungsfonds geschlossen, den die Notarkammern auf der Grundlage des § 67 Abs. 4 Nr. 4 lit. a BNotO errichtet haben. Es handelt sich um ein nicht rechtsfähiges Sondervermögen der Notarkammern zur Abdeckung von Schäden, die durch vorsätzliche Handlungen von Notaren entstehen und nicht durch die Vertrauensschadenversicherung gedeckt sind.82 Der Fonds dient ebenso wie die Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern der finanziellen Absicherung geschädigter Mandanten und dem Schutz des Notarberufs vor Vertrauensverlusten.83 Nach dem Wortlaut des § 67 Abs. 4 Nr. 4 BNotO erfolgt die Regulierung von Schäden durch den Fonds „ohne rechtliche Verpflichtung“. Wenn dem Geschädigten bei wissentlichen Pflichtverletzungen des Notars ein mit der Staatshaftung nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG vergleichbarer Schutz gewährt werden soll, kann der Notarversicherungsfonds aber nicht auf die Abdeckung von Härtefällen beschränkt bleiben.84 Dem Geschädigten steht freilich kein eigener Anspruch gegen den Notarversicherungsfonds zu.85 Da der Notarversicherungsfonds dem Schutz des Geschädigten dient, besteht zwischen der zuständigen Notarkammer als Mitglied des Fonds und dem Geschädigten aber ein gesetzliches Treuhandverhältnis, aus dem die Notarkammer verpflichtet ist, die Ersatzleistung für den Geschädigten beim Fonds geltend zu machen und an den Geschädigten auszukehren.86

81 BGH, VersR 2011, 1261 Rn. 10; VersR 2014, 941 Rn. 17; OLG Düsseldorf, VersR 2019, 1415. 82 Vgl. BeckOK BNotO/v. Stralendorff, 1. 8. 2020, § 67 Rn. 55; Wolff, VersR 1993, 272 (275). 83 BGHZ 112, 163 (176). 84 BGHZ 112, 163 (168). 85 Mayer, in: Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl. 2018, Rn. 774. 86 Brügge, in: Gräfe/Brügge, Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2013, A. Rn. 544.

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VII. Fazit Zusammenfassend ist festzustellen, dass es dem Gesetzgeber und den Notarkammern gelungen ist, den Geschädigten bei Pflichtverletzungen von Notaren durch die Kombination verschiedener Versicherungsprodukte angemessen zu schützen. Grenzen des Versicherungsschutzes werden durch eine Fondslösung überwunden. Soweit der Versicherungsschutz auf dem Markt nicht zu angemessenen Konditionen erlangt werden kann, können die Notarkammern die betreffenden Risiken selbst als Versicherer abdecken. Aus versicherungsrechtlicher Sicht ist zu beachten, dass die Basisversicherung der Notare mit Ausnahme der Vorleistungspflicht bei Streit über die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung keine wesentlichen Unterschiede zu anderen Pflicht-Berufshaftpflichtversicherungen aufweist. Bei der Gruppenanschlussversicherung der Notarkammern handelt es sich um eine Versicherung für fremde Rechnung mit der Besonderheit, dass die Notare als Schädiger und die Geschädigten gleichermaßen versicherte Personen sind. Soweit ersichtlich haben sich hieraus aber noch keine gravierenden Interessenkonflikte für die Notarkammern ergeben.87 Die Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern zeichnet sich durch eine starke Annäherung an die Pflicht-Haftpflichtversicherung aus und unterscheidet sich dadurch erheblich von der Vertrauensschadenversicherung für Unternehmen. Die reichhaltige Rechtsprechung zur Vertrauensschadenversicherung der Notarkammern lässt sich daher nicht ohne Weiteres auf die Vertrauensschadenversicherung für Unternehmen übertragen.

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Krit. unter diesem Aspekt aber Wagner/Wahl, DNotZ 1999, 794 (796 ff.).

Das Verhältnis von empirischer zu normativer Auslegung in der Rechtsprechung Von Holger Peres

I. Problemstellung Die Ermittlung des Inhalts von Rechtsgeschäften erfolgt in zwei Schritten. Im ersten Schritt werden die Tatsachengrundlagen, im zweiten Schritt deren rechtsgeschäftliche Bedeutung geklärt. Dabei hängt der erste Schritt nach Art und Umfang ganz wesentlich vom konkreten Auslegungsziel, das heißt von dem behaupteten Auslegungsergebnis ab. Das wird erst im gerichtlichen Verfahren plastisch und macht die juristische Auslegung zu einem außerordentlich schwierigen Ausbildungsthema und rechtspraktischen Problemfeld. Es lohnt sich daher eine Betrachtung zum Gang zivilgerichtlicher Streitigkeiten mit Blick auf den Inhalt von Rechtsgeschäften und den Nutzen prozessförmigen Vorgehens.

II. Gemeinsame Auslegungsgrundlagen von Willenserklärungen und/oder Rechtsgeschäften in Rechtsprechung und Lehre 1. Die Willenserklärung als Auslegungsgegenstand Bei der Auslegung geht es um die Frage, ob und mit welchem Inhalt ein bestimmtes Rechtsgeschäft zustande gekommen ist.1 Gegenstand der Auslegung ist nach dem Gesetz die Willenserklärung (§ 133 BGB). Das ist die Äußerung, mit der der Erklärende seinen rechtsgeschäftlichen Willen zum Ausdruck bringt.2 Sie ist Bestandteil des Rechtsgeschäfts3 und dessen inhaltsbestimmende Grundlage. Daher legt man mit der Willenserklärung oder den Willenserklärungen zugleich das Rechtsgeschäft aus, auf dessen Zustandekommen sie gerichtet ist oder sind.

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BGH, NJW 1992, 721. H. M., vgl. statt vieler Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 541; Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, Rn. 4; Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 11; Staudinger/Coing, 12. Aufl., Rn. 7 u. 30. 3 Motive, Band I. Allgemeiner Teil, S. 126. 2

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Verallgemeinernd versteht man unter einer Willenserklärung eine Äußerung, die auf die Herbeiführung eines rechtsgeschäftlichen Erfolgs4 oder das Zustandekommen eines bestimmten Rechtsgeschäfts gerichtet ist.5 Auch bei mehrseitigen Rechtsgeschäften, bei denen es inhaltlich auf die Übereinstimmung aller auf den Abschluss des Rechtsgeschäfts gerichteter Willenserklärungen ankommt, sind diese und nicht das Rechtsgeschäft als solches auszulegen.6 2. Der abstrakte Grundtatbestand der Willenserklärung und die konkrete Willenserklärung Die vorgenannte, allgemein akzeptierte Definition beantwortet allerdings die Frage, ob und mit welchem Inhalt im Einzelfall eine Willenserklärung vorliegt, noch nicht. Denn es gibt nicht „das“ Rechtsgeschäft an sich.7 Die Rechtsordnung selbst gibt eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Typen von Rechtsgeschäften vor und lässt im Übrigen den Privatpersonen nahezu uneingeschränkte Freiheit bei deren Umgestaltung sowie der eigenständigen Gestaltung ihrer rechtlichen Angelegenheiten durch individuelle und atypische rechtsgeschäftliche Regelungen.8 Schon die gesetzlich ausgestalteten Rechtsgeschäftstypen lassen Rechtsfolgen regelmäßig nur unter bestimmten Voraussetzungen eintreten. Allerdings sieht das Gesetz hierfür Standards vor, die die Parteien bei einfach gelagerten Geschäften von einer Vielzahl von Regelungen entlasten. Bestimmte individuelle Festlegungen sind jedoch auch bei typischen Rechtsgeschäften erforderlich. Welcher Kaufgegenstand etwa geschuldet ist, regelt das Gesetz in § 433 ff. BGB nicht. Bei individuell ausgestalteten Rechtsgeschäften ist der Wille der Beteiligten häufig auf ein komplexes Regelungsgebilde gerichtet, bestehend aus bestimmten Rechtsfolgen, die – nur – unter bestimmten Voraussetzungen eintreten sollen. Die Willenserklärung ist hier daher regelmäßig auf die Begründung, die Modifikation oder Aufhebung von Rechten und Pflichten als Rechtsfolge, abhängig von dem Eintritt oder Vorliegen bzw. der Änderung oder dem Entfallen bestimmter Voraussetzungen gerichtet. 3. Die konkrete Willenserklärung als maßgeblicher Rechtssatz für das schlüssige Vorbringen Ebenso wie die gesetzlichen Rechtsgrundlagen enthält auch das Rechtsgeschäft eine Regelung von Tatbestand und Rechtsfolgen, anderenfalls wäre das Rechtsge4

BGH, NJW 2002, 363 (364). Vgl. Leenen, in: FS Canaris, 2007, S. 699 ff. (704). 6 Vgl. nur Medicus/Petersen, BGB AT, 11. Aufl. 2016, Rn. 319. 7 Vgl. Flume, AT II, 4. Aufl. 1992, § 2 Ziffer 1. 8 Vgl. Flume, AT II, 4. Aufl. 1992, § 18 a). 5

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schäft unvollständig und als Anspruchs- oder Rechtsgrundlage untauglich. Anders als die gesetzlichen Rechtsgrundlagen muss das Rechtsgeschäft von der oder den Parteien erst geschaffen werden, damit aus ihm – inter partes – als maßgeblichem Rechtssatz9 die gewünschten Rechtsfolgen abgeleitet werden können. Schlüssig ist der Parteivortrag zu einem Anspruch aus Rechtsgeschäft also nur dann, wenn auch diejenigen Tatsachen zu Entstehen und Inhalt des Rechtsgeschäfts vorgetragen wurden, die eine Ableitung des Anspruchs als Rechtsfolge aus dem Rechtsgeschäft zulassen. Im Gegensatz zu einem Anspruch aus gesetzlichem Schuldverhältnis muss der Betroffene hier also 1. behaupten und ggfls. beweisen, dass eine rechtsgeschäftliche Regelung mit bestimmten Voraussetzungen und daran anknüpfenden Rechtsfolgen (Rechtssatz) besteht und 2. muss der Betroffene nachweisen, dass die Voraussetzungen für die vereinbarten Rechtsfolgen eingetreten sind. Das behauptete einseitige Rechtsgeschäft oder die rechtsgeschäftliche Vereinbarung bildet jeweils den Rechtssatz, dessen tatbestandliche Voraussetzungen der Betroffene schlüssig vortragen und ggfls. zu beweisen hat.10 Zu welchem Rechtssatz im Einzelnen vorzutragen ist, kann sich allerdings schlüssig aus dem tatsächlichen Vorbringen ergeben.11 Nach der Rechtsprechung bilden die zum Zustandekommen des Rechtsgeschäfts und zu dessen behaupteten Inhalt vorzutragende Tatsachen den Erklärungstatbestand, der gemäß § 286 ZPO durch das Gericht festzustellen ist.12 Gegen die vorgenannten zweistufigen Darlegensobliegenheiten wird häufig verstoßen. So hat der Bundesgerichtshof zu der Frage, ob ein Anwaltsvertrag konkludent geschlossen wurde, explizit gefordert, dass eine Partei, die eine bestimmte Rechtsfolge aus einem Rechtssatz begehrt zu den einzelnen tatbestandlichen Voraussetzungen dieses Rechtssatzes hinreichend vorzutragen hat. Bei konkludentem Verhalten eines Vertragsteils muss demzufolge nicht nur das ihm zugeschriebene Erklärungsergebnis, etwa eine angebliche Auftragserteilung, behauptet werden, vielmehr muss das tatsächliche Verhalten beider Parteien selbst so deutlich umschrieben werden, dass es auf den von dem angeblichen Auftraggeber behaupteten rechtlichen Erklärungsinhalt (Auftragserteilung und Auftragsgegenstand) hin gewürdigt werden kann.13

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Flume, AT II, 4. Aufl. 1992, § 14: „privatautonome Regelung gilt wie ein Rechtssatz“. BGH, NJW 1992, 2489; BGH, NJW 2001, 144 sub. II. 2. b); zuletzt BGH, NJW-RR 2018, 822 Rn. 20. 11 BGH, NJW-RR 2017, 380 Rn. 23, 24. 12 BGH, NJW-RR 1992, 773 sub. I. 1. b); BGH, NJW 2001, 144; BGH, NJW 2004, 2751 sub. II. 1. a) aa). 13 BGH, NJW 2003, 3564 (3565 sub. III. 1.). 10

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III. Zum materiellrechtlichen Verhältnis von empirischer und normativer Auslegung 1. Empirische und normative Auslegung in Rechtsprechung und Lehre Ziel der Auslegung ist zunächst die Ermittlung des wirklichen Willens des Erklärenden und/oder der übrigen Beteiligten als psychische Tatsache.14 Sie wird in der Literatur häufig als empirische oder natürliche Auslegung bezeichnet.15 Die Rechtsprechung vermeidet den Begriff und spricht stattdessen von der Feststellung des wirklichen oder des tatsächlich übereinstimmenden Willens16 bzw. von der empirischen Erforschung oder empirischen Tatsachenfeststellung, die keine Inhaltsbestimmung im Wege juristischer Auslegung ist.17 Kann der tatsächliche Wille nicht mit Sicherheit ermittelt werden, ist der Regelungswille durch objektiv-normative Auslegung zu ermitteln und zwar auch dann, wenn der Adressat ihn erkennen konnte aber tatsächlich nicht erkannt hat.18 Die normative Deutung stützt sich auf Hilfstatsachen (Erklärung und ihre Begleitumstände), die auf einem möglichen und/oder vernünftigen Regelungswillen der Beteiligten schließen lassen. Nach der überwiegenden Literatur ist auch hier das Auslegungsziel, den tatsächlichen Willen möglichst authentisch nachzuempfinden.19 Dagegen sieht die Rechtsprechung das Ziel normativer Auslegung in erster Linie darin, das vernünftigerweise Gewollte zu ermitteln, doch berücksichtigt sie dabei auch, was der Erklärungsempfänger tatsächlich hätte erkennen können und visiert damit auch das vom Erklärenden tatsächlich Gewollte an.20 2. Der Auftrag, den wirklichen Willens zu erforschen und dessen vorrangige Geltung Zu differenzieren ist zunächst zwischen dem Vorrang des wirklichen Willens als rechtsgeschäftlichem Selbstbestimmungsakt und dem gesetzlichen Gebot, den tatsächlichen Willen zu erforschen. Ein genereller Vorrang des tatsächlichen Willens des Erklärenden passt uneingeschränkt wohl nur zur Auslegung nicht empfangsbedürftiger Willenserklärungen. Für empfangsbedürftige Willenserklärungen und mehrseitige Rechtsgeschäfte ist der wirkliche Wille des Erklärenden aus Gründen des Verkehrsschutzes dagegen nur mit Einschränkungen maßgeblich.21 14

RGZ 150, 153. Vgl. etwa PWW/Ahrens, § 133 Rn. 16. 16 BGH, NJW 2001, 144 (145); BGH, NJW 2004, 2751 (2752). 17 BGH, NJW 2004, 2751 (2752). 18 Staudinger/Singer, 2016, § 133 Rn. 13; Flume, AT II., § 16 I 1d; anders Brox/Walker, AT, § 6 Rn. 12: erkennen können reicht. 19 Staudinger/Coing, 11. Aufl., § 133 Rn. 36: hypothetischer, mutmaßlicher Wille. 20 BGH, NJW 1984, 721; BGH, NJW 2004, 2751 (2752). 21 Vgl. nur Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 35 Rn. 3 u. 26 f. 15

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Systematisch gilt § 133 BGB auch für empfangsbedürftige Willenserklärungen bei der Begründung einseitiger und mehrseitiger Rechtsgeschäfte. Daher ist auch bei diesen Rechtsgeschäften der tatsächliche Wille des oder der Beteiligten zu erforschen.22 Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob und in welchem Umfang der festgestellte tatsächliche Wille des Erklärenden inhaltsbestimmend ist oder sein darf. Mit dem Gebot, den wirklichen Willen zu erforschen, hat der Gesetzgeber durchaus zum Ausdruck gebracht, dass dieser vorrangig gelten solle. Darin kann eine Bestätigung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit gesehen werden, die als Freiheit rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung essenzielle Grundlage der Privatrechtsordnung ist23 und als das Prinzip der eigenen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem Willen nunmehr von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet wird.24 Laut amtlicher Begründung wollte der Gesetzgeber den heutigen § 133 BGB aber nur als Hinweis verstanden wissen. Eine Auslegungsregel zum unbedingten Vorrang des wirklichen Willens wollte der Gesetzgeber ausdrücklich nicht aufstellen. Aus seinen Überlegungen geht hervor, dass die „Gegenpartei“ Schutz verdiene, wenn sie den „Sinn der Rede“ des Erklärenden missversteht.25 Im Übrigen sollte sich die Vorschrift ausdrücklich nicht in Widerspruch zu den Prinzipien der Vertragsschlussregeln und sicher auch nicht zu den übrigen Vorschriften über Willenserklärungen setzen. Dem lässt sich entnehmen, dass der wirkliche Wille zwar grundsätzlich Vorrang auch vor dem erklärten Willen haben sollte, andere am Rechtsgeschäft Beteiligte aber am wirklichen Willen nicht festgehalten werden dürfen, soweit sie ihn nicht oder missverstanden haben. Dasselbe folgt zwingend aus dem das Bürgerliche Recht beherrschenden Grundsatz der Privatautonomie, der auch die anderen am Rechtsgeschäft Beteiligten vor rechtsgeschäftlicher Fremdbestimmung schützt.26 Der Adressat empfangsbedürftiger Willenserklärungen bedarf, wenn er Inhalt und Tragweite der Äußerung des Erklärenden nicht erkennen kann, des Schutzes vor „Missverständnissen“ immer dann, wenn und insoweit eine Erklärung auf seine Rechtsstellung einwirkt, wie dies bei mehrseitigen Rechtsgeschäften und bei bestimmten empfangsbedürftigen Willenserklärungen, wie etwa bei Gestaltungserklärungen, der Fall ist.27 Liegen insbesondere bei mehrseitigen Rechtsgeschäften übereinstimmende Willenserklärungen der Beteiligten vor, besteht kein Schutzbedarf der Beteiligten. Denn wenn bei keinem der Beteiligten ein Missverständnis vorliegt, ist es wegen des Grundsatzes der Vertragsfreiheit nicht zu rechtfertigen, eine andere rechtliche Regelung als die wirklich gewollte zur Geltung zu bringen.28

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Medicus/Petersen, BGB AT, Rn. 319; BGH, NJW 1999, 486. Vgl. Flume, AT II, 4. Aufl. 1992, § 18 a). 24 BVerfG, NJW 2006, 596 (598). 25 Motive, Bd I., S. 154 f. 26 Vgl. etwa Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 35 Rn. 3. 27 Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 35 Rn. 36, 26 f. 28 BGH, NJW 1984, 721. 23

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3. Das mutmaßlich oder vernünftigerweise Gewollte als ersatzweise geltender Regelungswille Gelingt es nicht festzustellen, was der Erklärende wirklich gewollt und dass der Empfänger die Erklärung in diesem Sinne auch verstanden hat, „darf der Richter die Auslegung damit noch nicht abbrechen“, vielmehr kommt es dann in einer weiteren Stufe des Auslegungsvorgangs gem. §§ 133, 157 BGB darauf an, wie der Empfänger der empfangsbedürftigen Willenserklärung diese bei objektiver Würdigung aller Umstände und mit Rücksicht auf Treu und Glauben zu verstehen hatte.29 Dieses, normative oder richterlich gewonnene Auslegungsergebnis kann, muss sich aber nicht, mit dem tatsächlichen Willen der Beteiligten decken. Da die normative Auslegung zu gravierenden Eingriffen in die rechtsgeschäftliche Selbstbestimmungsfreiheit mit unter Umständen einschneidenden wirtschaftlichen Konsequenzen führen kann, darf von ihr nur ersatzweise Gebrauch gemacht werden, wenn und insoweit alle verfahrensrechtlich gebotenen Mittel ausgeschöpft sind, den tatsächlichen übereinstimmenden Willen der Beteiligten zu ermitteln. Denn bei der normativen oder auch richterlichen Auslegung30 soll es nach der Rechtsprechung grundsätzlich nicht darum gehen, herauszufinden, was die Beteiligten tatsächlich gewollt haben, sondern allein um die wertende Erfassung „des von den Parteien vernünftigerweise Gewollten“.31 Authentisch bleiben dann nur die Auslegungsgrundlagen: Es kommt nur noch darauf an, wie der Adressat den Erklärungstatbestand einschließlich aller anderen, ihm zugänglichen und für die Auslegung bedeutsamen Umstände aus Sicht eines objektiven und redlichen Empfängers – vernünftigerweise – verstehen durfte.32 Bei diesem Verständnis der richterlichen Deutungsaufgabe ist das Ergebnis der Auslegung qualitativ und inhaltlich „eine andere Regelung“ als das wirklich Gewollte,33 das der Richter nicht leichtfertig an die Stelle der Regelung setzen darf, die kraft Parteiwillens gelten sollte.34 In anderen Entscheidungen betont die Rechtsprechung allerdings, dass es auch Ziel der normativen Auslegung sei, den wirklichen Willen zur Geltung zu bringen.35 Das spiegelt sich in einer Reihe von Entscheidungen, in denen ein übereinstimmender Wille nicht festgestellt, sondern aufgrund von Indizien und Schlussfolgerungen nur angenommen wird, etwa weil der Erklärungsempfänger den Willen des Erklärenden bei Abschluss des Rechtsgeschäfts erkannt haben muss.36 Das lässt auf eine extensive Handhabung der empirischen Bestimmung des tatsächlichen Willens37 und 29

BGH, NJW 1984, 721. BGH, NJW 2004, 2751 (2752). 31 BGH, NJW 1984, 721; BGH, NJW 2004, 2751 (2752); BGH, NJW 2006, 1511. 32 BGH, NJW 1984, 721. 33 BGH, NJW 1984, 721. 34 BGH, NJW 1984, 721. 35 BGH, NJW 2004, 2751 sub. II. 1. a). 36 BGH, NJW 2002, 1038 (1039); BGH, NJW-RR 1989, 932. 37 Ebenso Brox/Walker, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 6 Rn. 12.

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ein zweigeteiltes Verständnis des Anwendungsbereiches normativer Auslegung schließen.

IV. Überschneidungen von empirischer und normativer Sinnermittlung im Prozess Eine idealtypische Aufteilung der Willenserforschung in Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung ist tatsächlich kaum durchzuhalten. Ohne wertende Feststellungen zum wirklichen Willen kommt die Rechtsprechung etwa nur dann aus, wenn einvernehmlicher Parteivortrag vorliegt,38 er durch Zeugen bewiesen39 wird oder eine authentische Interpretation der betroffenen Parteien40 vorliegt. In den Fällen, in denen der tatsächliche Wille nicht – unmittelbar – aus den ausdrücklich oder konkludent geäußerten Vorstellungen und Überlegungen der Parteien, sondern allein auf Grundlage oder unter Zuhilfenahme sonstiger Umstände41 angenommen ein, beziehungsweise aus Auslegungsregeln oder Erfahrungssätzen abgeleitet wird, handelt es sich nicht um eine unmittelbare empirische Feststellung innerer Tatsachen, sondern um den Schluss aus Indizien auf innere Tatsachen. Auch innere Tatsachen können aber häufig nicht ohne Weiteres mit dem zu ermittelnden rechtsgeschäftlichen Regelungswillen gleichgesetzt werden. So spricht zwar nichts dagegen, aus der Wortwahl zweier sprachkundiger Parteien auf deren gemeinsames grammatikalisches Verständnis zu schließen, doch erfordert die Feststellung eines übereinstimmenden rechtlichen Regelungswillens in einem solchem Fall42 auch bei eindeutigem Wortlaut stets noch einen mehr oder minder ausgeprägten Bewertungsaufwand43 und zwar sowohl mit Blick auf den rechtsgeschäftlichen Inhalt als auch bezüglich dessen Zurechenbarkeit. Hinzu kommt, dass auch die Verwendung von geläufigen Rechtstermini unter Kaufleuten und Rechtskundigen durchaus nicht immer zwingend auf einen übereinstimmenden Willen schließen lassen muss, weil noch etwa eindeutige Handelsbräuche oder Verkehrssitten zur Bejahung eines übereinstimmenden Willens herangezogen werden müssen, deren Existenz tatsächlich festgestellt und die sodann als auf die konkrete Situation anwendbar bewertet werden müssen.44 Die Übergänge zwischen tatsächlichen Feststellungen und norma-

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BGHZ 71, 243 (247). BGH, NJW 1992, 2489 sub. II. 1. 40 BGH, NJW 1999, 486 (487). 41 BGH, NJW 2002, 1034 sub. II. 3. A. 42 BGHZ 113, 251 (258): „kostenlos“ entspricht „unentgeltlich“. 43 Vgl. BGH, NJW 1992, 1446 f.: fehlende rechtsgeschäftliche Übereinstimmung bei Unkenntnis von der rechtstechnischen Bedeutung von „auf erstes Anfordern“. 44 BGH, NJW 1990, 1723, 1724; OLG Koblenz NJW-RR 1988, 1306. 39

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tiven Auslegungen sind daher zumindest fließend, was auch die Rechtsprechung anerkennt.45 Bei genauem Hinsehen ist die Rechtsprechung aber wohl in viel höherem Maße auf normative Auslegung angewiesen, als sie vorgibt. Denn zu einer unmittelbaren Ableitung des Willens als innere Tatsache aufgrund des festgestellten Erklärungstatbestandes und seiner Begleitumstände kommt es nur in den Fällen, in denen aus dem Wortlaut oder den Umständen direkt auf den Regelungswillen der Beteiligten geschlossen werden kann, was nur selten gelingt, siehe unter V. 2.

V. Anforderungen an den Richter bei der Ermittlung des Erklärungstatbestandes der Beweiswürdigung und der Auslegung 1. Bestandteile des Erklärungstatbestandes Die Bestimmung des rechtsgeschäftlichen Inhalts von Erklärungen und deren Zurechnung (Kenntnis/kennen können?) kann sowohl deskriptive als auch normative Ausdruckselemente zum Gegenstand haben. Beide Arten sind mögliche Bestandteile des Erklärungstatbestandes, bedürfen aber unterschiedlicher Behandlung. Der Gegenstand eines Leistungsversprechens wird häufig mit deskriptiven Ausdrucksmitteln konkretisiert, so etwa bei der Individualisierung einer Stückschuld oder der Größe eines verkauften Grundstücks.46 Hier ist die empirische Feststellung des wirklich Gewollten in Reinform möglich. Der Anspruch auf Gewährung von Anteilen gegen Sacheinlage in eine Kapitalgesellschaft hängt dagegen von einer Vielzahl von teils individuell zu vereinbarenden, teils gesetzlich vorgegebenen rechtlichen Punkten ab, die nur ein Spezialist aus dem Stegreif überblickt. Hier setzt eine empirische Zurechnung des wirklichen Willens, der alle notwendigen rechtlichen Gesichtspunkte abdeckt, sowohl eine normative Analyse des objektiv-rechtlich Intendierten als auch die ebenfalls normative Feststellung voraus, dass die Regelung von den Beteiligten auch rechtlich vollständig verstanden wurde. a) Der Erklärungstatbestand als Ort und Grundlage für die Feststellung des tatsächlichen Willens und für die normative Auslegung Der Erklärungstatbestand bildet die Grundlage für die Ermittlung des Inhalts von Individualvereinbarungen47 und dessen Zurechnung. Er setzt sich zusammen aus den beiderseitigen Willenserklärungen und den weiteren tatsächlichen Umständen, die für das Verständnis der Vereinbarung von Bedeutung sind. Dabei sollten Umfang 45

BGH, NJW 2002, 1034 sub. II. 3. a BB. MüKoZPO/Krüger, § 546 Rn. 9: Fließende Übergänge, weil die empirische Tatsachenfeststellung normative und die normative Auslegung tatsächliche Elemente einschließt. 46 BGH, NJW 2008, 2658. 47 BGH, NJW 2004, 2751 (2752); BGH, NJW 2001, 144.

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und Gegenstände des zu ermittelnden Erklärungstatbestandes schon aus prozessökonomischen Gründen weit gefasst werden und damit schon bei der Beweiserhebung alle von den Parteien benannten Umstände einbeziehen, die für die Beweiswürdigung sowohl zum tatsächlichen Willen, als auch für die nachrangigen normativen Überlegungen von Bedeutung sein können.48 Beweisrechtlich handelt es sich bei dem zu erforschenden Geschäftswillen um eine Haupttatsache, auf die entweder direkt oder mittelbar aufgrund von Hilfstatsachen oder Indizien geschlossen werden kann. Dazu zählt auch der von dem Erklärenden gewählte Wortlaut, mit dem nur dann der rechtliche Regelungswille direkt bewiesen werden kann, wenn auch die Feststellung gelingt, dass den Beteiligten die rechtliche Bedeutung der Erklärung bewusst war, was ohne Weiteres bei einfachen rechtstatsächlichen Begriffen (Kauf, Miete etc.) angenommen werden kann. Anderenfalls ist der Wortlaut nur Indiz. Wenn bereits die Feststellung des Erklärungstatbestandes keine Frage dazu offen lässt, welche Rechtsfolgen die Parteien mit ihrer Vereinbarung tatsächlich gewollt haben, bedarf es keiner weiteren rechtlichen Würdigung der Vereinbarung. Lässt sich den festgestellten Tatsachen hingegen ein übereinstimmender Wille der Parteien nicht zweifelsfrei entnehmen, ist es Aufgabe des Richters, die festgestellten Tatsachen im Hinblick auf die umstrittenen Rechtsfolgen (und deren Voraussetzungen) zu würdigen und dadurch den rechtsgeschäftlichen Inhalt des Vertrages heteronom zu bestimmen.49 b) Die Bedeutung des Wortlauts und anderer Umstände Nicht immer existieren für die Ermittlung des Inhalts von Vereinbarungen hinreichende wörtliche Absprachen der Parteien. Sind sie jedoch vorhanden, ist in erster Linie von dem gewählten Wortlaut der Parteien und dem diesem zu entnehmenden objektiv erklärten Parteiwillen auszugehen.50 Das ist kein Bekenntnis zur Erklärungstheorie sondern steht noch ganz im Einklang mit § 133 BGB, der nur ein „Haften“ an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks verbietet, damit aber gleichzeitig vom Wortlaut als natürlichem Ausgangspunkt ausgeht. Der hervorgehobenen Bedeutung des Wortlauts liegt außerdem der Erfahrungssatz zugrunde, dass die Vertragsschließenden gerade mit der von ihnen gewählten Formulierung einen bestimmten Regelungswillen zum Ausdruck bringen und festhalten wollten.51 Dieser Ansatz entkräftet den Grundsatz des Vorranges des tatsächlichen oder übereinstimmend Gewollten nicht, sondern verstärkt ihn. Daher repräsentiert der einvernehmliche Wortlaut in besonderer Weise prima facie auch das von den Parteien übereinstimmend in48 Anders etwa Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 35 Rn. 4: Beschränkung auf den Erklärungsvorgang bei normativer Auslegung aber weites Verständnis bei empirischer Auslegung, Rn. 23. 49 BGH, NJW 1984, 721. 50 Staudinger/Singer 2016, § 133 Rn. 45: Auslegungsregel; BGH, NJW 1993, 271; BGH, NJW 2001, 144. 51 BGHZ 20, 109 (110); BGH, NJW 1998, 3266.

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haltlich Gewollte. Auch eindeutige Erklärungen sind jedoch anders als ihr Wortlaut zu verstehen, wenn sich ein von ihm abweichender Parteiwille feststellen lässt, falsa demonstratio non nocet.52 Andere Umstände, wie die Verhandlungs- oder Vorgeschichte, die wirtschaftliche Interessenslage und sonstige Begleitumstände können daher zwar grundsätzlich dem gewöhnlichen oder fachspezifischen Sprachsinn gleich zu bewertende Bedeutung erlangen und durchaus auch als direkte Beweismittel für einen abweichenden wirklichen Willen infrage kommen, doch trifft denjenigen, der sich auf ihn beruft, insofern grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast.53 2. Der Erklärungstatbestand als Gegenstand und Ergebnis der „Beweiswürdigung“ gem. § 286 ZPO und empirische Feststellung oder normative Bestimmung des wirklich Gewollten a) Rechtsprechungsbeispiele zur Feststellung von tatsächlichen und rechtstatsächlichen Verständnisinhalten Das Tatgericht stellt den gesamten Erklärungstatbestand einschließlich etwaiger innerer Tatsachen aufgrund des gesamten Prozessstoffs nach freier Überzeugung fest. § 286 ZPO berechtigt den Richter unter anderem dazu, aus Erklärungen in einer Sprache, die beide Parteien beherrschen, auf deren gemeinsames Verständnis zu schließen. Doch reicht das natürliche Sprachverständnis nicht immer aus, um den rechtsgeschäftlichen Sinn der Erklärung zu verstehen. In diesen Fällen muss entweder die besondere Sachkunde oder das erforderliche Rechtsverständnis des Empfängers empirisch festgestellt oder aus den Umständen – normativ – abgeleitet werden.54 So hatte das Tatgericht einem juristischen Laien wohl geglaubt, dass er den Bürgschaftszusatz „auf erstes Anfordern“ für eine Fälligkeitsregelung gehalten hatte. Es hatte außerdem mangels Sachvortrags des Klägers zu besonderen Erfahrungen dieses Bürgen auf dem Gebiet des Kreditsicherungsrechts angenommen, dass dieser weder dem Zusatz „auf erstes Anfordern“ noch den sonstigen Umständen einen über dem Standardinhalt einer Bürgschaft hinausgehenden Regelungsgehalt entnehmen musste.55 Umgekehrt glaubte das Landgericht Berlin einem Jura-Professor nicht, dass ihm die Bedeutung eines Schuldanerkenntnisses nicht geläufig gewesen sei.56 Die beiden vorgenannten Fälle lassen jedoch Fragen offen. Im Bürgschaftsfall mit einem zu sichernden Kreditvolumen von DM 300.000,– muss man ein Fragezeichen bei der aufzuwendenden Verständnissorgfalt des Bürgen machen und den dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen. Der vom Landgericht Berlin entschiedene Fall ist zwar 52

BGH, NJW 2002, 1039; BGH, NJW 2008, 1658. BGH, NJW 2002, 1039 (1040); BGH, NJW 1984, 721 (722); BGHZ 20, 110 f. 54 BGH, NJW 1992, 1446 f.; LG Berlin, NJW 2005, 993: Erklärung eines „Schuldanerkenntnisses“ durch einen Jura-Professor. 55 BGH, NJW 1992, 1446. 56 LG Berlin, NJW 2005, 993. 53

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im Ergebnis, aber nicht mit der gegebenen Begründung nachvollziehbar. Denn das Gericht schloss aus der beruflichen und akademischen Qualifikation des Beklagten ohne weiteres auf dessen tatsächliche Kenntnis von der rechtlichen Bedeutung eines Schuldanerkenntnisses. Dabei hätte es genügt, einen übereinstimmenden Willen der Parteien normativ festzustellen, weil der Beklagte aufgrund seiner Qualifikation gehalten war, sich über die rechtliche Bedeutung seiner Erklärung zu vergewissern. Eindeutige vorvertragliche Umstände, wie etwa das Abschreiten und Besichtigen eines Grundstücks unter Zuhilfenahme einer genauen Grundstücksskizze, berechtigen dazu, eine konkludente Einigung über das besichtigte Grundstück anzunehmen, selbst wenn die spätere notarielle Kaufvertragsurkunde, unbemerkt von den Parteien, ausdrücklich nur einen Grundstücksteil des besichtigten Areals verbrieft.57 Das Gericht schließt in diesen Fällen aus den Umständen vor oder bei Vertragsschluss zurecht aus äußeren Tatsachen auf die innere Tatsache, dass selbst die bestreitende Partei die Vereinbarung in Kenntnis des wirklichen Willens des anderen Teils geschlossen hat. Eine nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung gemäß § 434 Abs. 1 S. 2 Ziff. 1 BGB bejahte der Bundesgerichtshof aufgrund des Wortlauts des Kaufvertrages und von Prospektangaben des Verkäufers sowie zusätzlicher Begleitumstände bei Vertragsschluss, weil diese „in den übereinstimmenden Vertragswillen der Parteien in Gestalt der von ihnen vorausgesetzten Verwendung eingeflossen“ seien.58 Ob der Käufer auf diese Angaben und Begleitumstände aber auch tatsächlich vertraut hatte, stellte der Bundesgerichtshof nicht fest, er befand nur, dass er habe vertrauen dürfen. Auch hier handelt es sich um einen Schluss auf den tatsächlichen Willen aus normativen Überlegungen. b) Kritische Überlegungen zum Umfang rechtstatsächlicher Feststellungen des Inhalts von Willenserklärungen Die geschilderte Rechtsprechung ist im Ergebnis zwar überzeugend. Geht man allerdings weiter davon aus, dass ein übereinstimmender Wille auch nach der Rechtsprechung nach wie vor nur dann anzunehmen ist, wenn der Erklärungsempfänger auch den wirklichen Willen des Erklärenden erkennt und in Kenntnis dieses Willens den Vertrag abschließt,59 reicht für die tatsächliche Zurechenbarkeit auch leichtfertige Unkenntnis und schon gar nicht erkennen können aus. Andererseits zeigt sich, dass nicht nur der Schluss von deskriptiven Erklärungsbestandteilen oder -umständen auf ein entsprechendes Verständnis der Beteiligten sodern auch die Zurechnung rechtlicher Regelungsinhalte aufgrund normativer Würdigung plausibel ist. Denn es ist methodisch vollständig nachvollziehbar, bestimmte 57

BGH, NJW 2002, 1038 (1039); BGH, NJW 2008, 1658. BGH, NJW-RR 2018, 823 Rn. 29 f. 59 BGH, NJW 1983, 721; BGH, NJW-RR 1993, 373. 58

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rechtliche Regelungsinhalte als wirklich gewollt – empirisch – festzustellen, solange ausreichende deskriptive und/oder normative Anhaltspunkte hierfür in den jeweiligen Erklärungen und ihren Begleitumständen vorhanden sind um dem von § 286 ZPO geforderten Beweismaß zu genügen. Ergeben die Gesamtumstände jedoch nur ein „erkennen können“, kann ein solcher Schluss nicht mehr gezogen werden. Methodisch betrachtet beeinträchtigt die Feststellung innerer Tatsachen bis zu dieser Grenze den Wert der gefundenen Ergebnisse nicht. Für die Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO und die normative Auslegung als Rechtsanwendung gelten mit dem Gebot der Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit, der Beachtung von Erfahrungssätzen etc. im Übrigen grundsätzlich die gleichen Grundsätze. Daher ist die Frage, ob normative Ansätze nur bei normativer Auslegung oder auch zur empirischen Willensfeststellung eingesetzt werden dürfen eine Begriffsfrage ohne heuristischen Wert. Die Ermittlungen zum wirklichen Willen dürfen aber nicht schon deswegen abgebrochen werden, weil das Auslegungsergebnis schon aus normativen Gründen festzustehen scheint. Zulässig ist dies nur, wenn es das wirklich Gewollte bestätigt und ein Gegenbeweis nicht übergangen wird. Zum anderen ist auch die normative Auslegung insbesondere mit Blick auf Erfahrungssätze, Auslegungsregeln etc. von gründlichen Tatsachenfeststellungen abhängig. Der Vorrang des wirklichen Willens intensiviert damit auch die Ermittlungsanforderungen an das Gericht mit Blick auf die empirischen Grundlagen für die normative Bestimmung des Gewollten. Die weitestmögliche Erforschung und Bestimmung des tatsächlich Gewolltem auch mit normativen Mitteln ist daher, sofern sie auf ausreichender Tatsachengrundlage erfolgt, begrüßenswert und gerechtfertigt, weil auch derjenige keinen Schutz vor der Geltung des Regelungswillens des Erklärenden verdient, der diesen bei zumutbarer Verständnissorgfalt erkennen kann.60 Als Nebeneffekt verschiebt dieses Verständnis auch die Grenze, ab der eine vollständige Ablösung von den Vorstellungen der Parteien und eine ausschließlich vernünftige Bestimmung des Gewollten zulässig ist.

3. Der Erklärungstatbestand als Grundlage für die objektiv-normative Auslegung Um Ermittlung des Regelungswillens im Wege objektiv-normativer Auslegung handelt es sich nach der Rechtsprechung daher nur noch, wenn sich dieser auch nicht unter Zuhilfenahme normativer Überlegungen dem Erklärungstatbestand entnehmen lässt.61 Erst dann bestimmt der Richter den Inhalt des Rechtsgeschäfts frei von den konkreten Vorstellungen der Beteiligten. Dies ist reine Rechtsanwendung und vom Berufungsgericht vollständig überprüfbar.62 Dabei überprüft das Berufungsgericht auch, ob das Erstgericht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, ein 60

Ebenso Brox/Walker, BGB AT, 44. Aufl. 2020, § 6 Rn. 12. BGH, NJW 1998, 1480. 62 BGH, NJW 2004, 2151 (2753 f.).

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dem mutmaßlichen Parteiwillen möglichst nahekommendes Auslegungsergebnis zu erzielen.

VI. Materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Fehler bei der Auslegung im Zivilprozess, Rechtsfolgen 1. Vorbemerkung Seit der ZPO-Reform 2001 erreichen Verfahrens- und Rechtsfehler nur noch ausnahmsweise die Revisionsebene. In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat § 544 Abs. 7 ZPO, den der Gesetzgeber nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 04. 200363 eingefügt hat, diese Beschränkung erheblich gemildert, denn es hat sich gezeigt, dass sich Fehler bei der Tatsachenermittlung, bei der Beweiswürdigung sowie die Verletzung von Hinweispflichten regelmäßig zugleich als Verletzungen des rechtlichen Gehörs anzusehen sind.64 Problematisch sind allerdings die Fälle, in denen der Verfahrensfehler auf einer Fehleinschätzung des materiellen Rechts beruht. Dann steht nur der Weg über § 543 Abs. 2 ZPO zur Verfügung. Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass der Bundesgerichtshof gerade im Bereich der Verfahrensgrundrechte, die auch für die vollständige Ermittlung des jeweiligen Erklärungsvorgangs und dessen Würdigung von größter Bedeutung sind die Einhaltung der Rechte der Parteien sorgfältig überwacht,65 wie auch die folgenden Beispiele zeigen. 2. Übergehen von Parteivortrag und Beweisantritten/ Unvollständige Ermittlung des Erklärungstatbestandes Berücksichtigt das Gericht nicht alle – erheblichen und behaupteten – äußeren und inneren Tatsachen, die für die Feststellung des tatsächlichen Willens der am Rechtsgeschäft Beteiligten erforderlich sind, oder unterlässt er es, sofern ein tatsächlicher Wille nicht zweifelsfrei feststellbar ist, die für die Ableitung des normativ anzunehmenden Willens bedeutsamen Umstände festzustellen, verletzt der Richter seine verfahrensrechtliche Verpflichtung zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts. Dieser Fehler beruht häufig auf einer Verkennung der für die Feststellung des tatsächlichen Willens notwendigen oder ausreichenden Tatsachen und sonstigen Umstände.66 So liegt es etwa in den Fällen, in denen das Gericht Beweiserhebungen und Behauptungen zum tatsächlichen Willen der am Rechtsgeschäft Beteiligten als uner-

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BVerfG, JZ 2003, 791 f. Siegmann, JZ 2017, 598 ff.; Geisler, AnwBl 2017, 1046. 65 Geisler, Anwaltsblatt 2017, 1046 (1071). 66 BGH, NJW-RR 1989, 931 (932); BGH, NJW 1992, 2489; BGH, NJW 1989, 527; BGH, NJW 1995, 1350 (1352). 64

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heblich ablehnt, weil sich aus den Vertragsschlussumständen, insbesondere dem Wortlaut eines Vertrages, ein Vorrang des tatsächlichen Willens verneinen lasse.67 Die Ablehnung der Beweiserhebung wegen Unerheblichkeit der zu beweisenden Tatsachen kann in diesen Fällen auch nicht damit begründet werden, dass andere Vertragsschlussumstände ganz überwiegend gegen einen übereinstimmenden Willen sprechen könnten.68 Denn darin läge eine vorweggenommene Beweiswürdigung, da dem angebotenen Beweismittel die Beweiseignung abgesprochen würde. Völlig ungeeignete Beweismittel können zwar abgelehnt werden, im Übrigen darf die Beweiskraft von Beweismitteln aber nur ex post bei der Beweiswürdigung beurteilt werden. Hingegen bezieht sich das Merkmal der Erheblichkeit von vornherein nur auf die zu beweisenden Tatsachen. Solange aus diesen, ihre Richtigkeit unterstellt, auf das Vorliegen entscheidungserheblicher Merkmale eines maßgeblichen Rechtssatzes geschlossen werden kann, muss der Beweis erhoben werden. 3. Fehler bei der Feststellung des Erklärungstatbestandes des § 286 ZPO Einen Beweiswürdigungsfehler nimmt die Rechtsprechung an, wenn das Tatgericht verkennt, dass die Parteien zum Inhalt eines Rechtsgeschäfts übereinstimmend vorgetragen haben, und es deswegen übersieht, dass der Prozessvortrag der Parteien das aus dem Wortlaut einer Urkunde sich ergebende Verständnis bestätigt69 oder wenn das Tatgericht etwa übersieht, dass eine grammatikalische Übereinstimmung der Erklärungen vorliegt.70 Eine fehlerhafte Beweiswürdigung liegt auch vor, wenn das Tatgericht wesentliche Tatumstände, die für einen übereinstimmenden Willen der Parteien sprechen, bei seinen Feststellungen unberücksichtigt lässt.71 Auch darf das Gericht dann, wenn es von der Richtigkeit von Zeugenaussagen ausgeht, nicht wegen anderer Umstände, die zwar gegen ein gemeinsames Verständnis der Parteien vom Inhalt eines Rechtsgeschäfts (etwa Schenkung) sprechen, aber nicht das gleiche Gewicht wie die Aussage der Zeugen haben, die Feststellung eines gemeinsamen Verständnisses zu verneinen.72 Umgekehrt ist eine Feststellung zum Erklärungstatbestand einer Vereinbarung über die vertraglich vorausgesetzte Verwendung eines Kaufgegenstands verfahrensfehlerhaft, wenn das Tatgericht nicht den Inhalt aller kaufvertraglicher Vertragsdokumente ausschöpft und die aus den Gesamtumständen hervorgehende Zweckbestimmung des Verkaufsgegenstandes unberücksichtigt lässt.73 67

BGH, NJW 1992, 2489: Mündlich vereinbarte aufschiebende Bedingung. BGH, NJW 1992, 2489 (2490); BGH, NJW 2001, 144 (145). 69 BGH, NJW 2001, 143. 70 BGHZ 113, 251 (258). 71 BGH, NJW 1998, 246 (747). 72 BGH, NJW 1984, 721. 73 BGH, NJW-RR 2018, 823 Rn. 29 ff. 68

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4. Verletzung von Hinweispflichten – Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz, § 139 ZPO § 139 ZPO und Art. 103 Abs. 1 GG begründen den Schutz vor Überraschungsentscheidungen.74 Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet darüber hinaus das auf den gesamten Verfahrensstoff in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bezogene Äußerungsrecht.75 Insofern verpflichtet dieses Verfahrensgrundrecht zum Hinweis auf zusätzliche Substantiierungsanforderungen76 und Rechtsausführungen. Denn eine dem Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt auch zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann.77 In diesen Punkten decken sich die aus Art. 103 Abs. 1 GG resultierenden Aufklärungs- und Informationspflichten mit entsprechenden Hinweispflichten aus § 139 ZPO,78 sodass eine verfahrensrechtliche Hinweispflichtverletzung regelmäßig auch einen Verfassungsverstoß enthält. Hält das Tatgericht den Vortrag oder das Beweisangebot einer Partei zum Zustandekommen oder dem Inhalt einer Vereinbarung für unschlüssig, muss es darauf hinweisen, es sei denn, die Frage ausreichender Substantiierung war bereits Gegenstand der Auseinandersetzungen des wechselseitigen Vorbringens der Parteien.79 Außerdem leidet eine Entscheidung, zu deren tatsächlichen oder rechtlichen Grundlagen die Parteien unverschuldet nicht Stellung nehmen konnten, auch an einer verfahrensfehlerhaften Entscheidung auf unvollständiger Grundlage.80 5. Materielle Rechtsfehler Um eine Verletzung materiellen Rechts handelt es sich, wenn ein Gericht, obwohl es einen übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien festgestellt hat, seiner Entscheidung stattdessen ein davon abweichendes, normatives Auslegungsergebnis zugrunde legt.81 Dieser Fehler ist wegen grundsätzlicher Bedeutung oder zum Schutze einheitlicher Rechtsprechung immer ein Fall von § 543 Abs. 2 ZPO, weil er eine Missachtung des rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungsrechts enthält, das von 74

BVerfG, NJW 2002, 1334; BVerfG, NJW 2003, 1726; BVerfG, NJW 2007, 3771. BVerfGE 86, 280; BVerfGE 86, 133; BVerfGE 84, 188. 76 BVerfGE 84, 188 (190). 77 BVerfG, NJW 1996, 3202: Für rechtliche Gesichtspunkte; BVerfG, NJW 1991, 2803: Tatsächliche Gesichtspunkte. 78 Vgl. BGH, WM 2016, 534 (535); BGH, WM 2012, 1771; BGH, NJW-RR 2006, 937. 79 BGH, NJW 2010, 3089 Rn. 18 m.w.N. 80 BGH, NJW 1996, 3202; BGH, NJW 1992, 2209. 81 BGHZ 71, 243 (246 f.); BGH, NJW 2015, 409 Rn. 10; BGH, NJW 1998, 746 (747); BGH, NJW 1984, 721; BGH, NJW 2001, 143; BGH, NJW 2002, 1039 f. 75

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Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird.82 Auch soweit Verfahrensverletzungen, wie etwa das Übergehen von Beweisantritten, auf einer Missachtung des Vorrangs des wirklichen Willens oder des aus §§ 135, 157 BGB resultierenden Gebots, den wirklichen Willen erschöpfend zu ermitteln, beruhen, berühren diese den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG. Eine willkürliche Rechtsanwendung (Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG) hat der Bundesgerichtshof in einem Fall angenommen, in dem das Tatgericht keine Feststellungen zu einem übereinstimmenden Parteiwillen getroffen hatte, die eine vom Wortlaut des Vertrages abweichende Auslegung hätte stützen können. Außerdem fehlten in dem Urteil jegliche normative Überlegungen zu einer solchen Auslegung. Eine solche Rechtsanwendung sei sachlich schlechthin unhaltbar und daher bei dem gebotenen objektiven Maßstab als willkürlich anzusehen, weil sie unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar erscheine und sich deshalb der Schluss aufdränge, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhe.83 Gegen materielles Recht verstößt eine Missachtung des Vorrangs des wirklichen Willens und dessen Ersetzung durch richterlich gefundenes normatives Auslegungsergebnis aber auch deswegen, weil es eine Verletzung der Vertragsfreiheit darstellt, die durch Art. 2 Abs. 1 GG als das Recht, seine wirtschaftlichen und privaten Angelegenheiten rechtsgeschäftlich im Rahmen der Rechtsordnung ansonsten regeln zu dürfen, verfassungsrechtlich gewährleistet ist.

VII. Schlussbemerkungen In der ganz überwiegenden Zahl der Rechtsgeschäfte stimmt der rechtsgeschäftliche Wille der Beteiligten tatsächlich überein. Im Prozess kann eine bestimmte Rechtsfolge aus einem Rechtsgeschäft der jeweiligen Partei nur dann zugesprochen werden, wenn ein diese Rechtsfolge umfassender Regelungswille ermittelt werden kann, indem er entweder als übereinstimmender Parteiwille festgestellt (überwiegend Tatfrage) oder normativ bestimmt werden kann (überwiegend Rechtsfrage). Zwischen empirischer und normativer Auslegung besteht keine scharfe Grenze. Vielmehr verhalten sich empirische Auslegung und normative Auslegung komplementär zueinander. Das Material für die empirische oder normative Bestimmung des wirklichen Parteiwillens ist das Ergebnis tatrichterichterlicher Ermittlung des Prozessstoffs und dessen Würdigung. Der Prozessstoff sollte, schon aus prozessökonomischen Gründen, alle dafür bedeutsamen Erklärungstatsachen und Begleitumstände sowohl für die empirische als auch für die – rechtliche nachrangige – normative Willensfeststellung in einem Schritt umfassen. Für die Bedeutsamkeit der für die Bestimmung des Willens zu ermittelnden Umstände ist das vorgetragene Auslegungsergebnis ausschlaggebend. 82 83

MükoZPO/Krüger, § 543 Rn. 18: Verfassungsverstöße. BGH, NJW 2005, 153 f.

Verhältnis von empirischer zu normativer Auslegung in der Rechtsprechung

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Die Pflicht zur Ermittlung des wirklichen Parteiwillens und der Vorrang des festgestellten tatsächlichen Parteiwillens vor jeder anderen Bestimmung des rechtsgeschäftlichen Regelungsinhalts ist unmittelbare Konsequenz der von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Vertragsfreiheit als notwendiges Grundelement der Privatautonomie. Aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit folgen sowohl für die empirische als auch für die normative Bestimmung des Parteiwillens hohe verfahrensrechtliche Sorgfaltspflichten bei der Sammlung des Prozessstoffes und dessen Würdigung. Eine Vernachlässigung dieser Sorgfalt gefährdet die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Privatautonomie der jeweils betroffenen Prozesspartei.

Kants Idee eines Weltbürgerrechts Von Jens Petersen

I. Weltbürgerliche Absicht Zu den visionären, aber gleichwohl nicht schwärmerischen Eingebungen des schon über sechzigjährigen Kants gehört seine Idee eines Weltbürgerrechts.1 Eine wesentliche Vorarbeit, die den Begriff des Weltbürgerrechts freilich noch nicht ausdrücklich enthält, wohl aber die Intention bereits im Titel erkennen lässt, bildet im Jahre 1784, drei Jahre nach dem Erscheinen seiner ,Kritik der reinen Vernunft‘,2 die geschichtsphilosophische Abhandlung über die ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘.3 Darauf konnte er in seiner elf Jahre später veröffentlichten völkerrechtlich4 geprägten Schrift ,Zum ewigen Frieden‘ (1795) aufbauen,5 an deren Ende das Weltbürgerrecht postuliert wird.6 Schließlich enthalten wenig später die 1796 abgeschlossenen und 1797 erschienenen ,Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‘ – die eigentliche Rechtsphilosophie Kants,7 von der bis heute 1 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293: „Damit führt Kant in die Rechtstheorie eine dritte Dimension ein: neben das staatliche Recht und das Völkerrecht tritt, und das ist die folgenreiche Innovation, das Recht der Weltbürger“. Ähnlich Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 333 (337 Fußnote 13). Der Jubilar hat jüngst in einer Festschrift mit dem schönen Titel ,Weltbürgerliches Recht‘, für Michael Martinek, 2020, S. 289, einen tiefdringenden Beitrag über „Die Leistung an den Nichtberechtigten“ veröffentlicht. 2 Zu ihr Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, 1976; Haag, Erfahrung und Gegenstand, 2007. 3 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Berlinische Monatsschrift 1784, 385 – 411. Im abschließenden Neunten Satz findet sich übrigens schon die schöne Wendung „ein philosophischer Kopf“, die man mitunter der berühmten und themenverwandten Antrittsvorlesung von Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, 1789, zurechnet. 4 Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013, S. 94, nennt seine völkerrechtlichen Ideen wohl nicht zuletzt deswegen ,besonders zukunftweisend‘: „Ja, Kant lehrt auch ein allgemeines Weltbürgerrecht, sich zwar nicht überall anzusiedeln, aber doch jedes Land besuchen zu können“. 5 Grundlegend Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, 1999. 6 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Dritter Definitivartikel zum ewigen Frieden. 7 Zu ihr wichtig Strangas, Kritik der kantischen Rechtsphilosophie, 1988.

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umstritten ist, ob und inwieweit sie dem Stand der früheren Schriften entspricht und kritische Philosophie darstellt8 – weitere Ausführungen zum Weltbürgerrecht.9 Auch wenn diese beiden letzten Werke nur aus jeweils verhältnismäßig kurzen Abschnitten zum Weltbürgerrecht bestehen, sollten sie doch nicht isoliert gewürdigt werden, sondern müssen zum besseren Verständnis der Kantischen Philosophie im werkimmanenten Zusammenhang betrachtet werden. 1. Geschichtsphilosophie und Rechtsphilosophie Daher ist im Ausgangspunkt die weltbürgerliche Absicht herauszustellen, welche die geschichtsphilosophische Schrift aus dem Jahr 1784 im Titel trägt. Denn weit über die historisch ausgerichtete Überschrift hinaus, freilich mit ihr zusammenhängend, führt sie nicht nur zu einer ,Weltbetrachtung‘, wie sie ganz am Ende vorausgesetzt wird,10 sondern behandelt insbesondere auch das Recht der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch den Staat.11 Hervorzuheben ist ihr fünfter Satz, der für die Jurisprudenz ersichtlich einen besonderen Stellenwert hat und beiläufig die Verschränkung der Geschichtsphilosophie Kants mit seiner als kritischer Philosophie begriffenen Rechtsphilosophie veranschaulicht:12 „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.“13 Dieser Gedanke strahlt bis in das moderne europäische Wettbewerbsrecht aus,14 indem er das kantische Oxy8 Zum Streitstand und seinen Verästelungen Petersen, Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre – kritisches Spätwerk oder ,Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohns‘, in: FS Canaris, 2007, Band II, S. 1243. Zu dem damit aufgegriffenen Wort Schopenhauers und dessen Rechtsphilosophie ders., Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung, 2017. 9 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797; hier zitiert nach der von B. Ludwig herausgegebenen Meiner-Ausgabe. 10 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; hier zitiert nach der von Riedel eingeleiteten und herausgegebenen Reclam-Ausgabe der ,Schriften zur Geschichtsphilosophie‘, 1985, S. 38. 11 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, hat in seiner tiefdringenden und gedankenreichen Aufsatzsammlung Kant wohl nicht von ungefähr an zahlreichen Stellen (S. 94, 97 f., 106, 109, 111 f., 183, 217, 223, 230 f., 243, 293, 295, 298, 352, 410, 417) herangezogen, und auch wenn er diese Abhandlung Kants nicht ausdrücklich nennt, sind doch nahezu alle seine einschlägigen Stellen, ja darüber hinaus wohl gar die ganze Sammlung der Beiträge von deren Geist getragen. 12 Flach, Zu Kants geschichtsphilosophischem „Chiliasmus“, in: Phänomenologische Forschungen (Hg. Lembeck/Mertens/Orth), 2005, S. 167, zur Geschichtsphilosophie, insbesondere dem achten Satz; zur Rechtslehre Kants als kritischer Philosophie Petersen, Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre – kritisches Spätwerk oder ,Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohns‘, in: FS Canaris, 2007, Band II, S. 1243 ff. 13 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 27. 14 Grundlegend Mestmäcker, Kants Rechtsprinzip als Grundlage der europäischen Einigung, in: Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, S. 84, dort auch unter Verweis auf den Weltbürger-Essay.

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moron der ,ungeselligen Geselligkeit‘ aufgreift,15 ja er entfaltet dort sogar eine in besonderer Weise freiheitssichernde Wirkung.16 Das liegt nicht zuletzt daran, dass Kant die freiheits- und friedenssichernde Funktion des internationalen Handels erkannt hat.17 2. Die durch das Recht verwaltete bürgerliche Gesellschaft Mit der Freiheitssicherung geht nämlich idealerweise eine Friedenssicherung einher, die freilich gerade deswegen auch immer bedroht ist,18 wie Kant selbst am besten wusste und in seinem vierten Satz voraussetzt: „Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.“19 Denkt man dies mit dem fünften Satz des Weltbürgeressays zusammen und berücksichtigt man zugleich, dass dieser den völkerrechtlichen Weg ganz bewusst noch nicht beschreitet,20 der erst in der Friedensschrift unternommen wird, dann wird deutlich, dass die durch das Recht verwaltete bürgerliche Gesellschaft eingebettet sein muss in gesetzmäßige Vorgaben der 15

Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 25. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Auflage 2004, S. 360 mit Fußnote 1, hat dies bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts gesehen, indem er unter Verweis auf den Weltbürger-Essay die kompetitive Wirkung feststellt: „Die absolute Freiheit des Naturzustandes soll durch Gesetze eingeschränkt werden, durch die der einzelne gegen die Willkür anderer geschützt wird. Aber andererseits soll doch die freie Betätigung der vielen einzelnen im Wettkampf miteinander die Gesellschaft fördern.“ Dazu auch Petersen, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019, S. 340 ff. Mestmäcker, Wettbewerb in der Privatrechtsgesellschaft, 2019, S. 47 f., richtet dies speziell auf den fünften Satz zu: „Es sind diese ambivalenten Wirkungen des Wettbewerbs, der aus ungeselliger Geselligkeit und gesellschaftlichem Antagonismus hervorgeht, der im Rahmen einer das Recht verwaltenden Gesellschaft eine notwendige Bedingung aller Kultur und Kunst ist. (…) Es wird sodann untersucht, welche Mittel die Natur zur Verfügung habe, um die Entwicklung zu einer allgemein das Recht verwaltenden Gesellschaft zu fördern.“ Dort auch eingehend zu Miklós, ,Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen.‘ Über Kants Weltbürger-Essay, in: Der kalte Dämon, Versuche zur Domestizierung des Wissens, 2016, S. 35 ff. 17 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (298), fasst dementsprechend unter Verweis auf den dem Weltbürgerrecht gewidmeten § 62 der Rechtslehre prägnant zusammen: „Kant hat nämlich in der wachsenden, durch den Verkehr von Nachrichten, Personen und Waren geförderten Interdependenz der Gesellschaften (Rechtslehre § 62), insbesondere aber in der Ausdehnung des Handels eine Tendenz gesehen, die der friedlichen Vereinigung der Völker entgegenkommt“. 18 Siehe auch C. F. von Weizsäcker, Der bedrohte Friede, 1981. 19 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 25. 20 Mestmäcker, Wettbewerb in der Privatrechtsgesellschaft, 2019, S. 49: „Der völkerrechtliche Weg zum ewigen Frieden bleibt im Weltbürgeressay offen.“ Unter Verweis auf M. Köhler, Recht und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Rechtsphilosophie der verwirklichten Freiheit, 2017, S. 744 ff. 16

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äußeren Staatenverhältnisse, wie Kant im siebenten Satz postuliert:21 „Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden.“22 Das veranschaulicht die Interdependenz des Weltbürgeressays mit der Friedensschrift, die daher im Folgenden zu behandeln ist, weil erst sie das Weltbürgerrecht einführen kann.23

II. Idee eines Weltbürgerrechts in der Friedensschrift Vor diesem Hintergrund können wir uns nun Kants Schrift ,Zum ewigen Frieden‘ zuwenden. Bevor jedoch der dortige ,Dritte Definitivartikel‘ zum Weltbürgerrecht behandelt werden kann, muss man zumindest den Schluss des zweiten Definitivartikels in Erinnerung rufen, weil jener nur als systematische Abrundung dieses zweiten und streng genommen auch des ersten begriffen werden kann, wie im Schrifttum bereits überzeugend dargelegt worden ist:24 „Bei dem Begriffe des Völkerrechts, als eines Rechts zum Kriege, läßt sich eigentlich gar nichts denken (weil es ein Recht sein soll, nicht nach allgemein gültigen äußern, die Freiheit eines jeden Einzelnen einschränkenden Gesetzen, sondern nach einseitigen Maximen durch Gewalt, was Recht sei, zu bestimmen), es müßte denn darunter verstanden werden: daß Menschen, die so gesinnet sind, ganz recht geschieht, wenn sie sich unter einander aufreiben, und also den ewigen Frieden in dem weiten Grabe finden, das alle Greuel der Gewalttätigkeit samt ihren Urhebern bedeckt.“25

21 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (295), verdeutlicht den strukturellen Unterschied zwischen Völkerrecht und Weltbürgerrecht noch tieferdringend, indem er den Naturzustand einbezieht: „Während das Völkerrecht wie alles Recht im Naturzustand nur peremptorisch gilt, würde das Weltbürgerrecht, wie das staatlich sanktionierte Recht, den Naturzustand definitiv beenden“. 22 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 29 f. 23 C. F. von Weizsäcker, Der bedrohte Friede, 1981, S. 401, stellt den werkimmanenten Zusammenhang her, indem er aus dem zuletzt zitierten siebten Satz des Weltbürgeressays treffend folgert: „Der letzte Satz weist auf das Thema von Kants Schrift Zum ewigen Frieden voraus: Die Schaffung einer stabilen Rechtsordnung ist notwendigerweise ein Weltproblem“. 24 Grundlegend Brandt, Vom Weltbürgerrecht, in: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (Hg. Höffe), 1995, S. 133. 25 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden. Das Völkerrecht soll nur auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein. Siehe auch Höffe, Kant als Theoretiker der internationalen Rechtsgemeinschaft, in: Kant in der Diskussion der Moderne (Hg. Schönrich/Kato), 1996, S. 489.

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1. Idee einer Weltrepublik Sieht man einmal von diesem sprachgewaltig vorgetragenen Schluss ab, der mit großer Suggestivkraft und rhetorischem Schwung den Titel der Abhandlung wirkungsvoll abwandelt, wie Kant bereits eingangs vom ewigen Frieden als einem ,verdächtigen Pleonasmus‘ spricht,26 dann liegt wohl das systematisch tiefer dringende Argument im Klammerzusatz verborgen, indem es in einer gleichsam negatorischen Hinsicht das entscheidende Argument auf die Probe stellt, weil darin jene Definition des Rechts vorhanden ist, die in den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre‘ entfaltet wird:27 „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“28 Man kann an diesem Ausblick die vernunftrechtliche Prägung der Friedenschrift erkennen.29 Fährt man mit einer unmaßgeblichen Unterbrechung nach dem weiter oben aus dem Zweiten Definitivartikel der Friedensschrift zitierten fort, so folgt der eigentliche Übergang zu jenem dritten Definitivartikel, der das Weltbürgerrecht enthält, vermittels einer den zuletzt behandelten Gedanken absichernden Argumentation, die zwar einer positiven Idee eine Absage erteilt, aber bereits einen für das spätere Weltbürgerrecht bezeichnenden kosmopolitischen Standpunkt einnimmt:30 „Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Welt26

Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Erster Abschnitt, welcher die Präliminarartikel zum ewigen Frieden unter Staaten enthält: „Denn alsdann wäre er ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet, und dem Beiwort ewig anzuhängen schon ein verdächtiger Pleonasm ist.“ Hervorhebungen auch dort. Siehe zum Folgenden auch Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Frieden durch Recht (Hg. Ders./Bohmann), 1996, S. 25. 27 Dazu Petersen, Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre – kritisches Spätwerk oder ,Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohns‘, in: FS Canaris, 2007, Band II, S. 1243. 28 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, Einleitung in die Rechtslehre, § B Was ist Recht?, Meiner-Ausgabe, S. 38. 29 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293, gibt allerdings zu bedenken: „Natürlich entwickelt Kant diese Idee in den Begriffen des Vernunftsrechts und im Erfahrungshorizont seiner Zeit. Beides trennt uns von Kant“. 30 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Berlinische Monatsschrift 1793 (XXII), 201 (hier zitiert nach: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Hg. Vorländer, 1913, S. 71 f.), nimmt bereits einen kosmopolitischen Standpunkt ein: „Wir werden also das Verhältnis der Theorie zur Praxis in drei Nummern: erstlich, in der Moral überhaupt (in Absicht auf das Wohl jedes Menschen), zweitens in der Politik (in Beziehung auf das Wohl der Staaten), drittens in kosmopolitischer Betrachtung (in Absicht auf das Wohl der Menschengattung im Ganzen, und zwar sofern sie im Fortschreiten zu demselben in der Reihe der Zeugungen aller künftigen Zeiten begriffen ist) vorstellig machen.“ – Diese methodische Vorbemerkung muss man wohl für die im Text erörterte Problematik berücksichtigen.

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Jens Petersen republik (wenn nicht alles verloren werde soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs.“31

In dieser ingeniösen Rollenprosa argumentiert Kant gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen.32 Auch wenn hier nur ein zurückhaltender status negativus begründet und nicht der status positivus einer Weltrepublik statuiert wird, ist doch bemerkenswert, dass dieser ungeachtet seiner letztendlichen Ablehnung immerhin in den Rang einer ,Idee einer Weltrepublik‘ gesetzt wird. So erscheint die Idee einer Weltrepublik ungeachtet ihrer letztendlichen Zurückweisung als etwas, das – gleichsam in Gestalt einer beides vermittelnden regulativen Idee des Weltbürgertums – jedenfalls von der Einteilung her gesehen nicht vollkommen unterschiedlich ist im Verhältnis zur Idee eines Weltbürgerrechts.33

31 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden. Das Völkerrecht soll nur auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein. Er untermauert diese mit Vergil, Aeneis, Buch I, 294/296: ,Furor impius intus (…) fremit horridus ore cruento‘. 32 Dazu G. Marini, Kants Idee einer Weltrepublik, Eros und Eris. Liber amicorum for Peperzak, 1992, S. 133 (139 f.), erklärt diesen anspruchsvollen Gedankengang Kants so anschaulich, dass er ungeachtet seiner hier notwendigerweise in Kauf genommenen Verkürzungen die sogleich im Text folgenden Überlegungen zum Weltbürgerrecht annäherungsweise vorzubereiten geeignet ist: „Der diesem Zitat vorangehende schwierige Gedankengang Kants zur Gänze eine Hineinversetzung in die Denk- und Anschauungsweise der Rechtskultur und der Mächtigen der Erde seiner Zeit, die gemäß der phänomenischen Menschennatur und nicht nach einer Metaphysik der Sitten argumentierten. Sie wollten daher, ,nach ihrer Idee vom Völkerrecht‘ (eine Idee, die dem Namen nicht gerecht wird und besser Begriff, wenn nicht Meinung genannt werden sollte) nicht dem kategorischen Imperativ der Vernunft folgen und lehnen in hypothesi ab, was in thesi richtig ist; sie folgten also einer von der Theorie verschiedenen Praxis. Und nur aufgrund einer dieser ihrer phänomenischen Tendenz wollten sie sich nicht den öffentlichen Zwangsgesetzen einer einzigen civitas gentium unterwerfen, die hier den Menschen unter dem Namen einer Weltrepublik vorgestellt wird. An Stelle jenes erhabenen Ziels, aber stets in einer ihm entsprechenden Annäherung begriffen, weichen die Menschen vor jener ,positiven Idee‘ zum ,negativen Surrogat‘ der Konföderation aus, auf welche sich – in nicht kohärenter Weise – der Titel des Artikel 2 bezieht.“ Hervorhebung nur hier. Zu der darin implizit in Bezug genommenen Abhandlung Kants ,Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‘ im Hinblick auf die juristische Theoriebildung Canaris, JZ 1993, 377. 33 Ähnlich Albrecht, Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, 2005, S. 191: „Die völkerrechtlichen Bestimmungen, die nur das ,negative Surrogat‘ der ,positiven Idee einer Weltrepublik‘ bilden, können die Annäherung an diese positive Idee nicht garantieren. Zur Aufrechterhaltung der Dialektik von Friedenswunsch und Feinseligkeit (…) hält Kant die Einführung der regulativen Idee des Kosmopolitismus: der Utopie einer ,weltbürgerlichen Gesellschaft‘, für unumgänglich. Diese schon in der ,Idee‘ entfaltete regulative Idee orientiert die juristische Kodifikation des dritten Rechtsbereichs, des Weltbürgerrechts, das das bürgerlichrechtliche Verhältnis des Einzelmenschen zu einem fremden Staat regeln soll und ein Novum des Naturrechts darstellt“. Hervorhebung nur hier.

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2. Recht, nicht Philanthropie Den Übergang von den zuletzt zitierten Überlegungen Kants für die Weltrepublik im Zweiten Definitivartikel der Friedensschrift zum Dritten über das Weltbürgerrecht markiert ein scheinbar geringfügiger Einleitungssatz, der jedoch in seiner juristischen Tragweite nicht zu unterschätzen ist:34 „Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitabilität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.“35 a) Berücksichtigung der Abhandlung über den ,Gemeinspruch‘ Es geht hier zunächst um den vergleichsweise unscheinbaren ersten Teil der Aussage, der im Ausgangspunkt klarstellt, dass die rechtliche Geltung gleichsam die Verklammerung dessen, was Kant zum Völkerrecht festgestellt hat, mit den folgenden Ausführungen zum Weltbürgerrecht darstellt. Darüber hinaus und damit zusammenhängend ist bedeutsam, dass Kant das Recht hier von der Philanthropie abgrenzt. Um die Eigenständigkeit dieses Gedankens, der über etwas bloß Affirmatives hinausgeht, verstehen zu können, muss man nochmals auf die Kantische Abhandlung über den Gemeinspruch Bezug nehmen. Es ist im bisherigen Schrifttum bereits gesehen worden, dass der um zwei Jahre jüngere Aufsatz über das Verhältnis von Theorie und Praxis, der im Übrigen in seinem Mittelteil einiges zum Recht enthält, nicht nur, wie bereits oben dargestellt, ebenfalls einen über Individuum und Staat hinausgehenden kosmopolitischen Standpunkt einnimmt, sondern in seinem gegen Moses Mendelssohn gerichteten dritten Teil weichenstellende Ausführungen zur Philanthropie enthält, die im Verhältnis zum Weltbürgerlichen anders ausgerichtet sind als in der Friedensschrift.36 Die dortige Überschrift des dritten Teils, der ,Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht‘ handelt, präzisiert dies kleiner gedruckt ,in all34 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (295), bemerkt ebenfalls das beiden Bereichen gemeinsame Rechtliche, betont aber den Unterschied zwischen dem Anwendungsbereich des zweiten und des dritten Definitivartikels: „Der Ewige Friede ist ein wichtiges Charakteristikum, aber doch nur ein Symptom des weltbürgerlichen Zustandes. Das begriffliche Problem, das Kant lösen muß, ist die rechtliche Konzeptualisierung eines solchen Zustandes. Er muß die Differenz zwischen Weltbürgerrecht und klassischem Völkerrecht, das Spezifische dieses ius cosmopoliticum angeben.“ Hervorhebung auch dort. – Diese Kontrastierung hat darstellungsmäßig für sich, dass sie auf diese Weise – durchaus im Einklang mit den vorliegenden Überlegungen – das Proprium des Weltbürgerrechts herausarbeiten kann. Lauster, Der heilige Geist. Eine Biographie, 2021, S. 263, stellt den Zusammenhang zwischen Weltbürgerrecht und Weltrepublik unter Berücksichtigung der kautelarischen Bedeutung der Vernunft besonders prägnant heraus: „Unter Anerkennung eines die Gleichheit aller Menschen wahrenden ,Weltbürgerrechts‘ hat die Vernunft Vorsorge für die Umsetzung der ,Idee einer Weltrepublik‘ zu treffen“. 35 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Dritter Definitivartikel zum ewigen Frieden. 36 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (295).

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gemein philanthropischer, d. i. kosmopolitischer Absicht‘. Kant hält dies offenbar selbst für erklärungsbedürftig, weil er der Überschrift eine Fußnote hinzufügt: „Es fällt nicht sofort in die Augen, wie eine allgemein-philanthropische Voraussetzung auf eine weltbürgerliche Verfassung, diese aber auf die Gründung eines Völkerrechts hinweise, als eines Zustands, in welchem allein die Anlagen der Menschheit gehörig entwickelt werden können, die unsere Gattung liebenswürdig machen. – Der Beschluß dieser Nummer wird diesen Zusammenhang vor Augen stellen.“37

b) Recht und rechtlicher Zustand Dieser Zusammenhang dürfte wohl, wenn man die Abhandlung weiterverfolgt, nicht zuletzt in dem folgenden Gedanken liegen, der ersichtlich eine naheliegende thematische Verbindungslinie zur Friedensschrift aufweist:38 „So wie allseitige Gewalttätigkeit und daraus entspringende Not endlich ein Volk zur Entschließung bringen mußte, sich dem Zwange, den ihm die Vernunft selbst als Mittel vorschreibt, nämlich dem öffentlicher Gesetze, zu unterwerfen und in eine staatsbürgerliche Verfassung zu treten: so muß auch die Not aus den beständigen Kriegen, in welchen wiederum Staaten einander zu schmälern oder zu unterjochen suchen, sie zuletzt dazu bringen, selbst wider Willen, entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten; oder ist ein solcher Zustand eines allgemeinen Friedens (…) auf einer anderen Seite der Freiheit noch gefährlicher, indem er den schrecklichsten Despotismus herbeiführt, so muß sie diese Not doch zu einem Zustande zwingen, der zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist.“39

Es ist also immerhin ein ,rechtlicher Zustand‘.40 Aus dem Vergleich mit der Schrift über den Gemeinspruch lässt sich ersehen, dass die weltbürgerliche Absicht eben für 37

Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, (hier zitiert nach: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Hg. Vorländer, 1913, S. 106); Hervorhebungen auch dort. 38 Kühn, Kant. Eine Biographie (Übersetzung: Pfeiffer), 2003, S. 446, fasst zwar im Rahmen der Behandlung der Friedensschrift, aber wohl auch darüber hinausgehend das Meinungsspektrum zusammen: „Seine Ideen über das Weltbürgertum sind auch heute noch heftig umstritten. Von manchen werden sie als ,eurozentrische Illusion‘ abgetan, von anderen als die Antwort auf das Problem des Überlebens der Menschheit gepriesen. Ob sie das eine oder das andere sind, werden künftige Generationen herausfinden müssen. Gleichwohl machen sie deutlich, daß sich Kant in allererster Linie nicht als Preußen, sondern als Weltbürger betrachtete.“ – Dafür spricht wohl trotz der scheinbar umgekehrten Reihenfolge die folgende Stelle aus dem Beginn der Abhandlung über den Gemeinspruch (Kant, ebenda, S. 71): „Die Einteilung dieser Abhandlung mache ich (…) in dreifacher Qualität: 1. Als Privat-, aber doch Geschäftsmann, 2. Als Staatsmann, 3. Als Weltmann (oder Weltbürger überhaupt)“. 39 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, (hier zitiert nach: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Hg. Vorländer, 1913, S. 110); Hervorhebungen auch dort. 40 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (295), der ebenfalls die Abhandlung über den

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sich betrachtet noch kein Recht begründen muss, sondern rein philanthropisch ausgerichtet sein kann, wie Kant in der früheren Schrift zugrunde legt. In der Friedensschrift hingegen ist es ihm wohl nicht zuletzt wegen dieser früheren Ausführungen wichtig zu betonen, dass dort im Unterschied zur erstgenannten Abhandlung im Hinblick auf den kosmopolitischen Zweck von einem Recht die Rede ist. 3. Geltungsbereich des Weltbürgerrechts Dass das Weltbürgerrecht so vergleichsweise – allerdings nur im Verhältnis zum unüberschaubaren Schrifttum bezüglich der übrigen kantischen Philosophie – wenig berücksichtigt worden ist, liegt wohl nicht zuletzt an seinem im Verhältnis zum zuvor behandelten relativ geringen Geltungsbereich:41 „Es ist kein Gastrecht, worauf dieser (sc. ein Fremdling) Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“42

Diese sprachmächtig und schwungvoll vorgetragene Rechtsbegründung beeindruckt nicht zuletzt durch das geometrische Argument mit dem die Endlichkeit der Fläche begründet wird. Auch das der Sache nach vorausgesetzte Prioritätsprinzip für die Rechtsbegründung am Immobiliareigentum ist aufschlussreich. Denn indem Kant den ursprünglichen Rechtszustand der Gleichheit aller Erdenbewohner zum gegenwärtigen in Beziehung setzt, gibt er zu erkennen, dass durch die zwischenzeitliche Inbesitznahme und Bewirtschaftung verbindliche Rechte an dem Grundeigentum begründet worden sind. In der Tat wird er auf diese Weise später auch das Sachenrecht innerhalb seiner ,Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‘ anordnen. § 12 etwa ist in diesem Sinne überschrieben: „Der erste Erwerb einer Sache kann keine andere als die des Bodens sein.“ Und nach § 13 „kann ein jeder Boden ursprünglich erworben werden, und der Grund der Möglichkeit dieser Erwerbung ist Gemeinspruch berücksichtigt, erläutert: „Der fortan als ,weltbürgerlich‘ ausgezeichnete Zustand soll sich vom innerstaatlichen Rechtszustand nämlich dadurch unterscheiden, daß sich die Staaten nicht wie die einzelnen Bürger den öffentlichen Zwangsgesetzen einer übergeordneten Gewalt unterwerfen, sondern ihre Unabhängigkeit behalten“. 41 Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 333 (338), umreißt die möglichen Gründe, ohne sie sich selbst zu eigen zu machen: „Ein letzter, philosophischer Grund für die Vernachlässigung von Kants Weltbürgerrecht darf wohl die Annahme sein, daß sein Begriff einem fatalen Dilemma unterliegt: Entweder ist das Weltbürgerrecht als Kategorie überflüssig und sein Inhalt läßt sich einfach unter das Völkerrecht subsumieren; oder, wenn es eine eigene Kategorie des öffentlichen Rechts sein soll, läßt es sich nicht institutionalisieren ohne eine Weltrepublik, die Kant jedoch als unerwünscht verwirft“. 42 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Dritter Definitivartikel zum ewigen Frieden.

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die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens überhaupt“.43 Hieraus lässt sich ersehen, dass die beiden Werke systematisch aufeinander abgestimmt sind.44 4. Inhalt und Grenzen des Weltbürgerrechts Ungleich bedeutsamer ist freilich die Aussage, dass das Weltbürgerrecht lediglich ein Besuchsrecht begründet, nicht dagegen ein Gastrecht. Mit anderen Worten, aber gleicher Zielrichtung heißt es in der Rechtslehre: „Dieser mögliche Mißbrauch kann aber das Recht des Erdbürgers nicht aufheben, die Gemeinschaft mit allen zu versuchen und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedlung auf dem Boden eines anderen Volks (ius incolatus) ist, als zu welchem ein besonderer Vertrag erfordert wird.“45

Hieran lässt sich beispielhaft ersehen, dass Kant ungeachtet der völkerrechtlichen bzw. weltbürgerrechtlichen Konnotation zivilrechtlich in verwandten Kategorien denkt wie das Bürgerliche Recht,46 also in Ansprüchen auf eine bestimmte Leistung und privatautonom ausgehandelten Verträgen mit einem bestimmten Vertragsinhalt, hier etwa dem eines vertraglich eingeräumten Gastrechts, mithin kontraktualistisch.47 Kants Behauptung, dass das Weltbürgerrecht zwar ein Besuchsrecht, aber kein Gastrecht begründet, ist wohl auch der Grund dafür, dass es im Zusammenhang mit politischen Problemen gelegentlich herangezogen wurde, jedoch schwerlich Antworten auf konkrete politische Fragen zu geben vermag. Indes ließe sich darüber nachdenken, ob der darin enthaltene kosmopolitische Grundgedanke gleichsam als regulative Idee eine gewisse Richtung angeben könnte.48 43 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, §§ 12 f. Meiner-Ausgabe, S. 70 f. 44 Petersen, Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre – kritisches Spätwerk oder ,Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohns‘, in: FS Canaris, 2007, Band II, S. 1243, zum Versuch der systematischen Abstimmung im Verhältnis zur Kritik der reinen und der praktischen Vernunft. 45 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 175. 46 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (304), erkennt in anderem, aber damit verwandtem Zusammenhang: „Die Pointe des Weltbürgerrecht besteht (…) darin, daß es über die Köpfe der kollektiven Völkerrechtssubjekte hinweg auf die Stellung der individuellen Rechtssubjekte durchgreift und für diese eine nicht-mediatisierte Mitgliedschaft in der Assoziation freier und gleicher Weltbürger begründet“. 47 Petersen, Kants Beweisführung der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, in: FS Köhler, 2014, S. 529, zu ähnlichen Ausprägungen besonderer Aspekte des kantischen Zivilrechtsverständnisses, das sich im geltenden Recht beispielsweise im Bereich der angemaßten Eigengeschäftsführung nachverfolgen lässt. 48 Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 333 (339), bestimmt Geltungsbereich und Inhalt prägnant: „Das Weltbürgerrecht betrifft den internationalen Verkehr im weitesten Sinn von Kommunikation, Interaktion, Handel und Geschäften. Sein Inhalt ist Hospitalität.“ Allerdings macht Kleingeld, a. a. O., S. 340, auf ihres

Kants Idee eines Weltbürgerrechts

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III. Weltbürgerrecht in der Rechtslehre Es wird mitunter übersehen, dass sich auch in Kants Rechtslehre eine Begründung des Weltbürgerrechts findet. Diese erfolgt in ähnlichen Bahnen wie in der zwei Jahre zuvor publizierten Friedensschrift, weshalb sie hier vergleichsweise kurz dargestellt sei. Ebenso wie dort legt Kant auch in der Rechtslehre Wert darauf, dass es nicht nur um ein philanthropisches, sondern rechtliches Prinzip geht, wobei er freilich von der Vernunftidee ausgeht. Da er hier wie dort zuvor das Völkerrecht behandelt hat, kann er im Ausgangspunkt darauf Bezug nehmen, um von daher das Weltbürgerrecht zu begründen: „Diese Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip“.49 Ebenfalls begegnet das oben genannte geometrische Argument beschränkter Flächenausdehnung der Erde: „vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus“.50

1. Vergleich mit der Friedensschrift Auch die weitere Herleitung des Weltbürgerrechts verläuft in ähnlichen Bahnen wie in der Friedensschrift, wobei der nähere Vergleich ergibt, dass einzelne GedanErachtens bestehende, weitergehende Möglichkeiten und Öffnungsklauseln aufmerksam: „Durch seine Einschränkung auf das Hospitalitätsrecht scheint das Weltbürgerrecht in der Tat wohl sehr beschränkt zu werden. Aber der Schein trügt. Ob Kant es intendiert hat oder nicht, er verteidigt ein Recht, das unter bestimmten Umständen sogar weiter reicht als politisches Asylrecht und das Schutz gegen Hunger und lebensbedrohende Krankheiten einschließt. (…) Das heißt, daß das Individuum in solchen Fällen ein Recht hat, geschützt zu werden, und daß der Staat den Schutz garantieren soll. Staaten sind nicht dazu berechtigt, eine Person in ein Land zurückzuschicken, in dem sie sterben oder getötet werden wird. Kant hat hier bereits viele der Bestimmungen des Flüchtlingsrechts des zwanzigsten Jahrhunderts vorweggenommen“. 49 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 174; Hervorhebung auch dort. 50 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 174. So fernliegend es thematisch sein mag und so schief der Vergleich erscheinen wird, ist es immerhin auffällig, dass Kant im Zusammenhang mit der in der Vorrede der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft vollzogenen berühmten, obwohl von ihm selbst nicht so genannten ,kopernikanischen Wende der Metaphysik‘ ebenfalls, wenngleich unausgesprochen, die Erde als solche zur Veranschaulichung heranzog: „Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit den Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenherr drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage 1787, S. 12). – Kants Gemüt erfüllte eben, je öfter und anhaltender das Nachdenken sich damit beschäftigte, stets nicht nur das moralische Gesetz in sich, sondern stets zugleich der gestirnten Himmel über sich mit Bewunderung – gleichviel, ob es um einen Perspektivwechsel zur Veranschaulichung der reinen spekulativen Vernunfterkenntnis oder der Begründung eines vormals unerhörten ,Weltbürgerrechts‘ ging.

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ken noch enger an die zuvor erörterten Paragraphen der Rechtslehre angelehnt sind, worauf hier nur vergleichsweise verwiesen sei, weil deren Voraussetzungen an anderer Stelle behandelt wurden und mutatis mutandis auch hier gelten:51 „Da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) und hiermit des Gebrauchs, oder des Eigentums an demselben, sondern der physischen möglichen Wechselwirkung (commercium), d. i. in einem durchgängigen Verhältnisse eines zu allen Anderen, sich zum Verkehr untereinander anzubieten, und haben ein Recht, den Versuch mit demselben zu machen, ohne daß der Auswärtige ihn darum als einen Feind zu begegnen berechtigt wäre. – Dieses Recht, sofern es auf die mögliche Vereinigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs geht, kann das weltbürgerliche (ius cosmopoliticum) genannt werden.“52

2. Dogmatische Struktur des Weltbürgerrechts Man hat Kants Weltbürgerrecht entgegengehalten, dass es kein Recht sein könne, weil ihm die Eigenschaft der zwangsweisen Durchsetzbarkeit fehle.53 In der Tat ist für Kant „das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden“.54 Wenn man dies nicht als offenen Widerspruch begreifen möchte, scheint das Weltbürgerrecht nur als Ausnahme dieses Grundsatzes verständlich zu sein.55 Jedoch muss man zunächst seine eigenartige dogmatische Struktur berücksichtigen: Der Inhalt des Weltbürgerrechts besteht nach Kant nur darin, einen Antrag auf Eingehung einer Verbindung im transnationalen Bereich abzugeben, ohne dass dies als notwehrfähiger rechtswidriger Angriff aufgefasst werden dürfte. In diesem gleichsam vorvertraglichen Stadium rechtfertigt es nur die dazu notwendige Übertretung der fremden Rechtssphäre. Es ist insofern deklaratorisch, als es klarstellt, dass von dem in dieser Absicht Handelnden kein feindlicher Akt ausgeht. Aber es hat aus Kants Sicht auch konstitutive Wirkung, weshalb ihm, wie soeben gesehen, die Anerkennung als rechtliches Prinzip so wichtig ist.56 51 Petersen, Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre – kritisches Spätwerk oder ,Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohns‘, in: FS Canaris, 2007, Band II, S. 1243. 52 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 174. 53 Zu diesem Einwand, ohne ihn sich freilich zu eigen zu machen, anschaulich Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 333 (338). 54 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § D, Meiner-Ausgabe, S. 40. 55 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (302), postuliert: „Das Weltbürgerrecht muß so institutionalisiert werden, dass es die einzelnen Regierungen bindet“. 56 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 174; Hervorhebung auch dort.

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Das zeigt sich daran, dass alle als heilsam verbrämten Handlungen derjenigen, die nicht in dieser menschenfreundlichen Absicht fremde Völker heimsuchen, insbesondere kolonialistischen, vorgeblich kulturbringenden oder imperialistischen Tendenzen Vorschub leisten, ipso iure und unauslöschlich mit dem Stigma der Rechtswidrigkeit bemakelt sind und daher von Rechts wegen zurückgewiesen werden dürfen:57 „obzwar die Rechtfertigungsgründe scheinbar genug sind, daß eine solche Gewalttätigkeit zum Weltbesten gereiche: teils durch Kultur roher Völker (…), teils zur Reinigung seines eigenen Landes von verderbten Menschen und gehoffter Besserung derselben oder ihrer Nachkommenschaft in einem anderen Erdteile (…); denn alle diese vermeintlich guten Absichten können doch den Fleck der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen“.58

IV. Absage an den Provinzialismus Bedürfte es einer Rechtfertigung des kantischen Weltbürgerrechts, so läge sie in der unumgänglichen Fernwirkung von Rechtverletzungen innerhalb einer globalen Ordnung:59 „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird:60 so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als des Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“61

57 Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (317), ist beizupflichten, wenn er in seiner rundum überzeugenden Kritik an Carl Schmitt zuspitzt: „Das Weltbürgerrecht ist eine Konsequenz der Rechtsstaatsidee“. 58 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 175. 59 Hierin liegt im Übrigen eine markante Gemeinsamkeit zwischen Kant und dem von ihm verehrten Adam Smith; näher Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017, S. 36 – 42 (dort auch zur Frage der unsichtbaren Hand im Ewigen Frieden); S. 310 zur Fernwirkung. 60 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § 62, Meiner-Ausgabe, S. 175, formuliert es anstelle der ,Rechtsverletzung‘ weniger normativ als vielmehr faktisch: „daß Übel und Gewalttätigkeit an einem Orte unseres Globus an allen gefühlt wird“. Hervorhebung nur hier. 61 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Dritter Definitivartikel zum ewigen Frieden. Zu dieser Stelle auch Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, Kritische Justiz 28 (1992), 293 (300); er würdigt sie als Ausweis einer „hellsichtigen Antizipation einer weltweiten Öffentlichkeit. Denn diese zeichnet sich erst jetzt, in der Folge globaler Kommunikation ab.“ Hervorhebung auch dort.

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In seiner völkerverständigenden Grundtendenz bedeutet Kants Weltbürgerrecht eine prinzipiell rechtlich und eben nicht allein ethisch (,philanthropisch‘) begründete Absage an jeden einseitig nationalstaatlich ausgerichteten engstirnigen Provinzialismus.

Totgesagte leben länger? 20 Jahre elektronische Form im BGB Von Thomas Riehm

I. Einleitung Am 1. 8. 2001, also beinahe auf den Tag genau vor 20 Jahren, ist das „Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr“ in Kraft getreten, durch das zwei neue Formtatbestände in das BGB eingefügt wurden: die Textform (§ 126b BGB) und die elektronische Form (§ 126a BGB). Während die Textform seither einige praktische Bedeutung insbesondere im Verbraucherschutzrecht erlangt1 und auch die Rechtsprechung verschiedentlich beschäftigt hat,2 ist es um die elektronische Form seither still geblieben. Tatsächlich ist weder in juris noch in beck-online auch nur eine einzige Gerichtsentscheidung verzeichnet, die diese Norm anwendet; soweit die Norm überhaupt erwähnt wird, geschieht dies entweder irrtümlich3 oder zum Beleg der Feststellung, dass ein bestimmtes Dokument die elektronische Form nicht erfüllt.4 Mit Fug und Recht kann man die gesetzliche elektronische Form nach § 126a BGB im Bereich des materiellen Privatrechts daher aus Sicht der Praxis als „Totgeburt“ bezeichnen. Anders sieht es im Bereich des elektronischen Rechtsverkehrs aus, wo § 130a ZPO (und die verwandten Regelungen der §§ 55a VwGO, 46c ArbGG, 52a FGO, 14 Abs. 2 FamFG, 65a SGG, 135 GBO, 32a StPO) die Einreichung von Schriftsätzen

1 Die Textform ist dort insbesondere für die Informationspflichten aus Art. 246 ff. EGBGB, § 510 Abs. 1 Satz 3 BGB und für die Kündigung von Verbraucher-Dauerschuldverhältnissen in § 312h BGB vorgesehen, ferner in zahlreichen mietrechtlichen Vorschriften (Aufzählung bei MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126b Rn. 2). 2 Etwa BGH, NJW 2014, 2857 Rn. 19 ff.; NJW 2010, 3566 Rn. 19 f.; NJW 2006, 3215 (3216), jeweils zu der Frage, ob Informationen auf Webseiten die Textform erfüllen können. 3 Etwa LG Kleve, MMR 2007, 332 und OLG Karlsruhe, BB 2015, 2509 (2513), die beide irrtümlich § 126a BGB für die Textform zitieren. 4 Etwa BAG, BB 2016, 2301 (2303): Fax genügt nicht; OLG München, CR 2013, 115 (116): Manuelle Unterschrift auf elektronischem Schreibtablett genügt nicht; OLG Frankfurt, CR 2012, 706 und BAG, NZA-RR 2012, 413 (415 f.): Gewöhnliche E-Mail genügt nicht; OLG Schleswig, ZIP 2007, 2214 (2215): Eingescannte Unterschrift genügt nicht.

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als „elektronische Dokumente“ gestatten.5 Diese Vorschriften erfreuen sich zunehmender Bedeutung in der Praxis, nicht zuletzt seit der Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) und dessen aktiver Nutzungspflicht für Rechtsanwälte, die in der Arbeitsgerichtsbarkeit Schleswig-Holsteins schon seit 1. 1. 20206 und seit 1. 1. 2021 auch vor sämtlichen Fachgerichten der Freien Hansestadt Bremen (mit Ausnahme des LSG) besteht,7 und ab dem 1. 1. 2022 bundesweit in allen Gerichtszweigen gelten wird.8 Die Vorschriften über den elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten weichen jedoch im Hinblick auf wesentliche Einzelheiten von der gesetzlichen elektronischen Form des materiellen Privatrechts ab, indem die qualifizierte elektronische Signatur der verantwortenden Person – wohl das zentrale Hindernis für die praktische Durchsetzung der elektronischen Form – nach § 130a Abs. 3 a. E., Abs. 4 ZPO durch eine einfache Unterschrift und die Übermittlung des unterschriebenen Schriftsatzes auf einem „sicheren Übermittlungsweg“ (insbesondere beA, § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO) ersetzt werden kann.9 Eine vergleichbare Erleichterung besteht für die elektronische Form nach § 126a BGB allerdings nicht. Der nachfolgende Beitrag, der meinem geschätzten „akademischen Milchbruder“ Johannes Hager in herzlicher kollegialer Verbundenheit gewidmet ist, soll die Gründe für dieses Scheitern der materiellrechtlichen elektronischen Form in der Praxis untersuchen und mögliche Weiterentwicklungen aufzeigen. Da ein praktischer Bedarf für eine sichere und zugleich praktikable elektronische Form insbesondere im Bereich stark formalisierter Rechtsgeschäfte besteht, die derzeit noch umständlich „analog“ vorgenommen und teilweise sogar notariell beurkundet werden müssen, hofft der Verf. dieser Zeilen nicht nur auf das Interesse des Jubilars als langjährigen Leiter der Forschungsstelle für Notarrecht an der LMU München (und Herausgeber des BeckOGK-Abschnitts u. a. zu den Formvorschriften des BGB), sondern auch der notariellen Praxis. Das gilt umso mehr, als gegenwärtig Notare wohl zu den ganz wenigen Teilnehmern am Rechtsverkehr zählen, die tatsächlich über die erforderliche Infrastruktur zur Erzeugung formgültiger elektronischer Dokumente i. S. v. § 126a BGB verfügen und diese in der Praxis zumindest gelegentlich auch einsetzen.

5

S. dazu Fischer-Dieskau/Hornung, NJW 2007, 2897 ff. Art. 24 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten (ERVFöG) i. V. m. § 1 der Landesverordnung über die Pflicht zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 13. 12. 2019; dazu LAG Schleswig-Holstein, NZA-RR 2020, 392; ArbG Lübeck, BeckRS 2020, 33224. 7 Art. 24 Abs. 2 Satz 1 ERVFöG i. V. m. §§ 1 ff. der Verordnung über die Pflicht zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs für die Fachgerichtsbarkeiten mit Ausnahme des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit zum 1. Januar 2021 vom 8. Dezember 2020. 8 Art. 26 Abs. 7 ERVFöG. 9 BGH, DNotZ 2010, 437 (zur Parallelvorschrift des § 55a Abs. 3 Alt. 2 i. V. m. Abs. 4 Nr. 3 VwGO); BGH, CR 2011, 322; BSG, NJW 2018, 2222 (für das besondere Behördenpostfach [beBPo] und das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach [EGVP]). 6

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II. Anwendungsbereich und Voraussetzungen der elektronischen Form (§ 126a BGB) 1. Anwendungsbereich Auf den ersten Blick ist der Anwendungsbereich der elektronischen Form denkbar weit, denn § 126 Abs. 3 BGB lässt sie grundsätzlich als Substitut der Schriftform zu. Der zweite Blick ergibt allerdings einen ganz anderen Befund: Die Schriftform kann durch die elektronische Form nur ersetzt werden, „wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“ Nahezu alle wesentlichen gesetzlichen Schriftformerfordernisse schließen allerdings die elektronische Form ausdrücklich aus. Das gilt insbesondere bei den (vielen) Formvorschriften, die dem Übereilungsschutz dienen und eine Warnfunktion aufweisen; der Gesetzgeber ist offenbar der Auffassung, dass die elektronische Form keinen Übereilungsschutz gewährleistet. Dementsprechend ist die Ersetzung der Schriftform durch die elektronische Form in § 623 BGB für Kündigung und Aufhebungsvertrag bei Arbeitsverhältnissen (nicht aber bei Befristungsabreden gem. § 14 Abs. 4 TzBfG10) sowie in den §§ 761 Satz 2, 766 Satz 2, 780 Satz 2, 781 Satz 2 BGB für Leibrentenversprechen zur Gewährung familienrechtlichen Unterhalts, Bürgschaften, abstrakten Schuldversprechen und abstrakten Schuldanerkenntnissen ausgeschlossen. Zudem ist die elektronische Form nach den §§ 630 Satz 3 BGB, 16 Abs. 1 Satz 2 BBiG für die Erteilung von Arbeitszeugnissen unzulässig. Implizit ist die Ersetzung der Schriftform durch elektronische Form ferner bei Inhaberschuldverschreibungen gem. § 793 BGB, Schecks und Wechseln sowie bei Vollmachtsurkunden im Hinblick auf die Wirkung des § 172 BGB ausgeschlossen.11 Im Hinblick auf die Regelung des Art. 25 Abs. 2 eIDAS-VO,12 wonach eine qualifizierte elektronische Signatur die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift hat, wirkt diese große Zahl an Ausschlusstatbeständen zunächst überraschend. Die eIDAS-VO sieht in ihrem Erwägungsgrund 49 allerdings selbst vor, dass die Mitgliedstaaten selbst festlegen, welche Rechtswirkung elektronische Signaturen entfalten sollen.13 Dies schließt nach h. M. die Freiheit der Mitgliedstaaten ein, für bestimmte Rechtsgeschäfte am „reinen“ Schriftformerfordernis festzuhalten, wenn die jeweiligen Formzwecke dies gebieten.14

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BeckOK ArbR/Bayreuther, 01. 03. 2020, § 14 TzBfG Rn. 138. MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126 Rn. 25. 12 Verordnung (EU) 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG, Bl. ABl. Nr. L 257 v. 28. 08. 2014, 73 ff. 13 Dazu Troiano, in: Zaccaria/Schmidt-Kessel/Schulze u. a., EU eIDAS Regulation, 2020, Art. 25 Rn. 27. 14 MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126a Rn. 2. 11

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Wesentliche (theoretische) Anwendungsfälle der elektronischen Form als Schriftformersatz gem. § 126 Abs. 3 BGB finden sich heute15 zum einen im Kreditrecht, wo die Schriftform bei Verbraucherdarlehensverträgen (§ 492 Abs. 1 Satz 1 BGB) und Ratenlieferungsverträgen, soweit diese der Schriftform bedürfen (§ 510 Abs. 1 Satz 1, 2 BGB), sowie bei der Abtretung von Grundschulden und Hypotheken (§§ 1154 Abs. 1 Satz 1, 1192 Abs. 1 BGB) durch die elektronische Form ersetzt werden kann. Ein weiterer nennenswerter Anwendungsbereich findet sich zum anderen im Miet- und Pachtrecht: Die Schriftform kann hier bei Immobiliarmiet- und -pachtverträgen über mehr als ein Jahr (§§ 550 Satz 1, 578 Abs. 1, 581 Abs. 2 BGB), bei Staffel- und Indexmietvereinbarungen (§§ 557a Abs. 1, 557b Abs. 1 BGB) sowie bei der Kündigung von Wohnraummietverträgen (§ 568 Abs. 1 BGB) durch die elektronische Form ersetzt werden.16 Schließlich kann nach h. M. auch die Schriftform bei Tarifverträgen gem. § 1 Abs. 2 TVG gem. § 126 Abs. 3 BGB ersetzt werden.17 Nicht gem. § 126 Abs. 3 BGB durch die elektronische Form ersetzbar ist die Schriftform dagegen im öffentlichen Recht (z. B. in § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a BDSG18). Hier besteht eine eigene Ersetzungsregelung in § 3a Abs. 2 VwVfG bzw. den Parallelvorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder (z. B. Art. 3a Abs. 2 BayVwVfG). 2. Elektronisches Dokument mit Namensangabe Die elektronische Form nach § 126a BGB setzt zunächst voraus, dass die Erklärung in einem elektronischen Dokument enthalten ist. Dabei handelt es sich um „elektronische Daten, die in einem Schriftträger verkörpert sind, der ohne technische Hilfsmittel nicht lesbar ist.“19 Wesentliche Voraussetzung ist, dass die in dem elektronischen Dokument enthaltene Erklärung – ggf. nach Entschlüsselung – in Schriftzeichen lesbar und dauerhaft gespeichert ist.20 In welchem Format die Erklärung abgespeichert ist, ist dabei unerheblich. Es kann sich um jede Art von Datei handeln: Reine Textdateien (beispielsweise der Inhalt einer E-Mail) sind ebenso erfasst wie bearbeitbare Word- oder Excel-Dateien, aber auch PDF-Dateien oder gescannte oder sogar „handgemalte“ Bilddateien. Entscheidend ist allein, dass die in der 15 Seit der Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG zum 11. 6. 2011 (BeckOGK BGB/Knops, 01. 01. 2021, § 492 Rn. 10); zum früheren Rechtszustand s. BGH, MDR 2004, 1013 (1014). 16 Auflistung weiterer Anwendungsfälle aus dem BGB sowie insbesondere aus dem Aktien- und Kapitalmarktrecht bei MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126 Rn. 21 f. 17 ErfK/Franzen, 21. Aufl. 2021, § 1 TVG Rn. 29 m. w. N.; obiter auch BAG, NJOZ 2011, 604 Rn. 17; NZA-RR 2018, 556 Rn. 31; zweifelnd BeckOK ArbR/Waas, 01. 03. 2021, § 1 TVG Rn. 28. 18 OLG Braunschweig, BeckRS 2016, 106507 Rn. 30 ff. = VuR 2016, 388 (Zusammenfassung). 19 MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126a Rn. 3. 20 Boente/Riehm, JURA 2001, 793 (796).

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Datei enthaltene Information so dargestellt werden kann, dass der Empfänger den Inhalt der Erklärung in einem menschenlesbaren (natürlichsprachlichen) Format in Schriftzeichen wahrnehmen kann. Dem elektronischen Dokument muss ferner der Name des Ausstellers hinzugefügt werden, um diesen identifizieren zu können. Allerdings ist nicht erforderlich, dass der Name des Ausstellers die Erklärung gleich einer Unterschrift abschließt. Es genügt, wenn der Aussteller nur irgendwo in dem Dokument genannt wird.21 Aussteller in diesem Sinne ist derjenige, der die Erklärung tatsächlich in eigener Verantwortung abgibt und digital signiert – im Falle der Stellvertretung also der Vertreter, nicht der Vertretene.22 3. Qualifizierte elektronische Signatur Das zentrale Element einer Willenserklärung in elektronischer Form ist die qualifizierte elektronische Signatur, mit der die Erklärung versehen werden muss. Dieser Begriff verwies ursprünglich auf das SigG, das mit Wirkung zum 1. 7. 2016 aufgehoben und durch die eIDAS-VO ersetzt wurde.23 Dort ist die qualifizierte elektronische Signatur in Art. 3 Nr. 12 eIDAS-VO definiert als „eine fortgeschrittene elektronische Signatur, die von einer qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit erstellt wurde und auf einem qualifizierten Zertifikat für elektronische Signaturen beruht.“ a) Fortgeschrittene elektronische Signatur Eine fortgeschrittene elektronische Signatur in diesem Sinne ist gemäß Art. 3 Nr. 11 i. V. m. Art. 26 eIDAS-VO eine elektronische Signatur, die folgende Anforderungen erfüllt: „a) Sie ist eindeutig dem Unterzeichner zugeordnet. b) Sie ermöglicht die Identifizierung des Unterzeichners. c) Sie wird unter Verwendung elektronischer Signaturerstellungsdaten erstellt, die der Unterzeichner mit einem hohen Maß an Vertrauen unter seiner alleinigen Kontrolle verwenden kann. d) Sie ist so mit den auf diese Weise unterzeichneten Daten verbunden, dass eine nachträgliche Veränderung der Daten erkannt werden kann.“

Trotz der technologieneutralen Formulierung des Art. 26 eIDAS-VO kommen als fortgeschrittene elektronische Signatur faktisch nur kryptografische Verfahren in Be-

21 Ganz h. M., bereits Boente/Riehm, JURA 2001, 793 (796); heute etwa MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126a Rn. 6. 22 MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126a Rn. 5. 23 Dazu Roßnagel, NJW 2014, 3686 ff.; Püls/Gerlach, NotBZ 2019, 81 ff.

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tracht, die auf dem Prinzip der asymmetrischen Verschlüsselung beruhen.24 Dabei wird für einen Nutzer ein eindeutiges Schlüsselpaar generiert, bestehend aus einem öffentlichen und einem privaten Schlüssel. Was mit dem privaten Schlüssel verschlüsselt wurde, kann nur mit dem öffentlichen Schlüssel wieder entschlüsselt werden, und umgekehrt.25 Dieses Schlüsselpaar wird eindeutig einer Person zugeordnet und ermöglicht über das zugehörige Schlüsselzertifikat eine Identifikation dieser Person (Art. 26 lit. a) und b) eIDAS-VO). Der private Schlüssel ist nur dem Schlüsselinhaber bekannt und darf von diesem nicht weitergegeben werden, wenn er die Sicherheit seiner Signatur nicht kompromittieren will; der öffentliche Schlüssel dagegen wird in dem öffentlich zugänglichen Schlüsselzertifikat gespeichert und steht daher jedem Empfänger einer Erklärung des Schlüsselinhabers zur Verfügung. Um ein elektronisches Dokument zu signieren, wird aus den elektronischen Daten (gleich in welchem Format) nach einem standardisierten Algorithmus eine Art „Quersumme“ gebildet, der sogenannte Hashwert. Jede Veränderung des elektronischen Dokuments führt auch zu einer Veränderung des Hashwerts. Der Absender des Dokuments verschlüsselt nun den Hashwert mit seinem privaten Schlüssel und fügt den verschlüsselten Hashwert sowie sein Schlüsselzertifikat, in dem der öffentliche Schlüssel enthalten ist, dem elektronischen Dokument bei. Der Empfänger kann nun den Hashwert des übersandten Dokuments nach demselben Algorithmus eigenständig ermitteln und anhand des öffentlichen Schlüssels des Absenders den verschlüsselt mitübersandten Hashwert entschlüsseln. Sind beide Hashwerte identisch, ist dadurch bewiesen, dass das Dokument auf dem Übermittlungsweg nicht verändert wurde. Zugleich ist sichergestellt, dass das Dokument von einer Person abgesandt wurde, die über den privaten Schlüssel verfügt, dessen öffentliches Pendant in dem übersandten Schlüsselzertifikat enthalten war. Allein die Existenz einer derartigen fortgeschrittenen elektronischen Signatur belegt allerdings noch nicht, dass der Absender der Erklärung tatsächlich die Person ist, die im Zertifikat als Schlüsselinhaber ausgewiesen ist; jedermann kann sich selbst ein Schlüsselzertifikat mit einem beliebigen Absendernamen ausstellen. Zudem ist nicht sicher, dass der private Schlüssel des Absenders nicht kompromittiert wurde, etwa weil der berechtigte Schlüsselinhaber diesen weitergegeben hat oder er ihm „gestohlen“ wurde. Zur Absicherung gegen diese beiden Risiken erfordert eine qualifizierte elektronische Signatur zusätzlich, dass es sich bei dem Schlüsselzertifikat um ein „qualifiziertes Zertifikat“ mit besonderen Vorkehrungen zur Sicherung der Identität des Schlüsselinhabers handelt, und dass eine „qualifizierte Signaturerstellungseinheit“ verwendet wurde, die besonderen Schutz gegen den „Diebstahl“ des privaten Schlüssels bietet.

24 25

MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126a Rn. 10; Roßnagel, NJW 2001, 1817 (1819). Dazu etwa Fisch, ZIP 2019, 1901 (1904).

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b) Qualifiziertes Zertifikat Die Sicherstellung der Identität des Ausstellers einer elektronischen Signatur erfolgt mithilfe eines qualifizierten Zertifikats (Art. 3 Nr. 15 eIDAS-VO). Dieses muss von einem Vertrauensdiensteanbieter (Art. 3 Nr. 19 eIDAS-VO) ausgestellt worden sein und verknüpft die elektronische Signatur mit einer natürlichen Person, indem mindestens der Name oder das Pseudonym dieser Person bestätigt wird. Um die Identitätsfunktion des Zertifikats und damit der qualifizierten elektronischen Signatur zu sichern, unterliegt der Vertrauensdiensteanbieter zahlreichen Anforderungen nach Art. 24 eIDAS-VO, deren Einhaltung durch die Bundesnetzagentur überprüft wird.26 Diese erteilt dem Vertrauensdiensteanbieter dann den Qualifikationsstatus, der ihn zur Ausstellung qualifizierter Zertifikate befähigt. Derzeit existieren in Deutschland neun akkreditierte Vertrauensdiensteanbieter mit Qualifikationsstatus, darunter die D-Trust GmbH der Bundesdruckerei-Gruppe, die Deutsche Post AG, die Deutsche Telekom AG, die Bundesagentur für Arbeit und die Bundesnotarkammer;27 früher ebenfalls akkreditierte Steuerberater- und Rechtsanwaltskammern haben inzwischen ihre Tätigkeit als Vertrauensdiensteanbieter wieder eingestellt.28 Den in Deutschland akkreditierten Vertrauensdiensteanbietern sind allerdings alle anderen in der EU akkreditierten Vertrauensdiensteanbieter mit Qualifikationsstatus gleichgestellt, sodass für die qualifizierte elektronische Signatur oder andere Vertrauensdiensteanbieter aus der EU ausgewählt werden können.29 Im Hinblick auf die Sicherung der Identität des Schlüsselinhabers ist die wichtigste Aufgabe der Vertrauensdiensteanbieter die Identifikation des Antragstellers, damit nur derjenige ein qualifiziertes Schlüsselzertifikat erhält, der mit der darin benannten Person tatsächlich identisch ist. Dabei kann auch ein Pseudonym verwendet werden (Art. 3 Nr. 14, Art. 24 UAbs. 1 eIDAS-VO, § 12 Abs. 2 VDG). Das Zertifikat kann auch Informationen über eine Vertretungsmacht des Schlüsselinhabers für einen Dritten enthalten, um dem Rechtsverkehr deren Existenz und eventuelle (z. B. betragsmäßige) Grenzen zu kommunizieren. Es liegt in der Verantwortung der Vertrauensdiensteanbieter, die Identität mit geeigneten Verfahren bei der Vergabe des Zertifikats zu überprüfen, sei es durch persönliche Anwesenheit des Antragstellers oder auf elektronischem Wege, sofern dafür zu einem früheren Zeitpunkt eine persönliche Anwesenheit erforderlich war (Art. 24 Abs. 1 eIDAS-VO). Letzteres kann z. B. mittels des PostIdent-Verfahrens erfolgen.30 Das Zertifikat muss zum Zeitpunkt der Erstellung der Signatur ferner gültig sein. Dadurch wird sichergestellt, dass eine qualifizierte elektronische Signatur nicht mehr erstellt werden kann, wenn das Zertifikat widerrufen oder gesperrt wurde, etwa weil 26

Dazu Roßnagel, NJW 2014, 3686 (3689). Liste unter https://webgate.ec.europa.eu/tl-browser/#/tl/DE. 28 MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126a Rn. 13. 29 Fisch, ZIP 2019, 1901 (1903). 30 Fisch, ZIP 2019, 1901 (1903).

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der Schlüsselinhaber dessen Diebstahl oder Abhandenkommen mitgeteilt hat, oder der verwendete Verschlüsselungsalgorithmus sich infolge technischen Fortschritts als nicht mehr sicher herausgestellt hat.31 Auch solange der Schlüsselinhaber den Empfang des Zertifikats noch nicht bestätigt hat, ist eine wirksame qualifizierte elektronische Signatur nicht möglich.32 c) Qualifizierte Signaturerstellungseinheit Neben einem qualifizierten Zertifikat ist für die Einhaltung der elektronischen Form auch erforderlich, dass die elektronische Signatur mit einer qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit erzeugt wurde. Dabei handelt es sich um besondere Software- oder Hardwarekomponenten, die mindestens die Sicherheitsanforderungen des Anhangs Abs. 2 der eIDAS-VO erfüllen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Daten, die zur Erstellung der elektronischen Signatur erforderlich sind (insbesondere der Signaturschlüssel), vertraulich bleiben und ein Missbrauch der Signatur durch Dritte möglichst ausgeschlossen ist. Wesentliche Anforderungen sind insoweit, dass das verwendete Schlüsselpaar einmalig ist, der private Schlüssel nicht aus öffentlich verfügbaren Informationen abgeleitet werden kann und die Signaturerstellungsdaten zuverlässig gegen den unbefugten Zugriff Dritter geschützt sind (Anhang Abs. 2 Ziff. 1 eIDAS-VO). Praktisch bedeutete dies lange Zeit, dass der private Signaturschlüssel auf einer Chipkarte gespeichert ist, die mithilfe eines Kartenlesegeräts ausgelesen und durch eine PIN geschützt wird. Damit ist faktisch eine Zwei-Faktor-Autorisierung sichergestellt, indem nur derjenige eine qualifizierte elektronische Signatur anbringen kann, der über den Faktor „Besitz“ an der Chipkarte und „Wissen“ hinsichtlich der PIN verfügt. Gleichzeitig ist die Zugangshürde zur elektronischen Form für die Anwender dadurch hoch, weil die Erzeugung einer elektronischen Signatur neben dem bürokratischen Aufwand für die Erlangung eines qualifizierten elektronischen Zertifikats auch den technischen und finanziellen Aufwand für die Beschaffung einer Chipkarte und v. a. eines Kartenlesegeräts erfordert.33 Die technische Entwicklung ist hierbei allerdings nicht stehen geblieben. Seit einiger Zeit existiert auch die technische Möglichkeit einer elektronischen „Fernsignatur“.34 Bei dieser bleibt die qualifizierte Signaturerstellungseinheit beim Vertrauensdiensteanbieter, der dem Anwender hierauf den Zugriff via App oder Web-Anwendung ermöglicht. Damit entfällt das Erfordernis für den Schlüsselinhaber, selbst Chipkarte und Lesegerät vorzuhalten. Erforderlich ist lediglich, dass der Vertrauensdiensteanbieter in seinem Rechenzentrum die erforderlichen Sicherheitsstandards 31 S. dazu auch Vergabekammer Bayern IBBRS 2015, 1928 (noch zum insoweit inhaltsgleichen SigG). 32 BGH, NJW 2010, 2134 Rn. 23. 33 Fisch, ZIP 2019, 1901 (1904). 34 S. dazu auch Voigt/Herrmann/Danz, NJW 2020, 2991 (2992 f.).

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für die Aufbewahrung der qualifizierten Signaturerstellungseinheit einhält und den Fernzugriff so ausgestaltet, dass ein Missbrauch durch Dritte ausgeschlossen ist.35 Auf diese Möglichkeit weist Erwägungsgrund 52 der eIDAS-VO ausdrücklich hin. 4. Gewillkürte Form (§ 127 BGB) Neben der gesetzlichen elektronischen Form (§ 126a BGB) können elektronische Willenserklärungen auch gewillkürten Formerfordernissen entsprechen. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen der gewillkürten elektronischen Form (§ 127 Abs. 3 BGB) und der Erfüllung der gewillkürten Schriftform (§ 127 Abs. 2 BGB) durch elektronische Erklärungen.36 a) Gewillkürte elektronische Form Da der allgemeine Sprachgebrauch unter einer Erklärung „in elektronischer Form“ jedwede elektronische Erklärung einschließlich einer einfachen E-Mail versteht,37 ist es konsequent, dass § 127 Abs. 3 BGB davon ausgeht, dass die Parteien im Zweifel mit der Vereinbarung von „elektronischer Form“ wesentlich geringere Anforderungen verbinden, als in § 126a BGB festgelegt sind. Danach gilt im Zweifel „auch eine andere als die in § 126a BGB bestimmte elektronische Signatur“, also insbesondere die einfache und die fortgeschrittene elektronische Signatur gem. Art. 3 Nrn. 10 und 11 eIDAS-VO.38 Dazu zählt jedenfalls die eingescannte Unterschrift, die eine einfache elektronische Signatur darstellt.39 Unklar ist allerdings, ob auch eine reine E-Mail mit Namensangabe am Ende den Anforderungen des § 127 Abs. 3 Satz 1 BGB genügt.40 Art. 3 Nr. 10 eIDAS-VO verlangt für eine einfache elektronische Signatur nur „Daten, die anderen elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit Ihnen verbunden werden und zur Authentifizierung dienen, und die der Unterzeichner zum Unterzeichnen verwendet.“ Die bloße Na-

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S. dazu Fisch, ZIP 2019, 1901 (1904). Diese Unterscheidung übersehen offenbar OLG Frankfurt, NJW 2012, 2206; OLG Jena, BeckRS 2016, 2826 Rn. 29; dagegen richtig Weyer, IBR 2012, 386 ff.; Schäfer, NJOZ 2013, 801 ff.; Bergmann-Streyl, IBR 2016, 144 ff. 37 S. auch LG München I MMR 2016, 675: Eine Klausel, die die „gesetzlich geregelte elektronische Form, z. B. per E-Mail“ verlangt, ist intransparent. 38 Für eine Anerkennung auch anderer Signaturen, die nicht in der eIDAS-VO definiert sind, MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 127 Rn. 13, allerdings mit m. E. unzutreffendem Hinweis auf die BT-Drs. 14/4987, 21 l. Sp. 39 BT-Drs. 14/4662, S. 18; BeckOK BGB/Wendtlandt, 01. 02. 2021, § 127 Rn. 5; Roßnagel, NJW 2001, 1817 (1819). 40 Bejahend MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 127 Rn. 13, die davon ausgeht, dass die gewillkürte elektronische Form im Ergebnis der Textform entspreche; verneinend wohl BeckOGK BGB/Wollenschläger, 01. 05. 2021, § 127 Rn. 63. 36

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mensangabe allein dürfte hierfür nicht genügen,41 weil sie eine bloße Namensbehauptung ist und keinerlei technische oder organisatorische Vorkehrungen existieren, um diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und damit eine Authentifizierung zu ermöglichen. Denkbar ist allerdings, die Mailadresse des Absenders, die im SMTP-Header enthalten ist und von üblichen Mailprogrammen ausgelesen und zumindest mit dem Seitenquellentext angezeigt wird (nicht zu verwechseln mit dem bloßen Absendernamen, der frei konfigurierbar ist), als eine einfache elektronische Signatur zu deuten. Denn diese setzt bei allen größeren Mailanbietern voraus, dass sich der Inhaber der Mailadresse zumindest mit dem zutreffenden Passwort identifiziert hat; teilweise ist sogar eine Zwei-Faktor-Authentifizierung implementiert. Damit kann die E-Mail-Adresse im SMTP-Header (als „Daten, die anderen elektronischen Daten beigefügt werden“) durchaus der Authentifizierung des Absenders dienen. Dass diese nicht unter der Erklärung angebracht ist, sondern räumlich darüber, sollte ihrer Einordnung als digitale Signatur trotz des Wortlauts des Art. 3 Nr. 10 eIDAS-VO („die der Unterzeichner zum Unterzeichnen verwendet“) nicht entgegenstehen,42 da auch der SMTP-Header – ähnlich einer Unterschrift – erst der abgeschlossenen Erklärung im Rahmen des Versandprozesses zugefügt wird. Nur dieses entspricht auch dem landläufigen Verständnis der Vereinbarung einer Erklärung „in elektronischer Form“. b) Elektronisch übermittelte Willenserklärung und gewillkürte Schriftform Umstritten ist auch, ob elektronische Willenserklärungen – insbesondere EMails – der gewillkürten Schriftform (§ 127 Abs. 1 und Abs. 2 BGB) genügen können. Nach § 127 Abs. 1 BGB gilt zunächst § 126 BGB auch für die durch Rechtsgeschäft bestimmte Schriftform; § 127 Abs. 2 Satz 1 gestattet allerdings die „telekommunikative Übermittlung“ der Erklärung, sodass – abweichend von § 126 BGB – die handschriftlich unterschriebene Erklärung dem Empfänger nicht im Original zugehen muss. In der Urfassung des BGB von 1900 war an dieser Stelle in § 127 Satz 2 BGB a. F. die „telegraphische Übermittelung“ zugelassen worden; das implizierte notwendigerweise, dass dem Empfänger anstelle der handschriftlichen Unterschrift des Absenders nur eine gedruckte Namenswiedergabe zugehen konnte. Durch das „Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und andere Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr“ wurde 2001 die „telegraphische Übermittelung“ durch die „telekommunikative Übermittlung“ ersetzt. Gedacht war da-

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So im Ergebnis auch BeckOGK BGB/Wollenschläger, 01. 05. 2021, § 127 Rn. 63; Staudinger/Hertel, 2017, § 127 Rn. 78; anders wohl MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 127 Rn. 13; BeckOK BGB/Wendtlandt, 01. 02. 2021, § 127 Rn. 5. 42 So aber offenbar BeckOGK BGB/Wollenschläger, 01. 05. 2021, § 127 Rn. 63.

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mals an das Telefax, Fernschreiben oder „Teletext“ (gemeint war wohl eher Telex43), aber auch an E-Mail und Computerfax.44 Seither ist streitig, ob eine einfache E-Mail, die keine eingescannte Wiedergabe der Originalunterschrift enthält, der gewillkürten Schriftform im Sinne der Zweifelsregelung des § 127 Abs. 2 Satz 1 BGB genügt. Dafür spricht der Vergleich zum Telegramm, das ebenfalls ohne faksimilierte Unterschrift auskommt und zweifellos formgerecht wäre. Dagegen spricht der Gedanke, dass beim Telegramm die fehlende Wiedergabe der Unterschrift ausschließlich deswegen akzeptiert wurde, weil diese dort technisch nicht möglich war, man aber das „moderne“ und „schnelle“ Kommunikationsmittel des Telegramms nicht vom Rechtsverkehr ausschließen wollte; sowohl beim Telefax als auch bei der Übermittlung von Dateien per E-Mail greift dieses Argument indessen nicht.45 Zudem wird argumentiert, dass bei Anerkennung einer einfachen E-Mail als formgerecht die gewillkürte Schriftform faktisch der Textform entspreche,46 was der höheren Schutzfunktion eines gewillkürten Schriftformerfordernisses widerspreche.47 In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wird daher teilweise verlangt, dass der E-Mail eine gescannte Unterschrift beigefügt sein muss, um einem gewillkürten Schriftformerfordernis zu genügen.48 Letztlich wird man sich allerdings darauf besinnen müssen, dass es sich bei § 127 Abs. 2 Satz 1 BGB lediglich um eine Auslegungsregel handelt, die den mutmaßlichen Parteiwillen wiedergeben soll. Mit der inzwischen in den weitaus meisten Verkehrskreisen vollzogenen Digitalisierung des Geschäftsverkehrs hat sich die E-Mail als übliches und zuverlässiges Kommunikationsmedium etabliert, das die typischerweise mit einem gewillkürten Schriftformerfordernis verfolgten Zwecke (Dokumentationsfunktion, mit Abstrichen auch Identitäts- und Integritätsfunktion) selbst dann erfüllen kann, wenn keine gescannte Unterschrift enthalten ist. Es dürfte technisch schwieriger sein, eine fremde Absenderadresse einer E-Mail im SMTP-Header zu fälschen, als eine fremde Unterschrift einzuscannen und einer Datei hinzuzufügen. Eine E-Mail vom Konto des Absenders einer Erklärung dürfte die Authentizität der Erklärung daher sogar besser sicherstellen als ein Telegramm oder Telefax, bei welchem sich die Absendernummer frei manipulieren lässt. 43 Teletext (auch Videotext) dient der Verbreitung schriftlicher Nachrichten über das Fernsehsignal (s. nur https://de.wikipedia.org/wiki/Teletext) und ist daher zur Verbreitung individueller Willenserklärungen nicht geeignet. 44 BT-Drs. 14/4987, 20 r. Sp. unten. 45 Staudinger/Hertel, 2017, § 127 Rn. 35, 44 ff.; technisch ausgeschlossen ist eine Abbildung der Unterschrift aber bei der Übermittlung einfacher E-Mails ohne Dateianhang, vgl. BeckOGK BGB/Wollenschläger, 01. 05. 2021, § 127 Rn. 57. 46 So in der Tat BeckOK BGB/Wendtlandt, 01. 02. 2021, § 127 Rn. 4; im Ergebnis auch OLG Zweibrücken, FGPrax 2013, 223 (224); OLG München, WM 2012, 1743 (1744) sowie AG München, NJW-RR 2007, 60 (Vermerk im Verwendungszweck einer Online-Überweisung erfüllt die gewillkürte Schriftform). 47 So wohl KG, BeckRS 2018, 21686. 48 AG Berlin-Wedding, BeckRS 2009, 11124 = MMR 2009, 436 (Ls.).

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Im Zweifel sollte daher davon ausgegangen werden, dass eine Erklärung mit einfacher E-Mail von der Absenderadresse des Erklärenden der gewillkürten Schriftform nach § 127 Abs. 2 Satz 1 BGB entspricht, auch wenn sie keine gescannte Unterschrift enthält.49 Das dürfte inzwischen auch dem landläufigen Verständnis einer „schriftlichen Erklärung“ entsprechen. Gleichwohl bleibt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der Parteiwille auf eine strengere Form gerichtet war.50

III. Zwecke von Schriftform und elektronischer Form Eine Untersuchung der Gründe für die mangelnde Durchsetzung der gesetzlichen elektronischen Form in der Praxis und möglicher Weiterentwicklungen ihrer Voraussetzungen setzt zunächst eine Vergewisserung über die mit den gesetzlichen Formvorschriften verfolgten Zwecke und die Möglichkeit ihrer Erreichung durch Schriftform bzw. elektronische Form voraus.51 Dabei ist anerkannt, dass nicht jedes gesetzliche Formerfordernis alle Zwecke gleichermaßen verfolgt. 1. Klarstellungs-, Dokumentations- und Beweisfunktion Eine erste Gruppe der Funktionen von Formerfordernissen, insbesondere der Schriftform, besteht darin, die Ernsthaftigkeit, die Echtheit und den Inhalt einer Erklärung beweissicher zu dokumentieren. Diese Funktion kann gegenüber den Parteien, aber auch gegenüber Dritten (z. B. bei § 550 BGB) bestehen.52 a) Ernsthaftigkeit der Erklärung (Klarstellungsfunktion) Die Klarstellungsfunktion der Form besteht darin, durch die Formwahrung eine eindeutige Abgrenzung zwischen bloßen Verhandlungen und Entwürfen einerseits und der endgültigen Willenserklärung andererseits zu ermöglichen.53 Mit dem Anbringen der Unterschrift bzw. der qualifizierten digitalen Signatur wird diese Funktion gleichermaßen gewahrt; insoweit unterscheiden sich Schriftform und elektronische Form in ihrer gesetzlichen Ausprägung (§§ 126, 126a BGB) nicht.

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Ebenso BeckOK BGB/Wendtlandt, 01. 05. 2021, § 127 Rn. 5. So auch Staudinger/Hertel, 2017, § 127 Rn. 36; OLG München, WM 2012, 1743 (1744); s. als Beispiel für eine strengere Auslegung OLG München, MMR 2014, 109 (110). 51 Zu den Formzwecken umfassend MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 125 Rn. 8 ff. 52 MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 125 Rn. 9. 53 MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 125 Rn. 9. 50

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b) Unveränderbare Dokumentation des Erklärungsinhalts (Integritätsfunktion) Die Integritätsfunktion der Formerfordernisse bedeutet, dass die Form sicherstellen soll, dass die Erklärung nicht nach ihrer Abgabe bei der Übermittlung oder nach ihrem Zugang verändert wurde. Sie ist Voraussetzung der späteren Beweisfunktion im Prozess, weil die Beweiskraft eines Dokuments ganz wesentlich davon abhängt, inwieweit eine nachträgliche Veränderung des Dokuments möglich ist, ohne dass dies im Prozess auffallen würde. Die Integritätsfunktion wird durch die gesetzliche Schriftform nach § 126 BGB dadurch gewahrt, dass dem Empfänger die Erklärung im unterschriebenen Original zugehen muss und Manipulationen bei Papierdokumenten regelmäßig erkennbar sind. Mehrere Seiten einer Erklärung mussten ursprünglich in einer Weise miteinander physisch verbunden sein, dass auch hier Manipulationen der Seiten, auf denen sich keine Unterschrift befindet, erkennbar waren.54 Inzwischen hat der BGH infolge der sog „Auflockerungsrechtsprechung“55 diese Anforderungen erheblich gelockert und verzichtet auf eine körperliche Verbindung der einzelnen Blätter, solange sich die Einheit der Urkunde aus der fortlaufenden Nummerierung der Seiten, einer einheitlichen Gestaltung, dem inhaltlichen Textzusammenhang oder anderen Merkmalen zweifelsfrei ergibt.56 Damit bietet die Schriftform keine absolute Sicherheit gegen Veränderungen des Dokuments bei der Übermittlung oder durch den Empfänger, solange nicht über einen Vertrag mehrere gleichlautende Urkunden aufgenommen werden, sodass jede Partei eine eigene Urkunde zu Beweiszwecken behalten kann (§ 126 Abs. 2 Satz 2 BGB). Dementsprechend erlaubt § 419 ZPO die Einschränkung der Beweiskraft äußerlich veränderter Urkunden, und nehmen die §§ 439 ff. ZPO die Echtheit (einschließlich der Integrität57) der Urkunde von der vollen Beweiskraft des § 416 ZPO aus und unterwerfen sie der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO. Ganz anders liegt dies bei der elektronischen Form: Es ist gerade die zentrale Funktion der elektronischen Signatur, die Integrität des signierten Dokuments sicherzustellen. Die geringste Veränderung des digitalen Dokuments, welches die Erklärung enthält, führt dazu, dass die Signaturprüfung fehlschlägt. Solange die für die Signaturerstellung verwendeten Algorithmen und Schlüssellängen hinreichend sicher sind,58 ist eine Verfälschung des Dokuments während der Übermittlung oder durch den Empfänger mit mathematischer Sicherheit ausgeschlossen (s. oben II. 3. a)).

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So BGHZ 40, 255. Dazu Staudinger/Hertel, 2017, § 126 Rn. 112 ff. 56 Etwa BGHZ 136, 357 (Leitsatz 1). 57 MüKoZPO/Schreiber, 6. Aufl. 2020, § 440 Rn. 2. 58 S. dazu etwa die Technische Richtlinie des BSI „Kryptographische Verfahren: Empfehlungen und Schlüssellängen“, BSI TR-02102 – 1, Version 2020 – 01 vom 24. März 2020 (https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Publikationen/TechnischeRichtlini en/TR02102/BSI-TR-02102.pdf?__blob=publicationFile). 55

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c) Authentifizierung des Unterzeichners (Identitätsfunktion) Die Identitätsfunktion gesetzlicher Formerfordernisse soll sicherstellen, dass die Erklärung tatsächlich von dem Aussteller stammt, der Unterzeichner also sicher identifiziert ist. Bei der Schriftform wird dies durch das Erfordernis einer Originalunterschrift, also der eigenhändigen Namensunterschrift realisiert. Diese ist gewissermaßen ein biometrisches Merkmal, das dem Unterzeichner verhältnismäßig eindeutig zugeordnet werden kann. Sicherlich kann auch eine handschriftliche Unterschrift gefälscht werden; eine Fälschung, die auch einen Schriftsachverständigen (§§ 441 f. ZPO) täuscht, setzt aber erhebliche Fertigkeiten voraus. Im Gegensatz dazu wird die Identitätsfunktion bei der elektronischen Form nicht durch technische, sondern allein durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt: Zum einen wird die Identität des Schlüsselinhabers bei der Vergabe des qualifizierten Zertifikats vom Vertrauensdiensteanbieter überprüft, wobei insbesondere in den Fällen des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b) eIDAS-VO (oben II. 3. b)) durchaus Lücken in der Identitätsprüfung entstehen können, wenn sich der Vertrauensdiensteanbieter auf die Identitätsprüfung durch einen Dritten verlässt. Faktisch steht und fällt die Zuverlässigkeit der Identitätsprüfung dann beispielsweise mit der Kompetenz und dem Engagement der zuständigen Postangestellten im Rahmen der PostIdent-Prüfung. Zum anderen – und wesentlich gravierender – hängt die Zuverlässigkeit der Identitätsbestimmung hinsichtlich einer konkreten qualifizierten elektronischen Signatur entscheidend davon ab, dass der Schlüsselinhaber die für die Signaturerstellung erforderlichen Identifizierungsmerkmale (z. B. Chipkarte und PIN) nicht aus der Hand gegeben hat. Anders als bei einer manuellen Unterschrift, die nicht ohne weiteres durch einen Dritten in identischer Weise vollzogen werden kann, ist die elektronische Signatur, die durch einen Dritten mithilfe von Chipkarte und PIN des Schlüsselinhabers erstellt wird, digital identisch mit einer Signatur des Berechtigten, von dieser also auf keinem Wege zu unterscheiden.59 Die Identitätsfunktion der elektronischen Form beruht daher ausschließlich auf der Annahme, dass der Schlüsselinhaber sich an seine Obliegenheiten im Umgang mit der Signaturerstellungseinheit gehalten hat, und dass auch kein unbefugter Dritter hierauf Zugriff erlangt hat. Bei elektronischen Fernsignaturen ist diese Gefahr sogar noch höher, weil deren Missbrauch durch Dritte anders als das Abhandenkommen der Chipkarte vom Schlüsselinhaber nicht unbedingt bemerkt werden kann. Im Hinblick auf die Identitätsfunktion ist die qualifizierte elektronische Signatur daher nicht stärker als etwa ein Faksimile-Unterschriftsstempel oder ein Unterschriftenautomat.60 Zwar kann nach h. M. der Missbrauch einer Signaturerstellungseinheit dem Schlüsselinhaber nach Rechtsscheinsgrundsätzen zugerechnet werden, wenn er einem Dritten Zugang hierzu verschafft hat, etwa indem er ihm Chipkarte und 59

Skrobotz, CR 2011, 324 (324). S. auch Rieder, Die Rechtsscheinhaftung im elektronischen Geschäftsverkehr, 2011, 306 zu passwortbasierten Authentifizierungsverfahren. 60

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PIN bewusst übergeben hat – sei es auch unter einschränkenden Auflagen.61 Damit würde sich der Missbrauch zumindest gegenüber gutgläubigen Geschäftspartnern letztlich nicht auswirken, weil die fehlende Authentizität der Erklärung wegen der gleichwohl bestehenden Haftung des Ausstellers unerheblich ist. Es bleiben aber die Fälle des vom Schlüsselinhaber nicht zurechenbar veranlassten Missbrauchs, etwa durch Diebstahl der Chipkarte und Ausspähen der PIN, bei denen eine formgerechte Erklärung vorliegt, die Prüfung der qualifizierten elektronischen Signatur eindeutig auf den Schlüsselinhaber verweist, die Erklärung aber gleichwohl nicht von ihm stammt und ihm auch nicht nach Rechtsscheinsgrundsätzen zugerechnet werden kann. Das belegt, dass die Identitätsfunktion selbst durch die qualifizierte elektronische Signatur nur eingeschränkt verwirklicht werden kann. d) Beweisfunktion im Prozess Die Beweisfunktion eines Formerfordernisses setzt kumulativ zunächst die Integritäts- und Authentizitätsfunktion voraus, weil nur ein solches Dokument über einen gesteigerten Beweiswert hinsichtlich der in ihm enthaltenen Erklärungen verfügt, das sicher vom Aussteller stammt und nicht nachträglich verändert wurde.62 Darüber hinaus erfordert die Beweisfunktion die Verwertbarkeit des Dokuments im Prozess, d. h. die rechtliche und faktische Möglichkeit, dieses in den Prozess einzuführen. Insoweit unterstellt § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO elektronische Dokumente zunächst den Vorschriften über den Augenscheinsbeweis, nicht denjenigen über den Urkundsbeweis. Für private elektronische Dokumente, die mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind, also der elektronischen Form nach § 126a BGB genügen, verweist § 371a Abs. 1 Satz 1 ZPO allerdings auf die Vorschriften über die Beweiskraft privater Urkunden und stellt somit beide Formen prozessual gleich.63 Hinsichtlich der Integrität und Authentizität des Dokuments gilt bei qualifiziert elektronisch signierten Dokumenten die Beweiserleichterung des § 371a Abs. 1 Satz 2 ZPO.64 Die Schwäche der Identitätsfunktion der elektronischen Form setzt sich hier aber im Prozessrecht fort: Da es sich nur um einen Anscheinsbeweis handelt, genügt es, wenn der (vermeintlich) Signierende Tatsachen vorträgt, die geeignet sind, den Beweis des ersten Anscheins zu erschüttern. Das ist – neben der Behauptung fehlerhafter Identifizierung des Unterzeichners65 – bereits der Vortrag, der (vermeintlich) Signierende habe die zur Erzeugung der Signatur erforderlichen Daten 61 Rieder, Die Rechtsscheinhaftung im elektronischen Geschäftsverkehr, 2011, 261 ff.; Müller-Brockhausen, Haftung für den Missbrauch von Zugangsdaten im Internet, 2014, Rn. 889 m. w. N.; zweifelnd Schemmann, ZZP 2005, 161 (174 f.); s. zum schweizerischen Recht auch die gesetzlich angeordnete Haftung des Schlüsselinhabers auf das negative Interesse bei (vermutetem) Verschulden gem. Art. 59a OR. 62 S. bereits vorstehend III. 1. b) bei Fn. 57. 63 S. dazu Heinze/Prado Ojea, CR 2018, 37 ff. 64 Dazu Heinze/Prado Ojea, CR 2018, 37 (41). 65 Heinze/Prado Ojea, CR 2018, 37 (41 m. Fn. 35).

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und/oder Geräte (z. B. Chipkarte und PIN) einem Dritten überlassen, der diese offenbar missbraucht haben müsse. Das wäre zwar möglicherweise obliegenheits- oder sogar pflichtwidrig,66 würde aber nichts daran ändern, dass der Anscheinsbeweis des § 371a Abs. 1 Satz 2 ZPO erschüttert wäre. Materiell wäre dann zu prüfen, ob der Dritte nach den Grundsätzen der Blanketterklärung zur Signatur berechtigt war;67 hierfür trüge der Signaturempfänger die Beweislast.68 Alternativ kann in diesem Fall der Schlüsselinhaber einer strengen Rechtsscheinhaftung unterworfen werden, sodass er für die von dem Dritten abgegebene Erklärung einstehen müsste und der Vortrag eines Missbrauchs durch den Dritten letztlich materiellrechtlich unerheblich würde.69 2. Übereilungsschutz und Warnfunktion Eine weitere wesentliche Gruppe von Formzwecken zeichnet sich dadurch aus, dass Formerfordernisse vom Gesetzgeber teilweise geradezu bewusst als „retardierendes Moment“ eingesetzt werden, um den Erklärenden vor bedeutsamen Geschäften zu warnen und vor einer Übereilung seiner Willensentscheidung zu schützen. Dieser Schutzzweck steht auf den ersten Blick der auf Beschleunigung ausgerichteten Digitalisierung des Rechtsverkehrs diametral entgegen.70 Freilich ist eine solche Verzögerungsfunktion schon bei der eigenhändigen Unterschrift der Schriftform eher zweifelhaft, da diese häufig ohne besonderen Aufwand angebracht werden kann, wenn das zu unterschreibende Dokument bereits in Papierform vorliegt. Immerhin setzt die klassische Schriftform aber bei einem im Übrigen digital stattfindenden Vertragsschlussprozess einen Medienbruch voraus, weil das zu unterschreibende Dokument zunächst ausgedruckt und nach der eigenhändigen Unterschrift gegebenenfalls wieder eingescannt werden muss. So unerwünscht dieser Medienbruch aus der Sicht digitaler Geschäftsprozesse auch sein mag, erfüllt er doch eine gewisse Schutzfunktion durch die Verzögerung des Vertragsschlusses, die der schutzwürdigen Partei zum einen Zeit zu Überlegung verschafft, zum anderen zumindest die Bedeutung des Rechtsgeschäfts vor Augen führen kann (Warnfunktion). Findet allerdings der zum Vertragsschluss führende Geschäftsprozess „analog“, also in Papierform statt, entfällt das mit dem Medienbruch verbundene retardierende Element, sodass allein die Warnfunktion der Unterschrift verbleibt. Um einen Übereilungsschutz auch bei der elektronischen Form zu realisieren, darf – paradoxerweise – der Signaturprozess in technischer Hinsicht nicht zu einfach 66 So Bettendorf/Apfelbaum, DNotZ 2008, 19 (20 ff.); Bettendorf/Apfelbaum, DNotZ 2008, 85 (89 ff.) gegen Bohrer, DNotZ 2008, 39 (51 ff.). 67 Hierzu Oechsler, AcP 208 (2008), 565 ff. 68 So auch Schemmann, ZZP 2005, 161 (174) m. w. N. 69 Vorstehend III. 1. c) mit Fn. 61. 70 So z. B. MüKoBGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 126 Rn. 23.

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ausgestaltet sein.71 Auch wenn es technisch möglich wäre, den Signaturprozess vollständig in eine Smartphone-App zu integrieren und eine qualifizierte elektronische Signatur durch einfaches Bedienen des Fingerabdruck-Scanners während des auf dem Smartphone ablaufenden Vertragsschlussprozesses zu erzeugen, würde dies angesichts der Einfachheit und Ubiquität des Fingerabdruck-Scans jedenfalls keinen Übereilungsschutz bieten; gleiches gilt für eine simple PIN-Abfrage. Ob damit eine Warnfunktion verbunden wäre, hängt letztlich von der allgemeinen Nutzerwahrnehmung ab: Je üblicher ein Fingerabdruck-Scan auch für banale Anwendungen wird, desto geringer könnte das Bewusstsein der Nutzer für dessen besondere rechtsgeschäftliche Bedeutung werden und damit der Warneffekt ausfallen. Gleichwohl ist es technisch ohne weiteres möglich, den Signaturprozess softwareseitig so zu gestalten, dass ein Übereilungsschutz und die Warnfunktion gewährleistet werden.72

IV. Zwischenfazit: Die Anforderungen der elektronischen Form als Hemmschuh der Digitalisierung Die elektronische Form war zum Zeitpunkt ihrer Einführung im Jahr 2001 ihrer Zeit – und der deutschen digitalen Infrastruktur – weit voraus. Einerseits verfügte praktisch keine Privatperson über Kartenlesegeräte. Andererseits gab es fast keine relevanten Anwendungsfälle, bei denen die Schriftform durch die gesetzliche elektronische Form ersetzt werden konnte, sodass es auch keinerlei Anreiz gab, die Investitionen in die Hardware und den enormen bürokratischen Aufwand für die Beantragung eines qualifizierten elektronischen Zertifikats zu tätigen. Der Digitalisierung weiter Teile des Rechtsverkehrs hat die praktische Bedeutungslosigkeit der elektronischen Form allerdings keinen Abbruch getan. Heute werden ein Großteil der Transaktionen Privater vom kleinen Warenkauf über Urlaubsbuchungen bis zum Online-Banking und dem gesamten Zahlungsverkehr digital abgewickelt. All das funktioniert gegenwärtig durchaus zuverlässig und offenbar hinreichend rechtssicher auch ohne Einsatz qualifizierter elektronischer Signaturen. In der Praxis setzen die relevanten Akteure auf eigene, selbstentwickelte Instrumente zur Sicherung der Identität der Erklärenden und der Authentizität der abgegebenen Willenserklärungen. Im Bankwesen existieren hierzu detaillierte gesetzliche Vorgaben nach der Zahlungsdiensterichtlinie (PSD)73 und den Geldwäscheregelungen. Verbleibende Missbrauchsrisiken (z. B. nach § 675u BGB bzw. Art. 73 PSD) werden offensichtlich hingenommen bzw. ihre Kosten auf die Gesamtzahl der Kunden umgelegt. 71

S. bereits Boente/Riehm, JURA 2001, 793 (797). Ebenso Jaschinski, CR 2020, 423 (427); zweifelnd – allerdings durch die technische Entwicklung wohl überholt – noch Oertel, MMR 2001, 419 (421). 73 Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 2002/65/ EG, 2009/110/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2007/64/EG, Bl. ABl. L 337 v. 23. 12. 2015, S. 35 ff. 72

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Gleichwohl erweist sich die faktisch fehlende Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur und damit der elektronischen Form gem. § 126a BGB in manchen Bereichen als großes Innovationshemmnis für die Digitalisierung und trägt mit dazu bei, dass sich der Rückstand Deutschlands auf diesem Gebiet weiter vergrößert. Denn sie führt dazu, dass Transaktionen, die einem gesetzlichen Schriftformerfordernis unterliegen, de facto nicht ohne Medienbruch, also volldigital abgewickelt werden können: Weil nur die allerwenigsten Kunden über die technischen und organisatorischen Voraussetzungen zur Abgabe einer Erklärung in elektronischer Form (§§ 126 Abs. 3, 126a BGB) verfügen, bleibt faktisch nur der Rückgriff auf die klassische Schriftform, der den digitalen Geschäftsprozess unterbricht. Je stärker die Kundengeneration an rein digitale Transaktionen gewöhnt ist, desto stärker wirkt sich dieser Medienbruch aus. Für heutige Jugendliche, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, ihr gesamtes Leben von einem Smartphone aus zu organisieren, ist bereits die bloße Anforderung, ein Dokument auf Papier auszudrucken, zu unterschreiben und per Post (oder Telefax) zu versenden, Grund genug, die Transaktion abzubrechen. Das gleiche gilt für das Erfordernis, eine Bank- oder Postfiliale persönlich zu den (typischerweise äußerst eingeschränkten) Öffnungszeiten aufsuchen zu müssen, um die Transaktion vor Ort abzuschließen oder auch nur sich zu identifizieren. Nicht umsonst haben Geschäftsmodelle, die eine einfache und volldigitale Abwicklung versprechen, gerade bei der jüngeren Generation der „Millenials“ enormen Zulauf. Das gilt nicht nur für Alltagsgeschäfte wie etwa eine Kontoeröffnung, den Abschluss einer Versicherung oder den Kauf eines Autos, sondern auch für größere Transaktionen wie Unternehmensgründungen. Auch hier wird der bürokratische Aufwand, der bei Gesellschaftsgründungen häufig genug noch mit der Notwendigkeit eines persönlichen Besuchs beim Notar verbunden ist, mehr und mehr als Hindernis für Startup-Gründungen in Deutschland und damit als Innovationshemmnis angesehen. Zwar sieht der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie74 (DiRUG)75 die Möglichkeit einer Online-Gründung einer GmbH und weiterer Online-Verfahren für Registeranmeldungen bei Kapitalgesellschaften vor; nach § 16b Abs. 4 GmbHG in der Fassung des Referentenentwurfs zum DiRUG ist für die Beurkundung einer Gesellschaftsgründung per Videokonferenz aber nach wie vor eine qualifizierte elektronische Signatur aller Beteiligten erforderlich. Solange diese nach wie vor keine nennenswerte praktische Verbreitung erfahren hat, wird auch die Online-Gründung einer Gesellschaft erwartbar keine Praxisrelevanz erlangen. Dass nur einige Wenige über die Voraussetzungen zur Erstellung qualifizierter elektronischer Signaturen verfügen, ist allerdings kein Naturgesetz. Vielmehr 74 Richtlinie (EU) 2019/1151 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht, Bl. ABl. L 186 vom 11. 7. 2019, S. 80. 75 Verfügbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Digitali sierungsrichtlinie.html.

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haben die rechtlichen (Ersetzung von SigG bzw. SigRL durch die e-IDAS-VO) und technischen (Fernsignaturen; Software-Zertifikate) Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre die technischen und bürokratischen Zugangshürden zur qualifizierten elektronischen Signatur erheblich gesenkt. Es ist zu hoffen, dass damit auch die Verbreitung qualifizierter Schlüsselzertifikate als Kernvoraussetzung der Nutzung der elektronischen Form zunehmen wird. Abschließend sollen Wege aufgezeigt werden, wie diese Entwicklung beschleunigt werden kann, damit die elektronische Form vom Hemmschuh vielleicht sogar zu einer Triebfeder der Digitalisierung in Deutschland werden kann.

V. Stärkung der Verbreitung durch neue Anwendungsfälle Ein wesentlicher Weg, die Verbreitung der Infrastruktur für die Erstellung qualifizierter elektronischer Signaturen in der Bevölkerung zu verbessern, besteht sicherlich darin, mehr Anwendungsfälle für die elektronische Form zu schaffen. Je mehr Transaktionen des täglichen Lebens einfacher und schneller in digitaler Form mithilfe qualifizierter elektronischer Signaturen – oder weiterer, noch zu schaffender anderer zweckentsprechend rechtssicherer digitaler Kanäle76 – vorgenommen werden können, desto größer sollte die Nachfrage nach den entsprechenden Signaturkomponenten und nach benutzerfreundlichen Anwender-Interfaces werden. Dieser Weg weist über das Privatrecht hinaus auch in das Verwaltungs- und Prozessrecht. 1. Öffentliche Verwaltung Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Einführung der elektronischen Steuererklärung mithilfe von ELSTER, die mithilfe einer qualifizierten elektronischen Signatur volldigital eingereicht werden kann. Freilich sieht die ELSTER-Software auch weitere Möglichkeiten der Identifikation und Authentifizierung der Steuererklärung vor, die ohne qualifizierte elektronische Signatur auskommen (elektronischer Personalausweis mit Ausweis-App am Smartphone oder Software-Zertifikate). Ausgehend hiervon steigt die Attraktivität der qualifizierten elektronischen Signatur und mit jedem weiteren Anwendungsfall, den die öffentliche Verwaltung für sie schafft.77 Sollte es eines Tages (endlich) möglich sein, alle wesentlichen Verwaltungsvorgänge von der Beantragung eines Personalausweises oder Reisepasses über die Zulassung eines Kfz bis hin zu Wahlen in elektronischer Form mithilfe qualifizierter elektronischer Signaturen vorzunehmen, wird sich die (finanzielle und bürokratische) Investition in die entsprechende Signatur-Infrastruktur für die Bürger umso schneller amortisieren. Insofern ist die mangelnde Verbreitung qualifizierter

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Dazu unten VI. S. hierzu auch Köhler, WzS 2016, 244 ff.

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elektronischer Zertifikate auch ein Spiegelbild der um Jahrzehnte verschleppten Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland. 2. Justiz Ähnliches gilt für den Kontakt der Bürger mit der Justiz. Jüngst hat eine Arbeitsgruppe im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der OLGe, des KG, des BayObLG und des BGH ein Diskussionspapier zu Modernisierung der Ziviljustiz vorgestellt,78 in welchem unter anderem vorgeschlagen wird, einen bundesweit einheitlichen Bürgerzugang zur Justiz in digitaler Form bereitzustellen, der als sicherer Übermittlungsweg dient. Dieser soll anknüpfen an den Bürgerzugang der Verwaltung nach dem Onlinezugangsgesetz (OZG).79 Allerdings strebt die Arbeitsgruppe bisher an, nach dem Vorbild des beA und des EGVP einen Zugang zu Gericht über ein spezielles Portal zu schaffen, das als sicherer Übermittlungsweg ohne qualifizierte elektronische Signaturen auskommt.80 In dieselbe Richtung geht der Referentenentwurf für ein Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 18. 12. 2020,81 der ein „besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach“ (eBO) vorsieht, über welches elektronische Dokumente zwischen Bürgern und Gerichten ausgetauscht werden können. Das mag nach dem gegenwärtigen Verbreitungsstand der Signatur-Infrastruktur nachvollziehbar sein; im Ergebnis wird es allerdings dazu führen, dass die „Insellösung“ von beA, EGVP & Co. gestärkt wird, während der allgemeine elektronische Privatrechtsverkehr nach wie vor nicht formgültig stattfinden kann. Deutlich sinnvoller erscheint es demgegenüber, in einem ersten Schritt mit staatlicher Unterstützung die Verbreitung von Signatur-Infrastruktur zu fördern, etwa indem automatisch mit der Ausgabe eines elektronischen Personalausweises auch ein qualifiziertes elektronisches Zertifikat angelegt wird. Die Bundesdruckerei verfügt bereits jetzt über die technischen und organisatorischen Möglichkeiten hierzu über ihre Tochter D-Trust, die als Vertrauensdiensteanbieter für qualifizierte elektronische Zertifikate akkreditiert ist. Zusammen mit der Ausweis-App zur sicheren Identifikation und dem Betrieb einer Fernsignatur-Infrastruktur könnte auf diese Art binnen kurzer Zeit eine weite Verbreitung der Fähigkeit zur Erstellung qualifi78

Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, Modernisierung des Zivilprozesses, 2020 (https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesge richte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf). 79 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, Modernisierung des Zivilprozesses, 2020 (https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesge richte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf), S. 11. 80 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, Modernisierung des Zivilprozesses, 2020 (https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesge richte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf), S. 14 f. 81 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_AusbauERVV.pdf?__blob=publicationFile&v=3.

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zierter elektronischer Signaturen erreicht werden. Die technischen Möglichkeiten zur Erstellung digital signierter Dokumente sind heute ohnehin in jedes Mailprogramm sowie in geläufige PDF-Reader und Office-Programme integriert. Damit scheint es ohne weiteres möglich, die Zwecke der sicheren Kommunikation mit Behörden und Justiz auch durch schlichten (mit S/MIME verschlüsselten) E-Mail-Verkehr unter Verwendung qualifizierter elektronischer Signaturen zu erreichen. Die – notorisch unzuverlässigen,82technisch veralteten83 und äußerst beschränkten84– Insellösungen von beA, EGVP & Co. würden dadurch entbehrlich und könnten durch zeitgemäße Kommunikationsformen, die niederschwellig zugänglich sind, ersetzt werden. Insbesondere aus Sicht der Bürger, die wesentlich häufiger mit privaten Unternehmen als mit Behörden und Gerichten zu tun haben, würde sich ein für alle Adressaten einheitlicher und leicht zugänglicher rechtssicherer und formgültiger Kommunikationsweg wesentlich einfacher durchsetzen lassen. 3. Bankwesen Das schließt das Bankwesen ein, das inzwischen zahlreiche eigene Instrumente zur rechtssicheren Kommunikation mit ihren Kunden entwickelt und etabliert hat. Auch hier herrscht eine Vielzahl unterschiedlicher Lösungen, die jeweils wieder neue Identifikationen, Zugangsinstrumente (Karten, TAN-Generatoren, Smartphone-Apps) und Kennwörter erfordert. Eine einheitliche sichere und durch den Staat zusammen mit den Personalausweisen verbreitete Infrastruktur für die Authentifizierung der Kunden und die rechtssichere Kommunikation mit diesen wäre auch hier ein großer Fortschritt. 4. § 126 Abs. 3 BGB Die geringe Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur im Privatrecht dürfte auch damit zusammenhängen, dass der Gesetzgeber selbst im BGB deren Anwendungsbereich drastisch reduziert hat.85 In praktisch allen Fällen, in denen die Schriftform eine Warnfunktion hat, ist deren Ersetzung durch die elektronische Form gegenwärtig ausgeschlossen. Das scheint nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr 82

Das beA ist bereits mit elf Monaten Verspätung und mit erheblichen Sicherheitsdefiziten gestartet, die unmittelbar vor geplantem Beginn der passiven Nutzungspflicht am 1. 1. 2018 entdeckt wurden und den Start erst im September 2018 wieder ermöglichten (s. https://beaabc.de/bea-chronik/). S. im Übrigen die umfangreiche Dokumentation der beA-Störungen unter https://www.brak.de/w/files/02_fuer_anwaelte/bea/bea-stoerungsdokumentation.pdf. 83 Keine Integration in Mailprogramme, kein Client für Android oder iOS, damit keine Nutzung über Mobilgeräte, … 84 Nur Versand von PDF- und TIFF-Dateien (z. B. keine Excel-Dateien), Limit auf 60 MB je Versand (s. Bekanntmachung des BMJV zu § 5 der ERVV vom 19. 12. 2017 – ERVB 2018), kein Kanzleipostfach, … 85 S. oben II. 1.

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ist es eine Aufgabe der Softwaregestaltung, den Prozess der Signaturerstellung so auszugestalten, dass die Warnfunktion des Schriftformerfordernisses adäquat abgebildet wird. Dies könnte nach dem Vorbild nach der Button-Lösung des § 312j Abs. 3, Abs. 4 BGB gesetzlich vorgeschrieben werden und damit die Digitalisierung weiterer Bereiche des Geschäftslebens ohne Abstriche beim Verbraucherschutz ermöglichen (näher unten VI.). 5. Blockchain Auch das immer weitere Vordringen der Blockchain-Technologie einschließlich Smart Contracts86 könnte die Verbreitung qualifizierter elektronischer Signaturen fördern. Smart Contracts auf einer Blockchain87 basieren auf elektronischen Signaturen; jede Transaktion auf einer Blockchain wird durch eine elektronische Signatur ausgelöst. Daher verfügt zumindest jeder Nutzer der Blockchain über ein eigenes Signaturschlüsselpaar und die erforderliche Software zur Erstellung von Signaturen. Freilich sind die gängigen Blockchains nicht auf qualifizierte elektronische Signaturen ausgelegt, sodass insbesondere keine qualifizierten elektronischen Zertifikate erforderlich sind. Damit können Transaktionen auf der Blockchain derzeit die elektronische Form nicht erfüllen.88 Denkbar ist aber zum einen, eine neue rechtssichere digitale Form zwischen Textform und elektronischer Form auf der Basis der Blockchain-Technologie mithilfe digitaler Signaturen gesetzlich zu etablieren,89 und zum anderen, Projekte zur Etablierung der Blockchain-Technologie im „klassischen“ Rechtsverkehr90 so auszugestalten, dass eine qualifizierte elektronische Signatur verlangt wird, sodass die elektronische Form des § 126a BGB erfüllt werden kann.

VI. Ausblick: Weiterentwicklung der elektronischen Form Die Digitalisierung des Geschäftsverkehrs in Deutschland würde nicht nur von einer Stärkung der Nachfrage nach der elektronischen Form i. S. d. § 126a BGB, sondern auch von einer Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der elektronischen 86 Dazu einführend Berberich, in: Ebers/Heinze/Krügel u. a., Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 27; Blocher, AnwBl 2016, 612 ff.; Glatz, in: Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 2018, Kap. 4; Kaulartz, CR 2016, 474 ff. 87 Dazu einführend Kaulartz/Heckmann, CR 2016, 618 ff.; Voshmgir, in: Kaulartz/Braegelmann, Rechtshandbuch Smart Contracts, 2019, Kap. 2. 88 Jaschinski, CR 2020, 423 (426). 89 Dafür Jaschinski, CR 2020, 423 ff. 90 S. etwa das Pilotprojekt von BNotK und BayStMJ zur Erprobung eines digitalen Gültigkeitsregisters für notarielle Vollmachten und Erbscheine auf Blockchain-Basis (https:// www.bnotk.de/fileadmin/user_upload_bnotk/Pressemitteilungen/2020/Machbarkeitsstudie_ Das_Blockchain-basierte_Gueltigkeitsregister.pdf).

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Form selbst profitieren. Derzeit kennt das deutsche Recht nur zwei gesetzliche Formen für den Austausch elektronischer Dokumente: die quasi voraussetzungslose, aber auch äußerst unsichere Textform des § 126b BGB und die geradezu prohibitiv anspruchsvolle elektronische Form des § 126a BGB. Das schöpft das Potenzial elektronischer Kommunikations- und Authentifizierungsmittel bei weitem nicht aus. Die verschiedenen Formzwecke können durch unterschiedliche digitale Mittel mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser erfüllt werden als durch die bisherigen analogen Papierdokumente in Textform, Schriftform, notarieller Beglaubigung oder Beurkundung. Die Nutzung dieser Möglichkeiten setzt allerdings einen vollständigen Neuansatz bei der Gestaltung der Formvorschriften sowie der gesetzlichen Formerfordernisse voraus, der denselben Grad der Differenzierung, der das bisherige Recht im Hinblick auf die unterschiedlichen „analogen“ Formen auszeichnet, auf digitale Formen überträgt.91 Während auch der Gesetzgeber von 2001 nach wie vor „analog“ gedacht hat und digitale Formen nur als Substitut bestimmter analoger Formen vorgesehen hat (exemplarisch § 126 Abs. 3 BGB),92 wären bei diesem Neuansatz die digitalen Formen zumindest als gleichberechtigt zu den analogen Formen, wenn nicht sogar vorrangig zu denken. Im Rahmen dieses Beitrags kann dieser Neuansatz nicht im Detail ausgeführt werden. Er soll daher lediglich mit einigen Gedanken schließen, auf welchem Weg eine solche Lösung gefunden werden könnte. Ausgangspunkt sollte zunächst eine Analyse sämtlicher gesetzlicher Formerfordernisse im Hinblick auf die jeweils mit ihnen verfolgten Formzwecke sein. Hinzu tritt eine Sammlung digitaler Lösungen, die die entsprechenden Formzwecke erfüllen können. Das sind neben fortgeschrittenen elektronischen Signaturen93 und/oder der Blockchain-Technologie zum Schutz der Integritätsfunktion94 auch Softwaregestaltungen zum Übereilungsschutz95 oder zur Sicherstellung einer qualifizierten juristischen Beratung, die einer notariellen Beurkundung gleichwertig wäre, sei es durch „echte“ Notare im Rahmen einer Videokonferenz96 oder durch Chatbots. Die bisherige Schwachstelle der qualifizierten elektronischen Signatur, die fehlende biometrische Kontrolle der Identität ihres Ausstellers,97 kann mithilfe von Fingerabdruck- oder Gesichtserkennungssoftware, die inzwischen in nahezu jedem Smartphone implementiert ist, realisiert werden. Auch für die Beweisfunktion sind differenzierte Lösungen denkbar, etwa in dem der Zugriff auf eine Blockchain als Beweismittel zugelassen wird.98 Schließlich können elektronische Formen auch über die bisherigen, immer noch aus schriftlichen Dokumenten abgeleiteten Begrenzungen 91

S. auch Jaschinski, CR 2020, 423 (427). Jaschinski, CR 2020, 423 (426). 93 Oben II. 3. a). 94 Dafür Jaschinski, CR 2020, 423 (427). 95 Oben III. 2. 96 So der Ansatz des DiRUG, s. § 16b GmbHG-RefE, s. oben IV. 97 Oben III. 1. c). 98 S. dazu Schäfer, K & R Beilage 2020, 31 ff. 92

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formgültiger Erklärungen auf solche, die in Schriftzeichen wiedergegeben werden können, hinausgehen. Während am Ende des 19. Jahrhunderts bei der Schaffung der analogen Formvorschriften des BGB selbstverständlich nur an statische, papiergebundene Erklärungen gedacht werden konnte, können im 21. Jahrhundert auch Audio- oder Videodateien elektronisch signiert und damit sowohl authentifiziert als auch gegen Veränderung geschützt werden, und können daher als formgültige Erklärungen in Betracht kommen. Diese unterschiedlichen digitalen Elemente können dann wie eine Art Baukasten genutzt werden, um zu verschiedenen gesetzlichen Formvorschriften zusammengefügt zu werden. Aus diesem Baukasten kann jedes gesetzliche Formerfordernis zweckentsprechend mit einer passenden digitalen Formvorschrift versehen werden, durch welche sichergestellt wird, dass einerseits alle einschlägigen Formzwecke verwirklicht werden, andererseits aber die hierfür bestehenden technologischen und bürokratischen Hürden nicht höher sind als durch die Formzwecke unbedingt erforderlich. Für jedes formbedürftige Rechtsgeschäft gäbe es dadurch wie bisher eine maßgeschneiderte „analoge“ und zusätzlich auch eine ebenso maßgeschneiderte digitale Form. Dies würde der Digitalisierung des Privatrechtsverkehrs in Deutschland einen wesentlichen Schub verleihen, den sie dringend benötigt.

Notarrecht als Prüfungsgegenstand des Unionsrechts Von Rudolf Streinz

I. Urteile des EuGH zu Fragen des Notarrechts 1. Das „Notarurteil“ von 2011 Das Notarrecht, über dessen Entwicklung Johannes Hager zusammen mit Alexander Müller-Teckhoff regelmäßig berichtet,1 wurde lange Zeit überwiegend als „europarechtsfest“ angesehen.2 Mit Spannung wurden daher die Urteile des EuGH zu den von der EU-Kommission gegen mehrere Mitgliedstaaten eröffneten Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) erwartet. Die Kommission rügte, dass die betreffenden Mitgliedstaaten den Zugang zum Beruf des Notars eigenen Staatsangehörigen vorbehielten und die Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen3 bezüglich Notaren nicht umgesetzt hätten. Der EuGH verneinte, dass der Beruf des Notars unter die Bereichsausnahme des Art. 51 AEUV fällt und sah daher im Staatsangehörigkeitserfordernis des § 5 BNotO a. F. einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), wies die zweite Rüge der Kommission aber ab.4 Damit wurde ein mehr als zehn Jahre dauernder Rechtsstreit dahingehend entschieden, dass der Beruf des Notars nicht durch die Bereichsausnahme des 1

Vgl. zuletzt Hager/Müller-Teckhof, NJW 2020, 1857. H. Roth, Ritsumeikan Law Review 33 (2016), 97 (102): Bis zu diesem Urteil überwiegende Auffassung, „dass die Art. 51, 62 AEUV das deutsche Notariat gegenüber den Einflüssen des Europarechts gleichsam immun machen“. Vgl. dazu die Nachweise bei Henssler, DNotZ-Sonderheft 2012, 37 (38). Zu kontroversen Meinungen vgl. die Nachweise bei Gärditz, EWS 2012, 209 (209, Fn. 6). 3 Ursprünglich für das Urteil des EuGH maßgeblich RL 89/48/EWG (ABl.EG 1989 L 19/ 16), weil für die RL 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 9. 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl.EU 2005 L 255/22) zum Zeitpunkt der Eröffnung des Vertragsverletzungsverfahrens die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war; mittlerweile wurde die RL 2005/36/EG durch die RL 2013/55/EU (ABl.EU 2013 L 354/132) geändert. Aktueller Stand in Sartorius II (Loseblatt), Nr. 184. 4 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08, ECLI:EU:C:2011:339 = NJW 2011, 2941 – Kommission I Deutschland. Parallele Urteile ergingen zu Rs. C-53/08, ECLI:EU:C:2011:338 – Kommission I Österreich, Rs. C-47/08, ECLI:EU:C:2011:334 – Kommission/Belgien, Rs. C-50/08, ECLI:EU:C:2011:335 – Kommission/Frankreich, Rs. C61/01, ECLI:EU:C:2011:340 – Kommission/Griechenland, Rs. C-51/08, ECLI:EU:C: 2011:336 – Kommission/Luxemburg; ebenso EuGH, Urt. v. 1. 12. 2011, Rs. C-157/09, ECLI:EU:C:2011:794 – Kommission/Niederlande. 2

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Art. 51 AEUV der Prüfung am Maßstab des Europarechts entgeht. Unterschiedlich beurteilt wurden die Folgen des Urteils im Übrigen.5 Je nach Interessenlage reichte die Interpretation von einer grundsätzlichen Bestätigung der Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten, die sich wie Deutschland für das „lateinische Notariat“ entschieden haben,6 bis zu einer grundsätzlichen Öffnung des Notarberufs für Vorgaben des Unionsrechts.7 Der EuGH hatte den Streitgegenstand ausdrücklich dahingehend klargestellt und beschränkt, dass die erste Rüge der Kommission „allein das nach der einschlägigen deutschen Regelung für den Zugang zu diesem Beruf aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis unter dem Aspekt von Art. 43 EG“ (jetzt Art. 49 AEUV) und „weder den Status und die Organisation des Notariats in der deutschen Rechtsordnung betrifft noch die Voraussetzungen, die neben der Staatsangehörigkeit für den Zugang zum Beruf des Notars in diesem Mitgliedstaat bestehen“ und „auch nicht die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr“.8 Zudem erkannte der EuGH an, dass der Notar „das im Allgemeininteresse liegende Ziel, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten“, verfolgt, was aber allein keinen Staatsangehörigkeitsvorbehalt rechtfertige.9 Die zweite Rüge der Kommission wurde „angesichts der besonderen Umstände, die den Rechtsetzungsprozess begleiteten, sowie der daraus nach dem […] normativen Zusammenhang [der Richtlinien 89/48 und 2005/36] resultierenden Ungewissheit“ für die Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Notarberufs zurückgewiesen.10 Daher wurde in diesem „Notarurteil“ zutreffend eine „Kompromissentscheidung“ gesehen.11 Offen blieb die praktisch bedeutsame Frage, ob für Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten allein der Zugang zu den bestehenden Auswahlverfahren (z. B. in Bayern der Zugang zur Zweiten Juristischen Staatsprüfung, die gemäß § 43 JAPO Wettbewerbscharakter hat, weshalb die Auswahl anhand der gemäß § 57 JAPO festgestellte Platznummer erfolgt) eröffnet werden muss, oder ob insoweit in einem anderen Mitgliedstaat erworbene relevante Berufsqualifikationen – gegebenenfalls mit einer zusätzlichen Eignungsprüfung oder einem Anpassungslehrgang – anerkannt werden müssen.12

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Zur Besprechung dieses „Notarurteils“ des EuGH in zahlreichen Anmerkungen und Aufsätzen vgl. H. Roth, Ritsumeikan Law Review 33 (2016), 97 (104 f.) m. w. N. 6 Vgl. z. B. die Notare Huttenlocher/Wohlrab, EuZW 2012, 779; Geimer, NJW 2013, 2625. 7 Vgl. z. B. Pohl (Rechtsanwalt und Notar), EWS 2011, 353. 8 EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08, DNotZ 2011, 462, Rn. 74 – 76. 9 EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08, DNotZ 2011, 462, Rn. 96. 10 EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08, DNotZ 2011, 462, Rn. 136 – 142. 11 So M.-C. Fuchs, EuZW 2011, 475 (475). 12 Streinz, JuS 2011, 851 (853). Vgl. auch Korte/Steiger, NVwZ 2011, 1243 (1246 f.). Eine deutliche Tendenz des EuGH, dass die in Deutschland bestehenden Regelungen gerechtfertigt werden können, erkennt insoweit Spickhoff, JZ 2012, 333 (337 f.). Weitergehend Waldhoff, EuZW 2017, 382 (385): bereits hier „klarer Hinweis, dass der EuGH die Notariatsverfassungen im Grundsatz für mit den Vorgaben des europäischen Primärrechts vereinbar ansieht.“

Notarrecht als Prüfungsgegenstand des Unionsrechts

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2. Vorabentscheidung zum Notarvorbehalt bei Grundstücksgeschäften Vorschriften der Mitgliedstaaten unterliegen inhaltlich der Kontrolle des EuGH entweder durch Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) oder aufgrund von Vorlagen nationaler Gerichte (Art. 267 AEUV). Bei Letzteren entscheidet der EuGH zwar über die Auslegung von Unionsrecht, prüft dabei aber, ob dieses einer nationalen Regelung wie der in der Vorlage geschilderten entgegensteht und damit letztlich zwar nicht formal (eine entsprechende Frage ist daher nicht vorlagefähig), aber doch inhaltlich die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit dem Unionsrecht.13 Letztinstanzliche Gerichte sind, wenn sich entscheidungserhebliche Auslegungsfragen stellen, gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, es sei denn, die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt, was allerdings sehr restriktiv zu handhaben ist.14 Während das BVerfG und der BGH nach dem Notar-Urteil des EuGH auch unter Berücksichtigung desselben in „Notarrechtsfällen“ keine Veranlassung zu einer Vorlage an den EuGH sahen,15 hatte der österreichische Oberste Gerichtshof Zweifel, ob die in § 53 Abs. 3 des österreichischen Allgemeinen Grundbuchgesetzes (GBG) aufgestellten Erfordernisse einer notariellen Beglaubigung der Echtheit von Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder Übertragung von Rechten an Liegenschaften erforderlich sind, mit dem Unionsrecht vereinbar sind, und legte dem EuGH diesbezügliche Fragen zur Auslegung des Art. 56 AEUV sowie zu Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte16 vor. Der EuGH hielt zwar die Richtlinie 77/ 249, „die die tatsächliche Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte erleichtern soll“, für den konkreten Fall der Beglaubigung der Unterschrift der österreichischen Veräußerin eines Grundstücks durch einen Rechtsanwalt in der Tschechischen Republik als Fall der passiven Dienstleistungsfreiheit17 für anwendbar und den Vorbehalt des Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie für „bestimmte Gruppen von Rechtsanwälten“ für nicht einschlägig, da sich dieser allein auf die Unterscheidung von „Barristers“ und „Solicitors“ in Ländern des „Common Law“ bezie-

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Vgl. dazu und zur Umformulierung unvollkommen formulierter Fragen durch den EuGH Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 705. Eingehend dazu Latzel/Thomas Streinz, NJOZ 2013, 97. 14 Sog. „Acte-clair“-Doktrin. Vgl. Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 711. Grundlegend EuGH, Urt. v. 6. 10. 1982, Rs. 283/81, ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT/Ministero della sanità. Klarstellend zu dieser gefestigten Rechtsprechung EuGH, Urt. v. 9. 9. 2015, Rs. C-160/ 14, ECLI:EU:C:2015:565, Rn. 38 ff. – Fereira da Siva e Brito ua/Estado portugués = EuZW 2016, 111 m. Anm. Wendenburg. S. dazu Streinz, JuS 2016, 472. 15 S. dazu H. Roth, Ritsumeikan Law Review 33 (2016), 97 (105 ff.). 16 ABl.EWG 1977 L 78/1. 17 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 24. 9. 2013, Rs. C-221/11, ECLI:EU:C:2013:583, Rn. 34 – 36 m. w. N. – Demirkan.

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he.18 Art. 56 AEUV stehe aber der österreichischen Regelung nicht entgegen, „die den Notaren die Vornahme von Beglaubigungen der Echtheit von Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder Übertragung von Rechten an Liegenschaften erforderlich sind, vorbehält und dadurch die Möglichkeit ausschließt, in diesem Mitgliedstaat eine solche, von einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt in Einklang mit seinem nationalen Recht vorgenommene Beglaubigung anzuerkennen.“19 Denn diese Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit könne als nicht diskriminierende Maßnahme aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.20 Der EuGH akzeptierte die von der österreichischen und der sich am Verfahren beteiligenden deutschen Regierung vorgebrachten Argumente zur Funktionsfähigkeit des Grundbuchsystems, die durch „vereidigte Berufsangehörige wie Notare“ gewährleistet werden müsse.21 Er bestätigte zudem seine Feststellung aus dem „Notarurteil“, dass mit den notariellen Tätigkeiten im Allgemeininteresse liegende Ziele verfolgt werden, und wiederholte die hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) gerechtfertigten Beschränkungen, „die sich aus den Besonderheiten der notariellen Tätigkeit ergeben, wie etwa den für die Notare aufgrund der Verfahren zu ihrer Bestellung geltenden Vorgaben, der Beschränkung ihrer Zahl und ihrer örtlichen Zuständigkeit oder auch der Regelung ihrer Bezüge, ihrer Unabhängigkeit, der Unvereinbarkeit von Ämtern und ihrer Unversetzbarkeit, soweit diese Beschränkungen zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich sind“.22 Wichtig ist die Feststellung des EuGH, dass diese Erwägungen auch für die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 56 AEUV gelten,23 da die Mitgliedstaaten die Niederlassungsfreiheit wegen der damit verbundenen dauerhaften Einfügung in die Rechtsordnung des Zielstaates stärker beschränken dürfen als die auf eine vorübergehende (vgl. Art. 57 Abs. 3 AEUV) Tätigkeit im jeweiligen Zielstaat gerichtete Dienstleistungsfreiheit.24 Die konkrete Maßnahme bestand auch die Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit.25 Mit diesem Urteil sah man in der Literatur die Notariatsverfassungen der Mitgliedstaaten und damit auch des lateinischen Notariats bestätigt, so dass sich gemäß der Acte-clair-Doktrin weitere Vorlagen an den EuGH erledigen würden.26 In der Tat 18 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 26, 37, 42 – 43, 46 und Leitsatz 1 – Piringer. 19 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Leitsatz 2 – Piringer. 20 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 56 – Piringer. 21 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 58 f. – Piringer. 22 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 60 – Piringer. Hier Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. 53/08, ECLI:EU:C:2011:338, Rn. 96 – Kommission/Österreich, das mit dem Deutschland betreffenden Notarurteil insoweit gleichlautend ist. 23 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 61 – Piringer. 24 Vgl. dazu Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 840. 25 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 63 ff. – Piringer. 26 So Waldhoff, EuZW 2017, 382 (385 f.). Ebenso Böttcher, NJW 2017, 1455 (1459).

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sind einerseits die Erfassung des Notariats durch die Grundfreiheiten, andererseits die Rechtfertigung weitgehender Beschränkungen aus Gründen des Allgemeininteresses geklärt und besteht insoweit Rechtssicherheit. Ob damit allerdings alle Fragen der Notarverfassung als „Acte clair“ beantwortet sind, bedarf näherer Prüfung.27

II. Ansatzpunkte im Unionsrecht 1. Primärrecht: Die Grundfreiheiten des Binnenmarkts Da der Beruf des Notars eine selbstständige Tätigkeit ist, kommt grundsätzlich die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) in Betracht, die die dauernde Ansässigkeit in einem anderen Mitgliedstaat erfasst.28 Da zu den Aufgaben des Notars die Erbringung von Rechtsdienstleistungen gehört, gilt dies hinsichtlich vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeiten auch für die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV).29 Gänzlich ausgeschlossen wäre dies nur dann, wenn die Bereichsausnahme des Art. 51 AEUV für den Notarberuf greift und insoweit die Grundfreiheiten für diesen ausdrücklich unanwendbar wären. Darauf hofften diejenigen, die unionsrechtliche Vorgaben gänzlich vermeiden wollten.30 Umgekehrt erwarteten diejenigen, die eine „Liberalisierung“ des Notarberufs forderten, Konsequenzen, die über die Beseitigung des Staatsangehörigkeitsvorbehalts hinausgehen.31 Seit dem Notarurteil des EuGH ist klargestellt, dass diese Bereichsausnahme den Notarberuf nicht erfasst. Da Art. 51 AEUV sich durch den Verweis in Art. 62 AEUV auch auf die Dienstleis27 Vgl. Streinz, JuS 2017, 1132 (1135); Schriever, IWRZ 2017, 178: Prüfung der Verhältnismäßigkeit im konkreten Einzelfall; Dederer, EuR 2011, 865 (870): Empfehlung einer kritischen Überprüfung der Berufszugangs- und Berufsausübungsregeln der deutschen Notarverfassung. Jüngst kritisch zu BGH, Urt. v. 13. 2. 2020, NJW 2020, 1670 (notwendige Anwesenheit eines inländischen Notars bei Auflassung) auch im Hinblick auf das Europarecht Mäsch, JuS 2020, 1215 (1216). 28 Zur Abgrenzung der Niederlassungsfreiheit gegenüber der Freizügigkeit der Arbeitnehmer vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV-Kommentar, 3. Aufl. 2018, Art. 49 AEUV, Rn. 14. Die sog. Richternotare in Baden und die sog. Bezirksnotare in Württemberg waren Arbeitnehmer, für die Art. 45 AEUV einschlägig wäre. Sie wurden nicht vom Vertragsverletzungsverfahren der Kommission und daher auch nicht vom Notarurteil des EuGH erfasst, EuGH Rs. C-54/08, Rn. 77. Durch die am 1. 1. 2018 in Kraft getretene baden-württembergische Notariatsreform wurde diese Besonderheit abgeschafft. Vgl. dazu und zu Übergangsregelungen § 114 BNotO. 29 Zur Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUVKommentar, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 56 Rn. 27. 30 Vgl. z. B. Bruns, EuZW 2010, 247 (247 ff.), basierend auf einem Gutachten im Auftrag der Bundesnotarkammer. 31 Vgl. z. B. G. Heinz, EuZW 2009, 599 (599): „Grenzüberschreitende notarielle Dienstleistungen vor dem Durchbruch“. Zu den unterschiedlichen Erwartungen vgl. Schmid/Pinkel, Hanse LR (5) 2009, 129 (131 ff., 159 ff.) m. w. N. Zu möglichen Folgen über die Entscheidung zum konkreten Vertragsverletzungsvorwurf der EU-Kommission hinaus vgl. bereits N. Preuß, ZEuP 2005, 291 (298 ff.).

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tungsfreiheit erstreckt, besteht auch für diese keine Bereichsausnahme.32 Somit kommt als Folge der Grundfreiheiten jedenfalls die sog. „negative Integration“ zum Tragen, wonach die Mitgliedstaaten keine gegen die Grundfreiheiten verstoßende Maßnahmen ergreifen und bestehende Regelungen, die gegen die Grundfreiheiten verstoßen, wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anwenden dürfen und zur Klarstellung beseitigen müssen.33 2. Sekundärrecht: Richtlinien zur Erleichterung der Berufsfreiheit Da keine Bereichsausnahme von den Grundfreiheiten der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit besteht, bleibt auch der Weg für die sog. positive Integration, d. h. die Realisierung der Grundfreiheiten durch vom Unionsgesetzgeber34 ergriffene Maßnahmen des Sekundärrechts offen.35 Wegen des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV) bedarf es dazu einer speziellen Rechtsgrundlage in den Verträgen, die Grundfreiheiten allein sind insoweit keine Kompetenzgrundlage. Für die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit enthält Art. 50 AEUV, für die Liberalisierung von Dienstleistungen Art. 59 AEUV Ermächtigungen zum Erlass von Richtlinien im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV. Um die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten zu erleichtern, können gemäß Art. 53 Abs. 1 AEUV Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie für die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten erlassen werden. Durch den Verweis in Art. 62 AEUV gilt dies auch für die Dienstleistungsfreiheit. Die Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG wurde u. a. auf Art. 47 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 und 3 und Art. 55 EGV/Nizza, jetzt Art. 53 Abs. 1 und Art. 62 AEUV gestützt, die Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG36 auf Art. 47 Abs. 2 Satz 1 und 3 und Art. 55 EGV/Nizza, jetzt Art. 53 Abs. 2 Satz 1 und 3 und Art. 62 AEUV. Die Dienstleistungsrichtlinie gilt nicht für „Tätigkeiten von Notaren und Gerichtsvollziehern, die durch staatliche Stellen bestellt werden“ (Art. 2 Abs. 2 lit. l RL

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Da die Feststellungen des Notarurteils zu Art. 45 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 51 Abs. 1 AEUV) erfolgten, der über Art. 55 EGV (jetzt Art. 62 AEUV) auch die Dienstleistungsfreiheit erfasst, steht dem die Einschränkung, die der EuGH im Notarurteil hinsichtlich der ersten Rüge der EU-Kommission vornahm (EuGH Rs. 54/08, Rn. 76: „nicht die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr betrifft“), nicht entgegen. 33 S. dazu u. III. 1. 34 Gemäß Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 EUV Europäisches Parlament und Rat gemeinsam. Zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vgl. Art. 289 und Art. 294 AEUV. 35 Zu negativer und positiver Integration vgl. Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 983. 36 RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl.EU 2006 L 376/16).

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2006/123).37 Die Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie gilt in ihrer aktuellen Fassung mittlerweile ausdrücklich „nicht für durch einen Hoheitsakt bestellte Notare“ (Art. 2 Abs. 4 RL 2005/36). Dieser Absatz wurde eingefügt durch Art. 1 Nr. 2 lit. b der Richtlinie 2013/55/EU vom 20. 11. 201338, somit in Kenntnis des Notarurteils des EuGH vom 24. 5. 2011. Durch staatlichen Hoheitsakt bestellte Notare sollten im Hinblick auf die besonderen und unterschiedlichen Regelungen, denen sie in den einzelnen Mitgliedstaaten in Bezug auf den Zugang zum Notarberuf und seine Ausübung unterliegen, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sein.39 Damit sind alle Spekulationen, welche Auswirkungen die Ausführungen des EuGH im Notarurteil für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2015/36 auf den Notarberuf haben,40 obsolet geworden. Gegenwärtig bestehen Vorgaben für diesen allein durch das Primärrecht, nämlich die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit, da sich die Bereichsausnahme in den Richtlinien ausschließlich auf diese beziehen und nicht von der Beachtung des Unionsrechts im Übrigen entbinden.41

III. Rechtslage nach den Notarurteilen des EuGH 1. Keine Bereichsausnahme für den Beruf des Notars – Folgen der Grundfreiheiten Das „Notarurteil“ des EuGH von 2011 war das „Ergebnis einer forcierten Kampagne der Europäischen Kommission zur Öffnung des Notariats“.42 Das Ziel der Kommission wurde insoweit erreicht, als der Staatsangehörigkeitsvorbehalt entfiel. Inwieweit dadurch die deutlich weiter gehenden Liberalisierungsziele durch die Abweisung der Klage wegen des behaupteten Verstoßes gegen die der Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie – die jetzt mit der 2013 erfolgten Einfügung des Art. 2 Abs. 4 in die Richtlinie 2005/36 auf den Notarberuf ausdrücklich keine Anwendung findet, so dass sich der Streit um die Interpretation des EuGH-Urteils insoweit erledigt hat – durch das obiter dictum des EuGH blockiert oder durch die Öffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts gefördert wurden, wird unterschiedlich ge37 Der gegenteilige Vorschlag der EU-Kommission wurde vom Gemeinsamen Standpunkt des Rates zurückgewiesen, daraufhin die ausdrückliche Ausnahme in den Text aufgenommen. Vgl. dazu Krames, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie. Handkommentar, 2008, Art. 2 Rn. 93. Damit ist die Tätigkeit von Notaren gänzlich aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen, Krames, ebd., Rn. 95. 38 ABl.EU 2013 L 354/132. 39 So Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2013/55/EU. Damit wurden die entsprechenden „Liberalisierungsvorhaben“ der EU-Kommission zurückgewiesen. 40 Vgl. dazu einerseits Pohl, EWS 2011, 353 (356 ff.); Schmid/Pinkel, NJW 2011, 2928 (2929), andererseits M.-C. Fuchs, EuZW 2011, 475 (476). 41 Vgl. dazu z. B. Art. 1 Abs. 5 Satz 2 RL 2006/123. S. dazu Streinz, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie. Handkommentar, 2008, Art. 1 Rn. 11. 42 Gärditz, EWS 2012, 209.

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sehen und bedarf näherer Prüfung.43 Gegen den Staatsangehörigkeitsvorbehalt hatte sich auch Generalanwalt Cruz Villalón in seinen Schlussanträgen ausgesprochen. Er hielt zwar die Bereichsausnahme des Art. 51 AEUV für einschlägig, unterzog ihre Anwendung aber der Verhältnismäßigkeitsprüfung und bewertete das Staatsangehörigkeitserfordernis als nicht erforderlich.44 Dies stimmt zwar insofern mit der Rechtsprechung des EuGH zu den Bereichsausnahmen der Art. 45 Abs. 4 bzw. Art. 51 AEUV überein, als der Gerichtshof deren „Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist“.45 Während es dem EuGH aber um die Definition des zur Vermeidung einseitiger Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten notwendig unionsrechtlichen und als Ausnahme von einer Grundfreiheit eng auszulegenden46 Begriffs „Ausübung öffentlicher Gewalt“ geht, bei dessen Einschlägigkeit (wie beim Begriff „öffentliche Verwaltung“ in Art. 45 Abs. 4 AEUV) das Unionsrecht als Maßstab ausscheidet, versucht der Generalanwalt durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Einschränkungen innerhalb der grundsätzlich bejahten Bereichsausnahme vorzunehmen. Dies widerspricht aber dem Wesen einer Bereichsausnahme und wurde daher zu Recht als dogmatisch verfehlt kritisiert.47 Auf berechtigte Kritik stieß das Urteil des EuGH insoweit, als dieser entscheidend darauf abstellte, dass es an der von ihm verlangten „unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt“ deshalb fehle, weil „nach den deutschen Rechtsvorschriften Akte oder Verträge, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben, beurkundet werden“. Dem stehe nicht entgegen, „dass bei bestimmten Akten oder Verträgen eine Beurkundung zwingende Voraussetzung ihrer Wirksamkeit ist“.48 Das Abstellen auf Zwang 43

S. dazu u. III. 2. Schlussanträge vom 14. 9. 2010 zu EuGH Rs. C-47/08 – Kommission/Belgien u. a. (einschließlich Rs. C-54/08 – Kommission I Deutschland), ECLI:EU:C:2010:513, Nr. 80 – 121, 123 – 146, 155. 45 So bereits EuGH, Urt. v. 3. 7. 1986, Rs. 66/85, ECLI:EU:C:1986:284 – Lawrie Blum zu Art. 39 Abs. 4 EGV (jetzt Art. 45 Abs. AEUV). Ebenso z. B. EuGH, Urt. v. 15. 3. 1988, Rs. 147/86, ECLI:EU:C:1988:150, Rn. 7 – Kommission/Griechenland, worauf der EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08 DNotZ 2011, 462 Rn. 85 u. a. Bezug nimmt. 46 So bereits EuGH, Urt. v. 21. 6. 1974, Rs. 2/74, ECLI:EU:C:1974:68, Rn. 50 – Reyners. Dies ist mittlerweile unstrittig, so auch die Bundesregierung im Verfahren des Notarurteils, EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08, DNotZ 2011, 462 Rn. 61. 47 Vgl. Gärditz, EWS 2012, 209 (210): „dogmatisch inkonsistent“; Frenz, DVBl. 2011, 890 (891); Löwer, DNotZ 2011, 424 (440). Der isolierten Anwendung von Art. 12 EGV (jetzt Art. 18 AEUV), die Bredthauer, ZEuP 2012, 171 (187) als richtig gesehen hätte, steht entgegen, dass Art. 18 AEUV Diskriminierungen „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages“ verbietet, somit gegenüber den speziellen Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten und damit Art. 49 AEUV subsidiär ist. Vgl. dazu Streinz, in: ders., EUV/AEUVKommentar, 3. Aufl. 2018, Art. 18 AEUV, Rn. 14 m. w. N. Daher insoweit zutreffend Korte/ Steiger, NVwZ 2011, 1243 (1246); Pohl, EWS 2011, 353 (356 ff.). 48 EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. 54/08, DNotZ 2011, 462 Rn. 91, 93 – 94. Anders Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge vom 14. 9. 2010 zu EuGH Rs. C-47/08 – Kommission/ Belgien u. a. (einschließlich Rs. C-54/08 – Kommission I Deutschland), ECLI:EU:C:2010:513, 44

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bzw. Eingriffsbefugnisse ist ohnehin nicht entscheidend, da dann auch Lehrer wegen der Schulpflicht und der erheblichen Folgen ihrer Bewertungen unter Art. 45 Abs. 4 AEUV fallen müssten, was der EuGH ausdrücklich verneint hat.49 Die Kritik an der „Leerformel“ des EuGH, „die eine nachvollziehbare Begründung nicht ersetzten kann“,50 kommt auch in den Schlussanträgen von Generalanwalt Wahl zum Fall Haralambidis zum Ausdruck, wonach zahlreiche Urteile zur Auslegung der Bereichsausnahme des Art. 45 Abs. 4 AEUV „recht knapp gehalten und wenig erhellend“ seien.51 Von seinen Schlussfolgerungen verdient festgehalten zu werden, dass die Regelungen des Art. 45 Abs. 4 AEUV und des Art. 51 AEUV trotz ihrer unterschiedlichen Formulierungen einheitlich ausgelegt werden müssen52 und dass die Ratio der den Mitgliedstaaten konzedierten53 Ausnahme von einer Grundfreiheit die legitime Forderung nach „besonderer Verbundenheit“ sei.54 Daher scheint die sehr restriktiv ausgelegte Bereichsausnahme, orientiert an einer Verständigung zwischen der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten, dahingehend geklärt, dass darunter nur noch die im unionsrechtlich engen Sinne zu verstehende hoheitliche Tätigkeit fällt, nämlich Justiz, Polizei, Militär und Steuerverwaltung sowie (allerdings noch nicht konkretisierte) Leitungspositionen.55 Trotz der Wahrnehmung „vorsorgender Rechtspflege“ (§ 1 BNotO) als „externer Funktionsträger“ der staatlichen Justiz56 fällt nach Auffassung des EuGH der Notar nicht darunter. Davon unberührt bleibt, dass nach deutschem Recht wie nach der gemeinsamen Rechtsüberzeugung der anderen Staaten des lateinischen Notariats die notarielle Beurkundungstätigkeit Ausübung öffentlicher Gewalt ist und bleibt.57 Das Notarurteil von 2011 hat ausdrücklich allein den Staatsangehörigkeitsvorbehalt für unionsrechtswidrig erklärt. Dem wurde Nr. 119. Kritisch zum Ansatz der „Freiwilligkeit“ H. Roth, Ritsumeikan Law Review 33 (2016), 97 (111) wegen der im Gesetz vorgesehenen Fälle des Formzwangs. 49 EuGH, Urt. v. 3. 7. 1986, Rs. 66/85, ECLI:EU:C:1986:284, Rn. 26 – 28 – Lawrie Blum. 50 So H. Roth, Ritsumeikan Law Review 33 (2016), 97 (111). 51 Schlussanträge vom 5. 6. 2014, ECLI:EU:C:2014:1358, Nr. 2 zu EuGH, Urt. v. 10. 9. 2014, Rs. C-270/13, ECLI:EU:C:2014:2185. Vgl. auch ebd. Nr. 44. 52 Ebd., Nr. 35. 53 Die Mitgliedstaaten dürfen, müssen aber nicht von der Bereichsausnahme Gebrauch machen. 54 Schlussanträge vom 5. 6. 2014, ECLI:EU:C:2014:1358, Nr. 3, Nr. 46 ff. Vgl. dazu Streinz, JuS 2015, 469 (470 f.). Zum deduktiven Ansatz des EuGH, orientiert am Loyalitätsgedanken, vgl. Dederer, EuR 2011, 865 (868 f.). 55 Vgl. dazu Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 945 m. w. N. 56 So H. Roth, Ritsumeikan Law Review 33 (2016), 97 (97) unter Hinweis auf die Begriffsprägung durch N. Preuß, Zivilrechtspflege durch externe Funktionsträger, 2005, S. 8 ff., 40 ff. 57 Zutreffend Hager/Müller-Teckhoff, NJW 2012, 2081 (2085); Pohl, EWS 2011, 353 (354 f.); Baumann, in: Frenz/Miermeister, 5. Aufl. 2020, § 5 BNotO, Rn. 14, 17. Zum Verhältnis der unionsrechtlichen zur jeweils mitgliedstaatlichen Begriffs- und Umfangsbestimmung vgl. BVerfG, NJW 2012, 2639 und dazu Huttenlocher/Wohlrab, EuZW 2012, 779 (780 f.). Eine „Entstaatlichung der deutschen Notariatsverfassung“ (so aber Ritter, EuZW 2011, 707) wird nicht verlangt.

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durch die Änderung der Bundesnotarordnung Rechnung getragen.58 Als bedeutsamere Frage blieb, welche Auswirkungen die Ablehnung der Bereichsausnahme und damit die Prüfung der mitgliedstaatlichen Notariatsverfassung an den Grundfreiheiten auf die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers hat.59 2. Verbleibende Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers a) Ansatzpunkt: Das obiter dictum des Notarurteils von 2011 Ansatzpunkt für die Frage, inwieweit im Übrigen die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten für das Notarrecht bleibt, ist das obiter dictum des EuGH im Notarurteil von 2011. Der EuGH hat durch den Ausschluss der Bereichsausnahme zwar die Niederlassungsfreiheit als Prüfungsmaßstab eröffnet, daran aber allein das Staatsangehörigkeitserfordernis scheitern lassen. Die Beschränkung darauf unter ausdrücklichem Ausschluss einer Beanstandung des Status und der Organisation des Notariats in Deutschland sowie der Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags (jetzt AEUV) über den freien Dienstleistungsverkehr wird von Befürwortern einer weiten Liberalisierung als „rein formaler Natur“ und als Klarstellung der Beschränkung des EuGH auf das Klagevorbringen der EU-Kommission gesehen.60 Wenn zugleich geltend gemacht wird, die Urteilsbegründung „impliziert sehr viel mehr“,61 dann trifft dies zu, allerdings in zwei Richtungen. Zum einen wird durch den Ausschluss der Bereichsausnahme des Art. 51 AEUV über Art. 62 AEUV auch die Dienstleistungsfreiheit erfasst,62 an der das nationale Notarrecht gegebenenfalls zu messen ist. Zum anderen ließ es der EuGH aber nicht damit bewenden, seinen Prüfungsgegenstand einzuschränken. Vielmehr führte er – ohne dass dies entscheidungserheblich war63 – als „Besonderheiten der notariellen Tätigkeit“ die Anforderungen an die Verfahren zur Bestellung der Notare, die Beschränkung ihrer Zahl und ihrer örtlichen Zuständigkeit, die Regelung ihrer Bezüge, ihre Unabhängigkeit, die Unvereinbarkeit von Ämtern und ihre Unabsetzbarkeit, somit die Merkmale, die das lateinische Notariat kennzeichnen, auf und bestätigte, dass sich die damit verbundenen Beschränkungen der Grundfreiheiten durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, nämlich dem Ziel, die Rechtmäßigkeit und Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten, rechtfertigen lassen, soweit die Maßnahmen zur Erreichung dieses 58

Streichung des Staatsangehörigkeitserfordernisses in § 5 BNotO durch Art. 15 lit. a Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen vom 6. 12. 2011, BGBl. I S. 2515. Art. 15 lit. b fügt als § 5 S. 2 BNotO ein, dass das Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen (Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz – BQFG) auf Notare keine Anwendung findet. S. dazu u. 2. d). 59 Vgl. zu dieser Folge Hager/Müller-Teckhoff, NJW 2012, 2081 (2085). 60 So Pohl, EWS 2011, 353 (354). 61 Pohl, EWS 2011, 353 (354). 62 Insoweit zutreffend Pohl, EWS 2011, 353 (354). 63 Dies betonen Huttenlocher/Wohlrab, EuZW 2012, 779 (781).

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Ziels geeignet und erforderlich sind.64 Damit hat der EuGH zwar nicht „in einer Art vorauseilenden Bewertung die Europarechtsfestigkeit der deutschen Notariatsverfassung bereits festgestellt“.65 Vielmehr muss bei entsprechenden Beanstandungen jeweils geprüft werden, ob tatsächlich die vom EuGH anerkannten legitimen Ziele verfolgt werden und die offenbar als geeignet angesehenen Mittel des lateinischen Notariats zu deren Erreichung erforderlich sind, somit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.66 b) Vorbehalt notarieller Beurkundung Ausdrücklich bejaht hat der EuGH auf eine entsprechende Vorlage des österreichischen Obersten Gerichtshofs den Vorbehalt der notariellen Beurkundung von Grundstücksgeschäften.67 Strittig ist allerdings die Tragweite des Urteils. Nach einer Meinung bekräftigt der EuGH das obiter dictum seines „Notarurteils“ von 2011 und „segnet somit gleichsam en passant noch einmal die wesentlichen Strukturprinzipien der kontinentaleuropäischen Notariatsverfassung ab“.68 Dem wird entgegengehalten, dass der EuGH allein den Notarvorbehalt gerechtfertigt hat, jedoch keine Aussage darüber getroffen hat, „ob, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen der Ausschluss EU-ausländischer Notare von diesen Tätigkeiten gerechtfertigt ist.“69 In der Tat stellte der EuGH entscheidend auf den Unterschied zwischen der Tätigkeit eines Rechtsanwalts (Bestätigung der Echtheit von Unterschriften auf Rechtsakten) und der Tätigkeit der Beglaubigung durch Notare ab.70 Er rechtfertigt den Vorbehalt für diese Berufsgruppe aber damit, dass diese „öffentliches Vertrauen genießen“ und über sie „der betroffene Mitgliedstaat eine besondere Kontrolle ausübt“.71 Letzteres kann sich zwar allein auf den Gegensatz zum Beruf des Rechtsanwalts beziehen.72 Da eine entsprechende Kontrolle ein Mitgliedstaat aber nur gegenüber den in ihm ansässigen und von ihm bestellten Notaren ausüben kann, spricht dies dafür, dass der EuGH damit auch die Beschränkung auf inländische Notare als Rechtfertigungsgrund akzeptiert.73 Dies dürfte jedenfalls für Eintragungen in ein Grundbuch gelten, die konstitutive Wirkung haben, um dessen Funktions64

EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011, Rs. C-54/08, DNotZ 2011, 462 Rn. 98 mit Verweis auf Rn. 96. Zutreffend Henssler/Kilian, NJW 2012, 481 (484 f.). 66 Dies lässt in der Tat eine gewisse Tendenz erkennen. Vgl. bereits Spickhoff, JZ 2012, 333 (337 f.); Henssler/Kilian, NJW 2012, 481 (485). 67 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196 – Piringer. S. oben I. 2. 68 So Waldhoff, EuZW 2017, 382 (386). 69 So Mäsch, JuS 2020, 1215 (1216 f.) in seiner Kritik an BGH, NJW 2020, 1674. 70 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 64, 66 – Piringer. 71 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 65 – Piringer. 72 Vgl. Schall, MittBayNot 2018, 185 (187). 73 Damit wird ein „Wandernotariat“ (vgl. dazu ablehnend Geimer, NJW 2013, 2625) auch in Form der sog. passiven Dienstleistungsfreiheit (Empfänger begibt sich zu Erbringer in einen anderen Mitgliedstaat, vgl. Mäsch, JuS 2020, 2015 (2016)) ausgeschlossen. 65

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fähigkeit zu gewährleisten, denn der EuGH rechnet dies als „wesentlichen Bestandteil der vorsorgenden Rechtspflege“ den Aufgaben und Zuständigkeiten des Staates zu.74 c) Weitere Besonderheiten des lateinischen Notariats Da der EuGH generell in seinem „Notarurteil“ 2011 sowie im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Notarvorbehalts bei Grundstücksübertragungen die wesentlichen Elemente des auch von ihm so bezeichneten lateinischen Notariats75 aufgeführt hat, können diese jedenfalls als zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignet angesehen werden. Sie dürften auch dem jeweiligen Prüfungsvorbehalt der Erforderlichkeit standhalten, zumal der EuGH der Verfahrens- und Organisationsautonomie der Mitgliedstaaten insoweit Beurteilungsspielräume lässt. Bei entsprechender Begründung durch die Mitgliedstaaten hat der EuGH Bedarfsprüfungen für unionsrechtskonform gehalten.76 Die Anordnung der Pflicht einer notariellen Beurkundung („Notarzwang“) bei Grundstücksübertragungen hat der EuGH bei entsprechender Ausgestaltung durch die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Grundbuchsystems für gerechtfertigt gehalten. Entsprechendes dürfte für weitere Fälle der „vorsorgenden Rechtspflege“ gelten.77 d) Zulassung zum Notarberuf – Gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen? Gemäß dem Grundsatz der Verfahrens- und Organisationsautonomie78 verbleibt mangels unionsrechtlicher Regelung auch die Regelung der Zulassung zum Notarberuf in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Diese müssen dabei aber das Unionsrecht im Übrigen beachten, somit, da der Notarberuf nicht der Bereichsausnahme des Art. 51 AEUV unterfällt, auch die Vorgaben der Niederlassungsfreiheit.79 Durch das Notarurteil ist geklärt, dass Unionsbürger eines anderen Mitgliedstaats zum Notarberuf zugelassen werden müssen, wenn sie die Befähigung zum Richter74 Vgl. EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 58 – Pringer. Vgl. zur entsprechenden Einstufung nach deutschem Recht Gärditz, EWS 2012, 209 (213) m. w. N. 75 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017, Rs. C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196, Rn. 58 – Piringer. 76 Vgl. dazu Gärditz, EWS 2012, 209 (217) m. w. N. Voraussetzung ist, dass damit ein legitimes Ziel kohärent und systematisch verfolgt wird. Grundlegend dazu EuGH, Urt. v. 10. 3. 2009, Rs. C-169/07, ECLI:EU:C:2009:141 – Hartlauer. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 23. 12. 2015, Rs. C-333/14, ECLI:EU:C:2015:845, Rn. 37 – Scotch Whisky Association. S. dazu Streinz, JuS 2016, 949 (950 f.). 77 Vgl dazu Gärditz, EWS 2012, 209 (219) m. w. N. 78 Vgl. dazu und zu deren Grenzen auch beim „respektierenden Vollzug“ des Unionsrechts Streinz, in: Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2021, § 45 Rn. 21. 79 Zum Spannungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlicher Organisationsautonomie und Grundfreiheiten im Hinblick auf das Notarrecht vgl. Geimer, NJW 2013, 2625 (2628).

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amt in Deutschland erworben haben und sich ohne Diskriminierung im für die Bestellung zum Notar erfolgenden Auswahlverfahren durchgesetzt haben. Es bleibt aber die Frage, ob dabei auch in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Qualifikationen berücksichtigt werden müssen. Der ausdrückliche Ausschluss des Notariats in den entsprechenden sekundärrechtlichen Regelungen80 lässt allenfalls die Tendenz erkennen, dies weitgehend den Mitgliedstaaten zu überlassen, entbindet diese aber nicht von der Beachtung primärrechtlicher Vorgaben.81 Grundlegend dazu ist das Urteil des EuGH im Fall der Rechtsanwältin Vlassopoulou. Danach dürfen die Mitgliedstaaten, soweit – wie bei Notaren – es an einer Harmonisierung der Voraussetzungen für den Zugang zu einem Beruf fehlt,82 festlegen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung dieses Berufes notwendig sind. Sie sind jedoch verpflichtet, zu überprüfen, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat für den gleichen Beruf erworbener Befähigungsnachweis, verglichen mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten, zumindest gleichwertig ist. Sie dürfen dabei „objektiven Unterschieden“ zwischen den betroffenen Rechtsordnungen Rechnung tragen.83 Sie sind nicht verpflichtet, die Anforderungen abzusenken.84 Zum Notar darf in Deutschland nur bestellt werden, wer die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt hat (§ 5 Satz 1 BNotO). Voraussetzung dafür ist gemäß § 5 Abs. 1 DRiG das Bestehen der ersten Prüfung, bestehend aus einer universitären Schwerpunktbereichsprüfung und einer staatlichen Pflichtfachprüfung, und der den darauf anschließenden Vorbereitungsdienst abschließenden zweiten Staatsprüfung. Studium einschließlich der vorgeschriebenen Gegenstände und Inhalte, Vorbereitungsdienst und Prüfungen sind in §§ 5a – 5d DRiG geregelt.85 § 112a DRiG regelt die Gleichwertigkeitsprüfung für die Zulassung zum juristischen Vorbereitungsdienst für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der 80

Zur Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie und Dienstleistungsrichtlinie s. II. 2. Deutlich EuGH, Urt. v. 22. 1. 2002, Rs. C-31/00, ECLI:EU:C:2002:35, Rn. 25 – 26, 31 – Dreessen. 82 Anders nach dem Urteil Vlassopoulou von 1991 die Niederlassungsfreiheit von Rechtsanwälten, vgl. die Richtlinie 98/5/EG zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, vom 16. 2. 1998, ABl.EG 1998 L 77/36, zuletzt geändert durch RL 2013/25/ EU, ABl.EU 2013 L 158/368. Zuvor bereits die Richtlinie 77/249/EWG vom 22. 3. 1977 (ABl.EWG 1977 L 1977/17) zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte. 83 EuGH, Urt. v. 7. 5. 1991, Rs. C-340/89, ECLI:EU:C:1991:193, Rn. 9, 16, 18 – Vlassopoulou. 84 EuGH, Urt. v. 10. 12. 2009, Rs. C-345/08, ECLI:EU:C:2009:771, Rn. 50 – Pesla/Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern: Verweigerte Zulassung zum Referendariat ohne Erste Juristische Staatsprüfung. 85 Die Regelung im DRiG soll nicht speziell auf den Richterberuf vorbereiten (vgl. die Berücksichtigung der rechtsprechenden, verwaltenden und rechtsberatenden Praxis in § 5a Abs. 3 DRiG), sondern deutlich machen, dass die Anforderungen an die „klassischen“ juristischen Berufe nicht gegenüber denen an Richter zurückbleiben. Vgl. dazu Streinz, in: FS Schiedermair, 2001, S. 641 (648). 81

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EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweiz, die Inhaber eines in diesen Staaten erworbenen rechtswissenschaftlichen Universitätsdiploms mit Zugangsberechtigung zur postuniversitären Ausbildung für den Beruf des europäischen Rechtsanwalts gemäß § 1 des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland sind und sieht gegebenenfalls eine ergänzende Eignungsprüfung vor. Da dies allein den Zugang zum juristischen Vorbereitungsdienst eröffnet, bezieht sich § 112a DRiG nur auf die Erste Juristische Prüfung einschließlich der Ersten Juristischen Staatsprüfung, nicht aber auf das Zweite Juristische Staatsexamen.86 § 112a DRiG kann auch nicht auf das „Notarreferendariat“ erstreckt werden,87 wenn damit der dreijährige Anwärterdienst als Notarassessor (§ 7 Abs. 1 BNotO) gemeint sein soll, da dieser das Bestehen der „die juristische Ausbildung abschließende Staatsprüfung“ voraussetzt. Hinzu kommt, dass die Auswahl um die Aufnahme in den wegen der begrenzten Notarstellen (vgl. § 4 BNotO) zulassungsbeschränkten (Numerus clausus) Anwärterdienst88 „unter besonderer Berücksichtigung der Leistungen“ in dieser Prüfung, d. h. in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung vorzunehmen ist.89 Daher führt der Wegfall des Staatsangehörigkeitserfordernisses allein dazu, dass ein zum Vorbereitungsdienst aufgrund des Bestehens der Ersten Juristischen Prüfung oder einer gemäß § 112a DRiG erfolgten Anerkennung zugelassener Bewerber90 an der jeweiligen Zweiten Juristischen Staatsprüfung teilnehmen darf, die Wettbewerbscharakter hat. Aufgrund des im Vergleich zu anderen Kandidaten erzielten Ergebnisses besteht ein Anspruch auf Zulassung zum Anwärterdienst im jeweiligen Bundesland und nach dessen Absolvierung auf Bestellung zur hauptberuflichen Amtsausübung als Notar (§ 3 Abs. 1 BNotO) gemäß dem in § 7 BNotO vorgesehenen Verfahren. Die Bestellung zum Anwaltsnotar (§ 3 Abs. 2 BNotO) in den Bundesländern, die diese Form des Notariats vorsehen, erfordert mindestens fünf Jahre Tätigkeit als Rechtsanwalt „in nicht unerheblichem Umfang für verschiedene Auftraggeber“, davon mindestens drei Jahre ohne Unterbrechung in dem in Aussicht genommenen Amtsbereich, das Bestehen der notariellen Fachprüfung sowie die Teilnahme an notarspezifischen Fortbildungsveranstaltungen (§ 6 Abs. 1 BNotO). Zur Rechtsanwaltschaft kann auch zugelassen werden, wer die Eingliederungsvoraussetzungen nach dem Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland oder die Eignungsprüfung nach diesem Gesetz91 bestanden hat (§ 4 BRAO). Bei 86

Zutreffend Spickhoff, JZ 2012, 333 (339). Dafür aber Schmid/Pinkel, NJW 2011, 2928 (2931). 88 S. dazu Baumann, in: Frenz/Miermeister, BNotO, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 23 f. m. w. N. 89 Vgl. zu diesem Verfahren der „Bestenauslese“ Baumann, in: Frenz/Miedermeister, BNotO, Kommentar, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 25 m. w. N. 90 Weiter geht Frenz, in: Frenz/Miermeister, BNotO, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 27, der für den im Vorbereitungsdienst einzustellenden Notarassessor zwingend beide deutsche Staatsexamina verlangt. 91 Das EuRAG v. 9. 3. 2000 (BGBl. I S. 182) dient der Umsetzung der Richtlinie 98/5/EG zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, vom 16. 2. 1998, ABl.EG 1998 L 87

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Niederlassung92 in Deutschland erfolgt auch die Aufnahme in die Rechtsanwaltskammer im entsprechenden Bezirk. Allerdings muss die Anwaltsbezeichnung des Herkunftslandes geführt werden (§ 5 EuRAG). Der Zulassung zur notariellen Fachprüfung steht § 7a BNotO entgegen, wenn die Erfüllung der Voraussetzungen des § 5 BNotO, nämlich die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz, zwingend das Bestehen der Zweiten Juristischen Staatsprüfung in Deutschland einschließen sollte.93

IV. Fazit Mit der Ablehnung der Bereichsausnahme des Art. 51 AEUV durch das „Notarurteil“ des EuGH von 2011 geriet das Notarrecht der Mitgliedstaaten unter die Kontrolle am Maßstab des Unionsrechts. Der danach erfolgte ausdrückliche Ausschluss des Notariats in den relevanten Richtlinien über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen und zur Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen (dies erfasst sowohl die Grundfreiheiten der dauernden Niederlassung als auch der vorübergehenden Leistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat) entbindet die Mitgliedstaaten zwar von Umsetzungspflichten, nicht aber von der Beachtung der Grundfreiheiten des Primärrechts selbst. Der EuGH hat allerdings bereits im Notarurteil die für das lateinische Notariat kennzeichnenden Besonderheiten als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt und dies 2017 hinsichtlich der Beurkundung von Grundstücksübertragungen bestätigt. Die mit den nationalen Regelungen verbundenen Beschränkungen der Grundfreiheiten müssen legitime Ziele in kohärenter und systematischer Weise verfolgen und dazu geeignet und erforderlich sein (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Diesem Maßstab hielt der Notarvorbehalt für die Beurkundung von Grundstücksgeschäften in Österreich stand. Angesichts der den Mitgliedstaaten konzedierten Beurteilungsspielräume dürfte dies grundsätzlich 77/36, zuletzt geändert durch RL 2013/25, ABl.EU 2013 L 158/368. Eingliederung gemäß §§1 – 15 EuRAG, Eignungsprüfung gemäß §§16 – 24 EuRAG. 92 Zu den unionsrechtlichen Merkmalen im Gegensatz zur Dienstleistungsfreiheit vgl. EuGH, Urt. v. 30. 11. 1995, Rs. C-55/94, ECLI:EU:C:1995:411, Rn. 25 ff. – Gebhard. 93 Begründet wird dies mit der erforderlichen Vertrautheit mit der deutschen Rechtsordnung, vgl. Frenz, in: Frenz/Miermeister, BNotO, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 27. Auch erfasst die Gleichwertigkeitsprüfung gemäß § 112a DRiG nur die Erste Juristische Prüfung als Zugangsvoraussetzung zum Vorbereitungsdienst als Rechtsreferendar. Jedoch ist fraglich, ob diese Anforderung nicht unverhältnismäßig ist angesichts der Qualifikation, die ein europäischer Rechtsanwalt nach fünf Jahren intensiver Tätigkeit im Bereich der deutschen Rechtsordnung und nach Bestehen der notariellen Fachprüfung erworben hat, so dass er gemäß dem dabei erzielten Ergebnis zu berücksichtigen wäre. Mögliche Ansätze nach Aufgabe des „Einheitsjuristen“ (Master-Ausbildung „Kautelarjurisprudenz“ nach Bachelor/Master-Abschlüssen im Jurastudium) erwähnt Baumann, in: Frenz/Miermeister, Kommentar, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 25, Fn. 130. Solche Ansätze werden derzeit nicht verfolgt, zumal sich die Frage stellt, wie dann die bislang für Notare geforderte spezielle Qualifikation im deutschen Recht sichergestellt werden und das Auswahlverfahren erfolgen soll.

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auch auf die weiteren Elemente des lateinischen Notariats zutreffen. Hinsichtlich der bedeutsamen Frage des Berufszugangs für Bewerber aus anderen Mitgliedstaaten der EU, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweiz hat der Wegfall des Staatsangehörigkeitserfordernisses allein zur Folge, dass sie sich ohne Diskriminierung an den regulären Auswahlverfahren beteiligen dürfen. Hinsichtlich der Auswahl von Bewerbern als Notariatsanwärter, um sich für hauptberufliche Notariat zu qualifizieren, ist die bei der jeweiligen Zweiten Juristischen Staatsprüfung erzielte Note bzw. Platznummer entscheidend. Hinsichtlich des Anwaltsnotariats stellt sich die Frage, ob der Zugang zur notariellen Fachprüfung auch für entsprechend qualifizierte europäische Anwälte eröffnet werden muss.

II. Geschichte des Notariats

Die Rolle des Notars als vorsorgender Rechtspfleger in Japan Von Masahisa Deguchi

I. Einleitung Es war die Aufgabe und aufrichtiger Wunsch der japanischen Meiji-Regierung,1 die sogenannten ungleichen Verträge zu ändern, mit denen die japanischen Edo-Regierung2 Mitte des 19. Jahrhundert von den westlichen Großmächten dazu aufgefordert wurde, ein modernes, auf westlichen Prinzipien basierendes Rechtssystem zu schaffen, um die Verträge so zu revidieren, dass die japanische Meiji-Regierung mit der westlichen Gesellschaft gleichziehen konnte.3 Wenn wir über den Modernisierungsprozess Japans in der Meiji-Zeit nachdenken, ist es unmöglich, die Existenz so genannter „angeheuerter ausländischer Juristen“ zu ignorieren.4 Viele angeheuerte ausländische Juristen spielten damals eine wichtige Rolle bei der Modernisierung der Rechtsordnung und des Rechtssystems in Japan.5 Im Jahre 1876 wurde der französische Rechtsgelehrte Gustave Boissonade als Professor an die Rechtsschule des japanischen Justizministeriums (Shihoshohogakko) gerufen, um japanische Juristen auszubilden und bei der Erarbeitung von Gesetzen zu helfen.6 Weitere ausländische Juristen, die zur Modernisierung des Rechtsbereichs beigetragen haben, sind z. B.

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Der Begriff Meiji-Restauration bezeichnet formal die Erneuerung der Macht des Tenno und die Abschaffung des Shogunats in Japan ab 1868. 2 Als Edo-Zeit oder Tokugawa-Zeit wird der Abschnitt der japanischen Geschichte von 1603 bis 1868 bezeichnet, in dem das Tokugawa-Shogunat herrschte und über 264 Jahre lang fast kein Krieg innerhalb Japans stattfand. 3 Vgl. Hiroyuki Matsumoto, in: The Reception and Transmission of Civil Procedure Law in the Global Society, 2008, S. 137 ff.; Masahisa Deguchi, in: Recht und Gesellschaft in Deutschland und Japan, Japanisches Recht 47, 2009, S. 125. 4 Ausführlich dazu: Noboru Umetani, Oyatoi Gaikokujin – Meiji Nihon no Wakiyakutachi (Angeheuerte Ausländer – Nebendarsteller von Meiji Japan), 2007, S. 81 – 96. 5 Japan hat nun seit 1994 die sog. juristische technische Hilfe als das entwickelte Land geleistet, die auf die Entwicklung und Verbesserung von Rechtssystemen abzielt, die in Entwicklungsländern und in Ländern, die sich im Übergang zur Marktwirtschaft befinden, geschaffen werden; dazu ausführlich: http://www.moj.go.jp/EN/housouken/houso_lta_lta.html (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 6 Noboru Umetani, Oyatoi Gaikokujin – Meiji Nihon no Wakiyakutachi, 2007, S. 81 ff.

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Bouquet (Frankreich), Roesler (Deutschland) und Teichert (Deutschland).7 Darunter wurde auch Adam Rappard (Holland) 1876 vom Justizministerium in Japan als Notar und Professor für Notariatsangelegenheiten, konsularische Angelegenheiten und als Rechtsberater für Handelsrecht und andere Angelegenheiten eingestellt.8 Die Entwicklung des japanischen Rechtssystems selbst war sozusagen das Ergebnis der sorgfältigen rechtsvergleichenden Forschung über die europäischen Rechtsordnungen. Das Notariatssystem in Japan begann gleich danach am 11. August 1886 mit der Schaffung der Notarregelung, die hauptsächlich durch das französische Recht beeinflusst wurde.9 Die heutige Notariatsordnung wurde jedoch später unter dem starken Einfluss Deutschlands (damals Preußen) im Jahr 1909 verabschiedet und die Notarregelung von 1866 wurde abgeschafft.10 Die Aufgabe der ersten Notare, die in ihrer Berufsausübung auf den ihnen zugewiesenen Bezirk des damaligen Äquivalents zum Amtsgericht (Chian Saibansho) beschränkt waren, erschöpfte sich in der Beurkundung zivilrechtlicher Rechtsgeschäfte.11 Einflüsse des angelsächsischen Notariats wurden jedoch nach dem zweiten Weltkrieg in Japan rezipiert, sodass die Notare danach ein Teil der Verwaltung wurden.12 Die Aufsicht über sie ging von den Gerichten auf den Justizminister über.13 Der Aufgabenbereich der Notare erweiterte sich nach und nach seit dem Inkrafttreten der Notarordnung Anfang des 20. Jahrhunderts. Seit 1938 sind sie auch zuständig für die Beglaubigung von Gesellschaftssatzungen, seit 1998 für die Beglaubigung beschworener Erklärungen und seit 2000 – zumindest ein

7 Eduard Hermann Robert Techow (25. August 1838 – 25. Januar 1909) war ein deutscher Rechtsanwalt und Justizbürokrat. Er diente auch als pädagogischer Berater Japans sowie als Rezensent und Verfasser der Civil Procedure Ordnung; vgl. Christoph Sokolowski, ZJAPANR/ J.JAPAN.L, Nr./No. 28, 2009, S. 57 ff. 8 K. Yamamoto, Notarius International 1 – 2/2003, S. 66; vgl. Seiichi Mori, in: Meijihoseishi Seijishi no Shomondai Tezuka Yutaka Kyojyu Taishokukinenronbunshu (FS für Professor Yutaka Tezuka: Probleme in der politischen Geschichte der Meiji-Gesetzgebung und der Geschichte der Politik), 1977, S. 958 ff. 9 Vgl. Ai Yamakura, Furansu niokeru Koshonin no Minjisekinin – Shoku, Koujyo, Fuhokoisekinin (Zivilrechtliche Haftung der Notare in Frankreich – Amts-, Ordnungs- und Deliktshaftung), Ochanomizu Jyoshi Universität Jinbungakukenkyu Bd. 12, S. 319 – 332. Während diese Notarordnung war dem französischen Notariatssystem nachgebildet, offenbar auch beeinflusst durch die Gesetze der Niederlande (http://www.koshonin.gr.jp/pdf/english2.pdf [zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021]); dazu ausführlich: Seiichi Mori, in: Meijihoseishi Seijishi no Shomondai Tezuka Yutaka Kyojyu Taishokukinenronbunshu, 1977, S. 966 ff. 10 K. Yamamoto, Notarius International 1 – 2/2003, S. 67; Taniguchi/Reich/Miyake, Civil Procedure in Japan, Revised Second Edition, 2 – 41, Fn. 131. 11 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 166. 12 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 87; Wie andere Zivilverfahrensrechte ist das japanische Notariatssystem eine Mischung aus deutschem, französischem und angloamerikanischem Recht. 13 Nach § 10 Abs. 1 NotarG müssen Notare einem Büro für Rechtsangelegenheiten oder einem Distriktbüro für Rechtsangelegenheiten angegliedert sein.

Die Rolle des Notars als vorsorgender Rechtspfleger in Japan

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Teil der Notare – für die Beglaubigung und Datumsbestätigung von elektronischen Dokumenten.14 Das japanische Notarsystem ist aus oben genanntem historischem Grunde mit dem deutschen vergleichbar, auch wenn es große Unterschiede gibt.15 Das japanische Notariat gehört wie die deutschen Notariate zu der großen Gruppe der sog. lateinischen Notariate, die es in über 90 Staaten dieser Erde und in den meisten europäischen Ländern, wie z. B. Frankreich, Italien, Schweiz, Niederlande, Belgien und Österreich usw. gibt.16 Die Notare lateinischen Typs sind Juristen mit gehobener Qualifikation, die unabhängige und unparteiische Beratung bei besonders wichtigen Rechtsgeschäften leisten.17 Mit der zunehmenden Internationalisierung des Rechtsverkehrs und der Globalisierung der Rechtsgesellschaft besteht die Notwendigkeit, ein einheitliches, weltweit anerkanntes Notariatssystem zu etablieren. Es ist daher sinnvoll und zweckmäßig, sorgfältig die Notarsysteme dieser Welt wissenschaftlich zu untersuchen. Dieser kleine Beitrag ist eine rechtsvergleichende Untersuchung des japanischen Notariats unter besonderer Berücksichtigung des Notars als vorsorgender Rechtspfleger in Deutschland.18

II. Das Amt des Notars in Japan 1. Das Wesen des Notars Notare in Japan sind öffentliche Bedienstete, die notarielle Tätigkeiten ausüben, die eine Amtspflicht des Staates sind. Notarielle Dienstleistungen stehen im Zusammenhang mit den Rechten und Pflichten der Bürger und zielen darauf ab, private Streitigkeiten zu verhindern. Zu den von Notaren erstellten Dokumenten gehören auch notarielle Urkunden, die vollstreckbar sind.19 Man spricht insoweit von der Rolle des Notars als vorsorgender Rechtspfleger. Daher müssen Notare nicht nur über ein hohes Maß an juristischem Wissen und eine umfassende Rechtspraxis verfügen, sondern als Beamte des öffentlichen Dienstes auch unparteiisch, neutral und gerecht sein. Der Notar, der als neutrale Institution der Streitverhütung eine zentrale Rolle spielt, ist in jüngster Zeit auch unter dem Aspekt der Streitbeilegung als Neu14

Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 167. Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 164 ff. 16 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 164. 17 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 164. 18 Zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des notariellen Berufsrechts und zur Änderung weiterer Vorschriften: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/ Dokumente/RefE_Modernisierung_notarielles_Berufsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 19 K. Yamamoto, Notarius International 1 – 2/2003, S. 69 spricht von der Entlastung der Gerichte als wichtige Rolle des Notars durch notarielle Tätigkeiten. 15

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tralitätsmodell für Mediatoren oder Vermittler in den Blickpunkt gerückt.20 In dieser Hinsicht unterscheiden sich Notare grundlegend von Rechtsanwälten, Justizschreibern (Shihoshoshi)21 usw., die Anfragen von einer Partei entgegennehmen und als ihre Vertreter für die gerechten Interessen ihrer Mandanten handeln. Der Amtssitz eines Notars wird in Japan vom Justizminister zugewiesen. Notare müssen an einem vom Justizminister bestimmten Ort ein Büro einrichten (§ 18 Abs. 1 Notariatsgesetz (NotG))22. Wenn dies zur Rationalisierung von Arbeitsabläufen und zur Verbesserung der Berufswürde erforderlich ist, können zwei oder mehrere Notare ein gemeinsames Büro einrichten, wobei ihre Büroräume oder ihre Einnahmen und Ausgaben teilweise oder vollständig geteilt werden (§ 54 Ausführungsverordnung zum Notariatsgesetz (AusfVO)). Die Notare unterstehen der Aufsicht des Justizministers (§ 74 NotG). Die Anzahl der zu besetzenden Notarstellen ist ebenso wie in Deutschland (§ 4 Satz 1 Bundesnotarordnung [BnotO]) begrenzt. Die Anzahl der Notare, die jedem Büro für Rechtsangelegenheiten oder Distriktbüro für Rechtsangelegenheiten angegliedert sind, wird vom Justizminister für den Gerichtsbezirk jedes Büros für Rechtsangelegenheiten oder Distriktbüros für Rechtsangelegenheiten oder jedes Zweigbüros davon festgelegt (§ 10 Abs. 2 NotG). Japan kennt keinen Anwaltsnotar wie in Deutschland. Es gibt lediglich sogenannte Notare (Koshonin) im Notarbüro in Japan, die zwar nicht in einem Beamtenverhältnis stehen, jedoch als Staatsbeamter im materiellen Sinne tätig sind, um einen notariell beglaubigten Akt als staatliche Handlung durchzuführen. Demgegenüber werden in Deutschland zu etwa einem Drittel Rechtsanwälte mit mehrjähriger Berufserfahrung und Nachweis der erforderlichen notarspezifischen Qualifikation zu Notaren bestellt. Sie üben diesen Beruf neben dem des Rechtsanwalts aus („Anwaltsnotar“).23 In etwa zwei Dritteln des Bundesgebietes in Deutschland werden die Notare zur hauptberuflichen Notartätigkeit auf Lebenszeit bestellt.24

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Koji Nakayama, Jiyu to Seigi 2005, 4, S. 101. Der Justizschreiber (Shihoshoshi) betreut Immobiliengeschäfte und viele gesellschaftsrechtliche Angelegenheiten. Er ist eine Art Anwalt, der jedoch nur für bestimmte Tätigkeiten zugelassen ist. Hauptsächlich handelt es sich hierbei um die juristische Begleitung von Grundstücksgeschäften und Gesellschaftsgründungen sowie um die Vertretung in Verfahren vor dem Kanisaibansho (Amtsgericht). 22 Die Errichtung mehrerer Geschäftsstellen oder Zweigstellen ist daher nicht möglich. 23 Anwaltsnotare sind in Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und in den westfälischen Teilen Nordrhein-Westfalens tätig: https://www.notar.de/der-notar/notari atsformen/anwaltsnotare (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 24 Hauptberufliche Notare sind in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, im Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und in den rheinischen Teilen Nordrhein-Westfalens tätig: https://www.notar.de/der-no tar/statistik (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021); in Japan werden Notare meist erst im Alter von 65 Jahren ernannt und bereits mit 70 Jahren pensioniert. 21

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Seit 2017 sind Notare in Deutschland allerdings, wie in den meisten anderen Staaten üblich, die das lateinische Notariat kennen, lediglich freiberuflich tätig.25 2. Die Zuständigkeit und verschiedene Notar-Bilder Aus historischen Grund unterstand der Notar in Japan wie das Registeramt (Tokisho) damals dem Justizministerium, gehörte direkt den Landgerichten an und wurde von diesen beaufsichtigt. Seine Zuständigkeit war dieselbe wie die der Landgerichte. Seitdem hat es einige Veränderungen gegeben, aber mit dem Inkrafttreten der neuen japanischen Verfassung26 im Jahr 1947 wurde das Notariatssystem in Japan nun vom amerikanischen Recht beeinflusst und der Gerichtsbarkeit des Justizministeriums unterstellt, unabhängig von der Justiz.27 Infolgedessen wurde die notarielle Tätigkeit als Verwaltungsangelegenheit der Zuständigkeit des Justizministeriums unterstellt, die bis heute andauert.28 Demgegenüber gehört das Notariat in Deutschland zu den Gerichten und behält immer noch eine starke Färbung der sogenannten Justizangelegenheiten bei.29 Deutsche Notare werden zwar nach § 1 BNotO auch als unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes bestellt, es besteht jedoch ein starkes Gefühl, dass die deutschen Notare Träger eines öffentlichen Amtes sind, die bei den Angelegenheiten des Gerichts assistieren, wo sie als „unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes“ Teil der Justiz sind. Die Notare arbeiten entweder als hauptberufliche Notare oder als Anwaltsnotare. Dabei handelt es sich um besonders qualifizierte Juristen, welche die Stellung einer unparteiischen öffentlichen Institution bekleiden.30 Diese unterschiedliche Zuständigkeitsregelung der Notarstellen führt zu gewissen Diskrepanzen bei Notaren in Japan und Deutschland, obwohl sie demselben lateinischen Notariatssystem ent-

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Den Amtsnotar gab es innerhalb Deutschlands nur noch bis zum 31. Dezember 2017 in Baden-Württemberg (vgl. § 114 BNotO). Zum 1. Januar 2018 wurden die staatlichen Notariate aufgelöst und die notariellen Aufgaben in Baden-Württemberg von nicht beamteten Notaren zur hauptberuflichen Amtsausübung wahrgenommen: https://www.justiz-bw.de/,Lde/ Startseite/Service/Amtsnotariat (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 26 Dazu ausführlich: Toshiyoshi Miyazawa, Verfassungsrecht, Japanisches Recht 21, 1986, S. 34 ff. 27 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 87 ff. 28 § 17 NotarG: Das Gebiet, in dem ein Notar die Aufgaben des Notars wahrnimmt, ist der Gerichtsbezirk des Büros für Rechtsangelegenheiten oder des Distriktbüros für Rechtsangelegenheiten, dem der Notar angeschlossen ist. 29 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 87 ff.; Roth, Ritsumeikan Law Review No. 33, 2016, S. 97 spricht davon, dass der Notar in Deutschland insofern ein „externer Funktionsträger“ der staatlichen Justiz ist. 30 Nach § 1 BNotO hat der Notar sein Amt getreu seinem Eide zu verwalten. Er ist nicht Vertreter einer Partei, sondern unabhängiger und unparteiischer Betreuer der Beteiligten.

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stammen.31 Das System des lateinischen Notariats ist deshalb durch die beiden Seiten der beratenden und vorsorgenden Tätigkeit zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten geprägt.32 Notare sind außerdem auch ein wichtiger Teil des Verbraucherschutzes in Deutschland.33 Sie stehen für Gerechtigkeit und Wahrheit ein und schützen dabei besonders diejenigen, die aufgrund mangelnder Erfahrung benachteiligt werden könnten. Dem Notar in Japan fehlt allerdings meiner Meinung nach diese Kernfunktion des Notars als ein wichtiger Teil des Verbraucherschutzes.34 Im Gegensatz dazu ist der „notary public“ des angelsächsischen Rechtskreises im Wesentlichen lediglich für Unterschriftsbeglaubigungen zuständig. In scharfem Kontrast zur vorsorgenden Rechtspflege des lateinischen Notariats stehen die Vorstellungen der Länder des anglo-amerikanischen Rechtskreises, die die präventiv wirkende Rechtsvorsorge für gering schätzen und daher als bloßen Ausfluss privater Dienstleistungsfreiheit einordnen.35 So hat der „notary public“ des englischen Rechts mit einem Notar kontinentaleuropäischer Prägung kaum etwas gemein.36 Eine vorsorgende Rechtspflege fehlt weitgehend in England und den USA sowie auch in den skandinavischen Staaten, wo gerade deswegen die notarielle Urkunde keinen erhöhten Beweiswert genießt und die Vollstreckbarkeit fehlt.37 Die genannten Länder begegnen dem staatlich regulierten Notarberuf notwendigerweise mit Misstrauen.38 Dort muss sich deshalb eine Partei, die eine Beratung sucht, an einen Rechtsanwalt im angelsächsischen Rechtskreis wenden; nicht selten wird bei wichtigen Geschäften schlecht oder gar nicht beraten. Dort besteht eher die Gefahr einer Übervorteilung der schwächeren Partei. 3. Zwischenposition zwischen staatlicher und freiberuflicher Stellung Die japanischen Notare können insoweit bei der Entwicklung globaler Standards eine wichtige Brückenfunktion zwischen lateinischem und angloamerikanischem 31

Vgl. Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 164 ff.; Roth, Deregulierung der lateinischen Notariatsverfassung durch Europäisierung? Ritsumeikan Law Review No. 33, 2016, S. 97. 32 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 164. 33 Vgl. Gesetz zur Stärkung des Verbraucherschutzes im notariellen Beurkundungsverfahren vom 15. 07. 2013 [BGBl. I 2013 S. 2378]. 34 Yoichi Imamura, Gendai Shohishaho Nor. 41, S. 52 argumentiert, dass es in Japans Transaktionsgesellschaft an einer Rechtstradition mangelte, unparteiische und uneigennützige Rechtsexperten (Dritte im Gegensatz zu Vertretern der Parteien) bereits in der vorvertraglichen Verhandlungsphase einzubeziehen, um die Fairness der einzelnen Transaktionen zu gewährleisten. 35 Roth, Ritsumeikan Law Review No. 33, 2016, S. 97. 36 Roth, Ritsumeikan Law Review No. 33, 2016, S. 97. 37 Roth, Ritsumeikan Law Review No. 33, 2016, S. 97; der Notar soll deshalb seine Belehrungspflicht genügend ausüben; dazu unten III. 38 Roth, Ritsumeikan Law Review No. 33, 2016, S. 97.

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System einnehmen.39 Zwar gibt es anders als in Deutschland (§ 1 BNotO) keine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung, die diesen Anspruch enthält, doch werden auch in Japan die Notare als Organe der vorsorgenden Rechtspflege angesehen.40 Allerdings gelten die Notare in Japan im Gegensatz zu den Notaren in Deutschland, wo sie als „unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes“ Teil der Justiz sind, als Staatsbedienstete und damit als Teil der Verwaltung, da sie vom Staat bestellt werden und Staatsaufgaben wahrnehmen.41 Notare in Japan sind zwar als Beamte tätig, die vom Justizminister ernannt werden,42 erhalten jedoch weder Gehalt noch Subvention vom Staat und sind Geschäftsherren, die ihren Lebensunterhalt, die Notariatsmiete und die Gehälter ihrer Angestellten selbst bezahlen müssen.43 So besteht zwischen dem Notar und dem Staat kein Beschäftigungsverhältnis. Sie bekommen lediglich von den Mandanten Gebühren, Gebühren für die Zustellung von Schriftstücken, einen Betrag in Höhe der Gebühr für die Vornahme der Eintragung, Tagegelder und Reisekosten, sodass sie das wirtschaftliche Risiko des Betriebs ihrer Geschäftsstelle selbst tragen müssen.44 In Deutschland werden Notare als unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes für die Beurkundung von Rechtsvorgängen und anderen Aufgaben auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege in den Ländern bestellt (§ 1 BNotO). Die Notare in Deutschland übernehmen in der Gesellschaft viele wichtige Aufgaben. Zum Notar darf nur bestellt werden, wer die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt hat (§ 5 BNotO). Sie beraten ihre Mandanten, erstellen Vertragsentwürfe, beglaubigen Dokumente und erstellen Urkunden, welche über eine besondere Beweiskraft verfügen. Die Notare werden zur hauptberuflichen Amtsausübung auf Lebenszeit bestellt (§ 3 BNotO).45 Die Notare in Deutschland werden wie Staatsanwälte und Richter nach der Besoldungsordnung der einzelnen Bundesländer bezahlt.46 Insofern besteht trotz der unterschiedlichen Terminologie kein großer Unterschied zu Deutschland, vielmehr nimmt der japanische Notar eine mit dem deutschen

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Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 164 ff. Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 167; K. Yamamoto, Notarius International 1 – 2/2003, S. 69 meint, dass Notare eine wichtige Rolle zur Enlastenung des Gerichts spielen können. Notare sollten dann auch eine Rolle als Verbraucherschützer im Beurkungsverfahren spielen. 41 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 167. 42 Nach § 1 BNotO werden Notare auch als unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes für die Beurkundung von Rechtsvorgängen und andere Aufgaben auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege in den Ländern bestellt. 43 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 88. 44 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 88. 45 Allerdings scheidet ein Notar wohl spätestens mit Ablauf des Monats, in dem er das 70. Lebensjahr vollendet, automatisch aus dem Amt aus. 46 § 114 BNotO. 40

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Notar vergleichbare Zwischenposition zwischen staatlicher und freiberuflicher Stellung ein.47 4. Ernennung des Notars als Wiedereinstellung hochqualifizierter Juristen Das Gesetz sieht zwar eigentlich ein System der Ernennung durch Prüfung und Lehre als Voraussetzung für die Ernennung zum Notar vor (§ 12 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 NotarG), nach dem die Kandidaten nach dem Bestehen einer Prüfung ein mindestens sechsmonatiges Praktikum als Lehrling absolvieren. Diese Prüfung selbst wurde allerdings nur selten in Japan umgesetzt.48 In der Praxis werden Richter und Staatsanwälte bzw. Generaldirektoren des Justizministeriums usw. mit langjähriger praktischer Erfahrung oft im Alter zwischen 60 und 65 Jahren ernannt und es gibt nur wenige Ernennungen von Rechtsanwälten. Man spricht daher von „Wiederbeschäftigungsmöglichkeiten“ für pensionierte Staatsanwälte, Richter und Hochbeamte des Justizministeriums usw. in Japan.49 Man könnte auch sagen, dass sowohl sehr erfahrene Richter und Staatsanwälte mit jahrzehntelanger praktischer Erfahrung als auch hochqualifizierte Juristen mit viel praktischer Erfahrung unter den Juristen zum Notar ernannt werden. Das Rentenalter für Richter und Staatsanwälte in Japan beträgt übrigens 65 Jahre. Die meisten Notare erhalten die Notarstelle erst nach ihrem Rentenalter mit 65 Jahren. Die meisten Notare in Japan sind deshalb lediglich für 5 bis höchstens 10 Jahren tätig.50 Der deutsche Gesetzgeber erwägt aber offensichtlich, im Gegensatz zu Japan eine Generation junger Notare zu ernennen, da die Bewerber nicht erstmals zu Notaren bestellt werden, wenn sie bei Ablauf der Bewerbungsfrist das sechzigste Lebensjahr vollendet haben können (§ 6 Abs. 1, S. 2 BNotO). Das Ernennungssystem junger Notare ist daher eine dringende Reformfrage in Japan.51 Demgegenüber muss in Deutschland zuerst mindestens das 2. Staatsexamen vorweisen können, wer Notar werden möchte. Anschließend ist eine dreijährige Ausbildung zum Notar, der sogenannte Anwärterdienst (§ 7 BNotO), vorgeschrieben. Währenddessen sammeln die Anwärter auf das Amt des Notars – auch als Notarassessoren bezeichnet – praktische Erfahrungen, übernehmen unter anderem die Urlaubs-

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Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 168. Ai Yamakura, Nihon niokeru Koshoninseido nikansuru Oboegaki (Memorandum über das Notariatssystem in Japan), Ochanomizu Universität, Jinbunkagakukenkyu Band 14, S. 243. 49 Hirosho Mihori, Koshonin Densetsu – Nihonkoshoseido mo Hyakunen ninaru (Die Legende vom Notar: Das japanische Notariat wird 100 Jahre alt) Horitsunohiroba, Vol. 39, 5, S. 49. 50 Yoichi Imamura, Nor. 41, S. 56 spricht kritisch davon, dass die Notare in Japan sich ihrer Rolle als präventive Justizdienstleister weniger bewusst seien. 51 Sakae Eno/Tadashi Inomata/Hiroki Tatsumi, Jiyu to Seigi, Vol. 74, 4, 2005, S. 82. 48

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vertretung von Notaren und absolvieren zahlreiche Fortbildungen.52 Nach der Ableistung des Anwärterdienstes ist ein Notarassessor allerdings nicht automatisch auch ein Notar. Stattdessen werden die freien Stellen ausgeschrieben,53 auf die es sich zu bewerben gilt. Erst nach einer erfolgreichen Bewerbung und mit der Vereidigung sowie der Aushändigung der Bestellungsurkunde erfolgt die Ernennung zum Notar. Zurzeit sind 500 Notare in Japan an 300 Notariatsstellen tätig.54 Die Zahl der Notare in Deutschland beträgt etwa 6.912 (2020).55 Das sind in absoluten Zahlen vierzehnmal so viele wie in Japan56. Die Art der Ernennung bringt mit sich, dass es in Japan keine dem Notarassessoriat vergleichbare Ausbildungszeit gibt. Während man in Deutschland zum Notar geht, weil man einen Spezialisten im Erb-, Familienoder Gesellschaftsrecht braucht, sucht man ihn in Japan vor allem wegen seines großen Schatzes an Erfahrung und Kontakten auf.57 5. Hauptaufgaben des Notars Die Hauptaufgaben des Notars in Japan bestehen ebenso wie in Deutschland in der Beurkundung von Rechtsgeschäften und der Vornahme von Beglaubigungen. Beurkundet werden oft Testamente, Schuldanerkenntnisse, Darlehensverträge und Pachtverträge. Es ist interessant, dass ein Notar sowohl bei Immobiliengeschäften als auch bei internationalen Transaktionen in Japan selten in Anspruch genommen wird.58 Im Gesellschaftsrecht beschränkt sich seine Rolle häufig auf die Beglaubigung von AGund GmbH-Satzungen. Besonders wichtig ist in Japan die Beurkundung von Willenserklärungen, mit denen sich der Schuldner der sofortigen Zwangsvollstreckung unterwirft.59 Außerdem wird ein japanischer Notar oft zur Datumsbestätigung in Anspruch genommen.60 In der Vergangenheit gab es, wie weiter unten noch ausführli52 Es besteht kein Notarassessorsystem in Japan, wo eine umfangreiche notarielle Ausbildung stattfinden sollte. 53 Seit 2002 werden die Notarstellen auch öffentlich in Japan ausgeschrieben. 54 http://www.moj.go.jp/MINJI/minji30.html (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 55 Es gibt bundesweit ca. 1.704 hauptberufliche Notare und 5.904 Anwaltsnotare in Deutschland (https://www.notar.de/der-notar/statistik [zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021]). 56 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 88. 57 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 171. 58 Übrigens werden in Japan Grundstücke und Gebäude als separates Eigentum behandelt und können daher separat registriert werden. Es gibt sogar keine öffentliche Vertrauenskraft bei der Registrierung. Die Registrierung von Immobilien wird üblicherweise von einem Justizschreiber (Shihoshoshi, vgl. Fn. 21) vorgenommen. Auch hat der normale Notar in Japan aufgrund seiner minimalen Notarausbildung wenig mit internationalem Rechtsverkehr zu tun. 59 Nakano/Shimomura, Minjishikkoho [Zivilvollstreckungsrecht], S. 207 ff.; zum Verbot der Erstellung von Vollstreckungsbescheinigungen für Konsumkredite unter Verstoß gegen das Zinsbeschränkungsgesetz, Sakae Eno/Tadashi Inomata/Hiroki Tatsumi, Jiyu to Seigi, Vol. 74, 4, 2005, S. 85. 60 § 5 Einführungsgesetz zum BGB in Japan Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2.

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cher behandelt wird, viele Fälle (als „Gruppenfälle“ bezeichnet), in denen bestimmte Gläubiger (Verkäufer) Vollstreckungstitel für Geldforderungen gleicher Art und in großen Mengen gegen eine große Zahl von Schuldnern in standardisierter Weise vorbereiteten, und dies war eine der Hauptoperationen der Notare in Japan.61 Es gab jedoch die folgenden Trends, und das Geschäft hat sich stärker diversifiziert. So hat beispielsweise die Zahl der in Auftrag gegebenen notariellen Testamente zugenommen, die sich laut nationalen Statistiken von 40.941 im Jahr 1989 auf 81.984 im Jahr 2010 und auf 88.000 im Jahr 2012 verdoppelt hat und voraussichtlich weiter steigen wird.62 Dieser Anstieg ist zum Teil auf soziale Veränderungen wie die Alterung der Gesellschaft und den Aufstieg von Kernfamilien sowie auf die Wirkung der Öffentlichkeitsarbeit durch verschiedene Medien zurückzuführen. Darüber hinaus ist auch die Nutzung des Systems der freiwilligen Vormundschaft, die oft in Verbindung mit einem notariellen Testament abgeschlossen wird, im Vormarsch. Im Jahr 2004 gab es in ganz Japan 3.547 notariell beurkundete freiwillige Vormundschaftsvereinbarungen, doch bis 2010 war die Zahl auf 8.835 gestiegen, mit einem jährlichen Zuwachs von rund 1.000.63 Die notariellen Dienstleistungen können jedoch nicht mehr auf die herkömmliche Methode der Bearbeitung von Gruppenfällen64 (sog. standardisierte Arbeitsweise) zurückgreifen. Notare sollten für sich neue Geschäftsfelder erschließen, beispielsweise die Nutzung des beglaubigten Zertifikat des Sachverhalts im Bereich des geistigen Eigentums (wie etwa Vorbenutzerrechte), und die Nutzung notarieller Urkunden in den Bereichen des Trusts wurden ebenfalls aktiv verfolgt. Notare sind an den folgenden Aufgaben beteiligt. Zusätzlich zu den Notarvereinigungen ist die Federation of Notaries of Japan gegründet worden, um die notariellen Dienstleistungen zu verbessern und zu vereinheitlichen, die Würde der Notare zu wahren und Informationen zur Verfügung zu stellen, um die Angemessenheit der notariellen Dienstleistungen durch verschiedene Mitteilungen und Schulungen zu erhalten.65 61 Vgl. Morio Takeshita/Toyohisa Isobe, Jittaichosa no Kekka karamita Koshoseido – Shohishashinyokoseishosho o Chushintoshite, Koshohogaku (Notariatsystem im Lichte der Ergebnisse der Tatsachenforschung), Nr. 13, S. 7; nach den Statistiken der Japan Federation of Notaries lag die durchschnittliche Anzahl notariell beglaubigter Schuldentilgungs- und Verbraucherkreditverträge zwischen 2000 und 2005 bei etwa 200.000 pro Jahr (Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 94). 62 Ai Yamakura, Nihon niokeru Koshoninseido nikansuru Oboegaki, Ochanomizu Universität, Jinbunkagakukenkyu Band 14, S. 244 ff. 63 Ai Yamakura, Nihon niokeru Koshoninseido nikansuru Oboegaki, Ochanomizu Universität, Jinbunkagakukenkyu Band 14, S. 245. 64 Vgl. Takeshita/Isobe, Jittaichosa no Kekka karamita Koshoseido – Shohishashinyokoseishosho o Chushintoshite, Koshohogaku, Nr. 13, S. 7. 65 Die Japan Notary Law Association wurde im April 1971 von Notaren und Forschern mit dem Ziel gegründet, die Forschung über das Notarsystem und das damit verbundene materielle Recht und Verfahrensrecht bzw. die historische Geschichte des Notarsystems und internationale Vergleiche zu fördern. Jedoch hat japanische Universität leider kein einziges Studienprogramm für Notarrecht anzubieten.

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6. Notarkammern in Japan Ein Notar ist Mitglied in der Notarkammer, die in dem Amtsbezirk des Rechtsoder Regionalrechtsamts besteht, in dem der Notar seinen Amtssitz hat (Art. 44 Ausführungsverordnung zum Notargesetz (AusfVO)). Der Zweck einer Notarkammer ist die Durchführung von Prozessen im Zusammenhang mit der Führung von und der Zusammenarbeit mit Notaren im Hinblick auf die Verbesserung und Standardisierung von Beurkundungsprozessen und die Wahrung der Berufswürde des Notars (Art. 43 Abs. 2 AusfVO). Eine Notarkammer kann dem Direktor des Büros für Rechtsangelegenheiten oder des Distriktbüros für Rechtsangelegenheiten, das am Ort des Büros der Notarkammer zuständig ist, in Bezug auf Beglaubigungsverfahren einen Vorschlag unterbreiten oder einen Bericht als Antwort auf ein Konsultationsersuchen des Direktors des Büros für Rechtsangelegenheiten oder des Distriktbüros für Rechtsangelegenheiten, das am Ort des Büros der Notarkammer zuständig ist, vorlegen (Art. 47 Abs. 1 AusfVO). Wenn eine Notarkammer feststellt, dass eine illegale Handlung oder ein entwürdigendes Verhalten eines Notars vorliegt, muss sie dies dem Direktor des Büros für Rechtsangelegenheiten oder des Distriktbüros für Rechtsangelegenheiten, dem der Notar angeschlossen ist, melden (Art. 48 AusfVO). Auf Landesebene gibt es die Japanische Nationale Notarvereinigung, in der alle Notare und Notarkammern Mitglied sind (Art. 50 AusfVO). Die Japanische Nationale Notarvereinigung kann dem Justizminister einen Vorschlag unterbreiten oder einen Bericht als Antwort auf ein Konsultationsersuchen des Justizministers im Zusammenhang mit notariellen Beurkundungsverfahren vorlegen (Art. 52 AusfVO). Auf internationaler Ebene ist die japanische Notarvereinigung Mitglied der Internationalen Union des Lateinischen Notariats, wo sie derzeit den Vizepräsidenten für Asien stellt.66

III. Die Belehrungspflicht als Amtspflicht des Notars Das japanische Recht kennt keine ausdrückliche Belehrungspflicht67 des Notars bzw. eine § 17 BeurkG entsprechende Vorschrift. Nach § 13 Abs. 1 AusfVO hat der Notar, wenn er eine Urkunde über ein Rechtsgeschäft erstellt oder eine Beglaubigung vornimmt, bei konkreten Zweifeln daran, ob dieses Rechtsgeschäft wirksam ist, die Parteien angemessene Überlegungen angestellt haben oder sie zur Vornahme dieses Rechtsgeschäfts fähig sind, die Beteiligten darauf aufmerksam zu machen und von den Betreffenden die notwendigen Erklärungen zu verlangen. Diese Vorschrift wird aber nicht so verstanden, dass sie dem Notar eine spezielle Belehrungspflicht aufer66

Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 171. Die notarielle Belehrungspflicht ist ein Schlüsselbegriff für die notalielle Beurkundung in Deutschland, ähnlich wie die ärztliche Aufklärungspflicht (Keim, Das notarielle Beurkundungsverfahren, 1990, Rn. 74). 67

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legt. Vielmehr wird ihr – in Verbindung mit § 26 NotG – eine Pflicht zur Prüfung und Nachforschung entnommen, um sicherzustellen, dass keine rechtswidrigen, nichtigen oder anfechtbaren Rechtsgeschäfte beurkundet werden.68 Diese Pflicht entsteht nach der Rechtsprechung aber nur, wenn sich aus dem Vorbringen der Beteiligten, der eigenen Erfahrung des Notars oder seiner früheren Tätigkeit im Zusammenhang mit dem jetzigen Auftrag ein konkreter Zweifel ergibt, dass das Rechtsgeschäft rechtswidrig, nichtig oder anfechtbar sein könnte.69 Wenn sich konkrete Zweifel ergeben haben und damit eine Nachforschungspflicht des Notars – der anders als ein Gericht niemanden, auch seine Auftraggeber nicht, zu einer Aussage oder zur Herausgabe von Dokumenten zwingen kann – entstanden ist, beschränkt sich diese normalerweise darauf, die ihm vorgelegten Dokumente zu prüfen und seine Auftraggeber zur Erklärung aufzufordern.70 Nach § 26 Abs. 3 NotG muss der Notar die Beurkundung ablehnen, wenn nicht sichergestellt werden kann, dass die zu beurkundende Willenserklärung rechtmäßig ist. Es ist sehr umstritten, ob der Notar auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Belehrung verpflichtet ist, da der Notar als staatliches Verwaltungsorgan der vorbeugenden Rechtspflege tätig ist.71 Um den Verbraucherschutz zu verbessern, wird es teilweise vorgeschlagen, analog der Situation in Deutschland die Belehrungspflicht klar gesetzlich festzuschreiben.72 Auf der anderen Seite stellt sich nach Meinung des Notars Makoto Toida die Frage, ob dies große Auswirkungen hätte, denn eine Belehrung der Parteien findet de facto bereits statt. Durch deren Qualität hätten sich Notare das Vertrauen der Bevölkerung erworben.73 Dennoch halte ich es für eher richtig, die Belehrungspflicht des Notars aus der Perspektive des Verbraucherschutzes zu bekräftigen insbesondere wenn der Notar z. B. eine Vollstreckungsurkunde für einen Kredit, der gegen das Zinsbeschränkungsgesetz verstößt, beurkunden soll.74

IV. Die Haftung des Notars in Japan 1. Haftung des Notars als staatliche Entschädigungspflicht in Japan Im Allgemeinen sind zwei Arten der Notarhaftung in Japan denkbar, nämlich die Schadensersatzhaftung nach dem Staatlichen Entschädigungsgesetz und die Schadensersatzhaftung des einzelnen Notars. In Japan werden Notare jedoch vom Justiz68

Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 174. Oberster Gerichtshof (Saikosai) 04. 09. 1997, Minshu 51, 3718. 70 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 174. 71 Makoto Toida, Jiyu to Seigi, Vol. 56, Nr. 4, S. 93; Sakae Eno/Tadashi Inomata/Hiroki Tatsumi, Jiyu to Seigi, Vol. 74, 4, 2005, S. 81 ff.; Koji Nakayama, Jiyu to Seigi, 2005, 4, S. 96 ff. 72 Sakae Eno/Tadashi Inomata/Hiroki Tatsumi, Jiyu to Seigi, Vol. 74, 4, 2005, S. 83. 73 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 175. 74 Sakae Eno/Tadashi Inomata/Hiroki Tatsumi, Jiyu to Seigi, Vol. 74, 4, 2005, S. 77. 69

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minister ernannt und vom Justizminister beaufsichtigt und erbringen notarielle Dienstleistungen als Staatsakt in Übereinstimmung mit der Notariatsordnung und anderen Gesetzen und Vorschriften. Obwohl Notare nach dem Gesetz über den nationalen öffentlichen Dienst nicht als öffentliche Bedienstete definiert sind, sind sie natürlich öffentliche Bedienstete im materiellen Sinne des Wortes, und die notarielle Beurkundung fällt unter die Ausübung öffentlicher Gewalt nach § 1 Abs. 1 des Staatsschadensersatzgesetzes in Japan.75 Da der Notar in Japan als Staatsbediensteter gilt, haftet der Staat für seine Fehler (§ 1 Abs. 1 Staatshaftungsgesetz). Der Notar ist in einem solchen Fall lediglich regresspflichtig, wenn ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fallen (§ 1 Abs. 2 Staatshaftungsgesetz). Zur Sicherung dieser eventuellen staatlichen Regressansprüchen (sowie von Steuerforderungen und Geldbußen in einem eventuellen Disziplinarverfahren) muss der Notar innerhalb von 15 Tagen nach seiner Bestellung Sicherheit in Geld oder Staatsobligationen leisten, (§ 19 Abs. 1 NotG) die bei Ausscheiden des Notars aus seinem Amt zurückgezahlt wird.76 Verletzt der Notar nach § 19 Abs. 1 BNotO vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem anderen gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er diesem den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Fällt dem Notar nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag; das gilt jedoch nicht bei Amtsgeschäften der in §§ 23, 24 bezeichneten Art im Verhältnis zwischen dem Notar und dem Auftraggeber. 2. Die persönliche Haftung des Notars Es gab widersprüchliche Ansichten in Japan darüber, ob eine geschädigte Person direkte Schadensersatzansprüche gegen einen einzelnen Amtsträger geltend machen kann, der sich beruflich unrechtmäßig verhalten hat.77 Da der Notar bei der Ausübung seiner Tätigkeit auf Provisionseinnahmen angewiesen ist, wird davon ausgegangen, dass der Notar auch für die zivilrechtliche Haftung persönlich haftbar ist. Die traditionelle Rechtsprechung hat jedoch die persönliche Haftung von Amtsträgern im Allgemeinen negativ gelöst, und dies gilt auch für Notare.78 § 6 des NotG, der mit dem Erlass des Staatlichen Entschädigungsgesetzes gestrichen wurde, besagte jedoch, dass „ein Notar einem Beauftragten oder anderen Personen in Ausübung seines Amtes nur dann zum Schadenersatz verpflichtet ist, wenn dieser Schaden durch Vor75

http://www.japaneselawtranslation.go.jp/law/detail/?id=1933 (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 76 Kaiser/Pawlita, ZJAPANR/J. JAPAN.L, Nr./No. 20, 2005, S. 176. 77 Masahisa Deguchi, Nichidoku niokeru Koshonin Songaibaisho Sosho no Genjyo – Yoboshiho o ninau Koshonin no Global Standard no Subyo (Der aktuelle Stand des Schadenersatzprozesse des Notars in Japan und Deutschland – Eine Skizze der globalen Standards für Notare der vorbeugenden Justiz), S. 58. 78 Masahisa Deguchi, Nichidoku niokeru Koshonin Songaibaisho Sosho no Genjyo – Yoboshiho o ninau Koshonin no Global Standard no Subyo, S. 59 ff.

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satz oder Fahrlässigkeit des Notars verursacht wurde“. Nach herrschender Meinung wird jedoch davon ausgegangen, dass diese Vorschrift in die Staatshaftung übernommen wurde und der Notar nicht persönlich haftbar sein muss.79 Diese Staatshaftung des Notars in Japan ist ein sehr interessanter Punkt im Zusammenhang mit der persönlichen Haftung der deutschen Notare. 3. Einige Entscheidungen über die Prüfungsbefugnis des Notars in Japan a) Formelle Prüfungsbefugnis des Notars Frühere Gerichtsentscheidungen betrafen in erster Linie die formale Prüfungsbefugnis des Notars.80 Zu der Feststellung des Gerichts, dass ein Notar im Zusammenhang mit der Beurkundung eine unerlaubte Handlung begangen hatte, und der Erklärung des Staates für schadensersatzpflichtig, kam es in einem Fall, in dem der Staat die Beurkundung einer von einem Stellvertreter in Auftrag gegebenen Beglaubigung bestätigte, obwohl die Person keinen Beweis für den Siegelabdruck vorgelegt hatte.81 Zudem gab es einen Fall eines notariell beglaubigten Testaments ohne die Anwesenheit eines Zeugen,82 sowie einen Fall der Nichtmitteilung einer notariellen Urkunde, die von einem beauftragten Vertreter erstellt wurde, an den Auftraggeber, wie in § 13 – 2 Abs. 1 der Verordnung zur Durchsetzung der Notarordnung vorgeschrieben.83 In der Mehrzahl der Fälle handelte es sich um Fahrlässigkeit beim Übersehen der Fälschung einer Siegelregistrierungsurkunde oder einer Vollmacht oder um die Verletzung der von einem Notar einzuhaltenden Verfahrensvorschriften.84 b) Materielle Prüfungsbefugnis des Notars In jüngerer Zeit war jedoch die Rechtsprechung zu den materiellen Prüfungspflichten von Notaren Gegenstand der Debatte in Japan. Das Landgericht Kushiro85 befand die Fahrlässigkeit eines Shihoshoshi (Rechtsschreiber) und Notars, die damit beauftragt waren, eine notarielle Urkunde im Namen eines Gläubigers, eines Schuldners und eines Mitunterzeichners (des Klägers) zu erstellen, und verurteilte die drei Beklagten, einschließlich des Staates, zur Zahlung eines Teils ihrer Anwaltskosten und anderer Kosten, die in einem Rechtsstreit gegen einen Anspruch auf Ausschluss 79

Kazuyuki Iizuka, Koshonin no Sekinin (Die Haftung des Notars) Ken Kawai Hen Senmonka no Sekinin (Die Haftung der Experten), 1993, S. 246. 80 Masahisa Deguchi, Nichidoku niokeru Koshonin Songaibaisho Sosho no Genjyo – Yoboshiho o ninau Koshonin no Global Standard no Subyo, S. 59. 81 LG Tokyo, 02. 07. 1971, Kamin Vol. 22, Nr. 7 – 8, S. 731. 82 OLG Osaka, 10. 01. 1981, Hanji Nr. 1009, S. 71. 83 LG Fukuoka, 27. 03. 1985, Hanrei Times Nr. 560, S. 212. 84 Masahisa Deguchi, Nichidoku niokeru Koshonin Songaibaisho Sosho no Genjyo – Yoboshiho o ninau Koshonin no Global Standard no Subyo, S. 59. 85 LG Kushiro, 25. 05. 1993, Hanrei Times Nr. 817, S. 241 ff.

Die Rolle des Notars als vorsorgender Rechtspfleger in Japan

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der Vollstreckbarkeit einer notariellen Urkunde entstanden waren, mit der Behauptung, der Inhalt der Urkunde verstoße gegen das Zinsbeschränkungsgesetz86 und das Gesetz über Ratenverkäufe.87 In dem Urteil heißt es: „Es wird davon ausgegangen, dass ein Notar verpflichtet ist, auf der Grundlage der von den Gläubigern vorgelegten Vollmacht und anderen Dokumenten zu prüfen und die Erstellung einer rechtswidrigen notariellen Urkunde zu verhindern, indem er von den Gläubigern und anderen Personen die erforderlichen Erklärungen verlangt, auch wenn der Verdacht besteht, dass eine Verletzung von Gesetzen und Vorschriften oder die Ungültigkeit einer Rechtshandlung vorliegt.“88

Das LG Kushiro bejahte in diesem Fall die Verantwortung des Staates für den Schadensersatz mit der Begründung, dass der Notar wusste, dass der Gläubiger im Geldverleihgeschäft tätig war und dass die Zinsen für das Geld das Zinsbeschränkungsgesetz usw. überstiegen, es aber fahrlässig unterließ, die Behandlung des dem Gläubiger geliehenen Geldes zu bestätigen, als er mit der Erstellung der notariellen Urkunde beauftragt wurde.89 Es gibt in der Literatur die Meinung, dass sich die Entscheidung in bestimmten Fällen auf eine materielle Prüfungspflicht des Notars im Hinblick auf die Tätigkeit des Notars erstrecken könnte, die über die formale Prüfungspflicht einer notariellen Urkunde hinausgeht.90 Ein Notar darf kein Instrument in Bezug auf Angelegenheiten schaffen, die gegen Gesetze und Vorschriften verstoßen, juristische Handlungen, die nichtig sind, oder juristische Handlungen, die aus Gründen der beschränkten Geschäftsfähigkeit aufgehoben werden können (§ 26 Notarordnung). Wenn ein Notar eine Urkunde für einen Rechtsakt erstellen oder beglaubigen soll, aber Zweifel bestehen, ob der Rechtsakt gültig ist, ob die Partei den Rechtsakt gebührend berücksichtigt hat oder ob die Partei zur Vornahme des Rechtsakts befugt ist, muss der Notar die betroffenen Personen verwarnen und sie die erforderlichen Erklärungen abgeben lassen (§ 13 Abs. 1 Einführungsgesetz der Notarordnung). Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der herrschenden Meinung werden diese Vorschriften als SollVorschrift verstanden.91 Die Notare in unserem Land verfügen wohl über keine materielle Prüfungsbefugnis, sondern lediglich über eine formelle Prüfungsbefugnis.92 86

http://www.japaneselawtranslation.go.jp/law/detail/?vm=04&re=01&id=2134 (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 87 http://www.japaneselawtranslation.go.jp/law/detail/?id=2334&vm=&re= (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 88 LG Kushiro, 25. 05.1993, Hanrei Times Nr. 817, S. 241 ff. 89 LG Kushiro, 25. 05. 1993, Hanrei Times Nr. 817, S. 241 ff. 90 Koji Nakayama, Jiyu to Seigi 2005, 4, S. 102 ff. 91 Nakano/Shimomura, Minjishikkoho, S. 200. 92 Nakano/Shimomura, Minjishikkoho, S. 199; dagegen bejahen die Belehrungspflicht des Notars: Akira Mikazuki, Minjishokkoho [Zivilvollstreckungsrecht], S. 81; Hiroshi Nagai,

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Der Notar ist keine gerichtliche Überprüfungsinstanz, und eine Urkunde wird nur dann erstellt, wenn der Notar tatsächlich die Zustimmung beider Seiten zu den Aussagen über den Vertrag erfährt. Der Notar hat keine Befugnis, den Sachverhalt zu untersuchen, so dass der Sorgfaltspflicht des Notars nicht zu viel Gewicht beigemessen werden kann. Der japanische Oberste Gerichtshof (Saikosaibansho) hatte am 4. September 1997 zum ersten Mal eine Entscheidung über die Hinweispflicht des Notars in Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Inhalts eines Rechtsakts bei der Erstellung einer notariellen Urkunde über einen Rechtsakt getroffen.93 Eine solche Hinweispflicht solle nur dann bestehen, wenn ein konkreter Verdacht auf das Vorliegen eines Nichtigkeits- oder Unfähigkeitsgrunds usw. besteht. Wenn kein solcher konkreter Verdacht vorliegt, besteht keine Verpflichtung, proaktiv Erklärungen von den betroffenen Personen einzuholen oder andere positive Hinweispflichten durchzuführen.

V. Schlusswort Japans Transaktionsgesellschaft hat leider keine Rechtstradition, einen unparteiischen und selbstlosen Rechtsexperten (eine dritte Partei im Gegensatz zum Vertreter einer Partei) bereits in der vorvertraglichen Verhandlungsphase einzubeziehen, um die Fairness der einzelnen Transaktionen zu gewährleisten.94 Es ist deshalb nicht so einfach über die Beratungspflicht des Notars gegenüber den Parteien und die Ermittlungsbefugnis zu diskutieren, die eine Voraussetzung für eine solche Pflicht ist. Es fehlt in erster Linie die gesellschaftliche Grundlage für die Umsetzung der westlichen Beurkundungspraxis in die japanische Praxis.95 Die Notare in unserem Land verfügen wohl über keine materielle Prüfungsbefugnis, sondern lediglich eine formelle Prüfungsbefugnis.96 Die Japanische Föderation der Anwaltskammern hat demgegeüber jedoch bereits einen wichtigen Reformvorschlag vorgelegt.97 Danach sollten die folgenden Änderungen der Notarordnung so schnell wie möglich vorgenommen werden, um die gegenwärtige Situation zu verbessern, in der missbräuchliche notarielle VollKoshohogaku, Vol. 14, S. 87 ff.; Kazunori Matsumura, Koshohogaku, Vol. 21, S. 51 ff.; Koshonin no Kaisei o motomeru Ikensho [Reformvorschlag der Notarordnung], 2005, https:// www.nichibenren.or.jp/library/ja/opinion/report/data/2005_10.pdf (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 93 Oberster Gerichtshof (Saikousai) Heisei 9 8 4 Daiich Shohotei Hanketsu (Heisei 6 (O) Nr. 1886 Schadensersatzfall). 94 Yoichi Imamura, Gendai Shohishaho Nor. 41, S. 52. 95 Yoichi Imamura, Gendai Shohishaho Nor. 41, S. 52. 96 Nihonkoshonin Rengokai Hen, Koshoninho, S. 20 ff. 97 Eno/Inomata/Tatsumi, Jiyu to Seigi, 2005, April S. 82 ff.

Die Rolle des Notars als vorsorgender Rechtspfleger in Japan

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streckungstitel im Auftrag einiger Kreditgeber und Kredithaie usw. erstellt werden.98 (1) die Hinweispflicht der Notare gesetzlich zu verankern, (2) die strikte Anwendung des Prinzips des persönlichen Erscheinens und der Vollmacht (3) Änderungen der Notarordnung, um die Bestätigung der gesetzlich bestehenden Schuldenhöhe verbindlich vorzuschreiben in Betracht gezogen werden sollte. Eine von einem Notar angefertigte Vollstreckungsurkunde bedarf zu ihrer Erstellung keiner Klage oder anderer gerichtlicher Verfahren und bietet die Grundlage für eine einfache und zügige Vollstreckung auf der Grundlage der notariellen Beurkundung einer privatrechtlichen Handlung und der Annahme der Vollstreckung durch den Schuldner. Die Vollstreckungsurkunde hat dadurch einen erheblichen wirtschaftlichen Wert durch die Vermeidung erheblicher Prozessverzögerungen und hoher Prozesskosten. Sie spielt insofern eine bedeutende Rolle als Vollstreckungstitel, der gut an die Bedürfnisse moderner Kreditgeschäfte angepasst werden kann, die die prompte Realisierung von Rechten von Beginn der Transaktion an gewährleisten sollen. Es besteht allerdings eine Gefahr für den Schuldner, die er in anderen Schuldtiteln nicht sieht.99 Vom Notar als Träger der vorsorgenden Rechtspflege ist meines Erachtens zu erwarten, dass er einen Beitrag zum Verbraucherschutz leisten sollte. Aus der Perspektive des Verbraucherschutzes spielen Notare als Rechtsexperten eine wichtige Rolle bei der Komplexität von Kreditgeschäften in der heutigen Gesellschaft. Im Interesse der Internationalisierung des Notariats in unserem Land bin ich in der Meinung, dass zumindest in unserem Land, das über ein lateinisches Notarsystem verfügt, mindestens die Hinweispflicht des Notars als präventiver Rechtsdienstleister für den Verbraucherschutz verstärkt werden sollte.100

98 Sachverständigengutachten zur Reform des Notargesetzes am 18. Februar 2005 von Japanischer Föderation der Anwaltskammern: https://www.nichibenren.or.jp/library/ja/opinion/ report/data/2005_10.pdf (zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2021). 99 Nakano/Shimomura, Minjishikkoho, S. 198. 100 Akira Mikazuki, Minjishokkoho, S. 81; Hiroshi Nagai, Koshohogaku, Vol. 14, S. 87 ff.; Kazunori Matsumura, Koshohogaku, Vol. 21, S. 51 ff.; Koshonin no Kaisei o motomeru Ikensho [Reformvorschlag der Notarordnung], 2005.

Priesteranwesenheit bei Testamentserrichtung: Kurzbilanz eines Paradigmenwechsels Von Hans-Georg Hermann und Georg Suppé

I. Einleitung Der Errichtung eines Testaments weist das BGB als ordentliche Formen die öffentliche Errichtung vor dem Notar und das privatschriftliche Testament, dem Testator dabei Testierfreiheit zu. Die Diskussion um Schutz der Testierfreiheit vor Fremdbestimmung durch Dritte wird heute maßgeblich vor geriatrischem Hintergrund geführt.1 Formen religiösen Beistandes, vor allem in Todesnähe, spielen dabei in aller Regel keine Rolle. Doch eine prominente Entscheidung des Kammergerichts aus dem Jahr 1999 – und damit während der Berliner Zeit des Jubilars an der Humboldt-Universität – befasste sich mit dieser Problematik mit geradezu lehrbuchartigen Ausführungen zur Testamentsanfechtung nach § 2078 Abs. 2 BGB:2 Das Einwirken des Pfarrers auf die Erblasserin, ein Testament zu errichten, „damit sie in den Himmel komme“ stelle keine widerrechtliche Drohung dar, denn dies sei keine „Ankündigung eines vom Willen des Pfarrers abhängigen künftigen Übels“. Auf das Schicksal im Jenseits hat der Pfarrer keinen Einfluss und gibt diesen auch nicht vor, es fehlt an einer Drohung. Das Kammergericht stellte „lediglich eine Beeinflussung“ fest. Beeinflusst auf ganz andere Weise hat allerdings die Kirche das Erbrecht als solches.3 Im mittelalterlichen kanonischen Recht bildete sich beispielsweise eine, vor allem durch eine reduzierte Zeugenanzahl privilegierte Testamentsform vor dem Priester und zumeist lediglich zwei Zeugen aus. Dieses testamentum coram parocho et duobus testibus (oder auch einfach „kanonische Testament“) ist als immerhin auch säkular anerkannte, partikularrechtlich rezipierte Form schließlich bis zur Gesetzgebung des BGB greifbar. Unter dem Gesichtspunkt der Beeinflussungsmöglichkeit er1 Christandl, Selbstbestimmtes Testieren in einer alternden Gesellschaft; Röthel, AcP 210 (2010), 32 (55 ff.); Röthel, Ist unser Erbrecht noch zeitgemäß? Gutachten A zum 68. Deutschen Juristentag, S. A81 ff. 2 KG, NJW 2001, 903 (905 f.). 3 Schon dem Titel nach Schultze, Der Einfluß der Kirche auf die Entwicklung des germanischen Erbrechts, ZRG, GA 35 (1914), 75; Becker, Spuren des kanonischen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Zimmermann, Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, S. 159.

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scheint dieser Befund aber durchaus ambivalent und führt zu einer pointierten Frage: Ermöglicht der Priester den letzten Willen als formgerechte, rechtlich verbindliche Verfügung von Todes wegen oder gefährdet er ihn in seiner Authentizität? Für die Beantwortung dieser Frage kommt der Unterscheidung zwischen formeller und materieller Wirksamkeit maßgebliche Bedeutung zu. Bei letzterer hat sich der Gesetzgeber in der Zeit von 1938 bis 1954 klar positioniert, indem er Nichtigkeit für letztwillige Verfügungen anordnete, wenn sie auf Einflussnahme von Priestern beruhten – auch wenn man das verklausulierter formulierte.

II. Das Testamentsgesetz von 1938 und die „auch Ihnen bekannten Fälle“ 1. Regelungsspektrum des § 48 Testamentsgesetz Das Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen vom 31. Juli 1938,4 (kurz Testamentsgesetz, [TestG]), gliederte Formvorschriften über die Errichtung letztwilliger Verfügungen aus dem BGB aus5 und vereinfachte insbesondere die Errichtung eigenhändiger Testamente.6 In der Diktion seiner Präambel bezweckte das Gesetz, „daß unnötige Formstrenge vermieden, andererseits eine zuverlässige Wiedergabe des Willens des Erblassers sichergestellt wird.“ Die einzige materielle Vorschrift war § 48 und regelte eigenständig spezialgesetzlich die Nichtigkeit einer Verfügung von Todes wegen. Nichtig waren danach Testamente und Erbverträge, die gegen zwingende gesetzliche Vorschriften verstoßen (Abs. 1) oder die dem gesunden Volksempfinden gröblich widersprechen (Abs. 2). Ergänzend bestimmte § 48 Abs. 3: „Eine Verfügung von Todes wegen ist nichtig, soweit ein anderer den Erblasser durch Ausnutzung seiner Todesnot zu ihrer Errichtung bestimmt hat.“ Die größte Relevanz entfaltete § 48 Abs. 2 sowohl in der Rechtsprechungspraxis als auch der damaligen und heutigen Literatur.7 § 48 Abs. 3 spricht in seinem Wortlaut abstrakt von der „Ausnutzung von Todesnot“, die Norm zielte dennoch ausweis4

RGBl. I S. 973. Damit wurde auch eine einheitliche Geltung für das gerade angegliederte Österreich ermöglicht. 6 Zur Entstehung des Gesetzes Gruchmann, ZNR 7 (1984), 53. Unter Schilderung eines persönlichen Interesses Hitlers, der nicht wahrhaben wollte, dass ein bis auf den Vordruck des Errichtungsortes von ihm handschriftlich errichtetes Testament nicht den gesetzlichen Vorschriften genüge (S. 55 f.). 7 Vogels/Seybold, Testamentsgesetz, 3. Aufl. 1943, § 48 Rn. 4 – 7; Hanel, Das „gesunde Volksempfinden“ und das Testamentsrecht, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs Band 2017/2: Privatrecht in unsicheren Zeiten. Zivilgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus, S. 239 – 251 (m. w. N., insb. S. 241). Die Norm beschäftigte sogar noch 2019 das OLG Karlsruhe, FamRZ 2020, 372. 5

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lich der amtlichen Begründung8 dezidiert auf Geistliche bzw. „Religionsdiener“ ab und berief sich dabei ohne näheren Nachweis auf entsprechende „Vorkommnisse“: „Es ist vorgekommen, daß Religionsdiener in Verkennung ihrer wahren Pflichten auf einen Erblasser am Sterbebett unter Ausnutzung seiner Todesnot (z. B. unter Ausnutzung der Angst des Sterbenden vor Bestrafung im Jenseits) eingewirkt haben, um Zuwendungen zugunsten kirchlicher Einrichtungen zu erlangen. Ein solches Verhalten kann nicht gebilligt werden. Eine Verfügung von Todes wegen, die auf diese Weise zustande gekommen ist, soll nach Abs. 3 des Entwurfs unwirksam sein.“

Diese amtliche Begründung bildete den Kern jeder weiteren Behandlung der Norm, ein in der Deutschen Justiz publizierter Überblicksbeitrag wiederholte diesen Absatz lediglich leicht abgewandelt.9 Der Aufsatz seinerseits stammte von Werner Vogels, der als Ministerialrat im Reichsjustizministerium am Entwurf des Gesetzes maßgeblich beteiligt war. Auch in dem von Vogels stammenden Kommentar zum Testamentsgesetz findet sich die Passage, er schränkte sie aber etwas ein, indem er die bedenkliche Testiersituation nur auf den unmittelbar Moribunden bezog und vor „Übertreibungen“ warnte, weil der Anwendungsbereich der Norm „nicht allzuweit“ sei, wobei Vogels diese Restriktion um Rechtssicherheit und Rechtsfriedens willen für geboten hielt.10 Auch im zeitgenössischen Palandt wurde das Testamentsgesetz kommentiert, die Begründung bezogen auf „gewisse Religionsdiener“ paraphrasiert und ergänzt: „Dieser Zwang (Drohg) kann natürl auch von jedem anderen ausgehen, zB der Frau, Verwandten, Betschwestern, Erbschleichern.“11 Die Anordnung der Nichtigkeit in § 48 Testamentsgesetz sollte – zumindest gesetzgeberisch intendiert – als Gegengewicht für die Formerleichterungen dienen, und „Vorkehrungen gegen einen Mißbrauch der Testierfreiheit treffen“.12 Die Denkschrift des Erbrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht hatte sich für eine Ausweitung der Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit ausgesprochen, unter Akzentuierung von Fällen von „Zuwendungen Deutschstämmiger an Fremdrassige unter herabwürdigender Zurücksetzung von nächsten Angehörigen“ und einem „Verstoß gegen die Belange der Gemeinschaft“.13 Insbesondere sollte ein materielles Noterbrecht für Pflichtteilsberechtigte geschaffen werden, und wo dieses zu unbilli8

DJ 1938, 1254 (1257). Vogels, DJ 1938, 1269 (1273). 10 Vogels, Testamentsgesetz, 2. Aufl. 1939, § 48 Rn. 7. Die beiden Folgeauflagen, nach Vogels Tod von Karl Seybold mitherausgegeben, enthalten zu Abs. 3 keine erweiterte Kommentierung: Vogels/Seybold, Testamentsgesetz, 3. Aufl. 1943, § 48 Rn. 8. 11 Seibert, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 1. Aufl. 1938, § 48 TestG Ziff. 2 c; unverändert gebliebene Kommentierung vgl. Seibert, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 5. Aufl. 1942, § 48 TestG Ziff. 2 c. 12 Vogels, DJ 1938, 1269 (1273). 13 Heinrich Lange, Das Recht des Testamentes. 1. Denkschrift des Erbrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, 1937, S. 115 f. 9

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gen Lösungen führe, die Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit der Verfügung eingreifen. Ansonsten sollten die Anfechtungsgründe des § 2078 f. BGB beibehalten werden. Von Einflussnahmen Geistlicher oder generell Ausnutzung von Todesnot ist in der Denkschrift noch keine Rede.14 Im Entwurf des Reichsjustizministeriums fehlte eine Nichtigkeitsvorschrift völlig.15 Im weiteren Gesetzgebungsverfahren drängte aber das Reichskirchenministerium unter Minister Hanns Kerrl auf eine notwendig korrelierende Inhaltskontrolle von Testamenten wegen der Formerleichterungen des handschriftlichen Testaments.16 In einem Schreiben vom 25. Mai 1938 an den Reichsjustizminister wurde kritisiert, das handschriftliche Testament erreiche sonst ein unbeschränktes Verfügen des Erblassers („Dieses Ergebnis ist für meinen Geschäftsbereich unerwünscht“), und erinnert mit topischer Selbstverständlichkeit „an die auch Ihnen bekannten Fälle […], in denen z. B. katholische Geistliche Erblasser auf dem Sterbebett veranlassen, letztwillig kirchlichen Einrichtungen etwas zuzuwenden“.17 Konzertierter Widerstand von Kirchen- und Innenministerium führten zum Entwurfsvorschlag vom 13. Juli 1938 des späteren § 48 Testamentsgesetz.18 Hinter der Schaffung der Norm steht das Interesse, Erbschaften zugunsten politischer Gegner, Juden und der Kirchen verhindern zu können; das Nichtigkeitsverdikt sollte damit ebenso eine Einladung zur Diskriminierung von Erblasser und Bedachten wie zur Anfechtung verpönter letztwilliger Verfügungen zugunsten der Kirche sein.19 2. Die Zählebigkeit des § 48 Abs. 3 TestG Das Testamentsgesetz galt in der Bundesrepublik zunächst fort.20 Einzig § 48 Abs. 2 wurde durch Art. I a) Kontrollratsgesetz Nr. 37 aufgehoben. Es erschien sogar noch 1949 eine vierte Auflage des Kommentars von Vogels/Seybold, nun unter Berücksichtigung der neuen Verhältnisse.21 Im aufrechterhaltenen Abs. 3 fin14 Heinrich Lange, Das Recht des Testamentes. 1. Denkschrift des Erbrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, 1937, S. 115 – 120, S. 122 – 127. Verfehlt ist also der Verweis auf die Denkschrift von Seibert, in: Palandt § 48 TestG Ziff. 2 c, dass in solchen Fällen nach „geläutertem Rechtsempfinden … die Selbstachtung des Rechts die Vernichtung“ gebiete. 15 Entwurf in: Schubert (Hrsg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, S. 304 ff. 16 Gruchmann, ZNR 7 (1984), 53 (57 f.). 17 Schreiben des Reichsministers in: Schubert (Hrsg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, S. 336 (337). 18 Gruchmann, ZNR 7 (1984), 53 (58). Vorschlag des § 47 in: Schubert (Hrsg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, S. 336 (341). 19 In diesem Sinn: Gruchmann, ZNR 7 (1984), 53 (57, 62). 20 Vgl. Karow, Die Sittenwidrigkeit von Verfügungen von Todes wegen in historischer Sicht, 1997, S. 63 f.; s. a. im Überblick Staudinger/Baumann (2018), BGB, Vorbemerkungen zu §§ 2229 ff., Rn. 18 – 29. 21 Die Kommentierung zum aufgehobenen § 48 Abs. 2 erläutert, welche Rechtsprechung im Gewand des § 138 BGB fortbestehen kann, während etwa Entscheidungen, die auf rassi-

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det eine wesentliche Änderung der Kommentierung im Vergleich zur Vorauflage allerdings nur in Form der Streichung der Gesetzesbegründung statt. 1953 erfolgte eine Rückführung der Vorschriften des Testamentsgesetzes unter Beibehaltung der Formerleichterungen in das BGB durch das sog. Gesetzeseinheitsgesetz.22 Noch nach dem Regierungsentwurf sollte § 48 Abs. 3 Testamentsgesetz im Wesentlichen übernommen werden. Art. 5 Nr. 4 sah dies dergestalt vor, dass in § 2078 Abs. 2 BGB der Passus „oder durch Ausnutzung seiner Todesnot“ eingefügt werden solle, um diese mit der ihr ähnlichen widerrechtlichen Drohung zu vereinen.23 Der Rechtsausschuss strich jedoch dieses Relikt aus dem Gesetzeseinheitsgesetz,24 begründet im Plenum vom Berichterstatter Dr. Wahl (CDU) damit, dass „wir darin eine ungerechtfertigte Verdächtigung der Religionsdiener – daß sie sich der Erbschleicherei schuldig machen würden – erblickt haben.“25 Der „Spiegel“ notierte das mit durchaus gewissem Bedauern.26 Virulent geworden ist § 48 Abs. 3 offenbar tatsächlich nur in einem einzigen bekanntgewordenen Judikat, nämlich in dem Urteil des BGH vom 28. März 1956 mit einem Fall, der im Kreis der Siebenten-Tages-Adventisten spielte, wo eine Erblasserin zu einer bestimmten Zuwendung motiviert worden war.27 Inhaltlich war die Verfügung nicht zu beanstanden,28 beruhte aber auch nicht auf einer anstößigen Beeinflussung, denn es mochte nur „eine gewisse Rolle gespielt haben, die Erblasserin solle keinen Fluch auf sich laden, indem sie ihre irdischen Angelegenheiten nicht richtig ordne“.29 Von religiösen Autoritätspersonen manipulierte Erblasser sind sicher kein Fokus der aktuellen Diskussionsbeiträge zu typischen Gefährdungen der Testierfreiheit. Vor allem die ideologisierte Alarmiertheit des § 48 Abs. 3 TestG erscheint allenfalls noch als historische Reminiszenz. Extremfälle dürften heute gut vertretbar zu lösen sein.30 sche Gründe abstellten zweifellos unanwendbar seien: Vogels/Seybold, Testamentsgesetz, 4. Aufl. 1949, § 48 Rn. 7 – 9. 22 Gesetz zur Wiederherstellung der Gesetzeseinheit auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 5. 3. 1953, BGBl. I S. 33. Ein Überblick der Regelungen bietet Finke, DNotZ 1953, 174 (zum Erbrecht S. 179 ff.); s. a. Staudinger/Otte (2017) Einl. zum Erbrecht, Rn. 32. 23 BT-Drs. 01/3824, S. 4, 19. 24 BT-Drs. 01/4054. 25 Plenarprotokoll-Nr. 01/249, S. 11918. Dies berichtet auch Finke, DNotZ 1953, 174 (181). 26 Der Spiegel, 8. April 1953, S. 13 f. 27 BeckRS 1956, 31385608 (= BGH LM § 48 TestG Nr. 1). 28 Das Berufungsgericht stellte noch auf die inhaltlich nicht inadäquaten Verfügungen ab. Der BGH verweist u. a. auf Vogels/Seybold, Testamentsgesetz, 4. Aufl. 1949, § 48 Rn. 12, dort heißt es noch deutlicher: „Die Verfügungen brauchen an sich nicht verwerflich zu sein. Verwerflich ist aber, die Todesnot des Erblassers in dieser Weise auszunutzen.“ 29 BeckRS 1956, 31385608, unter II. 2. 30 Als grundsätzliche Eckpunkte einer Diskussion wird man hier etwa skizzieren können:

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Der Blick in die jüngere Zeitgeschichte zeigt schon eine Vielschichtigkeit von wertenden Zuschreibungen, differenzierte Sensibilität und Sensibilitäten im rechtlichen Umgang mit der Ausgangssituation des anwesenden Priesters. Der zivilistische Blick noch weiter zurück verdichtet ihre Problemhaftigkeit noch mehr, nämlich mit

Die formelle Höchstpersönlichkeit der Testamentserrichtung nach § 2064 BGB wird durch eine inhaltliche Einflussnahme Dritter nicht beeinträchtigt (so Staudinger/Otte (2019), BGB, § 2064 Rn. 8). Auch die materielle Höchstpersönlichkeit des § 2065 BGB ist gewahrt, da im Falle einer erfolgten Beeinflussung die letztwillige Verfügung gerade keine weitere inhaltliche Bestimmung durch einen Dritten vorsieht. Eine Beeinflussung unterhalb der Schwelle einer widerrechtlichen Drohung nach § 2078 Abs. 2 Alt. 2 BGB ist nicht anfechtbar: Androhung von Höllenqualen und anderer Jenseitsfolgen fallen nicht darunter, wie die eingangs genannte Entscheidung des Kammergerichts zeigt (vgl. KG, NJW 2001, 903 (905 f.)); Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen, 1973, S. 320 erkennt einen Drohcharakter an bei angekündigter Verweigerung von eigenen Handlungen des Geistlichen, die vor Jenseitsstrafen bewahren sollen, wie Gebeten, Messelesen und Sterbesakramenten. Einer Anfechtung aufgrund des nach § 2078 Abs. 2 Alt. 1 BGB ausnahmsweise beachtlichen Motivirrtums steht die fehlende Möglichkeit einer Bewertung postmortaler oder metaphysischer Vorgänge als irriger Annahmen entgegen. Diskutiert wird, ob Sittenwidrigkeit gemäß § 138 BGB vorliegen könne. Dabei geistert gelegentlich noch § 48 Abs. 3 Testamentsgesetz durch die Literatur. Viele halten eine Anwendung von § 138 BGB bei Ausnutzung von Todesnot für möglich, zumindest bei Hinzutreten ergänzender Umstände (vgl. Lange/Kuchinke, Erbrecht, 5. Aufl. 2001, § 36 III. 5. Fn. 97; Brox/Walker, Erbrecht 28. Aufl. 2018, § 17 Rn. 5; W. Kössinger/Najdecki, in: Nieder/Kössinger, Handbuch der Testamentsgestaltung, § 3 Rn. 33a; Leipold, in: MüKo BGB, 8. Aufl. 2020, § 2078 Rn. 55; Loritz, in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2003, § 2078 Rn. 22; Fleindl, in: Nomos Kommentar BGB, 5. Aufl. 2018, § 2078 Rn. 31; Johannsen, in: RGRK, 11. Aufl. 1960, § 2078 Anm. 3). Pauschal bei einer Ausnutzung der Todesnot von Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit auszugehen (vgl. M. Schmidt, in: Erman BGB, 16. Aufl. 2020, § 2078 Rn. 11) ist bei der gesetzgeberischen Entscheidung gegen eine schlichte Anfechtbarkeit verfehlt. Konkretisiert werden Sittenwidrigkeit auslösende Umstände nur vereinzelt (vgl. Kempermann, Unlautere Ausnutzung von Vertrauensverhältnissen, 1975; auf S. 112 spricht er von Ausbeutung einer psychologischen Zwangslage bei Veranlassen einer hohen Zuwendung in Kenntnis religiöser Zwangsvorstellungen; Christandl, Selbstbestimmtes Testieren in einer alternden Gesellschaft, S. 92 Fn. 275 erörtert Sittenwidrigkeitskriterien). Hingegen ist für Staudinger/Otte die Anwendung von § 138 BGB „nicht nachvollziehbar, denn der sittenwidrig handelnde ,Ausnutzende‘ nimmt kein Rechtsgeschäft vor und der ,ausgenutzte‘ Erblasser ist nur das Opfer, verstößt aber nicht selbst gegen die guten Sitten“ (Staudinger/Otte (2019), BGB, § 2078 Rn. 27; er verweist auf die Herkunft der „Ausnutzung der Todesnot“ aus § 48 Abs. 3 TestG aus „antiklerikalem Affekt“). Der Inhalt der letztwilligen Verfügung mag nicht sittenwidrig sein, gerade in Hinblick auf die Testierfreiheit und den Schutz gesetzlicher Erben durch das Pflichtteilsrecht. Dennoch kann sich die Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB aus dem Gesamtcharakter eines Rechtsgeschäfts unter Einschluss von Zweck, Beweggründen und der äußeren Umstände, die zu seiner Vornahme geführt haben, ergeben (Ellenberger, in: Palandt, 80. Aufl. 2021, § 138 Rn. 8 m. w. N.; die Anwendung auf einseitige Rechtsgeschäfte, insbesondere Verfügungen von Todes wegen ist unproblematisch, wie die frühere Rechtsprechung zum Geliebtentestament beweist, vgl. Staudinger/Sack/Fischinger (2017), BGB, § 138 Rn. 693 f.). Diese Erwägungen klingen bekannt, ähnliche nahm der BGH in seinem genannten Urteil zu § 48 Abs. 3 TestG vor. Erst recht nach Abschaffung der Norm müssen schwerwiegende Umstände zur Ausnutzung der Todesnot hinzutreten, zu denken ist an nennenswerte Selbstbegünstigung, eine Nähe zur Drohung und bewusstes Ausnutzen von Willensschwäche, um eine Sittenwidrigkeit annehmen zu können.

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dem Aspekt der Testamentsform. Anschauungsmaterial dafür bieten gerade Bayern und seine Partikularrechte bis 1900.

III. Bayerische Partikularrechte 1. Rezipiert: das kanonische Testament Das römische Erbrecht ermöglichte letztwillige Verfügungen, dabei umfassten Testamente zwingend eine Erbeinsetzung. Als markante ordentliche Testamentsform entwickelte das römische Recht das Siebenzeugentestament: Der Erblasser hatte es vor sieben mündigen Zeugen mündlich zu erklären oder dabei eine von allen Beteiligten zu unterzeichnende Urkunde zu übergeben.31 Nach gängiger Auffassung kannte das germanische Recht keine letztwilligen Verfügungen und es wurden im Mittelalter Zuwendungen dann insbesondere durch die Kirche gefördert – auch um sich einen sog. Seelteil zukommen zu lassen.32 Geistliche sollten dann frei testieren dürfen, als Klerikertestament vor einem Pfarrer mit zwei oder drei Zeugen errichtet. Später wurde diese Form auch Laien zugänglich. Das Klerikertestament habe als „einziger oder wenigstens als wichtigster Wegbereiter einseitiger letztwilliger Verfügungen gewirkt“.33 So generelle Aussagen sind jedoch zweifelhaft, weil sowohl Frührezeption des römischen Rechts als auch Einfluss des kanonischen Rechts und lokale Testamentsformen betrachtet werden müssen.34 Außerdem findet sich auch lokales Recht, in dem die kanonische Testamentsform keine oder nur geringe Bedeutung hat.35 Weitere Testamentsformen entstehen, wohl auch nach Vorbild des kanonischen Testaments, etwa vor einem Notar und zwei Zeugen, oder in Städten vor dem Rat.36 Sedes materiae im kanonischen Recht für das Testament vor dem Pfarrer und zwei oder drei Zeugen ist X 3.26.10, einer Dekretale aus dem Jahr 1170 Papst Alexanders III.37 Er hebt darin eine lokale Gewohnheit, nach der selbst auf dem Sterbebett errichtete Testamente nur vor fünf oder sieben Zeugen gültig waren, als allgemeiner kirch31

Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, 22. Aufl. 2019, § 78 (insb. Rn. 10). Schultze, ZRG GA 35 (1914), S. 75. Ogris, Testament, in Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Aufl., Bd. 5, 1998, Sp. 152 (153 f.); Löwenstein, Christliche Werte im Bürgerlichen Recht (Ethik und Recht; 5), 2018, S. 121 – 131. 33 Ogris, Testament, in Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Aufl., Bd. 5, 1998, Sp. 152 (154 f.). 34 Landau, ZRG GA 114 (1997), S. 56 (58 f.). 35 Seif, ZRG GA 122 (2005), S. 87 (109 f.). 36 Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, 1985, S. 571 f. 37 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, Bd. 2, 1879, Sp. 541; Übersetzung in Schilling/Sintenis, Das Corpus Iuris Canonici, 1837, S. 928. Eine Erläuterung der Dekretale und daran anknüpfend des kanonischen Testaments bietet Wolf von Glanvell, Die letztwilligen Verfügungen nach gemeinem kirchlichen Rechte, 1900, S. 105 ff. Allgemeiner s. a. Thomas, Das kanonische Testament, 1897; monographisch auch Stein, Testamentum coram parocho, 1733; Krieger, De testamento coram parocho et duobus testibus, 1734. 32

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licher Gewohnheit wie göttlichem Recht widersprechend auf, und verweist dafür auf Mt 18,16: „Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden.“38 Eine gemeinrechtliche Geltung erlangte das testamentum coram parocho et duobus testibus jedoch nicht, es blieb kirchliches Gewohnheitsrecht.39 Die Reichsnotariatsordnung von 1512 sah als ordentliche Testamentsformen in Titel I § 1 die schriftliche oder mündliche Errichtung vor, dafür waren nach Titel I § 2 sieben Zeugen, zu denen der Notar zählte, notwendig.40 Abweichungen waren partikularrechtlich möglich und weitverbreitet, diese konnten auch das kanonische Testament ermöglichen, wie Beispiele seiner Rezeption aus Bayern zeigen. 2. Bamberger Landrecht Eine partikularrechtliche Gesetzgebung, die das Testament vor dem Priester enthielt, ist das im Hochstift Bamberg 1769 erlassene Bamberger Landrecht,41 „das verworrenste und unpraktischste Gesetzbuch, das man sich denken kann“ (Roth).42 Diese Testamentsform galt dort – eigenem Bekunden nach – seit unvordenklicher Zeit als Gewohnheitsrecht und wurde durch fürstbischöfliche Verordnungen bestätigt,43 wie etwa die Peter Philippinische Verordnung vom 20. Juni 1681.44 Die Testamentserrichtung durch bambergische Priester schlug sich auch dergestalt nieder, dass das Instructionale Bambergense neben Instruktionen für geistliche Handlungen auch einen Abschnitt „de testamentis et testamentorum factione“ enthielt.45 Da „der Bambergische Kuratgeistliche in der Lehre von Testamenten kein Fremdling seyn“ 38 Einheitsübersetzung 1980. Weitere Bibelstellen mit diesem Gedanken nennt Wolf von Glanvell, Die letztwilligen Verfügungen nach gemeinem kirchlichen Rechte, 1900, S. 107 Fn. 5. 39 Dennoch hatte es gewisse Verbreitung gefunden, Roth, Testament vor Pfarrer und zwei Zeugen, Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht mit besonderer Rücksicht auf Bayern 1 (1874), S. 208 (209, m. w. N. in Fn. 8); Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Bd. 34, S. 185 f. 40 Zu ihrer Entstehung Schmoeckel, in: Schmoeckel/Schubert, Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512, 2012, S. 29; Nachdruck und moderne Übertragung in Grziwotz, Kaiserliche Notariatsordnung von 1512, 1995. 41 Umfassend zum Landrecht Mertens, in: FS Jan Schröder, 2013, S. 99; Landau, in: Landesordnung und Gute Policey in Bayern, Salzburg und Österreich, 2008, S. 1 (1 – 4). 42 Roth, Testament vor Pfarrer und zwei Zeugen, Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht mit besonderer Rücksicht auf Bayern 1 (1874), S. 208 (233 Fn. 102). Das Landrecht gilt zurecht auch heute noch als unübersichtlich und weitschweifig, vgl. Mertens, in: FS Jan Schröder, 2013, S. 99 (106). 43 Stapf, Theoretischer und praktischer Unterricht von Testamenten, 1819, S. III, S. 3 f., S. 176 f. 44 Abgedruckt in Weber, Grundsätze des Bambergischen Landrechts, Bd. 2.2, 1814, S. 839. 45 Instructionale Romano-Bambergense, 1773, S. 393 – 429.

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darf, veröffentlichte 1819 Stapf einen umfangreichen Kommentar dieses Abschnitts, der aus seinem Unterricht am Klerikalseminar entstanden war.46 Das Bamberger Landrecht47 regelt im Ersten Anhang,48 Erster Titel in § 1 „Viertens: kann der Testirer seinen letzten Willen vor Pfarrern und zweyen Zeugen mündlich erklären, oder auch in der nemlichen Maas schriftlich errichten.“ Näheres folgt in §§ 8 – 12. Für die mündliche Testamentserrichtung soll der Richter nach § 7 „wann er allenfalls nicht ausdrücklich darumen ersuchet würde, weder einen Rath erteilen, noch sich in andere Weeg einmischen, sondern dem Testirer die völlige Freyheit überlassen“, was § 10 entsprechend für Pfarrer anordnet. Dabei wird der Norminhalt verkürzt als „über die Gebühr in die Testaments-Machung nicht einmischen“ bezeichnet. Ungebührlichkeit bedeutet hiernach jede ungefragte Einmischung. Literatur und Rechtsprechung interpretierten später allerdings die Einmischung „über Gebühr“ als wertendes, inhaltliches Kriterium um, mit der Konsequenz, dass ungefragte Einmischung zulässig erschien, wenn sie nur moderat war. Das Landrecht ist systematisch von Weber49 und Spies50 dargestellt worden.51 Weber bezeichnet es als „im Fürstenthume Bamberg gewöhnlichste Art, Testamente zu errichten“.52 Zur Einmischung des Pfarrers weiß er zu ergänzen: „Jedoch hindert dies den Pfarrer nicht, vielmehr ist es Pflicht desselben dem Testirer deutliche Erklärung abzuverlangen, denselben über offenbare Irrthümer und über rechtswidrige Verfügungen zu belehren“.53 Damit propagiert er eine Aufklärungspflicht, aber keine materiell gestaltende Einwirkung. Spies befasst sich umfangreich mit der Frage, ob auch eine Testamentserrichtung vor einem protestantischen Pfarrer möglich sei und verneint dies.54 Als Argumente führt er unter anderem die Ablehnung des kanonischen Testaments durch protestantische Rechtslehrer an und vor allem, dass das Gesetz des Fürstbischofs die Testamentserrichtung durch „Unsre Bambergischen Pfarrer, die unter Unserem Bamberg. 46

Stapf, Theoretischer und praktischer Unterricht von Testamenten und andern letztwilligen Verfügungen nach dem Bambergischen Provinzialrechte und den Königlich Baierischen landesherrlichen Verordnungen mit steter Hinsicht auf die Gesetze des gemeinen Rechtes. Erster Versuch eines Kommentars über das Instructionale Bambergense de testamentis et testamentorum factione, 1819. Auf S. III ff. schildert er Zweck und Entstehung seines Werkes. 47 Des Kayserlichen Hochstifts, und Fürstenthums Bamberg verfaßtes Land-Recht. Desselben erster Haupt-Theil von Civil- oder sogenannten Bürgerlichen Sachen handlend, 1769. 48 Anhang zum ersten Teil, erstes Kapitel, S. 50 ff. 49 Weber, Grundsätze des Bambergischen Landrechts, Bd. 2.1, 1814, §§ 1175 – 1185 zum Testament vor dem Pfarrer. 50 Spies, Handbuch des Bamberger Provincialrechts, Bd. 1, 1838, S. 3 – 12 zum Testament vor dem Pfarrer. 51 Arnold, Beiträge zum teutschen Privatrechte, Bd. 1, 1840, S. XI Fn. 1 hält deren Darstellungen für so umfassend, dass er auf eine eigene Darstellung verzichtet. 52 Weber, Grundsätze des Bambergischen Landrechts, Bd. 2.1, 1814, § 1175. 53 Weber, Grundsätze des Bambergischen Landrechts, Bd. 2.1, 1814, § 1183 (S. 83). 54 Spies, Handbuch des Bamberger Provincialrechts, Bd. 1, 1838, § 8 (S. 5 – 12).

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Ordinariate stehen“, erlaubt. Protestantische Pfarrer unterstünden nicht dem Ordinariat und würden vom katholischen Bischof nicht als Unsere Pfarrer bezeichnet werden.55 Im Jahr 1803 ist das Gebiet des Hochstifts Bamberg im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses an Bayern übergegangen. Zunächst gab es Überlegungen das bayerische Landrecht, nämlich den Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756, dort einzuführen,56 der das kanonische Testament nicht kennt.57 Mit einer höchsten Entschließung vom 13. November 1803 stellte man klar, dass „jene Testamente, welche nach Bamberger Landesgesetzen und Gewohnheiten vor einem Pfarrer und zweyen Zeugen errichtet werden, wie andere Testamente angesehen“ werden.58 Am 19. Januar 1809 konkretisierte man das insofern, dass die kanonische Testamentsform als „zivilrechtliche Anomalie“ nur im Gebiet des ehemaligen Fürstentums gelte und nicht im vergrößerten Gebiet der Bamberger Diözese.59 Später gab es zwar Bestrebungen zu einer einheitlichen neuen Zivilgesetzgebung in Bayern, dennoch hielt die zivilrechtliche Rechtszersplitterung im Königreich Bayern bis zum Inkrafttreten des BGB an. 3. Das Derogierungsproblem: Bayerisches Notariatsgesetz 1861 Für das gesamte Königreich Bayern wurde am 10. November 1861 das Notariatsgesetz erlassen.60 Es sah ausschließlich die Form der öffentlichen Testamentserrichtung vor dem Notar vor. Denn nach Art. 11 hatten die Notare „alle auf Rechtsverhältnisse sich beziehenden Erklärungen, Verhandlungen, Verträge und Thatsachen zu beurkunden, über welche entweder nach gesetzlicher Vorschrift oder nach dem Willen der Betheiligten eine öffentliche Urkunde zu errichten ist.“ Art. 60, 61 sahen die neuen Formen vor. Das Testament vor dem Pfarrer und zwei Zeugen wurde überwiegend als öffentliches Testament angesehen,61 daraus wurde eine unzulässige Errich55

Das Reichskammergericht entschied einen gemischtkonfessionellen Fall immerhin so, dass es ein Testament für wirksam hielt, das eine Testatricin reformierter Religion vor dem katholischen Ortspfarrer errichtet hatte, denn weder kanonisches Recht noch die Cöllnische Rechtsordnung erforderten mehr als die Errichtung vor dem zuständigen Geistlichen, der hier zudem einem Notar oder einer Gerichtsperson gleichstehe, vgl. Cramer, Observationes iuris universi Ex praxi recentiori supremorum imperii tribunalium, 1766, Observatio CCCI, S. 754. 56 Mertens, in: FS Jan Schröder, 2013, S. 99 (103). 57 Kreittmayr lehnt es in seinen Anmerkungen ausdrücklich ab: ein „zierliches“ Testament erfordere mindestens sieben Zeugen. Er erwähnt dabei, dass das göttliche Recht zwei oder drei Zeugen vorsehe, das kanonische Recht zwei Beweiszeugen nebst dem Pfarrer: Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum civilem, Bd. 3, 1821, S. 281 f. 58 Regierungsblatt für die Churpfalzbaierischen Fürstenthümer in Franken 1803, S. 320. 59 Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1809, Sp. 133. 60 Zu seiner Entstehung Hermann, in: Schmoeckel/Schubert, Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512, S. 287. 61 Roth, Testament vor Pfarrer und zwei Zeugen, Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht mit besonderer Rücksicht auf Bayern 1 (1874), S. 208 (218 ff. m. w. N.); für das kanonische

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tung eines solchen unter dem Notariatsgesetz gefolgert.62 Vereinzelt wollte man es als Privattestament sehen,63 diese wurden vom Notariatsgesetz nicht berührt.64 Das Bayerische Oberste Landesgericht jedenfalls ließ das nach Bamberger Landrecht vor dem Pfarrer und zwei Zeugen errichtete Testament zu, die gerichtliche Errichtung sei ausgeschlossen, doch „alle anderen in Partikularrechten zugelassenen Testamente, gleichviel ob ihnen hierin die Eigenschaft von öffentlichen oder Privat-Testamenten beigelegt ist, dürfen unter den bisherigen Voraussetzungen und Formen noch errichtet werden“.65 Neben der Frage der Wirksamkeit hatte das Bayerische Oberste Landesgericht über die Frage der Beeinflussung des Willens des Testators zu entscheiden:66 „Es war festgestellt, daß bei einem nach Bamb.LR vor Pfarrer und zwei Zeugen errichteten Testamente der erstere den Testator gefragt hatte, ob dieser seiner Haushälterin nichts vermachen wolle, und weiter, ob der Testator das in Folge der ersten Frage Ausgesetzte für eine langjährige Dienstzeit nicht für zu wenig halte, sodann daß der Pfarrer dem Testator darüber Vorstellung gemacht hatte, für eine Stiftung seien 100 fl. zu wenig, und fragte es sich, ob hierin nicht eine ungebührliche Einmischung in die Testamentserrichtung – Bamb.LR § X S. 56 – liege“

Das Gericht verneinte eine solche „ungebührliche Einmischung“ und führte darüber hinaus aus, das Bamberger Landrecht enthalte keine Rechtsfolge für eine Zuwiderhandlung, nach dem daher zur Anwendung kommenden gemeinen Recht sei ein Testament nur unwirksam, wenn es den Willen des Testators nicht enthielte, was hier nicht der Fall sei. Das Ende des Priestertestaments, auch in seiner praktizierten Bamberger Form, war dennoch eingeläutet. In der zivilrechtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts war das kanonische Testament allgemein bekannt, wurde bei den Testamentsformen mitaufgeführt, dabei zumindest in Tendenz aber abgelehnt. Seine fehlende gemeinrechtliche und nur höchstens partikularrechtliche Geltung wurden genannt.67 Testament allgemein Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Bd. 34, 1842, S. 180; für Bamberg Spies, Handbuch des Bamberger Provincialrechts, Bd. 1, 1838, S. 2 f. 62 Roth, Testament vor Pfarrer und zwei Zeugen, Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht mit besonderer Rücksicht auf Bayern 1 (1874), S. 208 (230 ff.); Zink, Kommentar zum Notariatsgesetz, 1862, S. 239; Becher, Das rechtsrheinisch-bayerische Landescivilrecht und Landescivilproceßrecht, Bd. 2, 1896, S. 1185. 63 Pfeilschifter, Das Bamberger Landrecht in systematischer Darstellung, 1898, S. 157 f., dabei unterstellt er fälschlich Becher die „Anschauung, das Pfarrertestament habe zwar früher als öffentliches Testament Geltung gehabt, gelte jetzt aber nurmehr als Privattestament“. 64 Zink, Kommentar zum Notariatsgesetz, 1862, S. 135 f. 65 Blätter für Rechtsanwendung Bd. 41 (N. F. 21, 1876), S. 64. 66 Blätter für Rechtsanwendung Bd. 42 (N. F. 22, 1877), S. 394. 67 Roth, Bayrisches Civilrecht, 1875, § 301 Fn. 15 u. 22; Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Bd. 34, 1842, S. 185 f.; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 3, 5. Aufl. 1879, § 540; Puchta, Pandekten, 4. Aufl. 1848, § 470; Vering, Geschichte und Pandekten des römischen und heutigen gemeinen Privatrechts, 5. Aufl. 1887, S. 767; Thibaut,

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4. Fälle partikularrechtlicher Selbstabschaffung Die Besorgnis einer Einflussnahme bei einer Testamentserrichtung vor einem Priester war auch historisch schon gegeben. Praktizierte man das testamentum coram parocho et duobus testibus im Bamberger Landrecht zwar bis zum Inkrafttreten des BGB 1900,68 so enthielt es die gerne nur so verkürzt zitierte Bestimmung, der Pfarrer solle „den Willen des Testators nicht über Gebühr beeinflussen“.69 Gravierendere Missstände manipulativ herbeigeführter last-minute-Testamente schilderte die Präambel einer Verordnung des Fürstentums Schwarzenberg vom 13. Mai 1771, die Testamente vor Geistlichen untersagte, in barocker Breite und geißelte klerikale Überredung und „interessirtes Einblasen“: „Man habe zeithero misfällig wahrnehmen müssen, welchergestalten ein und andere Geistliche die zur Abreise in die Ewigkeit sich anschickende vermögliche Leute, welche ihre letzte Willensmeinung mit allen dazu erforderlichen Solennitäten bey ihren noch gehabten Leibeskräften errichtet und darinnen auf ihre nächste arme Blutsfreunde, wozu sie das natürliche Recht und Billigkeit anweiset, den starken bedacht genommen haben, durch allerhand eitle und scheinheilige Vorbildung der ohnausbleiblich ewigen Glückseligkeit, wenn selbe einen grossen Teil ihres Vermögens denen armen Kirchen oder sonstigen milden Stiftungen verschaffen würden, also zu beängstigen und zu bereden suchen, dass diese ohnedem schwächliche Menschen alsogleich andere Gedanken schöpfen und das um Besten ihrer armen Anverwandten ausgefallene, und mit allen Solennitäten versehen gewesene schriftliche Testament abändern, und auf sothanes Anraten des Geistlichen in dessen Gegenwart, dann Zuziehung deren Kirchendienern als Zeugen ein so betiteltes nuncupativisches Testament verfertigen lassen (…) Gestalten nun derley Anfangs zum Wohlwollen des TestatorisAnverwandten verfertigt – nachher aber auf Zureden und ungestümmes Anhalten derer Geistlichen und in derselben Gegenwart mit Zuziehung zweyer Zeugen zu Faveur derer armen Kirchen, Klöstern oder sonstig milden Stiftungen umgeändert wordene letzte Willensmeinung für gar kein Gott gefälliges Werk anzusehen seyn, zumalen die Testirer ohne dergleichen Uiberredung oder interessirtes Einblasen, welchen oft solche einfältige Leute zu widerstehen das Herz nicht haben, oder gar für sündhaft halten, gewiß das erste zu Gunsten ihrer Befreunde errichtete Testament nicht abgeändert haben würden“70

Doch selbst ein geistliches Territorium zog die Notbremse, wenn klerikale Einmischung zu sehr zu „Confusion, stritt und Irrung“ führten. Eine Anordnung vom 28. Juli 1742 im Hochstift Eichstätt – damit sei zugleich an die erste Berufung des System des Gemeinen deutschen Privatrechts, Bd. 2, 1834, § 831; Mittermaier, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts, Bd. 2, 7. Aufl. 1847, § 461; Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts, Bd. 2, 1853, S. 541 f.; Stobbe, Handbuch des Deutschen Privatrechts, Bd. 5, 1885, S. 209, 212 u. 229. 68 Für die praktische Relevanz vergleiche etwa die Beiträge, in: Häberlein (Hrsg.), Testamente bamberger Frauen des 16. und 17. Jahrhunderts, 2018. 69 So etwa bei Pfeilschifter, Das Bamberger Landrecht in systematischer Darstellung, 1898, S. 160. Unter Zitation auch der Entscheidung Blätter für die Rechtsanwendung Bd. 42 (N. F. 22, 1877), S. 394. 70 Arnold, Beiträge zum teutschen Privatrechte, Bd. 1, 1840, S. 731 ff.

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Jubilars an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt erinnert – zeigt, dass Geistliche das Heft gleich selbst in die Hand nahmen: „Es ist eine durch die bisherige öftere erfahrnus sattsamb comprobirte sache, daß die Pfarrer und Geistliche alhier und auf dem land sich ohnbefugter Dingen unterzogen haben, denen Bürgern und Unterthanen ihre auch ad causas civiles errichtende letztwillige Dispositiones zu verfassen: Gleichwie nun aber durch derley gemeiniglich mit villen Defecten verfaßte Testameta nichts als Confusion, stritt und Irrung entstehen, mithin die nothwendigkeit allerdings erheischet, daß diesem unfugniß künfftig mit nachdruck vorgebogen werdte, als wirdt Euch hiermit aufgetragen, umb denen Burgeren und unterthanen die publication zu thun, und selbige dahin anzuweisen, daß sie ihre ad causas civiles errichtende letztwillige Dispositiones durch die Pfarrer und Geistliche alhier und auf dem landt nicht mehr verfassen lassen sollen, massen auf dergleichen Testamenta in Zukunft nicht mehr reflectirt, sondern selbige jederzeit vor null und nichtig umb so mehr erklähret werden, als solche annullation den in hac materia testamentaria allgemein recipirten Civilrecht ohnehin conform ist.“71

Mit dieser Unsitte hing die kanonische Testamentsform allerdings nicht zusammen, diese galt im eichstättischen Gebiet nicht.72

IV. BGB Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war weder das Deutsche Reich rein säkular (schon wegen des unverbrüchlich postulierten Gottesgnadentums des Kaisers), noch waren es notwendig seine Bundesstaaten. Der Konfessionalismus war ohne weiteres noch ein prägendes Element der Staatsauffassungen und die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche eines der großen Themen schon in der Paulskirche und einer der Gründe dafür, dass etwa im Königreich Bayern tiefe Gräben zwischen Krone, Kirche(n) und katholischen Ultramontanisten aufrissen. Ein neutraler Blick auf das kanonische Testament und seine Validität auch im Zivilrecht scheint gelegentlich durchaus schwierig gewesen zu sein, wofür die Invektive bei Friedrich Ludwig von Keller (1799 – 1860)73 stehen soll. Keller wetterte in seiner Pandektenvorlesung gegen die canonischen Formen, neben dem testamentum coram parocho auch die letztwillige Verfügung ad pias causas, die vor zwei oder drei Zeugen oder gar handschriftlich zulässig sei: „Die ganze Bestimmung weicht aber von allen anderen anomalen Testamentsformen dadurch ab, dass sie nicht irgend einem eigenthümlichen Bedürfniss des Testators entgegen kommt, sondern alle Formen und die dadurch beabsichtigte Garantie für die Echtheit und Freiheit des letzten Willens des Testators, also dessen Interesse preis gibt, um der Kirche desto leichter Bereicherung aus letzten Willen zuzuwenden. Die ganze Bestimmung ist also nichts als eine der vielen Aeusserungen der Habsucht des Römischen Clerus, und ver-

71

Arnold, Beiträge zum teutschen Privatrechte, Bd. 1, 1840, S. 360. Arnold, Beiträge zum teutschen Privatrechte, Bd. 1, 1840, S. 360 Fn. 2. 73 Zu Keller vgl. Bluntschli, in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 15, 1882, S. 570. 72

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dient daher eher durch die sittliche Ansicht der neueren Zeit verworfen, als irgendwie ausgedehnt zu werden.“74

Die Entscheidung gegen die Aufnahme des kanonischen Testaments als weitere ordentliche Testierform (oder auch nur als eine Art Nottestament) im BGB fiel dann schon früh und ausdrücklich. Gottfried von Schmitt, alleiniger Redaktor des Erbrechts, bayerischer Ministerialbeamter und später Mitglied der 1. Kommission, vollendete 1879 seinen Vorentwurf.75 Er sah als einzige ordentliche Form der Testamentserrichtung in § 168 diejenige vor einem Richter oder Notar als verhandelndem Urkundsbeamten vor. Die Form der Erklärung des letzten Willens vor dem Pfarrer und zwei Zeugen habe weder gemeinrechtliche Geltung noch Geltung in modernen Gesetzgebungen erlangt, sondern sei nur vereinzelt in älteren Statuten zu finden. Er nennt dabei ebenso das Bamberger Landrecht wie die durchaus strittige Abschaffung durch das bayerische Notariatsgesetz von 1861, bevor er schließt: „Die Form hat an sich und um ihres geringen Geltungsgebietes willen keinen Anspruch auf Erhaltung.“76, was auch in den Motiven zum BGB noch einmal aufscheint.77 An unerwarteter Stelle, nämlich beim Eheschließungsrecht in den Protokollen zum Familienrecht, wo die Trennung von Staat und Kirche besonders deutlich wurde, zeigt sich jedoch plötzlich tiefes Misstrauen als ganz anderer und wie der eigentlich entscheidende Grund für die Verwerfung des Testaments vor dem Priester. Dort wird eine kirchliche Nottrauung mit bürgerlichrechtlicher Wirkung bei lebensgefährlicher Erkrankung abgelehnt. Kurz vor dem Tode eines der Eheschließenden „sei regelmäßig anzunehmen, daß die Willensfreiheit, wenn auch nicht ganz aufgehoben, so doch erheblich abgeschwächt und durch die Möglichkeit einer Beeinflussung in Frage gestellt sei. Ähnliche Gründe wie die, welche zur Beseitigung des testamentum coram parocho geführt hätten, sprächen auch gegen die Zulassung der kirchlichen Nottrauung.“78 Das kanonische Testament wird mit der Kodifikation des BGB als Testamentsform in Deutschland endgültig abgeschafft und allenfalls noch partikularrechtlich

74 Keller, in: Friedberg, Pandekten. Vorlesungen von D. Friedr. Ludwig von Keller, 1861, § 504. 75 Zum Vorentwurf und zur Person Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren zum BGB für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. 5.1, 1984, S. XI ff. 76 Schmitt, Begründung des Entwurfes eines Rechtes der Erbfolge für das Deutsche Reich, 1879, S. 404 f. 77 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. 5, 1896, S. 259 (= Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 5, 1899, S. 136): „Ein Bedürfnis, diese Form zuzulassen, kann um so weniger behauptet werden, als deren Geltungsgebiet nur ein beschränktes ist“. 78 Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Bd. 4, 1897, S. 41 f. (= Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 4, 1899, S. 702).

Priesteranwesenheit bei Testamentserrichtung

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als Auslaufmodell gem. Art. 214 Abs. 1 EGBGB toleriert.79 Erwähnt wird es überhaupt entsprechend höchstens noch als historische Form.80

V. Schluss Die Trias von Testamentsform, Testierfreiheit und Anwesenheit von Geistlichen zeigt sich historisch als Spannungsfeld durchaus wechselhafter Lösungen. Das mittelalterliche kanonische Recht ermöglichte Formerleichterungen gerade für eine vereinfachte Errichtung und damit Realisierbarkeit des Erblasserwillens. Die Anwesenheit eines Priesters bei Testamentserrichtung wurde in anderen Kontexten hingegen mit ausgeprägtem Misstrauen unter den Generalverdacht der Gefährdung der Testierfreiheit gestellt, ein Moment, das selbst von Rechten, die das kanonische Testament auch zivilrechtlich anerkannten, gar nicht geleugnet, aber zu regulieren versucht wurde. Einmal mehr scheint sich damit das Diktum Rudolf von Jherings über den Schutz der Freiheit des materiellen Willens durch Gebundenheit der Form zu bestätigen: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält dem Versucher, der die Freiheit zur Zügellosigkeit zu verleiten sucht, das Gegengewicht“.81 Der Blick in die Entscheidungen des Kammergerichts von 1999 und des Bundesgerichtshofs von 1956 ergibt allerdings, dass in beiden Fällen das dräuende Szenario von Hölle oder Verfluchung nicht in letztwilligen Verfügungen als Ausbund entgleister Privatschriftlichkeit aufscheinen, sondern jeweils notarielle Testamente errichtet wurden. Bemerkenswert erscheint beim kanonischen Testament und seinen zivilrechtlichen Epiwellen nicht zuletzt, dass die Anwesenheit des Priesters erst die Lösung eines Problems bildete (nämlich als Teil der formellen Voraussetzungen für eine Testamentserrichtung), doch zunehmend selbst Auslöser eines anderen Problems wurde, nämlich ihrer Wahrnehmung als situativstrukturelle Gefährdung für die Testierfreiheit.

79 „Die vor dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs erfolgte Errichtung oder Aufhebung einer Verfügung von Todes wegen wird nach den bisherigen Gesetzen beurtheilt, auch wenn der Erblasser nach dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs stirbt“. Hierzu s. a. Sauer, Testamente und Erbverträge in Bayern, 1903, § 3 Nr. 1. 80 Etwa noch bei Kipp, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 5, Das Erbrecht, 1930, S. 40. 81 Jhering, Geist des Römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 2.2, 3. Aufl. 1875, S. 471. Zum Zitat s. a. Meyer-Pritzl, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd.1, 2003, § 125 – 129 Rn. 3.

Notare als Rückgrat der Justiz im kommunalen Italien (12. – 15. Jh.) Von Susanne Lepsius

I. Einführung Notare genießen im heutigen Italien eine deutlich höhere gesellschaftliche Wahrnehmung und prägen das städtische Leben wesentlich mehr als ihre deutschen oder gar ihre bayerischen Amtskollegen. Diese Ausgangsbeobachtung lässt sich etwa anhand der Häufigkeit des Auftretens von Notaren in der italienischen Oper,1 aber auch anhand der zahlenmäßigen Dichte der „botteghe di notaio“, die man selbst in italienischen Kleinstädten allenthalben verwundert entdecken kann, belegen. Bei einem Italienaufenthalt Ende der 1990er Jahre nahm die Autorin verblüfft zur Kenntnis, dass man selbst für einen Gebrauchtwagenkauf von privat zu privat „zum Notar ging“, um den Kauf zu besiegeln. Eine derartig selbstverständliche, alltagsprägende Rolle des Notariats lässt sich auf tiefgreifende lange historische Wurzeln zurückführen, denen im Folgenden nachgespürt werden soll. Notare als spezialisierte Rechtsexperten und ihre Notariatsurkunden sind für Italien seit dem späten 11. Jahrhundert belegt. Gerade im bayerischen Raum und in bayerischen Archiven haben sich für das 13., dann aber vor allem aus dem 14. Jahrhundert Urkunden italienischer Notare erhalten, die in Italien ausgefertigt wurden.2 Geistliche und weltliche Herren in Bayern dürften vor allem auf den Rom- und Italienzügen der römisch-deutschen Könige und Kaiser in Berührung mit dem in Italien bereits früh erblühten öffentlichen Notariatswesen gekommen sein. Seit dem 15. Jahrhundert sind in Bayern dann italienische und zunehmend natürlich auch ein1 Von den, meist dem Genre der opera buffa angehörenden, Opern seien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – genannt: Donizettis L’elisir d’amore sowie seinen Don Pasquale bis hin zu Puccinis Gianni Schicchi. 2 Beispielsweise die Urkunde des Thomaxinus quondam Petricoli Armanini de Bononia, ausgefertigt im Jahr 1289 in Rieti, die heute im Staatsarchiv Würzburg erhalten ist, vgl. Kern, Notare und Notarssignete. Vom Mittelalter bis zum Jahr 1600 aus den Beständen der staatlichen Archive Bayerns, 2008, 2012, no. 21; eine Urkunde des Notars Brunus quondam ser Boni notarius de Florentia, ausgestellt 1289 in Rom, heute ebenfalls im Staatsarchiv Würzburg, ibid. no. 34; des Notars Symbaldus filius olim Dandini de Certaldo, ausgestellt 1307 in Florenz, heute im Staatsarchiv Bamberg, ebd. no. 49; und des Lanfranchus Corbi de Luca, iudex ordinarius, ausgestellt 1327 in Mailand, erhalten unter den Hausurkunden des Hauses Wittelsbach, heute Hauptstaatsarchiv München, ebd. no. 90.

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heimische Notare nachweisbar, die vor Ort beurkundeten.3 Die frühere These, dass das gelehrte, öffentliche Notariat aus Frankreich über die rheinischen Städte4 zwischen ca. 1230 bis 1380 bis ins östlich gelegene Bayern vordrang, dürfte folglich zumindest zu relativieren sein. In Italien ernannten die ober- und mittelitalienischen Städte die Notare selbst. Ihre Urkunden genossen dann im jeweiligen Stadtstaat und seinem Umland öffentlichen Glauben.5 Sehr früh sind für Genua aus dem 12. Jahrhundert tabelliones nachweisbar, deren Beurkundungstätigkeit auch Rechtsgeschäfte im Seehandel zwischen den genuesischen Seehandelskolonien am Schwarzen Meer und der Mutterstadt Genua umfasste.6 Daneben wurden Notare aber auch von Kaiser und Papst, den beiden Universalmächten des Mittelalters, ernannt. Die Urkunden dieser Notare genossen öffentlichen Glauben überall in der lateinischen Christenheit und waren damit nicht an die örtliche fides publica einer tadellosen Amtsführung radiziert. Die Konstituierung des öffentlichen Glaubens notarieller Urkunden stützte sich also damit entweder auf die Ernennung durch die höchsten politischen Instanzen7 oder wurde von der wechselseitigen Sozial- und berufsständischen Kontrolle der zünftisch in collegia iudicum et notariorum organisierten Notare8 abgeleitet. Diese beiden Legitimationsstränge zogen sich in den oberitalienischen Städten als gleichberechtigte Faktoren durch die Zeiten. Eine starke Reglementierung, vor allem mittels zahlenmäßiger Obergren3

Vgl. etwa Abbildungen no. 68 (Notar Waltherus Friedberg, der 1321 in Würzburg urkundete), no. 72 (Notar Eberhardus de Zymmern dictus de Aschaffenburg, der 1323, meist in Würzburg tätig war) oder auch no. 124 (Notar Heinricus quondam Heinrici dicti Strul de Ostheim, der 1336 und 1343 in Passau Urkunden ausfertigte), im Bd. 1 von Kern, Notare und Notarssignete. Vom Mittelalter bis zum Jahr 1600 aus den Beständen der staatlichen Archive Bayerns, 2008. 4 Hierfür maßgeblich, weil er den südwestdeutschen, französisch geprägten Raum erforschte: Schuler, Geschichte des südwestdeutschen Notariats: von seinen Anfängen bis zur Reichsnotariatsordnung von 1512, 1976; Schuler, Südwestdeutsche Notarszeichen: mit einer Einleitung über die Geschichte des deutschen Notarszeichens, 1976. 5 Costamagna, Art. Notar, Notariat. E. Italien II. Mittel- und Norditalien, in: Angermann, Lexikon des Mittelalters 6, 1993, Sp. 1278 f. 6 Zu nennen ist hier vor allem der Notar Giovanni Scriba aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, s. Il cartolare di Giovanni Scriba, ed. Chiaudano/Moresco, 1935. Zum Notariat in Genua einschließlich der denkbaren Karrierewege bis zum Kanzler der Seerepublik, auch: Petti Balbi, in: Il notaio e la città. Essere notaio: i tempi e i luoghi (secc. XII – XV). Atti del Convegno di studi storici, Genova, 9 – 10 novembre 2007, 2009, S. 3 – 40. 7 Zur wissenschaftlichen Theorie der gelehrten Juristen des öffentlichen Glaubens, s. nach wie vor grundlegend: Montorzi, Fides in rem publicam. Ambiguità e tecniche del diritto comune, 1985; Wolf, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter (1100 – 1500): die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, 1973, S. 505 – 514. 8 Anhand der archivalischen Überlieferung intensiv bearbeitet von Schulte, Scripturae publicae creditur. Das Vertrauen in Notariatsurkunden im kommunalen Italien des 12. und 13. Jahrhunderts, 2003; Schulte, in: Transforming the Medieval World. Uses of Pragmatic Literacy in the Middle Ages A CD-ROM and Book, 2006, S. 197 – 237.

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zen der in einzelnen Städten zugelassenen Notare, strebte dagegen Friedrich II. für das Königreich Sizilien in den Konstitutionen von Melfi an.9 Sogar in der politischen Theorie des 14. Jahrhunderts wurde die Befugnis, Notare, deren Urkunden universale Anerkennung genossen, zu ernennen, als spezielle Kompetenz hervorgehoben, die erst dem gesalbten Kaiser zukam, so etwa von Lupold von Bebenburg, einem einflussreichen, viel zitierten Theoretiker des 14. Jahrhunderts (um 1297 – 1363).10 In der Zeit, in der Lupold schrieb, ging es ausschließlich um italienische Notare, denen dadurch das zusätzliche Prädikat „notarius/tabellio ab imperiali auctoritate“ verliehen wurde. Die Geschichte des italienischen Notariats wird seit langem intensiv erforscht. Dabei pflegt sowohl die Bedeutung der Notare bei der Wiederentdeckung des römischen Rechts um die Wende zum 12. Jahrhundert, das sie schon früh in ihren Urkundenformularen inhaltlich voraussetzten,11 als auch die Rolle der Notare als Vordenker der und als politische Akteure in den selbstbewussten italienischen Stadtrepubliken hervorgehoben zu werden.12 Als prominente Beispiele sind hier Giovanni Boccaccio oder Coluccio Salutati zu nennen, die selbst als Notare praktizierten. Man mag auch daran erinnern, dass Francesco Petrarca der Sohn eines Notars war. Die meisten Studien zur Geschichte der Notare betonen zurecht die kautelarjuristische Tätigkeit seit dem Mittelalter. Sie gehen damit von der modernen Berufspraxis der Notare aus. Auch das mittelalterliche, gelehrte Spezialschrifttum für Notare, das seit dem Mittelalter vor allem in Bologna entstand – so die „Ars notariae“ des Rainerius Perusinus, des Rolandinus de Passegeriis oder des Petrus de Unzola – enthielt in seinem überwiegenden Teil Formulare für private Verträge, von Kaufverträgen über Emphyteuseabreden bis zu Testamenten, aber auch zu Darlehen, Gesellschaftsverträgen usw.13 Diese Schriftstücke erhielten den gewünschten öffentlichen Glau9

Magistrale, Art. Notar, Notariat. E. Italien I. Süditalien, in: Angermann, Lexikon des Mittelalters 6, 1993, Sp. 11276 f. 10 Lupold von Bebenburg, De iuribus regni et imperii/Über die Rechte von Kaiser und Reich, ed. und übers. v. Miethke/Sauter, 2005, S. 116. 11 Vgl. Condorelli, in: Honos alit artes. Studi per il settantesimo compleanno di Mario Ascheri, vol. 3, 2014, S. 191 – 199 (192 f.); Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 105 – 107. 12 Bartoli Langeli, in: Federico II e le città italiane, 1994, S. 264 – 277; Bartoli Langeli, Notai. Scrivere documenti nell’Italia medievale, 2006, S. 13 – 16. Pini, in: Rolandino e l’ars notaria da Bologna all’Europa, 2002, S. 1 – 20. 13 Die vier Urtypen von Notarurkunden, die von Privatleuten angefragt und von Notaren ausgefertigt wurden, waren Kauf/Verkauf, Emphyteuseverträge – also langjährige Landpachtverträge –, Schenkung und Testament, vgl. Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 61. Meyer, ebd., S. 311 – 319 nennt auch einige „sonderbare“ Beispiele, was sich Privatleute von Notaren attestieren ließen. Dies konnte vom freiwilligen Verzicht, weiterhin sich dem Glücksspiel hinzugeben, über eine Erklärung des Bruders eines Spielsüchtigen, für diesen nicht haften zu wollen bis hin zu Müttern von Neugeborenen, die erklärten, das soeben geborene Kind sei ehelich, reichen. Anerkennung von neugeborenen Kindern ihrer Geliebten seitens der Väter mögen gegen die christliche Moralauffassung verstoßen haben, finden sich aber ebenso wie notarielle Zertifikate, jemand

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ben dadurch, dass sie von öffentlichen Notaren in den vorgesehenen Formen ausgefertigt waren. Allerdings übten die mittelalterlichen Notare auch zentrale Aufgaben in der Administration der zahlreichen städtischen Gerichte aus. Auf Antrag der Parteien fertigten sie als Gerichtsschreiber Auszüge aus den Prozessakten, sie erstellten die Gerichtsregister und protokollierten im Auftrag der Gerichte die wichtigsten Verfahrensschritte. Dadurch waren die Notare das unverzichtbare Rückgrat der Justizadministration der italienischen Stadtrepubliken. Diese besondere, oft unbeachtet gebliebene, öffentliche Funktion des Notariats als Teil einer aufblühenden Justizbürokratie möchte ich im Folgenden näher beleuchten.

II. Gesellschaftliche Stellung und normative Anforderungen an Notare Die italienischen Notare des Mittelalters mussten nicht Jurisprudenz an einer der italienischen Universitäten studiert haben, sondern vor allem Rechtskenntnisse im Hinblick auf die Abfassung ihrer Urkunden nachweisen. Sie mussten aktiv wie passiv Latein beherrschen, sich also in der Grammatik und der ars dictaminis auskennen, und bald auch eine Prüfung vor dem Podestà, vor einem Richter oder den in allen Städten entstehenden Notarkollegien14 ablegen. Wenn sie von kaiserlichen Pfalzgrafen bestallt worden waren, legten sie auch einen detaillierten Amtseid auf den Kaiser ab, der an lehensrechtliche Formen erinnert.15 Soweit die Ernennung von Notaren in mittelalterlichen Quellen erwähnt wird, weist sie mit der Verleihung von Feder, Tintenfass und Pergament ebenfalls Züge einer Investiturzeremonie auf.16 In Bologna wurde schon im Jahr 1219 eine Notarmatrikel angelegt, in der sich die aktiven Notare registrieren lassen konnten und in der dann allmählich alle geprüften Notare verzeichnet wurden. Gerade in der Bologneser Matrikel erstaunt die große Zahl gleichzeitig registrierter Notare, die sich markant von den Zahlen in anderen oberitalienischen dokumentierten Notaren abhebt: So sind für das Jahr 1221 450 aktive Notare verzeichnet, für das Jahr 1283 werden in der neu gegründeten Notargesellschaft 1059 Notare gelistet und im Jahr 1326 werden 2299 Personen überliefert, sei nicht (mehr) an der Lepra erkrankt – in gewisser Weise also Vorläufer der in den heutigen Corona-Zeiten wieder diskutierten Impfpässe, mit denen ja auch virologische Unbedenklichkeit attestiert werden soll, um handfeste Erleichterungen im täglichen Leben zu erlangen. Die meisten dieser Beispiele weisen jedoch einen eindeutigen juristischen Hintergrund auf und sind deshalb als weniger kurios zu bewerten, als Meyer dies tut. 14 Forschungsüberblick über die Notarkollegien und ihre Statuten bei Tanzini, in: Social Mobility in Medieval Italy (1100 – 1500), 2018, S. 373 – 389 (379 – 381). Zum bedeutenden Bologneser Notariatskollegium vgl. Tamba, La società dei notai di Bologna, 1988. 15 Meyer, Felix et inclitus notarius. Studien zum italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 63. 16 Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 65 f.

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die allein in diesem Jahr die Notarprüfung bestanden haben. Diese ungewöhnlich hohen Zahlen der matrikulierten Notare dürften jedoch zu relativieren sein, weil nicht alle diese Personen tatsächlich in Bologna und seinem Umland praktizierten.17 Bologna war nicht nur für das Studium der Jurisprudenz im 13. Jahrhundert die Ausbildungsstätte schlechthin, sondern auch eine überregional attraktive Stadt, um dort eine gründliche Notarausbildung zu erhalten, so dass sich dortige Absolventen zunächst dort immatrikulierten, um anschließend die Berufspraxis in ihren Heimatund Herkunftsorten aufzunehmen. Schließlich waren ausschließlich in Bologna als Dozenten der Notarkunst die „großen Vier“ tätig, deren Lehrbücher und Formelsammlungen weite Verbreitung fanden, nämlich Rainerius de Perugia,18 Salatiele19 und sein Rivale, Rolandinus Passagerii, dessen Texte sich rasch europaweit durchsetzten,20 schließlich Petrus de Unzola, der sogar als doctor notarie bezeichnet wurde.21 Bologneser Notarsabsolventen könnten auch in Gegenden südlich des Apennin tätig geworden sein. 1. Gerichtsnotare in Lucca Als Beispiel greife ich auf die Praxis in Lucca zurück, wo sich ein reichhaltiger und aussagekräftiger Quellenbestand erhalten hat. So sahen etwa die ältesten erhaltenen Luccheser Stadtstatuten von 1308 vor, dass in der Stadt als Notar nur praktizieren konnte, wer mindestens fünf Jahre die Grammatik studiert hatte und wenigstens 18 Jahre alt war.22 Da die städtischen Statutengeber in Lucca sich noch im

17 Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 321 – 323. 18 Er setzte sich u. a. für die erste Notarsmatrikel in Bologna im Jahr 1219 ein und legte das erste Register aller Privilegien (libro grosso) an, die Bologna erhalten hatte, Weimar, Art. Rainerus (s. a. Raynerius) Perusinus, in: Angermann, Lexikon des Mittelalters 7, 1999, Sp. 420 f.; Birocchi, Art. Ranieri (Rainerio) da Perugia (1185ca-Bologna, post 1253), in: Birocchi et al., Dizionario biografico dei giuristi italiani (XII – XX secolo) 2, 2013, Sp. 1654 f. 19 Als Schüler des Odofredus setzte er sich für eine an der Jurisprudenz orientierte Notarausbildung ein und überzog die sonstigen Notarschulen mit Hohn, in der nur ohne Verstand Formeln auswendig gelernt würden, vgl. Birocchi, Art. Salatiele (1210/20 – 1280 ca.), in: Birocchi et al., Dizionario biografico dei giuristi italiani (XII – XX secolo) 2, 2013, Sp. 1769 – 1771; Weimar, Art. Salathiel, in: Angermann, Lexikon des Mittelalters 7, 1999, Sp. 1286. 20 Weimar, Art. R. (Rodulphini) Passagerii, in: Angermann, Lexikon des Mittelalters 7, 1999, Sp. 959; Birocchi, Art. Rolandino Passegerii (Passaggeri) (Bologna, 1215 ca. – ottobre 1300), in: Birocchi et al., Dizionario biografico dei giuristi italiani (XII – XX secolo) 2, 2013, Sp. 1717 – 1720. Zur intensiven handschriftlichen Verbreitung der Handschriften von Rolandinus’ Ars notarie bereits im Mittelalter in Deutschland: Dolezalek, in: Rolandino e l’ars notaria da Bologna all’Europa, 2002, S. 739 – 757. 21 Tamba, Art. Pietro d’Anzola (1257/59 – 1312), in: Birocchi et al., Dizionario biografico dei giuristi italiani (XII – XX secolo) 2, 2013, Sp. 1580 f. 22 Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 67.

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Jahr 1331 intensiv bemühten, magistri artis grammaticae anzuwerben,23 mussten die Luccheser Notariatsaspiranten wohl lange Zeit außerhalb Luccas ausgebildet werden. Die Statuten von 1372 lobten dann ein Jahresstipendium von fünf Goldfloren aus dem kommunalen Haushalt für alle Luccheser Bürger und Einwohner der Stadt wie des Umlandes aus, die andernorts die Grammatik, die Rhetorik, Philosophie oder die Notarkunst studierten.24 Die offizielle Begründung für die Förderung des Studiums von Landeskindern lautete, das Gemeinwesen werde sich verbessern, wenn man klugen Männern folge: „cum prudentum virorum obsequio res publica augeatur“. Für die Bekleidung einer Notariatstätigkeit an einem der städtischen Ämter und Gerichte war ein erhöhtes Mindestalter von 20 Jahren vorgeschrieben, sowie eine zweijährige Berufstätigkeit als Notar.25 Damit lag Lucca ganz auf der Linie norditalienischer und lombardischer Stadtstaaten, die ebenfalls ein höheres Lebensalter bzw. Berufserfahrung voraussetzten, bevor man in kommunalen Diensten Urkunden ausfertigen und Gerichtsregister anfertigen durfte.26 Besonders anspruchsvoll war das Protokollieren von Zeugenaussagen, nicht nur in sprachlich-dialektaler Hinsicht. Daher war beispielsweise in Lucca das Mindestalter, um als notarius testium für ein Gericht fungieren zu dürfen, sogar 25 Jahre.27 Möglicherweise eine Luccheser Besonderheit war es dagegen, dass alle in den städtischen Büchern und Registern aufgezeichneten Rechtsakte Vorrang vor allen anderen, also auch privaten Urkundenausfertigungen der Notare, genießen sollten, wie die Statuten von 1331 festhielten.28 Der öffentliche Glaube von besonders wichtigen Rechtsakten wurde also dadurch abgesichert, dass zusätzlich die Register und Zettel ehemaliger Richter und Notare ebenso wie deren private Imbreviaturbücher an das Stadtarchiv abzugeben waren, um sie dort dauerhaft aufzubewahren – wo viele noch heute erhalten sind. Die camera Lucane civitatis sollte – wahrscheinlich gerade in Reaktion auf den als äußerst 23 Statuto del Comune di Lucca dell’anno 1331, ed. Tori, 2017, l. 3 c. 33, S. 185: Lehrer in der Grammatik, die von außerhalb kamen und sich in Lucca niederließen, sollten Steuerfreiheit genießen und die Stadtregierung ihnen eine Wohnung besorgen. Tirelli, in: Il notariato nella civiltà Toscana. Atti di un convegno (maggio 1981), 1985, S. 241 – 309 (273 Fn. 54): zu einigen Luccheser Notariatsaspiranten, die in Bologna studierten. 24 ASL, Statuti 6, l. 3 c. 90, fol. 70v. Bemerkenswerterweise gingen die Statutengeber davon aus, dass man im Jahr 1372 an einem studum generale die Notarskunst studieren konnte. Wer dagegen kanonisches oder römisches Recht oder Medizin an einem studium generale studieren wollte, sollte den doppelten Lebenhaltungszuschuss (10 florini d’oro) erhalten für eine Gesamtstudiendauer bis sechs Jahren, ebd. 25 Statuto del Comune di Lucca dell’anno 1331, ed. Tori, 2017, l. 3 c. 31, S. 183 f. 26 Torelli, Studi e ricerche di diplomatica comunale, 1980, S. 129 – 133. 27 Gerade die aus einer anderen italienischen Region kommenden Notare hatten oft Probleme, den Dialekt der Einheimischen zu verstehen und deren Aussagen anschließend in der lateinischen Gerichtssprache zu protokollieren, vgl. Boschetto, in: Textual Cultures of Medieval Italy, 2011, S. 217 – 262. Zum Mindestalter von 25 Jahren für Notare, die Zeugenaussagen protokollieren sollten s. Lepsius, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, 2006, S. 189 – 269 (198 Fn. 27). 28 Statuto del Comune di Lucca dell’anno 1331, ed. Tori, 2017, l. 5 c. 14 f., S. 260.

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schmerzlich empfundenen Archivbrand – zum Hort des juristischen Gedächtnisses der Stadt werden,29 zum juristischen Archiv, das allerdings noch nicht als solches bezeichnet wurde. Als städtisches juristisches Archiv, in das auch die Imbreviaturbücher der Notare, also die Register privater Verträge und Urkunden, nach dem Tod eines Notars aufgenommen werden mussten, wurde es dann ab 1448 bezeichnet. Gerade der Republik Lucca war es nach wiedergewonnener Freiheit nach dem Ende der dreißigjährigen Signorie des Paolo Guinigi besonders wichtig, alle Schriftstücke mit öffentlichem Glauben unabhängig von ihrer Entstehung an einem Gericht oder als Geschäftsaufzeichnungen von Notaren, von Amts wegen zu sammeln und aufzubewahren.30 Das Archiv als sicherer Aufbewahrungsort sollte dadurch institutionell unabhängig von einem Signore werden und ebenso umfassend wie zuverlässig sämtliche rechtserheblichen Schriftstücke verwahren. 2. Richter und Notare: Funktionen und soziale Stellung Im 13. Jahrhundert scheint z. T. noch keine ganz klare Unterscheidung der Aufgaben von Richtern (iudices) und Notaren erfolgt zu sein. Es finden sich bisweilen einzelne Notare, die als „notarius et iudex“ bezeichnet werden. Der Zusatz als iudex brachte dabei die zusätzliche Berechtigung zum Ausdruck, nicht nur private Verträge zu beurkunden, sondern auch statusändernde Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit vorzunehmen, also vor allem Emanzipationen minderjähriger Haussöhne, Freilassung von Sklaven (manumissiones), Adoptionen und generell rechtskräftige Verfügungen (interpositiones decretorum).31 Soweit es um die Besetzung der Gerichte in der Stadt Lucca und in ihrem Umland ging, waren die Funktionen, aber auch die soziale Distinktion zwischen Richter und Notar klar geschieden,32 wie meine Forschungen am Beispiel der Luccheser Gerichtsüberlieferung erkennen lassen. Anhand der seit dem letzten großen Archivbrand von 1329, bei dem tragischerweise vor allem auch die privaten Mitgiftverträge 29

Vgl. generell zu den ausgefeilten präventiven wie repressiven Maßnahmen, um diese Archivfunktion der städtischen camera für das juristische private wie öffentliche Geschäftsschriftgut seit dem 14. Jh. in Lucca abzusichern Lepsius, Archiv für Mediengeschichte 16 (2016), S. 15 – 28 (18 f.), Lepsius, in: Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter, 2008, S. 389 – 475 (426 – 436). 30 Tirelli, in: Il notariato nella civiltà Toscana. Atti di un convegno (maggio 1981), 1985, S. 241 – 309 (299 – 303). 31 Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 63 f. 32 Insoweit sind methodische Bedenken gegen die Aussage von Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 331 anzubringen, weil er, meines Erachtens, zu stark allein auf die Titel und zu wenig auf die Rahmenbedingungen der Gerichtsorganisation und der Aufgaben der Notare dabei, abstellt. Allerdings ist Meyer zuzugestehen, dass er selbst meint, die Aufgaben der Notare bei Gericht und in städtischen Diensten seien weitgehend unerforscht, Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 89.

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neben den strafrechtlichen Verurteilungen und Bannbüchern verbrannt waren,33 durchgängig erhaltenen Gerichtsregister der städtischen Gerichte in Lucca lassen sich allein am Gericht des Appellations- und Syndikatsrichters drei parallel arbeitende Notare nachweisen. Dabei brachte der stets aus einer mindestens 60 Meilen entfernten Stadt stammende Syndikats- und Appellationsrichter einen weiteren fremden Notar, oft aus seiner eigenen Stadt, mit, der als minor sindicus tätig war. Die für das Anfertigen der Gerichtsprotokolle und -register zuständigen Notare stammten dagegen aus Lucca und seinem Territorium. Sie dürften im kommunalen collegium notariorum et iudicum organisiert und immatrikuliert gewesen sein.34 Aus ihrem Kreis wurden im Prinzip halbjährlich die jeweiligen Notare im städtischen Dienst gewählt, und zwar indem über die Personen für jedes Amt im städtischen Rat in einem ausgeklügelten Verfahren von Wahlmännern einzeln abgestimmt worden war, nicht per Losverfahren.35 Soweit ein Notar in kommunalen Diensten tätig war, musste er bei sechsmonatiger Amtszeit eine Vakanzfrist von einem halben Jahr einhalten, bevor er erneut in kommunalen Diensten protokollieren und Urkunden ausfertigen konnte. Betrug seine Tätigkeit ein ganzes Jahr, sollte auch die Vakanzzeit ein ganzes Jahr dauern.36 Die in Lucca erhaltenen Gerichtsregister des 14. Jahrhunderts verzeichnen sorgfältig die Namen der am Gericht tätigen Personen einschließlich ihrer juristischen Qualifikation. Der aus einer anderen Stadt stammende Appellationsrichter wird dabei stets mit der Ehrenanrede „dominus“ (d.) vor dem Namen und Herkunftsort verzeichnet. Nach seinem Namen wird seine juristische Qualifikation genannt. Beispielhaft genannt seien dominus Victor de Raymondis de Parma iuris utriusque peritus, der 1333 – 1334 als Stellvertreter des Podestà Ubertus tätig war,37 d. Jacobus de 33 Dieser Archivbrand beschäftigte noch im Jahr 1342 die städtischen Ratsgremien. In den Stadtstatuten von 1342 wurde nämlich angeordnet, die anlässlich der politischen Unruhen im Jahr 1314 und beim großen Brand des kommunalen Archivs vom 19. März 1329 verbrannten Urkunden durch öffentlich beglaubigte Abschriften wieder herzustellen, vgl. Archivio di Stato Lucca (ASL), Statuti no. 5 (1342), l. 4 c. 7, S. 148. 34 Zu den collegia iudicum et notariorum als genossenschaftlich-gildeartig organsierten Verbänden der Richter und Notaren in den italienischen Kommunen s. Meyer-Holz, Collegia iudicum: Über die Form sozialer Gruppenbildung durch die gelehrten Berufsjuristen im Oberitalien des späten Mittelalter, mit einem Vergleich zu Collegia doctorum iuris, 1989; Tanzini, in: Social Mobility in Medieval Italy (1100 – 1500), 2018, S. 373 – 389. 35 Statuto del Comune di Lucca dell’anno 1331, ed. Tori, 2017, l. 3 c. 2, S. 150 f. Auch in den lombardischen Städten wurden die Richter und Notare in ähnlicher Weise „ad brevia et pisside“ gewählt, vgl. Torelli, Studi e ricerche di diplomatica comunale, 1980, S. 136 – 138. 36 In den Statuten von 1308 und 1331 war noch pauschal für jedes Amt in städtischen Diensten innerhalb wie außerhalb der Stadt ein ganzes Jahr als Vakanzzeitraum vorgesehen. Notare in der städtischen Kammer sollten sogar zwei Jahre kein städtisches Amt mehr bekleiden, Statuto del Comune di Lucca dell’anno 1331, ed. Tori, 2017, l. 3 c. 4, S. 157 f. Im Jahr 1342 regelten Statuten dann genauer, dass, wer nur ein halbjähriges Amt bekleidet hatte, auch nur für ein halbes Jahr im Anschluss nicht mehr wählbar war, ASL, Statuti, 5 (1342), l. 3 c. 6, S. 113 f. 37 ASL, Sentenze e bandi (SB), 3, S. 3 – 18.

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Burgo de Parma iurisperitus als Appellations- und Syndikatsrichter in den Jahren 1334 – 133538 oder d. Johannes de Bertignollis de Brixia iudex in legibus adprobatus, der im Jahr 1370 – 71 diese Funktion ausübte.39 Der Appellations- und Syndikatsrichter musste nach den Luccheser Stadtstatuten den Grad eines juristischen Doktor oder ein mindestens fünfjähriges Universitätsstudium des römischen Rechts, der leges, absolviert haben, womit dieses Amt die höchsten juristischen Qualifikationsanforderungen im 14. Jh. aufwies.40 Für die sonstigen öffentlichen Richterämter in streitigen Angelegenheiten lassen sich entsprechende Anforderungen erst für das 15. Jahrhundert eindeutig belegen.41 Entsprechend ihrer juristischen Qualifikation werden in den Gerichtsakten – weitgehend ohne Angabe einer Heimatstadt, weil sie Luccheser Bürger waren – auch die einheimischen Richter an den anderen städtischen Gerichten als dominus bezeichnet, also z. B. d. Nicolaus Boccanasocchi,42 sowie d. Bonmensis de Barga, beide Konsuln und Richter am Kaufmannsgericht für geringfügigere Streitwerte, an der curia S. Christofori.43 Auch die Notare erhielten eine Ehren-Anrede. Durchweg werden sie als „ser“ tituliert, während „notarius“ zusätzlich dem Namen nachgestellt wurde, um entweder Besonderheiten der Notarernennung, etwa eine Amtseinsetzung durch den Kaiser, wie es bei s. Transmundus q. Johanucci de Macerata imperiali auctoritate notarius der Fall war, auszudrücken44 (s. auch sein markantes Notariatssignet, das umseitig abgebildet wird Abbildung 1) oder um die Funktion als Gerichtsnotar an einem bestimmten Gericht zu bezeichnen. Als Beispiele hierfür können dienen s. Gherardus s. Ughi, der im Jahr 1330 notarius curie vicarie Camaioris war,45 aber auch s. Johaninus de Selavani notarius imperiali auctoritate, der im Jahr 1334 cancellarius am städtischen Strafgericht, der curia maleficiorum, war und dort wörtlich die bezahlten Geldstrafen „kanzellierte“, also die verurteilten Straftäter aus den städtischen Bannbüchern von Amts wegen strich.46 Visuell kann diese funktionale Trennung beispielsweise anhand einer Abbildung aus den Bologneser Stadtstatuten nachvollzogen wer38

ASL, Maior sindicus et iudex apellationum (MSGA), 61, 11. ASL, SB 43. 40 Zu den Qualifikations- wie persönlichen Anforderungen an den Appellations- und Syndikatsrichter als dem wichtigsten Gericht der Republik Lucca, s. Lepsius, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, 2006, S. 189 – 269 (197 – 199). 41 Tirelli, in: Il notariato nella civiltà Toscana. Atti di un convegno (maggio 1981), 1985, S. 249 zu den Anforderungen gemäß den Statuti e matricole del collegio die giudici e notai von 1434. 42 ASL, MSGA (1329) 9, fol. 38v. 43 ASL, MSGA (1331) 19, p. 99. 44 Er war Notar am Gericht des Appellations- und Syndikatsrichters in der ersten Hälfte des Jahres 1338, im ganzen Jahr 1339, sowie 1342. Damit hielt er offenkundig die vorgesehenen Vakanzzeiten penibel ein. Er ist nachgewisen in ASL, MSGA 56 f., 64 – 69, sowie 72, 74. 45 ASL, MSGA 13, p. 9. 46 ASL, SB 2, p. 128. 39

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den, die Richter und Notare diesseits der Gerichtsschranke gegenüber den Parteien und ihren stehenden, gestikulierenden Anwälten abbildet. Die Notare sitzen allerdings zu Füßen des Richters, der in einem Kodex (den Stadtstatuten oder dem römischen Recht) nachschlägt, während die Notare, sich gegenseitig im Vieraugenprinzip kontrollierend mit Schreibarbeit für das Gericht beschäftigt sind (Abbildung 2). Richter und Notare waren demnach nach ihrem Sozialprestige deutlich unterscheidbar. Richter wurden kraft ihres Amts mit der Ehrenanrede eines dominus angesprochen. Dies geschah unabhängig davon, ob sie ihre juristischen Universitätsstudien mit einem Doktorgrad abgeschlossen hatten. Der akademische Streit um den „Adel“ des juristischen Doktorgrades47 schlug sich somit ganz praktisch in den Luccheser Gerichtsregistern nieder, die ein getreulicher Spiegel der gesellschaftlichen Realität mit ihren Distinktionspraktiken waren. Notare wurden als „ser“ bezeichnet, wodurch sie sich von der kaufmännisch wie handwerklich tätigen Bürgerschaft abhoben, standen aber doch deutlich unterhalb der iudices. Der Notarberuf war ein sozialer Aufsteigerberuf. Mancherorts, nicht jedoch in Lucca, verdrängten die Notare die Richter aus der bislang gemeinsamen Korporation der collegia iudicum et notoriorum während der Auseinandersetzungen zwischen alten Eliten und dem popolo.48 Beide, Richter wie Notare, standen jedoch im gesellschaftlichen Rang unterhalb der Ritter, der milites. Dieser Stand war Voraussetzung, um Podestà und damit oberster Gerichtsherr und Exekutivorgan in der Stadt zu werden, vgl. miles dominus Lottus de Caponsacchi de Florentia, der der 1330 – 1331 Podestà war,49 oder m. d. Pulcettus de Pulcis de Gubbio, der das Amt Ende 1331 bekleidete.50 Gegen den Podestà des Jahres 1372, der den bezeichnenden Namen miles dominus Franciscus de Fortebrachiis de Montone trug, wurde übrigens trotz seines hohen Amts und seines sozialen Prestiges ein Syndikatsverfahren wegen Amtsverfehlungen eingeleitet.51 3. Notardichte und öffentliche Stellen für Notare Für den Zeitraum 1220 – 1280 hat Andreas Meyer für Lucca 3.263 Notare einschließlich ihrer Beurkundungszeiträume ermittelt. Innerhalb seines Untersuchungszeitraums stellt er mehr als eine Verdoppelung von 80 auf 200 gleichzeitig aktive No47

Zur Gleichsetzung des juristischen Doktorgrades mit dem Grafentitel in der wissenschaftlichen Debatte des Spätmittelalters vgl. etwa Baumgärtner, Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 298 – 332. 48 Tanzini, in: Social Mobility in Medieval Italy (1100 – 1500), 2018, S. 373 – 389 (381 f.), der sogar von einem „breakdown in institutional solidarity“ zwischen den beiden Berufsgruppen spricht. 49 Bongi, Inventario del r. Archivio di Stato in Lucca, vol. 2: Carte del Commune di Lucca, 1876, S. 313. 50 Bongi, Inventario del r. Archivio di Stato in Lucca, vol. 2: Carte del Commune di Lucca, 1876, S. 314. 51 Riformagioni della Repubblica di Lucca (1369 – 1400), vol. 4: Febbraio 1373 – dicembre 1374, ed. Tori, 1998, S. 46.

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tare fest. Er errechnete daraus ein Verhältnis von rund einem Notar auf 100 Luccheser Einwohner, während seiner Berechnung nach im 13. Jahrhundert ein Richter auf 670 Einwohner kam.52 Diese Notare fertigten in der Hauptsache Urkunden für private Rechtsgeschäfte aus. Daneben dürften viele von ihnen auch mit Beurkundungstätigkeiten für die städtischen Gerichte regelmäßig und von Amts wegen in Kontakt gekommen sein. Denn schon die Stadtstatuten von 1308 sahen, wie Meyer errechnet hat, vierzig öffentliche Notare in städtischen Diensten vor und 36 weitere in den Umlandgerichten der Vikarien.53 Die Statuten von 1308 sahen allerdings die höchste Zahl von Notaren an Gerichten vor. An manchen Gerichten im Umland von Lucca wurden schon 1331 die bis zu vier Notare, die einem Richter zuarbeiten sollten, auf zwei Notare pro Richter zusammengestrichen. Personal in den Vikarien wurde daneben auch durch Zusammenlegen von Gerichten verringert. Möglicherweise war der Geschäftsanfall im Umland von Lucca doch nicht so groß wie ursprünglich gedacht. Eine andere Erklärung könnte darin zu suchen sein, dass man spätestens ab 1331 davon ausging, dass Gerichtsnotare während ihrer Amtszeit ihre private Beurkundungstätigkeit ruhen lassen sollten.54 In der Stadt Lucca hingegen blieb die personelle Ausstattung der Gerichte fast das ganze 14. Jahrhundert hindurch recht hoch. An drei Gerichten sollten sechs Notare, darunter stets einer speziell für die Protokollierung von Zeugenaussagen gleichzeitig angestellt sein, an anderen drei bis vier. Nach den grundlegend neu überarbeiteten Stadtstatuten von 1372 waren signifikant niedrigere Zahlen von Notaren tätig, nämlich nur noch ein bis drei Notare, während am Gericht des Podestà acht Notare, für die curia nova iustitia, treuganorum et querimoniarum (zuständig für zivilrechtliche Streitigkeiten oberhalb eines bestimmten Streitwertes) immerhin noch fünf Notare (vor der Zusammenlegung der drei selbständigen Gerichte waren dort zusammen dreizehn Notare angestellt) vorgesehen waren. Insgesamt kommt man damit 1372 noch auf 33 permanent an den städtischen Gerichten und im städtischen Justizarchiv tätigen Notare.55 Auf dem Land in den Vikarien waren nur noch acht Notare vorgesehen, was aber vor allem mit den territorialen Einbußen, auch an Gerichtssprengeln, 52 Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 327, 333. Ein alphabetisch geordneter Appendix der von ihm identifizierten, in Lucca tätigen Notare ebd., S. 511 – 556, sowie S. 558 – 687 deren abstrakte Notariatszeichen. Die exakten Zahlen können wie stets im Mittelalter nur ungefähre Größenordnungen angeben, weil man über die genaue Einwohnerzahl des Stadtstaates Luccas keine genauen Angaben hat. 53 Meyer, Felix et inclitus notarius: Studien zum italienischen Notariat bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 325. 54 Jedenfalls für die Statuten von 1308 geht Meyer, Felix et inclitus notarius. Studien zum italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 326 noch davon aus, die Gerichtsnotare hätten daneben auch noch ihre privaten botteghe weiterbetrieben. Für das 14. Jahrhundert wird sich das erst aussagen lassen, wenn man konkrete Notare, die als Gerichtsnotare dokumentiert sind und die Gerichtsregister herstellten, auch anhand des Archivio notarile daraufhin untersucht, ob sie Urkunden für Privatleute ausfertigten. 55 ASL, Statuti 6 (1372), l. 3 c. 101, f. 77v – 79v.

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in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Markgrafen von Este, mit Florenz und Pisa zu tun hat, in denen Lucca unterlegen war. Als Mitte des 14. Jahrhunderts die schwarze Pest auch vor Richtern und Notaren nicht Halt machte, griff der Luccheser Stadtrat in einem Statutenzusatz des Jahres 1350 zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Jedenfalls in den Umlandgerichten an den Vikarien sollten Notare vorübergehend auch die Tätigkeit eines Richters ausüben.56 Vermutlich mussten sie dann die Protokollierung ihrer Gerichtssitzungen auch gleich selbst vornehmen. Dies wird sich erst bei einer Untersuchung der erhaltenen Gerichtsregisterserien aus diesen Vikarien feststellen lassen.

III. Aufgaben der Notare in Gerichtsverfahren nach dem gemeinen Prozessrecht 1. Herstellen von Gerichtsregistern Bei ihrer Tätigkeit für die städtischen Gerichte, aber auch in allen sonstigen Funktionen für die Stadt waren die Notare durch die Statuten dazu angehalten, spätestens nach vier Tagen alle lose eingegangenen Schriftstücke abzuschreiben57 und damit in den Gerichtsregistern dauerhaft in Buchform verfügbar zu machen. Beim städtischen Appellationsgericht entstanden so drei Gerichtsregister, in denen die wichtigsten Verfahrenshandlungen verzeichnet wurden. Da die Zivilverfahren in Lucca wie andernorts nach dem gemeinen Prozessrecht abliefen, das selbstverständlich die Dispositionsmaxime der Parteien voraussetzte, ist eine Registerserie mit den eingereichten Klagen, eine weitere mit den Terminen zur Hauptsache und eine weitere Serie mit den Urteilssprüchen erhalten – also den wichtigsten Verfahrensetappen, die nur auf Antrag eingeleitet wurden. Daneben sind auch Bände dieses Gerichts erhalten, die die internen gerichtlichen Verfügungen kalendarisch geordnet verzeichnen.58 In Strafverfahren, etwa vor dem Podestà, scheint es dagegen aufgrund der Offizialmaxime nicht zu derart ausdifferenzierten Gerichtsregistern gekommen zu sein. Die Notare waren damit die maßgeblichen Amtsträger, um das Einhalten von Fristen zu überwachen, die ordnungsgemäße Terminsequenz im Rahmen des Prozesses 56 ASL, Statuti 5 (Zusatz von 1350), f. 272 f. Die Statuten begründen diese Aufstufung von Notaren zu Richterfunktionen in der Stadt Lucca selbst wie auch in den Vikarien damit, es gebe zu wenig Richter. 57 Statuto del Comune di Lucca dell’anno 1331, ed. Tori, 2017, l. 4 c. 54, S. 241. Podestà und Syndikatsrichter sollten regelmäßig prüfen, ob dies von den Notaren an sämtlichen Gerichten beachtet wurde, bei Verstößen sollten die Notare mit einer Geldbuße von 100 Schilling belegt werden. Verabsäumten Podestà und Syndikatsrichter ihrerseits diese regelmäßige Kontrolle der Bücher der Gerichtsnotare, sollten sie ihrerseits in ihren Syndikatsverfahren mit einer Geldstrafe von nunmehr 100 £, also dem 20fachen belegt werden. 58 Detailliert ausgewertet und beschrieben durch Lepsius, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, 2006, S. 189 – 269.

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einzuhalten und die Protokollierung der Gerichtsverhandlungen vorzunehmen. Ohne sie wäre die berühmte Verschriftlichung der Gerichtsverfahren und die Terminsequenz, die die Praxis des gelehrten Verfahrens nach dem Modell des romanisch-kanonischen Prozessrechts charakterisieren,59 nicht vorstellbar. Dies wurde den Notaren gegenüber mit Geldbußen, die ggfs. in einem Syndikatsverfahren verhängt wurden, durch die Stadtstatuten auferlegt. 2. Zusammenarbeit mit dem Gerichtspersonal und den Parteien Den Richtern musste an einer guten Kooperation mit ihren Gerichtsnotaren sehr gelegen sein. Denn wenn seine Akten nicht vorhanden oder fehlerhaft waren, konnte sich ein Richter nach der gemeinrechtlichen Lehre nicht mehr auf die Vermutung berufen, das entsprechende Verfahren juristisch korrekt durchgeführt zu haben.60 Auch konnten sich Richter nur anhand ihrer Gerichtsregister und den dort mit genauen Daten vermerkten Gerichtsterminen samt den dort ergangenen Verfügungen von einem möglichen Vorwurf im Syndikatsprozess entlasten, Prozesse verzögert und nicht innerhalb der vorgesehenen Zeit zu einem Urteil vorangetrieben zu haben.61 In den Gerichtsregistern wird daher bei Terminverschiebungen oder Anberaumung von zusätzlichen Terminen sorgfältig vom jeweiligen Gerichtsnotar festgehalten, dies sei auf Antrag der Parteien erfolgt.62 Um auf diese Tätigkeit des Protokollierens der wichtigsten Verfahrensschritte vorbereitet zu sein und um die Gerichtsbücher selbständig in der Reihung anzulegen, in der sie für die nächsten Verfahrensschritte benötigt wurden, enthielt insbesondere das zum Klassiker gewordene Notarhandbuch des Rolandinus Rodolfini Passegerii lange Ausführungen zum Ablauf des Zivilprozesses mit Hinweisen, welche Aufgaben dem Notar zukamen. Seine Summa artis notarie ist ein getreues Spiegelbild der Praxis des ordo iudiciorum, den der Richter einzuhalten hatte.63 Als Experten des Verfahrensablaufs konnte ich häufig Notare in den Gerichtsregistern des Luccheser Appellationsrichters als procuratores, also als Vertreter der Parteien, erwähnt finden.64 Soweit Notare als Parteivertreter vor Gericht auftraten, waren sie selbstver-

59 Nörr, in: Iudicium est actus trium personarum. Beiträge zur Geschichte des Zivilprozeßrechts in Europa, 1993, S. *19 – *31, Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus, 2012, S. 142. 60 Lepsius, in: Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter, 2008, S. 389 – 475 (403 – 410; 423 – 436). 61 Lepsius, Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 3 (2013), S. 27 – 51 (34, 42 f.). 62 Lepsius, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, 2006, S. 189 – 269 (243, 246). 63 Padoa Schioppa, in: Rolandino e l’ars notaria da Bologna all’Europa, 2002, S. 583 – 609. 64 Beispielsweise traten ser Thomaxinus Upethini de Camaiore notarius procuratoris nomine für eine Erbengemeinschaft als Berufungskläger am 14. Oktober 1329, ser Michele Lupardi als procurator für den Appellanten in einer Extrajudizialappellation am 23. Juli 1330

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ständlich nicht zugleich die am Gericht von Amts wegen mit der Protokollierung betrauten Notare. Vielmehr dürften sie Parteivertretungen vor Gericht in solchen Jahren übernommen haben, in denen sie nicht zu einem Notarsamt im Dienst der Kommune gewählt worden waren. Es erstaunt daher kaum, dass sich in den erhaltenen Imbreviaturbüchern der Notare auch derartiges Prozessschriftgut mit Anträgen an das Gericht, beglaubigten Abschriften etc. finden.65 Die Gerichtsnotare waren schließlich auch dafür zuständig, die Sicherheitsleistung in Höhe von 5 % des Streitwerts, die beide Parteien jedenfalls in Appellationsverfahren zu zahlen hatten, auszurechnen und von Appellant wie Appellat für das Gericht zu vereinnahmen.66 Soweit eine Klage vom Richter als schlüssig betrachtet worden war, fiel es dann auch in den Aufgabenbereich der Gerichtsnotare, einen Boten mit der genauen Ladung zu beauftragen und dessen Rapport über eine erfolgte Ladung wieder zu den Gerichtsakten zu nehmen. Damit kam den Notaren schließlich die Scharnierfunktion schlechthin zwischen dem Inneren des Gerichts und der Parteiwie Stadtöffentlichkeit zu, die über Boten ggfs. auch durch Herolde von den Verfügungen, wie den Ladungen, über Endurteile bis hin zu den Ausrufen des Banns gegen bestimmte Personen in Kenntnis gesetzt wurde.67 3. Protokollierung der wichtigsten Verfahrensetappen Ein kursorischer Überblick über den Ablauf von Zivilprozessen nach dem Notariatshandbuch des Rolandinus68 zeigt mehrere für unsere Fragestellung relevante Aspekte. Allein der Umfang dieses dritten Abschnitts zeigt den überragenden Stellenwert, den gerade die Tätigkeit als öffentlicher Notar für Gerichte in der Ausbildung künftiger Notare im Mittelalter und bis weit in die frühe Neuzeit einnahm. Der Abschnitt selbst ist in drei Unterabschnitte gegliedert: Zunächst (1) wird idealtypisch ein Gerichtsverfahren in allen denkbaren Prozessabschnitten geschildert, einschließauf, vgl. ASL, MSGA 11, 105; 15, 133 auf. Beide Notare traten häufiger als Prokuratoren auf. Man findet sie auch als Prozessvertreter der im Berufungsverfahren beklagten Partei. 65 Meyer, Felix et inclitus notarius. Studien zum italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, 2000, S. 287 f. veranschlagt das auf Prozesse bezogene Material anhand der von ihm durchgesehenen Bestände im Archivio notarile auf rund 6 % des notariellen Schriftguts. Meyer stellt allerdings nicht die Verbindung zwischen dem Materialbefund zur Tätigkeit von (privaten) Notaren als Prokuratoren her. 66 Aktenbeispiel: Lepsius, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, 2006, S. 189 – 269 (239 f., 145 – 250); Lepsius, Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 3 (2013), 27 – 51 (42). 67 Lepsius, Archiv für Mediengeschichte 16 (2016), 15 – 28 (17 – 20). 68 Im Folgenden zitiert nach: Summa artis notariae d. Rolandini Rodulphini Bononiensis, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, pars 3, S. 571 – 730. Es sind mehrere Druckausgaben dieses klassischen Werkes für Notare in der frühen Neuzeit erfolgt. Bezeichnenderweise wird dieser 3. Teil der Summa in manchen Nachdrucken nicht abgedruckt, was wesentlich zur Rezeption und Wahrnehmung des Rolandinus vor allem als Autor auf den Gebieten der Verträge und Testamente beigetragen haben dürfte.

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lich der Vollstreckung, sowie von Verfahrensbesonderheiten gegen säumige Beklagte und in Strafverfahren.69 Sodann wird (2) mit ausgiebigen Formularbeispielen geschildert, wie die entsprechenden Prozesshandlungen umformuliert und zu den Akten des Gerichts genommen werden sollen. Dieser Abschnitt wird als wichtig zur Vervollständigung und Abrundung der Notarausbildung bezeichnet.70 Im letzten Unterabschnitt werden in der „Summa artis notariae“ sodann die Schriftstücke behandelt, die die Gerichtsnotare im Auftrag des Richters ausfertigen.71 Im längsten ersten Unterabschnitt werden folgende wichtige Etappen des Verfahrens geschildert: Zunächst muss der Kläger den zuständigen Richter adressieren, zweitens wird der Beklagte zum Prozess geladen, wo er sich verteidigen kann. Üblicherweise wird ihm bei der Ladung die Klageschrift übergeben und 20 Gerichtstage Zeit gelassen bis zum ersten Termin, bis zu dem er den Richter als befangen ablehnen kann. Vor der offiziellen Streitverkündung kann er Einwände gegen die Klage erheben. Anschließend ist von verdächtigen Klägern eine Sicherheitsleistung zu erbringen und gegebenenfalls weist ein Prokurator sein Mandat nach. Anschließend wird der Streit verkündet, falls Prokuratoren bestellt sind, nehmen diese die Streitverkündung vor. Nach Entgegennahme der Klage wird ein sog. Kalumnieneid geschworen, mit dem der Kläger beschwört, einen tatsächlich bestehenden Anspruch zu verfolgen und das Verfahren nicht nur schikanös (calumniose) zu betreiben. Es werden danach die einzelnen Prozesstage hintereinander festgelegt, an denen die Klageschrift anhand der Beweisartikel (positiones) durchgegangen wird. Es folgen Entgegnungen der Gegenseite. Zeugen, Beweismittel und beglaubigte Abschriften aus den Akten werden angefertigt. Der Richter kann, muss aber nicht, sodann ein das Gericht bindendes Gutachten (consilium) einholen, von einem Juristen, den weder Kläger noch Beklagter als befangen erklärt haben. Schließlich wird ein End- oder ein Zwischenurteil gefällt. Die Seite, die sich beschwert fühlt, kann schließlich Appellation gegen das Urteil einlegen. Zuletzt wird das Urteil zur Vollstreckung gegeben.72 Dieser Abschnitt richtet sich vorrangig an Prokuratoren der Parteien und gibt immer wieder Hinweise, welche Schriftstücke dem Gericht vorzulegen sind. Bemerkenswert ist beispielsweise der Hinweis an den Prokurator des Klägers, er möge die Klageschrift gleich dreimal wortlautgleich vorbereiten: einmal für den Kläger selbst, einmal für den Beklagten und einmal für den Gerichtsnotar, der an dieser Stelle als

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Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 571 – 684. 70 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 684 – 716 (684): „restat nunc ad plenam tabellionum doctrinam exemplificare singula quali forma a tabellionibus sint scribenda, quae in actis scribuntur.“ 71 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 716 – 730. 72 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 592 f.

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notarius de medio bezeichnet wird.73 Die Terminologie bringt zum Ausdruck, dass der Gerichtsnotar zwischen den beiden Parteien und den für sie agierenden Prokuratoren steht. Dass die Prokuratoren kein juristisches Studium absolviert hatten, wird ebenfalls im Kontext der Klageschrift deutlich. Denn Rolandinus, der immerhin in Bologna lehrte und schrieb, hielt es für nicht für erforderlich und auch nicht gebräuchlich, in der Klageschrift die genaue actio zu bezeichnen, auf die der Kläger seinen Anspruch stützte.74 Die Prokuratoren waren nämlich, auch wenn dies nicht explizit angesprochen werden musste, lediglich ausgebildete Notare – wie beispielsweise auch unsere Befunde anhand der Luccheser Gerichtsregister gezeigt haben. Andererseits mussten Prokuratoren mindestens 25 Jahre alt sein, weil sonst ein Gerichtsverfahren durch den Beklagten mit einer exceptio iudicii abgelehnt werden konnte.75 Notare als Prokuratoren der Parteien konnten also ein höheres Lebensalter aufweisen als die ihnen auf der Seite des Gerichts als Gerichtsnotare entgegentretenden Kollegen. Im ersten Abschnitt kamen die Gerichtsnotare naturgemäß kaum vor, weil sich der gesamte Abschnitt an künftige Prokuratoren richtete. Lediglich in den Kontexten, in denen Rolandinus darüber reflektiert, bzw. einen Meinungsstreit darüber berichtet, ob eine Prozesshandlung lediglich mündlich vor Gericht vorgetragen werden müsse oder ob sie schriftlich erfolgen müsse, sind die Gerichtsnotare mitgemeint. Denn ein vom Prokurator eingereichtes Schriftstück musste für die Akten seitens des Gerichtsnotars abgeschrieben werden, bzw. der Prokurator konnte verlangen, dass ein Verfahrensantrag zu Protokoll genommen wird. Rolandinus riet in allen derartigen umstrittenen Fällen dazu, sicherheitshalber, die Handlung schriftlich vorzunehmen.76 Im zweiten Unterabschnitt wendet sich die Summa artis notariae dann an den Gerichtsnotar und gibt ihm die Formulare an die Hand, wie die aus der Sicht des Gerichts wichtigen Verfahrensschritte zu protokollieren sind. Genannt werden die Bo73

Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 602. 74 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, S. 602 zum erforderlichen Mindestinhalt der Klageschrift: „Quinto quod appareat, qua actione agit, sive ex empto, sive ex vendito, vel conducto vel locato etc. Sed hodie illud de consuetudine non servatur, quia per causam demonstratur actio: quia valde difficile esset procuratoribus videre et explorare actionem actori competente.“ 75 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 606, 687 (zum Formular, das der Gerichtsnotar dabei verwenden sollte). 76 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 609 (bei Einwendungen gegen das gerichtliche Verfahrens als solchem, exceptio declinatoria iudicii), S. 610 (bei aufschiebenden Einreden), S. 611 (bei peremptorischen Einreden und bei der Arglisteinrede) – auch hier soll die schriftliche Aufzeichnung dazu dienen, festzuhalten, welche Art Einrede genau in Rede stand; S. 620 (die Streitverkündung und damit der Übergang in das Hauptsacheverfahren) muss aufgezeichnet werden; S. 628: Terminverschiebungen muss der Gerichtsnotar aufschreiben und dabei insbesondere vermerken, wenn sie von den Parteien beantragt worden waren, S. 636 f. zu den Fragen, die der vernehmende Notar den Zeugen stellen sollte. Diese Fragen wurden von den Prokuratoren schriftlich eingereicht.

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tenberichte über die erfolgten Ladungen des Beklagten, die danach differenziert werden, ob persönlich geladen werden konnte oder ob ein oder zweimal ein Ladungsversuch unternommen worden war. In strafrechtlichen Akkusationsverfahren musste die öffentliche Ladung zusätzlich vor Zeugen vorgenommen werden und der Bote musste entsprechend dem Notar berichten, dass die Ladung in diesen Formen erfolgt war.77 Ausführlich wird die Streitverkündung behandelt und der Kalumnieneid vorgeschrieben, der zuvor von beiden Seiten, dem Kläger wie dem Beklagten zu leisten ist. Hier wird dem Notar sogar aufgetragen, im Gerichtsbuch (quaterno) das Datum der Streitverkündung, die Namen der Parteien und die Streitsache aufzuschreiben.78 Bei Terminsverschiebungen muss der Gerichtsnotar genau vermerken, ob es sich um die übliche achttägige peremptorische Frist zum Beibringen von Beweismitteln für beide Seiten oder um eine Äußerungsfrist, die nur einer Partei gewährt wurde, handelte.79 Schließlich wurden für künftige Gerichtsnotare verschiedene Arten streitiger Endurteile benannt, die wie stets mit besonderem Augenmerk darauf behandelt wurden, wie sie der Gerichtsnotar in den Gerichtsregistern zu protokollieren hatte.80 Insbesondere soweit der Richter aufgrund eines rechtsgelehrten Gutachtens (eines consilium sapientis) sein Urteil gefällt hatte, sollte dieses Gutachten vollständig in den Gerichtsakten abgeschrieben werden und der verkündende Urteilsausspruch des Richters, der dem bindenden Urteil stets folgte, dann auf einer neuen Seite oben im Gerichtsbuch vermerkt werden und mit Namen des Richters, genauer Angabe des Gerichtsorts, Datum und vollständiger Unterschrift durch den Gerichtsnotar protokolliert werden.81 (vgl. Abbildung 1). Im letzten Unterabschnitt erläuterte Rolandinus Passagerii den Notaraspiranten, wie sonstige Schriftstücke und Briefe abzufassen waren, die seitens des Richters an andere Institutionen gesendet wurden. Unmittelbaren Bezug auf Gerichtsverfahren weist das Überweisen der Apostelbriefe als Begleitbrief mit den Akten des erstinstanzlichen Verfahrens an den Appellationsrichter auf. 82 Auch in Strafsachen kam es zu gerichtlichen Verfügungen, die schriftlich abgesichert werden mussten. Zu nennen ist beispielsweise das Formular für das Begleitschreiben an den Podestà, das für einen unteren Richter notariell aufgesetzt wurde, der einen Straftäter überführt hatte und nun den gefangen gesetzten Täter samt den von ihm erstellten Akten an den Po77 Rolandinus Passagerii, 1569, c. 9, S. 685 f. 78 Rolandinus Passagerii, 1569, c. 9, S. 691. 79 Rolandinus Passagerii, 1569, c. 9, S. 691. 80 Rolandinus Passagerii, 1569, c. 9, S. 691 – 698. 81 Rolandinus Passagerii, 1569, c. 9, S. 693. 82 Rolandinus Passagerii, 1569, c. 9, S. 718.

Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis

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destà überstellen wollte, damit dieser kraft seiner vollen Amtsgewalt sich den Fall noch einmal anschauen konnte und dann gegebenenfalls die vorgesehene Leibesoder Lebensstrafe verhängen sollte.83 Angesichts derart detaillierter Vorgaben, die die Tätigkeit von Notaren im Dienst kommunaler Ämter und Gerichte regelten, wundert es nicht, dass Notare auch Adressaten sanktionsbewehrter Gebote und Strafvorschriften sein konnten. So war in Lucca, dessen städtischen Räten der Aufbau eines Justizarchivs besonders wichtig war, den Gerichtsnotaren vorgeschrieben, innerhalb von vier Tage alles lose Prozessschriftgut in die Gerichtsregister abzuschreiben und sämtliche Gerichtsbücher nach Ablauf ihrer meist einjährigen Gerichtsschreibertätigkeit zügig nach Ende ihrer Amtsperiode an die städtische camera abzuliefern. Verstöße hiergegen wurden im Syndikatsverfahren, in dem routinemäßig die Amtsführung aller Amtsträger überprüft wurde, mit Geldbußen von 3 bzw. 25 £ geahndet.84 Praktisch seltener vorgekommen sein dürften wohl Fälle, in denen ein Notar vorsätzlich ein falsches Schriftstück ausfertigte oder ein Blatt aus den Gerichtsregistern entfernte. In einem solchen Fallt sollte der Podestà von Amts wegen, also ohne Anklage einer betroffenen Privatpartei, gegen den Notar vorgehen.85 Die im ius commune vorgesehenen Sanktionen für den ungetreuen Notar umfassten drakonische Strafen von der Amputation der Hand bis zur Todesstrafe.86

IV. Fazit Neben ihrer Beurkundungstätigkeit für Private waren Notare unverzichtbare Stützen für den korrekten Ablauf der öffentlichen Gerichtsverfahren in den italienischen Städten. Obwohl sie kein Studium der Jurisprudenz absolviert hatten wie die städtischen Richter, beherrschten sie die wichtigsten Verfahrensschritte, die nach dem gelehrten Prozessrecht87 zu beachten waren, sowohl aus der Perspektive der Parteivertreter, als Prokuratoren, wie auch als Gerichtsnotare. Damit vermittelten sie das gelehrte Recht in die städtische Prozesspraxis. Falls Not am Mann war und der Pool an Richtern in der Stadt zu gering war, konnten sie gegebenenfalls sogar Richterfunk83 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 730. 84 Lepsius, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 95 (2015), 135 – 182, dort c. 29, S. 164 zu einschlägigen Bestimmungen in den Statuten des Syndikatsrichters von 1372. Genauer zu den sanktionsbewehrten Vorschriften vgl. Lepsius, in: Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter, 2008, S. 389 – 473 (423 – 430). 85 Rolandinus Passagerii, Summa artis notariae, Lyon: apud Sebastianum de Honoratis 1569, c. 9, S. 675. 86 Bellomo, Siculorum Gymnasium. Rassegna della facoltà di lettere e filosofia dell’università di Catania n. s. a. 31 (1978), 213 – 223. 87 Zum sog. Gemeinen Zivilprozess: Lepsius, in: Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung. Vormoderne Alternativen/Alternativen in der Moderne, [vorauss. 2021].

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tionen wahrnehmen, wie in Lucca, als dies in der Mitte des 14. Jahrhunderts ausnahmsweise zugelassen worden war. Notare bildeten somit das Rückgrat der Justizbürokratie der oberitalienischen Stadtstaaten. In den oberitalienischen Stadtrepubliken waren sie bereits im 13. Jahrhundert in großer Zahl tätig. Sie schlossen sich, zunächst mit den Richtern, zu eigenständigen Kollegien als Selbstverwaltungsorganen ähnlich Zünften zusammen. Soweit Notare in städtischen Ämtern oder bei Gericht tätig waren, bekleideten sie Wahlämter auf Zeit, wie es für alle wichtigen Ämter in den Stadtrepubliken charakteristisch war. Die städtische libertas, auf die gerade die Stadtrepubliken große Stücke hielten, verlangte eine Ämterrotation, an der die Notare, einschließlich der vorgeschriebenen Vakanzzeiten nach Beendigung einer Amtstätigkeit selbstverständlich teilhatten. Nur in der Zeit der Pest (1349/50) mussten sich städtische Gremien Gedanken machen, wie man die turnusmäßig wechselnden Ämter der Gerichtsnotare ordnungsgemäß besetzen könnte. In Lucca entschloss man sich daher im Jahr 1350 dazu, für das folgende Amtsjahr ausnahmsweise von den strengen statutarischen Vakanzanforderungen abzuweichen und somit ggfs. Notare länger als für das eine Jahr, für das sie gewählt worden waren, am Gericht weiterhin tätig sein zu lassen. Man begründete dies damit, durch das Nicht-Beurkunden der Prozessakten würde ein noch größeres Unheil (scandalum) geschehen als durch das Nichteinhalten der Vakanzvorschriften.88 Abgesehen von Pestzeiten war die Notardichte in den italienischen Kommunen sehr hoch. Nicht zuletzt die zahlreichen Funktionen als Gerichtsnotare und die sonstigen Administrativaufgaben, die ausgebildete Notare neben der kautelarjuristischen Tätigekeit ausübten, boten Aussichten auf Einkommen und sozialen Aufstieg. So sind in Lucca, und sicher auch andernorts, einige Richter dokumentiert, die Sohn eines Notars waren.89 Obwohl sich die Aufgaben und Anforderungen an Notare im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht zwischen Oberitalien und dem Königreich Sizilien unterschie-

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ASL, Statuti 5, p. 273: „Item pro scandalis evitandis considerato quod multi notarii decesserunt tempore mortalitatis proxime preteriti, et in electione notariorum ad offitia pro anno presenti electi fuerunt et positi notarii qui vacare debebant et deberent per sex menses sive per annum vel ulteriori tempore secundum formam statutorum in preteritum factorum propter officia que habuerunt anno proxime preterito. Et considerato quod si ab ipsis officiis ad que modo sunt sive electi fuerunt removerentur non possent ad sufficientiam de aliis notariis ipsis officiis provideri habito respectu ad modicum numerum notariorum et possit scandalum oriri et in errorem incidi peiorem priore providemus et ordinamus quod dicta electio quomodocumque facta pro dicto anno de dictis notariis qui vacare debebant per formam statuti loquentis de vacatione officialium non viciatur nec viciata esse intelligatur […].“ Auch die Richter wurden im gleichen Passus mit der gleichen Begründung von den geltenden Vakanzanforderungen befreit und durften ihr Amt ausnahmsweise ebenfalls länger bekleiden. 89 Beispielsweise in Lucca: dominus Petrus ser Lapi de Chianni (Appellationsrichter, 1357), dominus Johannes q. ser Axicete de Forlivio (Assesssor des Podestà für Strafsachen, 1370), dominus Guilelmus ser Bernardi de Castilione Aretino (Appellationsrichter 1376) oder dominus Bellettonus ser Benedicti Vannis de Viterbo (Appellationsrichter, 1379).

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den haben,90 beruhen meines Erachtens wesentliche Unterschiede darauf, dass im Königreich Sizilien keine Notarkollegien zulässig waren, sondern der öffentliche Glaube der Rechtsakte letztlich allein auf die Einsetzung der Notare durch den König zurückzuführen war. Auch die strenge Limitierung der Zahl der Notare, die sich schon in den Konstitutionen von Melfi findet,91 zeugt vom Misstrauen, das Kaiser Friedrich II. den Notaren als Berufsstand entgegen brachte. Das hat auch damit zu tun, dass in Oberitalien Notare weitgehend eine Stütze der republikanischen Herrschaftsform bildeten. Nicht zuletzt war es gerade die sorgfältige Amtsführung der Gerichtsnotare, die dafür sorgte, dass das juristische und kulturelle Gedächtnis der Kommunen in Form ihres Archivs zustande kam und gepflegt wurde – ein Umstand, dem es heutige Rechtshistorikerinnen zu verdanken haben, die reiche Gerichtsüberlieferung zur gelebten Rechtspraxis des ius commune auswerten zu können. So verdanken wir der praktischen Tätigkeit der Gerichtsnotare wichtige Aufschlüsse über die praktizierte Rechtsstaatlichkeit im 13. und 14. Jahrhundert.

90 Zur neueren Forschung, die den Aspekt der Vergleichbarkeit der mittelalterlichen Notartätigkeit im kommunalen Oberitalien und dem Königreich Sizilien stärker akzentuiert, vgl. Tanzini, in: Social Mobility in Medieval Italy (1100 – 1500), 2018, S. 373 – 389 (375). 91 Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, ed. Stürner, 1996, I, 79, S. 252, wo für die zentralen Städte des Königreichs, nämlich Neapel, Salerno und Capua lediglich acht Notare vorgesehen waren. Allgemein zu den Regelungen betreffend die Notare im Liber Augustalis, s. Dilcher, in: Tradition und Gegenwart. Festschrift zum 175jährigen Bestehen eines badischen Notarstandes, 1981, S. 57 – 72.

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Abbildung 1: Notariatssignet des Transmundus q. Johanutii de Macerata publicus imperiali auctoritate notarius (dritte Unterstreichung) im Urteils- und Bannbuch des Syndikatsrichters. Damit bestätigt Transmundus, dass die öffentliche Verkündung des Banns gg. Lapus Johannis (erste Unterstreichung) am 28. März 1342 in Gegenwart der beiden weiteren Notare ser Mansius de Sancta Maria in Monte und ser Nicolaus Heinrici de Prato (zweite Unterstreichung) stattgefunden hat („hoc scripsi et publicavi“). Unterstreichungen nachträglich durch die Autorin, SL, vorgenommen. ASL, SB 10, fol. 55r.

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Abbildung 2: Archivio di Stato Bologna, Statuti, XIII (1376), l. 4 c. 1, S. 167. Das Kapitel zur Rechtsprechung („De iure reddendo“): In der Mitte thront der Richter mit einem offenen Statutencodex oder einem Band des Corpus iuris civilis auf dem Schoß. Zu seinen Füßen fertigen zwei Notare Faszikel der Gerichtsregister an, in die sie dann unter anderem die losen Zettel, die ein Prokurator (links im Bild) dem Richter aushändigt, abschreiben.

Juristen und Formulare in Cicero, Pro Murena 28 Von Johannes Platschek Zu unseren Erkenntnisquellen des römischen Rechts und seiner Geschichte gehören neben den an juristischer Information alles überstrahlenden Texten der kaiserzeitlichen Fachschriftsteller nichtjuristische Werke unterschiedlichster Gattungen, die doch auf Recht, Geschäftspraxis, Prozess und Juristen anspielen: die Komödien des Plautus, Petrons Satyricon, Epos, Lyrik, Briefe, ethische, rhetorische, antiquarische Schriften, das ganze Spektrum der römischen Literatur. Nur wenn Gattung, Adressaten und gewollte Aussage eines solchen Textes ausreichend berücksichtigt werden, lässt sich die juristisch-rechtshistorische Information methodengerecht würdigen und verwerten. Umgekehrt kann das richtige Verständnis der Textumgebung gerade von einem rechtsrelevanten Detail abhängen. An einem in der handschriftlichen Überlieferung verdorbenen, aber äußerlich einwandfreien Text wird der halbwegs juristisch orientierte Leser mitunter inhaltlichen Anstoß nehmen, während andere die fehlende Schlüssigkeit der Überlieferung nicht wahrnehmen oder sich damit abfinden. Dass etwa in allen Handschriften und Editionen von Quintus Ciceros Wahlkampfratgeber (commentariolum petitionis) steht, sein berühmter Bruder Marcus habe (bzw. „wir haben“) seinerzeit Antonius Hybrida in praetura – „im Amt des Prätors“ zum Mitbewerber gehabt (Q. Cic. comm. 2,8: in praetura competitorem habuimus), ist inhaltlich unzutreffend: „In“ einem Amt kann man nicht (für das nächste) kandidieren (Verbot der Kontinuation). Die beiden bewarben sich in Wahrheit im Jahr 67 v. Chr. zeitgleich um die Prätur (die sie beide 66 v. Chr. bekleideten, bevor sie sich 64 v. Chr. um den Konsulat bewarben, den sie 63 v. Chr. gemeinsam innehatten); mit in praetura competitores lässt sich das nicht ausdrücken.1 Die Überlieferung muss gestört sein. Eine besondere Herausforderung für den juristischen Betrachter ist aber seit jeher die – üble – Juristenpolemik (Marcus Tullius) Ciceros in der Rede Pro Murena.

1 Zumal der Text sodann mit quo in magistratu in die Zeit nach Antritt der Prätur fortschreitet, um bei der anschließenden Bewerbung um den Konsulat: in petitione autem consulatus zu enden; Platschek, in: Essays Sirks, 2014, S. 603 – 604.

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I. Ciceros Rede Pro Murena: Prozesssituation und Juristenpolemik Während seines Konsulats 63 v. Chr. verteidigt Cicero L. Licinius Murena, einen siegreichen Kandidaten der Konsulatswahlen für das Folgejahr, gegen eine Anklage wegen verbotener Wählerbeeinflussung (ambitus).2 Ankläger ist der unterlegene Kandidat Servius Sulpicius Rufus, der angesehenste Jurist der Epoche (und Freund Ciceros).3 Über lange Passagen attackiert Cicero den Ankläger als einen iuris consultus (was sich mit „Jurist“ behelfsmäßig, aber bewusst anachronistisch übersetzen lässt). Als solcher sei er für den Konsulat nicht prädestiniert und wolle nur den verdienten Wahlsieger Murena, einen Militär aus alter Familie, in einem Strafprozess beschädigen. Ciceros Position ist ein umgekehrtes Cedant arma togae (Cic. off. 1,22,77),4 dessen Motivation ihm einigermaßen schwerfallen dürfte. Umso hemmungsloser fällt die Herabwürdigung der Juristen, ihrer Ausbildung und Beschäftigung aus. Die Bezeichnung als „Juristenkomik“5 tut diesen gehässig-ignoranten Tiraden noch zu viel Ehre an. Die Rede belegt zumindest undeutliche Vorstellungen der Hörer von der Tätigkeit der iuris consulti, an die Cicero anknüpfen kann, und zumindest im Keim vorhandene Ressentiments der (nichtjuristischen) Richter oder des auf die Richter einwirkenden Gerichtpublikums gegen Juristen, die Cicero zu aktivieren versucht.6

II. Die Banalität juristischer Tätigkeit nach Cic. Mur. 28 Das Metier der Juristen sei banal und für jedermann ohne Weiteres zu erlernen, heißt es in Mur. 28 f.:7

2 Zum Fall Adamietz, M. Tullius Cicero, Pro Murena, 1989, S. 1 – 30; Alexander, The Case for the Prosecution in the Ciceronian Era, 2002, S. 121 – 127; Fantham, Cicero’s Pro L. Murena Oratio, 2013, S. 3 – 22; zum crimen ambitus: Bauerle, Procuring an election: „ambitus“ in the Roman republic, 1990; Kunkel/Wittmann, Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik II, 1995, S. 81 – 83; Nadig, Ardet ambitus: Untersuchungen zum Phänomen der Wahlbestechungen in der römischen Republik, 1997; zuletzt Stroh, in: FS Bürge, 2017, S. 361 – 418. 3 Zu Servius jetzt Lehne-Gstreinthaler, Iurisperiti et sacerdotes. Eine Studie zu den römischen Juristen der Republik, 2019, S. 164 – 195. 4 Cic. Mur. 30: cedat forum castris, otium militiae, stilus gladio, umbra soli: „… dann weiche das Forum (samt Gerichtsstätte) dem Heerlager, die (bürgerliche) Ruhe dem Kriegsdienst, der Griffel (zum Schreiben der Urkunden auf Wachstafeln) dem Schwert, der Schatten der Sonne.“ 5 Bürge, Die Juristenkomik in Ciceros Rede Pro Murena. Übersetzung und Kommentar, 1974; nach Fuhrmann, M. Tullius Cicero, Die politischen Reden I, 2. Aufl. 2001 (Tusculum), S. 727 „läßt Cicero seinem Witz die Zügel schießen“. 6 Harries, Cicero and the Jurists. From Citizens’ Law to the Lawful State, 2006, S. 76. 7 Text nach Ausgabe Kasten 1961 (Bibl. Teubneriana) ohne Hervorhebung möglicher Formelworte, s. unten Fn. 27.

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Difficilis autem res ideo non putatur quod et perpaucis et minime obscuris litteris continetur. Itaque si mihi, homini vehementer occupato, stomachum moveritis, triduo me iuris consultum esse profitebor. etenim quae de scripto aguntur scripta sunt omnia, neque tamen quicquam tam anguste scriptum est quo ego non possim qua de re agitur addere. Quae consuluntur autem minimo periculo respondentur: Si id quod oportet responderis, idem videare respondisse quod Servius; sin aliter, etiam controversum ius nosse et tractare videare. 29 Quapropter non solum illa gloria militaris vestris formulis atque actionibus anteponenda est verum etiam dicendi consuetudo longe et multum isti vestrae exercitationi ad honorem antecellit. „Für schwierig aber kann die Sache deshalb nicht gehalten werden, weil sie in ganz wenigen und ganz und gar nicht schwer verständlichen Werken enthalten ist. Wenn ihr daher mir, einem vielbeschäftigten Menschen, weiter auf die Nerven gehen wollt, so werde ich feierlich geloben: Gebt mir drei Tage – dann bin ich Jurist! Denn was auf schriftlicher Grundlage (gerichtlich) verhandelt wird, liegt alles geschrieben vor, und dennoch ist nichts so eng geschrieben, dass ich nicht hinzufügen könnte qua de re agitur (dazu sogleich). Was aber angefragt wird, lässt sich ohne das geringste Risiko (gutachterlich) beantworten: Entweder man antwortet das Richtige; dann wird es heißen, man habe dasselbe geantwortet wie Servius. Wenn man aber abweichend antwortet, wird es heißen, man kenne und berücksichtige auch juristische Streitstände. 29 Deshalb ist nicht nur jener Kriegsruhm euren Formeln und Klagen voranzustellen, sondern auch die Redekunst übertrifft diese eure Übungen hoch und weit an Ehre.“

Cicero spricht zwei Tätigkeiten der Juristen an: die Hilfe beim agere – „(insbesondere gerichtlich) verhandeln“, dazu gehört das Gestalten der Klageformel für den konkreten Fall,8 und respondere, die gutachterliche Beantwortung von Anfragen. Cicero will beides (nach dreitägigem Studium) auch können: Beim respondere könne man ohnehin nichts falsch machen; stets lasse sich das Gesicht wahren. Für das zuvor genannte agere liege alles schriftlich vor – gemeint sein müssen Formularsammlungen, zumindest auch solche der Klageformeln, zumindest auch das prätorische Edikt, das (in der Kaiserzeit) „zahllose“ Musterklageformeln enthält;9 aber auch Gesetze präsentieren Formulare für Klagen ex lege10 – der Jurist müsse nicht schöpferisch tätig werden. Die folgenden Worte sind einigermaßen kryptisch: neque tamen quicquam tam anguste scriptum est quo ego non possim qua de re agitur addere – „und dennoch 8 Dass Cicero mit de scripto agere hier auch die Gestaltung von Verträgen meinen würde, lässt sich nicht ausschließen (immerhin spricht er in Mur. 29 von formulae et actiones: actiones meint die Klageformeln; für formulae bleiben Vertrags- und Testamentstexte, s. unten Fn. 16), doch heißt diese Tätigkeit der Juristen für gewöhnlich cavere, s. die Belege bei LehneGstreinthaler, Iurisperiti et sacerdotes, 2019, S. 371 Fn. 2410. Zu Cic. Mur. 19: respondendi scribendi cavendi s. Bürge, Die Juristenkomik in Ciceros Rede Pro Murena, 1974, S. 74 – 78. Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf die Prozessformel. Die Phänomene des hier vertretenen Verständnisses lassen sich aber ohne Weiteres auf Vertragsformulare übertragen, s. noch unten Fn. 30. 9 Gai. 4,33; 4,46. 10 Vgl. zuletzt die so gen. Lex rivi Hiberiensis, dazu Nörr, ZRG RA 125 (2008), 108 (139 – 146).

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ist nichts so eng geschrieben, dass ich nicht hinzufügen könnte qua de re agitur.“ Um sich ihnen anzunähern, ist ein kurzer Blick auf eine beispielhafte römische Klageformel erforderlich. 1. Streitgegenstand (res qua de agitur) und Formelklausel qua de re agitur bei Gaius Im Lehrbuch des Gaius (inst. 4,47; mehr als zwei Jahrhunderte nach der Rede für Murena) ist das ediktale Formular der Klageformel des Hinterlegers gegen den Verwahrer (actio depositi directa, hier die in ius konzipierte – „auf das zivilrechtliche Schulden Bezug nehmende“ Formel)11 mit Blankettnamen12 und dem üblichen Platzhalter für eine verwahrte Sache, dem silbernen Tisch (mensa argentea), belegt.13 Zur Zeit Ciceros dürfte es im Wesentlichen gleich gelautet haben.14 Iudex esto. Q(uod) A(ulus) A(gerius) ap(ud) Numerium N(egidium) mensam argenteam deposuisset, qua de re {it} agit(ur), q(ui)dq(ui)d ob eam rem N(umerium) N(egidium) A(ulo) A(gerio) d(are) f(acere) o(portet) ex fide bona, eius †id† iud(ex) N(umerium) N(egidium) A(ulo) A(gerio) condemnato †nr†. S(i) n(on) p(aret), a(bsolvito).

11 Mantovani, Le formule del processo privato romano, 2. Aufl. 1999, S. 51 Nr. 27; aus Gai. inst. 4,47 übernimmt Mantovani die Klausel qua de re agitur in alle von ihm ausgeführten bonae fidei iudicia, s. S. 53 Nr. 32/33 (actio empti/venditi) Fn. 123/128 und Nr. 34 – 45. 12 Zu den Blankettnamen Mantovani, Le formule del processo privato romano, 2. Aufl. 1999, S. 24 f.; Nörr, ZRG RA 117 (2000), 179 (182 f.); Platschek, ZRG RA 131 (2014), 395 (398 Fn. 18). S. auch lex Rubria 20, wo neben den Blankettnamen der Parteien Lucius Seius und Quintus Licinius auch noch Mutinae („in Modena“) als Blankettort erscheint, das Ganze nicht ohne den Hinweis, die Platzhalter seien in praxi zu ersetzen, „es sei denn die Parteien heißen tatsächlich Lucius Seius und/oder Quintus Licinius und/oder der Fall spielt tatsächlich Mutinae“. 13 Die Klammern bezeichnen in der Handschrift (Abgekürztes), sowie {Streichungen} der Herausgeber. Die Worte qua de re agitur sind im einzigen Überlieferungsträger durch ein rätselhaftes IT unterbrochen: REITAGIT (s. Studemund, Gaii institutionum … apographum, 1873, S. 204 Z. 14), das von den Editoren gestrichen wird. Nicht auszuschließen ist, dass es sich um ein verdorbenes Wort (wobei ita nicht passen will) oder eine verdorbene Abkürzung handelt, z. B. i(nter) e(os) oder i(gi)t(ur) als verbliebener Rest eines verdorbenen und korrigierten agitur? Jede Erweiterung der Worte qua de re agitur wäre nur hier belegt. 14 Cicero kennt die bonae fidei iudicia, also formulae in ius conceptae mit dem Zusatz ex fide bona: Cic. off. 3, 17, 70. Entsprechend auch die griechische Übersetzung der Formel der actio tutelae in P.Yadin 28 – 30, ca 125 n. Chr.; Maoza, Provinz Arabia).

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„Es soll einen Richter geben.15 Was den Fall betrifft, dass [der Kläger] bei [dem Beklagten] einen silbernen Tisch hinterlegt hat, worum es hier geht, was auch immer deshalb [der Beklagte] [dem Kläger] geben oder tun muss nach guter Treue, dazu soll der Richter [den Beklagten] zugunsten [des Klägers] verurteilen. Wenn es sich nicht erweist, soll er freisprechen.“

Die formula ist die „kleine Satzung“16 der Parteien für den kommenden Prozess, die der Gerichtsmagistrat genehmigen muss, damit die Verhandlung vor dem Richter in ein vollstreckbares Urteil münden kann. Nachdem sich die Parteien auf die Einsetzung eines Richters festgelegt haben (iudex esto), geht der Weg in unserer Beispielformel von der – demonstratio (Quod … deposuisset, zur Funktion sogleich) mit nachfolgender – Klausel qua de re agitur über die – intentio („Klagebegehren“: quidquid … dare facere oportet ex fide bona) zu – condemnatio (Anordnung der Verurteilung: eius … condemnato) und – absolutio (Anordnung des Freispruchs/der Klageabweisung: Si non paret, absolvito). Nach dem Quod-Satz der demonstratio findet sich der Einschub qua de re agitur – „um welche Sache/welchen Tatbestand es geht“. Von der demonstratio wiederum sagt Gaius (inst. 4,40), sie diene praecipue – „vornehmlich“/„als bevorzugtes Mittel“17 dazu (ideo), ut demonstretur res qua de agitur – „dass die Sache/der Tatbe15 Während in überlieferten konkreten Formeln der Name des eingesetzten Richters voransteht, zeigen die Formulare stets nur iudex esto (u. ä.) ohne einen Blankettnamen. In der Übersetzung einen Platzhalter für den Richternamen einzusetzen („Der und der soll Richter sein“; vgl. Mantovani, Le formule del processo privato romano, 2. Aufl. 1999, S. 25), entfernt sich vom lateinischen Text und riskiert, dass dieser bewusst auf den Namen verzichtet – weil der Richtername bei Abschluss der Formel im konkreten Prozess (litis contestatio) noch nicht feststeht, sondern erst nach einem weiteren Schritt der Richterernennung eingesetzt werden kann? 16 Als Diminuitiv von forma – „Norm, Ordnung, nach der verfahren wird“: Georges/Baier/ Dänzer, Der Neue Georges I s. v. forma B I 2 d; ThLL s. v. forma II B 1 c und III B 2 b; OLD s. v. forma 12; Heumann/Seckel, Handlexikon s. v. forma (e); Walde/Hofmann, Lat. etymol. Wörterbuch I, 530. Das Wort formula in diesem Sinne beschränkt sich nicht auf die Prozessformel, sondern erstreckt sich etwa auf ediktale Vertragsmuster (stipulatio duplae ex formula edicti, z. B. TH2 60), Testament (ex testamenti formula der Grabinschriften) und Urteilsspruch (formula tralaticia absolvit, TH2 85); s. insbes. Cic. Caec. 51: iudicii aut stipulationis aut pacti et conventi formula; Cic. leg. 1, 14, top. 33: stipulationum et/aut iudiciorum formulae. 17 Die Lesung praecipue ist angesichts der Abkürzungsprobleme in der einzigen Handschrift (dem berühmten Codex Veronensis, Hs. Verona Bibl. capit. 13) nicht allzu belastbar. Studemund liest dort P’CIPUE, noch Göschen las P’CIPIT (s. Studemund, Gaii institutionum … apographum, 1873, S. 202 mit App.); denkbar ist also auch ein ursprüngliches principio (so schon Krüger; Literatur bei Buzzacchi, in: Studi Nicosia II 147 Fn. 8), was schlicht

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stand, um die/den es geht, bezeichnet wird.“18 In Formeln ohne demonstratio steht die res qua de agitur in anderen Formelteilen, insbesondere in der intentio. Ohne moderne Vorstellungen und Diskussionen in die Antike zu projizieren, wollen wir res qua de agitur mit „Streitgegenstand“ übersetzen. Es ist also zu unterscheiden zwischen dem variablen Streitgegenstand (res qua de agitur), und der festen Klausel qua de re agitur, die die Beschreibung des Streitgegenstands als solche markiert. Über Sinnlosigkeit und Berechtigung dieser Klausel wurde viel geschrieben;19 eine eigene Analyse würde das Format dieser Miniatur und den Rahmen dieser Festschrift sprengen. In der an die demonstratio mitsamt der Klausel qua de re agitur anschließenden intentio wird jedenfalls in Gestalt von ob eam rem – „aufgrund dieses Tatbestands“/„deshalb“ kausal an die demonstratio angeknüpft. Die demonstratio ist bereits juristisch angereichert: Ihr entscheidendes Element – dass der Kläger beim Beklagten hinterlegt hat, gekauft hat usw. – führt bereits zum Rechtsgrund der erst in der intentio genannten Verpflichtung des Beklagten. 2. Qua de re agitur bei Cicero: bisherige Lösungsversuche Zurück zu Cicero, Pro Murena. Schon Hugo, der Begründer der historischen Rechtsschule, legte sich auf ein heute noch herrschendes Verständnis von Ciceros Umgang mit dem Formelformular fest:

die Stellung der demonstratio in der Formel bezeichnet; ihre Funktion wäre mit ideo, ut … ohne jede Einschränkung festgelegt. Unter anderem Artner, Agere praescriptis verbis, 2002, S. 54 erkennt die Möglichkeit, praecipue nicht zu ideo, also nicht auf einen von mehreren Gründen für die Einschaltung einer demonstratio, sondern unmittelbar auf demonstratio, also auf eine von mehreren Möglichkeiten zur Bezeichnung der res qua de agitur zu beziehen; weitere Literatur bei Gröschler, in: FS Manthe, 2017, S. 132 mit Fn. 9. 18 S. auch Gai. inst. 4,60 zur formula in ius concepta der actio depositi: initio res de qua agitur demonstratorio modo designetur; Literatur bei Kaser/Hackl, Das römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1994, 314 Fn. 18; Buzzacchi, in: St. Nicosia II 145 Fn. 5. 19 S. nur Bekker, ZRG RA 30 (1909), 1 (9): „referens sine relato schlimmster Art“; Kaser, Labeo 22 (1976), 7 (16): „unnötige Banalität … bestenfalls als stilistische Überleitung“; Mantovani, Le formule del processo privato romano, 2. Aufl. 1999, S. 26: „essenzialmente pleonastica, inutile, se non a fini stilistici“. Dass Kautelarjuristen aus stilistischen Gründen eine Klausel in die Prozessformeln aufgenommen hätten, erscheint a priori fragwürdig. Nach Babusiaux, Id quod actum est, 2006, 172; 255 nimmt die Klausel „zur genaueren Konkretisierung des Prozesstoffs auf die Verhandlungen der Parteien im Vorfeld der litis contestatio Bezug“; zustimmend Gröschler, in: FS Manthe, 2017, S. 139 f. mit Fn. 53; ähnlich schon Krüger, ZRG RA 29 (1908) 378 – 389. Dagegen spricht freilich schon die sprachliche Gestalt: Die Markierung qua de re agitur weist inhaltlich nicht über die vorangehende demonstratio (in anderen Fällen, etwa TPSulp 31, 52 n. Chr.: über die vorangehende intentio) hinaus. Die res qua de agitur wird markiert, um die Grenzen des Streitgegenstands und des Klagenverbrauchs deutlich hervorzuheben – wohlgemerkt nicht zur stilistischen Abrundung, sondern um den besorgten römischen Kläger zufriedenzustellen.

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„Cicero will sagen, es lässt sich noch diese Bestimmung [die Worte qua de re agitur] einflicken, zwei Worte stehen nie so eng bei einander, dass sie nicht noch Platz hätte.“20

Will Cicero also ein geradezu absurdes Bild evozieren, in dem er bzw. der Jurist in unendlich kleiner Schrift zwischen zwei Buchstaben der scriptura continua die Worte QVADEREAGITVR einfügt? Oder denkt er an eine – senkrecht untereinander geschriebene, aber doch immer noch winzige – Abkürzung QDRA?21 Oder geht es bei neque tam anguste um den Zeilenabstand – was technisch realistischer, aber weniger absurd wäre? Will Cicero sagen, der Inbegriff juristischer Tätigkeit – zumindest des agere – bestehe darin, bereits vorhandene Texte auf dem Schriftträger mit dem Schnörkel der Worte qua de re agitur zu versehen?22 Es kann bei aller Polemik – so inhaltslos die Tätigkeit auch sein soll, mit der die Juristen sich als Experten aufspielen – nicht das Metier der Juristen bzw. des virtuell zum Juristen mutierten Cicero kennzeichnen, in Handschriften von Formularsammlungen, des Edikts oder eines Gesetzes die Worte qua de re agitur nachzutragen. Denn erstens stehen diese Worte bereits in den Formularen, und zweitens besteht das agere der Juristen (um das es Cicero hier geht), soweit es auf Formulare zurückgreift, darin, aus dem Vorlagentext eine Formel zu übernehmen und an den konkreten Fall anzupassen. Daraus entsteht ein neues scriptum, die schriftliche Formel des Einzelfalls, die mit den Worten quae de scripto aguntur angesprochen sein muss: Auf ihrer Grundlage gestaltet sich die weitere gerichtliche Verhandlung.23 Es geht nicht darum, dass Juristen Formularsammlungen überarbeiten, sondern um die Verwendung des Formulars im konkreten Prozess. Wenn Adamietz die Stelle folgendermaßen verstehen will: „D. h., der Prozessierende braucht nur unter den vorliegenden Prozeßformeln die passende auszuwählen, und deren Text läßt immer noch so viel Platz, daß man sein ,darum geht es in diesem Fall‘ hinzufügen kann“,24

so liegt dem eine unreflektierte Vorstellung von Formularen und der Arbeit damit zugrunde. Das Formular enthält keine tauglichen Konkreta, hinter die (auf welchen Schriftträger?) der Verwender „sein ,darum geht es in diesem Fall‘“ setzen würde. Es enthält den Markierer qua de re agitur und davor mehrere Platzhalter, die der Verwender durch die Konkreta des Falls gedanklich ersetzen muss, bevor das Ganze als Schriftformel des konkreten Falls niedergelegt wird. 20

Hugo, Civilistischer Cursus III. Lehrbuch der Geschichte des römischen Rechts bis auf Justinian, 11. Auflage 1832, S. 457. 21 Val. Prob. Einsidl. 4; dazu Selb, Formeln mit unbestimmter intentio iuris, 1974, S. 20. 22 So Mantovani, Le formule del processo privato romano, 2. Aufl. 1999, S. 26: „Cicerone, in due occasioni, dice ironicamente che i giuristi trovavano sempre il modo di infilare quella clausola [Fn. 36: Cic. Mur. 28; Brut. 275].“ Zu Cic. Brut. 275 (keine Ironie, kein Bezug auf die Klausel) s. unten Fn. 28. 23 Fantham, Cicero’s Pro Murena Oratio, 2013, 124 versteht quae de scripto agunter hingegen als „any dispute over written law or contract“. 24 Adamietz (Hg.), Marcus Tullius Cicero. Pro Murena, 1989, S. 148.

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Bürge befreit sich zwar von der räumlichen Vorstellung von tam anguste und dem Blick auf den Schriftträger: „… und dennoch ist nichts so eng gefasst, dass ich nicht ,Betrifft diese Sache‘ anfügen könnte.“25

Die Formeln des jüngeren Verfahrens seien flexibler als die alten Legisaktionen mit ihrem unabänderlichen, insofern „engen“ Wortlaut, daher sei der Umgang mit den Ersteren (noch) leichter als der mit den Letzteren.26 Aber was hat das mit der Klausel qua de re agitur zu tun? „Nichts ist so eng gefasst, dass ich es nicht gefahrlos und guten Gewissens mitsamt der Klausel qua de re agitur für den konkreten Prozess übernehmen könnte“? Das ergäbe zwar einen Sinn, hat aber mit dem von Cicero gewählten Ausdruck (qua de re agitur addere) nicht mehr viel zu tun. An welchen Text also und zu welchem Zweck sollte der Jurist jemals die Worte „Betrifft diese Sache“ anfügen?

3. Eigener Vorschlag a) qua de re agitur addere: Einsetzen des Streitgegenstands in die Formel Zum Verständnis der Cicero-Polemik muss man die Vorstellung ablegen, Cicero spreche gerade von dem markierenden Formeleinschub qua de re agitur.27 Er spricht von „dem Qua-de-re-agitur“28 bzw. davon, „worum es geht“.29 Er meint den konkre25

Bürge, Die Juristenkomik in Ciceros Rede Pro Murena. Übersetzung und Kommentar, 1974, S. 23; ähnlich Fantham, Cicero’s Pro L. Murena Oratio, 2013, S. 124: „… and yet nothing is written so unambiguously that he could not insert ,in the matter at issue‘.“ 26 Bürge, Die Juristenkomik in Ciceros Rede Pro Murena. Übersetzung und Kommentar, 1974, S. 131. 27 Worauf durch graphische Hervorhebung in Versalien (nach den editorischen Konventionen: als Formelwortlaut) freilich sogar die maßgebliche wissenschaftliche Ausgabe: Kasten 1961 (Bibl. Teubneriana) den Leser festlegt. 28 Wie später in Cic. Brut. 275 (46 v. Chr.): Erant autem et verborum et sententiarum illa lumina, quae vocant Graeci sw¶lata, quibus tamquam insignibus in ornatu distinguebatur omnis oratio. Qua de re agitur autem illud, quod multis locis in iuris consultorum includitur formulis, et ubi esset, videbat – „Es gab [bei dem Redner M. Calidius] aber auch jene Lichtstrahlen, die sowohl von Worten als auch von Sätzen ausgehen können, die die Griechen sw¶lata (,Formen‘) nennen, durch die gewissermaßen als individuelle Abzeichen im Redeschmuck sich die ganze Rede auszeichnete. Jenes qua de re agitur aber, das an vielen Stellen in den Formeln der Rechtsgelehrten enthalten ist, und wo es lag, erkannte er“ und Cic. top. 95 (44 v. Chr.): Sed quae ex statu contentio efficitur, eam Graeci jqimºlemom vocant, mihi placet id, quoniam quidem ad te scribo, qua de re agitur vocare. Quibus autem hoc qua de re agitur continetur, ea continentia vocentur, quasi firmamenta defensionis, quibus sublatis defensio nulla sit – „Aber was sich aus dem Streit über den status ergibt, das nennen die Griechen jqimºlemom (,zu Entscheidendes‘); ich möchte es, schon weil ich an dich (den Juristen C. Trebatius Testa) schreibe, qua de re agitur nennen. Wovon aber dieses qua de re agitur umfasst wird, das heißt continentia (,Umfassendes‘), gewissermaßen die Befestigungen der Verteidigung, bei deren Entfernung jede Verteidigung in sich zusammenbricht“.

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ten Streitgegenstand im obigen Sinne, der bei der Übertragung aus dem Formular in die Formel eingesetzt wird: Die Blankettnamen werden gegen die wirklichen des Falls eingetauscht, der „silberne Tisch“ des Formulars gegen die in concreto verwahrte Sache usw.30 Die hohe Schule des agere ist das nicht, aber es gehört zweifelsfrei zu diesem Tätigkeitsfeld der Juristen. Das aber „kann“ – Cicero betont ego – „sogar ich“: weil es so banal ist; weil kein Formular (nihil) eine Gestaltung aufweist (tam … scriptum est), die seiner Aktualisierung irgendwelche Hemmnisse in den Weg stellen würde. b) Einsetzen des Streitgegenstands als gänzlich anspruchslose Tätigkeit: nihil tam aguste scriptum est Folgt man dieser Spur weiter, so geraten die Anforderungen an die Textbeherrschung der Juristen ins Blickfeld: Die Formeln befleißigen sich keiner Sprache (mehr), deren Wortschatz und Struktur man sich erst in langen Studien aneignen müsste. Die zum Verstehen und Ergänzen des Formulars erforderliche Sprache ist so ganz und gar pedester, so ganz und gar nicht anspruchsvoll, gehoben … erhaben. Die ursprüngliche Aussage Ciceros ist in einem einzigen Buchstaben – N/n statt ursprünglich V/u31 – mechanisch verdorben: … triduo me iuris consultum esse profitebor. etenim quae de scripto aguntur scripta sunt omnia, neque tamen quicquam tam aguste scriptum est quo ego non possim qua de re agitur addere. „… Gebt mir drei Tage – dann bin ich Jurist! Denn die Schriftformeln für den Prozess liegen allesamt in Formularsammlungen vor, und das heißt nicht, dass irgendetwas so hoch erhaben geschrieben wäre, dass ich nicht das Worum-es-hier-geht hinzufügen könnte.“

Anguste steht in allen Handschriften; bei aguste handelt es sich also um eine Emendation contra codices, die doch mit geringstem Aufwand die Verständnisprobleme des überlieferten Textes – im Gegensatz zu den bisherigen Interpretationsversuchen restlos – auflöst. Das Adjektiv augustus bzw. Adverb auguste begegnet vor allem im religiös-kultischen Zusammenhang als „ehrwürdig, heilig, erhaben“,32 etwa in Cic. har. resp. 12: 29 Denkbar ist hier, dass Cicero den indirekten Fragesatz, der im Konjunktiv stehen müsste: quo ego non possim qua de re agatur addere oberflächlich in Anlehnung an die Klausel gestaltet oder agatur in der handschriftlichen Überlieferung verdorben ist. Die Schlüssigkeit der Erklärung muss jedes Bedenken im Hinblick auf die überlieferte Verbalform jedenfalls überwiegen. 30 Auf die Arbeit mit Vertragsformularen und das Einsetzen des Vertragsgegenstands würde die Polemik ebenso passen, man vergleiche etwa die formula für das Gewährleistungsversprechen beim Kauf von Schafen bei Varro rust. 2,2,6: Illasce oves, qua de re agitur (= quibus de agitur), sanas recte esse … spondesne?. 31 Zur Buchstabenverwechslung West, Textual Criticism and Editorial Technique, 1973, S. 25 – 26. 32 ThLL s. v. augustus I und II; OLD s. v. auguste und augustus.

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De sacris publicis, de ludis maximis, de deorum penatium … caerimoniis … quod tres pontifices statuissent, id semper populo Romano, semper senatui, semper ipsis dis immortalibus satis sanctum, satis augustum, satis religiosum esse visum est. „Was drei Oberpriester (pontifices) im Hinblick auf den Staatskult, die großen Gladiatorenspiele, die Feierlichkeiten für die Penaten befunden hatten, das erschien stets dem römischen Volk, stets dem Senat, stets den unsterblichen Göttern selbst genügend heilig, genügend erhaben, genügend gottesfürchtig zu sein.“

Das Gegenbild zu Mur. 28 wären also rituelle Formeln, deren Verständnis und Handhabung tieferen Einblick und besondere Kenntnisse von Vokabular und Duktus, insbesondere das Geheimwissen der Oberpriester um solcherlei Dinge, erfordern. Nihil tam auguste scriptum korrespondiert mit minime obscuris litteris im ersten Satz der Stelle: So wenig die Lehr- und Handbücher der Juristen dem Leser für das Verständnis irgendetwas abverlangen, so gänzlich harmlos sind ihre Formulare und voraussetzungslos deren Aktualisierung. Cicero sieht also nicht eine stupide Manie der Juristen im Einfügen der Worte qua de re agitur, sondern eine denkbar anspruchslose Tätigkeit im Formulieren des Qua-de-re-agitur bzw. der res de qua agitur.

III. Grundstücksrecht und Wohnungseigentum

Ausländische Notare beim Erwerb eines in Deutschland belegenen Grundstücks Von Dagmar Coester-Waltjen und Michael Coester

I. Einleitung Das Œuvre des Jubilars in Lehre und Forschung ist weit gespannt. Zu seinen besonderen Verdiensten gehört unter anderem sein Einsatz für die 2003 an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität gegründete Forschungsstelle für Notarrecht.1 Ihm sei daher der folgende Beitrag gewidmet, der sich schwerpunktmäßig befasst mit einer den Jubilar beschäftigenden,2 im Jahre 2020 ergangenen BGH-Entscheidung3 zur Notwendigkeit der Einschaltung eines deutschen Notars bei der Auflassung eines in Deutschland belegenen Grundstücks. Diese – im Wesentlichen die herrschende Meinung bestätigende – Entscheidung hat eine Vielzahl von Reaktionen in der juristischen Literatur hervorgerufen, wobei sich Befürworter4 und Kritiker5 in etwa die Waage zu halten scheinen. Uns wird es dabei im Wesentlichen auf die kritische Erörterung der unterschiedlichen Argumente für die eine oder andere Ansicht ankommen.

II. Problemstellung Die Frage, in welchem Bereich und in welcher Phase eine nach deutschem Recht erforderliche notarielle Tätigkeit mit Wirkung für das Inland auch von einem ausländischen Notar wahrgenommen werden kann, hat weitreichende Bedeutung. Zum einen geht es um den Schutz des inländischen Rechtsverkehrs, zum anderen aber auch um die Möglichkeit, in einer mehr oder weniger globalen Welt und in einer mobilen Gesellschaft wirksam handeln zu können. 1 S. https://www.jura.uni-muenchen.de/forschung/forschungsstellen/forschung_notar/index. html. 2 Hager/Teckhof, NJW 2020, 1857 (1859). 3 BGH, NJW 2020, 1670. 4 Z. B. Herrler, NotBZ 2020, 391; Thode, JurisPR-ZivilR 12/2020, Anm. 2; Raff, DNotZ 2020, 750; Einsele, LMK 2020, 430295. 5 Z. B. Mäsch, JuS 2020, 1215; Lehmann/Krysa, RiW 2020, 464; Ransiek, JurisPR-IWR 4/ 2020, Anm. 3.

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Das internationale Privatrecht ist im Interesse beider Anliegen zunehmend von starren und alternativlosen Anknüpfungen an die Staatsangehörigkeit, den Lageort oder allein an den Handlungsort abgerückt. Es lässt stattdessen weitgehend eine Rechtswahl durch die Parteien zu oder greift auf alternative Prüfungen (z. B. Anwendung der lex causae oder der lex loci celebrationis) zurück oder bestimmt sich nach flexibleren Anknüpfungsmomenten, wie dem gewöhnlichen Aufenthalt einer Person oder der jeweils engsten Verbindung eines Sachverhalts. Dabei sorgen vereinheitlichte Kollisionsregeln vor allem innerhalb der Europäischen Union (z. B. Rom I-IIIVO), aber darüber hinaus durch Haager Abkommen (z. B. HTestformÜ HUProt, KSÜ) für eine gewisse Einheitlichkeit in der Bestimmung des anwendbaren Rechts. Zusätzlich gewährleisten grenzüberschreitend geltende Regelungen über Zuständigkeiten sowie Anerkennungs- und Vollstreckungsregelungen für die in der Regel hoheitlichen Akte Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit auch für eine grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung (so vor allem die Brüssel Ia-VO). Eine besondere Rolle nimmt in dieser Hinsicht jedoch das Sachenrecht, vor allem das Immobilienrecht ein. Soweit internationale Abkommen und europäische Verordnungen diese Gebiete überhaupt berühren (i. d. R. nur für das schuldrechtliche Geschäft), wird dem Lageort-Recht6 und der Zuständigkeit der Gerichte und Institutionen am Belegenheitsort Vorrang,7 ja sogar Ausschließlichkeit8 eingeräumt. Auch das autonome deutsche Recht (dem für die dingliche Seite im Gegensatz zu den von der Rom I-VO erfassten Verpflichtungsgeschäften die Regelungskompetenz zusteht) geht nach Art. 43 EGBGB von der Anwendung des Lageort-Rechts für die Übertragung dinglicher Rechte an in Deutschland belegenen Immobilien9 und die ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte für entsprechende Klagen aus. In diesem Bereich wirken zwar noch Elemente des Territorialitätsprinzips10 weiter, die Bedeutung der lex rei sitae und die entsprechenden Zuständigkeitsregelungen erscheinen aber darüber hinaus als durch eine umfassende Interessenabwägung (Praktikabilität, Sachnähe, Rechtssicherheit) gerechtfertigt.11 Insoweit besteht grundsätzlich Einigkeit. Fraglich ist jedoch, ob und wie weit Rechtsbegriffe des deutschen Rechts durch Rechtsinstitute eines ausländischen 6

Art. 4 Abs. 1 lit. c, Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO; Erwägungsgrund 18 EuErbVO. Z. B. Art. 1 Abs. 2 lit. k i. V. m. Erwägungsgrund 15, 16, Art. 30, 31 EuErbVO. 8 Art. 24, 25 Abs. 4, 26 Abs. 1 S. 2, 45 Abs. 1 S. 1 lit. e, ii Brüssel Ia-VO; Erwägungsgrund 18 EuErbVO. 9 Zu entsprechenden Regelungen anderer Rechtsordnungen: Kieninger, „Immovable Property“, in: Basedow et. al (Hrsg.) Encyclopedia of Private International Law, Vol. 2, 2017, S. 890 f. 10 Zum Territorialitätsprinzip allgemein: von Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht Bd. 1, 2. Aufl. 2003, § 6 Rn. 5; Ferid, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 1986, S. 1 – 69. 11 Zur Sachgerechtigkeit und den Interessenabwägungen zu Gunsten der lex rei sitae: Staudinger/Mansel (2015), Art. 43 EGBGB Rn. 15 ff.; speziell für Immobilien Rn. 35 f.; Kieninger, „Immovable Property“, in: Basedow et. al (Hrsg.), Encyclopedia of Private International Law, Vol. 2, 2017, S. 891 f. 7

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Rechts substituiert werden können.12 Grundsätzlich wird bei Äquivalenz der ausländischen Rechtsinstitution die Möglichkeit einer Substitution im Interesse der Rechtssicherheit und der internationalen Freizügigkeit des Rechtsverkehrs befürwortet.13 Erste Voraussetzung ist jedoch stets, dass nach Sinn und Zweck der entsprechenden Sachnorm eine Ersetzung durch ein (entsprechendes) ausländisches Rechtsinstitut erfolgen darf (Frage der Substituierbarkeit). Ergibt die Auslegung, dass die Sachnorm den relevanten Systembegriff „in einem streng geschlossenen Sinne“14 verwendet, es ihr also einzig und allein auf die deutsche Rechtsinstitution ankommt, dann ist bereits die Substituierbarkeit ausgeschlossen und die Frage der Gleichwertigkeit der ausländischen Rechtsfigur stellt sich gar nicht erst. Was genau bedeutet dies nun für den Verkauf, für den Erwerb und die Übertragung eines in Deutschland belegenen Grundstücks (oder eines entsprechenden dinglichen Rechts)? Auf diese auch der BGH-Entscheidung zugrunde liegende Fallgestaltung sollen die folgenden Ausführungen beschränkt werden.

III. Die Bestimmung des anwendbaren Rechts 1. Die Kollisionsregeln für die materiellen und formellen Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Grundstückskaufvertrags a) Die generelle Regelung Nach Artikel 4 Abs. 1 lit. c Rom I-VO ist Geschäftsstatut der schuldrechtlichen Verträge über dingliche Rechte an Immobilien das Recht des Lageortes (lex rei sitae), bei in Deutschland belegenen Grundstücken also deutsches Recht. Dies gilt, soweit der Sachverhalt nicht engere Verbindungen zu einer anderen Rechtsordnung aufweist (Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO).15 Die Parteien haben auch die Möglichkeit, die Anwendung einer anderen Rechtsordnung zu wählen.16 Nur wenn der Sachverhalt ausschließlich Beziehungen zu Deutschland hat, bleiben die Parteien trotz einer solchen Rechtswahl an die nicht dispositiven Regelungen des deutschen

12 Allgemein zur Substitution: Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, § 33; Jayme, IPRax 2008, 298; Mansel, in: FS Lorenz, 1991, 689 (insbesondere S. 693, 697 für die hier interessierende Situation); Mansel, in: FS Kropholler, 2008, S. 353 (367); Wengler, RabelsZ 8 (1934), 148 (161 f.); Lewald, Rec. des Cours 69 (1939-III) 130 no. 55; Hug, Die Substitution im IPR, 1983. 13 Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. (2006), § 33 II. 14 Mansel, in: FS Lorenz, 1991, S. 689 (697). 15 Eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Recht wird aber nicht allein durch Einschaltung eines ausländischen Notars hergestellt: Staudinger/Magnus (2016), Art. 4 Rom I-VO Rn. 177. 16 Staudinger/Magnus (2016), Art. 4 Rom I-VO Rn. 176 f.

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Rechts (z. B. § 311b BGB) gebunden (Art. 3 Abs. 3 i. V. m. Erwägungsgrund 15 Rom I-VO).17 Das objektiv bestimmte oder von den Parteien gewählte Recht bestimmt die materiellen Voraussetzungen des Verpflichtungsgeschäfts. Die formellen Voraussetzungen für ein wirksames Verpflichtungsgeschäft richten sich ebenfalls nach dieser lex causae (Art. 11 Abs. 1 Alt. 1 Rom I-VO). Alternativ genügt es aber auch, wenn die sog. „Ortsform“ erfüllt ist (Art. 11 Abs. 1 Alt. 2 Rom I-VO), das Geschäft also den formellen Anforderungen des Rechts des Abschlussortes entspricht (lex loci solutionis).18 Die in Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO vorgesehene ausnahmsweise Berufung des Rechts des Lageortes (lex situs) für Formfragen kommt für das Verpflichtungsgeschäft über deutsche Grundstücke nicht in Betracht, denn das deutsche Sachrecht sieht für den Verkauf eines Grundstücks keine kollisionsrechtlich zwingende Formvorschrift vor. § 311b Abs. 1 BGB ist – jedenfalls nach h. M. – nicht international zwingend. Auf den Formzwang des § 311b Abs. 1 BGB können die Parteien zwar nicht verzichten, ein Formverstoß ist jedoch zum einen heilbar,19 zum anderen eröffnet das deutsche Recht die alternative Form des Ortsrechts.20 Dies bedeutet, dass ein Grundstückskaufvertrag über ein in Deutschland belegenes Grundstück ohne eine Rechtswahl der Parteien materiell wirksam abgeschlossen ist, wenn er dem materiellen deutschen Recht entspricht. Die Einhaltung der Formregelungen des Abschlussortes reicht zur formellen Wirksamkeit aus, auch wenn diese nicht den Formanforderungen des deutschen Rechts entsprechen. Umgekehrt kann ein ausländischem Recht unterstehender Grundstückskaufvertrag auch in Deutschland formwirksam ohne eine notarielle Beurkundung abgeschlossen werden, wenn die lex causae dies genügen lässt (und keine international zwingenden Formvorschriften des Belegenheitsrechts (Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO) entgegen stehen.21 Bei einer derartigen alternativen Berufung von lex causae und lex loci solutionis stellt sich die Frage nach einer Substitution eher selten, weil üblicherweise das Ortsrecht eingehalten sein wird. Nur wenn der vom Ortsrecht vorgeschriebenen Form nicht entsprochen worden ist, stellt sich die Frage, ob die Formvorschriften der 17

Staudinger/Magnus (2016), Art. 4 Rom I-VO Rn. 180. Zur streitigen Frage, ob die Parteien, die bereits durch die Wahl der lex causae und durch Wahl des Abschlussortes ihre Parteiautonomie ausüben können, zusätzlich ein anderes Recht als Formstatut wählen können: MüKoBGB/Spellenberg, 8. Aufl. 2020, Art. 11 EGBGB Rn. 76 ff. 19 BeckOK-BGB/Gehrlein (Stand 01. 11. 2020), § 311b BGB Rn. 32, 33. 20 Staudinger/Winkler von Mohrenfels (2016), Art. 11 Rom I-VO Rn. 143; Staudinger/ Mansel (2015), Art. 43 EGBGB Rn. 1124; Staudinger/Magnus (2016), Art. 4 Rom I-VO Rn. 179; Palandt/Thorn, 80. Aufl. 2021, Art. 11 Rom I-VO Rn. 16; BeckOK-BGB/Mäsch (Stand 01. 11. 2020), Art. 11 Rom I-VO Rn. 63; eine Überdenkung dieser Regelung fordernd: Reithmann, in: FS Ferid, 1988, S. 363 (371); Reithmann, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.240. 21 Staudinger/Mansel (2015) Art. 43 EGBGB Rn. 1117. 18

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lex causae durch den im Ausland vorgenommenen Vorgang erfüllt sein können. Dies ist dann eine Frage der Substituierbarkeit und der Substitution.22 b) Die Umsetzung auf den konkreten Fall Was bedeutet dies für den der BGH-Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt? Leider ergeben sich aus der Entscheidung keine Einzelheiten des Sachverhalts zum schuldrechtlichen Geschäft. Es ist wohl davon auszugehen, dass eine Wahl des anwendbaren Rechts durch die Parteien nicht vorlag und auch keine engere Verbindung zu einem anderen Recht als dem Recht des Lageortes, also zum deutschen Recht, bestand. Insofern ist deutsches Recht Geschäftsstatut. Inhaltlich ergeben sich – soweit der Sachverhalt bekannt ist – keine Zweifel an der materiellen Wirksamkeit des Kaufvertrages. Da offensichtlich (auch) der schuldrechtliche Vertrag in Basel geschlossen wurde, ist Schweizer Recht alternativ zum deutschen Recht als Formstatut berufen. Nach Art. 2016 OR, Art. 657 Abs. 1 ZGB muss ein Grundstückskaufvertrag nach Schweizer Recht öffentlich beurkundet werden. Diese bundesrechtliche Formvorschrift wird durch kantonale Regelungen des Urkundswesens ergänzt.23 Ungeachtet des Schweizerischen Streits um die interkantonale Freizügigkeit öffentlicher Urkunden kann vorliegend wohl davon ausgegangen werden, dass der beurkundende Schweizer Notar im Kanton Basel-Stadt für die Beurkundung eines Grundstückskaufvertrages zuständig war. Insofern ist ein formgerechter Vertragsschluss anzunehmen; Fragen der Substitution stellen sich nicht. 2. Kollisionsregeln für die materiellen und formellen Voraussetzungen einer Grundstücksübereignung a) Die generellen Regelungen Wie bereits oben erwähnt, beruft Art. 43 EGBGB die lex rei sitae für die Übereignung von Grundstücken (und für die Übertragung anderer dinglicher Rechte). Eine Rechtswahl durch die Parteien ist nicht möglich.24 Diese Regelungen werden weder durch EU-Verordnungen noch durch internationale Abkommen verdrängt. Für die formellen Voraussetzungen des Erfüllungsgeschäfts gilt nicht Art. 11 22 Die Ausführungen des BGH zur Frage der Gleichwertigkeit eines Schweizer Notars sind insofern irreführend, als der BGH den nur die schuldrechtliche Seite betreffenden Art. 9 EVÜ (richtigerweise hätte es ohnehin Art. 11 Rom I-VO heißen müssen – s. auch Raff, DNotZ 2020, 750 (752); Erman/Stürner, 16. Aufl. 2020, Vor-Art. 1 Rom I-VO Rn. 1) beim dinglichen Geschäft zur Begründung einer Mitwirkung eines deutschen Notars bemüht; zu Recht krit. gegenüber den irreführenden kollisionsrechtlichen Ausführungen des BGH: Mäsch, JuS 2020, 1215 f. 23 Zelger, in: Büchler/Jakob, ZGB, 2012, Art. 657 Rn. 2. 24 Staudinger/Mansel (2015), Art. 43 EGBGB Rn. 14 ff. m. w. N.; für das Mobiliarsachenrecht werden de lege ferenda Ausnahmen diskutiert: Ritterhoff, Parteiautonomie im Sachenrecht, 1999, S. 322; Stoll, IPRax 2000, 259 (265).

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Abs. 1 EGBGB (alternative Berufung von lex causae und lex loci solutionis), sondern Art. 11 Abs. 4 EGBGB mit der ausschließlichen Berufung des Geschäftsstatuts, bei Grundstücken also des Belegenheitsrechts.25 Ortsrecht und Geschäftsstatut stehen daher in Formfragen nicht alternativ zur Verfügung, vielmehr bestimmt das Belegenheitsrecht als Geschäftsstatut auch die formellen Voraussetzungen, ist also auch Formstatut.26 b) Die Umsetzung auf den konkreten Fall Für die Übereignung eines in Deutschland belegenen Grundstücks ist demnach sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht deutsches Recht anwendbar. Konkret heißt dies, dass die Parteien bei gleichzeitiger Anwesenheit ihre Einigung über den Übergang des Eigentums an dem betreffenden Grundstück erklären müssen (§ 925 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Einigungserklärungen sind formfrei möglich (1), sie müssen jedoch vor einem Notar erklärt werden (2); der Notar muss in einer notariellen Urkunde bestätigen (3), dass diese Einigung erfolgt ist (§ 925 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 20, 29 GBO). Nur dann kann die Eintragung in das entsprechende Grundbuch erfolgen (§ 873 Abs. 1 BGB), mit der der Eigentumserwerb abgeschlossen ist. Streitpunkt ist, ob bei dieser insoweit konsentierten Anwendung allein deutschen Rechts sowohl auf die materiellen als auch auf die formellen Voraussetzungen des Eigentumsübergangs die Erklärungenen allein vor einem deutschen Notar (oder einer entsprechenden vom deutschen Recht bestimmten Stelle) stattfinden können oder ob hier im Wege der Substitution auch eine äquivalente ausländische Stelle tätig werden kann. Streitpunkt ist also die Frage der Substituierbarkeit27 (nicht der analogen Anwendung von § 925 BGB).28 Im Falle einer grundsätzlichen Bejahung der Substituierbarkeit kommt es dann auf die Vergleichbarkeit des – in diesem Fall tätig gewordenen – Notars im Kanton Basel-Stadt mit einem deutschen Notar an.

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Staudinger/Mansel (2015), Art. 43 EGBGB Rn. 1105 (mit Hinweis darauf, dass in der Lit. die ausschließliche Berufung des Belegenheitsrechts für Verfügungsgeschäfte über bewegliche Sachen kritisiert und de lege ferenda eine Lockerung empfohlen wird). 26 Missverständlich insofern Raff, DNotZ 2020, 750 (752). 27 Vgl. Einsele, LMK 2020, 430295; Herrler, NotBZ 2020, 391. 28 S. dazu sogleich.

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IV. Das Problem der Substituierbarkeit 1. Irrelevanz der Einordnung Für die Frage der Substituierbarkeit spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob die Mitwirkung des Notars bei der Auflassung eine Frage des materiellen29 oder des formellen30 Rechts ist, denn – wie vorstehend dargelegt – ist in beiden Bereichen allein deutsches Recht anzuwenden. Substituierbarkeit kommt im Übrigen sowohl bei Begriffen der lex causae als auch bei solchen des Formstatuts in Betracht. Die Möglichkeit, einen Begriff des anwendbaren (deutschen) Rechts durch Rechtsinstitutionen einer anderen Rechtsordnung zu ersetzen (also die Substitution genrell), wird – wie oben bereits angedeutet – von der ganz herrschenden Meinung generell bejaht, wenn und soweit die ausländische Rechtsinstitution funktionsäquivalent ist. Das ist etwas anderes als die vom BGH31 und teilweise auch in der Literatur32 erörterte analoge Anwendung von § 925 BGB. Denn bei der Substitution kommt es nicht auf „einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers“33, also auf die Frage nach einer bewussten oder unbewussten Lücke an. Bei dem ersten Schritt der Substitution nämlich der Substituierbarkeit, bedarf es im Interesse des Rechtsverkehrs besonderer Gründe, wenn schon diese verneint, nämlich ein „geschlossenes System“ angenommen wird. Was könnten diese besonderen Gründe hier sein? 2. Unergiebigkeit des Wortlauts und der historischen Entwicklung Rechtsprechung und Literatur gehen übereinstimmend davon aus, dass der Wortlaut des § 925 BGB (im Gegensatz zu § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO) die geforderte Tätigkeit nicht ausdrücklich auf deutsche Notare beschränkt.34 Einig ist man sich auch darin, dass historisch gesehen die Auflassungserklärung nur vor dem Grundbuchamt oder aber den landesrechtlich damit betrauten Notaren (§ 925 BGB i. d. F. vom 01. 01. 1900 bis zum 01. 04. 1953 i. V. m. Art. 143 Abs. 1 EGBGB und § 1 Verordnung über Auflassung, landesrechtliche Gebühren und Mündelsicherheit vom 11. 05. 1934) erfolgen konnte.35 Fraglich ist nur, ob diese historische Sichtweise für die heutige Rechtspraxis weiter uneingeschränkt Bedeutung entfalten kann, zumal die Neufassung des § 925 BGB eine derartige Beschränkung auf deutsche Notare gerade nicht 29 So zumindest missverständlich Raff, DNotZ 2020, 750 (752); für eine Einordnung der notariellen Mitwirkung bei der Auflassung als verfahrensrechtliches Erfordernis der materiellrechtlichen Wirksamkeit der Beurkundung nach §§ 20, 29 GBO: Staudinger/Diehm (2020), § 925 Rn. 75, 76. 30 So der BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 6. 31 BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 18. 32 Thode, JurisPR-BGH, ZivilR 12/2020, Anm. 2. 33 BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 15. 34 BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 13. 35 Ausführlich dazu BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 14 ff.; Thode, JurisPR-BGH ZivilR 12/ 2020, Anm. 2; Herrler, NotBZ 2020, 391 (392).

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hergibt. Das historische Argument gegen eine Substituierbarkeit ist also eher schwach. 3. Schutz der Parteien Sehr großen Raum in der Diskussion nimmt hingegen der Aspekt des Schutzes der Parteien ein. Der BGH36 betont die besondere Tragweite der Auflassung und rechtfertigt damit – wiederum auf die Entstehungsgeschichte des § 925 BGB verweisend – die Verneinung der Substituierbarkeit. Auch diese Argumentation hat allerdings Schwächen. Zum einen zeigt gerade die notarielle Praxis, nach der die Kaufvertragsparteien bereits bei Abschluss des Kaufvertrages einen Notariatsmitarbeiter unter Befreiung vom Verbot des Selbstkontrahierens (§ 181 BGB)37 zu der Erklärung der Auflassung bevollmächtigen können, dass in dieser Phase des Grundstücksgeschäfts der Schutz der Parteien vor unüberlegten Erklärungen gerade nicht mehr im Vordergrund steht und deshalb praktisch auch nicht erfolgt.38 Vielmehr sind entsprechende Sicherungen durch Vorbehalte (Rücktrittsvorbehalt, Vorbehalt der Eintragungsbewilligung – § 19 GBO) und Absicherungen bereits im schuldrechtlichen Geschäft zu treffen.39 Auch der Hinweis auf den generellen Schutz der Erklärenden, der ihnen bei notariellen Beurkundungen zukommt, überzeugt insofern nicht, als dieser konsequenterweise generell die Substituierbarkeit für notarielle Beurkundungen ausschließen müsste. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Vielmehr ist praktisch unbestritten, dass nach deutschem Recht generell notariell zu beurkundende Erklärungen auch von einem ausländischen Notar beurkundet werden können, wenn dieser Vorgang als funktionsäquivalent bezeichnet werden kann. So ist – wie oben schon dargelegt – unbestritten, dass ein Kaufvertrag über ein in Deutschland belegenes Grundstück auch von einem (funktionsäquivalenten) ausländischen Notar beurkundet werden kann.40 Der Kaufvertrag über ein Grundstück ist in seinen rechtlichen Folgen nicht weniger bedeutend als die Auflassung, begründet er doch eine durchsetzbare Verpflichtung zur Übertragung des Grundstückseigentums. Darüber hinaus können – worauf Mäsch41 zu Recht hingewiesen hat – andere Erklärungen, die deutschem Formstatut unterliegen und bedeutende Rechtsfolgen be36

BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 19 f. Bereits KG, JW 1937, 471; LG Kassel, DNotZ 1958, 429. 38 Staudinger/Diehn (2020), § 925 Rn. 75 f., 111; die Mitwirkungsbereitschaft des Notars bezeichnet Diehn allerdings (sachrechtlich) als materiellrechtliche Voraussetzung; ähnl. BeckOK-BGB/Grün (01. 02. 2020), § 925 Rn. 19 die Empfangszuständigkeit sachrechtlich als materiellrechtliche Voraussetzung einordnend. 39 Zum Problem der ungesicherten Vorleistung: Staudinger/Hertel (2017), BUrkG Rn. 496 ff. 40 Dies gilt schon allein deswegen, weil hier die Einhaltung der Ortsform ausreicht (Art. 11 Abs. 1 Rom I-VO) und § 311b Abs. 1 BGB nicht international zwingend ist. 41 Mäsch, JuS 2020, 1215 (1216). 37

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wirken, ebenfalls von einem ausländischen Notar beurkundet werden, obwohl sie in ihrer rechtsgeschäftlichen Tragweite zumindest ebenso gewichtig sind wie die Auflassung und ausschließlich deutschem Recht unterliegen (z. B. Abtretung von Gesellschaftsanteilen nach § 15 Abs. 3 GmbHG42 oder Gründung einer deutschen GmbH nach § 2 Abs. 1 GmbHG43). 4. Belehrungen und Rechtskenntnisse Insofern kann es für die Frage der grundsätzlichen Substituierbarkeit nicht darauf ankommen, ob die Belehrungspflicht des Notars nach § 17 BUrkG eine Rechtsausbildung oder eine Kenntnis des deutschen Rechts voraussetzt und welche Bedeutung das Nichtbestehen einer Belehrungspflicht über ein anwendbares ausländisches Recht (§ 17 Abs. 3 BUrkG) hat. Auch die (jedenfalls vom BGH)44 angenommene Verzichtbarkeit der Belehrung45 oder die nur begrenzte Sanktion bei Fehlen einer erforderlichen Belehrung (keine Unwirksamkeit der notariellen Beurkundung, aber Amtshaftung)46 können sich auf die Entscheidung über die Substituierbarkeit nicht auswirken, weil sie für alle notariellen Beurkundungen gelten. 5. Kontrollaufgaben Schließlich sind die Pflichten eines deutschen Notars im Hinblick auf Kontrollen nach dem Geldwäschegesetz (inbes. § 2 Abs. 1, § 10 Abs. 9 GWG) und nach dem Grunderwerbssteuergesetz (§ 1 GrEstG) keine Besonderheit der Auflassung, welche die Substituierbarkeit ausschließen könnte,47 weil sie gleichermaßen für das schuldrechtliche Geschäft gelten, bei dem aber zweifelsohne ein ausländischer Notar nach der h. M. wirksam tätig werden kann. Bedeutsam scheint uns hingegen der Hinweis der h. M. auf die besondere Kontrollfunktion des Notars gerade im Hinblick auf seine Mitwirkung bei der Auflassung nach § 925 Abs. 1 Satz 2 BGB. Dabei mag zwar der vom BGH (Rn. 24) hervorgehobenen Überprüfung des Vorhandenseins eines wirksamen schuldrechtlichen Geschäfts nach § 925a BGB keine besondere praktische Bedeutung zukommen, denn sehr häufig – wie auch in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt – wird dieses schuldrechtliche Geschäft gleichzeitig mit der Auflassung erfolgen, die Prüfung durch den Notar also incidenter vorgenommen. Diese Regelung verdeutlicht 42 BGH, NJW 2014, 1828; krit. dazu Müller, NJW 2014, 1994; OLG Düsseldorf, DNotZ 2011 = NJW 2011, 1370. 43 KG, NJW 2018, 1828; krit. nur bzgl. der Gleichwertigkeit: Herrler, NJW 2018, 1787. 44 BGH, NJW 2014, 2026 (2027). 45 Dies betont in seiner Kritik an der BGH-Entscheidung v. a. Ransiek, JurisPK-IWR 4/ 2020, Anm. 3. 46 Staudinger/Hertel (2017), BUrkG Rn. 713. 47 So aber Raff, DNotZ 2020, 751 (755).

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jedoch die besondere Gestaltung der Auflassung, die sich auch bei weiteren Kontrollpflichten des Notars (z. B. bei der Prüfung der Eintragungsfähigkeit nach § 21 BUrkG) zeigt und auf ein „geschlossenes System“ hinweisen kann. Die Besonderheit besteht darin, dass es in § 925 BGB gerade nicht um eine notariell beurkundete Erklärung der Parteien geht. Vielmehr ist die Auflassungserklärung selbst – wie bereits oben erwähnt – formfrei möglich.48 § 925 BGB fordert stattdessen die Beurkundung eines Vorgangs durch eine entsprechende Person (Notar). Es geht also nicht um die Form einer Erklärung der Parteien, sondern um den Nachweis eines Vorgangs, über den der Notar eine Urkunde ausstellt (§§ 20, 25 GBO, §§ 8 ff. BUrkG).49 Damit rücken die Aspekte der Mitwirkungsbereitschaft50 und der Empfangszuständigkeit51 und damit verfahrensrechtliche Fragen in den Vordergrund, die ähnlich wie Gerichtszuständigkeiten nicht ohne Weiteres auswechselbar sind.52 6. Vergleichbare Situationen Kollisionsrechtlich werden diese Elemente nach verbreiteter Meinung der Form eines Rechtsgeschäfts zugerechnet, weil sie zum äußeren Tatbestand desselben gehören.53 Das Formstatut bestimmt nach dieser Ansicht die Notwendigkeit der Mitwirkungsbereitschaft und der Empfangszuständigkeit. In durchaus vergleichbaren Situationen wird die Frage des Adressaten, also der Empfangszuständigkeit, der lex causae unterstellt, weil man gerade nicht die alternative Berufung des Ortsrechts eröffnen möchte. So soll sich beispielsweise bei der Ausschlagung einer Erbschaft die Frage des Adressaten (Empfangszuständigkeit) gemäß § 1945 BGB nach dem Erbstatut richten.54 Andere sahen (vor Inkrafttreten der EuErbVO) in § 1945 BGB ein verfahrensrechtlich begründetes Formerfordernis, das zwingend der lex fori unterlie-

48

BeckOK-BGB/Grün (01. 02. 2020), § 925 Rn. 20. Vgl. OLG München, DNotZ 2009, 222 lässt daher zu Recht eine lediglich vom Notar beglaubigte Urkunde der Auflassungserklärung nicht genügen. 50 RGZ 132, 406 (409). 51 Vgl. OLG München, DNotZ 2009, 292 Rn. 7. 52 Vgl. Staudinger/Diehn (2020), § 925 Rn. 75 f., 111 (die Mitwirkungsbereitschaft des Notars bezeichnet Diehn allerdings sachrechtlich als materiellrechtliche Voraussetzung); ähnl. BeckOK-BGB/Grün (01. 02. 2020), 925 Rn. 19 (die Empfangszuständigkeit sachrechtlich als materiellrechtliche Voraussetzung einordnend). 53 Staudinger/Winkler von Mohrenfels, Art. 11 Rom I-VO Rn. 43; Staudinger/Winkler von Mohrensfels, Art. 11 EGBGB Rn. 99, 151; parallel dazu für die Eheschließung: MüKoBGB/ Coester, 8. Aufl. 2020, Art. 13 EGBGB Rn. 123; Staudinger/Mankowski (2011), Art. 13 EGBGB Rn. 765, 779, 786. 54 MüKoBGB/Spellenberg, 8. Aufl. 2020, Art. 11 EGBGB Rn. 38, 177; OLG Schleswig, FamRZ 2015, 1328; OLG Köln, FamRZ 2014, 1576; krit. dazu Margonski, ZEV 2015, 141 (143) (hilfsweise Ortsrecht als Formstatut); s. dazu auch OLG Hamburg, IPRax 2016, 470; Nordmeier, IPRax 2016, 439 (441 f.). 49

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gen sollte.55 Mit Inkrafttreten der EuErbVO hat sich dieses Problem insofern verändert, als Art. 28 EuErbVO nunmehr direkt das auf eine Erbausschlagung materiell und formell56 anwendbare Recht (Erbstatut und Alternativrecht des gewöhnlichen Aufenthalts des Erklärenden) bestimmt, sich dieser Teilfrage also gesondert annimmt. Zusätzlich schafft Art. 13 EuErbVO durch eine begrenzte Substitution57 eine Sonderzuständigkeit für die Entgegennahme der entsprechenden Erklärungen. Damit scheint zwar zunächst für die angesprochene Thematik (zur Frage der Substituierbarkeit) noch keine zwingende Entscheidung vorgegeben, weil sowohl Formstatut als auch Geschäftsstatut und lex fori ohnehin deutsches Recht sind.

7. Differenzierung zwischen verschiedenen Formelementen Die Differenzierung zwischen einzelnen Formelementen legt aber die Überlegung nahe, dass nicht für alle Elemente in gleicher Weise entschieden werden muss. Allein daraus, dass bei anderen notariellen Beurkundungsvorgängen eine Substitution grundsätzlich ermöglicht wird, muss daher nicht notwendig folgen, dass die Substituierbarkeit bei speziellen Anforderungen an die Tätigkeit des Notars (wie Mitwirkungsbereitschaft und Empfangszuständigkeit) ebenfalls gegeben ist. Es sollte vielmehr unterschieden werden zwischen der Form der Parteierklärung und anderen notwendigen Vorgängen im Zusammenhang mit rechtlich relevanten Erklärungen. Für die notarielle Form einer Parteierklärung sollte im Grundstücksrechts bezüglich der Substituierbarkeit nichts anderes gelten als für andere notariell zu beurkundende Parteierklärungen, denn für alle gelten gleichermaßen die Schutz-, Beweis- und Sicherheitsstandards des deutschen Beurkundungsrechts. In Fragen der Beurkundung eines Vorgangs, der Festlegung eines Erklärungsadressaten oder bei Konkretisierung der Empfangszuständigkeit kann jedoch entsprechend des jeweiligen Aktes unterschieden werden. Geht es dabei um eine vom Staat delegierte Kontrolle oder um interne Zuständigkeiten, dann spricht dies eher für einen geschlossenen Tatbestand, der eine Substituierbarkeit durch ausländische Notare von vorneherein ausschließt. Die Auflassung wird zwar von den Privatpersonen erklärt, für den Eigentumsübergang hat sie aber erst Wirkungen mit der im zuständigen Grundbuchamt erfolgenden Eintragung. Die Zuständigkeit des Grundbuchamts ergibt sich ausschließlich aus der deutschen Belegenheit, der deutschen lex fori. Zwischen diesen beiden Akten – formfreie Parteierklärung und amtliche Handlung des deutschen Grundbuchamtes – steht der Notar als mitwirkende und verantwortliche Stelle. Ihm sind – wie in der Literatur richtig betont wird – bestimmte, staatlicher Kontrolle 55

Süß, JurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, Art. 11 EGBGB Rn. 13, 24; jetzt wegen Art. 28 ErbVO nicht mehr relevant: Süß, JurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, Art. 11 EGBGB Rn. 13, 26. 56 Krit. zum Fehlen einer Einbeziehung der Ortsform: MüKoBGB/Dutta, 8. Aufl. 2020, Art. 28 EuErbVO Rn. 2. 57 MüKoBGB/Dutta, 8. Aufl. 2020, Art. 13 EuErbVO Rn. 10.

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und Sanktionierbarkeit unterliegende Pflichten auferlegt. Insofern hat seine Beurkundung des Vorgangs einen anderen Charakter als eine Beurkungung von Parteierklärungen. Daher spricht hier – ähnlich wie bei der Empfangszuständigkeit der Ausschlagungserklärung nach § 1945 BGB – viel für einen sog. „geschlossenen Tatbestand“, der eine Substitution durch ausländische Rechtsbegriffe/Rechtsinstitute gerade nicht zulässt.

V. Fazit Man mag die hier vorgenommene Differenzierung zwischen notarieller Beurkundung einer privatrechtlichen Erklärung und der Mitwirkung an der Bestätigung eines Austauschs von Einigungserklärungen durch notarielle Beurkundung für spitzfindig halten. Aber nur diese Differenzierung kann unserer Ansicht nach einen Ausschluss der Substituierbarkeit rechtfertigen.

Zur Beurkundungsbedürftigkeit späterer Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages Von Rainer Kanzleiter und Thomas Lemcke

I. Die Problematik Nach § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB bedarf „ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpflichtet, das Eigentum an einem Grundstück zu übertragen oder zu erwerben … der notariellen Beurkundung.“ Selbstverständlich schließt diese Vorschrift auch spätere Vertragsänderungen durch Veräußerer und Erwerber ein.1 Unter 2 Gesichtspunkten werden Ausnahmen von der grundsätzlichen Formbedürftigkeit späterer Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages erörtert: 1. Zum einen bestimmt § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB, dass ein nicht formgerecht geschlossener Vertrag „seinem ganzen Inhalt nach gültig“ wird, „wenn die Auflassung und die Eintragung in das Grundbuch erfolgen.“ Was für einen insgesamt formlos geschlossenen Vertrag gilt, gilt für eine formlose nachträgliche Änderung erst recht. 2. Gerade bei wichtigen und umfangreichen Verträgen ist es nicht selten, dass nachträglich eine Frage auftaucht, die der Wortlaut des Vertrages nicht beantwortet. Eine solche Lücke schließen die §§ 157, 242 BGB. Auch in einer solchen Situation ist es zweckmäßig, den entstandenen Zweifel in notariell beurkundeter Form auszuräumen, um dem späteren Einwand des Vertragspartners zu begegnen, die Lösung habe in Wahrheit nicht den §§ 157, 242 BGB entsprochen. Die Versuche, darüber hinaus formlose Änderungen zuzulassen, die „geringfügig“ sind, die „lediglich unvorhergesehene Abwicklungsschwierigkeiten beheben sollen“2, oder 1 Um jeden Zweifel auszuschließen, wurde eine ausdrückliche Regelung erörtert. S. Roemer, Die Formbedürftigkeit der Aufhebung und Änderung von Verträgen im Sinne des § 311b Abs. 1 BGB (§ 313 BGB a. F.), 2004, S. 117. Die Gegenmeinung (s. Böttcher, NJW 2018, 3225 [3526]) ist zu Recht vereinzelt geblieben. 2 S. zu dieser nicht weiter erörterten Problematik als Beispiel das Urt. des BGH, DnotZ 2001, 798 – VII ZR 119/99, DNotZ 2001, 798 mit Anm. von Kanzleiter; Hagen, DNotZ 1984, 267 (277); zur Änderung, „wenn sie lediglich der Beseitigung einer bei der Abwicklung des Geschäfts unvorhergesehen aufgetretenen Schwierigkeit dienen, ohne die beiderseitigen Verpflichtungen wesentlich zu verändern“, auch das Urt. des BGH v. 14. 9. 2018 – V ZR 213/17, das mit im Mittelpunkt der Erörterung steht (s. Fn. 7).

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durch die „weder die Veräußerungspflicht noch die Erwerbspflicht unmittelbar oder mittelbar erweitert werden“3, haben im Gesetz keine Grundlage.

II. Zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs als Grundlage der Kritik Die außerordentliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Grundbesitzes führt zwangsläufig zur außerordentlichen Bedeutung der Rechtsprechung des höchsten deutschen Zivilgerichts zu den Rechtsfragen, die sich um den Grundstücksveräußerungsvertrag ranken. Die Autoren hoffen, mit ihrem Beitrag Johannes Hager eine Freude zu machen oder ihm wenigstens Stoff für eine weitere Diskussion anzubieten: Er befasst sich bevorzugt nicht mit Spezialfragen, sondern vor allem mit Fragen aus den zentralen Gebieten des bürgerlichen Rechts.4 Die Notare sind ihm dankbar für seine langjährige Tätigkeit als erster Vorstand des Forschungsinstituts für Notarrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (seit Jahren auch für seine Übersichtsbeiträge – zusammen mit seinem früheren Schüler und Mitarbeiter Alexander MüllerTeckhoff – über die Entwicklung der für die Notare wichtigen Rechtsgebiete in der NJW5). Die Autoren dieses ihm gewidmeten Beitrags hoffen auf seine wohlwollende Kritik. Zur Formfreiheit von Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages, nachdem die Auflassung bindend geworden ist, ist die Rechtsprechung des höchsten deutschen Zivilgerichts vom Inkrafttreten des BGB am 1. 1. 1900 bis heute unverändert, obwohl sich die praktische Abwicklung von Grundstücksgeschäften zur Sicherung des Veräußerers oft grundlegend geändert hat: Die Auflassung ist heute in vielen Fällen nicht mehr der letzte Schritt zum Übergang des Eigentums auf den Erwerber, der auf die Auflassung zwangsläufig folgt. Der derzeitige Stand der Rechtsprechung des BGH zur Formbedürftigkeit nachträglicher Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages ergibt sich aus den beiden folgenden Entscheidungen. Beide wurden nicht für die amtliche Sammlung vorgesehen. Der 5. Zivilsenat geht also davon aus, dass sich beide Entscheidungen in die bisherige Rechtsprechung zwanglos einfügen6.

3

Auf diese Erwägung kommt das Urt. des BGH v. 11. 10. 2019 (s. unter II. 2.) zurück. Aus einem anderen Blickwinkel umfassend in seiner Habilitationsschrift „Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb“ von 1990 und auch in seinem Beitrag in JuS 1991, 1 „Die Anwartschaft des Auflassungsempfängers“ mit Fragen aus dem am Ende dieses Beitrags angesprochenen Bereich. 5 Zuletzt Hager/Müller-Teckhoff, NJW 2020, 1857; davor zuletzt NJW 2019, 1922 (berichtend S. 1923 auch über die kritischen Stimmen zur hier erörterten Problematik). 6 Im Leitsatz des Urteils vom 14. 9. 2018 bringt der BGH das ausdrücklich zum Ausdruck. 4

Spätere Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages

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1. Zum Urteil vom 14. 9. 20187 ist der Leitsatz „kurz und bündig“8 : „Änderungen eines Grundstückskaufvertrages nach der Auflassung sind formlos möglich, wenn die Auflassung bindend geworden ist (§ 873 II BGB; Bestätigung u. a. von …)“. Die Begründung ist dagegen sehr ausführlich.9 Als grundlegender Satz der Begründung erscheint in Rn. 15: „Für die Frage der Formbedürftigkeit von nachträglichen Änderungen kommt es jedoch nicht auf Erfüllung i. S. d. § 362 I BGB, sondern darauf an, dass die geschuldeten Leistungshandlungen unwiderruflich erbracht sind.“ Dass das mit der Erklärung der Auflassung in diesem Fall geschehen wäre, schränkt aber die gesetzlichen Voraussetzungen des § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB unzulässig ein. 2. Das Urteil des 5. Zivilsenats vom 11. 10. 2019 – V ZR 7/19 wird unter dem Leitsatz veröffentlicht: „Eine Vereinbarung, mit der die Parteien eines Grundstückskaufvertrags die Möglichkeit zur Nutzung des Grundstücks beschränken (Verbot der Milchverarbeitung), führt nicht zu einer Änderung oder Neubegründung von Erwerbs- oder Veräußerungspflichten und ist daher nach bindend erklärter Auflassung formlos möglich.“10 Während nach der Formulierung der Leitsätze das Urteil vom 14. 9. 2018 anscheinend Vertragsänderungen nach bindender Erklärung der Auflassung ohne Einschränkung zulassen möchte, scheint das Urteil vom 11. 10. 2019 Vereinbarungen auszunehmen, die „zu einer Änderung oder Neubegründung von Erwerbs- oder Veräußerungspflichten“ führen. Unzweifelhaft war und ist, dass eine zusätzliche Veräußerung – zu ergänzen ist natürlich: oder ein zusätzlicher Erwerb – der Beurkundung bedarf und dass das auch für eine (nun zusätzlich vereinbarte) Rückkaufsverpflichtung des Verkäufers gilt. 7 (Unter Aufhebung des Urteils des OLG Stuttgart, RnotZ 2018, 316 = ZfIR 2018, 445) BGH, NJW 2018, 3523 mit zust. Anm. von Böttcher = DNotZ 2019, 183 mit krit. Anm. von Raff = MittBayNot 2019, 246 mit krit. und besonders überzeugender Anm. von Ruhwinkel (bei ihm in Fn. 4 weitere Nachw. zur Ablehnung der Auffassung des BGH) = ZfIR 2018, 789 mit krit. Anm. von Grziwotz = JA 2019, 545 mit abwägender krit. Anm. von Stadler = RNotZ 2019, 198 mit ausführlichem, krit. Aufsatz von Roemer, RNotZ 2019, 192 (Roemer legt dar, dass die Gegenmeinung den Vorzug verdient); s. Roemer schon ausführlich in „Die Formbedürftigkeit der Aufhebung und Änderung von Verträgen im Sinne des § 311b Abs. 1 BGB (§ 313 a. F.)“, 2004, S. 121 ff., 163 ff. (die Arbeit beruht auf seiner Dissertation an der Universität Bonn 2001 mit dem Erstgutachter Robert Battes und dem Zweitgutachter Eberhard Schilken). S. insbesondere auch Pohlmann, Die Heilung formnichtiger Verpflichtungsgeschäfte durch Erfüllung, 1992, S. 78 ff., 95 ff., insbes. 98 ff. (Pohlmann hat keine Zweifel, dass die Eintragung des Eigentumsübergangs im Grundbuch Voraussetzung der Heilung ist). 8 Von Böttcher, NJW 2018, 3525 (3526) wird er als „mit erfrischender Kürze und Deutlichkeit“ gelobt. 9 In Rn. 7 werden vom BGH die zahlreichen (weitaus überwiegend ablehnenden) Stellungnahmen aufgeführt. 10 DNotZ 2020, 740 = NotBZ 2020, 217 = ZfIR 2020, 425 = JuS 2020, 564 mit berichtendem Kommentar von Omlor.

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Die Formulierung des § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB, die auf Seiten des Erwerbers an die Verpflichtung anknüpft, das Grundstück „zu erwerben“, beruht auf der Änderung von § 313 BGB, dem Vorläufer von § 311b Abs. 1 BGB, durch das Gesetz vom 30. 5. 197311, das klarstellen wollte, dass der Erwerber in gleicher Weise in den Schutz des § 313 BGB einbezogen ist. Selbstverständlich ist aus der Sicht des Verkäufers die entscheidende Pflicht des Käufers die, seine Gegenleistung zu erbringen, regelmäßig also die Pflicht zur Zahlung des Kaufpreises. Auch Nebenpflichten, wie die einer Nutzungsbeschränkung in dem Fall, über den der BGH am 11. 10. 2019 entschieden hat, unterliegen selbstverständlich in gleicher Weise der Formpflicht des § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB, wie sie ebenso selbstverständlich § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB in die Heilung einschließen würde. Das Urteil vom 11. 10. 2019 sollte der Anlass zum Umdenken sein: Das Urteil macht klar, dass im konkreten Fall (wie regelmäßig) eine Unterscheidung zwischen bedeutsamen, beurkundungsbedürftigen und „harmlosen“, nicht beurkundungsbedürftigen Änderungen eines Grundstücksveräußerungsvertrages nicht möglich ist und das Gesetz deshalb klug ist, wenn es solche Unterscheidungen nicht trifft. Statt der entscheidenden Vorschrift – § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB – stützt sich der Senat in Rn. 9 auf seine frühere Rechtsprechung: „Änderungen eines Grundstückskaufvertrags sind, wie das Berufungsgericht zutreffend erkennt, nach der Auflassung formlos möglich, wenn die Auflassung bindend geworden ist (§ 873 Abs. 2 BGB; vergl. Senat, Urt. v. 14. 9. 2018)“. Wie regelmäßig beruft sich der Senat auf § 873 Abs. 2 BGB und übersieht, dass dort nur die Bindung an die Auflassung geregelt ist, der Eigentumsübergang aber durch andere Maßnahmen verhindert werden kann (wie es in der Praxis inzwischen nicht selten geschieht), und der Käufer die Unwirksamkeit rechtzeitig – vor Eintrag des Eigentumsübergangs und damit vor der Heilung – geltend gemacht hatte. Vor allem aber sollte die Entscheidung den Notaren Anlass geben, die auf Jahre unerfreuliche Situation des Erwerbers und damit ihre Gestaltung, die das veranlasst hat, zu überdenken. Weniger eindeutig ist die Kritik an dem Urteil vom 14. 9. 2018: Es ist nicht fernliegend, das unter Anwendung von §§ 157, 242 BGB das Ergebnis des BGH vor der strikten Entscheidung des OLG Stuttgart den Vorzug hätte verdienen können. Andererseits zeigt dieser Fall besonders deutlich, dass mit der Erklärung der Auflassung „vorweg“ das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt wird. Das aber ändert nichts daran, dass „Zug um Zug“ mit der Umschreibung des Eigentums auf den Käufer die Ermäßigung des Kaufpreises nach § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB wirksam wird. Aber eben erst dann! Im Interesse der Rechtssicherheit läge es, wenn alle – Notare und Gerichte – sich an § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB orientieren würden!

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BGBl. 1973 I, 501.

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III. Die gesetzlichen Grundlagen wurden durch das BGB geschaffen Vor dem 1. 1. 1900 bedurfte der Vertrag über die Veräußerung von Grundbesitz im größten Teil Deutschlands der Schriftform12. Die Neuregelung durch das BGB wurde zwar lebhaft diskutiert13, zu § 351 des Entwurfs I wurden neun Änderungsanträge gestellt, aber alle abgelehnt. § 351 Entw. I mit der Form notarieller oder gerichtlicher Beurkundung und Heilung eines Formmangels durch Auflassung und Eintragung im Grundbuch wurde (mit nur sprachlichen Änderungen) § 313 BGB: Durch die Formbedürftigkeit sollte „wohl überlegtes, alle Verhältnisse berücksichtigendes Handeln“ der Vertragspartner „gewährleistet“14, durch die Heilung im Interesse der Rechtssicherheit vermieden werden, dass „die Übertragung des Eigenthumes … noch dreißig Jahre lang kondiziert werden könnte“15. Die Formulierung des Gesetzes knüpfte die Form an die Verpflichtung an, das „Eigenthum an einem Grundstücke zu übertragen“. Die Beurkundungsbedürftigkeit des Grundstücksveräußerungsvertrages durch § 313 BGB durch den Gesetzgeber sollte zweifellos den Veräußerer vor unüberlegtem Handeln schützen. Der Schutz durch die Beurkundung sollte aber ebenfalls zweifellos den Erwerber einbeziehen: Die „Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich“ formulierten16: „Es kommt hinzu, daß jedes Grundeigenthum mit einer Reihe von Rechtsverhältnissen zusammenhängt, welche wegen der Unvergänglichkeit des Grundeigenthumes von weitaussehender Dauer sind, so daß also auch die Veräußerung und der Erwerb –! – immer eine besondere Vorsicht erfordern, wenn nicht für die Vertragschließenden erhebliche Schwierigkeiten zu befürchten sein sollen.“

IV. Der neue § 313 im am 1. Januar 1900 in Kraft getretenen BGB Der neue § 313 BGB mit der Anordnung der Beurkundungsbedürftigkeit des Grundstücksveräußerungsvertrages in Satz 1 und zur Heilung des Formmangels in Satz 2 führte – wie zu erwarten – zu vielen Fragen: Das „Systematische Register zu Jahrgang 1 – 10 (1900 – 1911)“ von „Warneyers Jahrbuch der Entscheidungen“ enthält nicht weniger als 230! (ohne Gewähr) Hinweise auf Entscheidungen zum neuen § 313 BGB, davon weit überwiegend auf Urteile des Reichsgerichts, für unser Thema z. B. das Urteil des Reichsgerichts vom 15. Februar 191117 mit der Überschrift „Abänderung eines Kaufvertrags vor der Auflassung – nach der Auflas12

Prot. I S. 460. S. Prot. I S. 458. 14 Mot. II zu § 351, S. 191. 15 Mot. II zu § 351, S. 191; s. Pohlmann, Die Heilung formnichtiger Verpflichtungsgeschäfte durch Erfüllung, 1992, S. 78 ff. 16 Mot. II, 190. 17 V 102/10 in Warneyers Jahrbuch der Entscheidungen, Ergänzungsband 1911, S. 248. 13

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sung“. In dieser Entscheidung findet man auf S. 248 schon alle Grundsätze, die auch heute weiterhin – inzwischen zum Teil zu Unrecht – als Begründung dafür herangezogen werden, dass Änderungen des Veräußerungsvertrages bis zur Erklärung der Auflassung nur wirksam sind, wenn sie beurkundet wurden, Änderungen danach aber nicht mehr der Form bedürfen: Ganz unzweifelhaft ist weiterhin18 : „Es ist feststehender Grundsatz, daß Abreden, durch die ein formgemäß abgeschlossener Grundstücksveräußerungsvertrag in einem wesentlichen Punkte nachträglich abgeändert werden soll, und die sonach zu einem Bestandteile des Vertrags selbst werden sollen, auch ihrerseits dem Formzwange des § 313 BGB unterliegen (RGZ 65, 392). Entscheidend ist sonach auch im vorliegenden Falle die Frage, ob das vom Beklagten behauptete Abkommen … eine wesentliche Abänderung des Vertrages vom … zur Folge gehabt haben würde oder ob solches nicht der Fall wäre. Hat nun der eine Teil aufgrund eines derartigen formgerechten Vertrages die Auflassung bereits erteilt, die Veräußerung also bereits bewirkt, dann kann für die Anwendung des § 313 BGB überhaupt kein Raum mehr sein, weil keine Verpflichtung des betreffenden Teiles zur Veräußerung mehr vorhanden, das Rechtsverhältnis über dieses Stadium vielmehr bereits hinausgewachsen ist … Hat der betreffende Vertragsteil sich des Grundstücks einmal entäußert, dann besteht endlich auch keine Möglichkeit mehr, ihn in dieser Hinsicht vor einer Übereilung zu schützen, so daß alsdann für den dem § 313 BGB zugrunde liegenden Rechtsgedanken ebenfalls keine Stelle mehr ist.“

Aus der Sicht des Reichsgerichts ist mit der Auflassung der entscheidende Schritt zur Übertragung des Eigentums getan, die Eintragung im Grundbuch ist bloßer „technischer“ Vollzug, vom Veräußerer nicht mehr beeinflusst: „Liegt die Sache andererseits aber so wie im gegenwärtigen Falle, daß die Auflassung noch aussteht und werden nunmehr die Bedingungen geändert, unter denen sich der eine Vertragsteil seines Grundstücks entäußern und der andere Teil es erwerben soll, dann ist der Fall des § 313 BGB nicht minder gegeben wie dann, wenn der Abschluss eines Grundstücksveräußerungsvertrages überhaupt erst in Frage steht.“19

Die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts beruhte also auf den 2 Grundgedanken, dass 1. die Beurkundungsbedürftigkeit des Grundstücksveräußerungsvertrags in erster Linie dem Schutz des Veräußerers dient, und 2. der Veräußerer mit der Auflassung die Entscheidung getroffen hat, das Eigentum auf den Käufer zu übertragen.20 Und auf dieser Grundlage beruht – wie das Urteil des BGH vom 11. 10. 2019 deutlich macht – dessen Rechtsprechung noch heute. 18

V 102/10 in Warneyers Jahrbuch der Entscheidungen, Ergänzungsband 1911, S. 248. V 102/10 in Warneyers Jahrbuch der Entscheidungen, Ergänzungsband 1911, S. 249. 20 S. zu § 313 Satz 2 BGB zur Zeit des Reichsgerichts Heinrich Lange, AcP 144 (1938), 149, zur Funktion der „Buchung“, S. 153 Fn. 6; zur Heilungswirkung von Auflassung und Eintragung (ohne Besitzverschaffung), S. 158; zur Heilung von Formmangel durch Erfüllung allgemein s. Bucher, AcP 186 (1986), 1 (42 f.). 19

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V. Änderung der Rechtslage durch das Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches und anderer Gesetze vom 30. Mai 197321? Durch das Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches und anderer Gesetze vom 30. Mai 1973 wurde die Beurkundungsbedürftigkeit nach § 313 BGB auf Verträge ausgedehnt, durch die sich ein Vertragsteil verpflichtet, „… das Eigentum an einem Grundstück … zu erwerben.“ Der Erwerber des Grundstücks wurde also in den Schutzbereich des § 313 BGB ausdrücklich einbezogen. Diese nun ausdrückliche Ausdehnung des § 313 BGB hätte nochmals den Anlass geben können zu überdenken, ob die Hauptleistungspflicht des Veräußerers durch die Erklärung der Auflassung erfüllt ist. Kanzleiter gehörte zu denen, die das – unseres Erachtens mit Recht – bezweifelt haben22, und auch der BGH hatte Zweifel, wie Horst Hagen, der Vorsitzende des 5. Zivilsenats, später mitgeteilt hat.23 Aber der 5. Zivilsenat hat sich entschieden, im Interesse der Rechtssicherheit bei seiner bisherigen Rechtsprechung zu bleiben, dass es nur auf die für beide Seiten bindende Erklärung der Auflassung ankam.24 Eine weitere Diskussion wurde damals wegen anderer wichtiger Fragen in diesem Bereich nicht geführt25 und, solange die Auflassung der „letzte Schritt“ vor der danach selbstverständlich folgenden Umschreibung des Eigentums auf den Erwerber war, konnte man dem Gesichtspunkt des Schutzes des Vertrauens in die Beständigkeit der Rechtsprechung Vorrang geben.26

VI. Die Sicherung des Veräußerers trotz Erklärung der Auflassung durch zusätzliche Gestaltungen 1. Die zwangsläufige Folge des Eigentumsübergangs nach der Auflassung fiel aber weg, als die Rechtspraxis in vielen Fällen dazu überging, den Veräußerer von Grundbesitz bis zum Erhalt der Gegenleistung nicht durch das Zurückstellen der Auflassung, sondern durch zusätzliche Gestaltungen zu sichern.27 Der Mitautor Kanzleiter versteht bis heute nicht, weshalb die Gestaltungspraxis etwa 100 Jahre nach Inkrafttreten des BGB begonnen hat, nach Alternativen zu der 21

BGBl. 1973 I S. 501. S. Kanzleiter, DNotZ 1973, 519. 23 Hagen, in: FS Schippel, 1996, S.173 (177). 24 BGH, WM 1984, 1539 = DNotZ 1985, 284 mit grundsätzlich zustimmender, vorsichtig distanzierter Anm. von Kanzleiter. 25 S. das „Heilungsgesetz“ (Gesetz zur Änderung und Ergänzung beurkundungsrechtlicher Vorschriften vom 20. 2. 1980, BGBl. 1980, 157); dazu Hagen, DNotZ 1984, 267. 26 S. Hagen, in: FS Schippel, 1996, S. 173 (177); zweifelnd Kanzleiter, DNotZ 1985, 285 (287). 27 Ein „Sonderfall“ ist der, über den der BGH am 11. 10. 2019 entschieden hat (s. oben unter II. 2.): Der Kaufpreis war bereits bezahlt und der Käufer klagte nicht auf Eigentumsübertragung, sondern auf Übergabe. 22

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vom BGB angebotenen, zweifellos sichersten Gestaltung zu suchen,28 außerdem ist er als Notar 10 Jahre im Ruhestand. Deshalb übernimmt der Mitautor Lemcke den folgenden Abschnitt unter 1. alleine. a) Eine Möglichkeit, den Verkäuferschutz trotz Auflassung im Grundstückskaufvertrag zu gewährleisten, ist die Vollzugs- und Ausfertigungssperre.29 Bei dieser wird die Auflassung bereits im Kaufvertrag erklärt. Zugleich wird der Notar jedoch angewiesen, die Eintragung erst nach Nachweis der Kaufpreiszahlung zu beantragen. Zudem wird ihm untersagt, die Auflassung enthaltende Ausfertigungen oder die Auflassung enthaltende beglaubigte Abschriften des Kaufvertrages zu erteilen.30 Hiermit treffen die Parteien von der Grundkonzeption des Gesetzes abweichende Vereinbarungen. So sieht § 51 Abs. 1 BeurkG vor, dass die Parteien Ausfertigungen über abgegebene Willenserklärungen verlangen können. § 51 Abs. 2 BeurkG räumt den Parteien die – hier genutzte – Möglichkeit ein, etwas anderes zu vereinbaren.31 Die Parteien verzichten also auf die Ausfertigung der Auflassung bis zum Nachweis der Kaufpreiszahlung.32 § 53 BeurkG wiederum sieht vor, dass der Notar die Willenserklärungen unmittelbar dem Grundbuchamt weiterleitet. Mit der Vollzugssperre verlangen die Parteien vom Notar etwas anderes, wozu § 53 BeurkG sie berechtigt.33 b) Die zweite Möglichkeit ist der Vorbehalt der Eintragungsbewilligung. Hier wird die Auflassung ebenfalls bereits im Kaufvertrag erklärt. Ausdrücklich wird jedoch hinzugefügt, dass der Vertrag nicht die Eintragungsbewilligung enthält. Diese wird erst nach Nachweis der Kaufpreiszahlung erklärt. Dies kann durch den Veräußerer selbst geschehen.34 Die Eintragungsbewilligung kann er bereits mit Abschluss des Kaufvertrages in gesonderter Urkunde erklären und dem Notar zu treuen Händen übergeben, mit der Anweisung, sie erst nach Kaufpreiszahlung dem Grundbuchamt zuzuleiten. Die Eintragungsbewilligung kann auch 28

Falls die Notarkosten für solche Alternativen günstiger sein sollten, wären nach Auffassung von Kanzleiter die Kostenvorschriften zu überprüfen. Falls die Alternativen als „praktikabler“ angesehen werden sollten, wäre zu prüfen, ob mit ihnen nicht eine Einbuße an Sicherheit in Kauf genommen werden müsste. Solange der BGH in der in diesem Beitrag erörterten Frage bei seiner Auffassung bleibt, verbieten sich diese Gestaltungen – ohne die am Ende des Beitrags vorgeschlagene Ergänzung – sowieso. 29 Roemer, RNotZ 2019, 192 (196); Krauß, BeckNotaR-HdB, 7. Aufl. 2019, § 1 Rn. 453. 30 Staudinger/Pfeifer/Diehn, 2017, BGB § 925 Rn. 145; Weber/Wesiack, DNotZ 2019, 164 (165). 31 Anmerkung der Schriftleitung der RNotZ zu BGH, RNotZ 2020, 112 (113). 32 Dieckmann, BWNotZ 2008, 134 (139). 33 BGH, RNotZ 2020, 112 Rn. 13; werden versehentlich statt Ausfertigungen ohne Auflassung Ausfertigungen mit Auflassung erteilt (Becker, BWNotZ 2018, 118) oder wird beim Grundbuchamt übersehen, dass der Kaufvertrag ohne Auflassung ausgefertigt wurde (Dieckmann, BWNotZ 2008, 134, 139) und wird deshalb der Erwerber eingetragen, so erwirbt er das Eigentum (Dieckmann, BWNotZ 2008, 134 [139]). 34 Roemer, RNotZ 2019, 192 (196).

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durch den Notar erfolgen, wenn dieser zuvor dazu bevollmächtigt wird, eine entsprechende notarielle Eigenurkunde zu erstellen.35 Eine weitere Variante ist, dass die Eintragungsbewilligung bereits im Kaufvertrag erklärt wird, allerdings unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Notar die Eigentumsumschreibung durch Eigenurkunde beantragt.36 Bis zum Urteil des BGH vom 14. 9. 201837 war noch nicht sicher geklärt, ob tatsächlich eine Eintragungsbewilligung notwendig ist und deren Fehlen das Grundbuchamt davon abhalten muss, das Eigentum einzutragen.38 Mit dieser Entscheidung hat der BGH diese Sicherungsvariante aber anerkannt. Wenn die Bewilligung versehentlich zu früh an das Grundbuchamt weitergeleitet wird, oder eine Eintragung des Eigentumsübergangs trotz fehlender Bewilligung erfolgt, geht das Eigentum auf den Erwerber über.39 c) Das „badische“ oder „Karlsruher“ Modell stellt die dritte Möglichkeit dar. Bei diesem wird die Auflassung ebenfalls bereits mit dem Kaufvertrag erklärt. Hierbei handelt der Erwerber jedoch als vollmachtloser Vertreter für den Veräußerer. Dieser genehmigt in gesonderter Urkunde die Erklärung des Veräußerers. Diese Genehmigung wird zu treuen Händen dem Notar übergeben, der angewiesen wird, sie erst an das Grundbuchamt weiterzureichen, wenn die Kaufpreiszahlung nachgewiesen ist.40 Als empfangsbedürftige Willenserklärung wird die Genehmigung mit Zugang beim Grundbuchamt, dem insoweit eine Empfangsvollmacht erteilt wird, wirksam.41 Durch die Genehmigung wird die Auflassungserklärung des Veräußerers rückwirkend wirksam (§ 184 BGB). Somit ergibt sich – nach der Genehmigung aber rückwirkend – dieselbe Lage wie in der ersten Variante.42 2. Bei all diesen Gestaltungen wird der Eigentumsübergang als Folge der Auflassung verhindert und damit entfällt das Argument der Rechtsprechung für die Zulässigkeit von formlosen Vertragsänderungen nach Erklärung der Auflassung. Und neue Gesichtspunkte, die es rechtfertigen würden, vom eindeutigen Wortlaut des § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB abzuweichen, gibt es nicht, denn dieser Wortlaut beruht auf dem Zweck der Heilung: Der Gesetzgeber wollte nicht formlose Vereinbarungen ab einem, von wem auch immer, bestimmten Zeitpunkt an zulassen (und damit geradezu fördern), sondern er wollte, wie Petra Pohlmann formulierte, „im Interesse der Rechtssicherheit den Bestand von Grundstücksübereignungen

35 BGH, NJW 2018, 3523 Rn. 20; Dieckmann, BWNotZ 2008, 134 (139); Staudinger/ Pfeifer/Diehn, 2017, BGB § 925 Rn. 145. 36 Krauß, BeckNotar-HdB, 7. Aufl. 2019, § 1 Rn. 459. 37 S. Fn. 7; BGH, MittBayNot 2019, 246 mit in diesem Punkt zust. Anm. von Ruhwinkel. 38 Dieckmann, BWNotZ 2008, 134 (141). 39 Dieckmann, BWNotZ 2008, 134 (141). 40 Roemer, RNotZ 2019, 192 (196). 41 Dieckmann, BWNotZ 2008, 134 (142). 42 Becker, BWNotZ 2018, 118.

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sichern.“43 Es folgt bei Pohlmann der Satz: „Das Interesse an der Erreichung der Formzwecke mußte dahinter zurücktreten.“ Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB aber nicht schon, wenn die Auflassung erklärt, sondern erst, wenn auch das Eigentum auf den Erwerber übergegangen ist.

VII. Schlussbemerkungen Eine Festschrift ist in der Regel nicht der richtige Ort, konkrete Vorschläge für die rechtliche Gestaltung von Rechtsgeschäften zu erörtern. Nachdem wir schon am Beginn des Beitrags die Nähe der Veröffentlichungen von Johannes Hager zur praktischen Tätigkeit der Notare angesprochen haben, machen wir hier eine Ausnahme: 1. Die Aufnahme der Auflassung in einen Grundstücksveräußerungsvertrag, obwohl die Gegenleistung des Erwerbers in aller Regel erst erbracht werden muss, hat 2 Gründe: Zum einen wird es als praktisch angesehen, wenn nur ein Rechtsgeschäft beurkundet wird, das sowohl den Kaufvertrag als auch die Auflassung enthält. Zum zweiten wird diese Gestaltung wohl durch das notarielle Kostenrecht begünstigt, weil die Gebühren für die gesonderte Beurkundung der Auflassung höher sind, als die Gebühren des Notars, die für die Überwachung der als Alternative in Frage kommenden Sicherungen entstehen. Zu fragen ist, ob diese Unterschiede so gewichtig sind und nicht eher eine Änderung der Kostenfolgen anzustreben wäre, statt die Auflassung zu erklären: „Wir sind uns über den Übergang des Eigentums auf den Erwerber einig“, obwohl das Eigentum gerade nicht übergehen soll!? Nach der Rechtsprechung des BGH hat auch diese, ihrer eigentlichen Wirkung durch zusätzliche Gestaltungen beraubte Auflassung die Folge, dass danach Änderungen des Kaufvertrags keiner Beurkundung mehr bedürfen, die den Beteiligten in aller Regel unbekannt ist. Und ein „Warnhinweis“ im Vertrag, dass künftige Änderungen formlos wirksam sind, würde sicher nichts nützen. Der Fall, über den der BGH mit Urteil vom 11. 10. 2019 entschieden hat, zeigt, wie leicht es ist, nachträglich in Änderungen „hineinzugeraten“, deren nachteilige Konsequenzen die Beteiligten übersehen haben: Die vereinbarte Nutzungsbeschränkung ist derzeit folgenlos (wenn man davon absieht, dass schon unnötige Prozesskosten entstanden sind). Wenn aber einer der Zweitkäufer (der Käufer hat den Grundbesitz weiterveräußert) die „Milchverarbeitung“ beginnt, muss der Erstkäufer mit unerfreulichen Schadensersatzansprüchen rechnen. Solange sich der BGH nicht überzeugen lässt, zu § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB zurückzukehren44, haben wir einen 43 Pohlmann, Die Heilung formnichtiger Verpflichtungsgeschäfte durch Erfüllung, 1992, S. 97. 44 Volmer, in Herrler, Münchener Vertragshandbuch, Band 5: Bürgerliches Recht I, 8. Aufl. 2020, I. 22, S. 294 schließt sich der Feststellung von Brambring (Herrler, in: Beck’sches Notarhandbuch, 6. Aufl. 2015, Rn. A 960) an, dass die Rechtsprechung des BGH nur

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anderen Vorschlag: Wäre es nicht eine Lösung, in den Grundstücksveräußerungsvertrag mit Auflassung eine Vereinbarung aufzunehmen: „Wir vereinbaren, dass eine spätere Änderung oder Ergänzung dieses Vertrages vor der Umschreibung des Eigentums im Grundbuch der notariellen Beurkundung bedarf!“?45

Damit würde der vom BGH verabschiedete § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB wieder in Kraft gesetzt. Eine solche Bestätigung dürfte keine zusätzlichen Notargebühren auslösen. Und das Entscheidende: Damit würden Veräußerer und Erwerber vor leichtsinnigen Vereinbarungen wie im vom BGH am 11. 10. 2019 entschiedenen Fall „Verbot der Milchverarbeitung“ bewahrt! 2. Allerdings stellt der Mitautor Kanzleiter fest, dass damit ein Problem gelöst wird, das es bei „klassischer“Abwicklung des Grundstücksveräußerungsvertrages nach dem „Abstraktionsprinzip“ als „Grundpfeiler des dogmatischen Gebäudes des BGB“46 und Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung gar nicht gibt. Das Abstraktionsprinzip fördert die Einfachheit, Klarheit und Sicherheit des Rechtsverkehrs47. Die Hoffnung, dass sich die Argumentation in dessen Richtung neigt, wird durch den Beschluss des BGH vom 1. 10. 202048 gestärkt, der zweite amtliche Leitsatz dieser Entscheidung lautet: „Die getrennte Beurkundung von Grundstückskaufvertrag und Auflassung stellt keine unrichtige Sachbehandlung i. S. d. § 21 Abs. 1 Satz 1 GNotKG dar; dies gilt auch, wenn der Notar die Beteiligten nicht über kostengünstigere andere Gestaltungsmöglichkeiten belehrt.“

historisch zu erklären ist, weist aber darauf hin, dass der BGH aus Gründen der Rechtssicherheit (?) an dieser Auffassung festhält. Von „Rechtssicherheit“ kann aber keine Rede sein, wenn § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB einfach negiert wird. 45 Richtig, aber zu zurückhaltend, Ruhwinkel, MittBayNot 2019, 249 (251). Soweit die Auffassung vertreten wird, dass eine Rückkehr zur Formfreiheit formfrei und auch stillschweigend vereinbart werden könne, überzeugt das nicht. Außerdem ist davon auszugehen, dass sich (jedenfalls die rechtlich nicht beratenen) Beteiligten an die von ihnen getroffene Vereinbarung halten. 46 Heinrich Lange, BGB Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1966, § 41 V 2. Kanzleiter hat mit diesem Lehrbuch studiert und als Assistent von Lange besitzt er ein Exemplar mit Widmung des Autors. Auf die – zweifellos richtige – zitierte Feststellung bezieht sich nicht die Kritik von Wilhelm Wolf in „Vom alten zum neuen Privatrecht. Das Konzept der normgestützten Kollektivierung in den zivilrechtlichen Arbeiten Heinrich Langes (1900 – 1977).“ Heinrich Langes war derjenige, der sich an den durch zeitbedingten Reformeifer ausgelösten, aber inhaltlich von nazistischen Gedanken unabhängigen Reformüberlegungen besonders intensiv – zuletzt in AcP 148 (1943), 188 – beteiligte. 47 Heinrich Lange, BGB Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1966, § 41 V 4; ausführlich Stadler, Gestaltungsfreiheit und Verkehrsschutz durch Abstraktion, 1995, S. 728 ff. 48 BGH, notar 2021, 58 mit Anm. von Wudy = NotBZ 2021, 31 mit Kommentar von Otto = ZfIR 2021, 74 m. Anm. von Mensch mit dem Vorschlag, die Kostenvorschrift zu ändern.

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Andere europäische Rechtsordnungen vertrauen nicht dem Abstraktionsprinzip. Sonlange wir überzeugt sind, dass die Argumente für die Trennung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft und das Abstraktionsprinzip im Interesse des Rechtsverkehrs überwiegen49, sollte auch die gesetzliche Regelung über die Kosten beim Grundstücksveräußerungsvertrag dieser Überzeugung nicht widersprechen und die Trennung zwischen Verpflichtung und Erfüllung sollte nicht auf zusätzliche Konstruktionen gestützt werden müssen. Denn sonst würden wir zu einer Entwicklung beitragen, die wir vermeiden wollten.50 Und nach geltendem Recht ist nichht zu übersehen, dass all diese verfahrensrechtlichen Gestaltungen „letztlich die Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung aushebeln.“51 Die Tendenz zur Mitbeurkundung der Auflassung im Grundstücksveräußerungsvertrag,52 auch wenn die Gegenleistung noch nicht erbracht ist, verstößt eben eindeutig gegen die Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchs! Leider gibt es tatsächlich ein Argument für die Mitbeurkundung der Auflassung im Grundstücksveräußerungsvertrag. Die im Kaufvertrag mitbeurkundete Auflassung löst keine Gebühr aus53. Eine „kostenneutrale“ Lösung zur Rettung von Savignys Erbe ist ganz einfach: Der Gesetzgeber sollte einen (bescheidenen) Teil der Notargebühr für den Grundstücksveräußerungsvertrag auf die Auslassung übertragen.54

49 Grigoleit, AcP 1999 (1999), 418 ff.; Jauernig, JuS 1994, 721; Stadler, Gestaltungsfreiheit und Verkehrsschutz durch Abstraktion, 1995, zusammenfassend S. 558 f., 728 ff.; Stürner, JZ 1996, 741 (747). 50 S. nur Palandt/Ellenberger, BGB, 79. Aufl. Überbl. Vor § 104 Rn. 22. 51 MüKoBGB/Ruhwinkel, 78. Aufl. 2020, § 925 Rn. 33. 52 Nun auch in der Dissertation von Philipp Simon Theuersbach, „Die Auswirkungen der Reform des Bauvertragsrechts auf den Bauträgervertrag“. Er hält diese Gestaltung für gerchtfertigt, (auch) weil sonst möglicherweise die Gefahr drohe, dass der gesamte Vertrag nichtug sei und „möglicherweise mehrere Jahre nach seinem Vollzug bereicherungsrechtlich rückabgewicklet werden“ müsse. Dabei wird übersehen, dass mit der Umschreibung des Eigentums im Grundbuch (aber eben erst dann!) nach § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB der Beurkundungsmangel geheilt wurde (uns es eben geade der Zweck des § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB ist, solche Folgen zu vermeiden, s. Pohlmann, oben unter VI. 2.). 53 S. nur Weber/Wesiak, DnotZ 2019, 164, Fn. 1. 54 S. auch Mensch, ZflR 2021, 77 (78).

Die Wirksamkeit der Zustimmung nach § 5 ErbbauRG und § 12 WEG Von Winfried Kössinger Der Jubilar hat sein Augenmerk stets auch auf die praktischen Auswirkungen dogmatischer Erkenntnisse gelegt. Der Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf der einen Seite, Rechtspraxis (insbesondere auch der Notarinnen und der Notare) andererseits war ihm ein großes Anliegen. Dies hat auch dazu geführt, dass er über lange Zeit hinweg die Forschungsstelle für Notarrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München leitete. Zustimmungserklärungen nach § 5 Abs. 1 ErbbauRG und § 12 Abs. 1 WEG haben über Jahrzehnte hinweg immer wieder zu – widersprüchlichen – gerichtlichen Entscheidungen geführt, wenn die Frage zu klären war, ab wann eine solche Erklärung nicht mehr widerrufen werden kann, und zu welchem Zeitpunkt die legitimierende Qualifikation des Erklärenden vorhanden sein muss. Das Problem ist nicht nur von dogmatischem Interesse, sondern von essentieller Bedeutung für die kautelarjuristische Praxis und daraus folgend für das Wirtschaftsleben: ab wann kann – wenn die sonstigen Sicherungsvoraussetzungen gegeben sind – der Käufer mit gutem Gefühl den Kaufpreis bezahlen (und der finanzierende Grundpfandrechtsgläubiger das Darlehen auszahlen), ab wann der Verkäufer sich auf den Bestand des Rechtsgeschäfts verlassen und darauf vertrauen, dass er seine Verpflichtungen erfüllt hat und den Kaufpreis behalten darf?1 Die Entscheidungen ergingen zu den beiden Vorschriften zeitweise divergent, im Ergebnis jedoch nun parallel, so dass eine gemeinsame Betrachtung versucht werden kann.

I. Grundlagen 1. Die Zustimmungserfordernisse a) Gemäß § 5 Abs. 1 ErbbauRG (früher ErbbauVO) kann als Inhalt des Erbbaurechts vereinbart werden, dass der Erbbauberechtigte zur Veräußerung des Erbbaurechts der Zustimmung des Grundstückseigentümers bedarf. Einziger möglicher Dritter, dessen Zustimmung erforderlich sein kann, ist somit der Eigentümer des Erbbaugrundstücks. Gemäß § 5 Abs. 2 ErbbauRG kann ferner vereinbart werden, dass auch zur Belastung des Erbbaurechts mit einer Hypothek, 1

Hierzu eingehend F. Schmidt, ZWE 2010, 394 (395).

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Grund- oder Rentenschuld oder einer Reallast eine solche Zustimmung erforderlich ist. Dieser Katalog ist abschließend, weitere Zustimmungserfordernisse können also allenfalls mit schuldrechtlicher, nicht jedoch mit dinglicher Wirkung vereinbart werden2 (z. B. zur Belastung mit einer Dienstbarkeit). Soweit jedoch ein Zustimmungserfordernis vereinbart und durch Grundbucheintragung wirksam geworden ist, wirkt es dinglich, somit auch für und gegen Sonderrechtsnachfolger. b) Dieser Vorschrift nachgebildet wurde die Regelung in § 12 Abs. 1 WEG: Als Inhalt des Sondereigentums kann vereinbart werden, dass ein Wohnungseigentümer zur Veräußerung … der Zustimmung anderer Wohnungseigentümer oder eines Dritten bedarf (dasselbe gilt gemäß § 35 WEG auch für das – eher seltene – Dauerwohnrecht). Hier ist einerseits einziger Anwendungsfall die Veräußerung, andererseits ist der Kreis der Personen, deren Zustimmung für erforderlich erklärt werden kann, weiter gezogen: andere (alle, einige, einzelne andere Wohnungseigentümer und/oder auch sonstige Dritte, insbesondere also der Verwalter gemäß §§ 20, 26 ff. WEG).

2. Regelungszweck, Rechtspraxis a) Da die Veräußerbarkeit gerade eine – unabdingbare – Kerneigenschaft des Erbbaurechts ist,3 soll dem Grundstückseigentümer ein gewisser Einfluss auf die Auswahl des Rechtsnachfolgers seines ursprünglichen Vertragspartners eingeräumt werden. Außerdem soll er Schranken für die Bestellung von wertmindernden Rechten setzen können, die bei Zeitablauf aus dem Entschädigungsanspruch zu befriedigen wären (§ 29 ErbbauRG) und welche er u. U. beim Heimfall zu übernehmen hätte (§ 33 Abs. 1 ErbbauRG) und für die er dann ggf. persönlich haften würde (§ 33 Abs. 2 ErbbauRG). Die Regelungen in § 7 ErbbauRG führen dazu, dass die Versagung der Zustimmung nur in gravierenden Fällen möglich ist, eine ungerechtfertigte Verweigerung der Zustimmung kann gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 ErbbauRG durch das Amtsgericht ersetzt werden.4 b) Die Regelung in § 12 Abs. 1 WEG sollte die Möglichkeit schaffen, das „Eindringen“ wirtschaftlich unzuverlässiger oder sonst unzumutbarer Personen in die Wohnungseigentümergemeinschaft zu verhindern.5 Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 WEG darf die Zustimmung nur aus wichtigem Grund versagt werden, der nach h. M. in der Person oder dem Verhalten (bzw. konkret zu erwartenden Verhalten) des Erwerbers liegen muss. 2 BayObLGZ 1999, 252 (253) = NJW-RR 2000, 162 (163); OLG Zweibrücken, DNotZ 2004, 934; Winkler/Schlögel, Handbuch Erbbaurecht, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 225. 3 OLG Zweibrücken, FGPrax 2004, 205 (206). 4 OLG Zweibrücken, FGPrax 2004, 205 = DNotZ 2004, 934. 5 Bauer/Schaub/Schneider, GBO, 4. Aufl. 2018, AT E Rn. 114.

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c) Das Zustimmungserfordernis dürfte auch bei jüngeren Erbbaurechtsverträgen immer noch der Regelfall sein. Gründe, die Zustimmung nach § 5 Abs. 1 ErbbauRG zu versagen, sind zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zustimmung jedoch nur selten bekannt. Die Frage einer Zustimmungspflicht zu einer Belastung mit Grundpfandrechten führt des Öfteren zu Meinungsverschiedenheiten und auch Schwierigkeiten oder Verzögerung bei der Abwicklung von Erwerbsverträgen. Hier kann den Beteiligten nur geraten werden, diesen Punkt vor Abschluss des Veräußerungsvertrages mit dem Grundstückseigentümer zu klären. Regelmäßig wird das Vorliegen auch der Zustimmung zu Finanzierungsgrundpfandrechten deshalb zur Voraussetzung für die Kaufpreisfälligkeit gemacht. d) Die Regelung in § 12 WEG wird allenfalls bei sehr kleinen Eigentümergemeinschaften zum Erfordernis der Zustimmung anderer Eigentümer genutzt, führt also meist zum Erfordernis der Zustimmung durch den Verwalter. Motiv war ursprünglich, dass der Verwalter alle Menschen (zumindest die – im wirtschaftlichen Sinne – „Bösen“) kennt, und dem gemäß solche vom Erwerb ausschließen kann. Dies zeigt, dass zumindest in mittleren und größeren Orten oder bei auswärtigen Erwerbern die Regelung keinen rechten Sinn macht.6 Sie wird deshalb in der Praxis bei neuen Teilungserklärungen nur noch selten verwendet.7 Es gibt jedoch eine große Zahl von „alten“ Teilungserklärungen, welche das Zustimmungserfordernis weiterhin vorsehen8. Die vom Gesetzgeber 2007 eingeführte Möglichkeit der vereinfachten Abschaffung einer solchen Regelung (§ 12 Abs. 4 WEG) wurde bislang überwiegend nicht genutzt. Grund hierfür mag auch die bei größeren Anlagen beträchtliche Höhe der Eintragungsgebühren gewesen sein. Dem hat der Gesetzgeber durch Art. 11 Nr. 1 WEMoG Rechnung getragen, wonach die Gebühren seit 1. Dezember 2020 auf höchstens 100 Euro begrenzt sind. § 12 Abs. 4 Satz 1 WEG wurde durch das WEMoG nicht geändert. Aus Verwaltersicht spricht für die Beibehaltung der Regelung, dass er durch dieses Verfahren zuverlässig von Veräußerungen Kenntnis hat, und – wenn Datenschutzüberlegungen nicht nur zu auszugsweisen Abschriften für ihn führen – einen gewissen Überblick über den „Markt“.

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Krit. zur Zweckmäßigkeit auch Armbrüster/Suilmann, WEG, 14. Aufl. 2018, § 12 Rn. 2. Kreuzer, MittBayNot 2013, 132. 8 Zur Nebenfrage der Kostentragung BGH, MittBayNot 2020, 330 = ZfIR 2020, 345 m. Anm. Först; Hügel, MittBayNot 2016, 109 (115); Drasdo, NJW-Spezial 2015, 33; Schneider, RNotZ 2011, 238. 7

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3. Grundbucheintragung der Veräußerungsbeschränkung a) § 12 WEG aa) Frühere Rechtslage Die Vereinbarung eines Zustimmungserfordernisses bedarf der Eintragung im Grundbuch, was grundsätzlich auch durch Bezugnahme geschehen kann, grundbuchverfahrensrechtlich (§ 3 Abs. 2 Hs. 2 WGV) die ausdrückliche, zumindest pauschalierende Aufnahme in den Eintragungstext erfordert. Unterbleibt eine solche „ausdrückliche“ Eintragung, war bislang nach wohl noch h. M. das Zustimmungserfordernis dennoch wirksam.9 Diese Auffassung hätte zur Folge gehabt, dass eine im Vertrauen auf die Nichteintragung nicht eingeholte Zustimmung zur Unwirksamkeit der Veräusserung geführt hätte, was durch die Eigentums- oder Rechtsumschreibung nicht geheilt worden wäre.10 Unterbleibt eine Eintragung überhaupt, kann die Regelung allenfalls als schuldrechtliche Vereinbarung inter partes Wirkung entfalten.11 bb) Regelung seit 1. Dezember 2020 Der Gesetzgeber hat dieses gravierende Problem gesehen. § 7 Abs. 3 Satz 2 WEG in der Fassung durch das WEMoG bestimmt nun ausdrücklich (klarstellend oder rechtsändernd)12, dass – außer der Haftung von Sonderrechtsnachfolgern für Geldschulden – auch Veräußerungsbeschränkungen ausdrücklich einzutragen sind. § 48 Abs. 3 Satz 1 WEG n. F. ordnet die Geltung der Vorschrift in Bezug auf Veräußerungsbeschränkungen ausdrücklich auch für Vereinbarungen und Beschlüsse an, die vor dem 1. Dezember 2020 getroffen oder gefasst wurden. Dies führt zu einer erfreulichen Rechtssicherheit. cc) Eintragung der Aufhebung In umgekehrter Richtung ist die Bedeutung der Eintragung im Hinblick auf die Aufhebung einer bestehenden Veräußerungsbeschränkung geregelt: Da die Beschlusszuständigkeit für die Aufhebung sich unmittelbar aus § 12 Abs. 4 WEG ergibt (und nicht aus einer Vereinbarung), ist die Aufhebung gemäß § 10 Abs. 3 Satz 2

9 OLG München, BeckRS 2006, 11184; LG München, MittBayNot 1993, 137; Bauer/ Schaub/Schneider, GBO AT E Rn. 238; Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 16. Aufl. 2020, Rn. 2902; Hügel/Elzer, WEG, 2. Aufl. 2018, § 12 Rn. 9; Bärmann/Suilmann, WEG, 14. Aufl. 2018, § 12 Rn. 9; a. A. MüKoBGB/Commichau, 8. Aufl. 2020, § 12 WEG Rn. 10; Palandt/Wicke, 79. Aufl. 2020, WEG § 12 Rn. 5. 10 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drs. 19/19369, S. 2. 11 Bärmann/Suilmann, WEG, 14. Aufl. 2018, § 12 Rn. 8. 12 Im ersteren Sinne die Regierungsbegründung in BT-Drs. 19/19369, S. 5.

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WEG n. F. sofort mit Beschlussfassung wirksam, die Eintragung dient nur der Rechtsklarheit.13 b) § 5 ErbbauRG Wie nach der früher h. M. zum WEG wird auch für Verfügungsbeschränkungen gem. §§ 5 ff. ErbbauRG materiell-rechtlich die Bezugnahme auf die Bewilligung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbbauRG für ausreichend erachtet,14 die Nichtbeachtung von § 56 Abs. 2 GBV sei nur ein formell-rechtlicher Verstoß.15l 4. Voraussetzung Voraussetzung für das Erfordernis der hier interessierenden Zustimmungen zur Veräußerung ist eine rechtsgeschäftliche – entgeltliche oder (wenn nicht ausdrücklich auf „Verkauf“ eingeschränkt) unentgeltliche16 – Übertragung unter Lebenden17 oder der Zuschlag in der Zwangsversteigerung an einen neuen Inhaber,18 auch bei Veräußerung durch den Insolvenzverwalter (freihändiger Verkauf oder Versteigerung durch diesen nach § 159 InsO, §§ 172 ff. ZVG)19, wozu § 8 ErbbauRG und § 12 Abs. 3 Satz 2 WEG eine ausdrückliche Regelung beinhalten. Es geht nach ganz h. M. um Vorgänge, welche eine Auflassung im Sinne von § 925 BGB bzw. eine Einigung im Sinne von § 11 Abs. 1 ErbbauRG, § 873 Abs. 1 BGB voraussetzen, somit nicht um Erbfälle, Erbanteilsveräusserungen und Gesellschaftsanteilsveräußerungen (selbst wenn das Gesellschaftsvermögen oder der Nachlass im Wesentlichen oder nur aus einem Wohnungseigentumsrecht oder einem Erbbaurecht besteht).20 5. Folge der fehlenden Zustimmung Das Fehlen einer erforderlichen Zustimmung hat die absolute schwebende Unwirksamkeit des schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfts zur Folge, § 6

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Wobst, MittBayNot 2021, 1 (5). Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 16. Aufl. 2020, Rn. 1781, 1721; Winkler/Schlögel, Handbuch Erbbaurecht, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 175. 15 Bauer/Schau/Maaß, GBO, AT F Rn. 125; Palandt/Wicke, 80. Aufl. 2021, ErbbauRG § 5 Rn. 1; MüKoBGB/Heinemann, 8. Aufl. 2020, ErbbauRG § 5 Rn. 3. 16 KG NJW-RR 2013, 136 (137) = FGPrax 2012, 238; KG ZWE 2014, 311 (312) m. Anm. F. Schmidt. 17 Bauer/Schaub/Schneider, GBO, AT E Rn. 116; Winkler/Schlögel, Handbuch Erbbaurecht, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 185. 18 Palandt/Wicke, 80. Aufl. 2021, WEG § 12 Rn. 3. 19 Bauer/Schaub/Schneider, GBO AT E Rn. 117. 20 BayObLGZ 1967, 408 (411); Bauer/Schaub/Maaß, GBO AT F Rn. 114. 14

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Abs. 1 ErbbauRG, § 12 Abs. 3 WEG.21 § 15 ErbbauRG macht den Nachweis einer erforderlichen Eigentümerzustimmung ausdrücklich zur Eintragungsvoraussetzung, für die Umschreibung eines Wohnungseigentums ergibt sich dies aus den allgemeinen Vorschriften des Sachenrechts (§ 873 Abs. 1 BGB) und des Grundbuchverfahrensrechts (§ 19 GBO).22 Der Nachweis ist in der Form des § 29 GBO zu führen.23

II. Fallgruppen 1. Die Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für das Wirksamwerden einer Zustimmung nach § 5 ErbbauRG stellt sich hauptsächlich dann, wenn der Grundstückseigentümer, sei es aufgrund nachträglicher weitergehender Information, sei es aus eher subjektiven Beweggründen nachträglich eine bereits erteilte Zustimmung widerrufen will und sich hierbei auf einen wichtigen Grund für die Versagung stützt. Weitere Fälle traten dann auf, wenn der Zustimmende zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Erklärung Grundstückseigentümer war, diese Rechtsstellung dann aber vor dem Endvollzug des Rechtsgeschäfts, dem er zugestimmt hatte, verloren hatte. 2. Bezüglich der vom Verwalter erteilten Zustimmung kommt ebenfalls der Wunsch des Widerrufs als Grund in Betracht, zum anderen der zwischenzeitliche Verlust der Verwaltereigenschaft (insbesondere durch Zeitablauf oder Abberufung). 3. Für beide Arten von Zustimmungen kamen als maßgeblicher Zeitpunkt in Betracht: der Zugang bei einem Veräußerungsbeteiligten, der Eingang des Umschreibungsantrags beim Grundbuchamt oder der Vollzug der Eintragung.

III. Konsequenzen für die Praxis Wenn ein Erwerber im Vertrauen – unter anderem – auf das Vorliegen der Zustimmung die Gegenleistung erbracht hatte, war es möglich, dass das Grundbuchamt nachfolgend die Eintragung als Erbbauberechtigter/Wohnungseigentümer ablehnte. Ob und wann dann später ein Anspruch auf Zustimmung nach § 7 ErbbauRG, § 12 Abs. 2 WEG, der ja nur dem bisherigen Berechtigten – Veräußerer – zusteht, durchgesetzt werden konnte, blieb zunächst offen. Umgekehrt wäre ein Veräußerer, der seinerseits über den erhaltenen Kaufpreis disponiert hatte, Rückzahlungsansprüchen ausgesetzt gewesen, wenn der Wegfall der Zustimmungsberechtigung oder ein Widerruf der Zustimmung zum Entfallen des Rechtsgrundes für das Behaltendürfen der Gegenleistung geführt hätte.24 21

BGHZ 33, 76 (85) = NJW 1960, 2093 (2095) noch zur ErbbauVO. BayObLGZ 1961, 392 (293) = DNotZ 1962, 312. 23 BGH, NJW 2017, 3514 = FGPrax 2017, 241 = MittBayNot 2018, 244 = DNotZ 2018, 440. 24 Zu den Risiken auch Hügel, DNotZ 2011, 628 (629); F. Schmidt, ZWE 2010, 394 (397). 22

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IV. Die Entwicklung der Rechtsprechung25 1. Ausgangspunkt: rechtliche Qualifizierung des Zustimmungsvorbehalts a) Herkömmliche Lösung: Verfügungsbeschränkung In einer bis 2010 gefestigten und einheitlichen Linie, die bis 1999 auch in der Literatur26 keinen Widerspruch fand27, qualifizierte die Rechtsprechung das Zustimmungserfordernis nach § 5 ErbbauRG, § 12 WEG als Verfügungsbeschränkung, somit als Ausnahme zu § 137 Satz 1 BGB.28 Nachdem allgemeines Grundbuchrecht das Vorliegen der Verfügungsbefugnis (und daraus folgend Bewilligungsbefugnis) für alle zum Vollzug erforderlichen Erklärungen zum Zeitpunkt des Grundbuchvollzugs verlangt29, wurde dies auch für die Zustimmungszuständigkeit verlangt. Der vorherige Wegfall der Zustimmungsberechtigung führte zur Unwirksamkeit, die Widerruflichkeit wurde § 183 Satz 1 BGB entnommen, und dabei als Vornahme des Rechtsgeschäfts nicht die Beurkundung des Veräußerungsvertrages, sondern die Vollendung des Rechtserwerbs durch Grundbuchvollzug verstanden. Ausgangspunkt dieser Auffassung war eine Entscheidung des BGH zur Belastungszustimmung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 ErbbauVO.30 Hierin wurde jedoch die Widerruflichkeit auf die Zeit bis zu dem in § 878 BGB genannten Zeitpunkt beschränkt.31 Dem folgte sodann die obergerichtliche Rechtsprechung einhellig bis 2010, teilweise auch danach.32 Das OLG Hamburg folgte im Ergebnis weiter dieser Auffassung, wobei es meinte, auf die „feinsinnige Unterscheidung in Verfügungsbeschränkung bzw. inhaltliche Beschränkung des Eigentums komme es nicht an.33 In

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Darstellung z. B. bei Weber, ZWE 2017, 341; Kössinger, MittBayNot 2011, 487. Vgl. statt aller zuletzt Demharter, GBO, 27. Aufl. 2010, Anh. § 3 Rn. 38, § 19 Rn. 60 f.; Palandt/Bassenge, 70. Aufl. 2011, § 12 WEG Rn. 7; Erman/Grziwotz, BGB, 12. Aufl. 2008, § 12 WEG Rn. 5. 27 So F. Schmidt, MittBayNot 1999, 366 (367) unter Verweis auf Bauer/von Oefele/Kössinger, GBO, 1. Aufl. 1999, § 19 Rn. 199 ff. 28 BGHZ 33, 76 (85) = NJW 1960, 209; OLG Düsseldorf, FGPrax 1996, 125 = MittRheinNotK 1996, 276; OLG Köln, Rpfleger 1996, 106 = MittRheinNotK 1996, 275. 29 Demharter, GBO, 31. Aufl. 2018, § 19 Rn. 60. 30 BGH, NJW 1963, 36 = DNotZ 1963, 433. 31 BGH, NJW 1963, 36 (37); so auch z. B. Winkler/Schlögel, Handbuch Erbbaurecht, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 183. 32 OLG Düsseldorf, FGPrax 1996, 125 = MittRheinNotK 1996, 276; OLG Köln, Rpfleger 1996, 106 = MittRheinNotK 1996, 275; OLG Celle, RNotZ 2005 m. Anm. Kesseler = NZM 2005, 260 (Eigentümer des anderen Wohnungseigentums hatte gewechselt); KG RNotZ 2009, 479 = ZWE 2009, 330 (erfolgreiche Anfechtung einer Verwalterbestellung); OLG Hamm, NJW-RR 2010, 1524 = RNotZ 2010, 578 = ZWE 2010, 418; OLG Frankfurt a. M., RNotZ 2012, 330. 33 OLG Hamburg, ZfIR 2011, 528 = BeckRS 2011, 18986 = MittBayNot 2011, 487 (LS) m. Anm. Kössinger. 26

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den Jahren 2016 und 2017 änderte das OLG München sogar eine Rechtsprechung von 2011 und kehrte zur herkömmlichen Auffassung zurück.34 b) Gegenteilige Entscheidungen Unter Verweis auf die abweichende Beurteilung durch eine in der Literatur vordringende Auffassung35, lehnten das OLG Düsseldorf36 und das OLG München37 im Jahr 2011 die Qualifikation als Verfügungseinschränkung und die hieraus entnommenen Folgen ab und entschieden, dass die Zustimmung mit Zugang bei einem Vertragsbeteiligten (oder dem bevollmächtigten Notar) wirksam und unwiderruflich werde. Dies wurde darauf gestützt, dass die Veräußerungsbeschränkung als rechtliche Beschränkung innerhalb des Rechtsinhalts des Wohnungseigentums qualifiziert wurde. Dies näherte sich der in der Literatur vordringenden Meinung an, es handele sich um eine „auf der Ebene des Rechts selbst eintretende Fungibilitätseinschränkung“38 oder eine „Beschränkung des Rechtsinhaltes“39. Zum Teil wurde diese Beurteilung noch offen gelassen, die Konsequenz der frühen Wirksamkeit und Bindung aber dennoch gezogen.40 2. Die Entscheidungen des BGH a) Im Beschluss vom 11. 10. 201241 hat der BGH entschieden, dass die Zustimmung des Verwalters auch dann wirksam bleibe, wenn dieser nach Erklärung der Zustimmung bei den Beteiligten, aber vor Stellung des Eintragungsantrages beim Grundbuchamt seine Verwalterstellung verliert. Der BGH lässt dabei ausdrücklich offen, ob das Zustimmungserfordernis eine Beschränkung der Verfügungsbefugnis oder eine Beschränkung des Inhalts des Wohnungseigentums darstellt42. Tragende Erwägung dieser Entscheidung ist, dass der Verwalter mit seiner Entscheidung über die Zustimmung kein eigenes Recht wahrnehme, sondern als Treuhänder und mittelbarer Stellvertreter der Wohnungseigentümer tätig sei. 34 OLG München, FGPrax 2016, 256 = Rpfleger 2017, 203 (zum ErbbauRG); OLG München, FGPrax 2017, 204 = MittBayNot 2018, 250 m. Anm. Kössinger (zum WEG). 35 Staudinger/Gursky, BGB, 2007, 13. Aufl. 2000, § 878 Rn. 28; Bauer/von Oefele/Kössinger, GBO, 1. Aufl. 1999, § 19 Rn. 199 ff. 36 OLG Düsseldorf, DNotZ 2011, 625 m. Anm. Hügel = FGPrax 2011, 220 = MittBayNot 2011, 484. 37 OLG München, ZWE 2012, 93 = MittBayNot 2011, 486. 38 F. Schmidt, MittBayNot 1999, 366 (367); Bauer/von Oefele/Kössinger, GBO, 2. Aufl. 2006, § 19 Rn. 202. 39 Staudinger/Gursky, BGB, 2007, § 878 Rn. 29; Bärmann/Klein, WEG, 11. Aufl. 2010, § 12 Rn. 33. 40 Kesseler, Anm. zu OLG Celle, RNotZ 2005, 542, in: RNotZ 2005, 543 (546 f). 41 BGH, DNotZ 2013, 362 m. Anm. Commichau = MittBayNot 2013 m. Anm. Kreuzer. 42 BGH, DNotZ 2013, 362 (365).

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Eine Vereinbarung nach § 12 Abs. 1 WEG diene allein dem Schutz der Wohnungseigentümer gegen den Eintritt unerwünschter Personen in die Wohnungseigentümergemeinschaft. Der Verwalter habe bei der ihm übertragenen Entscheidung die Interessen der übrigen Wohnungseigentümer wahrzunehmen, seine Zustimmung ersetze den (andernfalls notwendigen) Beschluss der anderen Wohnungseigentümer. Da ein Beschluss, mit dem die Zustimmung erteilt wird, gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 WEG auch für Sonderrechtsnachfolger bindend sei, gelte dies auch für die Zustimmung des Verwalters.43 So begrüßenswert es war, dass der BGH von dem Grundsatz der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts nach § 878 BGB abging, so schwer fällt es, den Argumentationsstrang dogmatisch nachzuvollziehen44. Die Scheu des BGH, in der rechtlichen Qualifizierung des Zustimmungserfordernisses Stellung zu beziehen, führte in der Folgezeit weiterhin zu problematischen Entscheidungen der Instanzgerichte. Die Argumentation trägt darüber hinaus auch nicht bei den Fällen, wo die Zustimmung aller Eigentümer (sei es des Erbbaugrundstücks, sei es aller anderen Wohnungseigentumseinheiten) erforderlich gemacht wird, und dann einer von ihnen seine Qualifizierende Rechtsstellung vor dem Umschreibungsantrag verliert. Der BGH hatte die Gelegenheit nicht ergriffen, hier für Klarheit zu sorgen. b) Mit Beschlüssen vom 29. 6. 2017 (zum ErbbauRG) und vom 6. 12. 2018 (zum WEG) hat der BGH (beide Male entgegen der Vorinstanz OLG München) nunmehr entschieden, dass die Zustimmung nach § 5 Abs. 1 ErbbauRG und nach § 12 Abs. 1 WEG bereits dann wirksam und unwiderruflich geworden ist, wenn die schuldrechtliche Vereinbarung über die Veräußerung wirksam geworden ist. aa) In der Entscheidung zum ErbbauRG45 setzt sich der BGH mit seiner eigenen früheren Rechtsprechung46, der ihm folgenden Rechtsprechung und mit den in der Literatur vertretenen Auffassungen eingehend auseinander. Er geht auf die herkömmliche Qualifikation als Beschränkung der Verfügungsbefugnis einerseits und die neueren Ansichten, (teils mit der Argumentation, es handele sich um eine auf der Ebene des Rechts selbst eintretende sog. Fungibilitätseinschränkung47), welche zur Wirksamkeit und Unwiderruflichkeit bereits bei Wirksamwerden des schuldrechtlichen Geschäfts, also Eingang der Zustimmung bei den Beteiligten führe, ein. Er hält die letztgenannte Auffassung48, jedoch nur im Ergebnis, für richtig. 43

BGH, DNotZ 2013, 362 (366). Krit. zu dieser Begründung auch Hügel, MittBayNot 2016, 109 (114). 45 BGH, NJW 2017, 3514; = FGPrax 2017, 241 = MittBayNot 2018, 244 = DNotZ 2018, 440. 46 BGHZ 33, 76 (85) = NJW 1960, 2093 (2095); BGH, NJW 1963, 36. 47 Palandt/Wicke, 76. Aufl. 2017, § 5 ErbbauRG Rn. 5; Staudinger/Rapp, BGB, 2017, §§ 5 – 7 ErbbauRG Rn. 1; Kesseler, RNotZ 2005, 543 (547); Bauer/von Oefele/Kössinger, GBO, 3. Aufl. 2013, § 19 Rn. 203; 48 Vgl. z. B. Bärmann/Suilmann, WEG, 14. Aufl. 2018, § 12 Rn. 33 m. w. N. 44

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Begründet wird dieses Ergebnis jedoch damit, dass die Widerruflichkeit nach § 183 Satz 1 Hs. 2 BGB nur bestehe, soweit nicht aus dem Rechtsverhältnis, das der Erteilung der Einwilligung zugrunde liegt, sich ein anderes ergibt. Dies sei beim Verhältnis zwischen Erbbauberechtigtem und Grundstückseigentümer der Fall. Auf die dogmatische Einordnung komme es dabei nicht entscheidend an. Auch der Wortlaut des § 6 Abs. 1 ErbbauRG wird als Begründung dafür herangezogen, dass auf einen Gleichlauf des rechtlichen Schicksals von schuldrechtlichem Kausalgeschäft und dinglichem Verfügungsgeschäft abgezielt werde. Die frühere Entscheidung von 196249 stehe nicht in Widerspruch zu der neuen Entscheidung, weil jene allein den Widerruf der Zustimmung zur Bestellung einer Sicherungshypothek betroffen habe. bb) Bereits die vorgenannte zum ErbbauRG hatte auf eine mögliche Änderung der Rechtsprechung auch zum WEG schließen lassen, weil der BGH als weiteres Argument für den Ausschluss der Widerruflichkeit der Zustimmung nach Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts den Gleichlauf mit dem Wohnungseigentumsrecht angeführt hatte.50 Diesen angedeuteten Weg hat der BGH dann mit dem Beschluss vom 6. 12. 2018 eingeschlagen.51 Dieser Bezug wird in der späteren Entscheidung ausdrücklich aufgenommen.52 Wiederum setzt der BGH sich mit § 183 Satz 1 BGB auseinander und mit den unterschiedlichen Auffassungen zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Unwiderruflichkeit (bindend gewordene dingliche Einigung und Stellung des Eintragungsantrages einerseits, Wirksamwerden der Zustimmung durch Zugang andererseits – hierzu dann mit unterschiedlichen Begründungen im Einzelnen). Er entscheidet nach Abwägung: „Ist als Inhalt des Sondereigentums vereinbart, dass der Wohnungseigentümer zur Veräußerung des Wohnungseigentums der Zustimmung anderer Wohnungseigentümer oder … des Verwalters bedarf, wird die erteilte Zustimmung unwiderruflich, sobald die schuldrechtliche Vereinbarung über die Veräußerung wirksam geworden ist.“ Wiederum wird festgestellt, dass es auf die Frage nach der dogmatischen Einordnung des Zustimmungserfordernisses nicht entscheidend ankomme. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Unwiderruflichkeit der Zustimmung ergebe sich aus Entstehungsgeschichte, Systematik sowie Sinn und Zweck der Zulassung des Zustimmungsvorbehalts in § 12 WEG.53 Dabei wägt das Gericht die Interessen der Beteiligten differenziert ab.

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BGH, NJW 1963, 36 f. BGH, MittBayNot 2018, 244 (246). 51 BGH, NZM 2019, 542 = ZWE 2019, 313 = notar 2019, 308 m. Anm. von Türckheim = ZfIR 2019, 410 m. Anm. Heinemann = DNotZ 2019, 844 m. Anm. Kössinger. 52 BGH, DNotZ 2019, 844 (847). 53 BGH, DNotZ 2019, 844 (848). 50

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3. Folgeentscheidung Mit Beschluss vom 15. 6. 202054 hat das OLG München sich der Auffassung des BGH angeschlossen und auf dieser Grundlage auch entschieden, dass die durch alle Eigentümer eines Erbbaugrundstücks erteilte Zustimmung nicht dadurch ihre Wirksamkeit verliert, dass einer der zustimmenden Eigentümer seine Eigentümerstellung verloren hat, bevor der Umschreibungsantrag zum Erbbaurecht beim Grundbuchamt eingeht. Diese Fallkonstellation ist von großer praktischer Bedeutung: durchaus häufig veräußern Eigentümer eines Erbbaugrundstücks, an dem Wohnungs- und Teileigentumsrechte gebildet sind, entsprechende Bruchteile des Grundstückseigentums an einzelne, mehrere oder alle Wohnungs- und Teilerbbauberechtigte. So kann es zu einer Vielzahl von erforderlichen Zustimmungen kommen55, die nicht immer zuverlässig durch Erteilung entsprechender Vollmachten abgefedert wird.

V. Folgerungen und weiterhin offene Fragen 1. Konsequenzen für die Vertragsgestaltung Die Entscheidungen des BGH schaffen Rechtssicherheit. Geht den Beteiligten (oder dem diese vertretenden Notar) eine Zustimmung zu, welche von einer Person (oder mehreren Personen) erteilt ist, die zu diesem Zeitpunkt „zustimmungsbefugt“ sind, so ist diese Zustimmung unwiderruflich und wird durch den Verlust einer Zustimmungsbefugnis nicht mehr berührt. Das OLG München hatte in der Vorentscheidung zum WEG noch (unter unzutreffendem Verweis auf die Literatur)56 gemeint, die Vertragspraxis könne sich auf die Unwägbarkeiten der anderen Auffassung ohne weiteres einstellen,57 der BGH hat jedoch die schwierigen praktischen Konsequenzen erkannt.58 Faktisch hätte dies dazu geführt, dass die – halbwegs – rechtssichere Abwicklung solcher Verträge praktisch nur unter Kaufpreishinterlegung auf Notaranderkonto bis zur Eigentums- bzw. Rechtsumschreibung hätte erfolgen können.59 Damit wären nicht nur deutlich höhere Abwicklungskosten verbunden, sondern im Hinblick auf die zum Teil lange Bearbeitungsdauer bei den Grunderwerbsteuerstellen und einzelnen Grundbuchämtern auch ein lange „Blockade“ des Kaufpreises. Indes, wenn sich erst nach Rechtsumschreibung und Kaufpreisauszahlung herausgestellt hätte, dass die Zustimmung vorzeitig unwirksam geworden war, hätte der Voll-

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OLG München, RNotZ 2020, 507 = ZfIR 2020 m. Anm. Giesen. Winkler/Schlögel, Handbuch Erbbaurecht, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 179a. 56 Kesseler, RNotZ 2005, 543 ff. 57 OLG München, MittBayNot 2018, 250 (252). 58 BGH, MittBayNot 2018, 244 (246); BGH, DNotZ 2019, 844 (849). 59 Bub/Bernhard, FD-MietR 2017, 392418; so schon Kesseler, RNotZ 2005, 544 (545).

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zug im Grundbuch den dadurch verursachten Mangel der Einigung/Auflassung nicht geheilt.60 Da die Zustimmung gem. 182 Abs. 2 BGB materiell-rechtlich formfrei erteilt werden kann, und nur grundbuchverfahrensrechtlich gemäß § 29 GBO des Nachweises durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden bedarf, kann – je nach Abwägung und Beschleunigungswille der Beteiligten im Einzelfall – (bei Vorliegen der sonstigen Sicherungsvoraussetzungen) der Kaufpreis fällig gestellt werden, wenn die unterschriebene Zustimmung (ggf. auch der Verwalternachweis) zur Vermeidung weiterer Verzögerung vorab schriftlich, per Email-Scan oder Telefax vorliegt, oder ansonsten, wenn die Zustimmung (ggf. samt Verwalternachweis) formgerecht vorliegt. Die ausstehende Unbedenklichkeitsbescheinigung der Grunderwerbsteuerstelle (die Steuerfestsetzung erfolgt i. d. R. erst, nachdem der Notar nach Eingang der Zustimmung die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts angezeigt hat) und die ausstehende Rechtsumschreibung durch das Grundbuchamt verzögern also die Kaufpreisfälligkeit und die meist an die Kaufpreiszahlung anknüpfende Besitzübergabe nicht. Für den Verkäufer ist der Kaufpreis dann auch sofort verfügbar, und nicht durch Hinterlegung beim Notar gesperrt. 2. Folgerungen für die Gestaltung von Zustimmungserfordernissen in der Gemeinschaftsordnung In dem Beschluss vom 11. 10. 2012 hat der BGH noch argumentiert, die Zustimmung des WEG-Verwalters ersetze eine Entscheidung, die – ohne die Übertragung der Zustimmungsbefugnis auf ihn – durch Beschluss zu treffen wäre.61 Der BGH hatte geglaubt, diesen Begründungsstrang deswegen einsetzen zu müssen, weil es um die Frage ging, ob der – nach Zugang der Zustimmung bei den Beteiligten, aber vor dem nach § 878 BGB maßgeblichen Zeitpunkt – erfolgende Wegfall der Verwaltereigenschaft die Wirksamkeit der Zustimmung entfallen lässt. Dies führte zwar zum begrüßenswerten Ergebnis, beseitigte jedoch noch nicht alle Unsicherheiten in den Konsequenzen.62 An diesen Gedanken anknüpfen kann die Gestaltungspraxis jedoch seit dem Inkrafttreten des WEMoG: Hätte man früher in einer Regelung nach § 12 Abs. 1 WEG die Zustimmung durch die Wohnungseigentümergemeinschaft für erforderlich erklärt, wäre der Verwalter hierzu nicht vertretungsberechtigt gewesen (§ 27 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 WEG a. F.), und es hätte eines ausdrücklichen Beschlusses bedurft. Auch die früheren Regelungen hatten ja eigentlich nicht zum Ziel gehabt, den Verwalter aus eigenem „Gutdünken“ zur Zustimmung zu ermächtigen, sondern nur als Sachwalter der Wohnungseigentümer.

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Hügel, MittBayNot 2016, 109 (114). BGH, DNotZ 2013, 362 (365) m. Anm. Kreuzer. 62 Kössinger, DNotZ 2019, 850 (851). 61

m. Anm. Commichau = MittBayNot

2013

Die Wirksamkeit der Zustimmung nach § 5 ErbbauRG und § 12 WEG

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Dies hat sich durch das WEMoG grundlegend geändert: § 9b Abs. 1 Satz 1 WEG n. F. enthält die grundsätzlich unbeschränkte Vertretungsmacht des Verwalters (ausgenommen den Abschluss von Grundstückskauf- und Darlehensverträgen), die nach § 9b Abs. 1 Satz 3 WEG n. F. im Außenverhältnis auch unbeschränkbar ist. Damit dürfte viel dafür sprechen, dann wenn man das Zustimmungserfordernis überhaupt setzen möchte, die Zustimmung der „durch den Verwalter – ersatzweise gem. 9b Abs. 1 Satz 2 WEG – vertretenen Gemeinschaft der Wohnungseigentümer“ zum Veräußerungserfordernis zu machen.63 3. Bewertung Der BGH hat die praktischen Fragen richtig, klar und rechtssicher – und hinsichtlich der Ergebnisse übereinstimmend mit der neueren Auffassung in der Literatur – beantwortet.64 Die Argumentation zur (Nicht-)Differenzierung zwischen schuldrechtlichem und dinglichem Geschäft überzeugt nicht vollends: sie könnte genauso gut als Begründung für das entgegengesetzte Ergebnis verwendet werden: wenn die Zustimmung für beide Geschäfte einheitlich erforderlich ist, könnte auch der letzte Zeitpunkt – ggf. vorverlegt auf den des § 878 BGB – der maßgebliche sein. Der BGH hat ausdrücklich die Frage der dogmatischen Einordnung des Zustimmungserfordernisses (Beschränkung der Verfügungsbefugnis als Ausnahme zu § 137 Satz 1 BGB oder die Qualifikation als Rechtsinhalt unter Anknüpfung an den Wortlaut von § 12 Abs. 1 WEG bzw. § 5 Abs. 1 ErbbauRG – ggf. als Fungibilitätsbeschränkung benennbar65 –) als nicht entscheidungserheblich offen gelassen. Mit der jetzt gefundenen Klarheit in den Konsequenzen mag dies auch vertretbar sein. Trotzdem: auch der BGH hat festgestellt: „Ist als Inhalt des Erbbaurechts vereinbart …“66 bzw. „Ist als Inhalt des Sondereigentums vereinbart …“67. Dies klingt nicht als Regelung im Sinne einer Ausnahme zu § 137 BGB. Und mit der Sicht, dass es sich nicht um eine Verfügungsbeschränkung, sondern eine inhaltliche Ausgestaltung des Rechts im Sinne einer Fungibilitätsbeschränkung handelt, lassen sich alle praktischen Ergebnisse der BGH-Rechtsprechung ohne Umwege und offene Restfragen konsistent beantworten68.

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Wobst, MittBayNot 2021, 1 (7). Vgl. auch Rapp, DNotZ 2018, 413 (422 f.). 65 Hügel, MittBayNot 2016, 109 (114). 66 BGH, MittBayNot 2018, 244 (245). 67 BGH, DNotZ 2019, 844 (847). 68 Ablehnend Heinemann, ZfIR 2017, 782 (785), der dies kämpferisch als „dogmatisch verquere und unhaltbare Erfindung“ bezeichnet. 64

Nachbarschaftsregelnde Dienstbarkeiten – Problemanalyse und Anregungen für die notarielle Praxis Von Klaus Vieweg

I. Einleitung Zahl und Intensität von Nachbarkonflikten nehmen zu. Hauptursachen dürften sein zum einen die höhere Verdichtung der Bebauung, nicht zuletzt aufgrund höherer Grundstückspreise, die ihrerseits durch das knappe Angebot an Bauland bedingt sind. Zum andern haben sich Einstellungen und Verhaltensweisen konfliktfördernd verändert. Mit dem Anspruch, das eigene Grundstück nach den eigenen individuellen Vorstellungen uneingeschränkt nutzen zu dürfen, kollidiert eine geringere Toleranzschwelle gegenüber Beeinträchtigungen solcher individuellen Nutzungen durch die Nachbarn. Dabei wirkt die Zunahme an Freizeit quasi als Katalysator. Die für ein gedeihliches nachbarschaftliches Miteinander – sei es in horizontaler, sei es in vertikaler Nachbarschaft1 – nötige Balance von Rücksichtnahme und Toleranz ist gestört. Der zur Konfliktvermeidung und -lösung zur Verfügung stehende Rechtsrahmen ist komplex und weist Lücken2 auf. So bereitet die Zweispurigkeit3 nachbarrechtlicher Regelungen Probleme. Die zivilrechtlichen Vorschriften – insbes. die §§ 906 ff. BGB – und die öffentlich-rechtlichen Regelungen – insbes. § 4 BImSchG und die Ausführungsverordnungen zum BImSchG – sind nicht aufeinander abgestimmt und verwenden mit „wesentlich“ und „erheblich“ unbestimmte Begriffe, die konkretisiert werden müssen.4 Die Nachbarrechtsgesetze der Bundesländer sind – soweit überhaupt vorhanden – im Detail sehr unterschiedlich.5 Eine wesentliche Rolle kommt der Rechtsprechung zu. Mit seinem Beurteilungsmaßstab des „verständigen 1

Zur vertikalen Nachbarschaft Vieweg, in: FS Link, 2003, S. 985 ff. OLG München, Urt. vom 11. 4. 2018 – 3 U – 3538/17, Rn. 28, abrufbar unter: https:// www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2018-N-5574?hl=true. 3 Vieweg/Röthel, DVBl. 1996, 1171 ff. 4 Vieweg, in: FS Großfeld, 1999, S. 1251 (1260 ff.). 5 Während z. B. Hessen und Nordrhein-Westfalen in umfangreichen Nachbarrechtsgesetzen Einzelheiten für Einfriedigungen, Bepflanzungen und negative Immissionen getroffen haben, ist die rudimentäre altrechtliche Regelung vom bayerischen Gesetzgeber nur durch das Hammerschlag- und Leiterrecht sowie die Zulassung der Abstandsflächenunterschreitung aufgrund von Dämmungsmaßnahmen ergänzt worden. 2

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Durchschnittsmenschen“ hat der V. Zivilsenat des BGH eine Formulierung gefunden, die die kollidierenden grundrechtlichen Positionen der Nachbarn und auch das übergreifende öffentliche Interesse berücksichtigen und ausgewogene Einzelfallentscheidungen ermöglichen kann.6 Rechtssicherheit ist damit aber nur bedingt erreicht. Die Verweisung in § 906 Abs. 1 S. 2 BGB und in § 4 Abs. 2 BImSchG auf Rechtsverordnungen mit ihren Grenz- und Richtwerten ist ein erster Konkretisierungsschritt. Dasselbe gilt für die Verweisung auf Verwaltungsvorschriften i. S. v. § 48 BImSchG und den Stand der Technik. Damit wird der Blick auf technische Normen, insbes. des Deutschen Instituts für Normung e. V. (DIN) und des Vereins Deutscher Ingenieure e. V. (VDI) gelenkt, die rechtlich die Qualität von Empfehlungen7 haben. Schließlich sind in das Regelungskaleidoskop noch Verlautbarungen von Ministerien einzubeziehen. Die Hinweise des Bund/Länder-Ausschusses für Immissionsschutz zum Freizeitlärm8 und die Geruchsimmissions-Richtlinie9 sind hierfür Beispiele. Die Zweispurigkeit des materiellen Nachbarrechts bringt es mit sich, dass auch der Rechtsschutz zweispurig ist und ein Erfolg z. B. auf dem Zivilrechtsweg keine Gewähr dafür bietet, dass öffentlich-rechtlich nicht doch eine beeinträchtigende Nutzung erlaubt wird.10 In einigen Bundesländern wird zudem für die zivilgerichtliche Verfolgung von Nachbarstreitigkeiten gem. § 15 a Abs. 1 Ziff. 2 EGZPO die vorgeschaltete Tätigkeit einer Schiedsstelle verlangt.11 Das Spektrum der Nachbarkonflikte ist breit. Einen Eindruck vermitteln die Kommentierungen zu §§ 906 ff. BGB,12 die insbes. die umfangreiche Rechtsprechung auswerten, sowie die Handbücher13 und Kommentare zu den Nachbarrechtsgesetzen der Bundesländer14. Systematisiert man die für die notarielle Praxis in den Blick zu nehmenden Nachbarschaftskonflikte, so ergibt sich – vereinfacht – folgende Faust6 BGHZ 120, 239 ff. = NJW 1993, 925 ff.; dazu Vieweg, NJW 1993, 2570 (2574 f.); Vieweg/Röthel, NJW 1999, S. 969 (971). 7 Zum Empfehlungscharakter Vieweg, Produkthaftungsrecht, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2011, S. 337 (377). 8 https://www.lai-immissionsschutz.de/documents/freizeitlaermrichtline_1503575715.pdf. 9 Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL), erarbeitet vom Länderausschuss für Immissionsschutz (LAI) 2004; daran anschließend in Form eines Runderlasses als Landesregelung für NRW die Geruchsimmissions-Richtlinie i. d. F. vom 5. 11. 2009 (MBl. NRW. S. 533). 10 So im Fall BGH, NJW 1983, 751 (Tennisplatzurteil). 11 Z. B. Art. 5 ff. Bayerisches Gesetz zur obligatorischen außergerichtlichen Streitschlichtung in Zivilsachen (Bayerisches Schlichtungsgesetz – BaySchlG) vom 25. April 2000 (GVBl. S. 268). 12 Staudinger/Roth, Neubearbeitung 2020; jurisPK BGB Vieweg/Regenfus, 9. Aufl. 2019; BeckOGK/Klimke (1. 1. 2020); MüKoBGB/Brückner, 8. Aufl. 2020. 13 Etwa Schöner/Stöber 16. Aufl. 2020; auch Lehrbücher wie Vieweg/Lorz, Sachenrecht, 9. Aufl. 2021, § 9 II.5. 14 Z. B. Schäfer/Fink-Jamann/Peter, Nachbarrechtsgesetz Nordrhein-Westfalen, 17. Aufl. 2018.

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formel: viermal L, zweimal W und einmal S. – L steht für Lärm, Laub, Licht und Luft. W bezeichnet Wasser und Wurzeln. S erfasst die Strahlungsproblematik. Im Folgenden wird diese Systematik aufgegriffen, zum einen, um die Problematik deutlich zu machen (dazu II.), zum anderen, um für die notarielle Praxis Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen (dazu III.).15

II. Nachbarliche Konfliktlage 1. Lärm Nach einer 2016 durchgeführten repräsentativen Umfrage des Umweltbundesamtes16 fühlen sich 60 % der Befragten durch Lärm von Nachbarn beeinträchtigt. Hundegebell, Gartenpartys, Kindergeschrei, Musik, Rasenmäher, Laubsauger/-bläser, Gartenpools17 und Luftwärmepumpen sind Beispiele. In der „vertikalen Nachbarschaft“ ist der Trittschall ein häufiges Problem. Kontrovers wird der sog. Infraschall bewertet.18 Gesetzliche Privilegierungen enthalten § 22 Abs. 1a BImSchG19 für Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und Ballspielplätzen ausgehen und von Kindern hervorgerufen werden, sowie die SportanlagenlärmschutzVO (18. BImSchV)20 für Sportanlagen21. Für Gartengeräte enthält die Geräte- und MaschinenlärmschutzVO (32. BImSchV)22 ein differenziertes Zeit-/ Gebiets-/dB(A)-Raster, das beispielsweise den Gebrauch von Kettensägen nach

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Bei der Eintragung von Grunddienstbarkeiten oder beschränkt persönlichen Dienstbarkeiten ergibt sich als Anschlussfrage, in welchem Umfang bei konkretem Interesse die Einsichtnahme unter Wahrung datenschutzrechtlicher Anforderungen – Erforderlichkeitsprinzip – erfolgen darf. Aus Raumgründen kann hierauf nicht eingegangen werden. 16 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (Hrsg.), Umweltbewusstsein in Deutschland 2016, S. 50 ff.; abrufbar unter: https://www.um weltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/publikationen/umweltbewusstsein_deutsch land_2016_bf.pdf. 17 Nach den Angaben des Bundesverbands Schwimmbad und Wellness e. V. sind in Deutschland 1,2 Mio. sog. Pick up Pools und ca. 790.000 in den Boden eingelassene oder aufgestellte Pools vorhanden. Abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coro navirus-pool-markt-wird-eng-100.html. 18 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Infraschall, WD 8-3000 – 099/19 vom 12. 8. 2019, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/657038/ 05e0a36c803110ae446a7c04dc4e1f6a/WD-8-099-19-pdf-data.pdf. 19 Ebenso § 6 Abs. 1 LImSchG Berlin. 20 Sportanlagenlärmschutzverordnung vom 18. Juli 1991 (BGBl. I S. 1588, 1790), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 1. Juni 2017 (BGBl. I S. 14629 8). 21 Zur früheren Rechtslage und Judikatur Vieweg, JZ 1987, 1104 ff. 22 Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung vom 29. August 2002 (BGBL. I S. 3478), zuletzt geändert durch Art. 110 VO vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328, 1341).

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20 Uhr verbietet.23 Zentral für zivilgerichtliche Entscheidungen ist § 906 BGB mit den unbestimmten Rechtsbegriffen „wesentlich“, „ortsüblich“ und „zumutbar“ sowie mit der Bezugnahme auf Verwaltungsvorschriften i. S. v. § 48 BImSchG. Konkret ist mit dieser Bezugnahme die TA Lärm24 angesprochen, die ihrerseits auf den Stand der Technik abstellt und damit technische Normen wie die DIN 4109 (Schallschutz im Hochbau) und die VDI-Richtlinie 2058 in den Blick nimmt. Zur Leitentscheidung des BGH vom 20. 11. 1992 (Ingolstädter Frösche)25 haben Jubilar und Autor einen besonderen persönlichen Bezug. Johannes Hager verfolgte den Konflikt vor Ort von seinem Lehrstuhl an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der KU Eichstätt aus. Ich hatte den Vorsitzenden des V. Zivilsenats des BGH, Professor Dr. Horst Hagen, nach seinem Vortrag in meinem Erlanger Seminar zu Hause als Gast und ihm versprochen, zu seiner damals noch nicht getroffenen, aber von ihm als ausgesprochen schwierig angesehenen Entscheidung zu den Ingolstädter Nachbar-Fröschen einen Besprechungsaufsatz zu schreiben.26 Mit dem Wechsel vom normalen zum „verständigen Durchschnittsmenschen“ hat der V. Zivilsenat des BGH für sich und die Instanzgerichte in dieser Entscheidung einen Beurteilungsmaßstab kreiert, der dem jeweiligen Einzelfall Rechnung tragende sorgfältige Abwägungen ermöglicht und damit dem bei kollidierenden Grundrechten heranzuziehenden Grundsatz der praktischen Konkordanz27 entspricht.28 Dabei sind in die Abwägung z. B. auch einzubeziehen das Verständnis für den Naturschutz sowie den Bewegungs- und Äußerungsdrang von Kindern. Für die Beurteilung von Kinderlärm in einer benachbarten Mietwohnung hat der BGH beispielsweise – relativierend zu § 22 Abs. 1a BImSchG – in einer Einzelfallbetrachtung als Zumutbarkeitskriterien erwähnt: Art, Qualität, Dauer und Zeit der verursachten Geräuschimmissionen, Alter und Gesundheitszustandes des Kindes sowie Vermeidbarkeit durch objektiv gebotene erzieherische Einwirkungen oder durch zumutbare bzw. gegebenenfalls gebotene bauliche Maßnahmen.29 Der Beurteilungsmaßstab des „verständigen Durchschnittsmenschen“ bringt es mit sich, dass die Grenze der im Einzelfall zumutbaren Lärmbelästigung nicht mathematisch exakt, sondern nur auf Grund wertender Beurteilung festgesetzt werden

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Völlig zurecht hat deshalb der Jubilar als Gast des Sommerfestes des Autors und seiner Ehefrau am 21. Juli 2007 die wegen eines bei Starkregen umgestürzten Baumes von einem Feuerwehrhauptmann gestellte Frage, ob er eine Kettensäge dabei habe, verneint. 24 Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm) vom 26. August 1998 (GMBl Nr. 26/1998 S. 50). 25 BGH, NJW 1993, 925. 26 Vieweg, NJW 1993, 2570 ff. 27 Grundlegend Hesse, Grundfragen des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 349 ff. 28 Vieweg, NJW 1993, 2570 (2574 f.). 29 BGH, NJW-RR 2017, 1290 Rn. 14.

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kann.30 Wann Lärmimmissionen die Schwelle zur Wesentlichkeit überschreiten, unterliege – so der BGH – weitgehend tatrichterlicher Wertung. Dem Tatrichter sei auch die abschließende Festlegung der Zeiten, zu denen musiziert werden dürfe, vorbehalten. Die Richtwerte der TA Lärm und der VDI-Richtlinie 2058 könnten nur als Orientierungshilfe dienen und nicht schematisch auf das häusliche Musizieren übertragen werden.31 Beim häuslichen Musizieren seien die üblichen Ruhestunden in der Mittags- und Nachtzeit einzuhalten.32Als grober Richtwert für die nur im Einzelfall nach den Umständen zu beantwortende Frage der zulässigen Dauer des Musizierens könne eine Beschränkung auf zwei bis drei Stunden an Werktagen und ein bis zwei Stunden an Sonn- und Feiertagen, jeweils unter Einbeziehung der üblichen Ruhezeiten, dienen.33 Ob der finanziell überschaubare Aufwand für eine Geräuschemissionsdämpfung unmittelbar an der Quelle („Silent Brass“) zu einer anderen Beurteilung führen könnte, ist eine interessante Frage, auf die der BGH allerdings bisher nicht eingegangen ist. Mit der sich bei „vertikaler Nachbarschaft“ stellenden Problematik des Trittschalls hat sich der BGH in mehreren Entscheidungen befasst und sich dabei im Wesentlichen an den Vorgaben der DIN 4109 (Schallschutz im Hochbau) orientiert. Da deren Anforderungen sich im Laufe der Jahre erhöht haben, soll grundsätzlich der zur Zeit der Errichtung des Gebäudes maßgebliche Standard gelten.34 Auch für die Frage der Abgeschlossenheit i. S. v. § 3 Abs. 2 S. 1a. F. WEG (= § 3 Abs. 3 WEG) und § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 WEG stellte der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes35 auf den baurechtlich zulässigen Stand zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes ab. Wird hingegen der Bodenbelag ausgetauscht – Fliesen statt Teppichboden – und erhöht sich hierdurch der Trittschall erheblich um 13/14 dB(A), so sei es – so der BGH – zumutbar und gemäß § 14 Abs. 1a. F. WEG (= § 14 Abs. 2 Nr. 1 WEG) zu verlangen, den Normtrittschallpegel der DIN 4109 (Ausgabe 1989) durch geeignete Maßnahmen einzuhalten.36

2. Laub Die schlagworthaft mit „Laub“ bezeichneten Konflikte umfassen neben Blättern auch Nadeln, Blüten, Pollen, Zapfen und Unkrautsamen. Die Beeinträchtigungen werden insbes. im Reinigungsaufwand gesehen. Beim Pollenflug können gesundheitliche Probleme – allergische Reaktionen – hinzukommen. Unkraut-/Wildkrautsamen – z. B. vom Löwenzahn – bilden ein Risiko für einen gepflegten englischen 30

So wörtlich BGH, NJW 2019, 773 (774 Rn. 10 u. 13) (Trompetenspiel). BGH, NJW 2019, 773 (776 Rn. 24). 32 BGH, NJW 2019, 773 (776 Rn. 26). 33 BGH, NJW 2019, 773 (777 Rn. 32). 34 BGH, NJW 2005, 218 (219); BGH, NJW 2015, 1442 (1443). 35 GmS-OGB, NJW 1992, 3290. 36 BGH, NJW-RR 2020, 1086 ff. 31

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Nachbarrasen. Konkrete gesetzliche Regelungen fehlen. Die Einhaltung der in den Landesnachbargesetzen geregelten Mindestabstände für Anpflanzungen können derartige Beeinträchtigungen nicht ausschließen. Die Regelung des § 906 BGB ist damit die einzige Entscheidungsgrundlage in gerichtlichen Verfahren, in denen einhellig die mit „Laub“ zusammengefassten Imponderabilien als „ähnliche Einwirkungen“ eingeordnet werden. Im Ergebnis haben die Gerichte – unter Bezugnahme auf das Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen“37 – allerdings nur selten derartige Beeinträchtigungen als wesentlich beurteilt.38 So verlangt der BGH39 physische Auswirkungen wie eine Verstopfung der Dachrinne. Das OLG Stuttgart40 hat es als nicht wesentlich angesehen, wenn der Nachbar zwei- bis dreimal im Jahr die Dachrinne reinigen und im Herbst drei bis vier Säcke Laub zusammenfegen muss. Der durch Pollenflug bedingte zusätzliche Fensterputz ist nach einer Entscheidung des OLG Frankfurt41 ebenfalls nicht wesentlich. Angesichts dieser Rechtsprechungstendenz spielt es im Grunde keine Rolle, dass die Beweislast für die Unwesentlichkeit der Beeinträchtigung beim störenden Nachbarn liegt. Anschaulich hat bereits vor Jahrzehnten Prof. Dr. Harry Westermann in seiner legendären Sachenrechtsvorlesung die Rechtslage auf den Punkt gebracht: „Man kann seinen Nachbarn nicht zum Gärtner erziehen.“ Falls die landesrechtlichen Abstandsregeln nicht eingehalten sind und wegen des Ablaufs der dafür im Landesrecht vorgesehenen Ausschlussfrist ein Zurückschneiden nicht mehr verlangt werden kann, kann dem beeinträchtigten Nachbarn – so der BGH42 – allerdings dann ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 Satz 2 analog zustehen, wenn ein erhöhter Reinigungsaufwand infolge des Abfallens von Nadeln und Zapfen dieser Bäume anfällt. 3. Licht Die Abschottung von natürlichem Licht mit einer entsprechenden Verschattung wird zum einen durch die Regelungen der Landesbauordnungen zu den erforderlichen Abstandsflächen43 aufgegriffen. Zum andern dienen die in den landesnachbar37

BGHZ 157, 33 (43) =NJW 2004, 1037 (1040). Schäfer/Fink-Jamann/Peter, Nachbarrechtsgesetz Nordrhein-Westfalen, 17. Aufl. 2018, Vorbem. §§ 40 – 48 Rn 18. 39 BGH, NJW 2004, 1037. 40 OLG Stuttgart, NJW-RR 1988, 204. 41 OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1991, 1365. 42 BGHZ 157, 33 (43); BGH, ZfIR 2018, 190 Rn. 18; BGH, NJW 2020, 607 (610 Rn. 29 ff.). 43 In verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist zu entscheiden, ob die Vorschriften, deren Verletzung moniert wird, überhaupt nachbarschützend sind. Hinsichtlich § 34 BauGB, der für den unbeplanten Innenbereich verlangt, dass sich das beantragte Bauwerk in die vorhandene Bebauung einfügt, ist dies zweifelhaft. Nach VGH BW, Beschl. vom 20. 3. 2012 besteht nur ausnahmsweise dann eine drittschützende Wirkung, falls sich das Vorhaben aufgrund der in 38

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rechtlichen Regelungen festgelegten Mindestabstände für Gebäude44 und Anpflanzungen 45 – wenn auch nicht vorrangig – ebenso diesem Zweck. Hingegen ist § 906 BGB – als zentrale zivilrechtliche Nachbarrechtsnorm – nicht einschlägig, da negative Einwirkungen mangels Zuführung nicht erfasst werden.46 Auch das nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis kann nur in seltenen Ausnahmefällen eine Verpflichtung des Eigentümers begründen.47 Insbes. zwei Regelungskomplexe der Landesbauordnungen führen zu Verschattungsproblemen auf den Nachbargrundstücken. Zum einen sind Garagen bis zu einer Höhe von drei Metern und Außenmaßen von neun mal sechs Metern als Grenzbauten privilegiert.48 Zum andern kennen einige Landesbauordnungen noch ein sog. Schmalseitenprivileg, das die Hälfte der eigentlich erforderlichen Abstandsfläche an zwei Seiten des Grundstücks auf einer Länge von 16 Metern ausreichen lässt. Nach der Musterbauordnung ist dieses Privileg abgeschafft und dafür die Regelabstandsflächentiefe auf 0,4 der maßgeblichen Höhe reduziert.49 Die Grenzabstände der landesrechtlichen Regelungen sind nicht einheitlich. Sie stellen Kompromisslösungen dar, die in den Stadtstaaten anders als in den Flächenstaaten ausfallen. Allen Regelungen ist aber gemeinsam, dass sie Verschattungen des Nachbargrundstücks nicht vollständig verhindern. So kann z. B. eine Sommerlinde eine Höhe von bis zu 40 Metern erreichen und wirft damit schon bei einer Höhe von 20 Metern am 1. August um 16 Uhr Sommerzeit in München bei Sonnenschein einen Schatten von 30,75 Metern. Ist der Baum – entsprechend den gesetzlichen Vorgaben50 – z. B. 4 Meter von der Grenze gepflanzt und verläuft die Grundstücksgrenze rechtwinklig zum Sonnenstand, so ergibt sich eine Verschattung von 26,75 Metern. Wenn der Grenzabstand nicht eingehalten ist, hat der Nachbar einen Beseitigungsanspruch, der allerdings nach wenigen Jahren51 ausgeschlossen ist. Diese Fristen verstreichen häufig – sei es, weil das Problem der Verschattung noch nicht gegeben ist, sei es aus „guter Nachbarschaft“ oder als gewünschter Sonnenschutz.

§ 34 BauGB aufgeführten Merkmale als (subjektiv) rücksichtslos erweist. Z. B. §§ 1 ff. und 40 ff. Nachbarrechtsgesetz NRW. 44 Z. B. §§ 1 ff. NachbarrechtsG NRW. 45 Z. B. §§ 40 ff. NachbarrechtsG NRW. 46 Vieweg/Lorz, Sachenrecht, 9. Aufl. 2021, § 9 Rn. 36; Staudinger/Roth, 2020, § 906 Rn. 122 m. N. auch zur Gegenauffassung; eingehend zum Meinungsstand jurisPK-BGB/Vieweg/Regenfus, 9. Aufl. 2020, § 906 Rn. 36 ff. 47 BGH, NJW 2004, 1037 (1038). 48 Z. B. Art. 6 Abs. 6 BayBO. 49 Begründung zu § 5 Abs. 6 Musterbauordnung: „Die mit der Reduzierung der Regelabstandsfla¨ chentiefe einhergehende Abschaffung des Schmalseitenprivilegs schafft insofern Gerechtigkeit und vereinfacht die abstandsfla¨ chenrechtliche Beurteilung maßgeblich.“ 50 Z. B. § 41 Abs. 1 Nr. 1a) NachbarrechtsG NRW. 51 Z. B. § 47 Abs. 1 NachbarrechtsG NRW: 6 Jahre.

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Ein besonderes Problem stellt der Schattenwurf von Windkraftanlagen dar, da vor allem die entfernte Nachbarschaft betroffen ist. Neben dem durch den Rotor bedingten periodischen Helligkeitswechsel ist bei älteren Anlagen noch der sog. Disco-Effekt52 gegeben, bei dem es sich um Lichtreflexionen von Rotorblättern handelt. Die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz hält eine Beeinträchtigung von 30 Stunden/Jahr bzw. 30 Minuten/Tag für zumutbar.53 Licht kann auch unerwünscht aus der Nachbarschaft herüberstrahlen.54 Mit dieser Problematik hat sich der wissenschaftliche Dienst des Bundestags55 befasst und Folgendes zutreffend ausgeführt: „Rechtsverbindliche Vorschriften zur näheren Bestimmung der immissionsschutzrechtlichen Erheblichkeitsschwelle bei Lichtimmissionen fehlen bislang. Daher hat die Beurteilung, ob Lichtimmissionen zumutbar sind, im jeweiligen Einzelfall zu erfolgen. Dabei ist die durch die Gebietsart und die tatsächlichen Verhältnisse bestimmte Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Nachbarschaft zu berücksichtigen, wobei wertende Elemente wie Herkömmlichkeit, soziale Adäquanz und allgemeine Akzeptanz einzubeziehen sind. Alle Faktoren sind in eine wertende Gesamtbeurteilung im Sinne einer Güterabwägung einzustellen.56 Als sachverständige Entscheidungshilfe kann auf die Hinweise zur Messung, Beurteilung und Minderung von Lichtimmissionen der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI)57 zurückgegriffen werden. Die Hinweise geben Richtwerte an, bei deren Überschreitung es zu einer erheblichen Belästigung im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 oder des § 22 Abs. 1 BImSchG kommt. Dabei variieren die Richtwerte je nach Tageszeit und Gebietsart im Sinne der BauNVO.“

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Informativ Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz, Hinweise zur Ermittlung und Beurteilung der optischen Immissionen von Windenergieanlagen Aktualisierung 2019 (WEA-Schattenwurf-Hinweise), S. 2 u. 6.; abrufbar unter: https://www.laiimmissions schutz.de/documents/wka_schattenwurfhinweise_stand_23_1588595757.01. 53 Ebenda, S. 5. 54 Zum „Wiesbadener Lampenstreit“ Der Spiegel vom 19. 12. 2001, abrufbar unter: https:// www.spiegel.de/panorama/urteil-im-lampenstreit-licht-an-kostet-500-000-mark-a-173687.html und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 2. 2005, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktu ell/rhein-main/nachspiel-zum-wiesbadener-lampenstreit-1211660.html. Vgl. zu lokalen Regelungen z. B. für Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin https://www.berlin.de/ba-charlotten burg-wilmersdorf/verwaltung/aemter/umwelt-und-naturschutzamt/umweltschutz/lichtstrahlung/ licht_merkblattarchitekt_ueberarbeitet2020_barrierefrei. 55 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Lichtverschmutzung – Rechtliche Regelungen zur Beschra¨ nkung von Beleuchtung in Deutschland und ausgewa¨ hlten europa¨ ischen Staaten WD 7-3000-009/19, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/ 632966/7ba7c4cd1cfef87380d58376f1c2f165/WD-7-009-19-pdf-data.pdf. 56 OVG NRW, ZfBR 2008, 697 (699). 57 Hinweise zur Messung, Beurteilung und Minderung von Lichtimmissionen der Bund/ Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI), Beschluss vom 13. 09. 2012, abrufbar unter: https://www.lai-immissionsschutz.de/documents/lichthinweise-2015-11-03mit-for melkorrektur_aus_03_2018_1520588339.pdf.

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Danach ergibt der Immissionsrichtwert z. B. in allgemeinen Wohngebieten von 22 bis 6 Uhr eine mittlere Beleuchtungsstärke in der Fensterebene vor dem Fenster von Wohnungen von 1lx.58 4. Luft Die Gebäude betreffenden Abstandsregelungen der Landesbauordnungen und der landesrechtlichen nachbarrechtlichen Regelungen haben mittelbar auch den Effekt, das Risiko zumindest zu mindern, seinen Nachbarn „riechen zu müssen“. Für Gewerbebetriebe – Schweinemästereien, Shisha-Bars etc. – greifen die öffentlich-rechtlichen Immissionsschutzvorschriften des BImSchG und die ergänzenden Regelungen der TA Luft59 sowie der Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL)60. Die zivilrechtliche Rechtslage wird wiederum durch § 906 BGB bestimmt. Als Leitentscheidung kann das Urteil des BGH zum Tabakrauch auf benachbarten Balkonen61 angesehen werden, das sich auf vergleichbare Fallgestaltungen – Shisharauch, Grillen in der Nähe der Grundstücksgrenze – übertragen lässt. Danach muss nach dem Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen“ die Geruchslast wesentlich sein. Wegen der dann bestehenden Kollisionslage zweier grundrechtlich geschützter Besitzrechte sei das Maß des zulässigen Gebrauchs und der hinzunehmenden Beeinträchtigungen nach dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zu bestimmen. Im praktischen Ergebnis führe dies – so der BGH62 – zu einer Regelung nach Zeitabschnitten. 5. Wasser Einige Landesnachbarrechtsgesetze enthalten Regelungen, die verbieten, dass Niederschlagswasser63 und Abwässer64 auf das Nachbargrundstück übertreten. § 906 BGB greift hingegen im Regelfall nicht ein, weil das bloße Eindringen von Wasser keine Zuführung von Immissionen ist. Eine andere Beurteilung ergibt sich nur dann, wenn fließendes Wasser als „Transportmittel“ für Schadstoffe wie Un-

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Ebenda, Ziff. 4. Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes–Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft – TA Luft) vom 24. Juli 2002 (BGBl. I S. 880), geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1950). Die Neufassung ist in Arbeit. Dazu Spannowski, ZfBR 2018, 25. 60 Siehe oben Fn. 9. 61 BGH, NJW 2015, 2023 (2024 Rn. 10 ff.). 62 BGH, NJW 2015, 2023 (2025 Rn. 18 und 2026 Rn. 29). 63 Z. B. § 27 Abs. 1 NachbarrechtsG NRW. 64 Z. B. § 29 NachbarrechtsG NRW. 59

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krautvernichtungsmittel fungiert.65 Die Entziehung von Grundwasser ist ebenfalls nicht von § 906 BGB erfasst.66 6. Wurzeln Baumwurzeln können auf dem Nachbargrundstück in Abwasserleitungen eindringen, Bodenplatten heben67 und Fundamente beispielsweise von Grenzgaragen beeinträchtigen. § 910 Abs. 1 S. 1 BGB sieht ein Selbsthilferecht des Nachbarn vor, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Wurzeln die Benutzung seines Grundstücks beeinträchtigen. Der Beseitigungsanspruch aus § 1004 BGB und damit der Anspruch auf Ersatz der Beseitigungskosten ist damit nicht ausgeschlossen.68 7. Strahlung Mobilfunksendeanlagen, Trafostationen und W-LAN-Strahlung können – bisweilen sehr emotionale – Nachbarkonflikte begründen. In der Nachbarschaft von Transformatorstationen treten niederfrequente Magnetfelder auf, die mit steigender Stromstärke zunehmen. Unter dem Aspekt des Strahlenschutzes und der Elektromagnetischen Verträglichkeit sind insbes. die Grenzwerte der 26. BImSchV69 und die Risikoeinschätzung des Bundesamts für Strahlenschutz (BFS)70 zu berücksichtigen.

III. Anregungen für die notarielle (Beratungs-)Praxis Aus notarieller Sicht kann sich Beratungsbedarf zur Vermeidung oder Verminderung von Nachbarkonflikten insbes. bei folgenden Konstellationen ergeben: - Teilung eines Grundstücks zum Zweck der Bebauung, - Veräußerung eines dem Grundstückseigentümer gehörenden Nachbargrundstücks71, 65

BGHZ 90, 255 (259). Staudinger/Roth, 2020, § 906 Rn. 124. 67 BGH, NJW 2004, 603 (605). 68 BGH, NJW 2004, 603 f. 69 Verordnung über elektromagnetische Felder vom 16. 12. 1996, neugefasst durch Bek. vom 14. 8. 2013 (BGBl I 3266). 70 Bundesamt für Strahlenschutz, Elektromagnetische Felder, abrufbar unter: https://www. bfs.de/DE/themen/emf/emf_node.html. 71 Ausnahmsweise kann der Grundstückseigentümer auch für sich selbst eine Dienstbarkeit an seinem Grundstück bestellen, wenn er z. B. einen Teil des Grundstücks demnächst veräußern will; Vieweg/Lorz, Sachenrecht, 9. Aufl. 2021, § 16 Rn. 20 m. w. N. 66

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- Begründung von Wohnungseigentum durch Teilung gem. §§ 2 f., 8 WEG, - wechselseitige Regelung der Rechte und Pflichten von benachbarten Grundstückseigentümern. Bevor mit Blick auf die Dienstbarkeiten konkrete Lösungsvorschläge unterbreitet werden können (dazu 2.), sind einige Vorüberlegungen erforderlich (dazu 1.). 1. Vorüberlegungen Im Rahmen der Vorüberlegungen kommt einer prognostischen Problemanalyse zentrale Bedeutung zu. Neben der Lebens- und Berufserfahrung sowie der Berücksichtigung der komplexen Rechtslage können im Beratungsgespräch wichtige Informationen gewonnen werden: - Geht es um eine Regelung unter den aktuellen Nachbarn oder soll eine Dauerlösung für benachbarte Grundstücke gefunden werden? - Wie können und sollen die Grundstücke genutzt werden? - Welche Rolle spielen persönliche Einschätzungen, Empfindlichkeiten und Bedürfnisse? – Sind diese mit dem Maßstab eines „verständigen Durchschnittsmenschen“ in Einklang zu bringen? - Welche Lage haben die Grundstücke zueinander? – Ergibt sich aus der Himmelsrichtung ein Verschattungsproblem? Können Niveauunterschiede zu Wasserzuoder -abfluss führen? - Wie werden die Grundstücke durch Vorgaben des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts geprägt? Muss mit Änderungen gerechnet werden? - Welche Infrastruktur kennzeichnet die Gegend? Das Ergebnis dieser prognostischen Problemanalyse ist danach mit den komplexen Regelungen des öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Nachbarrechts sowie mit der einschlägigen Judikatur zu vergleichen, um etwaige Lücken und Defizite und damit den Regelungsbedarf zu ermitteln. 2. Lösungsüberlegungen a) Art der Regelung Über das „Ob“ einer Regelung – den Regelungsbedarf – nachzudenken, ist allemal lohnenswert. Nur zu oft haben Nachbarkonflikte darin ihre Ursache, dass man sich nicht rechtzeitig die nötigen Gedanken gemacht hat oder die Hoffnung hatte, es werde schon irgendwie gut gehen. Der Vergleich der prognostischen Problemlage mit der Rechtslage ist der erste wichtige Schritt. Wird ein relevantes Konfliktpotential prognostiziert, dem nicht bereits durch die nachbarrechtlichen Vorgaben zufrie-

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denstellend Rechnung getragen wird, besteht Regelungsbedarf. Diesem kann entsprochen werden durch - das persönliche Gespräch der Nachbarn, insbes. nach notarieller oder anwaltlicher Beratung, - den rechtsverbindlichen rechtzeitigen Widerspruch z. B. gegen Bepflanzungen, die die gesetzlichen Mindestabstände nicht einhalten, - vertragliche Regelungen, - eine beschränkt persönliche Dienstbarkeit, - eine Grunddienstbarkeit. Geht es um eine Regelung unter den gegenwärtigen Nachbarn, kommt neben dem persönlichen Gespräch und einer vertraglichen Regelung die Vereinbarung und Eintragung einer beschränkt persönlichen Dienstbarkeit i. S. v. §§ 1090 ff. BGB in Betracht. Soll eine langfristig-dauerhafte Lösung gefunden werden, ist die Bestellung einer Grunddienstbarkeit i. S. v. §§ 1018 ff. BGB das Mittel der Wahl. b) Dienstbarkeiten Beschränkt persönliche Dienstbarkeiten und Grunddienstbarkeiten, die bestimmte störende Verhaltensweisen erlauben (§ 1018 Var. 1 BGB) oder verbieten (§ 1018 Var. 2 BGB) oder Abwehrrechte ausschließen (§ 1018 Var. 3 BGB) sind in der notariellen Praxis häufig das Mittel, um Nachbarsituationen konfliktreduzierend zu regeln. In einem verbreiteten Praktikerhandbuch werden beispielhaft unter anderem aufgeführt: Bebauungsverbot (-beschränkung), Fensterrecht, Gaststättenbetriebsverbot, Gewerbebetriebsbeschränkung, Transformatorenrecht, Wasserentnahmerecht, Zaunerrichtungsverbot.72 In das Grundbuch muss – schlagwortartig – die Dienstbarkeit mit ihrem Wesenskern eingetragen werden. Inhaltliche Präzisierungen können durch Bezugnahme auf die Eintragungsbewilligung erfolgen.73 Greift man die oben identifizierten Konfliktkonstellationen auf, so lassen sich mit Blick auf Dienstbarkeiten differenzierte Vorschläge entwickeln. Dabei sind die drei gesetzlich vorgesehenen Typen – Benutzungsdienstbarkeit, Unterlassungsdienstbarkeit, Ausschluss eines Eigentümerrechts – zu beachten. aa) Lärm Der rechtliche Rahmen für den Lärmschutz ist vielfältig und recht komplex.74 Öffentlich-rechtlich sind insbes. die bauplanungsrechtliche Gebietseinordnung, bauordnungsrechtlich die Schallschutzvorgaben, die Regelungen in einigen Ausfüh72

Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 16. Aufl. 2020, Rn. 1145. Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 16. Aufl. 2020, Rn. 1145 f. 74 Siehe oben II. 1.

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rungsverordnungen zum Bundesimmissionsschutzgesetz, die Hinweise des Länderausschusses für Immissionsschutz und die Technische Anleitung Lärm wichtige Orientierungen. Zivilrechtlich sind vorrangig § 906 BGB und die anhand des Maßstabs des „verständigen Durchschnittsmenschen“ erfolgten Konkretisierungen der Rechtsprechung wesentlich.75 Ungeachtet dessen kann sich ein Regelungsbedarf schon deshalb ergeben, weil die Menschen unterschiedlich lärmempfindlich sind und abweichende Vorstellungen davon haben, ob Geräusche wesentlich oder unwesentlich sind. Dienstbarkeiten können insofern klare Verhältnisse schaffen, indem sie durch Nutzungsverbote und -beschränkungen, aber auch durch Duldungspflichten die rechtlichen Rahmenbedingen konkretisieren oder modifizieren. Beispielhaft seien aufgeführt: - das Verbot bestimmter Nutzungen bzw. die Pflicht zu deren Duldung (generell oder zu bestimmtem Tageszeiten) wie z. B. Außengastronomie76, Musizieren, Tennisspiel, Gartenpool-Nutzung, - das Verbot der Nutzung bzw. die Plicht zur Duldung der Nutzung von Geräten, deren Lärm bestimmte Immissionswerte überschreiten (z. B. Luftwärmepumpen und Laubsauger/-bläser) mit Präzisierung u. a. des Messverfahrens und der Messpunkte sowie mit Bezugnahme auf die einschlägigen Technischen Normen in der Eintragungsbewilligung, - das Verbot, Fenster während bestimmter Nutzungen (Musizieren, Gesang, Innengastronomie) zu öffnen,77 - das Verbot, Balkone zu bestimmten Tageszeiten an Sonn- und Feiertagen zu nutzen, damit die Bewohner nicht gegen störende, die Richtwerte überschreitende Geräusche aus einem benachtbarten Fußballstadion vorgehen können.78

bb) Laub Die Laubproblematik79 lässt sich in Dienstbarkeiten nicht durch Handlungspflichten80 lösen. Damit scheiden Inhalte aus wie „den Garten des dienenden (Nachbar-) 75 Die Spezialregelung des 23a NachbarrechtsG NRW (Wärmedämmung) legitimiert keine Überbauung zu Zwecken der Lärmdämmung; so Schäfer/Fink-Jamann/Peter, Nachbarrechtsgesetz Nordrhein-Westfalen, 17. Aufl. 2018, § 23a Rn 7. 76 Zur Problematik der Biergärten Vieweg/Röthel, DVBl. 1996, 1171 (1175 f.). 77 Die an technische Lüftungsanlagen und Verhaltensvorgaben z. B. gem. DIN-Lüftungskonzept im Hinblick auf die Frischluftzufuhr und die Aerosolbeseitigung zu stellenden Anforderungen sollten dabei Berücksichtigung finden. Zum DIN-Lüftungskonzept Vieweg, „Sachverständigen-Recht“ am Beispiel des technischen Sicherheitsrechts, in: Bumke/Röthel (Hrsg.), Privates Recht, 2012, S. 69 (73 ff.). 78 Stuke, Balkonverbot im Gesundheitszentrum, Mindener Tageblatt 20. 4. 2021, S. 12. 79 Siehe oben II. 2.

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Grundstücks in gepflegtem Zustand zu halten und Laub, Nadeln etc. umgehend zu beseitigen, sodass sie nicht auf das herrschende Grundstück gelangen können“. Möglich ist aber die Formulierung einer Bepflanzungsbeschränkung, die einen größeren Grenzabstand als das einschlägige landesrechtliche Nachbarschaftsgesetz und/oder eine Höhenbegrenzung der Bäume vorsieht. Möglich ist ebenfalls z. B. eine Formulierung, „die verbietet, dass Rasen, Gras und darin befindliche Pflanzen eine bestimmte Höhe überschreiten“. Damit dürfte insbes. der Samenflug von Löwenzahn verhindert werden können. cc) Licht Bei der nachbarlichen Lichtproblematik sind die Zuführung und die Abschottung voneinander zu unterscheiden. Die Zuführungsproblematik, die z. B. durch eine Flutlichtanlage, einen Bewegungsmelder oder eine Außenbeleuchtung zu besorgen ist, kann durch eine Dienstbarkeit gelöst werden, die ein Belichtungsverbot durch künstliche Lichtquellen enthält, die an bestimmten Orten (z. B. Schlafzimmer) eine Erhöhung der Helligkeit um einen bestimmten Lux-Wert bewirken. Umgekehrt kann durch die Pflicht zur Duldung z. B. des Betriebs einer Flutlichtanlage auf einem benachbarten Sportplatz zu zuvor abgestimmten Zeiten Rechtssicherheit erreicht werden. Bei der Abschottungs- oder Verschattungsproblematik bieten – wie bereits gezeigt81 – bau- und nachbarrechtliche Regelungen keine hinreichende Gewähr für eine konfliktfreie Nachbarschaft. Für statische Baukörper ist die Prognose recht einfach, mit welcher Schattenlänge zu welcher Zeit (Tag, Uhrzeit) zu rechnen sein wird. In der Dienstbarkeit kann z. B. generell eine Bebauung mit einer baurechtlich eigentlich zulässigen Grenzgarage verboten werden. Möglich ist auch die Untersagung, „ein Gebäude innerhalb eines Abstandes von … Metern und in einer Höhe von über … Metern auf dem Grundstück zu errichten.“ Schwieriger ist die prognostische Beurteilung, wenn es um Bäume geht. Insofern sind langjährige Entwicklungen zu berücksichtigen, die deutlich über die zeitliche Dimension der Bestandsschutzregelungen der landesnachbarrechtlichen Regelungen hinausgehen. Bei Fristablauf bestehen nämlich keine Abwehrmöglichkeiten mehr, selbst wenn die gesetzlich vorgegebenen Abstandsflächen nicht eingehhalten worden sind. Als Lösung kommt hier zum einen eine Bepflanzungsbeschränkung in Betracht, das den Mindestgrenzabstand und die maximale Baumhöhe vorgibt. Zweckmäßig ist – mit Blick auf die erstrebte Langfristigkeit – zum anderen eine Lösung, die die landesgesetzliche Widerspruchsfrist verlängert. Zum dritten schließlich kann überlegt werden, an die zu verhindernde Beeinträchtigung und die Schattenlänge anzuknüpfen. Soll beispielsweise die sommerliche Terrassennutzung nicht durch 80 Vieweg/Lorz, Sachenrecht, 9. Aufl. 2021, § 16 Rn. 29 m. w. N.; Regenfus, ZNotP 2017, 126 ff. 81 Siehe oben II. 3.

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Verschattung gestört werden, lassen sich Abstands- und Höhenangaben in einer Vorgabe zusammenfassen. Der Inhalt der Dienstbarkeit kann z. B. lauten: „… auf dem dienenden Grundstück es zu unterlassen, Anpflanzungen vorzunehmen und zu erhalten, die am … (bestimmter Tag) um … Uhr (bestimmte Uhrzeit gem. MEZ-Sommerzeit) einen Schatten von mehr als … Metern auf das herrschende Nachbargrundstück werfen. An der Grenze ergibt sich daraus eine maximale Höhe von … Metern.“

Die aus Schulzeiten bekannten Berechnungsmethoden sind mittlerweile durch einfache Eingaben im Internet ersetzbar.

Grafik zur Veranschaulichung h = Höhe des Objektes, welches den Schatten wirft a = Höhe des Sonnenstandes über einem flachen Horizont l = Länge des Schattens h und l haben die gleiche Einheit, beispielsweise Meter. l = h * sin (908 – a) / sin (a) Quelle: https://rechneronline.de/sehwinkel/schattenlaenge.php

So ergibt sich etwa für München (Ortskoordinaten: 48.138, 11.576) am 9. Juli um 16 Uhr bei einem 10 m hohen Baum, einer Höhe der Sonne von 36.058 und einer Richtung des Schattens von O, 83.648 eine Schattenlänge von 13,74 m.82 Der schlagwortartige Inhalt der Dienstbarkeit kann lauten: Bepflanzungsbeschränkung. In der Eintragungsbewilligung sollte der präzise Inhalt wiedergegeben werden. Eine zeichnerische Darstellung und/oder der Verweis auf eine einschlägige Internetseite kann klarstellend im notariellen Vertrag erfolgen.

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https://rechneronline.de/sehwinkel/schattenlaenge.php.

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dd) Luft Auch bezüglich potentieller Luftbeeinträchtigungen kann der vorhandene rechtliche Rahmen83 Konflikte nicht vermeiden. Nutzungsverbote und -beschränkungen bzw. können insofern zweckmäßige inhaltliche Regelungen in Dienstbarkeiten sein. Besteht die erwartete Beeinträchtigung z. B. in der Errichtung einer Schweinemästerei in der Nachbarschaft kommt – gegebenenfalls mit Bezug auf bestimmte technische Vorkehrungen wie Filter – ein entsprechendes Verbot (Nutzungsbeschränkung) in Betracht. Bei benachbarten Shisha-Bars kann ergänzend zu ordnungsrechtlichen Verfügungen, die Fenster geschlossen zu halten und den schädlichen Rauch durch den Schornstein abzuleiten, eine Dienstbarkeit mit dem Inhalt sinnvoll sein, es zu unterlassen, die Fenster während der Betriebszeiten offen zu halten. ee) Wasser Insbes. bei benachbarten Grundstücken in Hanglage kann das abfließende Niederschlagswasser zu einem Problem für das tiefer liegende Grundstück werden und dort zu Schäden führen. Aber auch bei geringen Niveauunterschieden benachbarter Grundstücke kann – z. B. bei Starkregen – abfließendes Niederschlagswasser Probleme bereiten. Da es sich dabei nicht um die Zuführung von Immissionen i. S. v. § 906 BGB handelt84 und ein Anspruch aus § 1004 BGB eine Beeinträchtigung durch menschliches Verhalten voraussetzt,85 kann das Problem mit einer Dienstbarkeit angegangen werden, die verbietet, das Niederschlagswasser vom Grundstück abfließen zu lassen. ff) Wurzeln § 910 Abs. 1 S. 1 BGB löst das verbreitete Problem nicht, dass Baumwurzeln Grenzgaragen, Plattenwege und Rohrleitungen beeinträchtigen können. Vorhersehbaren Beweisproblemen kann mit einer Dienstbarkeit begegnet werden, die die Beweislast der Nichtverursachung auf den Eigentümer des dienenden Grundstücks überträgt. Im Gegenzug könnte dieser von einer Dienstbarkeit profitieren, dass sein Nachbar einen innerhalb der gesetzlichen Mindestabstands gepflanzten Baum dulden muss.

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Siehe oben II. 4. Anders, wenn das Niederschlagswasser als Transportmittel für Schadstoffe wie Unkrautvernichtungsmittel wirkt; vgl. BGHZ 90, 255 (259). 85 Von BGHZ 114, 183 (187) für wild abfließendes Regenwasser verneint. Auch § 29 NachbarrechtsG NRW ist nicht einschlägig, da die Vorschrift Abwässer und nicht abfließendes Wasser betrifft; Schäfer/Fink-Jamann/Peter, Nachbarrechtsgesetz Nordrhein-Westfalen, 17. Aufl. 2018, § 29 Rn. 4 mit Verweis auf § 37 WHG. 84

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gg) Strahlung In der Verordnung über elektromagnetische Felder (26. BImSchV)86 sind Grenzwerte zum Schutz der Bevölkerung vor gesundheitlichen Gefahren durch elektrische und magnetische Felder von Gleichstrom- und Niederfrequenzanlagen festgelegt. Diese Grenzwerte dürfen bei Niederfrequenzanlagen an Orten, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt sind, bei höchster betrieblicher Anlagenauslastung nicht überschritten werden. Für Gleichstromanlagen gilt die gleiche Anforderung für Orte, die zum dauerhaften beziehungsweise vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt sind. Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand ist gem. der Information des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) bei Einhaltung dieser Grenzwerte der 26. BImSchV der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung auch bei Dauereinwirkung gewährleistet.87 Mit einer Dienstbarkeit, die diese Grenzwerte weiter verschärft, kann möglicherweise erreicht werden, dass die Errichtung der betreffenden technischen Anlagen akzeptiert wird.

V. Zusammenfassung Nachbarschaftskonflikte sind verbreitet. Überwiegend lassen sie sich sieben Fallgruppen zuordnen: Lärm, Laub, Licht, Luft, Wasser, Wurzeln, Strahlung. Nicht zuletzt aufgrund der komplexen öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Gesetzeslage, die Lücken aufweist und insbes. wegen der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf konkretisierende Entscheidungen der Rechtsprechung angewiesen ist, besteht entsprechender Beratungsbedarf. Wenn es darum geht, derartige Nachbarschaftskonflikte zu vermeiden oder zumindest zu entschärfen, empfiehlt sich zunächst eine konkrete Konfliktanalyse bzw. -prognose, die dann mit dem Schutz, den die Rechtslage bietet, zu vergleichen ist. Ein Mittel der Konfliktvermeidung bzw. -verminderung sind beschränkt persönliche Dienstbarkeiten und Grunddienstbarkeiten. Hierzu unterbereitet der Beitrag einige Vorschläge.

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Verordnung über elektromagnetische Felder i. d. F. der Bekanntmachung vom 14. August 2013 (BGBl. I S. 3266). 87 BfS, Grenzwerte für statische und niederfrequente Felder, abrufbar unter: https://www. bfs.de/DE/themen/emf/nff/schutz/grenzwerte/grenzwerte_node.html.

Teilung eines bebauten Grundstücks – worüber ist zu belehren? Von Volkert Vorwerk Die Belehrungspflichten des Notars bei der Teilung bebauter Grundstücke haben in der Literatur und Rechtsprechung bisher keine Beachtung gefunden.1 In den Notar-Handbüchern wird nicht einmal der Verkauf grenzbebauter Teilflächen behandelt. Grund mag dafür sein, dass in der Regel vermieden wird, bei der Teilung eines Grundstücks die neue Grenze „quer durch die Bebauung zu ziehen“. Die erst jüngst veröffentlichte Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 22. 01. 20212 zeigt allerdings, mit welchen Komplikationen zu rechnen ist, wenn der Notar im Rahmen der ihm angetragenen Beurkundung einer Grundstücksteilung die Örtlichkeiten im Bereich der Grenzbebauung nicht hinreichend ermittelt und, wie in der am 22. 01. 2021 entschiedenen Sache, nach einem Brand Streit unter den Eigentümern ausbricht, wer für die Ertüchtigung der Grenzwand zuständig ist.

I. Der zu entscheidende Sachverhalt Die Parteien des Rechtsstreits sind Grundstücksnachbarn. Der Kläger und eine Frau S. waren Eigentümer eines rd. 5.500 m2 großen Grundstücks. Zum Zwecke der Realteilung des Grundstücks entsprechend dem Wert ihrer Miteigentumsanteile hatten sie die Vermessung der Grundstücksteile veranlasst und die Abschreibungsunterlagen des zuständigen Katasteramts im Rahmen der Beurkundung der Grundstücksteilung beigebracht. Zur Beurkundung waren ferner die Beklagten, nämlich die Erwerber des Grundstücksteils, erschienen, der im Rahmen der Teilung Frau S. zu Alleineigentum übertragen werden sollte. Der Kläger erhielt im Rahmen der Teilung den südlichen Teil des Grundstücks zu Alleineigentum; Frau S. den nördlichen Teil; sie veräußerte im Rahmen der Beurkundung ihren Teil jedoch sogleich an die Beklagten des am 22. 01. 2021 durch den Bundesgerichtshof entschiedenen Rechtsstreits. Bebaut war das ungeteilte Grundstück mit einem Wohngebäude und einer Scheune; ob neben der Scheune noch Platz für eine weitere Bebauung war, ist offengeblieben, war für den Rechtsstreit allerdings auch nicht von Bedeutung. 1

Vgl. die Ergebnisse bei juris, wenn die Begriffe „Notar, Belehrungspflicht, Grundstücksteilung, bebaut“, „Notar, Belehrungspflicht, Grenzwand/Grenzmauer“, „Notar, Gebäudeteilung“, „Notar, Belehrungspflicht, Nachbarwand“ eingegeben werden. 2 BGH, NJW-RR 2021, 401.

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Zum Verlauf der Grenze zwischen dem nördlichen und südlichen Teil des ursprünglichen Grundstücks formulierte der beurkundende Notar im Rahmen der Teilung des Grundstücks wörtlich: „Die Grenze verläuft zwischen dem Wohnhaus und der Scheune entlang der Außenmauer des Scheunengebäudes“. Weitere Vereinbarungen in der notariellen Urkunde legen nahe, dass die Beklagten beabsichtigten, die Scheune zu späterem Zeitpunkt zu Wohnzwecken umzubauen. Die Beurkundung fand im Jahre 2000 statt; die Umschreibung des Eigentums erfolgte im Anschluss daran. Im Jahre 2011 kam es zu einem Brand auf dem Grundstück der Beklagten. Durch den Brand wurde das Scheunengebäude, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Wohnzwecken umgebaut war, beschädigt. Die im Verfahren vorgelegten Bauzeichnungen, die die Scheune zeigten, wiesen jedoch hin zum auf dem südlichen Teil des ursprünglichen Grundstücks stehenden Wohngebäude des Klägers abgeteilte Räume und eine Treppe aus. Aus welchen Gründen auch immer haben die Beklagten über Jahre die durch den Brand stark beschädigte Scheune im Bereich der Scheunenwand, an der die neue Grenze zwischen südlichem und nördlichem Teil des ursprünglichen Grundstücks verläuft, nicht hinreichend gegen die Witterung geschützt; der Kläger beanstandet mit der von ihm erhobenen Klage den Nässe- und Kälteschutz. Mit der Klage hat er, soweit hier von Bedeutung, die Verurteilung der Beklagten begehrt, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um das Gebäude des Klägers auf dem Grundstück der Beklagten im Bereich der Gebäudetrennwand ausreichend gegen Witterung zu schützen, gegen Wärmeverlust zu dämmen und Feuchtigkeitsimmissionen abzuwehren.

II. Entscheidung des Berufungsgerichts Das Berufungsgericht hat dem Klagantrag, soweit er oben sinngemäß wiedergegeben ist, entsprochen.3 Der Kläger habe gegen die Beklagten einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB i. V. m. § 922 Satz 3 BGB darauf, die Funktionsfähigkeit der Gebäudetrennwand zu erhalten. Es handele sich um eine im gemeinsamen Eigentum der Parteien stehende Nachbarwand; das Grundstück sei so geteilt worden, dass die Grundstücksgrenze mittig durch die Wand verlaufe. Maßgeblich sei insoweit die dingliche Einigung der Miteigentümer bei der Grundstücksteilung. Der notariellen Vereinbarung sei zu entnehmen, dass sich die Auflassung ausdrücklich auf die Flurkarte bezogen habe, die den Grenzverlauf gemäß der zuvor erfolgten katastermäßigen Vermessung wiedergebe. Hiernach verlaufe die Grenze mittig durch die die Gebäude trennende Wand. Die Trennwand sei nach der teilweisen Zerstörung der Scheune infolge des Brandes nicht mehr ausreichend gegen Feuchtigkeit und Witterungseinflüsse geschützt. Es sei kein geschlossenes Gebäude mehr vorhanden, son3 Die nachfolgende Wiedergabe der Entscheidung des Berufungsgerichts entspricht der vom Bundesgerichtshof gewählten Formulierung.

Teilung eines bebauten Grundstücks – worüber ist zu belehren?

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dern lediglich eine mit einem Dach versehene Ruine. Dadurch könne Wasser in den Zwischenraum zwischen den beiden Schalen des Mauerwerks im Obergeschoss eindringen. Die durch die beidseitig anschließenden Gebäude als Innenwand konzipierte Gebäudetrennwand sei nach dem Brand den Umgebungstemperaturen einer Außenwand ebenfalls ausgesetzt. Daher seien die Beklagten verpflichtet, den bisherigen Schutz dieser Wand gegen Witterungseinflüsse so wiederherzustellen, dass der Kläger die Gebäudetrennwand als Hausabschlusswand nutzen könne.

III. Entscheidung des Bundesgerichtshofes 1. Der Bundesgerichtshof billigt, soweit hier von Bedeutung, die Erwägungen des Berufungsgerichts. Der Kläger habe gegen die Beklagten einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 analog i. V. m. § 922 Satz 3 BGB auf Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Gebäudetrennwand zwischen dem Wohnhaus (auf dem Grundstück des Klägers) und der ehemaligen Scheune (auf dem Grundstück der Beklagten). Bei der Giebelmauer, also dem Teil der Wand, an der beide Gebäude aufeinanderstoßen, handle es sich um eine Nachbarwand und damit um eine gemeinschaftliche Grenzeinrichtung im Sinne von § 921 BGB, benannt auch als Nachbarwand, halbscheidige Giebelmauer oder auch Kommunmauer. An der Wand sei von beiden Seiten angebaut; die Wand sei bestimmt, von jedem der beiden Nachbarn in Richtung seines Grundstücks benutzt zu werden.4 Das Rechtsverhältnis der Nachbarn werde durch §§ 921, 922 BGB sowie durch landesrechtliche Vorschriften besonders geregelt.5 2. Die Regelung im notariellen Vertrag über die Grundstücksteilung stehe dem nicht entgegen. Der Grenzverlauf ergebe sich aus der im Verfahren vorgelegten Liegenschaftskarte (§ 2 Abs. 2 GBO); die Vermutung der Richtigkeit des Grundbuchs gemäß § 891 Abs. 1 BGB erstrecke sich auf die Liegenschaftskarte.6 Dort sei die Grenze mittig durch die Giebelmauer gezogen. Der Bundesgerichtshof führt alsdann nach Grundsätzen des Revisionsrechts7 aus,8 die Auslegung des Berufungsgerichts, die Formulierung in der Teilungsvereinbarung, die Grund4

BGH, NJW-RR 2021, 401 (403, Rn. 15); vgl. auch BGH, NJW-RR 2014, 973 (974); BGH, BeckRS 2012, 18858 (Rn. 7); BGH, NJW-RR 2011, 515 (516). 5 BGH, NJW-RR 2021, 401 (403, Rn. 15); vgl. auch BGH, BeckRS 2012, 18858 (Rn. 7); BGH, NJW-RR 2011, 515 (516). 6 BGH, NJW-RR 2021, 401 (403, Rn. 18); vgl. auch BGH, NJW-RR 2017, 1162 (1164); BGHZ 208, 29 (33); BGHZ 199, 31 (35). 7 Die Vertragsauslegung ist vornehmlich Sache des Tatrichters und kann von dem Revisionsgericht nur darauf geprüft werden, ob der Tatrichter die gesetzlichen und allgemein anerkannten Auslegungsregeln, die Denkgesetze und Erfahrungssätze beachtet und die der Auslegung zu Grunde gelegten Tatsachen ohne Verfahrensfehler ermittelt hat, BGH, WM 2016, 361 (363); BGH, WM 2014, 481 (482); BGH, NJW-RR 2012, 218 (219). 8 BGH, NJW-RR 2021, 401 (403, Rn. 19).

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stücksgrenze verlaufe „zwischen dem Wohnhaus und der Scheune entlang der Scheunenmauer“, zwinge nicht zur Annahme, die Grenze habe einen anderen, von der Flurkarte abweichenden Verlauf nehmen sollen; entsprechend sei das Eigentum auch nicht abweichend aufgelassen. Die Angabe „entlang“ der Mauer erfasse auch einen Grenzverlauf in der Mitte der Mauer. Die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Errichtung der Mauer, die grundsätzlich für die rechtliche Beurteilung von Bedeutung seien,9 seien hier nicht maßgebend, weil das Grundstück im Zeitpunkt der Errichtung der Mauer noch nicht geteilt gewesen sei; die Mauer hatte daher auch nicht den Zweck einer Grenzeinrichtung. Auf das Rechtsverhältnis an der Mauer seien, wie vom Berufungsgericht zutreffend gesehen, die Vorschriften der §§ 921, 922 BGB anzuwenden. Werde ein Grundstück so geteilt, dass eine Giebelmauer, an die von beiden Seiten angebaut sei, auf der Grenze stehe, werde die Giebelmauer im Zweifel eine gemeinschaftliche Grenzeinrichtung im Sinne von § 921 BGB. Die teilenden Miteigentümer hätten in dieser Situation, sofern sie nichts anderes vereinbaren, die Vorstellung, dass die Mauer künftig dazu bestimmt sei, von jedem der beiden Nachbarn in Richtung auf sein eigenes Grundstück benutzt zu werden. Das rechtfertige, die Vorschriften über die gemeinschaftliche Grenzeinrichtung anzuwenden. 3. Im Anschluss daran erläutert der Bundesgerichtshof, dass die Beklagten aufgrund der teilweisen Zerstörung der Scheune durch den Brand dem Kläger zur Wiederherstellung der Funktionstüchtigkeit der Nachbarwand verpflichtet seien.10

IV. Bedeutung der Entscheidung für die notarielle Praxis 1. Im Zeitpunkt der Aufnahme des Grenzprotokolls, das in die Liegenschaftskarte einfließt, haben die Beteiligten in der Regel keine Kenntnis von der Bedeutung des Grenzprotokolls für ihre künftigen Rechtsbeziehungen im Hinblick auf die Giebelmauer, die durch die neue Grenzziehung zur Nachbarwand wird. Dem Notar, der die Grundstücksteilung beurkundet hat, liegt das Grenzprotokoll selbst in der Regel nicht vor, das in die Liegenschaftskarte eingeflossen ist. Grundlage der Beurkundung ist in der Regel die Abschreibungsunterlage des Katasteramtes, die wesentlich ungenauer als das Grenzprotokoll den Grenzverlauf wiedergibt. Darauf beruhte in der vom Bundesgerichtshof entschiedenen Sache offenbar auch die ungenaue Formulierung über den Grenzverlauf in der notariellen Urkunde. Im Falle der Grundstücksteilung hat der Notar im Rahmen der Ermittlung des Willens der Beteiligten11 folglich die Aufgabe, zu erfragen, ob Gebäude im Be9

BGH, NJW-RR 2021, 401 (403, Rn. 21). NJW-RR 2021, 401 (403, 404, Rn. 23 bis 30. 11 § 17 BeurkG; vgl. weiter Winkler, BeurkG, 19. Aufl., 2017, § 17, Rn. 206 ff. 10

Teilung eines bebauten Grundstücks – worüber ist zu belehren?

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reich der neu zu ziehenden Grenze stehen. Befinden sich bei der Grundstücksteilung Gebäude im Bereich der neuen Grundstücksgrenze, wird der Notar das Grenzprotokoll, sofern es vorliegt, im Rahmen der Sachverhaltsermittlung12 in ausreichendem Maßstab anfordern müssen, um den dort angegebenen Grenzverlauf minutiös in der notariellen Urkunde aufzunehmen. 2. Haben die Beteiligten noch kein Grenzprotokoll errichten lassen, wird der Notar mit den Beteiligten oder anhand von Bauplänen der auf dem Grundstück in künftigem Grenzbereich stehenden Gebäude den künftigen Grenzverlauf klären müssen. Weicht die Grenzziehung entsprechend dem später errichteten Grenzprotokoll von der Beschreibung der Grenze in der Teilungsurkunde ab, entstehen die Zweifel am Grenzverlauf, die das Berufungsgericht, vom Bundesgerichtshof in dieser Sache gebilligt, durch die Auslegung des notariellen Vertrages überbrückt hat. Entsteht demgegenüber ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen Grenzbeschreibung und Liegenschaftskarte, drohen Haftungsrisiken für den Notar, der die Teilung des Grundstücks beurkundet hat. 3. In jeder der beiden beschriebenen Konstellationen sind die Beteiligten über die durch die Regeln der §§ 921, 922 BGB vorgezeichneten Rechtsbeziehungen zu belehren. Jene Rechtsbeziehungen sind zwar Rechtsfolgen der örtlichen Verhältnisse, die die Urkundsbeteiligten selbst schaffen. Ob diese Rechtsfolgen gewollt sind, unterliegt jedoch der Entscheidung der an der Grundstücksteilung Beteiligten. Der oder die an der Grundstücksteilung beteiligten Eigentümer oder die Erwerber des durch die Teilung neu entstehenden Grundstücks können angesichts der durch die Grenzziehung entstehenden Rechtsfolgen auch den Entschluss fassen, die Grenzziehung zur Vermeidung der durch die §§ 921, 922 BGB vorgezeichneten Rechtsfolgen zu ändern. Angesichts dessen erscheint eine Belehrung über die aus §§ 921, 922 BGB für die Beteiligten entstehenden Rechtsfolgen, die etwa auch die Folgen der Zerstörung eines der an der Grenzwand angebauten Gebäude einschließen, unausweichlich. 4. Ob diese Belehrungspflichten auch dann einsetzen, wenn Grundstücke veräußert werden, die eine Grenzbebauung aufweisen, soll hier offenbleiben. Völlig ausgeschlossen erscheint die Notwendigkeit einer Belehrung über die Rechtsfolgen der §§ 921, 922 BGB auch in diesen Fällen nicht. Allerdings obliegt dem Notar nicht die Aufklärung über den durch die Flurstücksbezeichnung vorgegebenen Grenzverlauf der von der Veräußerung betroffenen Flurstücke. Die Rechtsfolgen der §§ 921, 922 BGB sind allerdings sich aus dem Gesetz ergebende, nicht unbedeutende Folgen, auf die im Rahmen der Beurkundung auch dann hinzuweisen geboten erscheint, wenn dem Notar die Grenzbebauung bekannt wird.13 Auf die Rechtsfolgen selbst, die sich aus den §§ 921, 922 BGB ergeben, verweist die er12 13

§ 17 BeurkG; vgl. weiter Winkler, BeurkG, 19. Aufl., 2017, § 17, Rn. 213 ff. § 17 BeurkG; vgl. weiter Winkler, BeurkG, 19. Aufl., 2017, § 17, Rn. 224.

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örterte Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 22. 01. 2021.14 Der Inhalt der Belehrung für den Fall der Zerstörung des Nachbargebäudes lässt sich dort nachlesen. Weitere Rechtsfolgen ergeben sich aus der einschlägigen Literatur.

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BGH, NJW-RR 2021, 401 (403, 404, Rn. 23 bis 30).

Vertragsfreiheit und Verteilung der Maklerkosten beim Immobilienkauf Von Markus Würdinger

I. Ausgangslage Das Immobilienmaklerrecht ist Richterrecht in Reinkultur1 und gilt seit jeher als reformbedürftig.2 Nach einem längeren Dornröschenschlaf hat die Diskussion über die Höhe und Ausgestaltung von Maklerprovisionen in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Das „Gesetz über die Verteilung der Maklerkosten bei der Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser“ vom 12. 06. 2020 zieht einen Schlussstrich.3 Schlaglichtartig lässt sich zunächst auflisten, was die §§ 656a–656d BGB nicht gebracht haben: kein Verbot der Doppeltätigkeit, kein (reines4) Bestellerprinzip5, keinen Provisionsdeckel6 und keine Gebührenordnung7. Das Herzstück der Neuregelungen ist zweifelsohne der sog. Halbteilungs1 MüKoBGB/Roth, 8. Aufl. 2020, § 652 Rn. 2; Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 652 Rn. 1; ders., JZ 2009, 349 ff.; Thomale, JZ 2012, 716 ff.; D. Fischer, Maklerrecht, 5. Aufl. 2019, Kap. I Rn. 2; ders., in: FS Kayser, 2019, S. 183 (200); zur aktuellen Rechtsprechung: D. Fischer, NJW 2020, 3289 ff.; ders., WM 2020, Heft 44 Sonderbeil. 2, 2 ff.; Spies/Omlor, ZfIR 2018, 47 ff. 2 Zur Reformdiskussion in den 1970er und 1980er Jahren: Schwerdtner, JZ 1983, 777 m. w. N.; Staudinger/Arnold, 2016, Vor §§ 652 ff. Rn. 73. 3 Das Gesetz ist am 23. 6. 2020 im Bundesgesetzblatt verkündet worden (BGBl. 2020 I 1245) und trat sechs Monate später am 23. 12. 2020 in Kraft. 4 Meier, ZfIR 2020, 765 (769) spricht bei §§ 656b ff. BGB von einer eingeschränkten Form des Bestellerprinzips. 5 Dagegen etwa D. Fischer, NJW 2017, 1219; ders., NJW 2018, 3287; Wichert, ZMR 2019, 1; Kaßler, ZWE 2019, 233 (235). Zum Zickzack-Kurs der SPD s. etwa die Aussage des damaligen Justizministers Heiko Maas aus dem Jahre 2017: „Das Bestellerprinzip beim Kauf wird nicht kommen.“ (zitiert nach Die Welt vom 16. 1. 2017). Anders dann die Justizministerin Katharina Barley mit dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zu einem „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnimmobilien“. Dazu Kaßler, ZWE 2019, 233. 6 S. etwa den Entwurf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): BT-Drs. 19/4557, S. 3 („Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung von Verbrauchern beim Kauf und Verkauf von Wohnimmobilien (Makler-Bestellerprinzip- und Preisdeckelgesetz“): höchstens zwei vom Hundert des Kaufpreises. Dazu D. Fischer, NJW 2019, 3277. 7 S. etwa den Gesetzentwurf (AfD): BT-Drs. 19/17120, S. 7 zu einer maximalen Käuferprovision gestaffelt nach der Höhe des Kaufpreises.

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grundsatz, der als eine faire Lösung bezeichnet wird8 und zu einer Absenkung der Erwerbsnebenkosten beitragen soll. Das ist gewiss kein Paukenschlag und hat dem Gesetz die Kritik vom „Husarenstück der Maklerlobby“9 eingebracht. In rechtsdogmatischer Hinsicht ist zu analysieren und zu konstatieren, dass das neue Maklerrecht im Anwendungsbereich der „Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser“ in zweifacher Weise in die Vertragsfreiheit von Makler und Maklerkunden eingreift: Zum einen sieht § 656a BGB die Textform vor. Zum anderen enthalten §§ 656b, 656c, 656d BGB10 verbraucherschützende Vorschriften bei der Verteilung der Maklerkosten.11 Das ist keine Quisquilie: „Die soziale Marktwirtschaft ruht auf der Vertragsfreiheit, die von Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich garantiert wird.“12 Ein derartiger Eingriff in die Privatautonomie bedarf einer gründlich durchdachten und sorgfältigen Ausarbeitung. Der Beitrag möchte zeigen, dass der Gesetzgeber diesem Anforderungsprofil nicht gerecht geworden ist.

II. Terminologie, Systematik und Ziel des neuen Maklerrechts Beifallswert ist die neue Terminologie und Anpassung an die übliche vom bisherigen Gesetzestext abweichende Rede vom „Makler“ statt vom „Mäkler“ und vom „Maklerlohn“ statt vom „Mäklerlohn“.13 Der neue Untertitel 4 („Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser“) erweckt den Eindruck, dass nur Vermittlungsmakler, nicht aber Nachweismakler betroffen sind. Der „Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss eines Kaufvertrags über eine Wohnung oder ein 8

BT-Drs. 19/15827, S. 2 u. S. 12. So der Abgeordnete Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Plenarprotokoll 19/136, 17008. Der Immobilienverband IVD führt auf seiner Homepage aus: „Damit ist der Schlusspunkt eines langwierigen Gesetzgebungsverfahrens gesetzt, an dessen Anfang die SPD das harte Bestellerprinzip eingebracht hat, das im weiteren Verlauf durch das hohe Engagement und die überzeugenden Argumente der professionellen Makler komplett gedreht werden konnte.“ Abrufbar unter: https://mitte.ivd.net/neues-gesetz-zur-regelung-der-maklerkosten/ (zuletzt abgerufen am 30. 12. 2020). 10 Jauernig/Mansel, BGB, 18. Aufl. 2021, § 656c Rn. 1: „§ 656c führt aus Gründen des Verbraucherschutzes … zu einem starken Eingriff in die Vertragsfreiheit und den marktbestimmten Preisbildungsprozess.“. 11 BT-Drs. 19/15827, S. 13: „Die Änderungen des Maklerrechts berühren die Vertragsfreiheit von Verkäufer, Käufer und Makler und betreffen die Art und Weise, in der Makler ihren Beruf ausüben. Insofern stellen sie sich als eine Berufsausübungsregelung im Sinne von Artikel 12 des Grundgesetzes dar. Sie rechtfertigen sich durch das Ziel, natürliche Personen beim Kauf von Wohnungen oder Einfamilienhäusern vor einer unangemessenen Überbürdung fremder Kosten und der Ausnutzung faktischer Zwangslagen zu schützen.“ Der Rekurs auf die zu schützenden natürlichen Personen muss im Lichte der alten Entwurfsfassung gesehen werden. Dort ging es in der Tat (in nicht überzeugender Weise) um den Schutz natürlicher Personen. S. dazu D. Fischer, NJW 2020, 3553 (3555). 12 Maunz/Dürig/Di Fabio, GG, 93. EL Oktober 2020, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 101 m. w. N. 13 Diese sprachliche Angleichung war längst überfällig und ist breit konsentiert. Anders aber der Gesetzentwurf der AfD: BT-Drs. 19/17120, S. 7 („Mäklerkosten“). 9

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Einfamilienhaus“ ist aber – wie der Wortlaut des § 656a BGB zeigt – ebenso gemeint. Nicht überzeugend ist die systematische Stellung des neuen Maklerrechts im Anschluss an den Untertitel 3 „Ehevermittlung“.14 Besser und vorzugswürdig wäre eine Verortung unmittelbar nach dem Untertitel 1 „Allgemeine Vorschriften“ (§§ 652 – 655 BGB)15 gewesen. Zudem hätte ein Abgleich und Wertungsgleichklang mit dem Gesetz zur Regelung der Wohnungsvermittlung (WoVermRG) erfolgen müssen.16 Für die neuen §§ 656a ff. BGB wurde weder eine Preisdeckelung noch ein (reines) Bestellerprinzip normiert. Das übergeordnete Problem eines Doppelmaklers und damit die Frage, ob man Diener zweier Herren sein kann, wurde nicht in Angriff genommen.17 Vielmehr ist der Dreh- und Angelpunkt für die grundsätzliche Provisionsteilung, dass der Makler in vielen Fällen den legitimen Interessen beider Parteien diene und eine hälftige Teilung der Provision daher grundsätzlich angemessen sei.18 Warum dies im Bereich des WoVermRG anders zu beurteilen ist, erschließt sich nicht. Die gespaltene Lösung ist daher kritikwürdig.19 Mit diesem Gesetz sollen schutzbedürftige Käufer von Maklerkosten entlastet werden, „die sie nicht verursacht haben und die nicht primär in ihrem Interesse angefallen sind“.20 Die hohen Erwerbsnebenkosten, die zumeist aus Eigenkapital geleistet werden müssen,21 sollen damit für Käufer von Wohnimmobilien spürbar sinken.22 Die Bildung von Wohneigentum soll erleichtert werden. Der Käufer befinde sich wegen eines nicht funktionierenden Marktes und Wettbewerbs23 häufig in einer „faktischen Zwangslage“24 : Selbst dann, wenn er die Provisionslast (am Ende) tragen muss, könne er über die Höhe der Provision de facto nicht verhandeln.25 14 S. dazu Jeep, notar 2020, 225 (230): „Der Immobilienmakler wird so scheinbar zum Unterfall des Heiratsvermittlers. Honi soit qui mal y pense.“. 15 Oder zumindest nach dem Untertitel 2 „Vermittlung von Verbraucherdarlehensverträgen und entgeltlichen Finanzierungshilfen“ (§§ 655a – 655e BGB). 16 Ggf. hätte dies auch zu einer Neufassung des WoVermRG führen können bzw. müssen. S. zum Bestellerprinzip nach § 2 Abs. 1a WoVermRG: BGH, NZM 2019, 882 m. Anm. Ketterling. 17 S. dazu entgegen der h. M.: MüKoBGB/Roth, 8. Aufl. 2020, § 654 Rn. 8: „Da die Doppeltätigkeit des Maklers von der Modellvorstellung des § 652 ersichtlich abweicht, ist sie nach richtiger Auffassung nur im Wege einer Individualvereinbarung zu erlauben“. 18 BT-Drs. 19/15827, S. 19. 19 Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656b Rn. 7. 20 BT-Drs. 19/15827, S. 11. 21 BT-Drs. 19/15827, S. 1. 22 BT-Drs. 19/15827, S. 32; Jauernig/Mansel, BGB, 18. Aufl. 2021, Vor §§ 656a ff. Rn. 2. 23 Meller-Hannich, MDR 5/2020, R5 („Höhe von Maklerkosten … erstaunlich starr“; „quasi staatliche Gebühr“; „Ausfall jedes Wettbewerbs“). 24 BT-Drs. 19/15827, S. 1. 25 BT-Drs. 19/15827, S. 1 f.: „Es soll verhindert werden, dass Maklerkosten, die vom Verkäufer verursacht wurden und vor allem in seinem Interesse angefallen sind, im Kaufvertrag vollständig oder zu einem überwiegenden Anteil dem Käufer aufgebürdet werden. Die Wei-

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Gewiss führen die Neuregelungen in manchen Fällen zu einer Absenkung der Erwerbsnebenkosten mit positiven Effekten bei der maximal möglichen Darlehensaufnahme. Den Käufern gibt man indes „Steine statt Brot“, wenn sich die Gesamtkosten erhöhen, weil Verkäufer ihren zu leistenden Anteil an der Courtage vorab auf den Kaufpreis aufschlagen und dadurch die Bemessungsgrundlage für sämtliche Erwerbsnebenkosten (Grunderwerbsteuer, Notar- und Grundbuchkosten, Maklerprovision) ansteigt. Käufer würden dann insgesamt nicht entlastet, sondern zusätzlich belastet.26 Bei angespannten Wohnungsmärkten ist meo voto mit einer derartigen Einpreisung in vielen Fällen zu rechnen.27 Dann aber verkehrt sich das gesetzgeberische Ziel in sein Gegenteil.28

III. Die Textform gemäß § 656a BGB 1. Ratio legis Maklerverträge können grundsätzlich formfrei abgeschlossen werden. Dies ist Ausfluss der Vertragsfreiheit, zu der auch die Formfreiheit zählt. § 656a BGB statuiert nun eine weitere Ausnahme. Ein Maklervertrag, der den Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss eines Kaufvertrags über eine Wohnung oder ein Einfamilienhaus oder die Vermittlung eines solchen Vertrags zum Gegenstand hat, bedarf der Textform. Ein Maklervertrag, der dieser vorgeschriebenen Form ermangelt, ist nichtig (§ 125 Satz 1 BGB). Nach § 126b Satz 1 BGB muss eine lesbare Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist, auf einem dauerhaften Datenträger29 abgegeben werden. Das Prägemerkmal und Kennzeichen der Textform besteht somit in einer „Fixierung einer Mitteilung oder Erklärung in lesbare Schriftzeichen“30, die tergabe von Maklerkosten soll vor dem Hintergrund, dass in der Regel auch der Käufer von der Tätigkeit eines Maklers profitiert, zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden; jedoch soll diese nur noch bis zu einer maximalen Obergrenze von 50 Prozent des insgesamt zu zahlenden Maklerlohns möglich sein. Außerdem soll der Käufer zur Zahlung erst verpflichtet sein, wenn der Verkäufer nachweist, dass er seinen Anteil an der Maklerprovision gezahlt hat. Ist der Käufer wie zum Beispiel bei einem Suchauftrag alleiniger Vertragspartner des Maklers, gelten diese Grundsätze mit Blick auf die Verursachung der Maklerkosten entsprechend, das heißt, auch in solchen Fällen bleibt es bei dem Grundsatz, dass primär der Auftraggeber zahlungspflichtig ist und höchstens eine 50:50-Kostenteilung erwirken kann. Für den Fall, dass beide Parteien den Makler beauftragen, wird eine solche faire Teilung der Maklerprovision verbindlich festgelegt.“. 26 S. zu einem instruktiven Rechenbeispiel: Jeep, notar 2020, 225 (228). 27 Ebenso Meier, ZfIR 2020, 765 (769); Wichert, ZMR 2019, 1 (2); Kaßler, ZWE 2019, 233 (235); Drasdo, NJW-Spezial 2020, 545 mit Rekurs auf Kühling, NZM 2020, 521 und den „Schwarmstädten“ Deutschlands. 28 Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656c Rn. 13. Wie so häufig gilt der Satz: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. 29 S. dazu § 126b Satz 2 BGB. 30 BT-Drs. 14/4987, S. 18.

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eine dauerhafte Abrufbarkeit und Verfügbarkeit ermöglicht. Erforderlich ist gerade keine eigenhändige Unterschrift (wie bei der Schriftform nach § 126 BGB), keine Urkundenqualität und keine Papiergebundenheit. Der Textform wird daher etwa bei Erklärungen per Fax oder E-Mail Rechnung getragen. Im Vordergrund steht die Informations- und Dokumentationsfunktion.31 Dementsprechend liegt die ratio legis des § 656a BGB darin, „Unklarheiten über in der Praxis häufig strittige Fragen hinsichtlich des Inhalts eines Maklervertrags“32 zu vermeiden. 2. Anwendungsbereich § 656a BGB schränkt den Anwendungsbereich nicht auf einen Personenkreis ein und ist in der Zielrichtung – anders als §§ 656c und 656d BGB – nicht verbraucherschützend. Der Anwendungsbereich ist – ebenso wie bei den anderen Vorschriften des neuen Untertitels 4 – sachlich beschränkt. Hauptvertrag muss ein Kaufvertrag über eine Wohnung oder ein Einfamilienhaus sein. Das bedeutet negativ abgegrenzt: Es geht nicht um einen Kaufvertrag über eine Gewerbeimmobilie oder ein Mehrfamilienhaus („ein an eine Vielzahl von Parteien vermietetes Wohnhaus“33). Legaldefinitionen für die neuen Begriffe sind im BGB nicht vorgesehen. Begriffsbestimmungen finden sich aber in den Materialien: Eine „Wohnung“ ist danach jede Zusammenfassung von Räumen, die zu Wohnzwecken dient.34 Ein „Einfamilienhaus“ ist jedes Gebäude, das in erster Linie den Wohnzwecken der Mitglieder eines einzelnen Haushalts dient.35 Zahlreiche Abgrenzungsfragen sind damit bereits erkennbar.36 3. Kritische Stellungnahme a) Begrüßenswerter Gleichklang zum Wohnungsvermittlungsgesetz Zunächst ist es begrüßenswert37, dass in Parallele zum WoVermRG auch für nachgewiesene bzw. vermittelte Immobilienkaufverträge ein Textformerfordernis gilt.38

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BT-Drs. 14/4987, S. 19; Drasdo, NJW-Spezial 2020, 545. BT-Drs. 19/15827, S. 12. 33 BT-Drs. 19/15827, S. 18; zum erfassten Bauträgervertrag siehe Palandt/Sprau, 80. Aufl. 2021, BGB § 656a Rn. 4. 34 BT-Drs. 19/15827, S. 18; BeckOK/Kneller, BGB, 56. Ed., Stand: 01. 11. 2020, § 656a Rn. 3. 35 BT-Drs. 19/15827, S. 18. 36 Im Einzelnen dazu Meier, ZfIR 2020, 765 (767 f.); Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656a Rn. 3 ff. 37 Ausf. dazu Würdinger, NZM 2017, 545 (546); ders., JZ 2009, 349 (350). 38 Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 WoVermRG bedarf „der Vermittlungsvertrag“ bereits seit 01. 06. 2015 der Textform. Eingef. durch Art. 3 Nr. 1 Buchst. a G v. 21. 04. 2015 (BGBl. I 610). 32

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b) Kritikwürdige Beschränkung des Anwendungsbereichs Unverständlich ist jedoch die Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs auf Wohnungen und Einfamilienhäuser. Es überzeugt nicht, dass etwa unbebaute Grundstücke, insbesondere solche, die zum Zwecke der Wohnbebauung gekauft werden, nicht umfasst sind.39 Aber auch bei Gewerbeimmobilien40 und Mehrfamilienhäusern erschließt sich nicht, weshalb in diesen Konstellationen nicht auch einer Informations- und Dokumentationsfunktion Rechnung zu tragen ist. In diesen Fällen könne – so liest man in der Begründung des Gesetzentwurfs – „nicht von einer vergleichbaren Zwangslage des Kaufinteressenten ausgegangen werden“.41 Diese Behauptung trifft in dieser Generalität nicht zu. Die Formulierung taucht in ähnlicher Weise bei der Begründung für die Neuverteilung der Maklerkosten auf. Dort hat sich der Gesetzgeber aber zusätzlich für eine Beschränkung des personellen Anwendungsbereichs auf Verbraucher (§ 656b BGB) entschieden. Vorzugswürdig erscheint es, dies auch beim Textformerfordernis so zu justieren oder die Beschränkung auf bestimmte Immobilien und bestimmte Personen gänzlich aufzugeben. Terminologisch ist es ohnehin bedenklich,42 von einem Kauf „einer Wohnung“ bzw. „eines Hauses“ zu sprechen.43 c) Vorzugswürdigkeit eines Ausdrücklichkeitsgebots Zudem verbleibt das Problem, dass der Dokumentations- und Informationsfunktion nur in eingeschränkter Weise genügt wird, wenn ein konkludenter Maklervertrag (in Textform) weiterhin möglich bleibt. Nach der Rechtsprechung des BGH gibt ein Kaufinteressent, der in Kenntnis des eindeutigen Provisionsverlangens die Dienste des Maklers in Anspruch nimmt, damit grundsätzlich konkludent zu erkennen, dass er den in dem Provisionsbegehren liegenden Antrag auf Abschluss eines Maklervertrags annehmen will.44 Es ist ein Standardfall der Praxis, dass der Immobilienmakler einem Kaufinteressenten ein Exposé übermittelt, das ein eindeutiges Provisionsverlangen enthält. Darin liegt nach der Rechtsprechung ein Angebot auf Abschluss eines Maklervertrags, das der Kaufinteressent bereits dann annimmt, wenn 39 D. Fischer, NJW 2020, 3553 (3554). S. dazu den Erweiterungsvorschlag des Bundesrates Drs. 19/15827, S. 31. 40 Jeep, notar 2020, 225 (227). 41 BT-Drs. 19/15827, S. 18. 42 Meller-Hannich, MDR 5/2020, R5; Jeep, notar 2020, 225 (226); Meier, ZfIR 2020, 765 (767). 43 Gegenstand und Bezugsgröße war bisher grundsätzlich ein Grundstück. In sachenrechtlicher Hinsicht bezieht sich die Eigentümerstellung nicht auf das Haus, sondern auf das Grundstück. S. dazu Musielak/Hau, Grundkurs BGB, 16. Aufl. 2019, Rn. 8 Fn. 5 („Grundstückseigentümer“ und nicht „Hauseigentümer“). Das darauf befindliche Haus steht als wesentlicher Bestandteil (§§ 93, 94 BGB) des Grundstücks automatisch im Eigentum des jeweiligen Grundstückseigentümers (siehe § 946 BGB). 44 S. dazu Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 652 Rn. 16 ff. m. w. N.

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er den Makler um die Vereinbarung eines Besichtigungstermins bittet.45 Geschieht dies etwa per E-Mail, dann ist der Maklervertrag konkludent in Textform zustande gekommen.46 Darauf rekurriert auch die Begründung des Gesetzentwurfs, wenn es dort heißt: „Häufig werden Maklerverträge in Schriftform abgeschlossen oder es erfolgt jedenfalls vorvertraglich eine E-Mail-Korrespondenz der Beteiligten, zum Beispiel zur Übersendung des Exposés.“47 „In der Praxis ist zwischen den Parteien häufig streitig, ob und mit welchem Inhalt ein Maklervertrag zustande gekommen ist. Durch die Neuregelung sollen Unklarheiten hinsichtlich des Vertragsinhalts von vornherein vermieden werden und die Transparenz im Wohnimmobilienvermittlungsgeschäft erhöht werden.“48 An diesem Transparenzargument müssen indes Zweifel angemeldet werden, wenn ein konkludenter Vertragsschluss weiterhin möglich bleibt. Für ein Ausdrücklichkeitsgebot streitet die Tatsache, dass der Zeitpunkt des Vertragsschlusses stets rechtssicher dokumentiert ist und sich so Streitigkeiten darüber, ob und ggf. wann ein Maklervertrag zustande gekommen ist, vermeiden ließen.49

IV. Verbraucherschutz §§ 656b, 656c, 656d BGB enthalten für den sachlichen Anwendungsbereich der „Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser“50 neue Verbraucherschutzregeln. § 656b BGB markiert den persönlichen Anwendungsbereich; § 656c BGB enthält den Standardfall der Doppelbeauftragung bzw. Doppeltätigkeit des Maklers und § 656d BGB regelt die Konstellation der Provisionsabwälzung. 1. Persönlicher Anwendungsbereich (§ 656b BGB) § 656b BGB ist mit „persönlicher Anwendungsbereich“ umschrieben und bestimmt, dass die §§ 656c und 656d BGB nur gelten, wenn der Käufer ein Verbraucher ist.51 Erforderlich ist damit nicht zwingend ein Verbrauchervertrag, bei dem es sich um einen Vertrag zwischen einem Unternehmer (§ 14 BGB) und einem Verbraucher

45

BGH, NZM 2017, 127; dazu Hamm, NJW 2017, 1031. Anders ist dies, wenn der Interessent fernmündlich den Besichtigungstermin vereinbart, wie im Fall des BGH, NZM 2017, 127 (128) Rn. 20. 47 BT-Drs. 19/15827, S. 16. 48 BT-Drs. 19/15827, S. 18 f. 49 Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656a Rn. 11. 50 S. dazu III. 2. 51 Zu Abgrenzungsfragen: D. Fischer, NJW 2020, 3553 (3555); Würdinger, in: jurisPKBGB, 9. Aufl. 2020, § 656b Rn. 3 ff. 46

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(§ 13 BGB) handelt (siehe § 310 Abs. 3 BGB).52 Darauf, ob der Verkäufer Unternehmer oder Verbraucher ist, kommt es nicht an. Im ursprünglichen Gesetzentwurf war vorgesehen, dass der Makler ein Unternehmer (§ 14 BGB) und der Käufer eine natürliche Person sein muss (§ 656b RegE). Beide Einschränkungen überzeugten nicht.53 Es ist wenig einsichtig, dass bei einem nicht unternehmerisch tätigen Gelegenheitsmakler die verbraucherschützende Vorschrift nicht gelten soll. Die Anknüpfung an den Schutz für natürliche Personen (in Abgrenzung zu juristischen Personen und der offenen Frage, wie Personengesellschaften zu behandeln sind) wäre ein Novum, das keine ausreichende Rechtfertigungsbasis für sich reklamieren kann.54 2. Die Standardsituation des Doppelauftrags bzw. der Doppeltätigkeit (§ 656c BGB) a) Überblick über die Regelung § 656c BGB statuiert eine zwingende Provisionsteilung in den Fällen eines Doppelauftrags bzw. einer Doppeltätigkeit des Maklers. Die Vorschrift ist damit nicht anwendbar, wenn eine Doppeltätigkeit weder vertraglich vereinbart wird noch tatsächlich besteht. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es hierzu: „Im Fall eines ausschließlichen Suchauftrags des Kaufinteressenten oder eines alleinigen Vermittlungsauftrags des Verkäufers besteht nur zwischen jeweils einer Partei und dem Makler eine vertragliche Beziehung, so dass auch zunächst nur der Auftraggeber die vereinbarte Provision schuldet.“55 § 656c Abs. 1 Satz 1 BGB liegt die Überlegung zugrunde, dass der Makler in vielen Fällen den legitimen Interessen beider Parteien dient und eine hälftige Teilung der Provision daher grundsätzlich angemessen ist.56 Dies formuliert die Vorschrift für die Konstellation, bei der sich der Makler von beiden Parteien des Kaufvertrags über eine Wohnung oder ein Einfamilienhaus einen Maklerlohn versprechen lässt. Die strengen Neutralitätspflichten rechtfertigen nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine zwingende hälftige Teilung der Provision.57 Nach § 656c Abs. 1 Satz 3 BGB ist der Maklervertrag bei einer Abweichung unwirksam.

52

Jeep weist auf die köstliche Kuriosität des juristisch richtigen Lehrsatzes hin: „Ein Vertrag zwischen zwei Verbrauchern ist kein Verbrauchervertrag.“ Siehe Jeep, notar 2020, 225 (229) Fn. 7. 53 D. Fischer, NJW 2020, 3553 (3555). 54 S. dazu BT-Drs. 19/15827, S. 19, wonach bei natürlichen Personen „typischerweise“ Privatpersonen erfasst werden, „für die der Erwerb einer Wohnung oder eines Einfamilienhauses im Regelfall sowohl in tatsächlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine Entscheidung von besonderer Tragweite darstellt und die daher besonders schutzwürdig sind.“. 55 BT-Drs. 19/15827, S. 19. 56 BT-Drs. 19/15827, S. 19; D. Fischer, NJW 2020, 3553 (3556). 57 BT-Drs. 19/15827, S. 19.

Vertragsfreiheit und Verteilung der Maklerkosten beim Immobilienkauf

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Bei einem Tätigwerden für beide Parteien kann der Makler eine Provision nur von beiden Parteien in gleicher Höhe verlangen. Der Gesetzgeber hat die leichte Umgehungsmöglichkeit des § 656c Abs. 1 Satz 1 BGB erkannt und daher mit Satz 2 das Feld der zwingenden Provisionsteilung auf die Konstellation der Doppeltätigkeit58 wie folgt erweitert: Vereinbart der Makler mit einer Partei des Kaufvertrags, dass er für diese unentgeltlich tätig wird, kann er sich nach § 656c Abs. 1 Satz 2 BGB auch von der anderen Partei keinen Maklerlohn versprechen lassen.59 Erfasst ist damit die typische Konstellation, dass der Verkäufer dem Makler seine Immobilie „an die Hand gibt“, ohne mit dem Verkäufer einen provisionspflichtigen Maklervertrag abzuschließen.60 Durch die Neuregelung wird der Makler angehalten, mit Käufer und Verkäufer einen provisionspflichtigen Maklervertrag zu vereinbaren und dem Modell der hälftigen Teilung der Provision zu folgen. Andernfalls kommt es nach § 656c Abs. 2 Satz 1 BGB zur Unwirksamkeit des jeweiligen Maklervertrags. Ein gänzlicher oder teilweiser Erlass (§ 397 BGB), der keiner besonderen Form bedarf, wirkt nach § 656c Abs. 1 Satz 3 BGB auch zugunsten des jeweils anderen Vertragspartners des Maklers.61 b) Kritische Stellungnahme aa) Zu weit gehende Einschränkung der Privatautonomie Der Eingriff in die Privatautonomie ist gewichtig, bedarf einer klaren Rechtfertigung und sorgfältigen Regelung, die nicht weiter gehen darf, als dies für die Erreichung des veritablen Ziels erforderlich ist. Diesem Anforderungsprofil trägt das neue Maklerrecht nicht Rechnung, weil der zwingende Halbteilungsgrundsatz bei der Doppeltätigkeit in Einzelfällen dazu führen kann, dass der Käufer eine höhere Provisionslast tragen muss, als dies die Kaufvertragsparteien im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit wollen. Es ist nicht einsichtig, warum der Verkäufer nicht auch eine höhere Provision als der Käufer übernehmen kann. Der Einwand, dass diese Fälle in praxi nicht sehr häufig vorkommen, ist kein valides Argument für diesen überschießenden Eingriff in die Privatautonomie. Vor dem Hintergrund, dass das Gesetz einen Schutz des Käufers, eine Absenkung der Erwerbsnebenkosten und eine Erhöhung der Wohneigentumsquote bezweckt, ist dies wenig überzeugend. Eine teleologische Redukti58

Wohlgemerkt bei einer entsprechenden (ausdrücklichen oder konkludenten) Unentgeltlichkeitsabrede. S. dazu Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656c Rn. 6. 59 Von einem Tätigwerden im Sinne dieser Vorschrift ist auch dann auszugehen, wenn aufgrund einer negativen Provisionsabrede sowie gegebenenfalls der fehlenden Textform nicht von einem Maklervertrag im Sinne der §§ 652, 656a BGB auszugehen sein sollte: BT-Drs. 19/ 15827, S. 19 f. 60 Zur „Falle der Provisionslosigkeit“: Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656c Rn. 6. 61 Von Satz 3 kann durch Vertrag nicht abgewichen werden (Abs. 1 Satz 4). Nach § 656c Abs. 2 Satz 2 BGB bleibt die Einwendung des § 654 BGB („Verwirkung des Lohnanspruchs“) unberührt. Danach führt eine unzulässige Doppeltätigkeit zum Provisionsverlust.

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on ist angesichts des klar geäußerten, eindeutigen gesetzgeberischen Willens de lege lata dennoch abzulehnen. Gefragt und gefordert ist der Gesetzgeber, der dies dringend ändern und nachbessern sollte. Dann würde man auch den verfassungsrechtlichen Bedenken die Spitze nehmen. bb) Zu weit gehende Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Maklervertrags Unstimmig ist die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Maklervertrags nach § 656c Abs. 2 Satz 1 BGB, wenn der Makler von der Provisionsteilung abweicht. Selbst bei einer unzulässigen Doppeltätigkeit (§ 654 BGB) und in den Fällen der von der Rechtsprechung entwickelten Konstellationen der Lohnunwürdigkeit bei schwerwiegenden Treuepflichtverletzungen (§ 654 BGB analog) bleibt der Maklervertrag wirksam.62 Der Maklerkunde ist schutzwürdig und wird bei einer Unwirksamkeit des Maklervertrags der vertraglichen Grundlage für einen etwaigen Anspruch auf Schadensersatz wegen einer Pflichtverletzung beraubt. § 656c Abs. 2 Satz 1 BGB ist damit eine überschießende Regelung und rechtsdogmatisch nicht überzeugend.63 cc) Praktische Analyse und die Gefahr von Umgehungen Nach § 656d Abs. 1 Satz 2 BGB wird der Anspruch gegen die andere Partei erst fällig, wenn die Partei, die den Maklervertrag abgeschlossen hat, nachweist, dass sie ihrer Verpflichtung zur Zahlung des Maklerlohns nachgekommen ist. Eine vergleichbare Regelung fehlt bei § 656c BGB, so dass die Umgehung der Vorschrift leicht möglich und damit die praktische Wirksamkeit relativiert wird.64 Maklerkunden haben aus den jeweiligen Vertragsverhältnissen (Kaufvertrag bzw. Maklervertrag) zwar einen Auskunftsanspruch65 nach § 242 BGB, ob und inwieweit der Makler auch für die andere Partei tätig geworden ist, ob eine Provisionspflichtigkeit vereinbart wurde und bejahendenfalls in welcher Höhe eine Provisionszahlung erfolgte. Dieser Auskunftsanspruch kann jedoch die praktischen Probleme nicht vollends lösen, die sich etwa dadurch ergeben können, dass der Makler eine gezahlte Provision an einen seiner Kunden ohne Rechtsgrund erstattet.66 Interessant und relevant ist daher die Frage, ob und inwieweit § 656d Abs. 1 Satz 2 BGB analog zur Anwendung 62

So wird etwa bei der Auslegung und Anwendung des § 134 BGB danach unterschieden, ob sich das Verbot an alle (Vertragsparteien) oder nur an eine Partei richtet. BGHZ 143, 283 Rn. 18: „Sind beide Teile Adressaten des Verbots, kann regelmäßig angenommen werden, das verbotswidrige Geschäft solle keine Wirkungen entfalten. Richtet sich das Verbot dagegen nur gegen eine Partei, ist regelmäßig der gegenteilige Schluß berechtigt.“. 63 S. dazu auch Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656c Rn. 15. 64 Kritikwürdig ist ferner, dass es (anders als nach § 8 WoVermRG) keine flankierende Regelung einer Ordnungswidrigkeit gibt. S. dazu Meier, ZfIR 2020, 765 (770). 65 Jauernig/Mansel, BGB, 18. Aufl. 2021, § 656c Rn. 5. 66 Im Einzelnen Meier, ZfIR 2020, 765 (773).

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kommt. Eine planwidrige Regelungslücke ist indes zu verneinen. Es ist davon auszugehen, dass eine derartige Regelung gerade bei § 656c BGB bewusst nicht gelten soll (Umkehrschluss zu § 656d Abs. 1 Satz 2 BGB).67 3. Die Abwälzungssituation (§ 656d BGB) a) Überblick über die Regelung § 656d BGB betrifft Vereinbarungen über die anteilige Übernahme von Maklerkosten, bei denen nur eine Partei des Kaufvertrags über eine Wohnung oder ein Einfamilienhaus einen Maklervertrag abgeschlossen hat und es zu einer Provisionsabwälzung auf die andere Partei kommt. Eine Vereinbarung, die die andere Partei zur Zahlung oder Erstattung von Maklerlohn verpflichtet, soll nur wirksam sein, wenn die Partei, die den Maklervertrag abgeschlossen hat, zur Zahlung des Maklerlohns mindestens in gleicher Höhe verpflichtet bleibt (§ 656d Abs. 1 Satz 1 BGB).68 Eine hälftige Übernahme der Maklerprovision bildet damit eine Obergrenze. Anders als bei § 656c BGB besteht im Übrigen eine Flexibilität und damit kein zwingender Halbteilungsgrundsatz.69 Die Vorschrift betrifft klassische Fälle von (konstitutiven) Maklerklauseln70, d. h. Vereinbarungen der Parteien des Kaufvertrages untereinander, aus denen sich ein unmittelbarer oder mittelbarer Anspruch des Maklers ergibt (zum Beispiel Vertrag zugunsten Dritter, Erfüllungsübernahme71, Freistellung).72 Nicht in das Provisionskon67

Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656d Rn. 8. Nicht geregelt ist die Konstellation, bei der eine Maklervertragspartei ihre nach §§ 652 Abs. 1 Satz 1, 656c BGB bestehende Provisionsverpflichtung auf die andere Kaufvertragspartei ganz oder teilweise abwälzen möchte. Analog § 656d Abs. 1 Satz 1 BGB ist eine derartige Vereinbarung unwirksam. S. dazu Meier, ZfIR 2020, 765 (771). 69 § 656c BGB und § 656d BGB stehen in einem Aliud-Verhältnis. S. BT-Drs. 19/15827, S. 20: „Sofern kein Fall des § 656c Absatz 1 Satz 2 BGB vorliegt, …“. 70 S. zuletzt Grziwotz, DVBl 2020, 1119 ff.; Leitmeier, DNotZ 2019, 648 ff.; H. Roth, ZfIR 2014, 85 ff.; Althammer, ZfIR 2012, 765 ff.; zur Amtsenthebung wegen widersprüchlicher Maklerklauseln und Gebührenverzicht: Hager/Müller-Teckhof, NJW 2016, 1857 (1858 f.). 71 Zu einem Formulierungsvorschlag für eine Abwälzung vom Verkäufer auf den Käufer im Wege einer Erfüllungsübernahme gemäß § 329 BGB s. das Rundschreiben der Bundesnotarkammer Nr. 05/20 vom 04. 12. 2020 (abrufbar unter: https://www.bnotk.de/aufgaben-undtaetigkeiten/rundschreiben, zuletzt abgerufen am 30. 12. 2020): „Dieser Vertrag ist nach Angabe auf Vermittlung durch den Makler XY zustande gekommen. Aus dem mit dem Verkäufer abgeschlossenen Maklervertrag ergibt sich eine Provisionshöhe von insgesamt 5.000 E (fünftausend Euro). Der Käufer verpflichtet sich gegenüber dem Verkäufer insoweit zur Erfüllungsübernahme in Höhe von 2.500 E (zweitausendfünfhundert Euro). Dies bedeutet, dass der Käufer den Verkäufer in dieser Höhe von den Ansprüchen des Maklers freizustellen bzw. ihm Aufwendungsersatz zu leisten hat. Eine eigenständige Forderung des Maklers wird hierdurch nicht begründet. Der Notar hat darauf hingewiesen, dass nach § 656d Abs. 1 BGB die Übernahme der Maklerkosten nur bis zur Hälfte der geschuldeten Maklerprovision erfolgen darf 68

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zept des § 656d BGB passen Vereinbarungen hinsichtlich eines Schuldbeitritts der anderen Partei.73 Bei einer Gesamtschuld ist schließlich jeder Schuldner verpflichtet, die ganze Leistung zu bewirken (§ 421 Satz 1 BGB). Der Makler könnte dann von einer Partei die volle Maklerprovision verlangen. Die Neuregelung verstärkt die begrüßenswerte Entwicklung der letzten Jahre, wonach die Aufnahme einer Maklerklausel in den notariellen Kaufvertrag dem Willen der Parteien entsprechen muss und sich eine standardmäßige Integration in das Vertragswerk verbietet.74 b) Umgehungsschutz und kritische Analyse Ein Umgehungsschutz ergibt sich aus §§ 656d Abs. 2, 656c Abs. 1 Satz 3 und 4 BGB, wonach ein (Teil-)Erlass, d. h. eine nachträgliche Herabsetzung oder ein gänzliches Entfallen des Provisionsanspruchs, zwingend auch zugunsten der jeweils anderen Partei wirkt. Das praktische Problem besteht aber darin, dass die betroffene Partei von diesem Sachverhalt Kenntnis erlangen und den bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruch durchsetzen müsste.75 Wirkungsvoller ist daher die Fälligkeitsregel des § 656d Abs. 1 Satz 2 BGB: Der Anspruch gegen die andere Partei wird erst fällig, wenn die Partei, die den Maklervertrag abgeschlossen hat, ihrer Verpflichtung zur Zahlung des Maklerlohns nachgekommen ist und sie oder der Makler einen Nachweis hierüber erbringt. Dies kann etwa durch die Vorlage eines Kontoauszugs oder eines Überweisungsbelegs geschehen.76 Damit soll ein praktischer Leerlauf des § 656c Abs. 1 Satz 1 BGB verhindert werden. Es soll gerade nicht zu einer vorrangigen und alleinigen Inanspruchnahme der anderen Partei kommen. § 656c BGB bildet den Standard- und Regelfall, so dass § 656d BGB nahezu leerläuft. Dies hat der Gesetzgeber nicht richtig eingeschätzt.77 Der Umgehungsschutz wurde bei § 656d BGB durch eine Fälligkeitsregel installiert, die aber bei § 656c und dass der Anspruch daraus erst fällig wird, wenn der Verkäufer die ihm verbleibende Maklerprovision gezahlt hat und dies nachgewiesen wird. Die Fälligkeit wird vom Notar insoweit nicht überprüft.“. 72 BT-Drs. 19/15827, S. 20. 73 BT-Drs. 19/15827, S. 20. 74 So mit Nachdruck bereits Würdinger, JZ 2009, 349 (355). S. das Rundschreiben der Bundesnotarkammer 5/2015 vom 02. 06. 2015 zu den Amtspflichten des Notars bei der Beurkundung von Maklerklauseln sowie jüngst das Rundschreiben Nr. 05/20 vom 04. 12. 2020 unter II. (abrufbar unter: https://www.bnotk.de/aufgaben-und-taetigkeiten/rundschreiben, zuletzt abgerufen am 30. 12. 2020) mit der zutreffenden Bemerkung selbst für deklaratorische Maklerklauseln: „Die Herbeiführung dieser Rechtsfolge wird zwar regelmäßig im Interesse des Maklers, nicht jedoch zwingend auch im Interesse der Beteiligten liegen.“ Es ist zu hoffen, dass diese Leitlinie nachhaltig die Notarpraxis prägen wird. 75 BT-Drs. 19/15827, S. 20 spricht vom Käufer. Dies dürfte in der Tat den Regelfall bilden. 76 BT-Drs. 19/15827, S. 20. 77 So etwa auch Goebel, FMP 2020, 125.

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BGB gerade fehlt und – horribile dictu – bewusst nicht in Erwägung gezogen wurde.78

V. Zusammenschau und Thesen 1. Das „Gesetz über die Verteilung der Maklerkosten bei der Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser“ vom 12. 6. 2020 greift in die Vertragsfreiheit von Makler und Maklerkunden durch die Textform sowie durch verbraucherschützende Vorschriften ein. Eine derartige Beschränkung der Privatautonomie ist wie „eine Operation am Nervengewebe“79 und bedarf einer gründlich durchdachten und sorgfältigen Ausarbeitung. Der Gesetzgeber wird diesem Anforderungsprofil insgesamt nicht gerecht. 2. Die Einführung der Textform ist zwar begrüßenswert. Allerdings erscheint es vorzugswürdig, diese Formvorschrift nicht an einen sachlichen Anwendungsbereich (Wohnung oder Einfamilienhaus), sondern allenfalls an einen personellen Anwendungsbereich (Schutz des Verbrauchers) zu knüpfen. Zudem sollte de lege ferenda durch ein Ausdrücklichkeitsgebot der Abschluss eines konkludenten Maklervertrags gesperrt werden. 3. Der hälftigen Teilung der Provision liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Makler in vielen Fällen den legitimen Interessen beider Parteien dient.80 Warum dies im Bereich des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung anders zu beurteilen ist, erschließt sich nicht. Diese gespaltene Lösung überzeugt nicht. 4. Der zwingende Halbteilungsgrundsatz bei der Doppeltätigkeit ist ein überschießender, verfassungsrechtlich bedenklicher Eingriff in die Privatautonomie. Es ist nicht einsichtig, warum Verkäufer (im Anwendungsbereich des § 656c BGB) nicht auch eine höhere Provision übernehmen können sollen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Gesetz einen Käuferschutz, eine Absenkung der Erwerbsnebenkosten und eine Erhöhung der Wohneigentumsquote intendiert. 5. Anders als die Begründung des Gesetzentwurfs es vorgibt, ist die Variante der Doppeltätigkeit im Sinne des § 656c BGB der praktische Regelfall und die Ab78 Viele praktische Probleme bei der Durchsetzung der maximal möglichen Provisionsteilung schließen sich an. Keine Ausnahme sieht das Gesetz etwa für den Fall vor, dass über das Vermögen derjenigen Partei, die den Maklervertrag abgeschlossen hat, ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Hierfür zu Recht der Bundesrat, BT-Drs. 19/15827, S. 29 f.; zur nicht bestehenden Fälligkeit des Zweitprovisionsanspruchs im Falle der Insolvenz des Erstauftraggebers siehe auch Meller-Hannich, MDR 5/2020, R5 (R7); D. Fischer, NJW 2020, 3553 (3557); gegen diese Risikoverteilung de lege ferenda: Würdinger, in: jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 656d Rn. 7. 79 S. dazu die Äußerung des damaligen Bundesministers der Justiz und für Verbraucherschutz Heiko Maas im Kontext einer Reform des Insolvenzanfechtungsrechts: Würdinger, KTS 2015, 315 m. w. N. 80 BT-Drs. 19/15827, S. 19.

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wälzungskonstellation des § 656d BGB der Ausnahmefall. Es ist kritikwürdig, dass der Umgehungsschutz des § 656d Abs. 1 Satz 2 BGB nur für den Ausnahmefall, nicht aber für den Regelfall vorgesehen ist. 6. Es ist zu erwarten, dass Verkäufer in vielen Fällen den Eigenanteil an der Courtage vorab auf den Kaufpreis aufschlagen. Sollte dies eintreten, erhöhen sich die Gesamtkosten für die Käufer. Das gesetzgeberische Ziel verkehrt sich in sein Gegenteil. 7. Ein effektiver Verbraucherschutz und eine effektive Absenkung der Erwerbsnebenkosten lassen sich im Maklerprovisionsrecht – sofern dies gewünscht ist – nur durch eine Deckelung der Provision verwirklichen. Dies könnte in der Abstufung einer Gebührenordnung geschehen. Alternativ sollte das Erfolgsprinzip fallen und durch ein klassisches Dienstleistungsmodell mit einer Vergütungsstruktur, die sich am konkreten Aufwand orientiert, ersetzt werden.81

81

S. dazu bereits Würdinger, NZM 2017, 545 (549 f.).

IV. Familien- und Erbrecht

Freiwillige Vormundschaft (Vorsorgevollmacht) und Notariatspraxis in Japan Von Makoto Arai

I. Einleitung Der Notar ist ein Beamter, der befugt ist, „Rechtsgeschäfte und andere, mit privaten Rechten zusammenhängende Tatsachen zu beurkunden“ (§ 1 und § 11 Notargesetz, im Folgenden „NG“ genannt). Die Rolle des Notars im Vormundschaftssystem für Volljährige besteht u. a. darin, Testamente zu erstellen, bei denen die unter Vormundschaft stehende Person (der Betreute) der Erblasser ist (§ 973 und § 982 Zivilrecht (im Folgenden „ZR“), sowie Scheidungsverträge und andere personenstandsbezogene Rechtsgeschäfte des Betreuten zu beurkunden. Seit Inkrafttreten des geltenden Vormundschaftsgesetzes für Volljährige am 1. April 2000 ist jedoch die notarielle Beurkundung der freiwilligen Vormundschaft (Vorsorgevollmacht) die wichtigste Tätigkeit des Notars im Zusammenhang mit dem Vormundschaftssystem für Volljährige. Im Folgenden soll die Situation der Notariatspraxis vorgestellt werden, mit Schwerpunkt auf der Frage, worauf der Notar bei der Beurkundung des Vertrags über die freiwillige Vormundschaft achtet und welche Anstrengungen er unternimmt, um einen Missbrauch des Systems zu verhindern.

II. Amtstätigkeiten des Notars Der Notar wird vom Justizminister ernannt und ist ein Staatsbediensteter, dessen Amtstätigkeiten darin bestehen, im Auftrag der Vertragsparteien notarielle Urkunden wie Verträge über Schuldentilgung, Mieten, Leistungen bei Ehescheidungen, freiwillige Vormundschaft (Vorsorgevollmacht) etc. sowie Testamente zu erstellen und private Dokumente wie Gesellschaftssatzungen etc. zu beglaubigen. Mit Stand November 2010 gab es japanweit 499 Notare, davon etwa 400 Personen mit juristischer Qualifikation, die über 30 oder mehr Jahre praktischer Erfahrung als Richter oder Staatsanwälte verfügten. Die übrigen Notare waren Personen, die viele Jahre in juristischen Berufen tätig waren, z. B. ehemalige Leiter von Büros für Rechtsangelegenheiten, deren Wissensstand und Erfahrungen denen von Richtern oder Staatsanwälten entsprechen.

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Der Notar übt seine Tätigkeit in seiner Geschäftsstelle (Notariat) aus, die sich im Zuständigkeitsbereich des Büros für Rechtsangelegenheiten oder des jeweiligen regionalen Büros für Rechtsangelegenheiten befindet, dem er zugehört. Landesweit gibt es ca. 290 Notariate. Grundsätzlich gilt, dass die Beurkundung im Notariat erfolgt. Während der Auftraggeber unabhängig von seinem Wohnsitz etc. jedes Notariat in Japan beauftragen kann, darf der Notar einen Auftraggeber in dessen Wohnung oder im Krankenhaus nur aufzusuchen, wenn diese in der Präfektur liegen, in der sich sein Notariat befindet (§ 17 NG). Für die Beurkundung muss der Auftraggeber eine Erstellungsgebühr zahlen. Die Höhe der Gebühr ist in der Notargebührenverordnung (Regierungsverordnung Nr. 224 vom 25. Juni 1993) geregelt.

III. Pflichten des Notars 1. Allgemeine Pflichten des Notars Gemäß dem Notargesetz und den Ausführungsbestimmungen zu demselben unterliegt der Notar folgenden Verpflichtungen: - Wird der Notar von einem Auftraggeber beauftragt, eine notarielle Urkunde zu erstellen, darf er den Auftrag nicht ablehnen, sofern kein triftiger Grund vorliegt (§ 3 NG). Lehnt der Notar den Auftrag ab, muss er auf Verlangen des Auftraggebers eine schriftliche Begründung ausstellen (§ 12 Ausführungsbestimmungen zum NG). - Der Notar darf keine Informationen über die von ihm bearbeiteten Fälle weitergeben (Verschwiegenheitspflicht, § 4 NG). - In Fällen, an denen der Notar eigene Interessen hat, darf er seine Amtstätigkeit nicht ausüben (§ 22 NG). - Der Notar darf keine Beurkundung von rechtswidrigen, nichtigen oder wegen eingeschränkter Fähigkeiten anfechtbaren Rechtsgeschäften vornehmen (§ 26 NG). - Wenn der Notar Zweifel an der Gültigkeit des beauftragten Rechtsgeschäfts oder an der wahren Absicht oder Fähigkeit der Parteien hat, muss er die Beteiligten darauf aufmerksam machen und von den betreffenden Personen die nötigen Erklärungen einfordern (§ 13 Ausführungsbestimmungen zum NG). Diese Pflichten sollen das Vertrauen in die notariellen Urkunden und das Notariatssystem sicherstellen. Dabei kommt insbesondere den unter 4) und 5) genannten Pflichten eine wesentliche Bedeutung zu.

Freiwillige Vormundschaft und Notariatspraxis in Japan

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2. Untersuchungspflicht des Notars Wie oben erläutert darf der Notar keine notariellen Urkunden über rechtswidrige, nichtige oder anfechtbare Rechtsgeschäfte erstellen. Wenn Zweifel an der Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts bestehen, ist er verpflichtet, die Beteiligten darauf aufmerksam zu machen und eine Erklärung zu verlangen. Andererseits enthält das Notargesetz weder Bestimmungen über aktive Untersuchungsbefugnisse des Notars, noch sind die Pflichten der Beteiligten hinsichtlich Erklärungen, Aussagen oder der Vorlage von Dokumenten oder Augenscheinobjekten etc. geregelt. Hierfür werden folgende Gründe angeführt: 1) Da der Notar die Aufgabe hat, rasch und einfach ein Schuldanerkenntnis (ohne Rechtskraft) auszustellen, ist in der Regel eine formelle Prüfung auf Grundlage der Anhörungen und der eingereichten relevanten Dokumente ausreichend. 2) Sofern keine besonderen Umstände vorliegen, dürfte es selten vorkommen, dass Sachverhalte beurkundet werden, bei denen Rechtswidrigkeits- oder Nichtigkeitsgründe vorliegen, da sich die Auftraggeber über den Inhalt des Vertrags einig sind. 3) Selbst wenn einmal eine ungültige Urkunde erstellt worden sein sollte, hat der Schuldner die Möglichkeit, ein Widerspruchsverfahren gegen die Forderung anzustrengen (§ 35 Zivilvollstreckungsgesetz). Hier stellt sich die Frage, in welchen Fällen von einem „Zweifel“ an der Gültigkeit des in § 13 der Ausführungsbestimmungen des Notargesetzes genannten Rechtsgeschäfts gesprochen werden kann und in welchem Umfang der Notar zur Untersuchung verpflichtet ist. 3. Beispiele aus der Rechtsprechung zur Untersuchungspflicht des Notars Es gab einen Fall in der Rechtsprechung, in dem staatliche Entschädigung gefordert wurde mit der Begründung, der Inhalt der Urkunde verstoße gegen das Gesetz und der Notar habe fahrlässig gehandelt, da er den Fall nicht eingehend untersucht habe. Dabei ging es um folgenden Sachverhalt: Notar Y hatte am 20. Mai 1987 im Auftrag von Genossenschaft A (Gläubiger), Schuldner B und dem Solidarbürgen C, ein Vereinbarungsdarlehen mit Zwangsvollstreckungs-Anerkennungsklausel beurkundet. Gegenstand des Quasi-Verbraucherdarlehens waren die Verbindlichkeiten von B aus dem Kauf von Kleidung etc. von einer Mitgliedsfiliale der Genossenschaft A. Vereinbart wurden die Rückzahlung des Kapitalbetrags in Teilzahlungen sowie Zinsen in Höhe von 15 % p. a. und Verzugsgebühren in Höhe von 30 % p. a. Die alte Schuld des Quasi-Verbraucherkredits bestand aus Auslagenzahlungsverbindlichkeiten und Kreditschulden. In den Auslagenzahlungsverbindlichkeiten waren jedoch Verzugsgebühren enthalten, die über den gesetzlichen Zinsen lagen und damit gegen § 30 Abs. 3 des Teilzahlungsgesetzes verstießen. Bei den Kreditschulden lag ebenfalls ein Rechtsverstoß vor, da der gegen das Zinsbegrenzungsrecht verstoßende Teil der bereits gezahlten Zinsen nicht auf das Kapital angerechnet wurde. Notar Y hatte vor der Beurkundung (1.) die von den Vertretern des jeweiligen Auftraggebers vorgelegten Vollmachten (in der notariell beglaubigten

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Vollmacht waren die Inhalte, die in der Urkunde aufgeführt werden sollten, konkret erwähnt) sowie die Siegelzertifikate geprüft. Er hatte jedoch zuvor (2.) bereits etwa 1985 die Gelegenheit gehabt, seine Meinung zu äußern, als die Genossenschaft A ihn um seinen Rat bezüglich eines Entwurfs für eine Vollmacht für die Beurkundung eines Quasi-Verbraucherdarlehensvertrags ersuchte, die sie als Standardformular einsetzen wollte. Bei dieser Gelegenheit hatte man ihm erläutert, dass die Genossenschaft im Vermittlungsgeschäft für Teilzahlungen tätig ist, allerdings wurde damals nicht angesprochen, dass sie Kreditgeschäfte betrieb.

Streitpunkt des Prozesses war die Frage, ob es ausreiche, dass der Notar nur die vorgelegten Vollmachten etc. prüft oder ob auch Umstände Gegenstand der Prüfung hätten sein müssen, von denen der Notar hätte Kenntnis erlangen können oder erlangen müssen, als er um die oben unter (2.) beschriebene Stellungnahme zum Entwurf des Standardformulars gebeten worden war. Das erstinstanzliche Gericht1 befand, dass der Notar die Pflicht habe, darauf zu achten, dass er keine rechtswidrigen notariellen Urkunden erstellt. Wenn bei der notariellen Prüfung auf Grundlage der vom Gläubiger vorgelegten Unterlagen der Verdacht aufkomme, dass ein Verstoß gegen das Gesetz oder ein ungültiges Rechtsgeschäft vorliegt, sei es eine Selbstverständlichkeit, dass der Notar beispielsweise vom Gläubiger die nötigen Erklärungen verlange. Dies gelte aber auch für den Fall, dass dem Notar im Zuge der notariellen Bearbeitung des Auftrags und/oder einer vorangegangenen Bearbeitung Umstände bekannt werden bzw. wurden, die einen Verdacht für einen möglichen Rechtsverstoß aufkommen lassen. Darüber hinaus sei Notar Y bekannt gewesen, dass Genossenschaft A in der Ratenkauf-Vermittlung tätig war, und da ferner in der Vollmacht „Verbindlichkeiten aus Kleidungskäufen von Mitgliedsgeschäften des Gläubigers“ aufgeführt waren, hätte er Verdacht schöpfen müssen, dass in den Altschulden Transaktionen enthalten waren, die unter die Regelungen von § 30 Abs. 3 des Teilzahlungsgesetzes fallen, und dies prüfen müssen. Das Gericht erkannte somit eine Fahrlässigkeit des Notars an. Auch im Berufungsurteil des Falles2 wurde die Fahrlässigkeit von Notar Y anerkannt. Das Gericht befand, dass Y die Pflicht gehabt hätte, zum Zeitpunkt, als ihn Genossenschaft A um eine Stellungnahme zum Standardformblatt für die Vollmacht gebeten hatte, z. B. von den Zuständigen der Genossenschaft die Vorlage von Unterlagen zu verlangen, wie Informationen über Beitritt, Mitgliedschaft oder Aufnahmeanträge in die Genossenschaft etc., um sich ein Bild von den Geschäften der Genossenschaft mit ihren Kunden zu machen. Wäre er dieser Pflicht nachgekommen, hätte er die Inhalte der Ratenkaufvermittlungstätigkeit klar erfassen und sich vergewissern können, dass die Verbindlichkeiten (Altschuld) Anzahlungen enthielten, die unter die Bestimmungen des Teilzahlungsgesetzes fallen.

1 2

Landgericht Kushiro, Urt. v. 25. 5. 1993, Hanrei jiho¯ (Hanji) Nr. 1477, S. 129. Obergericht Sapporo, Urt. v. 31. 5. 1994, Hanji Nr. 1562, S. 63.

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Demgegenüber verneinte das Urteil der Revisionsinstanz3 die Fahrlässigkeit von Notar Y. Als Grund für die Entscheidung führte das Gericht aus, dass es für einen Notar ausreichend sei, bei der Erstellung einer notariellen Urkunde die Tatsachen zu prüfen, die er tatsächlich selbst erfahren habe, wie z. B. Tatsachen, von denen er durch die Aussagen, die er gehört habe, Kenntnis erlangt habe, sowie Tatsachen, die er bei der früheren Ausübung von Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem betreffenden Auftrag tatsächlich erfahren habe. Nur wenn daraus der „konkrete Verdacht“ resultiere, dass das Rechtsgeschäft rechtwidrig, nichtig oder wegen mangelnder Fähigkeit anfechtbar sein könnte, sei der Notar zur aktiven Untersuchung verpflichtet, indem er z. B. vom Auftraggeber oder anderen Beteiligten die nötigen Erklärungen verlangt. Im vorliegenden Fall könnte man jedoch nicht behaupten, dass ein „konkreter Verdacht“ auf einen Rechtsverstoß o. ä. vorgelegen habe. Allgemein könne man weder behaupten, dass allein die Tatsache, dass der Auftraggeber ein Geldverleiher sei, einen „konkreten Verdacht“ begründe, dass bei der früheren Schuld des Quasi-Verbraucherkredits ein Verstoß gegen das Zinsbegrenzungsgesetz vorliege. Ebenso wenig sei die Tatsache, dass der Auftraggeber ein Kreditunternehmen sei, ausschlaggebend für einen „konkreten Verdacht“, dass bei der Altschuld ein Verstoß gegen das Teilzahlungsgesetz vorliege. Nach Auffassung des Revisionsgericht sei es unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ein Notar anders als ein Richter keine endgültige Entscheidung treffe und eine Beurkundung erst erfolge, wenn der Notar die einstimmige Erklärung beider Parteien persönlich gehört habe, ausreichend, wenn er als Notar Dokumente zu den Erklärungen der Beteiligten und anderen Sachverhalten prüfe, von denen er im Zusammenhang mit der Erstellung der Urkunde (§ 35 NG) erfahren habe, sowie damit eng zusammenhängenden Sachverhalten, von denen er im Zuge der Ausübung seiner Tätigkeit in der Vergangenheit erfahren habe. Das Gericht kam zwar zu dem Schluss, dass die Tatsache, dass der Notar im Vorfeld bezüglich des Standardformulars für die Vollmacht konsultiert worden war, auch als „eng zusammenhängender Sachverhalt, den der Notar im Zuge der Ausübung seiner Tätigkeit in der Vergangenheit erfahren habe“, ausgelegt werden könne. Abgesehen von Fällen jedoch, in denen der Auftraggeber zum Zeitpunkt der Konsultation seine Absicht erklärt habe, ein Rechtsgeschäft beurkunden lassen zu wollen, das nichtig o. ä. sei, könne man nicht so weit gehen, zu verlangen, dass der Notar auch noch in Fällen, in denen eine solche Erklärung nicht gegeben wurde, weitere aktive Untersuchungen anstrengen müsse, indem er z. B. die Vorlage von Aufnahme-/Beitrittsinformationen etc. fordert.4 Hier stellt sich allerdings die Frage, ob diese Einstellung der Revisionsinstanz in Bezug auf die Untersuchungspflicht des Notars ohne Weiteres auch auf die Beurkun3

Oberster Gerichtshof, Urt. v. 4. 9. 1997, Minshu Bd. 51, Nr. 8, S. 3718, Hanji Nr. 1617, S. 77, Hanrei Taimuzu (Hanta) Nr. 953, S. 86, und Kinho Nr. 1503, S. 83. 4 Hiroshi Noyama, Saikosaibansho hanrei kaisetsu, Minjihen (Erläuterungen zu Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, Zivilrecht) 1997, S. 1143.

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dung eines freiwilligen Vormundschaftsvertrags (Vorsorgevollmacht) anwendbar ist. Sollte nicht in Anbetracht der Tatsachen, dass a) die beteiligten Parteien eines Vertrags über eine freiwillige Vormundschaft, insbesondere der Vollmachtgeber, in vielen Fällen bereits älter sind, b) die freiwillige Vormundschaft das zukünftige Leben des Vollmachtgebers bestimmt, und c) für den Vertragsabschluss bewusst die Einbeziehung eines Notars gefordert wird, sofern es um die Erstellung einer Vorsorgevollmacht geht, eine Richtlinie erarbeitet werden, die klar darlegt, in welchen Fällen der Umfang der Untersuchungspflicht erweitert und die Beurkundung verweigert werden kann? Ein notariell beurkundeter Vertrag über eine freiwillige Vormundschaft (Vorsorgevollmacht) unterscheidet sich in seiner Bedeutung von anderen notariellen Urkunden, die dazu dienen, rasch und einfach einen Schuldtitel auszustellen.

IV. Freiwillige Vormundschaft und Notariatspraxis 1. Vertrag über eine freiwillige Vormundschaft (Vorsorgevollmacht) Der Vertrag über eine freiwillige Vormundschaft ist ein Vollmachtsvertrag, bei dem der Vollmachtgeber dem Bevollmächtigten (Person, die später der freiwillige Vormund wird) die Vertretungsmacht über sämtliche oder einen Teil der Angelegenheiten des Vollmachtgebers im Zusammenhang mit dessen persönlichen Leben, der Gesundheitssorge sowie seiner Vermögensverwaltung erteilt, für den Fall, dass der Vollmachtgeber aufgrund von psychischen Störungen wie Demenz, geistiger oder seelischer Behinderung etc. über keine ausreichende Einsichts- und Urteilsfähigkeit mehr verfügt. Dem Vollmachtsvertrag ist ein Sondervertrag beigefügt, der festlegt, dass der Vollmachtsvertrag wirksam wird, wenn eine Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund berufen wurde. (§ 2 Nr. 1 Gesetz über den freiwilligen Vormundschaftsvertrag, im Folgenden „GfV“). Voraussetzung für die Berufung einer Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund ist eine unzureichende Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Darunter versteht man Umstände, die dazu geführt haben, dass der Vollmachtgeber unter eine der Kategorien der gesetzlichen Vormundschaft (Vormundschaft, Pflegschaft, Beistandschaft) fällt. Es müssen zumindest die Voraussetzungen für den Beginn einer Beistandschaft (§ 15 Abs.1 ZGB) erfüllt sein. 2. Freiwilliger Vormundschaftsvertrag und Einbeziehung eines Notars Bei einem freiwilligen Vormundschaftsvertrag ist die notarielle Beglaubigung des Vertragsabschlusses zwingend notwendig (§ 3 GfV). Gründe für die Einbeziehung eines Notars am Vertragsabschluss sind: - Durch die Einbeziehung eines Notars wird ein rechtmäßiger und gültiger Vertrag nach dem wahren Willen des Betroffenen abgeschlossen. Ferner ermöglicht dies

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einen sicheren Nachweis der Gültigkeit des Vertrages und beugt Streitigkeiten effektiv vor. - Beim Abschluss eines freiwilligen Vormundschaftsvertrags muss der wahre Wille des Betroffenen bestätigt werden. Der Vertragsabschluss hat die schwerwiegende Rechtsfolge, dass grundsätzlich keine gesetzliche Vormundschaft eingeleitet wird. Es bedarf daher einer zuverlässigen Methode, um den wahren Willen der Person zu bestätigen, weshalb ein Notar einbezogen wird. - Da das Original der notariellen Urkunde in der Geschäftsstelle des Notars (Notariat) aufbewahrt wird, wird verhindert, dass die Vertragsurkunde gefälscht wird oder verloren geht. - Da der Notar die Registrierung des freiwilligen Vormundschaftsvertrags beauftragt, ist eine sichere Registrierung gewährleistet. Die Registrierung eines freiwilligen Vormundschaftsvertrags ist wichtig, da sie eine notwendige Voraussetzung ist, wenn öffentliche Stellen das Bestehen und/oder den Umfang der Vertretungsmacht des freiwilligen Vormunds bescheinigen oder wenn bei der Untersuchung eines Antrags auf Einleitung einer gesetzlichen Vormundschaft geprüft wird, ob ein Vertrag über eine freiwillige Vormundschaft existiert. - Dadurch, dass der Vertrag notariell beglaubigt ist, wird deutlich, dass es sich um einen Vertrag über eine freiwillige Vormundschaft handelt, der mit der Aufsicht durch eine öffentliche Behörde einhergeht und sich darin von einem Vollmachtsvertrag für eine allgemeine freiwillige Vertretung unterscheidet.

3. Praxis der Vertragsabschlüsse von freiwilligen Vormundschaftsverträgen Die Praxis der Vertragsabschlüsse durch Notare sieht wie folgt aus: a) Vorkonsultationsphase Die Beurkundung beginnt zunächst mit einer Vorkonsultation. Beratungsanfragen zu freiwilligen Vormundschaftsverträgen können vom Vollmachtgeber selbst, von Verwandten, Rechtsanwälten, Justizschreibern (shiho shoshi5), und anderen Beteiligten kommen. Der Notar befragt den/die Ratsuchenden über den wahren Willen des Betroffenen und erläutert den Inhalt des Vertrages anhand eines von der Japanischen Notarkammer JNNA erstellten Mustervertrags. Dabei legt der Notar auch dar, dass ein Mandat nur für Rechtsgeschäfte erteilt werden kann, die „Angelegenheiten sind, die das persönliche Leben, medizinische Behandlung/Pflege sowie die Vermögensverwaltung betreffen“. Folglich können tatsächliche Pflege- und andere Realakte nicht durch einen freiwilligen Vormundschaftsvertrag abgedeckt werden, sondern erfordern eine Vollmacht oder eine Quasi-Vollmacht, wobei es jedoch möglich ist, sol5

Der shiho shoshi erstellt Dokumente für Registrierungen.

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che Vertragspunkte in dieselbe notarielle Urkunde mit aufzunehmen. Außerdem informiert der Notar den Mandanten bei der Vorkonsultation auch über die erforderlichen Dokumente und die Gebühren. Für den Vertrag sind ein Auszug aus dem Familienregister, eine Meldebescheinigung, ein Zertifikat der Siegelregistrierung und das amtlich registrierte Siegel des Vollmachtgebers erforderlich sowie eine Meldebescheinigung, ein Zertifikat der Siegelregistrierung und das amtlich registrierte Siegel des Bevollmächtigten. Die Gebühren für die Beurkundung eines freiwilligen Vormundschaftsvertrags belaufen sich auf 11.000 Yen pro Fall, unabhängig von Honorarfestlegungen. Zusätzlich fallen noch eine Registrierungsgebühr von 4.000 Yen und Gebühren für den Registrierungsauftrag von 1.400 Yen an. Bei Übergangsverträgen wird eine Gebühr für den Teil des Vollmachtvertrags aufgeschlagen. b) Vertragsabschlussphase Grundsätzlich muss der Notar beim Abschluss des Vertrags den Vollmachtgeber persönlich befragen.6 In der Praxis spricht der Notar in sämtlichen Fällen mit dem Vollmachtgeber persönlich. Er befragt den Vollmachtgeber sowie den Bevollmächtigten und prüft dabei im Wesentlichen die Fähigkeit und den Willen des Vollmachtgebers für den Vertragsabschluss. Es wird auch von Fällen berichtet, in denen der Notar zur Bestätigung der Vertragsfähigkeit des Vollmachtgebers diesen im Vorfeld zu Hause aufsucht, um sich von seinen Fähigkeiten zu überzeugen und daraufhin erst die Urkunde erstellt.7 Zur Prüfung der Vertragsfähigkeit können auch ärztliche Atteste und Testergebnisse nach der Hasegawa-Demenz-Skala als Referenz herangezogen werden. Bei der Bestätigung des Vertragswillens befragt der Notar den Betroffenen zu seinem Vermögen, seinen Lebensplänen für die Zukunft und seiner Lebensbeziehung zu dem Bevollmächtigten, prüft aber auch, ob der Betroffene wirklich aus eigenem Willen den Vertrag abschließen will und nicht von anderen in ungerechtfertigter Weise beeinflusst wurde. In Fällen, in denen es Probleme in der Beziehung des Vollmachtgebers zum Bevollmächtigten geben könnte, macht der Notar den Betroffenen darauf aufmerksam, und verlangt eine Erklärung etc. Es kommt auch vor, dass der Notar bei unangemessen hohen Vergütungsversprechen den Vollmachtgeber veranlasst, die Vergütung herabzusetzen. Bleiben Zweifel an der Vertragsfähigkeit des Betroffenen bestehen, wird meist empfohlen, einen Antrag auf gesetzliche Vormundschaft zu stellen.

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Mitteilung des Ministerialdirektors des Büros für zivile Angelegenheiten des Justizministeriums Ziv.1 Nr. 634 v. 13. 3. 2000, „Behandlung von notariellen Angelegenheiten im Zusammenhang mit Inkrafttreten des Gesetzes über die teilweise Reform des Zivilrechts“ Nr. 2 – 1. 7 Yoshisada Matsuno, Nini kokenkeiyaku teiketsu no jitsujo to mondaiten (Tatsachen und Probleme beim Abschluss freiwilliger Vormundschaftsverträge), Kosho Nr. 135, S. 13.

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Bei der Beurkundung verliest der Notar die Vertragsklauseln und das Verzeichnis der Vertretungsbefugnisse und erläutert den Inhalt jedes einzelnen Paragraphen in leicht verständlicher Sprache. c) Aufbewahrung des ärztlichen Attests und des Protokolls über den Zustand des Betroffenen Bestehen Zweifel an den Fähigkeiten des Betroffenen, wird zur Beweissicherung für den Fall, dass es zu einem Rechtsstreit oder einer Gerichtsentscheidung über die Gültigkeit des Vertrags über die freiwillige Vormundschaft kommt, die Vorlage eines ärztlichen Attests gefordert. Dieses bescheinigt, dass der Betroffene über ausreichende Fähigkeiten verfügt, um den Charakter und die Folgen des Vertrages zu verstehen, und wird zusammen mit der Originalurkunde aufbewahrt. Alternativ wird ein sonstiges Dokument erstellt, in dem der Zustand des Vollmachtgebers dargelegt wird, und dieses zusammen mit der Originalurkunde aufbewahrt. Damit wird der Forderung unter Punkt 3 (1) Nr. i der o. g. 2. Mitteilung des Ministerialdirektors des Büros für Zivilangelegenheiten entsprochen. d) Belehrung etc. des Vollmachtgebers und der Bevollmächtigten Bei der Erstellung des notariell beglaubigten, freiwilligen Vormundschaftsvertrags belehrt der Notar den Vollmachtgeber und den Bevollmächtigten gemäß der Mitteilung des Ministerialdirektors des Büros für zivile Angelegenheiten über die folgenden Punkte: - Liegt ein in den Vorbehalten unter § 4 Abs. 1 des Gesetzes über den freiwilligen Vormundschaftsvertrag geregelter Grund vor, ist es nicht möglich, eine Aufsichtsperson für den freiwilligen Vormund zu ernennen (der Vertrag über die freiwillige Vormundschaft wird nicht wirksam). - Ändert sich der Name, die Anschrift, der familienrechtliche Wohnsitz o. ä. des Vollmachtgebers oder des Bevollmächtigten (freiwilliger Vormund), muss die Änderung eingetragen werden. - Eine Vertragsaufhebung vor Ernennung einer Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund muss schriftlich von einem Notar beglaubigt werden; eine Aufhebung nach Ernennung erfordert die Genehmigung des Familiengerichts. - Wird der freiwillige Vormundschaftsvertrag aufgehoben, muss – unabhängig davon, ob bereits eine Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund bestellt wurde oder nicht – die Eintragung der Vertragsbeendigung beantragt werden. - Bei Beantragung der Eintragung der Beendigung der freiwilligen Vormundschaft aufgrund der Aufhebung des freiwilligen Vormundschaftsvertrags muss der anderen Vertragspartei das Originaldokument zugestellt werden, in dem der Wille zur einvernehmlichen Aufhebung bekundet wird (bei Aufhebung vor Bestellung einer

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Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund muss das Dokument vom Notar beglaubigt sein). Ferner muss als Anlage des Antrags auf Eintragung bei der Registrierungsstelle ein Dokument beigefügt werden, das die Zustellung belegt (z. B. eine Kopie der „Postsendung mit Inhaltsbestätigung“ mit einem Zustellungsvermerk). - Wird ein Antrag auf Registrierung der Beendigung der freiwilligen Vormundschaft durch einvernehmliche Aufhebung gestellt, ist das Originaldokument, in dem der Wille zur Aufhebung dargelegt ist (wird der Vertrag vor der Bestellung einer Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund aufgehoben, muss das Dokument vom Notar beglaubigt sein), oder eine beglaubigte Abschrift desselben als Anlage den Eintragungsantragsunterlagen beizufügen und bei der Registrierungsstelle mit einzureichen. Zusätzlich zu den o. g. Punkten belehrt der Notar auch darüber, dass eine Eintragung erforderlich ist, wenn der Vertrag wegen Todes einer Partei beendet wird.

V. Bemühungen zur Verhinderung des Missbrauchs der freiwilligen Vormundschaft 1. Missbrauch des Systems Häufig wird zeitgleich mit dem Vertrag über die freiwillige Vormundschaft ein normaler Bevollmächtigungsvertrag in Form eines Vermögensverwaltungsvertrags abgeschlossen. Man spricht in diesem Fall von einem Übergangsvertrag zur freiwilligen Vormundschaft, bei dem zwei Verträge mit einer einzigen notariellen Urkunde abgeschlossen werden können. Dieser „Übergangsvertrag“ hat den Vorteil, dass die Vermögenssorge beginnt, bevor die Urteilsfähigkeit des Vollmachtgebers abnimmt. Dieser Vertragstyp wird u. a. verwendet, wenn der Vollmachtgeber körperlich behindert und in seinen Alltagsaktivitäten eingeschränkt ist, wenn er aufgrund von Krankheit nahezu bettlägerig ist und die Geldverwaltung und Zahlungen im Alltag schwierig sind, oder wenn der Betroffene sich in einer Einrichtung oder im Krankenhaus befindet und während des Krankenhausaufenthalts sein Vermögen nicht selbst verwalten kann. Wenn ein normaler Bevollmächtigungsvertrag einmal abgeschlossen wurde, endet er nicht automatisch, selbst wenn der Vollmachtgeber Symptome wie Demenz etc. entwickelt und sein Urteilsvermögen abnimmt. So gibt es bereits einige böswillige Fälle, in denen vorsätzlich keine Bestellung einer Aufsichtsperson für den freiwilligen Vormund beantragt wurde, obwohl die Urteilsfähigkeit des Vollmachtgebers nachgelassen und er ein Stadium erreicht hatte, in dem man auf den freiwilligen Vormundschaftsvertrag hätte übergehen müssen. Der betreffende Vormund hatte sich die für ihn glückliche Tatsache zunutze gemacht, dass es keine Aufsichtsperson gab und das Vermögen des Betroffenen veruntreut.

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Um derartigen Missbrauch des Systems zu verhindern, hat die Japanische Notarkammer JNNA über Vorbeugungsmaßnahmen beraten und im März 2008 eine Broschüre mit dem Titel „In der Praxis zu beachtende Aspekte bei der Beurkundung von Bevollmächtigungsverträgen wie Übergangsverträgen zur freiwilligen Vormundschaft u. a. unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Missbrauchsgefahren“ (im Folgenden „Praxisleitfaden“) erarbeitet, die an alle Notare verteilt wurde. Bei der Beratung über vorbeugende Maßnahmen wurden Notare befragt, die verhältnismäßig häufig mit freiwilligen Vormundschaftsverträgen befasst sind. Der erwähnte „Praxisleitfaden“ schildert Missbrauchsfälle, die die Notare bei der Ausübung ihrer Amtstätigkeit kennengelernt haben. Einige Beispiele sollen hier vorgestellt werden: - Eine Mutter hatte einen Übergangsvertrag abgeschlossen, der ihren Sohn als Bevollmächtigen vorsah, der bevollmächtigte Sohn hatte jedoch vor dem Übergang in die freiwillige Vormundschaft das Vermögen seiner Mutter veräußert und war danach verschwunden. - Einige Monate nachdem der Bevollmächtigte (älterer Bruder) einen Übergangsvertrag mit dem Vollmachtgeber (jüngerer Bruder) abgeschlossen hatte, meldete ein Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung, dass der ältere Bruder Geld vom Konto des jüngeren Bruders abgehoben habe und es für sich selbst zu verwenden scheine. Nach Rücksprache mit dem Leiter des Pflegeheims wurde dem jüngeren Bruder die Situation erläutert, der o. g. Vertrag aufgehoben und ein neuer Vertrag (Zukunftsvertrag) abgeschlossen, der einen Justizschreiber (Rechtsbeistand) als Bevollmächtigten vorsah. - Der Vollmachtgeber (Angestellter im Ruhestand) suchte Rat bei einem Notar, da er den Übergangsvertrag, der seinen (früheren) Arbeitgeber als Bevollmächtigten vorsah, aufheben wollte, aus Sorge, dass der Arbeitgeber auch die Rente etc. an sich nehmen könnte. Der Notar hatte ihn daraufhin in das Verfahren eingewiesen und auf seinen nächsten Besuch gewartet, der Vollmachtgeber kam jedoch nie wieder. In Fällen, in denen eine Person als Bevollmächtigter eingesetzt wird, die sich bereits auf den ersten Blick in einer stärkeren Position befindet, ist Vorsicht geboten. - Der Vollmachtgeber hob den gesamten Vertrag auf, da der Bevollmächtigte das Vermögen des Vollmachtgebers für private Zwecken zweckentfremdet hatte. Zwar wäre es schwierig gewesen, diese Missbräuche in der Vertragsphase vorherzusehen, aber die Fälle zeigen, auf was der Notar hätte achten sollen und liefern somit Fragen für die künftige Diskussion. 2. Maßnahmen des Notars zur Vermeidung von Missbrauch des Systems Im o. g. „Praxisleitfaden“ fordert der Rechtsausschuss der Japanischen Notarkammer JNNA die Umsetzung folgender Maßnahmen, die vom Notar ergriffen werden können.

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a) Konsequente Prüfung der Willensfähigkeit Als Maßstab für die für den Abschluss eines Übergangsvertrags erforderliche Urteilsfähigkeit werden drei Punkte angeführt: der Vollmachtgeber muss (1.) einen Überblick über sein Vermögen haben und dem Bevollmächtigten Erläuterungen dazu geben können, (2.) die Bedeutung der Vollmachtsübertragung für die Verwaltung seines Vermögens verstehen und (3.) Berichte über die Vermögensverwaltung lesen und verstehen können und in der Lage sein, die darin aufgeführten Inhalte mit dem tatsächlich vorhandenen Vermögen und der realen Bilanz zu vergleichen.8 Auch der erwähnte „Praxisleitfaden“ solle sich an diesen Punkten orientieren. Bei den sogenannten „freiwilligen Vormundschaftsverträgen mit Sofortwirkung“ ist es möglich, einen freiwilligen Vormundschaftsvertrag abzuschließen, selbst wenn der Betroffene der Beistandschaft unterliegt (unter Umständen auch Personen, die unter Pflegschaft stehen) und leicht dement, geistig behindert oder psychisch gestört ist, sofern er zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses willensfähig ist. Möglich ist auch, dass der Betroffene von Anfang an Schutz durch den freiwilligen Vormund in Anspruch nimmt, wenn unmittelbar nach Vertragsabschluss auf Antrag des Betroffenen oder des bevollmächtigten freiwilligen Vormunds eine Aufsichtsperson für die freiwillige Vormundschaft bestellt wird.9 Allerdings ist auch in einem solchen Fall zu beachten, dass die o. g. Maßstäbe angewendet werden. Insbesondere bei Personen unter Pflegschaft ist ein vorsichtiges Vorgehen bei der Beurteilung der Fähigkeiten der betreffenden Person geboten. Hegt der Notar Zweifel an der Urteilsfähigkeit des Vollmachtgebers, sollte er gegebenenfalls einen Arzt bitten, der Prüfung beizuwohnen oder die Vorlage eines ärztlichen Attests verlangen, um die Urteilsfähigkeit zu bestätigen und als Vorsorge für eventuelle spätere Streitfälle eine Zusammenfassung des Bestätigungsverfahrens erstellen und aufbewahren. b) Konsequente Prüfung des Vertragswillens Der erwähnte „Praxisleitfaden“ weist darauf hin, dass der Notar zunächst den Willen des Vollmachtgebers bestätigen sollte, d. h. was dieser durch den Abschluss eines Übergangsvertrags zur freiwilligen Vormundschaft von dem Bevollmächtigten erwartet. Das dem Text beigefügte Verzeichnis über die Vertretungsbefugnisse verleiht dem Bevollmächtigten meist umfassende Vertretungsbefugnisse. Der Notar sollte jedoch sorgfältig prüfen, ob diese weit gefasste Ermächtigung der wahren Intention des Voll8 Makoto Arai, Yasuhiro Akanuma, Masao Onuki ed. „Seinenkokenseido ho no riron to jitsumu (Das Vormundschaftssystem – Rechtstheorie und -praxis)“, Yuhikaku Publishing Co., Ltd. 2006, S. 333. 9 Akihiko Kobayashi et al., „Heisei 11 nen Minpo ichibu kaiseiho nadono keisetsu (Erläuterungen zur teilweisen Reform des Zivilrechts 1999)“, Hosokai 2002, S. 393.

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machtgebers entspricht und gegebenenfalls den Betreffenden anleiten, den Umfang der Vertretungsbefugnisse einzuschränken. c) Eignung des Bevollmächtigten Hinsichtlich der Eignung des Bevollmächtigten ist zu prüfen, ob ein Vertrauensverhältnis zum Vollmachtgeber besteht und der Betreffende in der Lage ist, die Angelegenheiten gemäß dem Inhalt und Zweck der Vollmacht auszuführen. Liegt ein Grund gemäß Vorbehalt Nr. 3 unter § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über den freiwilligen Vormundschaftsvertrag vor, kann keine Aufsichtsperson für den freiwilligen Vormund ernannt werden. Die ebenfalls unter Nr. 3 beschriebenen „Personen, die wegen Fehlverhaltens, erheblich schlechten Benehmens oder aus anderen Gründen nicht für die Aufgabe eines freiwilligen Vormunds geeignet sind“ (Nichteignungsgründe), gelten auch für die Aufgabe des Bevollmächtigten als nicht geeignet. In welchem Maße muss der Notar diese Nichteignungsgründe untersuchen? Der erwähnte „Praxisleitfaden“ empfiehlt, dass der Notar dem Vollmachtgeber und dem Bevollmächtigten gegenüber erläutert, dass bei Vorliegen derartiger Gründe der Vertrag über die freiwillige Vormundschaft keine Wirkung entfaltet. Für den Fall, dass sich Vollmachtgeber, Bevollmächtigter, oder andere Beteiligte melden, sollen die Beteiligten angehört und dann eine Entscheidung getroffen werden. Auch hier gilt wie oben: Wenn die Beteiligten nicht bereit sind, sich befragen zu lassen, ist nichts daran zu ändern, dass die Beurteilung nur auf Basis von begrenzten Informationen erfolgen kann. d) Begrenzung des Umfangs der Vertretungsmacht Um Missbrauch zu verhindern, sollte der Umfang der Vertretungsmacht auf Aufbewahrungs- und Verwaltungshandlungen wie die Verwaltung von Banktransaktionen im Zusammenhang mit Bankeinlagen für das tägliche Leben und die Aufbewahrung von wichtigen Unterlagen etc. sowie die Personensorge – mit Ausnahme von Vertragsabschlüssen zur Aufnahme in Pflegeeinrichtungen (z. B. kostenpflichtige private Altersheime), die mit hohen Einmalzahlungen einhergehen – begrenzt werden. In Bezug auf Banktransaktionen sind Sicherheitsmaßnahmen denkbar, wie 1) Festlegung eines Höchstbetrags für Auszahlungen aus dem Bankkonto, 2) Festlegung eines Kontos für Zahlungen des täglichen Lebens etc.

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e) Konzepte für den Beginn des Vollmachtsvertrags Selbst bei einem Vollmachtsvertrag ist es möglich, den Vertrag so zu gestalten, dass er nicht in Kraft tritt, solange der Vollmachtgeber bei guter Gesundheit ist und seine Gültigkeit sich erst entfaltet, wenn die Lage es erforderlich macht. Hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns der Vermögenssorge sind auf den jeweiligen Fall abgestimmte Konzepte gefragt, wobei verschiedene Optionen denkbar sind: (1.) Beginn ab einem zwischen Vollmachtgeber und Bevollmächtigtem vereinbarten Datum, (2.) Beginn nach Ablauf einer gewissen Zeit oder ab dem Tag, an dem der Vollmachtgeber ein bestimmtes Alter erreicht, (3.) Begrenzung der Gültigkeitsdauer des Vertrags auf einen bestimmten Zeitraum, z. B. während eines Krankenhausaufenthaltes, etc. f) Klare Regelung der Pflichten des bevollmächtigten freiwilligen Vormunds Missbrauch bei Übergangsverträgen zur freiwilligen Vormundschaft tritt häufig auf, wenn, auch nachdem die Urteilsfähigkeit des Vollmachtgebers abgenommen hat, nichts unternommen und keine Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund benannt wird. Der o. g. Praxisleitfaden merkt dazu an, dass im Vertrag klar festgehalten werden sollte, dass der Bevollmächtigte verpflichtet ist, umgehend einen Antrag auf Ernennung einer Aufsichtsperson zu stellen, wenn die Notwendigkeit eintritt, zur freiwilligen Vormundschaft überzugehen. g) Klausel, die den Verlust der Willensfähigkeit des Vollmachtgebers als Grund für das Erlöschen der Vertretungsmacht des freiwilligen Vertretungsvertrags festlegt Selbst wenn der Vollmachtgeber seine Willensfähigkeit verliert, endet nach herrschender Meinung weder das Mandat, noch erlöschen die Vertretungsbefugnisse des freiwilligen Vormunds. Es wird jedoch weithin die Ansicht vertreten, dass mit dem Inkrafttreten der freiwilligen Vormundschaft die Bestimmungen so auszulegen sind, dass der Vollmachtsvertrag durch Verlust der Urteilsfähigkeit des Vollmachtgebers endet und der Schutz des Betreffenden danach nur im Rahmen der freiwilligen Vormundschaft möglich ist.10 Es wäre logisch, anzunehmen, dass ein Vollmachtgeber, der einen Vertrag über die freiwillige Vormundschaft abgeschlossen hat, davon ausgeht, dass im Fall, dass eine Beeinträchtigung seines Urteilsvermögens auftritt, eine Aufsichtsperson über den freiwilligen Vormund bestellt wird und die Vermögensverwaltung ab diesem Zeitpunkt nicht auf Grundlage des freiwilligen Vertretungsvertrages, sondern auf Grundlage des Vertrags über die freiwillige Vormundschaft erfolgen sollte. Bei den Beratungen über Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung geht es daher 10 Makoto Arai, Ninikokenseido no genjo to kadai (Aktueller Stand und Herausforderungen des freiwilligen Vormundschaftssystems), Adult Guardianship Law Review Nr. 4, S. 18.

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darum, eine Klausel zu formulieren, die den Verlust der Urteilsfähigkeit des Bevollmächtigten als Grund für das Erlöschen der Vertretungsbefugnisse definiert. Wenn auch nach Erlöschen der freiwilligen Vertretungsbefugnisse kein Übergang in die freiwillige Vormundschaft erfolgt und Vermögen veräußert wird o. ä. wird es möglich, den Bevollmächtigten als unberechtigten Vertreter haftbar zu machen (§ 117 ZGB). h) Bestellung einer Aufsichtsperson Es gibt Ansätze, auch im Stadium des Vollmachtsvertrags eine Aufsichtsperson einzusetzen, um Missbrauch zu verhindern. Dabei wird unterschieden zwischen Fällen, in denen die Aufsichtsperson Vertragspartei wird, und anderen Fällen, in denen sie nicht Vertragspartei wird. Im ersteren Fall ist die Aufsichtsperson auch gegenüber dem Vollmachtgeber verpflichtet, den Bevollmächtigten zu überwachen. Letztere Konstellation bezeichnet Fälle, in denen die Aufsichtsperson gegenüber dem Vollmachtgeber nicht verpflichtet ist, den Bevollmächtigten zu überwachen, sondern nur gegenüber dem Bevollmächtigten nach Bedarf Ratschläge oder Anleitung geben kann. Würde eine Aufsichtsperson, die nicht Vertragspartei ist, über den Status der Abwicklung von Geschäftsangelegenheiten (des Vollmachtgebers) informiert, wäre dies eine Offenlegung der personenbezogenen Informationen des Vollmachtgebers. Aus diesem Grund wird es als notwendig angesehen, bei der Offenlegung von vertraulichen Informationen dem Vollmachtgeber die Situation zunächst eingehend zu erläutern und seine Zustimmung einzuholen. 3. Bemühungen der Notare Im Folgenden soll anhand der Antworten auf die o. g. Umfrage ein Überblick darüber gegeben werden, worauf die Notare in der Praxis bei Abschluss der Verträge achten. Folgendes wurde aus der Praxis berichtet: - Der Notar erläutert in einem persönlichen Gespräch ausführlich die Pflichten des Bevollmächtigten und beurteilt die Motivation, die Fähigkeit und die Qualifikation des Betreffenden für die Erfüllung dieser Aufgaben. - Falls nicht erkennbar ist, ob der Bevollmächtigte wirklich die Absicht hat, den Betroffenen im Alltagsleben und/oder der Gesundheitssorge zu unterstützen oder die Wahrscheinlichkeit dafür gering ist, wird die Beurkundung abgelehnt. - Wenn der Wille des Betroffenen, eine Vollmacht zu erteilen, stark ist und der Notar die Beurkundung nicht ablehnen kann, bemüht er sich, möglichst mehrere Bevollmächtigte einzusetzen und/oder den Umfang der Vollmacht erheblich einzuschränken. - Handelt es sich bei dem Bevollmächtigten um ein Familienmitglied oder einen nahen Verwandten, bemüht sich der Notar, möglichst viele Details über die Fami-

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lien- und Wohnverhältnisse zu erfahren. Wenn Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln in Anwesenheit des Vollmachtgebers sowie des Bevollmächtigten gestellt werden, kristallisiert sich relativ gut heraus, ob die betreffende Person sich als Bevollmächtigter eignet. - Der Notar prüft, inwieweit der Vollmachtgeber dem Bevollmächtigen vertraut. Er fragt zum Beispiel: „Ist Ihr Vertrauen in den Bevollmächtigten so groß, dass Sie es hinnehmen würden, wenn der Bevollmächtigte Sie täuscht und Ihr Geld unterschlägt und Sie darüber hinaus noch vernachlässigt?“ Wenn der Vollmachtgeber dies bestätigt, erstellt der Notar je nach Wunsch des Betreffenden einen Vollmachts- oder einen Übergangsvertrag. - Der Notar erläutert dem Vollmachtgeber ausführlich den möglichen Schaden, der durch die Vollmachterteilung für den Vollmachtgeber entstehen kann. - Bei professionellen Bevollmächtigten liegt der Schwerpunkt der Prüfung auf dem Hergang der Ernennung. Grundsätzlich kann zunächst davon ausgegangen werden, dass der Bevollmächtigte geeignet ist, es gibt jedoch mitunter auch Rechtsanwälte o. a. die sich der Pflichten und der Rolle des Bevollmächtigten nicht zur Genüge bewusst sind. In einigen Fällen hat dies dazu geführt, dass es bald nach Vertragsabschluss zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien kam und der gesamte Übergangsvertrag im gegenseitigen Einverständnis aufgehoben wurde. - Ist der Bevollmächtigte ein Familienmitglied oder ein naher Verwandter, bittet der Notar um eine Erklärung, weshalb er Bevollmächtigter wird und ob die anderen Familienmitglieder davon in Kenntnis gesetzt wurden. Dies waren einige Beispiele aus den Berichten. Sie zeigen, dass der Notar zunächst die Motivation und die Fähigkeiten des Bevollmächtigten prüft, sein Verständnis von der freiwilligen Vormundschaft sowie sein Bewusstsein hinsichtlich der Unterstützung für den Vollmachtgeber und sich dann bemüht, den Grad des Vertrauens des Vollmachtgebers in den Bevollmächtigen sowie das Bewusstsein des Vollmachtgebers hinsichtlich möglicher Risiken etc. zu klären. Ferner kann davon ausgegangen werden, dass der Notar sich entsprechend der o. g. Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs so weit wie möglich bemüht, auf Grundlage der begrenzten Materialien und Untersuchungsbefugnis einen Missbrauch des Systems zu vermeiden. Die Tatsache, dass es Beispiele gibt, in denen die Beurkundung eines Vertrags über eine freiwillige Vormundschaft vom Notar verweigert wurde, obwohl das Notargesetz besagt, dass eine Beurkundung grundsätzlich nicht abgelehnt werden kann, beweist, welch hohen Stellenwert die Missbrauchsverhinderung im Bewusstsein des Notars hat.

Freiwillige Vormundschaft und Notariatspraxis in Japan

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VI. Schlussbemerkung Der Notar ist bemüht, in seinem Notariat rechtskonforme und gültige Vertragsurkunden wie z. B. freiwillige Vormundschaftsverträge zu erstellen, routinemäßig auf Anfragen zur Beurkundung von freiwilliger Vormundschaft und anderen Verträgen einzugehen sowie zu diversen Fragen zu beraten, wie z. B. dem „Schutz des Kindes nach Ableben der Eltern“, der Übertragung von Aufgaben nach dem Tod, Erklärungen zum Sterben in Würde, Scheidungsleistungen, Rentensplitting etc. In Bezug auf das Testament beantwortet er eingehend Fragen zum Erbschaftsrecht, zur Nachlassverteilung etc. Diese Beratungen werden kostenlos angeboten. Eine Reihe von Notariaten bieten ferner in Zusammenarbeit mit den lokalen Gebietskörperschaften kostenlose Beratungen zu notariellen Angelegenheiten an.

Ausländische „Schwarzgeld“-Stiftung und Rechtsnachfolge von Todes wegen nach deutschem Recht Von Anatol Dutta

I. Einleitung Es war offenbar bis zum Erwerb diverser Datenträger durch deutsche Behörden in vermögenden Kreisen der alten Bundesrepublik nicht unüblich, Stiftungen im Ausland zu errichten, um auf diese Weise Vermögen zu sichern, vor allem aber auch dem inländischen Fiskus Steuern vorzuenthalten. Oftmals schlummerten diese Stiftungen Jahrzehnte (mitunter ohne allzu große Erträge abzuwerfen) und gerieten in Vergessenheit. Auf die Nachfolgegeneration wartet dann ein böses Erwachen, nicht nur steuerlich, sondern auch privatrechtlich, wenn es die Stiftung abzuwickeln gilt, um das Vermögen zu realisieren. Anders als bei Großmutters Sparstrumpf unter dem Kopfkissen, den das allgemeine Erbrecht weitergibt, stellt sich für die Erben und die Stiftungsbegünstigten vor allem die rechtliche Frage: Nach welchem Regime vollzieht sich die Weitergabe des Stiftungsvermögens und ist eine von der allgemeinen Rechtsnachfolge von Todes wegen abweichende Weitergabe der stiftungsrechtlichen Begünstigung auch erbrechtsfest? Beispielhaft ist etwa der folgende Fall, der dem Verfasser im Rahmen einer Anfrage aus der Praxis bekannt geworden ist und bei dem es sich um eine häufige Konstellation handeln dürfte: Ein Erblasser, der ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit besaß und in der Bundesrepublik lebte, wird von seiner Tochter und seinem Sohn überlebt. Ein Testament, das eine von der gesetzlichen abweichende gewillkürte Erbfolge regelt, liegt nicht vor. Bereits seit den 1980er Jahren bestand eine nach liechtensteinischem Recht errichtete Stiftung mit statutarischem Sitz in Vaduz. Die Stiftung wurde anonym von einer liechtensteinischen Anstalt im Auftrag des Erblassers errichtet. Es liegen lediglich zwei Stiftungsdokumente vor: die „Statuten“ der Stiftung, die im Namen einer Anstalt unterzeichnet wurden, und ein „Reglement“ der Stiftung, das für den Stiftungsrat der Stiftung unterzeichnet wurde. Zentrales Verwaltungsorgan der Stiftung soll nach den Statuten der Stiftung ein Stiftungsrat sein, der die Stiftung auch nach Außen vertritt. Die derzeitigen Mitglieder des Stiftungsrats sind nicht bekannt. Die Begünstigten der Stiftung werden gemäß den Statuten der Stiftung im Reglement der Stiftung festgelegt, wobei die Begünstigung nur mit Zustimmung des Stiftungsrats veräußerlich, übertragbar oder belastbar sein soll. Das Reglement der Stiftung sieht vor, dass dem Erblasser zu seinen Lebzeiten der „Stif-

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tungsgenuss“ am Vermögen der Stiftung und dessen Ertrag allein zusteht, wobei klargestellt wird, dass diese Bestimmung unwiderruflich ist. Gemäß des Reglements der Stiftung soll nach dem Tod des Erblassers der „Stiftungsgenuss“ und dessen Ertrag nur dem Sohn des Erblassers zustehen. Nach einigen Recherchen erfahren die Kinder des Erblassers, dass die Stiftung Trägerin von erheblichen Vermögenswerten ist, vor allem von Bankvermögen in der Schweiz. Unklar ist, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise die Stiftung das Vermögen erworben hat. Vermutlich hat der Erblasser das Vermögen seit den 1980er Jahren in die Schweiz transferiert, um einer Besteuerung in der Bundesrepublik zu entgehen. Nach diesem Transfer wurde das steuerlich vom Erblasser nicht deklarierte Bankvermögen offenbar in die Stiftung eingebracht. Laufende Einkünfte und Veräußerungsgewinne, welche aus den von der Stiftung getragenen Vermögensgegenständen erzielt wurden, hat der Erblasser in seinen steuerlichen Erklärungen nicht angegeben. Der Erblasser hat den Stiftungsrat der Stiftung bereits kurz nach der Errichtung der Stiftung beauftragt wiederum, die schweizerische Bank der Stiftung zu beauftragen und zu bevollmächtigen, nach seinem Tod alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die reglementarischen Anordnungen der Stiftung sicherzustellen. Dies betreffe insbesondere die Benachrichtigung des Begünstigten sowie weitere notwendige Vorkehrungen. Ferner hat der Erblasser mit den offenbar ersten Mitgliedern des Stiftungsrats einen Mandatsvertrag geschlossen, nach dem die Stiftungsratsmitglieder als Auftragnehmer ihr Mandat im Stiftungsrat im Auftrag des Erblassers ausüben und der Erblasser als Auftraggeber ihnen Instruktionen erteilen kann, an welche die Auftragnehmer bei der Ausübung ihres Mandats gebunden sind. Dieser Mandatsvertrag soll mit dem Tod des Auftraggebers erlöschen. Welche Personen aktuell Mitglieder des Stiftungsrats sind und ob ein ähnlicher Vertrag auch mit etwaigen weiteren Mitgliedern abgeschlossen wurde, ist nicht bekannt. Die Kinder des Erblassers hatten bis zum Erbfall keine Kenntnis von der Stiftung und dem ihr zugewiesenen Vermögen. Erst im Rahmen der Nachlassabwicklung erfuhren die Kinder auf Nachfrage bei einer der schweizerischen Banken des Erblassers, bei der auch überwiegend das Vermögen der Stiftung liegt, von der Existenz der Stiftung, ihren Statuten und ihres Reglements. Ein direkter Kontakt zum Stiftungsrat bestand und besteht nicht. Deshalb bestätigte der Sohn über die schweizerische Bank gegenüber dem Stiftungsrat in einem Formularschreiben, dass die Bank ihn über seinen „Stiftungsgenuss“ aus der Stiftung informiert habe und er die Begünstigung annehme.

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II. Erbrechtliche Ausgangslage Erbrechtlich werden sich Konstellationen wie die eben geschilderte meist in bekannten Gefilden bewegen. Die Rechtsnachfolge von Todes wegen nach dem Erblasser wird oft deutschem Recht unterliegen, sei es in Altfällen nach Art. 25 Abs. 1 EGBGB a. F. wegen der deutschen Staatsangehörigkeit des Erblassers oder bei Erbfällen ab dem 17. August 2015 nach Art. 21 Abs. 1 der europäischen Erbrechtsverordnung1 (EuErbVO), weil der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik hatte. So wären im vorliegenden Fall die Kinder zu gleichen Teilen Miterben nach der gesetzlichen Erbfolge gemäß § 1924 BGB, wenn der Erblasser nicht von weiteren Abkömmlingen oder einem Ehegatten überlebt wurde, vgl. §§ 1930, 1931 BGB. Die Stiftungsdokumente wirken sich nicht auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen nach dem Erblasser aus. Sollte das der Stiftung zugewiesene Vermögen in den Nachlass fallen (dazu noch sogleich unten III. 1.), könnte zwar auf den ersten Blick die geschilderte Regelung im Reglement der Stiftung, die alleine dem Sohn den „Stiftungsgenuss“ zuwendet, als Teilungsanordnung nach § 2048 Satz 1 BGB oder als Vorausvermächtnis nach § 2150 BGB verstanden werden. Eine solche Auslegung ist allerdings ausgeschlossen. Beim Reglement einer Stiftung handelt es sich nicht um eine Verfügung von Todes wegen, in der allein eine Teilungsanordnung oder ein Vorausvermächtnis wirksam errichtet werden kann. Es fehlt bereits am rechtsgeschäftlichen Tatbestand einer Verfügung von Todes wegen. Das Reglement wurde vom Stiftungsrat in seiner Eigenschaft als Organ der Stiftung und nicht vom Erblasser errichtet; soweit ersichtlich, war der Erblasser überhaupt nicht Mitglied des Stiftungsrats und hat an der Errichtung des Reglements nicht mitgewirkt. Auch eine wirksame Vertretung des Erblassers durch die Mitglieder des Stiftungsrats bei der Errichtung einer Verfügung von Todes wegen scheidet nach dem Grundsatz der formellen Höchstpersönlichkeit (§ 2064 BGB) aus. Im Übrigen würde das Reglement bereits in formeller Hinsicht wohl weder nach liechtensteinischem Ortsrecht2 noch nach deutschem Recht3 die Anforderungen an eine wirksame letztwillige Verfügung erfüllen.

1 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4. 7. 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 Nr. L 201, S. 107. 2 Das alternativ nach Art. 1 Unterabs. 1 lit. a des Übereinkommens über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht v. 5. 10. 1961, BGBl. 1965 II S. 1145 (HTestformÜ), maßgeblich ist, vgl. Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 2 EuErbVO. 3 Vgl. Art. 1 Unterabs. 1 lit. b, c, d HTestformÜ.

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III. Welche Positionen im Hinblick auf das Stiftungsvermögen fallen in den Nachlass? Beim Kampf des ausländischen Stiftungsrechts gegen das deutsche Erbrecht um die Hoheit über die Vermögensnachfolge nach dem Erblasser ist vor allem streitentscheidend, welche Positionen in den Nachlass des Erblassers fallen. Denn soweit die Stiftung Spuren im Vermögen des Erblassers hinterlassen hat, greift das deutsche Erbrecht und die verschiedenen Rechtspositionen sind bei der Auseinandersetzung des Nachlasses zu berücksichtigen. 1. Das vermeintlich auf die Stiftung übertragene Vermögen Zunächst könnte das vom Erblasser vermeintlich auf die Stiftung übertragene Vermögen gemäß § 1922 Abs. 1 BGB Teil des Nachlasses geworden sein. Zwar dürfte zum Vermögen der ausländischen Stiftung den Erben in den meisten Fällen wenig bekannt sein, auch zur Frage, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen der Erblasser welche Vermögensgegenstände auf die Stiftung übertragen hat. Die rechtliche Wirksamkeit der Übertragungsakte kann mitunter nur schwer überprüft werden, zumal auch das auf die betroffenen Gegenstände und damit ihre Übertragung kollisionsrechtlich anwendbare Recht unklar ist. Allerdings könnte die etwaige Übertragung der Vermögensgegenstände bereits deshalb unwirksam sein, weil die Stiftung als vermeintliche Erwerberin des Vermögens jedenfalls aus Sicht des deutschen Rechts keine Rechtsfähigkeit besitzt und damit die Übertragungsakte ins Leere gehen bzw. beim Erblasser als zu Lebzeiten einzigem Begünstigten der Stiftung verbleiben. Die vermeintlich auf die Stiftung übertragenen Gegenstände würden dann als Vermögen des Erblassers gemäß § 1922 Abs. 1 BGB in den Nachlass fallen. a) Das auf die Rechtsfähigkeit der Stiftung anwendbare Recht Die Frage, ob eine Gesellschaft, ein Verein oder eine juristische Person als rechtsfähiges Gebilde Trägerin von Rechten und Pflichten sein kann, unterliegt kollisionsrechtlich dem Personalstatut des Gebildes, vorliegend also dem Stiftungsstatut4. Das internationale Stiftungsrecht wurde bisher in Deutschland nicht gesetzlich geregelt, sondern wird vom Richterrecht beherrscht. Pläne des deutschen Gesetzgebers, das Kollisionsrecht der juristischen Personen zu kodifizieren, sind bisher gescheitert. Zwar wurde nach Vorarbeiten des Deutschen Rats für Internationales Privatrecht5 im Jahr 2008 ein Referentenentwurf für ein Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen vorgelegt, der die Ein4

BGH, FamRZ 2015, 318 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. Siehe Sonnenberger, Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007. 5

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führung eines neuen Art. 10 EGBGB mit einer einschlägigen Kollisionsnorm vorsah. Dieser Entwurf wurde aber in der Folgezeit nicht weiterverfolgt. Traditionell knüpfen die deutschen Gerichte juristische Personen an das Recht ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes an6. Diese Sitztheorie lässt sich bekanntlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit speziell in Centros7, Überseering8 und Inspire Art9 nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten. Eine ausnahmslose Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz kann die Ausübung der Niederlassungsfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen10 und damit zu einer rechtfertigungsbedürftigen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit führen. Eine Beschränkung kann insbesondere zu bejahen sein, wenn – was aufgrund der Sitztheorie geschehen kann – eine juristische Person, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet wurde, Regeln ihres Sitzmitgliedstaats unterworfen wird. Der Bundesgerichtshof folgert aus dieser Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union in mittlerweile ständiger Rechtsprechung, dass jedenfalls Gesellschaften aus dem europäischen Ausland dem Recht unterstellt werden müssen, nach dem sie gegründet wurden11. Diese so genannte Gründungstheorie gilt aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen unter anderem auch für Gesellschaften aus dem Europäischen Wirtschaftsraum.12 Diese Rechtsprechung greift auch bei einer Stiftung, die wie in der eingangs skizzierten Konstellation nach dem Recht eines Mitgliedstaates des Europäischen Wirtschaftsraums wie dem Fürstentum Liechtenstein errichtet wurde, sodass das Stiftungsstatut vorliegend liechtensteinisches Recht ist, weil die Stiftung nach diesem Recht errichtet wurde. Die Maßgeblichkeit der Gründungstheorie im Verhältnis zum Fürstentum Liechtenstein hat der Bundesgerichtshof nicht nur für liechtensteinische Gesellschaften bereits bestätigt13, sondern mittlerweile auch für liechtensteinische Anstalten privaten Rechts14. Diese kollisionsrechtlichen Aussagen des Bundesgerichtshofs gelten allerdings nicht nur für Gesellschaften und Anstalten, sondern auch für andere juristische Personen wie Stiftungen, wie auch der Bundesgerichtshof in der zuletzt erwähnten Entscheidung aus dem Jahr 2014 für eine liechtensteinische Stiftung unterstellt15. 6

Siehe nur BGHZ 78, 318 (334). EuGH, Rs. C-212/97 (Centros). 8 EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering). 9 EuGH, Rs. C-167/01 (Inspire Art). 10 EuGH, Rs. C-439/99 (Kommission ./. Italien), Rn. 22. 11 BGHZ 154, 185 (189). 12 Zu Art. 31, 34 des Abkommens v. 2. 5. 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. 1994 L 1, S. 3 siehe BGHZ 164, 148 (151 f.). 13 BGHZ 164, 148 (151 f.). 14 BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 23 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. 15 Rn. 51 der Entscheidung. 7

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Die Frage, ob die Stiftung Rechtspersönlichkeit besitzt, richtet sich damit nach ausländischem – im eingangs geschilderten Fall: liechtensteinischem – Gründungsrecht. Das gleiche Ergebnis würde sich womöglich auch nach der Sitztheorie ergeben, wenn der tatsächliche Sitz der Stiftung sich im Ausland befindet, was allerdings oft nicht abschließend beurteilt werden kann, da unbekannt ist, wer Stiftungsorgan ist und an welchem Ort die Stiftung verwaltet wird und die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden. b) Wirksame Errichtung und Rechtsfähigkeit der Stiftung nach ausländischem Stiftungsrecht Die wirksame Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung nach ausländischem Recht lässt sich oftmals für die Erben nur schwer ermitteln, zumal wenn nicht sämtliche Dokumente vorliegen. So ergab sich etwa im eingangs erwähnten Fall aus den zugänglichen Dokumenten nicht abschließend, ob die Voraussetzungen für eine wirksame Stiftungserrichtung nach dem liechtensteinischen Personen- und Gesellschaftsrecht vom 20. Januar 1926 (liecht. PGR) in seiner zum Errichtungszeitpunkt maßgeblichen Fassung (heute vor allem Art. 552 §§ 14 ff. liecht. PGR) tatsächlich erfüllt wurden. Allenfalls könnte in den hier behandelten Konstellationen bei Einsatz einer liechtensteinischen Stiftung allgemein das Stiftungsgeschäft ein nichtiges Scheingeschäft darstellen. Der Oberste Gerichtshof des Fürstentums Liechtenstein hat in der Vergangenheit angedeutet, dass ein solches Scheingeschäft bei der Errichtung der Stiftung vorliegen kann, wenn sich der Stifter Änderungsbefugnisse in der Absicht vorbehält, das Stiftungsvermögen weiterhin zu seinem Vorteil und nicht im Sinne des angegebenen Stiftungszwecks zu verwenden16 bzw. wenn sich ein Stifter in den Statuten weitgehende Interventions- und Gestaltungsrechte vorbehält und es ihm im Wege eines über einen Mandatsvertrag weisungsgebundenen Stiftungsrats möglich ist, über das Stiftungsvermögen und dessen Erträge im eigenen Interesse zu verfügen17. Auch deutsche Gerichte haben in Anwendung liechtensteinischen Rechts nicht ausgeschlossen, dass liechtensteinische Stiftungen aufgrund eines Scheingeschäfts nicht wirksam errichtet wurden18. Zwar hat der Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs teilweise als verfassungswidrigen Verstoß gegen das Willkürverbot eingestuft, allerdings anerkannt, dass es Fälle geben kann, in denen das Stiftungsgeschäft als Scheingeschäft nichtig ist19.

16

Vgl. FL OGH, Liechtensteinische Entscheidungssammlung 1998, 332 (337). Vgl. FL OGH v. 7. 3. 2002 – Az. 12 Rs. 2001.00330 – 16 (abrufbar unter: www.gerichts entscheidungen.li). 18 Siehe etwa OLG Stuttgart, ZEV 2010, 265 Rn. 66 ff. = IPRax 2012, 438; FG Düsseldorf, ZEV 2017, 589 Rn. 20 f. 19 FL StGH v. 16. 9. 2002 – Az. 2002/17 (abrufbar unter: www.gerichtsentscheidungen.li). 17

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c) Anerkennung der Stiftung als Verstoß gegen den deutschen ordre public? Selbst aber wenn die betreffende Stiftung nach ausländischem Recht wirksam errichtet wurde, könnte der Stiftung dennoch aus Sicht des deutschen Rechts die Rechtsfähigkeit zu versagen sein. Dabei geht es nicht lediglich um die Frage, ob eine ausländische Stiftung für Zwecke der deutschen Erbschafts- und Schenkungsbesteuerung von Transfers an die Stiftung als eigenständige Person angesehen werden kann. Bekanntlich hat der Bundesfinanzhof festgehalten, dass eine Übertragung von Vermögen auf eine ausländische Stiftung nicht der Schenkungsteuer unterliegt, wenn die Stiftung nach den getroffenen Vereinbarungen und Regelungen über das Vermögen im Verhältnis zum Stifter nicht tatsächlich und rechtlich frei verfügen kann20. Vielmehr könnte eine privatrechtliche Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Stiftung nach ausländischem Recht allgemein und darüber hinaus21 gegen die deutsche öffentliche Ordnung verstoßen, die in Art. 6 Satz 1 EGBGB bei der Anwendung ausländischen Rechts stets vorbehalten wird. So hat der Bundesgerichtshof in der bereits erwähnten Entscheidung aus dem Jahr 2014 anerkannt, dass die Rechtsfähigkeit einer ausländischen juristischen Person durchaus gegen den deutschen ordre public verstoßen kann, etwa wenn die Person vornehmlich zu Zwecken der Steuerhinterziehung errichtet wurde22. Die Rechtsprechung war in der Vergangenheit mit der Annahme, dass die Steuerhinterziehung Hauptzweck einer nach ausländischem und vor allem liechtensteinischem Recht errichteten Stiftung bildet, recht großzügig, wenn steuerlich nicht deklariertes Vermögen im Ausland angelegt und später auf eine liechtensteinische Stiftung übertragen wurde, und zwar trotz der gebotenen engen Auslegung der Vorbehaltsklausel des Art. 6 Satz 1 EGBGB. So kommt das Oberlandesgericht Düsseldorf bereits im Jahr 2010 zu dem Schluss, dass weitere Zwecke der Stiftung, etwa die generationenübergreifende Weitergabe von „Schwarzgeld“, nichts an einem ordre-public-Verstoß ändern23. Auch die neuere finanzgerichtliche Rechtsprechung hat die Argumentation über Art. 6 Satz 1 EGBGB aufgegriffen und verweigert liechtensteinischen Stiftungen, auch wenn sie wirksam nach liechtensteinischem Recht errichtet wurden, gemäß deutschem Recht die Anerkennung als rechtsfähige Gebilde, wenn diese vor allem der Steuerhinterziehung dienten24. Eine Nichtanerkennung der Stiftung wegen der Absicht der Steuerhinterziehung hält auch der Bundesfinanz-

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BFH, NJW-RR 2008, 709 = FamRZ 2007, 1980. Das übersehen meines Erachtens Scherer/Bregulla-Weber, NJW 2016, 382 (383). 22 BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 26 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. 23 OLG Düsseldorf, ZEV 2010, 528 (532). 24 FG Düsseldorf, ZEV 2017, 589; FG Köln, BeckRS 2018, 42793; FG Münster, MittBayNot 2017, 532 = DStRE 2016, 1311. 21

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hof für möglich, wenn der Erblasser die Erträge aus der Verwaltung des Stiftungsvermögens nicht bei der Einkommensteuer angegeben hat25. Auf Basis dieser Rechtsprechung wird in den typischen Konstellationen einer von einem Erblasser errichteten Auslandsstiftung – vor allem einer liechtensteinischen Stiftung – oftmals ein ordre-public-Verstoß vorliegen, auch wenn diese Rechtsprechung nicht von Kritik aus dem Schrifttum verschont geblieben ist26. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das der Stiftung übertragene Vermögen und die daraus resultierenden Erträge dem deutschen Fiskus entzogen werden sollten, etwa im Hinblick auf die Einkommensteuer, und die Stiftung anonym errichtet wurde. Auch dürfte für eine vorrangige Steuerhinterziehungsabsicht eines Erblassers sprechen, dass die Einschaltung einer liechtensteinischen Stiftung erb- und vermögensnachfolgerechtlich nicht erforderlich gewesen ist, sondern wirtschaftlich eine entsprechende Vermögensnachfolge mittels einer Teilungsanordnung oder einem Vorausvermächtnis hätte erreicht werden können (vgl. oben II.). Ein gewichtiges Indiz, dass eine Stiftung vornehmlich zu Zwecken der Steuerhinterziehung errichtet wurde, dürfte auch eine Nachversteuerung im Hinblick auf durch den Erblasser hinterzogene Steuern sein. Auch wertet das Oberlandesgericht Karlsruhe die „Nachlassversteuerung“ – gemeint ist wohl nur eine Erbschaftsbesteuerung bei den Begünstigten und nicht die umfassende Nachversteuerung im Hinblick auf durch den Erblasser hinterzogene Steuern – als ein Indiz für einen solchen Zweck27. Sollte aus deutscher Sicht die ausländische Stiftung nicht anerkennungsfähig sein, dann würde das vermeintlich der Stiftung übertragene Vermögen weiterhin dem Erblasser und dem Nachlass zuzuordnen sein. Die Erben könnten dann das betreffende Vermögen für den Nachlass realisieren. Dies könnte – soweit etwa Bankvermögen in der Schweiz betroffen ist – sogar vor den deutschen Gerichten geschehen, soweit der Verbrauchergerichtsstand nach Art. 16 Abs. 1 Fall 2 des Luganer Übereinkommens28 greift, das nach Art. 64 Abs. 2 lit. a des Übereinkommens die Brüssel-Ia-Verordnung29 bei einer beklagten Bank mit Sitz in der Schweiz verdrängt. Dann könnten die Erben die vermeintlich der Stiftung übertragenen Vermögenspositionen der schweizerischen Bank gegenüber am Wohnsitz des Erblassers als dem anlegenden Verbraucher geltend machen30. Die Anlage privaten Vermögens durch eine natürliche Person (wie dem Erblasser) bei einem Unternehmen (wie einer schweizerischen 25

BFH, DStR 2019, 978 = ZEV 2019, 364 = FamRZ 2019, 1191. Etwa Körner/St. Schwarz, DStR 2015, 2501 (2503 f.); zustimmend dagegen etwa Stucke/ Remplik, ZEV 2010, 533 f., und Wachter, ZEV 2010, 534 f. 27 OLG Karlsruhe, BeckRS 2015, 1634. 28 Luganer Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 30. 10. 2007, ABl. 2009 Nr. L 147, S. 5. 29 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. 12. 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2012 Nr. L 351, S. 1. 30 Vgl. auch EuGH, Rs. C-347/08 (Vorarlberger Gebietskrankenkasse), Rn. 44. 26

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Bank) kann durchaus ein Verbrauchergeschäft nach Art. 15 Abs. 1 lit. c des Luganer Übereinkommens sein, wie auch der Bundesgerichtshof für die Anlage von potentiellem „Schwarzgeld“ in der Schweiz bereits bestätigt hat31. Eine etwaige Entscheidung der deutschen Gerichte gegen die schweizerische Bank des Erblassers wäre nach den Art. 32 ff. des Luganer Übereinkommens in der Schweiz grundsätzlich auch anzuerkennen und notfalls zu vollstrecken. 2. Stiftungsrechtliche Positionen des Erblassers Des Weiteren könnten – soweit die Stiftung nach ausländischem Recht oder vor dem Hintergrund des deutschen ordre public überhaupt rechtsfähig ist – Rechtspositionen des Erblassers nach ausländischem Recht hinsichtlich der Stiftung in den Nachlass fallen. Die Frage, welche stiftungsrechtlichen Positionen einer Person eingeräumt werden und wie sich der Tod des stiftungsrechtlich Berechtigten auf diese Positionen auswirkt, unterliegt nicht etwa dem Erbstatut dieser Person, sondern dem Stiftungsstatut, bei einer liechtensteinischen Stiftung also liechtensteinischem Recht. Dies haben kürzlich erst der Bundesgerichtshof32 und der Bundesfinanzhof33 bestätigt. a) Rechte als Begünstigter? Nicht in den Nachlass fallen dürfte regelmäßig die Begünstigtenstellung des Erblassers. Zwar wird der Erblasser, der die Errichtung der „Schwarzgeld“-Stiftung veranlasst hat, zu Lebzeiten meist der einzige Begünstigte der Stiftung sein, und zwar regelmäßig sogar unwiderruflich. Allerdings wird die Stiftungsverfassung oft so ausgestaltet sein, dass diese Begünstigtenstellung nur zu Lebzeiten des Erblassers besteht und damit auf dessen Tod befristet ist. Folglich erlischt sie mit dessen Ableben und kann nicht in den Nachlass fallen. b) Rechte als Stifter? Auch Stifterrechte des Erblassers – etwa in Form von Rechten des Stifters zum Widerruf oder zur Änderung der Stiftungsdokumente, wie sie heute im liechtensteinischen Recht Art. 552 § 30 liecht. PGR vorsieht – fallen nicht zwingend in den Nachlass. Oftmals schweigen die Stiftungsdokumente bei Altstiftungen – um die es sich bei „Schwarzgeld“-Stiftungen meist handelt – bereits zu Widerrufs- oder Änderungsrechten des Stifters und zu ihrer Vererblichkeit. Vor allem aber, und das zeigt der eingangs skizzierte Fall: Der Erblasser wird nicht immer unmittelbarer Stifter der betreffenden Stiftung gewesen sein. Vielmehr sah offenbar das langjährige Ge31

BGH, WM 2017, 565 Rn. 14 ff. BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 28 f. = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. 33 BFH, DStR 2019, 978 = ZEV 2019, 364 = FamRZ 2019, 1191 Rn. 23 ff. 32

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schäftsmodell vor allem liechtensteinischer Anbieter vor, dass eine liechtensteinische Person, welche auch die Statuten errichtet, als Treuhänderin im Auftrag des Erblassers auch die Stiftung gründet. c) Einwilligungsrechte als Dritter Im Einzelfall kann jedoch der Erblasser stiftungsrechtlich als Dritter berechtigt sein. So sieht etwa das Reglement der eingangs erwähnten Stiftung vor, dass der Stiftungsrat das Reglement nur im Einverständnis mit dem Erblasser abändern kann. Bei solchen Einwilligungsrechten handelt es sich um eine Rechtsposition des Erblassers, die nach § 1922 Abs. 1 BGB in den Nachlass fallen würde, wenn sie nach ausländischem Stiftungsrecht vererblich ist. Dies dürfte zu bejahen sein. Zwar stellen die Stiftungsdokumente die Vererblichkeit dieses Einwilligungsrechts nicht immer klar. Allerdings wird auch nach ausländischem Recht der universelle Grundsatz gelten, dass Rechte – soweit nicht gesetzlich oder rechtsgeschäftlich bis zum Tod des Berechtigten befristet – im Zweifel vererblich sind. Bereits der Sinn und Zweck eines Einwilligungsrechts des Erblassers spricht für eine Vererblichkeit. Würde das Einwilligungsrecht des Erblassers als Dritter erlöschen, könnte der Stiftungsrat einseitig die Begünstigtenregelung abändern und damit über das vom Erblasser stammende Vermögen disponieren. 3. Rechte aus einem Mandats- oder Treuhandverhältnis des Erblassers In den Nachlass fallen würden auch vererbliche Rechte des Erblassers aus einem Mandats- oder Treuhandverhältnis mit dem Stifter, soweit es sich hierbei nicht um den Erblasser handelt, oder einem Treuhänder, welcher die Verwaltung der Stiftung übernommen hat, etwa indem er den Stiftungsrat oder andere Organe stellt. Aus einem solchen Mandats- oder Treuhandverhältnis – welchem Recht dieses auch immer kollisionsrechtlich unterliegen sollte – könnten Ansprüche des Erblassers gegen die Stifterin oder Treuhänderin erwachsen, die nach § 1922 Abs. 1 BGB in den Nachlass fallen würden, sei es auf Übertragung etwaiger Stifterrechte oder auf die Ausübung der Befugnisse als Stiftungsrat, etwa auf Abänderung eines Reglements im Hinblick auf die Begünstigten der Stiftung. Oftmals wird sich das faktische Problem stellen, dass über die Mandats- oder Treuhandverträge des Erblassers im Hinblick auf die Stiftung den Erben wenig bekannt ist, etwa dahingehend, ob die derzeitigen Mitglieder des Stiftungsrats oder andere Organe der Stiftung durch Verträge gebunden sind. Vieles wird dafür sprechen, dass solche Verträge existieren. Es wäre höchst verwunderlich, wenn ein Erblasser ein großes Vermögen auf die Stiftung übertragen hätte, ohne schuldrechtliche Bindungen des gesamten Stiftungsrats.

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Gerade ein Weisungsrecht des Erblassers gegen einzelne Mitglieder des Stiftungsrats im Hinblick auf eine Änderung des Reglements könnte auch nach dem Tod des Erblassers Bedeutung besitzen. Dann könnten die Erben darauf hinwirken, dass der Stiftungsrat insbesondere die Begünstigtenstellung an die Erbquoten der Kinder anpasst, wenn die Stiftungsdokumente diese Stellung überquotal oder sogar ausschließlich einem der Erben einräumen. Auch wäre eine solche Abänderung nach dem Tod des Erblassers je nach Ausgestaltung noch möglich. Die einschlägigen Stiftungsdokumente können beispielsweise vorsehen, dass diese mit dem Tod des Erblassers unabänderbar nicht werden, sodass auch die Rechtsnachfolger ein Einverständnis mit einer Änderung der Begünstigtenstellung erteilen können. Freilich sind auch andere Konstellationen denkbar. So war nach einem Beistatut im Fall, über den der Bundesgerichtshof im Jahr 201434 befinden musste, die Bestimmung der Begünstigten mit dem Tod des Erblassers unabänderlich geworden. Deshalb sah der Bundesgerichtshof einen etwaigen Anspruch auf Übertragung der Gründerrechte als wertlos an. Denn als Erstbegünstigten bestimmte das Beistatut den Erblasser, als Zweit- und Drittbegünstigte jeweils die Erbinnen; die Treuhänderin gehörte nicht zu den Begünstigten und ihr stand auch nicht ein etwaiger Liquidationserlös zu. Mit dem Ableben des Erblassers konnte die Treuhänderin mithin nicht mehr über die Zuweisung der Vermögensteilhabe am gebundenen Vermögen entscheiden, allenfalls verblieb ihr die Verwaltungsteilhabe am gebundenen Vermögen – der Bundesgerichtshof spricht in Rn. 33 seines Beschlusses von „nur noch organschaftliche[n] Befugnisse[n]“, welche keinen wirtschaftlichen Wert besitzen sollen. 4. Bereicherungsansprüche im Hinblick auf die stiftungsrechtliche Zuwendung der Begünstigtenstellung Schließlich könnten Bereicherungsansprüche bestehen, die mit dem Erbfall entstanden und gemäß § 1922 Abs. 1 BGB in den Nachlass gefallen sind. Konkret könnte die stiftungsrechtliche Zuwendung der Begünstigtenstellung infolge des Todes des Erblassers – im eingangs geschilderten Fall an den Sohn des Erblassers – rechtsgrundlos erfolgt sein, mit dem Ergebnis, dass diese Begünstigtenstellung zu kondizieren ist und dieser Anspruch in den Nachlass fällt. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn eine causa für die Zuwendung fehlt, etwa wenn oder weil zwischen dem Erblasser und dem Empfänger der Begünstigtenstellung keine Schenkung zustande gekommen ist. Dann wäre dieser Bereicherungsanspruch bei der Auseinandersetzung des Nachlasses zu berücksichtigen. Auch ein solcher Bereicherungsanspruch kommt freilich nur in Betracht, soweit die Stiftung nach liechtensteinischem Recht oder vor dem Hintergrund des deutschen ordre public überhaupt rechtsfähig ist (oben III. 1.).

34

BGH, FamRZ 2015, 318 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139.

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a) Anwendbares Recht Etwas kompliziert gestaltet sich die Bestimmung des auf einen solchen Bereicherungsanspruch anwendbaren Rechts, da hier kollisionsrechtlich verschiedene Statute abzugrenzen sind. aa) Schenkung des Erblassers an den Empfänger der Begünstigtenstellung Die Frage, ob zwischen Erblasser und Empfänger der Begünstigtenstellung eine wirksame Schenkung als causa zustande gekommen ist, wird sich regelmäßig nach dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers als potentiellem Schenker (bzw. seiner Erben, wenn die Schenkung erst nach dem Tod des Erblassers zustande kommt) richten, mithin bei „Schwarzgeld“-Stiftungen deutscher Erblasser nach deutschem Recht. Schenkungen sind vertraglich zu qualifizieren und unterliegen den Kollisionsnormen der Rom-I-Verordnung35 (Rom-I-VO). Ein Entwurf zum Römischen Schuldvertragsübereinkommen36, dem Vorgänger zur Rom-I-Verordnung, hatte zwar noch in Art. 1 Abs. 2 Schenkungen vom sachlichen Anwendungsbereich ausgeklammert, weil Schenkungen nicht in allen Rechtsordnungen vertraglich konstruiert werden. Diese Bereichsausnahme wurde jedoch später in den Verhandlungen aufgegeben, wie der Giuliano/Lagarde-Bericht37 klarstellt. Folge der schuldvertragsrechtlichen Qualifikation der Schenkung ist, dass nach Art. 3 Rom-I-VO eine Rechtswahlfreiheit der Parteien der Schenkung besteht. Oftmals wird es allerdings an einer ausdrücklichen oder konkludenten Rechtswahl fehlen, zumal wenn der Empfänger der Begünstigtenstellung erst nach dem Tod des Erblassers von der Schenkung erfährt. Die Frage, ob eine Schenkung wirksam zustande gekommen ist, muss dann objektiv angeknüpft werden, und zwar nach der allgemeinen Regelung in Art. 4 Abs. 2 Rom-I-VO, da die Schenkung in keine der in Art. 4 Abs. 1 Rom-I-VO genannten Vertragskategorien fällt. Gemäß Art. 4 Abs. 2 Rom-I-VO kommt damit das Recht des Staates zum Zuge, in dem der Schenker zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Denn der Schenkende erbringt bei der Schenkung nicht nur die einzige, sondern auch die vertragscharakteristische Leistung nach Art. 4 Abs. 2 Rom-I-VO38. Im Hinblick auf die Formgültigkeit einer Schenkung ist Art. 11 Rom-I-VO zu beachten, wonach alternativ das Schenkungsstatut und das Ortsrecht gelten, also in den vorliegenden Konstellationen meist deutsches Recht. Die deutschen Formvorschriften wären selbst dann maßgeblich, wenn die Schenkung nach dem deutschen Erbsta35 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 6. 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 Nr. L 177, S. 6. 36 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19. 6. 1980, ABl. 1998 Nr. C 27, S. 34. 37 ABl. 1980 Nr. C 282, S. 10. 38 MüKoBGB/Martiny, 8. Aufl. 2021, Art. 4 Rom-I-VO Rn. 214.

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tut einem erbrechtlichen Formzwang unterliegen würde, etwa als Schenkung auf den Todesfall. Soweit man solche Schenkungen für Zwecke der Erbrechtsverordnung als Erbverträge nach Art. 3 Abs. 1 lit. b EuErbVO ansieht39, wird jedenfalls Art. 27 Abs. 1 lit. a bis lit. d EuErbVO auf deutsches Recht verweisen. bb) Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Bereicherungshaftung Basieren Bereicherungsansprüche auf einer unwirksamen Schenkung, würde sich das anwendbare Recht ebenfalls unmittelbar nach der Rom-I-Verordnung richten und damit in den hier interessierenden Fällen in der Regel nach deutschem Recht. Denn Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom-I-VO stellt klar, dass die „Folgen der Nichtigkeit des Vertrags“ ebenfalls schuldvertraglich zu qualifizieren sind und dem auf den unwirksamen Vertrag anwendbaren Recht unterliegen, also hier dem auf den potentiellen Schenkungsvertrag anwendbaren Recht. Andernfalls käme die Rom-II-Verordnung40 (Rom-II-VO) zum Zuge und dort konkret Art. 10 Rom-II-VO. Auch Art. 10 Abs. 1 und Abs. 2 Rom-II-VO würde indes in den vorliegenden Fällen zum deutschen Recht führen als Schuldvertragsstatut (Abs. 1) bzw. Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der potentiellen Parteien des Bereicherungsverhältnisses (Abs. 2). cc) Wirksame Zuwendung der Begünstigtenstellung Die Frage, ob dem Empfänger wirksam eine Begünstigtenstellung der Stiftung zugewandt wurde, ist demgegenüber stiftungsrechtlich zu qualifizieren und unterliegt mithin dem ausländischen Stiftungsstatut (oben III. 1. a)). Denn das Stiftungsstatut bestimmt, „unter welchen Voraussetzungen die juristische Person entsteht, lebt und vergeht“41. Folglich ist die Frage, wer Begünstigter der Stiftung ist, dem Stiftungsstatut zuzuordnen. Die Begünstigtenstellung konkretisiert den Stiftungszweck und hat damit eine ähnlich enge Verbindung zur juristischen Person wie die Frage, wer Gesellschafter einer Gesellschaft ist. Auch der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung von 2014 zur liechtensteinischen Anstalt und Stiftung die Frage der Zuwendung einer Begünstigtenstellung dem Anstalts- bzw. Stiftungsstatut unterworfen42.

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Etwa MüKoBGB/Dutta, 8. Aufl. 2020, Art. 3 EuErbVO Rn. 10. Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11. 7. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 Nr. L 199, S. 40. 41 BGHZ 25, 134 (144). 42 BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 34 ff. = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. 40

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b) Bestand eines Bereicherungsanspruchs aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB Ein Bereicherungsanspruch könnte sich nach deutschem Recht bei der Zuwendung einer stiftungsrechtlichen Begünstigtenstellung aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB in Form der Leistungskondiktion ergeben. aa) Etwas erlangt Voraussetzung eines solchen Bereicherungsanspruchs wäre, dass der Anspruchsgegner etwas erlangt hat, wobei vorliegend die Begünstigtenstellung als wirtschaftlicher Vorteil in Betracht kommt. Eine solche Begünstigtenstellung setzt nicht nur voraus, dass die Stiftung aus Sicht des deutschen Rechts wirksam errichtet (oben III. 1.), sondern auch die Begünstigtenstellung dem Empfänger stiftungsrechtlich wirksam zugewandt wurde. An der wirksamen Zuwendung der Begünstigtenstellung nach dem ausländischen Stiftungsrecht dürfte meist wenig Zweifel bestehen. Oftmals wird sich der Kreis der Begünstigten aus den Stiftungsdokumenten ergeben, wie auch im eingangs geschilderten Fall. Dass etwa nach liechtensteinischem Recht die Stiftungsbegünstigung bedingt und befristet einem Anwartschaftsberechtigten in einem Reglement eingeräumt werden kann, ergibt sich nunmehr unmittelbar und ausdrücklich aus dem Gesetz, konkret aus Art. 552 § 5 Abs. 1 und Art. 552 § 6 Abs. 2 liecht. PGR. Freilich kann das Reglement der Stiftung oftmals noch geändert werden, womöglich sogar auf Anweisung der Erben aus einem Mandats- und Treuhandvertrag des Erblassers oder mit deren Einwilligung (oben III. 2. c) und III. 3.). Dies wirkt sich allerdings allenfalls auf der Rechtsfolgenseite des Bereicherungsanspruchs aus (unten dd)), nicht aber auf die Tatsache, dass – solange das Reglement nicht geändert wurde – der Empfänger als potentieller Bereicherungsschuldner eine Begünstigtenstellung tatsächlich erlangt hat. bb) Durch Leistung Die Begünstigtenstellung müsste dem Empfänger auch durch Leistung des Erblassers zugewandt worden sein. Ob die Zuwendung der Begünstigtenstellung bewusst und zweckgerichtet geschah, wird tatsächlich oftmals schwer zu beurteilen sein. So ist regelmäßig unklar, ob der Erblasser die Errichtung des Reglements der Stiftung veranlasst hat, etwa durch Ausübung seiner Befugnisse aus einem Mandats- oder Treuhandvertrag (oben III. 3.) oder gar als Mitglied des Stiftungsrats. Allerdings ist davon auszugehen, dass der Erblasser hinter der Nominierung der Begünstigten steht, zumal wenn es sich beim Empfänger der Begünstigtenstellung um eine dem Erblasser nahestehende Person handelt. Welchen Grund sollte der Stiftungsrat ansonsten gehabt haben, gerade eine solche Person zum Begünstigten zu küren?

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Auch der Bundesgerichtshof kommt in seiner bereits mehrfach erwähnten Entscheidung aus dem Jahr 2014 zu dem Ergebnis, dass die Bestimmung als Begünstigter nach liechtensteinischem Recht als lebzeitige Zuwendung eines Erblassers auf den Todesfall anzusehen ist. Dem liegt eine funktionale Betrachtung zugrunde: Zu Recht charakterisiert der Bundesgerichtshof das Veranlassen eines Wechsels in der Begünstigtenstellung durch den Erblasser – und zwar auch über einen Treuhänder – als lebzeitige Vermögensweitergabe43. Zweck der Leistung nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB dürfte vorliegend die Mehrung des Vermögens des Empfängers sein, um einen Rechtsgrund zum Behaltendürfen zu schaffen. Die Erfüllung einer Verbindlichkeit des Erblassers als Leistungszweck scheidet aus, da der Erblasser bei der Errichtung der „Schwarzgeld“Stiftung kein Schenkungsversprechen zu Lebzeiten abgegeben hat, das noch der Erfüllung harrt. Vielmehr will der Erblasser – so er denn die Zuwendung veranlasst hat – eine causa schaffen, einen Rechtsgrund zum Behaltendürfen der Begünstigtenstellung. cc) Ohne Rechtsgrund Ohne Rechtsgrund erfolgt eine Leistung nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB immer dann, wenn der mit der Leistung verfolgte Zweck nicht eingetreten ist, hier also in Wirklichkeit kein Rechtsgrund zum Behaltendürfen geschaffen wurde. (1) Satzung der Stiftung? Die Satzung der Stiftung ist zunächst kein ausreichender Rechtsgrund zum Behaltendürfen. Dies hat auch äußerst scharfsinnig der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung von 201444 zur liechtensteinischen Anstalt und Stiftung (vgl. Rn. 51 der Entscheidung) erkannt: Jede Zuwendung benötigt eine causa. Der Rechtsgrund für die Weitergabe der Begünstigtenstellung kann nach dem Bundesgerichtshof nur schuldrechtlicher Natur sein, etwa eine Schenkung des Erblassers. Verlagert man den Blick auf die Stiftung, so wird die Tragweite der Entscheidung noch deutlicher. Wenn bei der Anstalt das Verschaffen einer Begünstigtenstellung eine lebzeitige Zuwendung darstellt, dann muss Gleiches auch für eine vom Erblasser (direkt oder indirekt) lebzeitig errichtete privatnützige Stiftung gelten45. Die Stiftungssatzung stellt dann lediglich einen Rechtsgrund für die Zuwendung im Verhältnis zwischen Stiftung und Begünstigtem dar (das dem Stiftungsstatut unterliegt). Nach dem Bundesgerichtshof muss man aber auch hier nach dem Rechtsgrund im Valutaverhältnis zwischen Erblasser und Begünstigtem fragen. Existiert keine causa, fallen Bereicherungsansprüche in den Nachlass46. 43

BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 41, 52 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. BGH, FamRZ 2015, 318 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. 45 Dutta, ErbR 2015, 345. 46 BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 42, 52 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. 44

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(2) Wirksame Schenkung Einen Rechtsgrund zum Behaltendürfen könnte womöglich eine Schenkung des Erblassers bilden. Allerdings bestehen bei „Schwarzgeld“-Stiftungen, die nach dem Tod des Erblassers auftauchen, oftmals Zweifel an dem wirksamen Zustandekommen einer Schenkung im Verhältnis zwischen dem Erblasser bzw. der Erbengemeinschaft und dem Empfänger. (a) Rechtsgeschäftliche Einigung über eine Schenkungsabrede? Fraglich ist bereits, ob sich der Erblasser und der Empfänger über eine Schenkungsabrede nach § 516 Abs. 1 BGB rechtsgeschäftlich geeinigt haben. Der Schenkungsvertrag kann erst nach dem Tod des Erblassers zustande kommen. Zwar sind die Gerichte bekanntlich recht großzügig und kreativ bei der postmortalen Konstruktion eines Schenkungsvertrags, der auch konkludent und ohne Annahmeerklärung des Beschenkten gegenüber den Schenker nach § 151 Satz 1 BGB geschlossen werden können soll, etwa unter Vermittlung eines Boten, wenn dieser die versprochene Leistung erbringt und der Dritte sie annimmt47. Allerdings kann mitunter zweifelhaft sein, ob selbst bei großzügiger Auslegung der Handlungen des Erblassers, des Empfängers der Begünstigtenstellung, der Stiftungsorgane und der betreffenden Bank, bei der das „Schwarzgeld“ liegt, ein solcher Vertragsschluss rechtsgeschäftlich begründet werden kann: Die Zuwendung der Begünstigtenstellung könnte – jedenfalls theoretisch – zugleich das Schenkungsangebot für den Empfänger enthalten, das die Stiftung oder die Bank als Botin des Erblassers weiterleitet. Der Tod des Erklärenden würde nach dem deutschen Schenkungsstatut (oben III. 4. a) aa)) die Wirksamkeit des Angebots unberührt lassen, § 130 Abs. 2 Fall 1 BGB. Das Angebot würde auch für die Erbengemeinschaft als Gesamtrechtsnachfolgerin wirken, § 1922 Abs. 1 BGB. Ob sich das Verhalten des Erblassers, der Bank und der Stiftung jedoch in dieser Weise nach §§ 133, 157 BGB auslegen lässt, ist nicht immer eindeutig. Das betrifft vor allem Fälle, in denen die Stiftung überhaupt nicht direkt gegenüber dem Empfänger der Begünstigtenstellung auftritt, sodass eine Botenschaft der Stiftung von vorneherein ausscheidet. Ähnlich problematisch ist es, wenn die Bank erst auf Nachfrage der Erben Informationen über die Stiftung erteilt; die Mitteilung der Information wird man daher nur mit Schwierigkeiten aus Sicht eines objektiven Empfängers gemäß §§ 133, 157 BGB als Weiterleitung eines Schenkungsangebots ansehen können. Eine Botenschaft „auf Nachfrage“ ist kaum vorstellbar. Aber auch die Annahme der Schenkung durch den Empfänger der Zuwendung kann Fragen aufwerfen, selbst wenn der Empfänger gegenüber der Stiftung und der Bank eine Annahme erklärt. So könnte man die Annahmeerklärung auch dahingehend auslegen, dass der Empfänger lediglich der Stiftung gegenüber seine stif47 Vgl. RGZ 128, 187; BGHZ 41, 95; BGH, NJW 1975, 382; BGHZ 66, 8; BGH, NJW 1984, 480 = FamRZ 1984, 781.

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tungsrechtliche Begünstigtenstellung annehmen wollte. Freilich ist schenkungsrechtlich eine Annahmeerklärung als empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber der Stiftung oder der Bank meist überflüssig. Eine Entgegennahme der Begünstigtenstellung wird als konkludente Annahme ausreichen, wobei ein Zugang bei der Erbengemeinschaft nach § 151 Satz 1 BGB entbehrlich ist und das Angebot des Erblassers auch noch nach seinem Tod angenommen werden kann, § 153 Fall 1 BGB. (b) Wirksamkeit der Schenkungsabrede, insbesondere nach § 2301 BGB? Selbst aber wenn sich eine Schenkungsabrede zwischen den Erben und dem Empfänger der Begünstigtenstellung rechtsgeschäftlich (ggf. mit viel Kreativität) konstruieren lässt, kann eine solche Schenkung unwirksam sein. Im Raum steht insbesondere eine Unwirksamkeit nach §§ 125 Satz 1, 2301 Abs. 1 Satz 1 BGB. Eine direkte Anwendung des § 2301 BGB ist zwar nicht möglich, da hier kein Schenkungsversprechen, sondern allenfalls eine Handschenkung vorliegt. Aber § 2301 BGB findet analog auch auf eine zu Lebzeiten des Schenkers eingeleitete Handschenkung Anwendung, soweit sie erst nach dem Tod des Schenkers zustande kommt und vollzogen wird48. Demnach müsste die Schenkung – soweit man eine solche Schenkungsabrede überhaupt bejaht – in Form einer Verfügung von Todes wegen errichtet worden sein49. Hieran fehlt es regelmäßig bei nach dem Tod des Erblassers auftauchenden „Schwarzgeld“-Stiftungen, und zwar selbst dann, wenn man – entgegen der wohl herrschenden Meinung, welche die Schenkung auf den Todesfall aufgrund ihrer vertraglichen Natur als Erbvertrag50 qualifiziert – die Form eines eigenhändigen Testaments nach § 2247 BGB ausreichen lassen würde: Das betreffende Stiftungsdokument – im eingangs geschilderten Fall das Reglement der Stiftung – wurde nicht vom Erblasser eigenhändig geschrieben und unterschrieben errichtet, es ist meist bereits unklar, ob der Erblasser überhaupt an dessen Errichtung beteiligt war. Auch wird man die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Nichtanwendbarkeit des § 2301 BGB bei Verträgen zugunsten Dritter auf den Todesfall nicht bei der postmortalen Zuwendung einer Stiftungsbegünstigung entsprechend anwenden können. Bekanntlich ist nach dieser Rechtsprechung51 bei Zuwendung einer Begünstigung aus einem Vertrag zugunsten Dritter eine Anwendung des § 2301 BGB ausgeschlossen: Bereits die §§ 328, 331 BGB sollen nach dem Bundesgerichtshof zeigen, dass der Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall als Rechtsgeschäft 48

Staudinger/Kanzleiter, 2019, § 2301 BGB Rn. 5. So auch R. Werner, ZErb 2016, 92, unter II. 2. b, der dies sogar der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2014 (BGH, FamRZ 2015, 318 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139) entnehmen möchte, die meines Erachtens zur Anwendbarkeit des § 2301 BGB unmittelbar schweigt. 50 Siehe etwa Staudinger/Kanzleiter, 2019, § 2301 BGB Rn. 3; anders z. B. MüKoBGB/ Musielak, 8. Aufl. 2020, § 2301 BGB Rn. 13. 51 Siehe vor allem RGZ 106, 1 (2); BGH, NJW 1976, 749 (750) = BGHZ 66, 8 = FamRZ 1976, 205; NJW 1984, 480 (481). 49

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unter Lebenden behandelt wird. Vor allem aber hat die ständige Rechtsprechung, die eine Anwendung bei Fällen eines Vertrags zugunsten Dritter auf den Todesfall bisher abgelehnt hat, einen Vertrauenstatbestand bei den beteiligten Kreisen geschaffen, der nicht zurückgenommen werden darf. Diese Überlegungen greifen bei der stiftungsrechtlichen Zuwendung einer Begünstigtenstellung auf den Todesfall nicht. Es fehlt sowohl an einer den §§ 328, 331 BGB vergleichbaren gesetzlichen Wertung als auch an einer ständigen Rechtsprechung, die einen Vertrauenstatbestand gesetzt haben könnte. Insbesondere handelt es sich bei dem Reglement einer Stiftung nicht um einen Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall, auch wenn dies das Oberlandesgericht Stuttgart ohne nähere Begründung in einem ähnlichen Fall behauptet hat52. Es fehlt bereits an einem vertraglichen Charakter des Reglements der Stiftung, das als einseitiges stiftungsrechtliches Rechtsgeschäft zu qualifizieren ist, während §§ 328, 331 BGB einen Vertrag vorsehen. Dies hat etwa für erbschaftsteuerliche Zwecke bei der Zuwendung einer Begünstigtenstellung einer liechtensteinischen Stiftung auch das Finanzgericht Düsseldorf bestätigt53. dd) Rechtsfolge Damit besteht regelmäßig – soweit die Stiftung aus Sicht des deutschen Rechts wirksam sein sollte (III. 1.) – ein Anspruch der Erben gegen den Empfänger der Begünstigtenstellung, der freilich auch zu den Erben zählen kann. Da diese Begünstigtenstellung ohne Mitwirkung der Stiftungsorgane, insbesondere des Stiftungsrats, nicht abgeändert werden kann, ist eine Herausgabe des erlangten Etwas nach § 812 Abs. 1 BGB dem Empfänger der Begünstigtenstellung als Bereicherungsschuldner nicht möglich. Dies wäre freilich anders zu beurteilen, wenn auch Rechte aus einem Mandats- oder Treuhandvertrag in den Nachlass fallen würden, die es den Erben ermöglichen, auf den Stiftungsrat entsprechend einzuwirken (vgl. III. 2. c) und III. 3.). Dann könnten die Erben das Stiftungsreglement womöglich sogar einseitig abändern und damit den Bereicherungsanspruch quasi selbst erfüllen. Soweit die Begünstigtenstellung nicht rückabgewickelt werden kann, schuldet der Empfänger dem Nachlass Wertersatz nach § 818 Abs. 2 BGB. Der Empfänger müsste den Wert der Begünstigtenstellung herausgeben, der dem Wert des Stiftungsvermögens in Höhe des jeweiligen Anteils der Begünstigtenstellung entspricht. Jedoch könnte der Wert der Begünstigtenstellung jenseits des Wertes eines laufenden „Stiftungsgenusses“ bei Null liegen, wenn die Stiftungsorgane – womöglich sogar auf Veranlassung der Erben auf Basis eines vom Erblasser geschlossenen Mandats- oder Treuhandvertrags (oben III. 3.) oder mit ihrer Einwilligung (oben II. 2. c)) – die Begünstigtenstellung wieder einseitig entziehen könnten. Dies deutet 52

OLG Stuttgart, ZEV 2010, 265 Rn. 65 = IPRax 2012, 438. FG Düsseldorf, ZEV 2014, 381 f.; so auch bereits Jakob, Schutz der Stiftung, 2006, S. 170; anders tendenziell FG Bremen, BeckRS 2010, 26029530; vgl. die Kritik an dieser Entscheidung von Büch, ZEV 2011, 152 (153). 53

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auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung von 2014 an und stellt klar, dass der Wert der Begünstigtenstellung vor allem dann werthaltig ist, wenn diese nicht mehr entzogen werden kann54.

IV. Was fällt in den fiktiven Nachlass für Zwecke einer etwaigen Pflichtteilsergänzung? Nur der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass – sollte eine Schenkungsabrede zwischen dem Erblasser und dem Empfänger der Begünstigtenstellung wirksam zustande gekommen sein (oben III. 4. b) cc) (2)) – diese Schenkung Pflichtteilsergänzungsansprüche nach §§ 2325 ff. BGB auslösen könnte. Jedenfalls die Pflichtteilsergänzungsfrist wird bei „Schwarzgeld“-Stiftungen nicht abgelaufen sein, selbst wenn die Stiftung mehr als zehn Jahre vor dem Tod des Erblassers errichtet wurde; zu Recht sieht der Bundesgerichtshof in der Entscheidung von 2014 die Zuwendung der Begünstigtenstellung erst mit dem Tod des Erblassers als vollzogen an55.

V. Ergebnisse Lässt ein Erblasser, dessen Rechtsnachfolge von Todes wegen deutschem Erbrecht unterliegt, zu Lebzeiten eine Stiftung im Ausland errichten, deren Begünstigtenstellung abweichend von der Erbfolge weitergegeben werden soll, so können im Hinblick auf das Vermögen der Stiftung zahlreiche Rechtspositionen bestehen, die in den Nachlass fallen und bei der Auseinandersetzung des Nachlasses zu berücksichtigen sind. Im schlimmsten Fall, wenn die Stiftung vornehmlich zu Zwecken der Steuerhinterziehung errichtet wurde, ist die ausländische Stiftung aus Sicht des deutschen Rechts nicht anzuerkennen. Dann fällt das vermeintlich der Stiftung übertragene Vermögen in den Nachlass und kann – soweit es sich um Bankvermögen bei einer Bank mit Sitz in der Europäischen Union oder der Schweiz, Norwegen und Island handelt – sogar vor den deutschen Gerichten für den Nachlass realisiert werden (oben III. 1.). Aber auch wenn die Stiftung aus Sicht des deutschen Rechts als rechtsfähiges Gebilde anzuerkennen ist, können sich zahlreiche Ansprüche ergeben, die in den Nachlass fallen: Neben stiftungsrechtlichen Positionen nach ausländischem Recht (oben III. 2.) und Ansprüchen des Nachlasses aus einem Mandats- oder Treuhandvertrag des Erblassers (oben III. 3.) kommen oftmals Bereicherungsansprüche gegen den Empfänger der Begünstigtenstellung in Betracht (III. 4.).

54 55

BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 41 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139. BGH, FamRZ 2015, 318 Rn. 48 = ZEV 2015, 163 = ErbR 2015, 139.

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Kehrt die ausländische Bank das formal der Stiftung zugewiesene Vermögen dem Empfänger der Begünstigtenstellung aus, so würde dies im Grundsatz nichts an den vorstehenden Überlegungen ändern. Sollte etwa die Stiftung aus Sicht des deutschen Rechts nicht anzuerkennen sein und das Vermögen weiterhin in den Nachlass fallen (oben III. 1.), dann könnte der Nachlass weiterhin Leistung von der Bank verlangen, die an den Empfänger der Begünstigtenstellung als vermeintlich Begünstigten geleistet hätte, dem diese Position aus deutscher Sicht nicht zusteht. Eine Leistungsbefreiung gegenüber dem Nachlass dürfte damit nicht eingetreten sein. Sollten dagegen Bereicherungsansprüche des Nachlasses gegen den Empfänger der Begünstigtenstellung wegen einer rechtsgrundlos zugewandten Begünstigtenstellung in den Nachlass fallen (oben III. 4.), werden diese Bereicherungsansprüche nicht dadurch berührt, dass der Empfänger seine Rechte aus dieser Stellung geltend macht. Er bleibt weiterhin zum Wertersatz an den Nachlass verpflichtet. Unter dem Strich lässt sich damit festhalten: Die Abwicklung einer ausländischen „Schwarzgeld“-Stiftung durch die Erben ist auch jenseits der steuerlichen Verheerungen56 nicht nur mit viel Aufwand (und Kosten – allein zur Ermittlung des ausländischen Rechts) verbunden. Auch kann die Einschaltung einer solchen Stiftung kann die Wertungen des Erbrechts nur schwer umgehen, jedenfalls im Hinblick auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen desjenigen Erblassers, der sie errichtet57. Daher sollte jede Errichtung einer Auslandsstiftung mit einem Warnhinweis versehen werden: Ist es das wert?

56

Siehe zu „steuerlich kontaminierte[n] Nachl[ässen]“ etwa Schaub, ZEV 2011, 624. Zur langfristigen Umgehung des gesetzlichen Erbrechtsmodells durch Errichtung einer Stiftung bei nachfolgenden Generationenwechseln etwa Dutta, Warum Erbrecht?, 2014, S. 21 ff., 138 ff. 57

Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht im Erbgang Von Christian Gomille Aus den vielfältigen wissenschaftlichen Interessen des Jubilars sticht insbesondere seine Beschäftigung mit den zivilrechtlichen Aspekten des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts heraus. Seine entsprechende Kommentierung bei § 823 BGB im Staudinger, sein Vortrag auf der 1995er Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung über den „Schutz der Ehre im Zivilrecht“ (veröffentlicht in: AcP 196 [1996], 169 ff.) sowie seine Berliner Antrittsvorlesung über „Grundrechte im Privatrecht“ (veröffentlicht in: JZ 1994, 373 ff.) sind dabei nur die herausragendsten Früchte seiner jahrelangen Arbeit auf diesem Feld. Während meiner Zeit als Mitarbeiter an seinem Münchener Lehrstuhl begeisterte Johannes Hager mich von Anfang an für die spannenden Rechtsprobleme, die sich um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ranken und die nach wie vor einen Schwerpunkt meiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit bilden.

I. Einleitung 1. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und der erbrechtliche Vermögensbegriff Wer sich mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Erbgang befasst, geht der Frage nach, ob das Allgemeine Persönlichkeitsrecht den Tod seines Trägers überdauern kann. Die Antwort auf diese Frage kann in zwei Konstellationen relevant werden: Erstens, wenn Ansprüche wegen der Verletzung seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu Lebzeiten des Betroffenen entstanden, aber noch nicht vollständig erfüllt sind; zweitens, wenn jemand nach dem Tod des Betroffenen Verletzungshandlungen vornimmt, die zu dessen Lebzeiten Ansprüche wegen der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts begründet hätten. In beiden Konstellationen kommt es entscheidend darauf an, ob das Allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. Ansprüche wegen seiner Verletzung zu dem gem. § 1922 Abs. 1 BGB übergangsfähigen Vermögen des Erblassers gehören. Dieses Vermögen lässt sich ganz allgemein beschreiben als der Inbegriff aller subjektiven privaten Rechte und Verbindlichkeiten (§ 1967 BGB), die nicht wegen ihrer höchstpersönli-

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chen Natur automatisch mit dem Tod des Erblassers erlöschen.1 Ausgehend von diesem Begriff sind das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und lebzeitig entstandene Ansprüche daraus erbrechtlich übergangsfähig, wenn sie die Qualität eines subjektiven privaten Rechts haben und nicht untrennbar mit der Person des Erblassers verbunden sind. 2. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als subjektives privates Recht Lebzeitig erworbene Ansprüche geben dem Inhaber gem. § 194 Abs. 1 BGB das Recht, von dem Schuldner ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Ihre Qualität als subjektives privates Recht ist deshalb jedenfalls dann unproblematisch, wenn man hierunter die Willensmacht versteht, die die Rechtsordnung dem Einzelnen verleiht, um seine Interessen durchzusetzen.2 Demgegenüber hat man dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht als solchem sehr lange die Anerkennung als subjektives privates Recht verweigert, und zwar u. a. deshalb, weil Subjekt und Objekt eines Rechts unmöglich eins sein könnten.3 Spätestens seit das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Leserbriefentscheidung als sonstiges Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB anerkannt wurde,4 ist diese Sichtweise aber überwunden. 3. Das Problem der Höchstpersönlichkeit Freilich wirft die Einheit von Subjekt und Objekt ernste Fragen über die fehlende Höchstpersönlichkeit von Persönlichkeitsrechten auf, ohne die es einen erbrechtlichen Übergang nicht gibt. Wenn nämlich die besonderen Persönlichkeitsgüter Leben, Gesundheit, Körper und Freiheit schwerlich noch nach dem Tod des Erblassers verletzt werden können, leuchtet jedenfalls nicht unmittelbar ein, weshalb eine postmortale Verletzung gerade des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts möglich sein sollte.5 Hat sich die Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts hingegen zu Lebzeiten des Erblassers zugetragen, erwirbt er zunächst die negatorischen und die Schadensersatzansprüche, die als solche nicht Bestandteil des Persönlichkeitsrechts sind.6 Ihre Zuordnung zum Erblasservermögen ist daher keineswegs logisch ausgeschlos-

1 Vgl. BeckOGK/Preuß, 1. 2. 2021, BGB § 1922 Rn. 158 f.; MüKoBGB/Leipold, 8. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 21; Staudinger/Kunz, BGB, 2017, § 1922 Rn. 74; Brox/Walker, Erbrecht, 29. Aufl. 2021, § 1 Rn. 12. 2 Immenga/Mestmäcker/Dreher, WettbewerbsR, 6. Aufl. 2021, GWB § 97 Rn. 226 f. 3 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, 1840, S. 336 f. 4 BGHZ 13, 334 (338). 5 PWW/Prütting, BGB, 13. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 48. 6 BGHZ 201, 45 Rn. 9.

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sen. Allerdings können auch solche Ansprüche einen rein personenbezogenen Charakter haben, der ihre Vererblichkeit ausschließt.7

II. Ideelle und kommerzielle Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts Rechtsprechung und h. M. entwickeln ihre Lösungen für das Höchstpersönlichkeitsproblem aus der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen den kommerziellen und den ideellen Bestandteilen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 1. Die ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts Das zivilrechtliche Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde auf Grundlage von Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG zunächst zu dem Zweck entwickelt, den Schutz der ideellen Interessen des Einzelnen zu vervollkommnen.8 Namentlich in der Leserbriefentscheidung hieß es hierzu, dass der Betroffene sich gegen öffentliche Verfälschungen seines Persönlichkeitsbildes verteidigen können müsse.9 Im Übrigen variiert die Beschreibung der ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, ohne dass sich in der Sache nennenswerte Unterschiede ergäben. Ausgehend von der grundrechtlichen Gewährleistung aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG kann der Einzelne aus §§ 823, 1004 BGB Schutz beanspruchen (i) gegen die Behauptung und Verbreitung unwahrer Tatsachen über ihn,10 (ii) gegen Angriffe auf seine persönliche Ehre, insbesondere in Form von Schmähkritiken und Formalbeleidigungen,11 (iii) gegen das Eindringen in seine gegenüber der Öffentlichkeit abgeschirmte Sphäre12 sowie (iv) dagegen, dass er mit einem persönlichen Lebensumstand einer Öffentlichkeit preisgegeben wird, die er weder gesucht noch zur Auseinandersetzung damit herausgefordert hat.13 Diese ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts werden einhellig als ebenso unmittelbar und untrennbar mit dem Träger verbunden angesehen

7

MüKoBGB/Leipold, 8. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 77. BGHZ 143, 214 (218); Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 16; MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 36; Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 15; Peifer, GRUR 2002, 495 (497). 9 BGHZ 13, 334 (339). 10 BGHZ 13, 334 (337); Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 II. 1. a); Hager, AcP 196 (1996), 168 (199). 11 BVerfGE 82, 43 (51); 99, 185 (196); BVerfG, NJW 2020, 2622 Rn. 16; ZUM 2021, 45 Rn. 17. 12 BVerfGE 101, 361 (382); Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 189. 13 BGH, GRUR 2005, 612 (613). 8

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wie sein Leben, sein Körper, seine Gesundheit und seine Freiheit.14 Dementsprechend sind sie auch als solche nicht in dem Sinne gem. § 1922 Abs. 1 BGB erbrechtlich übergangsfähig, dass eine postmortale Beleidigung o. Ä. des Erblassers sich automatisch gegen den Erben als dessen Rechtsnachfolger richtete.15 2. Die kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts Um eine andere Form von Beeinträchtigung handelt es sich jedoch, wenn der Verletzer ungefragt den wirtschaftlichen Wert einer fremden Persönlichkeit für sich wirken lässt, etwa indem er den Betroffenen als unfreiwilligen Werbeträger verwendet16 oder ihn zum integrierten Bestandteil seiner eigenen kommerziellen Leistung macht.17 Sicherlich liegt hierin eine Verfälschung des Persönlichkeitsbildes, wenn der unzutreffende Eindruck erweckt wird, der Betroffene empfehle die beworbene Leistung oder identifiziere sich mit ihr.18 Man könnte also meinen, dass ein Abwehranspruch gestützt auf die Verletzung der ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts den Betroffenen auch vor solchen Übergriffen ausreichend schützte. Allerdings muss, wie schon das Beispiel des mit seinem realen Erscheinungsbild in ein Computerspiel integrierten Fußballprofis zeigt, eine wirtschaftliche Ausnutzung der fremden Persönlichkeit nicht notwendig mit unwahren Tatsachenbehauptungen über den Betroffenen einhergehen.19 Im Übrigen ergäben sich auch auf der Rechtsfolgenseite nur wenig befriedigende Lösungen, wenn man die Zwangskommerzialisierungsfälle allein unter ideellen Aspekten betrachtete. In diesem Fall könnte der Betroffene nämlich weder eine Gewinnabschöpfung noch eine fiktive Lizenzgebühr beanspruchen. Vielmehr wäre er auf die negatorischen Abwehransprüche sowie auf den Ersatz seiner etwaigen Restitutionsaufwendungen beschränkt.20 Um diesen Lücken im persönlichkeitsrechtlichen Rechtsschutz wirksam zu begegnen, erkennen Rechtsprechung und h. M. seit vielen Jahren zusätzlich zu den ide14

BGHZ 143, 214 (220); 189, 65 Rn. 38; 201, 45 Rn. 9; Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 16; PWW/Prütting, BGB, 13. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 48; Alexander, ZUM 2011, 382 (386). 15 BGHZ 50, 133 (137); 143, 214 (220); 165, 203 (210); Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 16; Alexander, ZUM 2011, 382 (386). 16 BGHZ 20, 345 (350); 30, 7 (12); BGH, NJW 1992, 2084; 2009, 3032 Rn. 31; MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 36; Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 225. 17 RGZ 125, 80; OLG Hamburg, ZUM 2004, 309. 18 BGHZ 26, 349 (353); Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 II. 3. a); Wenzel/Burkhardt/Peifer, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 5 Rn. 102; Peifer, GRUR 2002, 495 (497). 19 BGHZ 20, 345 (350); Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 225; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 II. 3. a). 20 Peifer, GRUR 2002, 495 (497).

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ellen auch kommerzielle Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts an.21 Diese bilden ein selbständig verwertbares Vermögensgut,22 sie sind deshalb als solche vererblich23 und ermöglichen eine Schadensberechnung insbesondere auch aufgrund der fiktiven Lizenzgebühr.24 Insgesamt ähnelt die Situation beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht damit derjenigen beim Urheberrecht, bei dem ebenfalls zwischen dem ideellen Urheberpersönlichkeitsrecht gem. §§ 12 bis 14 UrhG und den kommerziellen Verwertungsrechten gem. §§ 15 ff. UrhG unterschieden wird. 3. Zuordnung der Persönlichkeitsverletzung Allerdings zeigt schon das Beispiel der demütigenden Werbung aus dem Herrenreiterfall, dass die Entscheidung, ob eine Verletzungshandlung die ideellen oder die kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts trifft, nicht immer leichtfällt. Wegen der Unterschiede bei den Rechtsfolgen und bei der Vererblichkeit muss eine Zuordnung aber dennoch erfolgen. Diese Zuordnung erfolgt danach, ob die Verpflichtung zur Zahlung einer fiktiven Lizenzgebühr die sinnvolle rechtliche Reaktion auf die konkrete Verletzung ist. Bei dieser Form des Schadensersatzes wird der Abschluss eines Lizenzvertrags zu angemessenen Bedingungen fingiert.25 Sie kommt deshalb nur dort in Betracht, wo der Verletzer in Ausschließlichkeitsrechte eingreift, deren Benutzung durch Dritte gegen Entgelt rechtlich möglich und verkehrsüblich ist.26 So liegt es gewiss dort, wo Persönlichkeitsattribute oder das unverzerrte Persönlichkeitsbild als Ganzes eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit auf ein Produkt zu lenken oder um es inhaltlich attraktiver zu gestalten. Folglich geht es allein um die kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wenn sein Träger zum unfreiwilligen Werbebotschafter oder etwa zu einer Figur in einem Computerspiel wird. Natürlich verfolgt der Verletzer aber auch in den Fällen kommerzielle Eigeninteressen, in denen er zum Zwecke der Steigerung von Druckauflage, Einschaltquote und/oder Klickzahlen erfundene Interviews, heimlich gefertigte Aufnahmen aus der Intimsphäre oder sonstige Privatgeheimnisse des Betroffenen verbreitet.27 Den21 BGHZ 26, 349 (352 f.); 30, 7 (12); 143, 214 (219); 165, 203 (209); 169, 193 Rn. 12; Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 225; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 II. 3. a). 22 MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 36. 23 BGHZ 143, 214 (220); 169, 193 Rn. 13; PWW/Prütting, BGB, 13. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 48. 24 Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 309; Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 14. Aufl. 2021, Kap. 7 Rn. 46. 25 BGHZ 119, 20 (27); BGH, GRUR 1990, 1008 (1009); BeckOK UrhR/Reber, 15. 1. 2021, UrhG § 97 Rn. 119. 26 BGHZ 44, 372 (374); 60, 206 (211); BGH, GRUR 1990, 1008 (1009); Schricker/ Loewenheim/Wimmers, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG § 97 Rn. 267. 27 Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 14. Aufl. 2021, Kap. 7 Rn. 36.

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noch sind hier einzig die ideellen Interessen des Betroffenen berührt. Denn rein faktisch mag der konkrete Betroffene ex ante auch in die Verbreitung von erfundenen Interviews etc. einwilligen und für diese Einwilligung eine Vergütung vereinbaren können.28 Keineswegs ist es aber objektiv verkehrsüblich, dass im Vorhinein Verträge über solche doch erhebliche Beeinträchtigungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts geschlossen werden.29 Dementsprechend geht es dem Verletzer hier auch nicht um die Ausbeutung kommerzieller Potentiale des fremden Persönlichkeitsrechts, sondern um die Gewinnerzielung auf Kosten seiner ideellen Bestandteile. Gleiches gilt, wenn der Betroffene in einer Werbung verzerrt dargestellt, beleidigt oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird30 oder wenn er in einem Computerspiel virtuell getötet werden soll. Zu erwähnen bleiben schließlich noch die Konstellationen, in denen jemand mit fremden Persönlichkeitsmerkmalen Geld verdient, ihm dies aber auch ohne Einwilligung des Betroffenen durch die Rechtsordnung gestattet ist. So liegt es etwa (i) bei der wahren und nicht die Privatsphäre verletzenden Berichterstattung über den Betroffenen,31 (ii) bei der Verbreitung einer Biographie32 oder eines Romans, dessen reale Vorbildfigur erkennbar wird,33 oder auch (iii) bei einer Werbung, deren Motiv Fragen von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung aufgreift und bei der deshalb ein Imagetransfer von dem Betroffenen auf die beworbene Leistung nicht stattfindet.34 Wegen der gesetzlichen Gestattung liegt hier schon keine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor, so dass sich die Frage nach ihrer Zuordnung gar nicht erst stellt. Überschreitet der Verwender hier jedoch die Grenzen des Gestatteten, sind nach dem zuvor Gesagten wiederum die ideellen und nicht die kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen.

III. Die ideellen Bestandteile des Persönlichkeitsrechts nach dem Tod seines Trägers Zwar mögen die ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach dem Tod nicht als solche als Vermögen i. S. d. § 1922 Abs. 1 BGB auf den Erben übergehen. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass sie nach dem Erbfall gänzlich bedeutungslos würden. Zum einen liegt nämlich §§ 22 Satz 3, 23 Abs. 2 Hs. 2 KUG die Möglichkeit einer postmortalen Persönlichkeitsverletzung zugrunde. Zum ande28

Vgl. Peifer, GRUR 2002, 495 (500). BGHZ 44, 372 (374 f.). 30 BGHZ 26, 349 (353). 31 Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 147. 32 KG, ZUM 1997, 213 (215); Schricker/Loewenheim/Ohly, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG § 31 Rn. 154. 33 BVerfGE 119, 1 (28). 34 BGHZ 169, 340 Rn. 15; BGH, GRUR 2008, 1124 Rn. 17. 29

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ren betrifft die Höchstpersönlichkeit der ideellen Bestandteile als solcher nicht zwingend auch die Ansprüche, die der Erblasser wegen ihrer Verletzung zu seinen Lebzeiten erworben hat. 1. Die erstmalige postmortale Verletzung a) Der verfassungsrechtliche Hintergrund §§ 22 Satz 3, 23 Abs. 2 Hs. 2 KUG entsprechen der verfassungsrechtlichen Sichtweise, wonach das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht automatisch mit dem Tod seines Trägers erlischt.35 Dahinter steht der Gedanke, dass der Achtungsanspruch eines Menschen aus Art. 1 Abs. 1 GG auch dadurch noch verletzt wird, dass Dritte ihn nach seinem Tod herabwürdigen.36 Daraus folgt, dass der zeitliche Schutzbereich des zivilrechtlichen Allgemeinen Persönlichkeitsrechts über den Tod seines Trägers hinaus erstreckt werden muss, um insoweit keine zivilrechtlichen Schutzlücken entstehen zu lassen. Unwahre Tatsachenbehauptungen, Schmähkritiken, Formalbeleidigungen u. Ä. verwirklichen demnach auch dann einen der Haftungstatbestände von § 823 BGB, wenn sie sich gegen einen zur Zeit der Äußerung bereits Verstorbenen richten.37 b) Die Wahrnehmungsberechtigten und ihre rechtliche Stellung Nach dem Tod des Betroffenen gibt es an sich freilich niemanden mehr, dem die Ansprüche wegen der Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts noch zugeordnet sein könnten. Manche begegnen diesem Problem mit der Annahme eines subjektlosen Rechts.38 Jedoch ist der lex lata ein Recht ohne Träger grundsätzlich fremd.39 Es wird lediglich für bestimmte Fälle als unvermeidbar hingenommen, in denen für eine Übergangszeit ein Berechtigter nicht existiert oder objektiv unbekannt ist.40 Als Dauerlösung, die es beim postmortalen Persönlichkeitsrecht aber notwendig sein müsste, eignet sich das subjektlose Recht deshalb nicht. Eine dauerhaft tragfähige Lösung lässt sich jedoch in Anlehnung an das postmortale Schicksal des Urheberpersönlichkeitsrechts entwickeln. Dieses geht gem. 35

BVerfGE 30, 173 (194); 146, 1 Rn. 100; BVerfG, NJW 2001, 594; 2001, 2957 (2958 f.); 2006, 3409; 2018, 770 Rn. 25; ZUM 2008, 323 Rn. 7. 36 BVerfGE 30, 173 (194); BVerfG, NJW 2001, 594; 2001, 2957 (2959); 2006, 3409; ZUM 2008, 323 Rn. 8. 37 MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 54; Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 34; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 VI. 1. c). 38 OLG München, BB 1997, 1971; Schack, GRUR 1985, 352 (361). 39 Köhler, BGB AT, 44. Aufl. 2020, § 17 Rn. 5; Neuner, BGB AT, 12. Aufl. 2020, § 20 Rn. 12; Fischer-Lescano, 50 KJ (2017), 475. 40 Neuner, BGB AT, 12. Aufl. 2020, § 20 Rn. 12; Heldrich, in: FS Lange, 1970, S. 163 (168).

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§ 1922 Abs. 1 BGB als integrierter Bestandteil des einheitlichen Urheberrechts gemeinsam mit den Verwertungsrechten auf den Erben über.41 Folglich geht der Erbe auch aus eigenem Recht vor, wenn er Ansprüche wegen der Verletzung von §§ 12 bis 14 UrhG geltend macht.42 Dennoch kann der Erbe aber nicht etwa aufgrund von § 13 Satz 1 UrhG die Anerkennung der Urheberschaft seiner selbst oder eines Dritten beanspruchen.43 Vielmehr kann er lediglich verlangen, dass der verstorbene Schöpfer als der Urheber des Werks anerkannt werde.44 Das zeigt, dass es bei der Geltendmachung von §§ 12 bis 14 UrhG durch den Erben nicht um die Verteidigung seiner (nicht vorhandenen) eigenen geistigen und persönlichen Beziehungen zu dem Werk geht, sondern um diejenigen des verstorbenen Urhebers.45 Gem. § 1922 Abs. 1 BGB erwirbt der Erbe somit zwar eigene Rechte aus §§ 12 bis 14 UrhG, ist mit dieser Rechtsposition aber für die Zwecke des verstorbenen Urhebers gebunden.46 Man kann deshalb durchaus von einer quasi-treuhänderischen Stellung des Erben sprechen.47 Eine ähnliche Konstruktion findet sich in § 76 Satz 4 UrhG, wonach die unvererblichen Persönlichkeitsrechte des Interpreten aus §§ 74, 75 UrhG auf die Angehörigen übergehen. Diese Gesetzesformulierung legt es wenigstens nahe, dass die Angehörigen insoweit eigene Rechte erwerben, bei deren Wahrnehmung sie aber wiederum an die Interessen des Verstorbenen gebunden sind. Angesichts des systematischen Zusammenhangs mit der urheberrechtlichen Parallelregelung besteht auch kein Anlass, die Rechtsträgerschaft der Angehörigen abzulehnen.48 Hat man damit zwei Vorbilder für eine dogmatische Konstruktion eines ideellen postmortalen Persönlichkeitsschutzes, die ohne die Annahme eines subjektlosen Rechts auskommen, drängt es sich geradezu auf, sie in einem ersten Schritt auf § 22 Satz 3 KUG auszudehnen und in einem zweiten Schritt auf das postmortale Persönlichkeitsrecht insgesamt. Die Angehörigen oder die sonstigen von dem Verstorbenen entsprechend bestimmten Personen („Wahrnehmungsberechtigte“) nehmen das postmortale Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen demnach als eigenes Recht wahr, tun dies aber ähnlich einem Treuhänder im Interesse des Verstorbenen.49 41

S. nur Schricker/Loewenheim/Ohly, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG § 28 Rn. 6. Schricker/Loewenheim/Peukert, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG vor § 12 Rn. 21. 43 Dreier/Schulze/Schulze, UrhG, 6. Aufl. 2018, § 28 Rn. 3. 44 BGHZ 107, 384 (390); Dreier/Schulze/Schulze, UrhG, 6. Aufl. 2018, Rn. 3. 45 Schricker/Loewenheim/Peukert, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG vor § 12 Rn. 22. 46 Schricker/Loewenheim/Peukert, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG vor § 12 Rn. 22; a. A. Dreier/Schulze/Schulze, UrhG, 6. Aufl. 2018, vor § 12 Rn. 11; Wandtke/Bullinger/Bullinger, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, UrhG vor § 12 Rn. 12. 47 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 VI. 1. c). 48 Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 40; a. A. Dreier/Schulze/Dreier, UrhG, 6. Aufl. 2018, § 76 Rn. 4. 49 Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 40; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 VI. 1. c); Heldrich, in: FS Lange, 1970, S. 163 (170 f.); Ludyga, ZEV 2014, 333 (335); offengelassen von Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 76; MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 50; unklar BGHZ 107, 384 (389). 42

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Der Rechtserwerb vollzieht sich dabei entweder analog § 76 Satz 4 UrhG kraft Gesetzes oder aber aufgrund einer privatautonom getroffenen Anordnung des Verstorbenen.50 Über den Vorschlag, die ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Erblassers in entsprechender Anwendung von § 28 UrhG i. V. m. § 1922 BGB ebenfalls den Erben zuzuweisen,51 mag man rechtspolitisch unterschiedlicher Auffassung sein. Auf Basis der lex lata bestehen aber erhebliche Erklärungsschwierigkeiten dafür, dass gerade für die ideellen Interessen am eigenen Bild mit § 22 Satz 3 KUG eine spezialgesetzliche Ausnahme bestehen sollte. Hinzu kommt, dass es dem Erblasser freisteht, durch eine entsprechende Anordnung die ideellen und die kommerziellen Bestandteile seines Persönlichkeitsrechts in den Händen des Erben zu vereinen.52 c) Negatorische Ansprüche und Ansprüche auf materiellen Schadensersatz Vor diesem Hintergrund kann der Erbe zunächst negatorische Ansprüche wegen unwahrer Tatsachenbehauptungen, Schmähkritiken oder Formalbeleidigungen über bzw. gegen den Verstorbenen ohne Weiteres als eigene Ansprüche in eigenem Namen geltend machen.53 Ebenso müssen ihm Schadensersatzansprüche nach §§ 823 Abs. 1, 249 Abs. 1 BGB zustehen, wenn er aus seinem eigenen Vermögen Aufwendungen getätigt hat, die zur Wiederherstellung des postmortalen Ansehens des Verstorbenen erforderlich waren.54 d) Der Anspruch auf Geldentschädigung Nach h. M. scheidet ein Geldentschädigungsanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG wegen einer Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts aus.55 Argumentiert wird mit der Funktion des Geldentschädigungsanspruchs. Dieser diene nämlich in erster Linie dazu, dem Betroffenen Genugtuung wegen einer besonders schweren Verletzung seines Persönlichkeitsrechts zu verschaffen; ein Verstorbener könne aber keine Genugtuung mehr erfahren.56 50

Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 39, C 40. Brändel, in: Handbuch des Persönlichkeitsrechts, 2008, § 37 Rn. 29; Ludyga, ZEV 2014, 333 (335 f.). 52 Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 40. 53 BGHZ 143, 214 (223 f.); 165, 203 (206); 169, 193 Rn. 11; Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 47. 54 A. A. wohl BGHZ 143, 214 (223 f.); 165, 203 (206); 169, 193 Rn. 11, freilich jeweils vor dem Hintergrund der Geltendmachung von immateriellem Schadensersatz. 55 BGHZ 143, 214 (228); 165, 203 (206); 169, 193 Rn. 11; BGH, GRUR 1974, 794 (795); 1974, 797 (800); Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 76; Wandtke/Bullinger/Fricke, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, KUG § 22 Rn. 30; Schack, GRUR 1985, 352 (358); Reber, ZUM 2004, 708 (711); Brost/Hassel, NJW 2020, 2214 (2220). 56 BGHZ 165, 203 (206 f.); BGH, GRUR 1974, 797 (800); Schack, GRUR 1985, 352 (358); Brost/Hassel, NJW 2020, 2214 (2220). 51

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Zwar bezwecke der Geldentschädigungsanspruch daneben auch, die erlittenen Beeinträchtigungen auszugleichen; doch sei auch ein solcher Ausgleich zugunsten eines Verstorbenen ausgeschlossen.57 Hinzu komme, dass das postmortale Persönlichkeitsrecht allein aus dem Grund anerkannt werde, seinem Träger lebzeitig die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu ermöglichen; die freie Entfaltung habe ihre Grundlage aber in Art. 2 Abs. 1 GG, der postmortal nicht mehr eingreife.58 Der somit noch verbleibende Präventionsgedanke könne einen immateriellen Ersatzanspruch allerdings allein nicht tragen.59 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Sichtweise der h. M. aus verfassungsrechtlicher Sicht deshalb gebilligt, weil es mit Blick auf den postmortalen Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG in der Rechtsordnung insgesamt keinen Verstoß gegen das Untermaßverbot erkennen konnte.60 Die Vertreter der Gegenauffassung sehen das postmortale Persönlichkeitsrecht ohne eine Pflicht des Verletzers zur Leistung von immateriellem Schadensersatz als nur unangemessen lückenhaft geschützt an.61 Die Frage nach der Existenz eines immateriellen Geldentschädigungsanspruchs wegen Verletzungen des postmortalen Persönlichkeitsrechts lässt sich allein mit verfassungsrechtlichen Wertungen nicht beantworten. So hat das Bundesverfassungsgericht zwar ausgeführt, dass „die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren“ nicht mit dem Tod ende.62 Offengelassen hat es dabei aber, auf welche Weise die staatlichen Gewalten diese Verpflichtung zu erfüllen hätten. Auch hat es sich namentlich in seinem Soraya-Beschluss die Argumentation des Bundesgerichtshofs, wonach Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG einen immateriellen Ersatzanspruch für besonders schwere Persönlichkeitsverletzungen gebieten,63 nicht zu eigen gemacht. Vielmehr hat es lediglich festgestellt, dass weder das von dem Bundesgerichtshof gefundene Ergebnis noch seine Methode der Rechtsgewinnung von Verfassung wegen unzulässig sei.64 Allenfalls ließe sich also sagen, dass das rechtsstaatliche Gebot, Gleiches gleich zu behandeln, zu einer Ausdehnung des immateriellen Geldentschädigungsanspruchs auch auf besonders schwerwiegende Verletzungen des postmortalen Persön57

BGHZ 165, 203 (207); Schack, GRUR 1985, 352 (358). Schack, GRUR 1985, 352 (358). 59 BGHZ 165, 203 (207); Schricker/Loewenheim/Leistner/Wimmers, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG § 97 Rn. 300. 60 BVerfG, ZUM 2007, 380 (381 f.). 61 OLG München, ZUM 2002, 744 (745); MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 57; Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. C 47a; Ludyga, ZEV 2014, 333 (337); ähnlich, jedoch mit einem anderen Sanktionsvorschlag BeckOGK/Preuß, 1. 2. 2021, BGB § 1922 Rn. 376.1. 62 BVerfGE 30, 173 (194); BVerfG, NJW 2001, 594; 2006, 3409; ZUM 2008, 323 (324); NVwZ 2016, 1804 Rn. 56. 63 BGHZ 26, 349 (356). 64 BVerfGE 34, 269 (290 f.). 58

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lichkeitsrechts zwänge.65 Freilich besteht aus zivilrechtlicher Perspektive durchaus ein sachlicher Grund, insoweit zwischen den prä- und den postmortalen Verletzungen zu unterscheiden. Zur Begründung dieses Unterschieds mag man bei den negatorischen Ansprüchen ansetzen. Sie knüpfen an die objektive Verletzung des ideellen Persönlichkeitsrechts an. Hier spielt es deshalb keine Rolle, ob diese objektive Verletzung vor dem Tod von dem Betroffenen selbst oder nach dem Tod von seinen Wahrnehmungsberechtigten geltend gemacht wird. Ganz ähnlich verhält es sich beim materiellen Schadensersatz für Restitutionsaufwendungen. Hier fallen präund postmortal dieselben Aufwendungen an. Es ist deshalb unerheblich, ob sie nach dem Tod ein Wahrnehmungsberechtigter auf sich nimmt oder ob sie zu Lebzeiten der Betroffene auf sich hätte nehmen müssen. Anders ist es aber bei den immateriellen Einbußen. Angesichts einer postmortalen Verunglimpfung des Verstorbenen mag ein Wahrnehmungsberechtigter solche zwar durchaus erleiden. Dieses Leid ist aber höchstpersönlich66 und mit demjenigen, welches der Verstorbene zu seinen Lebzeiten hypothetisch erlitten hätte, weder identisch noch austauschbar.67 Folglich kann der Wahrnehmungsberechtigte es auch nicht treuhänderisch für den Verstorbenen auf sich nehmen. Da der Verstorbene definitionsgemäß selbst keine immateriellen Einbußen mehr erleiden kann, kommt ein Geldentschädigungsanspruch wegen einer Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts in der Tat nicht in Betracht.68 Dieses Ergebnis fügt sich bruchlos in die Systematik der spezialgesetzlichen Regelungen über immateriellen Schadensersatz bei Persönlichkeitsverletzungen ein. So kann der Erbe für postmortale Verletzungen des Urheberpersönlichkeitsrechts keinen immateriellen Schadensersatz gem. § 97 Abs. 2 Satz 4 UrhG geltend machen.69 Entsprechendes gilt für Art. 82 Abs. 1 Alt. 2 DSGVO, da die erstmalige Verletzung einer solchermaßen bewehrten datenschutzrechtlichen Bestimmung sich gegen eine lebendige Person richten muss.70

65

OLG München, ZUM 2002, 744 (746). Beuthien, GRUR 2014, 957. 67 Heldrich, in: FS Lange, 1970, S. 163 (169). 68 Götting, GRUR 2004, 801 (802). 69 OLG Hamburg, NJW-RR 1995, 562 (563); Wandtke/Bullinger/von Wolff, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, UrhG § 97 Rn. 85; Schricker/Loewenheim/Leistner/Wimmers, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG § 97 Rn. 299; Schack, GRUR 1985, 352 (358); a. A. BeckOK UrhR/ Reber, 15. 1. 2021, UrhG § 97 Rn. 129. 70 Erwägungsgrund Nr. 27 zur Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/ EG (Datenschutz-Grundverordnung). 66

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2. Ansprüche wegen lebzeitiger Persönlichkeitsverletzungen a) Vererblichkeit von negatorischen Ansprüchen und Ansprüchen auf materiellen Schadensersatz Ansprüche auf Ersatz von Restitutionsaufwendungen, die der Erblasser zu Lebzeiten wegen der Verletzung seines ideellen Persönlichkeitsrechts erworben hat, sind vermögensrechtlicher Natur und gehen deshalb gem. § 1922 Abs. 1 BGB auf die Erben über.71 Gleiches gilt für andere Vermögensfolgeschäden wegen solcher Verletzungen. Hat der Schadensersatzanspruch hingegen die Naturalrestitution in Form des Widerrufs zum Ziel, geht es allein um die Beseitigung der ideellen Beeinträchtigung. Das auf den Erben übergegangene Vermögen ist hier noch gar nicht betroffen. Deshalb wird mit dem Tod nicht automatisch der Erbe zum Gläubiger dieses Anspruchs, sondern die ggf. davon abweichenden Wahrnehmungsberechtigten. Aus demselben Grund werden auch negatorische Ansprüche wegen der Verletzung ideeller Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht vererbt, sondern werden zum Bestandteil des postmortalen Persönlichkeitsrechts und gehen auf die Wahrnehmungsberechtigten über.72 b) Vererblichkeit des Geldentschädigungsanspruchs Am umstrittensten ist der Umgang mit dem Geldentschädigungsanspruch wegen lebzeitiger Persönlichkeitsverletzungen. Rechtsprechung und h. M. erkennen ihn nur als vererblich an, wenn der Verletzer den Anspruch anerkannt hat oder ein zusprechendes Urteil rechtskräftig ist.73 Unproblematisch ist in diesem Zusammenhang, dass das Gericht den Anspruch der Höhe nach erst durch eine eigene Ermessensentscheidung festlegt.74 Wie die Regelungen über die Verjährung von immateriellen Ersatzansprüchen zeigen,75 entstehen diese nämlich bereits mit dem Eintritt des Verletzungserfolgs. Gestützt wird die These von der grundsätzlichen Nichtvererblichkeit des prämortal entstandenen Geldentschädigungsanspruchs jedoch darauf, dass die mit dem Geldentschädigungsanspruch verbundenen Zwecke (i) Genugtuung und (ii) Ausgleich nach dem Tod des Betroffenen nicht mehr erreichbar wären.76 Auch

71

Staudinger/Kunz, BGB, 2017, § 1922 Rn. 306. A. A. PWW/Prütting, BGB, 13. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 48. 73 BGHZ 201, 45 Rn. 8; 215, 117 Rn. 7; BGH, NZI 2020, 839 Rn. 15; jurisPK-BGB/ Schmidt, 9. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 103; PWW/Prütting, BGB, 13. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 48; Wandtke/Bullinger/Fricke, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, KUG § 22 Rn. 30; Lettl, Urheberrecht, 3 Aufl. 2018, § 12 Rn. 79; Olzen/Looschelders, Erbrecht, 6. Aufl. 2020, Rn. 75; Stender-Vorwachs, NJW 2014, 2831 (2833); Brost/Hassel, NJW 2020, 2214 (2219). 74 Brand, Schadensersatzrecht, 2. Aufl. 2015, § 7 Rn. 27. 75 jurisPK-StraßenverkehrsR/Doukoff, 1. Aufl. 2016, BGB § 253 Rn. 100. 76 BGHZ 201, 45 Rn. 18; 215, 117 Rn. 18; BGH, NZI 2020, 839 Rn. 15. 72

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könne der Präventionsgedanke allein die Vererblichkeit dieses höchstpersönlichen Anspruchs nicht begründen.77 Die Argumentation gleicht derjenigen, mit der die h. M. einen Geldentschädigungsanspruch wegen einer erstmaligen postmortalen Verletzung ideeller Persönlichkeitsinteressen verneint. Der Unterschied zwischen dem prä- und dem postmortal eingetretenen Verletzungserfolg besteht allerdings darin, dass hier bei Eintritt des Verletzungserfolgs eine Person vorhanden war, die einen ersatzfähigen immateriellen Schaden erlitten hat.78 Das ist entscheidend. Denn in der Tat mag dem zwischenzeitlich Verstorbenen wegen dieses Schadens weder Genugtuung noch Ausgleich zuteilwerden. Für die Frage nach der Vererblichkeit des entsprechenden Anspruchs ist das aber ganz und gar unerheblich. Nach herkömmlicher Auffassung sollte nämlich auch das früher in § 847 BGB geregelte Schmerzensgeld dem Verletzten Ausgleich und Genugtuung zugleich verschaffen,79 weshalb der Gesetzgeber den entsprechenden Anspruch als höchstpersönlich einordnete und seinen erbrechtlichen Übergang durch § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB ausdrücklich ausschloss. Zum 1. Juli 1990 hat der Gesetzgeber diese Vorschrift allerdings ersatzlos gestrichen und dadurch die Ansprüche auf immateriellen Schadensersatz vererblich werden lassen. Damit hat er zugleich die Fragen, (i) ob ein Anspruch als Vermögen gem. § 1922 Abs. 1 BGB auf die Erben übergeht und (ii) ob er auch gegenüber ihnen seine ursprüngliche Genugtuungs- und/oder Ausgleichsfunktion noch erfüllen kann, bewusst voneinander entkoppelt. Diese gesetzgeberische Wertungsentscheidung umfasst den Geldentschädigungsanspruch wegen besonders schwerer Persönlichkeitsverletzungen selbst dann, wenn man an der überkommenen Auffassung festhält, dass hier die Genugtuungsfunktion im Verhältnis zur Ausgleichsfunktion stärker gewichtet sei als bei den ausdrücklich normierten Fällen des immateriellen Schadensersatzes. Wenn Ausgleich und Genugtuung gegenüber den Erben nämlich gleichermaßen unerreichbar sind,80 dann kann es für die Reichweite der dennoch angeordneten Vererblichkeit auch keine Rolle spielen, ob dem einzelnen Ersatzanspruch eher eine Ausgleichsoder eher eine Genugtuungsfunktion zukommt.81 Bedenkt man weiter, dass der Geldentschädigungsanspruch anders als die von § 253 Abs. 2 BGB unmittelbar erfassten Fälle gerade auch präventiv gegen schwere Verletzungserfolge wirken soll,82 muss dieser Anspruch in Wahrheit sogar erst recht vererblich sein.83 Hinzu kommt schließ77

BGHZ 201, 45 Rn. 19; 215, 117 Rn. 18. Beuthien, GRUR 2004, 957 (958). 79 BGHZ 180, 149 (154); Looschelders, Schuldrecht AT, 18. Aufl. 2020, § 48 Rn. 7. 80 BGHZ 165, 203 (206, 207); Schack, GRUR 1985, 352 (358). 81 Ähnlich MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 53; Schubert, JZ 2014, 1056 (1058); Schack, JZ 2018, 44 (46). 82 BGHZ 128, 1 (15); 160, 298 (302); 165, 203 (207); 182, 301 Rn. 11; 189, 65 Rn. 40; 199, 237 Rn. 38; 201, 45 Rn. 19; Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 314; MüKoBGB/Rixecker, 8. Aufl. 2018, Anh. zu § 12 Rn. 298. 83 Ähnlich Erman/Lieder, BGB, 16. Aufl. 2020, § 1922 Rn. 9; Ludyga, FamRZ 2017, 1618 f. 78

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lich, dass sich auch nur mit einer Vererblichkeit des Geldentschädigungsanspruchs bestenfalls schwer überbrückbare systematische Widersprüche zu den immateriellen Ersatzansprüchen aus § 97 Abs. 2 Satz 4 UrhG und Art. 82 Abs. 1 Alt. 2 DSGVO vermeiden lassen, die beide spezielle Bereiche des ideellen Persönlichkeitsrechts betreffen und vererblich sind.84 Hinter dem Bestreben insbesondere des Bundesgerichtshofs, den Wirkungsbereich des immateriellen Geldentschädigungsanspruchs möglichst gering zu halten, mag ein unterschwelliges Unbehagen mit Ursache darin stehen, dass dieser Anspruch seinerzeit in einer methodischen Grauzone entwickelt wurde und dies bis heute teils deutliche Kritik hervorruft.85 Tatsächlich besteht aber spätestens seit dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften86 kein Anlass mehr, den Geldentschädigungsanspruch als makelbehaftet anzusehen. Zwar hat der Gesetzgeber ihn bei der damals erfolgten Neuregelung des immateriellen Schadensersatzes unberücksichtigt gelassen. Aus den Gesetzesmaterialien geht jedoch mit aller Deutlichkeit hervor, dass diese Nichtberücksichtigung keine Ablehnung des Anspruchs bedeute und einer weiteren Anwendung keineswegs entgegenstehe.87 Jedenfalls durch diese Äußerung hat der Gesetzgeber sich den von der Rechtsprechung geschaffenen Geldentschädigungsanspruch gewissermaßen zu eigen gemacht und ihn dadurch legitimiert.88

IV. Die kommerziellen Bestandteile des Persönlichkeitsrechts nach dem Tod seines Trägers Verletzt ein Dritter nach dem Erbfall das kommerzielle Erblasserpersönlichkeitsrecht, kann der Erbe die entsprechenden negatorischen Abwehransprüche sowie Schadensersatz nach der dreifachen Berechnungsmethode geltend machen.89 Insoweit bestehen keine Besonderheiten. Interessanter ist hingegen die Frage nach den aktiven Befugnissen des Erben. Hier folgt aus der selbständigen Vererblichkeit im Ausgangspunkt, dass der Erbe hinsichtlich der kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dieselben Befugnisse innehat wie der Erblasser zu seinen Lebzeiten. Insbesondere kann er Dritten die Verwendung von Persönlichkeitsmerkmalen des Erblassers gegen Entgelt 84 Zu § 97 Abs. 2 Satz 4 UrhG: BeckOK UrhR/Reber, 15. 1. 2021, UrhG § 97 Rn. 129; Schricker/Loewenheim/Wimmers, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, UrhG § 97 Rn. 299; zu Art. 82 Abs. 1 Alt. 2 DSGVO: Kühling/Buchner/Bergt, DSGVO, 3. Aufl. 2020, Art. 82 Rn. 65. 85 Etwa Staudinger/Kannowski, BGB, 2018, Einl. zum BGB Rn. 128; Gounalakis, NJW 2016, 737 (742). 86 BGBl. 2002 I, S. 2674 ff. 87 RegE BT-Drucks. 14/7752, S. 24. 88 Neuner, JuS 2013, 577 (580); Ludyga, ZEV 2014, 333 (335). 89 Schricker/Loewenheim/Götting, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, KUG § 12 Rn. 62.

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gestatten. Natürlich kann aber ein Erblasser, der eine posthume Kommerzialisierung nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen wünscht, in seiner letztwilligen Verfügung entsprechende Anordnungen treffen und diese durch geeignete Maßnahmen absichern. Nach Rechtsprechung und h. M. muss der Erbe aber auch unabhängig von der Existenz solcher Anordnungen bei jeder Vermarktungsentscheidung die wirklichen oder mutmaßlichen Interessen des Erblassers mitberücksichtigen.90 Unter Umständen benötige derjenige, der die Erblasserpersönlichkeit für seine wirtschaftlichen Zwecke einsetzen wolle, auch nicht nur die Einwilligung der Erben, sondern auch diejenige der Angehörigen oder sonstigen Wahrnehmungsberechtigten. Wegen § 22 Satz 3 KUG gelte das zunächst für die Verbreitung oder Zurschaustellung von Bildnissen des Erblassers91 und darüber hinaus auch überall dort, wo die kommerzielle Maßnahme sowohl die ideellen als auch die kommerziellen Bestandteile des Erblasserpersönlichkeitsrechts betreffe.92 Das ist nicht in jeder Hinsicht überzeugend. So ist für den Erben beim Umgang mit dem nach § 1922 Abs. 1 BGB übergegangenen Vermögen der Erblasserwille grundsätzlich nur verbindlich, wenn er in den dafür vorgesehen erbrechtlichen Formen kundgetan wurde. Zwar mag der Erbe bei der Verwertung eines Werks das Urheberpersönlichkeitsrecht des Erblassers und im Übrigen ganz allgemein dessen postmortales Persönlichkeitsrecht zu beachten haben. Diese Beachtenspflicht kann aber nicht weiter reichen als der jeweilige Schutzbereich dieser Persönlichkeitsrechte. Daraus folgt, dass der Erbe bei Vermarktungsentscheidungen über das kommerzielle Persönlichkeitsrecht des Erblassers nur dort immanenten Beschränkungen unterliegt und an Mitspracherechte der Wahrnehmungsberechtigten gebunden ist, wo die beabsichtigte Maßnahme gleichzeitig die ideellen und die kommerziellen Bestandteile des Erblasserpersönlichkeitsrechts betrifft. Freilich fällt es schwer, sich eine solche Gleichzeitigkeit vorzustellen. Denn wie gesehen geht es gerade nicht um die unerlaubte Ausnutzung eines mit der Erblasserpersönlichkeit verbundenen kommerziellen Potentials, wenn der Verletzer seinen wirtschaftlichen Vorteil daraus zu ziehen versucht, dass er den Verstorbenen verächtlich macht, ihn in ein falsches Licht rückt, eines seiner Privatgeheimnisse offenbart o. Ä. Demnach kommt eine Nutzung der kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts von vornherein nur dort in Betracht, wo die konkrete Maßnahme die ideellen Interessen des Verstorbenen unberührt lässt. Folglich besteht bei dieser Form der Persönlichkeitsnutzung auch weder Bedürfnis noch Raum, den Erben bei der Vermarktungsentscheidung inhaltlich zu beschränken oder den Wahrnehmungsberechtigten Mitspracherechte zu gewähren. 90

BGHZ 143, 214 (226); Erman/Klass, BGB, 16. Aufl. 2020, Anh. zu § 12 Rn. 16; Lange, Erbrecht, 2. Aufl. 2017, § 9 Rn. 41. 91 BGHZ 143, 214 (227); Schricker/Loewenheim/Götting, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, KUG § 22 Rn. 62. 92 BGHZ 143, 214 (227).

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Dieses Ergebnis mag zunächst in einem gewissen Widerspruch dazu stehen, dass § 22 Satz 3 KUG wortlautgemäß tatsächlich für jede Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung eines Erblasserbildnisses die Einwilligung der Angehörigen verlangt. Allerdings besteht auch für diese Beschränkung der Erbenbefugnisse keine Rechtfertigung, wenn die beabsichtigte kommerzielle Verbreitung oder Zurschaustellung weder die postmortal geschützten ideellen Interessen des Erblassers beeinträchtigt noch entgegenstehende letztwillige Anordnungen vorhanden sind. In der Konsequenz der Anerkennung der kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Vermögen i. S. d. § 1922 Abs. 1 BGB liegt es deshalb, § 22 Satz 3 KUG insoweit als durch § 1922 Abs. 1 BGB verdrängt anzusehen.

V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht hat ideelle und kommerzielle Bestandteile. Ob eine Verletzungshandlung die einen oder die anderen Bestandteile betrifft, bemisst sich danach, ob auf der Rechtsfolgenseite die Pflicht zur Zahlung einer fiktiven Lizenzgebühr eine sachgerechte Sanktion ist. Die ideellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind kein Vermögen i. S. d. § 1922 Abs. 1 BGB. Sie wirken nach dem Tod seines Trägers aber als postmortales Persönlichkeitsrecht fort. Dessen Träger sind die sog. Wahrnehmungsberechtigten, das heißt die Angehörigen oder die sonstigen Personen, die der Verstorbene bestimmt hat. Sie üben das postmortale Persönlichkeitsrecht treuhänderisch für den Verstorbenen aus. Wegen postmortal begangener Verletzungen stehen ihnen dabei die negatorischen Abwehransprüche sowie Ansprüche auf Ersatz von Restitutionsaufwendungen zu. Einen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz können sie demgegenüber nicht geltend machen. Abwehransprüche wegen prämortal begangener Verletzungen des ideellen Persönlichkeitsrechts werden zu Ansprüchen der Wahrnehmungsberechtigten. Hingegen ist ein prämortal entstandener Anspruch auf immateriellen Schadensersatz Vermögen i. S. d. § 1922 Abs. 1 BGB und somit Bestandteil des Nachlasses. Die kommerziellen Bestandteile des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind Vermögen i. S. d. § 1922 Abs. 1 BGB. Über ihre Vermarktung kann der Erbe vorbehaltlich etwaiger Anordnungen des Erblassers frei entscheiden. Im Übrigen muss er weder Erblasserinteressen berücksichtigen noch benötigt er das Einverständnis der Wahrnehmungsberechtigten des ideellen postmortalen Persönlichkeitsrechts.

Die Sittenwidrigkeit anspruchserweiternder Eheverträge Von Johannes Hecht

I. Einführung Sittenwidrigkeit i. S. d. § 138 BGB assoziiert der Jurist jedenfalls vordergründig zunächst mit den Termini „Anspruchsausschluss“ oder „Anspruchsverkürzung“. Diese Feststellung gilt im besonderen Maße im Bereich des Ehevertragsrechts. Seit den beiden initialen Entscheidungen des BVerfG1 zur Reichweite der Vertragsfreiheit im Bereich der Eheverträge und dem hierauf basierenden Grundsatzurteil des BGH vom 11. 02. 20042 kreisen die ersten und primären Gedanken des sorgfältig agierenden Kautelarjuristen im Vorfeld der Ausarbeitung eines Ehevertrags um die immer wieder gleichen Grundfragen: Inwieweit ist eine Einschränkung oder gar ein totaler Ausschluss von Unterhalts-, Versorgungsausgleichs- und Zugewinnausgleichsansprüchen auf erster Stufe sittenwidrig3 (oder unterliegt zumindest auf zweiter Stufe einer Ausübungskontrolle4 und damit einer richterlich verfügten Vertragsanpassung)? Beides Worst-Case-Szenarien, die es aus Sicht des Vertragsgestalters freilich tunlichst zu vermeiden gilt. Die inzwischen zu diesem Themenkreis ergangene Rechtsprechung ist indes sehr umfangreich. Demzufolge finden sich in den einschlägigen Handbüchern5 der ehebezogenen Vertragsgestaltung mannigfaltige und präzise „Richtlinien“, anhand derer der Kautelarjurist die Zulässigkeit der ihm von seinen Mandanten herangetragenen anspruchsverkürzenden bzw. anspruchsausschließenden Gestaltungswünsche zwar nicht immer sicher zu beurteilen, aber doch zumindest besser einzuschätzen vermag. Die große Zahl gerichtlicher Entscheidungen und Literaturfundstellen hierzu erweckt den Eindruck, dass Eheverträge überwiegend zur Verkürzung oder gar zum Ausschluss gesetzlicher Ansprüche geschlossen werden. Unter diesem Blickwinkel gerät leider in Vergessenheit, dass in der Praxis Eheverträge durchaus (auch) mit dem Ziel geschlossen werden, die von den Vertragsteilen als unzulänglich 1

BVerfG, NJW 2001, 957 sowie BVerfG, NJW 2001, 2248. BGH, NJW 2004, 930. 3 Mayer, FPR 2004, 363 (364). 4 Bredthauer, NJW 2004, 3072 (3073). 5 Vgl. für viele die Ausführungen von Langenfeld/Milzer, Handbuch der Eheverträge und Scheidungsvereinbarungen, 8. Aufl. 2018, 3. Teil, Vereinbarungen zum nachehelichen Unterhalt Rn. 577 ff. 2

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empfundenen gesetzlichen Ansprüche angemessen zu erweitern. Ein – zumindest unter Familienrechtlern – „prominentes“ Beispiel hierfür ist die vertragliche Verlängerung6 der bisweilen als recht kurz empfundenen und daher kritisierten Mindestdauer des Kinderbetreuungsunterhalts bis zum Ende des dritten Lebensjahres eines gemeinschaftlichen Kindes (§ 1570 Abs. 1 Satz 1 BGB). Unter den raren Ausführungen in der Literatur zu Unterhaltsvereinbarungen zu Gunsten des Unterhaltsberechtigten finden sich darüber hinaus u. a. die Vereinbarung eines Mindestunterhalts oder der Ausschluss unterhaltsmindernder Umstände (etwa die Nichtberücksichtigung eigenen Einkommens des Unterhaltsberechtigten).7 Solche begünstigenden Vereinbarungen seien – so eine etwas lapidare Feststellung8 – „grundsätzlich zulässig“, es bestünde insoweit ein „größerer Gestaltungsspielraum“. Vor diesem Hintergrund mutet die Fragestellung nach einer (möglichen) Sittenwidrigkeit anspruchserweiternder Eheverträge paradox an. Auf welche Weise soll eine ehevertragliche Vereinbarung, die dem Vertragspartner mehr Ansprüche einräumt als ihm gesetzlich zustehen, gegen die eingebürgerte Formel vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“9 verstoßen? Eine Antwort auf diese Frage setzt einen Perspektivenwechsel voraus: Weg vom benachteiligten Anspruchsberechtigten beim „klassisch sittenwidrigen“ anspruchsbegrenzenden Ehevertrag hin zum anspruchspflichtigen Vertragspartner – bzw. hin zu möglichen weiteren belasteten Dritten – beim „potenziell sittenwidrigen“ anspruchserweiternden Ehevertrag.

II. Überschreitung der Leistungsfähigkeit des Schuldners Das Paradoxe an der Fragestellung dieses Beitrags wird einem durch die nüchterne These Grziwotz’ vor Augen geführt, wonach es „einen allgemeinen Grundsatz, dass Verträge sittenwidrig sind, die bei ihrem Abschluss die Leistungsfähigkeit des Schuldners überschreiten, im deutschen Recht nicht [gebe]“10. Im Zusammenhang mit dem Terminus der Sittenwidrigkeit i. S. d. § 138 Abs. 1 BGB wird der Problemkreis der mangelnden Leistungsfähigkeit unter dem Schlagwort der „Überforderung“11 oder – noch plastischer – der „krassen finanziellen Überforderung“12 diskutiert. Insoweit ist wiederum anerkannt, dass § 138 Abs. 1 BGB kein Einfallstor für die Gewährleistung einer umfassenden „Tauschgerechtigkeit“ im Vertragsrecht sein 6 S. hierzu bspw. den Formulierungsvorschlag von Reetz, in: BeckFormB BHW, Form. V. 14. Anm. 1 – 3, beck-online. 7 Huhn, RNotZ 2007, 177 (189 f.). 8 Huhn, RnotZ 2007, 177 (189 f.). 9 MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, BGB § 138 Rn. 14. 10 BGH, NJW 2009, 842 (846). 11 BeckOGK/Jakl, 1. 8. 2020, BGB § 138 Rn. 284 ff. 12 OLG Nürnberg, NJW-RR 2001, 265.

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darf.13 Ganz im Gegenteil: Die im Grundgesetz verankerte (Art. 2 Abs. 1 GG) Vertragsfreiheit14 setzt voraus, aus freiem Willen auch solche vertraglichen Bindungen eingehen zu können, die einem Vertragspartner mehr abverlangen (und damit dem anderen Vertragspartner mehr zugestehen), als die durch den Vertrag überlagerte gesetzliche Regelung vorsieht.15 Aus dem Grundsatz des Vorrangs der Entscheidungsfreiheit wird z. T. gefolgert, der Anwendungsbereich des Instituts der Überforderung sei allenfalls dann eröffnet, wenn „genau kein Austauschverhältnis vorlieg[e]“16. Ein populäres Beispiel hierfür sind die sog. „Bürgschaftsfälle“, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein strukturell unterlegener Ehegatte für den anderen die Bürgenpflicht ohne wirtschaftliches Eigeninteresse übernimmt und das Haftungsrisiko vom Gläubiger bagatellisiert wird.17

III. Übertragbarkeit der Fallgruppe der wirtschaftlichen Überforderung auf Eheverträge Auf den ersten Blick erscheint die Fallgruppe der (krassen) wirtschaftlichen Überforderung kaum auf Eheverträge übertragbar zu sein, insbesondere nicht auf solche, die anspruchserweiternde Vereinbarungen enthalten. Solche Vereinbarungen stehen ja gerade in einem Austauschverhältnis, in einem Synallagma zueinander. Die Beantwortung der Frage, ob bzw. inwieweit synallagmatische Vereinbarungen, die (lediglich) durch eine Disparität von Leistung und Gegenleistung gekennzeichnet sind, sittenwidrig sein können, führt zu einer ersten entscheidenden Weichenstellung in der gedanklichen Fortführung dieses Beitrags. 1. Vertragsfreiheit Aus dem bereits weiter oben dargestellten Grundsatz der Vertragsfreiheit folgt, dass der Vertragsinhalt von den Parteien grundsätzlich eigenverantwortlich und selbstbestimmt gefunden werden kann.18 Dazu gehört zweifelsohne auch die Möglichkeit, seinem (geschiedenen) Ehegatten wirtschaftlich mehr zuzuwenden, als diesem (eigentlich) rechtlich zustünde, z. B. einen höheren oder zeitlich weiterreichenden Unterhalt, eine zusätzliche Lebensversicherung neben dem Versorgungsaus13

BeckOGK/Jakl, 1. 8. 2020, BGB § 138 Rn. 129. Vgl. Gloy/Loschelder/Danckwerts, UWG-HdB, 5. Aufl. 2019, § 14 Einfluss des Grundgesetzes Rn. 20 m. w. N. 15 Reul, DNotZ 2007, 184 (196) setzt vertragliche Bindung insoweit mit einem Verzicht auf einen Teil seiner eigenen Freiheit gleich. 16 Vgl. BeckOGK/Jakl, 1. 8. 2020, BGB § 138 Rn. 286. 17 HK-BGB/Dörner, 10. Aufl. 2019, BGB § 138 Rn. 11 m. w. N. 18 Vgl. BeckOGK/Jakl, 1. 11. 2020, BGB § 138 Rn. 66. 14

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gleich oder die Überlassung einer Immobilie in Ergänzung zum Zugewinnausgleich. Mit dem Prinzip der Vertragsfreiheit unvereinbar wäre es daher, über die Hintertür des § 138 BGB die Idee einer „Tauschgerechtigkeit“19 im Sinne einer obligatorischen Ausgeglichenheit von Leistung und Gegenleistung zu manifestieren. Gleichwohl liegen bis dato bereits einige Entscheidungen vor, in denen die Rechtsprechung eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen nicht nur zu Gunsten des unterhaltsbegehrenden, sondern auch zu Gunsten des hier in Rede stehenden zahlungspflichtigen Ehegatten für geboten erachtete. Freilich lohnt es sich, zunächst den Blick des Praktikers auf einige dieser Judikate zu werfen, um sie sodann einer theoretischen Analyse auf Grundlage der Rechtsdogmatik zur Sittenwidrigkeit von Willenserklärungen zu unterziehen. Ziel dieses Beitrags ist es unter anderem, auf Grundlage der Untersuchung der eher exotisch anmutenden Fallgruppe der Sittenwidrigkeit anspruchserweiternder Eheverträge die Schlüssigkeit der überkommen Rechtsprechung und Literatur zum um vieles praxisrelevanteren Typus der Sittenwidrigkeit anspruchsverkürzender Eheverträge einer kritischen Nachschau zu unterziehen. 2. Ausgewählte Fallbeispiele a) Gefährdung der eigenen Existenz des Unterhaltspflichtigen zu Lasten des Sozialhilfeträgers Jedenfalls nach der hier vertretenen Auffassung stellt sich die Rechtslage eindeutig dar, falls die Vertragsschließenden durch einen über das Recht des nachehelichen Unterhalts hinausgehenden Ausgleich zumindest grob fahrlässig eine Unterstützungsbedürftigkeit des unterhaltspflichtigen Vertragspartners zu Lasten des Sozialleistungsträgers herbeiführen.20 Erfolgt eine ehevertragliche Vereinbarung gegenüber der Allgemeinheit oder Dritten – und nicht gegenüber dem (hier sogar begünstigten [!]) Ehegatten – ist Rechtsfolge anfängliche Unwirksamkeit, § 138 Abs. 1 BGB.21 Oder anders ausgedrückt: es macht keinen Unterschied, ob durch eine unterhaltsbegrenzende ehevertragliche Vereinbarung der unterhaltsberechtigte Ehepartner der Sozialhilfe anheimfällt, oder umgekehrt durch eine unterhaltserweiternde Regelung der unterhaltsverpflichtete Vertragspartner. Die rechtsrelevanten Spiegelbilder22 sind insoweit deckungsgleich. An die subjektiven Voraussetzungen des Tatbestands der Sittenwidrigkeit23 sind bei der vorliegenden Fallgruppe der objektiven Existenzgefährdung zu Lasten des Sozialleistungsträgers keine nennenswerten Voraussetzungen zu stellen.24 19

BeckOGK/Jakl, 1. 11. 2020, BGB § 138 Rn. 128 ff. S. BGH, NJW 2009, 842 (845). 21 Vgl. BeckOGK/Reetz, 1. 11. 2020, BGB § 1408 Rn. 422. 22 Zum Begriff der „Spiegelbildlichkeit“ vgl. Born, FD-FamR 2006, 199859. 23 S. Fn. 44. 24 BGH, NJW 2009, 842 (846). 20

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b) Sogenannte „Loskauffälle“ Schwieriger zu beurteilen sind die – auch in der notariellen Praxis bisweilen auftretenden – Fälle, in denen ein (meist selbständiger) Ehegatte ohne „festes“ Einkommen sich zu überobligatorischen, indes nicht von vornherein existenzgefährdenden Leistungen bereit erklärt, um sich – so die etwas hämische Formulierung – von seiner Familie „loszukaufen“25 bzw. sich seine Freiheit zu „erkaufen“. Denkbar wäre, eine solche Verpflichtung eben alleine aufgrund ihres überobligatorischen Charakters als sittenwidrig einzustufen. In diese Richtung scheint das OLG Karlsruhe26 zu tendieren. Dieser Entscheidung lag eine notariell beurkundete Leibrentenvereinbarung zu Grunde, welche im Wege der Novation an Stelle der gesetzlichen Unterhaltspflicht trat, die Zahlung einer festen (also von der Leistungspflicht des Schuldners unabhängigen) monatlichen Summe auf Lebenszeit der Unterhaltsberechtigten vorsah, und auf die lediglich Einkünfte aus einer Vollzeittätigkeit anzurechnen gewesen wären. Das Gericht stützte sein Judikat der objektiven Sittenwidrigkeit dieser Vereinbarung alleine auf die These, eine so gestaltete Leibrente weiche evident zu Lasten des Unterhaltspflichtigen vom gesetzlichen Leitbild des Ehegattenunterhalts – insbesondere von den Grundsätzen der Halbteilung27, der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit und der unterhaltsrechtlichen Bedürftigkeit – ab.28 Unter dem bereits weiter oben bemühten Gesichtspunkt der „Spiegelbildlichkeit“ unterhaltsbegrenzender und unterhaltserweiternder Vereinbarungen scheint die Begründung des objektiven Tatbestands der Sittenwidrigkeit mit den Argumenten der „Abweichung vom gesetzlichen Leitbild“ und der „evidenten Einseitigkeit der Lastenverteilung“ auf den ersten Blick schlüssig. Diese im Bereich anspruchsbegrenzender oder gar -ausschließender Eheverträge gängigen29 Narrative dürften vice versa auf anspruchserweiternde Regelungen übertragbar sein. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese einfache Folgerung indes als Trugschluss. aa) Schutzzweck eherechtlicher Leitbilder An dieser Stelle scheint es geboten, zunächst ein Schritt zurück zu den „Basics“, zu den absoluten Grundlagen der Lehre zur Sittenwidrigkeit von Eheverträgen zu 25

Grziwotz, NJW 2009, 842 (846). MittBayNot 2007, 216 (Vorinstanz zum in Fn. 24 zitierten BGH-Urteil). 27 Dieser Grundsatz wurde nach Inkrafttreten des Unterhaltsrechtsänderungsgesetzes 2007 durch das Prinzip des Nachteilausgleichs ersetzt, s. Langenfeld/Milzer, Handbuch der Eheverträge und Scheidungsvereinbarungen, 8. Aufl. 2018, 3. Teil, Vereinbarungen zum nachehelichen Unterhalt Rn. 578. 28 MittBayNot 2007, 216 (217). 29 S. z. B. OLG Hamm, NJOZ 2014, 1446 (1454); OLG Nürnberg, Beschl. v. 1. 9. 2004 – 11 WF 1597/04, BeckRS 2008, 26148; OLG Braunschweig, Beschl. v. 13. 4. 2005 – 2 WF 289/ 04, BeckRS 2008, 26262. 26

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gehen, und zwar zur sog. „Kernbereichslehre“30. In deren unmittelbaren Zentrum steht freilich der Kinderbetreuungsunterhalt i. S. v. § 1570 BGB. Dieser wird nach seinem Normzweck in erster Linie im Kindesinteresse31 gewährt, wenngleich Anspruchsgläubiger freilich der geschiedene Ehegatte ist. Hieraus folgt wiederum, dass der Kinderbetreuungsunterhalt, soweit er sich aus dem Kindesinteresse rechtfertigt, (grundsätzlich) unverzichtbar ist.32 Kehrt man von dieser Erkenntnis zum weiter oben dargestellten Beispielsfall der überobligatorischen ehevertraglichen Unterhaltsverpflichtung des sich „von den Zwängen der Ehe freikaufenden“ Vertragspartners zurück, stellt man schnell fest, dass das scheinbar einfach-plakative Prinzip der „Spiegelbildlichkeit“ unterhaltbeschränkender und unterhaltserweiternder Vereinbarungen zumindest in diesem Kontext nicht tragfähig ist. Die Frage der Sittenwidrigkeit einer vertraglichen Verpflichtung zur Leistung von mehr Kinderbetreuungsunterhalt als gesetzlich geschuldet kann freilich nicht am Maßstab des Kindesinteresses beantwortet werden, sondern, wenn überhaupt, an gänzlich anderen Kriterien wie z. B. dem der bereits eingangs dargestellten wirtschaftlichen Überforderung des Unterhaltspflichtigen. Das Argument der evident einseitigen Aufbürdung von Lasten mag unter dem Aspekt des Kindeswohles bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit unterhaltsbeschränkender Vereinbarungen schlüssig sein; auf unterhaltserweiternde Regelungen – die dem Kindesinteresse gerade förderlich sind – lässt es sich nach der hier vertretenen Auffassung nicht „spiegelbildlich“ übertragen. Dies bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass unterhaltserweiternde Vereinbarungen in den hier betrachteten „Loskauffällen“ nicht auch im Lichte des Leitbildes des Eherechts auf eine mögliche Sittenwidrigkeit hin beurteilt werden können. Allerdings müsste eine solche Beurteilung restriktiv mit einer gewissen Bedachtsamkeit erfolgen. Anders ausgedrückt: eine Unterhaltsbeschränkung, die dem überkommenen33 „Halbteilungsgrundsatz“ widerspricht, mag zwar vor dem überragenden Gesichtspunkt des Kindeswohles ohne weiteres als objektiv sittenwidrig eingestuft werden können. Auf eine unterhaltserweiternde Vereinbarung kann diese Bewertung – entgegen der Tendenz des OLG Karlsruhe34 – freilich nicht übertragen werden.

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Vgl. Zensus, FamFR 2013, 310. BeckOGK/Lettmaier, 1. 11. 2020, BGB § 1570 Rn. 2. 32 BeckOGK/Lettmaier, 1. 11. 2020, BGB § 1570 Rn. 108 [1. 11. 2020, BGB § 1570 Rn. 108]. 33 S. Fn. 27. 34 S. Fn. 26. 31

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bb) Tauschgerechtigkeit statt Vertragsfreiheit Wie bereits weiter oben dargestellt wurde, widerspricht es dem verfassungsrechtlich verbürgten Prinzip der Vertragsfreiheit, über die Generalklausel35 des § 138 Abs. 1 BGB ein Postulat der Tauschgerechtigkeit im Sinne einer inhaltlichen Konzeption von „Vertragsgerechtigkeit“36 in die Vertragsgestaltung von Eheverträgen zu implementieren. Wer sich zu einem überhöhten Preis aus der Ehe freikaufen möchte, soll dies in einer freiheitlichen Gesellschaft grundsätzlich realisieren können, jedenfalls solange er nicht Dritte wie den Sozialhilfeträger schädigt. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nach der hier vertretenen Auffassung, wie bereits vorstehend unter lit. aa) herausgearbeitet wurde, restriktiv zuzulassen. Insoweit kann auf das in Abschnitt II. dargestellte Institut der wirtschaftlichen Überforderung zurückgegriffen werden. So darf eine Unterhaltsvereinbarung eine Vertragspartei nicht dazu verpflichten, ihre Lebensressourcen zur Gänze der Erfüllung einer einzigen vertraglichen Leistungspflicht zu widmen37. cc) Gesamtschau aller vertraglichen Vereinbarungen Der Schwerpunkt der Analyse des sog. „Loskauffälle“ lag bislang bei der isolierten Betrachtung überobligatorischer Unterhaltsverpflichtungen. Fraglich ist indes, inwieweit die höchstrichterliche Rechtsprechung38 zu anspruchsbeschränkenden bzw. -ausschließenden Eheverträgen, wonach per se zulässige Einzelvereinbarungen sich in einer Gesamtwürdigung als sittenwidrig und damit insgesamt nichtig erweisen können, auf anspruchserweiternde Eheverträge übertragbar ist. Diese Frage ist im Grundsatz zu bejahen. Der Aspekt einer Gesamtbetrachtung bzw. Gesamtschau lässt sich nämlich ohne weiteres spiegelbildlich von anspruchsbegrenzenden Einzelfaktoren – die dem Anspruchsberechtigten in der Summe ein zu wenig an Rechten vermitteln – auf anspruchserweiternde Einzelvereinbarungen – die dem Anspruchsverpflichteten in der Summe ein zu viel an Forderungen aufbürden – projizieren. Lediglich der „Bewertungsschlüssel“ ist in den beiden Fallgruppen, ähnlich wie beim Aspekt des Schutzwecks eherechtlicher Leitbilder (s. o. lit. aa)), ein anderer. (1) Mehrere inhaltlich benachteiligende Faktoren „Loskauffälle“ können, wie (auch) die notarielle Vertragspraxis zeigt, nicht nur überobligatorische Unterhaltsvereinbarungen enthalten, sondern freilich weitere Bestimmungen, die dem Verpflichteten mehr abringen als gesetzlich vorgesehen. Denkbar sind hier beispielsweise die (zusätzliche) Übertragung einer Lebensversicherung oder einer lastenfreien Immobilie auf den Unterhaltsberechtigten. Solche Einzelver35

MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, BGB § 138 Rn. 141. BeckOGK/Jakl, 1. 11. 2020, BGB § 138 Rn. 129. 37 S. BeckOGK/Jakl, 1. 11. 2020, BGB § 138 Rn. 131. 38 So z. B. BGH, MittBayNot 2013, 240; BGH, NJW 2017, 1883 Rn. 38. 36

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pflichtungen können in der Summe gerechnet freilich objektiv eine besonders einseitige Aufbürdung von Lasten begründen. Schwieriger dürfte bei einem solchen „Freikaufen“ – anders als bei (mehreren) anspruchsverkürzenden ehevertraglichen Vereinbarungen – auf das subjektive Element der Sittenwidrigkeit in Form einer verwerflichen Gesinnung des begünstigten Ehegatten39 geschlossen werden können. Wer sich mit viel Geld (und ggf. weiteren Gaben) zeitnah eine „geräuschlose“ Scheidung ermöglichen will, dürfte sich regelmäßig dem Vorwurf gefallen lassen müssen, für seine dadurch eingetretene finanzielle Misere selbst verantwortlich zu sein. Ein solchermaßen überobligatorisch leistender Vertragspartner steht nämlich unter einem weitaus geringeren „Nötigungsdruck“ als der von vornherein mittellose Verlobte, dem die erwünschte Heirat nur durch vorherige Unterzeichnung eines für ihn nachteiligen Ehevertrags in Aussicht gestellt wird. In den Loskauffällen kann daher nicht ohne weiteres von der objektiven Benachteiligung des Leistungspflichtigen auf die verwerfliche Gesinnung des Berechtigten geschlossen werden. Vielmehr müssen zur Bejahung des subjektiven Elements der Sittenwidrigkeit in dieser Konstellation weitere formelle bzw. verfahrensrechtliche Aspekte hinzutreten. (2) Formelle Gesichtspunkte In formeller Hinsicht können insoweit – wenngleich wiederum mit einem etwas angepassten Übersetzungsschlüssel – einige von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Prüfung anspruchsbegrenzender bzw. -ausschließender Eheverträge aufgezeigten Aspekte fruchtbar gemacht werden. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die für die notarielle Praxis der Gestaltung des Beurkundungsverfahrens von großer Bedeutung sind. Seit einer bereits zitierten40 neueren BGH-Entscheidung dürfte insbesondere Zurückhaltung bei der Beurkundung von Eheverträgen unter Anwesenheit von Kindern der Vertragsteile geboten sein. In der maßgeblichen Entscheidung wertete der BGH es als Indiz für die subjektive Ausnutzung der Imparität der benachteiligten Ehefrau, dass diese in der Beurkundung ihr Kind im Säuglingsalter bei sich hatte und deshalb den Notartermin möglichst zügig hinter sich bringen wollte. Übertragen auf „Loskauffälle“ könnte die subjektive Ausnutzung der „Großzügigkeit“ des Unterhaltspflichtigen etwa damit begründet werden, dass der unterhaltsberechtigte Ehegatte das bei ihm wohnende gemeinsame Kind im Teenageralter zur Beurkundung mitnimmt und dadurch „moralischen Druck“ auf seinen Vertragspartner ausübt. Noch eindeutiger ließe sich das subjektive Element der Sittenwidrigkeit begründen, falls das Beurkundungsverfahren nicht nach den Vorgaben des § 17 Abs. 2a Satz 1 BeurkG gestaltet wird. Dies wäre in den „Loskauffällen“ etwa dann der Fall, falls die Initiative zur Beurkundung des Ehevertrags ausschließlich vom an39 40

BGH, MittBayNot 2013, 240 (242). BGH, NJW 2017, 1883 (s. Fn. 38).

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spruchsberechtigten Ehegatten ausgeht, also allein dieser im Vorfeld der Beurkundung Kontakt zum Notar aufnimmt und dem anspruchspflichtigen Ehegatten auch kein Entwurf des Ehevertrags zugeht.41 Entsprechendes gilt freilich, wenn der benachteiligte Ehegatte der Urkundensprache nicht hinreichend mächtig ist und gleichwohl kein Dolmetscher zur Beurkundung hinzugezogen wird.42 c) Großzügigkeit Nach der Erörterung der sich sehr differenziert darstellenden „Loskauffälle“ sollen nachfolgend einige abschließende Gedanken auf die – in der Praxis freilich eher selten vorkommende – Fallgruppe freiwilliger „Großzügigkeit“ verwendet werden. Diese liegt beispielsweise vor, falls ein Vertragsteil dem anderen uneigennützig43 von sich aus (deutlich) mehr zuwendet, als er nach dem Gesetz verpflichtet wäre, etwa weil er seinem (Noch-)Ehegatten und/oder den von diesem betreuten gemeinsamen Kindern weiter verbunden ist und diese gut abgesichert wissen will. Die freigiebige Eingehung überobligatorischer Verpflichtungen kann zudem aus der Motivation der Wiedergutmachung heraus erfolgen, etwa weil sich der Leistungspflichtige für das Scheitern der Ehe verantwortlich sieht. Auch in dieser Fallgruppe wird der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nach dem oben Gesagten erfüllt sein, falls der Ehevertrag eine evident einseitige Lastenverteilung zu Ungunsten des Leistungspflichtigen vorsieht. Am für die Bejahung des vollständigen Tatbestands der Sittenwidrigkeit unerlässlichen44 subjektiven Merkmal der verwerflichen Gesinnung des anderen Vertragsteils wird es hier indes regelmäßig fehlen. Jedenfalls dann, wenn die Initiative zum Vertragsschluss vom unterhaltspflichtigen Vertragsteil ausgeht und keine der in vorstehender Ziff. 2. lit. b) cc) (2) beschriebenen Mängel im Beurkundungsverfahren vorliegen. Dementsprechend hält der BGH eine zur Sittenwidrigkeit führende Störung der subjektiven Vertragsparität im Hinblick auf großzügige vertragliche Verpflichtungen, die im Rahmen von Scheidungsvereinbarungen eingegangen werden, nahezu wörtlich für unwahrscheinlich: „Schließen Eheleute im Hinblick auf eine Ehekrise oder auf eine bevorstehende Scheidung unter anwaltlichem Beistand auf beiden Seiten nach langen Verhandlungen und genügender Überlegungszeit einen Vertrag zur umfassenden Regelung aller Scheidungsfolgen, kann zunächst davon ausgegangen werden, dass sie ihre gegenläufigen vermögensrechtlichen Interessen zu einem angemessenen Ausgleich gebracht haben und selbst eine besondere Großzügigkeit [Hervorhebung durch den Verfasser] oder Nachgiebigkeit des einen Ehegatten nicht auf einer Störung der subjektiven Vertragsparität beruht.“45 41

Vgl. BGH, NJW 2017, 1883 (1886). S. Wellenhofer, NZFam 2020, 645 (650). 43 Somit anders als bei den „Loskauffällen“ nicht mit dem Ziel, durch Zugeständnisse eine rasche Beendigung der Ehe zu forcieren. 44 Vgl. MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, BGB § 138 Rn. 116. 45 BGH, NJW 2014, 1101 Rn. 44. 42

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Auf den ersten Blick scheint sich die dritte Fallgruppe der „Großzügigkeit“ mithin als rechtlich eindeutig und damit eher „unspektakulär“ darzustellen. (Nahezu) jeder Notar mit langjähriger Berufserfahrung wird indes zu berichten wissen, dass gerade die scheinbar friedfertig geschlossenen, vor sich „hinschlummernden“ Eheverträge bisweilen über ein enormes Sprengpotenzial verfügen. Letzteres tritt meist in der Folge eines an den Notar adressierten Anwaltsschreibens zu Tage, in welchem auf die Nicht(mehr)erfüllung der einst großzügig eingegangen Leistungspflichten hingewiesen und um Übersendung einer vollstreckbaren Ausfertigung des maßgeblichen Ehevertrags gebeten wird. Für die plötzliche Leistungsverweigerung des Unterhaltspflichtigen werden regelmäßig verschiedene Argumente geltend gemacht: aa) Irrtum über den Umfang der Leistungspflicht Gelegentlich bringen leistungspflichtige Vertragsteile im Falle späterer Vertragsreue vor, sie seien bei Vertragsschluss über den Umfang ihrer eingegangenen Verpflichtungen im Unklaren gewesen und hätten sich über den Umstand geirrt, überobligatorisch mehr zu leisten als sie gesetzlich verpflichtet gewesen wären. Selbst wenn diese Einlassung zuträfe, läge insoweit allenfalls ein rechtlich unbeachtlicher und nicht zur Anfechtung berechtigender Motivirrtum46 vor. An dieser Stelle verbleibt es also beim allgemeinen Grundsatz „pacta sunt servanda“. bb) Nachträgliche Sittenwidrigkeit Teilweise wird entgegen den hier getroffenen Ausführungen vertreten, den Leistungspflichtigen stark einseitig belastende überobligatorische Vereinbarungen seien sittenwidrig und damit nichtig. Dieses Argument findet sich häufig dann, wenn der Leistungspflichtige – etwa ein Selbständiger in einer Phase wirtschaftlicher Rezession – im Laufe des Vollzugs des maßgeblichen Ehevertrags spürbar an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit einbüßt. Die These des OLG Karlsruhe47, welches entsprechende Leibgedingsvereinbarungen eben wegen der fehlenden Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen generell als sittenwidrig einzustufen scheint, wurde bereits weiter oben widerlegt. Ebenso ist die teilweise in der Literatur vorzufindende Ansicht48, wonach für die Beurteilung einer etwaigen Sittenwidrigkeit auf den Zeitpunkt des Eintritts der Rechtswirkungen des maßgeblichen Rechtsgeschäfts abzustellen sei, mit der h. M. abzulehnen. Vielmehr kommt es insoweit auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts an.49 Hieran können

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Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 12. 4. 2011 – 23 U 67/10, BeckRS 2011, 21343. S. Fn. 26. 48 Vgl. die Nachweise bei MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, BGB § 138 Rn. 133. 49 OLG Düsseldorf, Urt. v. 12. 4. 2011 – 23 U 67/10, BeckRS 2011, 21343 m. w. N.

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und müssen sich die Vertragsteile im Sinne der Rechtssicherheit verlässlich festhalten lassen. cc) Ausübungskontrolle Für anspruchsverkürzende Eheverträge ist anerkannt, dass diese auch im Falle ihrer grundsätzlichen Wirksamkeit in einem zweiten Schritt einer sog. Ausübungskontrolle zu unterziehen sind, wobei es sowohl auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses als auch des Scheiterns der Ehe ankommt.50 Die Korrektur eines nicht sittenwidrigen anspruchserweiternden Ehevertrags über das Instrument der Inhaltskontrolle nach § 242 BGB wird in der Literatur51 zumindest andeutungsweise für möglich erachtet. Gleichwohl erscheint ein Schutz des erst nach Abschluss des anspruchserweiternden Ehevertrags wirtschaftlich überforderten Leistungspflichtigen über das Institut der Inhaltskontrolle dogmatisch nicht überzeugend und systemwidrig. Tatbestandliche Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Inhaltskontrolle ist nämlich eine wesentliche Änderung der Lebensverhältnisse der Ehegatten nach Beurkundung des Ehevertrags.52 In der Ehekrise geschlossene Scheidungsvereinbarungen, in denen sich großzügige anspruchserweiternde Vereinbarungen in der Praxis häufig finden, dürften anders als vor oder kurz nach Eheschließung beurkundete Verträge von einer unvorhersehbaren Änderung der faktischen Verhältnisse kaum betroffen sein.53 dd) Wegfall der Geschäftsgrundlage Der BGH54 stellt gelegentlich fest, dass neben der Ausübungskontrolle auf Eheverträge auch die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) Anwendung finden, jedoch nur, soweit die tatsächliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen Lebensplanung, die die Parteien dem Vertrag zu Grunde gelegt haben, abweicht. Dies trifft für die Fallgruppe der „Großzügigkeit“ entsprechend den vorstehenden Ausführungen zu lit. cc) in der Regel nicht zu.55

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Bergschneider/Wolf, NZFam 2018, 162 (164); BGH, DNotZ 2005, 226 (227). Grziwotz, NJW 2009, 842 (846). 52 BeckOGK/Reetz, 1. 11. 2020, BGB § 1408 Rn. 303. 53 S. BeckOGK/Reetz, 1. 11. 2020, VersAusglG § 8 Rn. 120 („idR kein Raum für eine Ausübungskontrolle“). 54 BGH, NJW 2005, 2386 (2390); BGH, NJW 2008, 1076 (1080); BGH, NJW 2011, 2969 (2970). 55 Im Übrigen ist das Verhältnis zwischen „Ausübungskontrolle“ und „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ nicht abschließend geklärt, s. BeckOK BGB/Scheller, 1. 11. 2020, BGB § 1408 Rn. 83. 51

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ee) Vollstreckungsschutz Der freigiebige Vertragspartner, der nach Ehevertragsschluss „lediglich“ in wirtschaftliche Bedrängnis gelangt, ohne dass sich an den faktischen Lebensverhältnissen der Beteiligten etwas ändert, muss nach der hier vertretenen Auffassung mithin grundsätzlich auf die allgemeinen gesetzlichen Regelungen zum Vollstreckungsschutz verwiesen werden. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass § 850i ZPO über § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO im Insolvenzverfahren entsprechende Anwendung findet und damit unter bestimmten Voraussetzungen auch selbständig Tätigen Pfändungsschutz ermöglicht.

IV. Zusammenfassung und Schlussfolgerung „Wo im Einzelfall die Grenzen zwischen dem noch Zulässigen und dem nicht mehr Tragbaren verlaufen, ist nicht immer leicht zu bestimmen“56. Dieses Zitat zur Problematik der Beurkundung „gerichtsfester“ anspruchsbegrenzender bzw. -ausschließender Eheverträge lässt den Kautelarjuristen aufhorchen. Die Aufgabe des Vertragsgestalters besteht freilich darin, wirksame Verträge zu entwerfen bzw. zu beurkunden. Im Hinblick auf anspruchsverkürzende Eheverträge handelt es sich hierbei freilich um keine leichte Aufgabe, eben weil die im vorgenannten Zitat angesprochenen „Grenzen zwischen dem noch Zulässigen und dem nicht mehr Tragbaren“ angesichts der vielschichtigen Vorgaben der Rechtsprechung zur Inhalts- und Ausübungskontrolle von Eheverträgen nicht immer eindeutig abgesteckt werden können. Für die Praxis bedeutsam ist die Erkenntnis, dass auch anspruchserweiternde Eheverträge jedenfalls einer Inhaltskontrolle unterliegen und damit im Grundsatz sittenwidrig sein können. Für eine Ausübungskontrolle besteht nach der hier vertretenen Auffassung im Hinblick auf solche überobligatorischen Vereinbarungen indes kein Raum. Hieraus erhellt, dass der Vertragsgestalter bei der Vorbereitung und Beurkundung anspruchserweiternder Eheverträge deren potenzielle Nichtigkeit aufgrund Sittenwidrigkeit im Blick behalten und dementsprechend bei der Ausgestaltung sowohl des Beurkundungsverfahrens als auch des Vertragsinhaltes mit der gebotenen Sorgfalt agieren muss. Teilweise können die für anspruchsbegrenzende und -ausschließende Vereinbarungen geltenden Grundsätze insoweit spiegelbildlich auf anspruchserweiternde Regelungen übertragen werden. Dies gilt zum einen für die Gestaltung des Beurkundungsverfahrens. Im Vorfeld eines jeden Ehevertrags ist es grundsätzlich unerlässlich, beide Vertragsteile von Anfang an in die (möglichst persönlich durch den Notar vorgenommene) Besprechung des Vertragsinhalts einzubinden, allen Beteiligten rechtzeitig einen Vertragsentwurf zukommen zu lassen und bei der eigent56

Wellenhofer, NZFam 2020, 645.

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lichen Beurkundung insofern auf Fairness zu achten, als kein Vertragsteil durch die Anwesenheit von Kindern abgelenkt oder gar beeinflusst und auf mögliche Sprachbarrieren hinreichend, in der Regel durch Beiziehung eines Dolmetschers, Rücksicht genommen wird. Zum anderen findet sich die vorbeschriebene Spiegelbildlichkeit in materiellrechtlicher Hinsicht bei Vereinbarungen wieder, die sich zu Lasten Dritter, namentlich zu Lasten des Sozialhilfeträgers auswirken und damit sowohl in anspruchserweiternden als auch in anspruchsverkürzenden Eheverträgen nichtig sind. Andererseits zeigen die Beispiele der sogenannten „Loskauffälle“ und der uneigennützigen „Großzügigkeit“, dass zahlreiche Aspekte des objektiven und des subjektiven Tatbestands der Sittenwidrigkeit – namentlich solche, die von der Rechtsprechung im Kontext mit anspruchsbegrenzenden und -ausschließenden Eheverträgen entwickelt worden sind – nicht ohne weiteres auf anspruchserweiternde Eheverträge übertragen werden können. Insofern ist nach der hier vertretenen Auffassung eine eher restriktive Beurteilung einer etwaigen Sittenwidrigkeit auf der Basis eines individuellen „Bewertungsschlüssels“ geboten. Die hier behandelten Problemkreise verdeutlichen schließlich, wie eng Rechtsdogmatik, Rechtsprechung und Rechtspraxis miteinander verzahnt sein können. Dem Jubilar dieser Festschrift war und ist es stets ein herausragendes Anliegen, ebendiese Verzahnung von Theorie und – namentlich notarieller – Praxis zu fördern und zu bereichern. Hierfür gebührt ihm tiefster Dank, verbunden mit der Hoffnung auf eine fruchtbare Fortsetzung dieses Engagements für zahlreiche weitere Jahre.

Erbfähigkeit und post-mortem-Befruchtung von Hannes Ludyga

I. Post-mortem-Befruchtung Die Zeugung menschlichen Lebens ist in juristischer Hinsicht ein „komplexer Prozess“,1 was an der post-mortem-Befruchtung deutlich wird. Bei der post-mortem-Befruchtung handelt es sich um die künstliche Befruchtung der Eizelle einer Frau mit dem Samen eines verstorbenen Mannes. Eine Kryokonservierung der Samenzellen eines Mannes zu dessen Lebzeiten ermöglicht die post-mortem Befruchtung.2 Sie erfolgt durch ein Tiefgefrieren männlicher Samenzellen, die einen hohen Marktwert haben können,3 bei minus 196 Grad Celsius mit flüssigem Stickstoff.4 In den USA hat die Kryokonservierung eine Tradition. Während des 2. Weltkriegs und des Korea-Kriegs ließen amerikanische Soldaten, die an der Front waren, ihren Samen einfrieren, damit ihre Ehefrauen in der Heimat eine Schwangerschaft herbeiführen konnten.5 Eine post-mortem-Befruchtung ist nach den §§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG, die dem Nebenstrafrecht zuzuordnen,6 „repressiv“7 und rechtspolitisch umstritten sind,8 strafbar.9 Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird 1 Neuner, JuS 2019, 1; zur Thematik der post-mortem-Befruchtung insgesamt: Pikal, Die rechtliche Zulässigkeit ärztlicher Mitwirkung an verbotenen Kinderwunschbehandlungen im Ausland, 2020, S. 160 – 169; Ludyga, NZFam 2020, 185 – 191. 2 Erbs/Kohlhaas/Pelchen/Häberle, 233. EL Oktober 2020, § 4 ESchG, Rn. 4; Krekeler, MedR 2017, 867; Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 30 – 31; Ludyga, NZFam 2020, 185. 3 Staudinger/Kunz, 2017, § 1922 BGB Rn. 284a. 4 Mayr, NZFam 2018, 913 (914); Deutsch, NJW 1986, 1971; Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl. 2015, V. 5. Das Embryonenschutzgesetz, Rn. 27; Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 4 ESchG Rn. 1, 4; Quaas/Zuck/Clemes, Medizinrecht, 4. Aufl. 2018, § 68 Rn. 85; BeckOK-BGB/Hahn, 57. Ed. 1. 2. 2021, § 1591 BGB Rn. 9; Ludyga, NZFam 2020, 185. 5 Brox, in: Festschrift Stree – Wessels, 1993, S. 965 (966); Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, S. 467 (472). 6 Gassner/Kersten/Krüger/Lindner/Rosenau/Schroth, Fortpflanzungsmedizingesetz, 2013, S. 22. 7 Lindner, ZRP 2019, 171. 8 Neuner, JuS 2019, 1.

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nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG bestraft, wer wissentlich eine Eizelle mit dem Samen eines Mannes nach dessen Tod künstlich befruchtet.10 Unabhängig von dieser Strafbarkeit nach dem ESchG gibt es in tatsächlicher und rechtstatsächlicher Hinsicht post-mortem-Befruchtungen.11 Es herrscht ein „Reproduktionstourismus“ von Deutschland ins europäische Ausland, wo die post-mortem-Befruchtung erlaubt ist.12 Durchgeführt werden darf die post-mortem-Befruchtung etwa in Belgien, England, Griechenland, Polen und Spanien.13 Die post-mortem-Befruchtung berührt rechtliche, ethische, moralische, religiöse, gesellschaftliche und psycho-soziale Fragen,14 deren konkrete Ausgestaltung der Gesetzgeber jenseits der Strafbarkeit nach dem ESchG „scheut.15 Die moderne Fortpflanzungsmedizin stellt den Gesetzgeber vor Herausforderungen.16 Angeblich „liberale“ oder „konservative“ Meinungen stehen sich bei der Betrachtung einer postmortem-Befruchtung jenseits einer juristischen Analyse gegenüber.17 Die Rechtsunsicherheit auf dem Gebiet der post-mortem-Befruchtung im Zivilund Strafrecht ist groß.18 Eine eindeutige Linie gibt es in der Rechtsprechung hinsichtlich der Ausgestaltung einer post-mortem-Befruchtung nicht.19 Für alle an der post-mortem-Befruchtung Beteiligten liegt kein „verlässlicher Rechtsrahmen“ vor.20 Dies gilt auch hinsichtlich der Erbfähigkeit nach einer post-mortem-Befruchtung geborener Kinder,21 die Gegenstand der folgenden Betrachtung ist.

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Lange, Erbrecht, 2. Aufl. 2017, § 7 Rn. 15a. Mayr, NZFam 2018, 913 (914); Deutsch, NJW 1986, 1971; Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl. 2015, V. 5. Das Embryonenschutzgesetz, Rn. 27; Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 4 ESchG Rn. 1, 4; BeckOK-BGB/Hahn, 55. Ed. 1. 2. 2021, § 1591 BGB Rn. 9. 11 Lange, Erbrecht, 2. Aufl. 2017, § 7 Rn. 15a; MüKoBGB/Leipold, 8. Aufl. 2020, § 1923 BGB Rn. 23. 12 Schack, JZ 2019, 864 (869). 13 Dethloff, Familienrecht, 32. Aufl. 2018, § 10 Rn. 115; Pikal, Die rechtliche Zulässigkeit ärztlicher Mitwirkung an verbotenen Kinderwunschbehandlungen im Ausland, 2020, S. 168. 14 Behrentin/Grünewald, NJW 2019, 2057; Ludyga, NZFam 2020, 185 (186). 15 Lindner, ZRP 2019, 171 (172). 16 So bereits: Sina, FamRZ 1997, 862. 17 Ratzel, in: Ratzel/Luxenburger, Handbuch Medizinrecht, 3. Aufl. 2015, 28. Kapitel Rn. 18. 18 Lindner, ZRP 2019, 171 (172). 19 OLG München, FamRZ 2017, 904; Biermann, NZFam 2017, 962; OLG Rostock, BeckRS 2010, 12238; OLG Karlsruhe, FamRZ 2016, 1790; Spickhoff, FamRZ 2016, 1792 (1793); Mayr, NZFam 2018, 913. Hinsichtlich des Terminus des „Befruchtens“ im ESchG: LG Augsburg, FamRZ 2019, 1374. 20 Dethloff/Gerhardt, ZRP 2013, 91. 21 So noch immer: Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, S. 467 (468). 10

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II. Recht auf Fortpflanzung Das Recht auf Fortpflanzung bzw. das Recht auf „reproduktive Selbstbestimmung“ als ein „Kernbereich der privaten Lebensgestaltung“22 und ein „zentraler Aspekt autonomer … Lebensführung“23 ist zu Lebzeiten eines Menschen aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Artikel 2 Abs. 1 i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 GG bzw. aus dem Recht auf Familiengründung nach Artikel 6 Abs. 1 GG abzuleiten.24 Im Rahmen der Gründung einer Familie ist hinsichtlich des Rechts auf Fortpflanzung Artikel 6 Abs. 1 GG entscheidend. Wenn die Familiengründung bei der Fortpflanzung „nicht im Vordergrund“ steht, ist Artikel 2 Abs. 1 i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 GG anzuwenden.25 Auf europarechtlicher Ebene garantieren Artikel 8 Abs. 1 und Artikel 12 Alt. 2 EMRK das Recht auf Fortpflanzung.26 Nach dem Recht auf Fortpflanzung entscheidet jeder Mensch unabhängig von seinem Familienstand und seiner sexuellen Orientierung frei und höchstpersönlich über seine eigene Fortpflanzung und seinen „Kinderwunsch“. Dies umfasst die Möglichkeit, „alle zur Verfügung stehenden Methoden der medizinisch assistierten Reproduktion … in Anspruch“ zu nehmen.27 Das Recht auf Fortpflanzung bezieht sich auf die natürliche Fortpflanzung28 sowie die „medizinisch assistierte Fortpflanzung“,29 die „vom sexuellen Akt entkoppelt“ ist und ohne Geschlechtsverkehr erfolgt.30 Eine Differenzierung zwischen einem Recht auf „natürliche Fortpflanzung“ und einem Recht auf „assistierte Reproduktion“ ist verfassungsrechtlich nicht erlaubt.31 In Hinblick auf das Recht auf Fortpflanzung ist das ESchG mit dem Verbot der post-mortem-Befruchtung „überholt“32 und verfolgt eine „Strategie veralteten 22 Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 91. Zum Recht auf Fortpflanzung grundlegend: Hillgruber, JZ 2020, 12 – 20. 23 Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina – Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, S. 25. 24 Kersten, NVwZ 2018, 1248 – 1249; Lindenberg, NZFam 2019, 941 (942); MüKoBGB/ Wellenhofer, 8. Aufl. 2020, § 1591 BGB Rn. 45; Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 10. Siehe umfassend: Gülzow, GesR 2017, 552 (553). 25 Gülzow, GesR 2017, 552 (553); Ludyga NZFam 2020, 185 (189). 26 Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Art. 14 EMRK Rn. 38. 27 Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1249); Lindenberg, NZFam 2019, 941 (942); Mayr, NZFam 2018, 913 (918); Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Art. 14 EMRK Rn. 39. 28 Gülzow, GesR 2017, 552 (553). 29 Lindenberg, NZFam 2019, 941 (942); Gassner, ZRP 2015, 126; OLG München, FamRZ 2017, 904 (907). 30 Gülzow, GesR 2017, 552 (553); Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 40. 31 Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Art. 6 GG Rn. 3. 32 Gassner/Kersten/Krüger/Lindner/Rosenau/Schroth, Fortpflanzungsmedizingesetz, 2013, S. 20 – 21.

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Rechts“ ohne Berücksichtigung der „aktuellen biowissenschaftlichen und bioethischen Entwicklungen“.33 Das Verbot der post-mortem-Befruchtung im ESchG, das kein Mittel der „Bevölkerungspolitik“ darstellen darf,34 ist vor dem Hintergrund des Rechts auf Fortpflanzung lebensfeindlich.35 „Erzeugungsverbote“ bewegen sich auf einem „dünnen Eis“.36 Der Verhinderung menschlichen Lebens37 steht das Recht auf Fortpflanzung entgegen. Die Unterscheidung zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben sowie „eugenische Vorstellungen“ aus der Zeit des Nationalsozialismus dürfen im Rahmen der Diskussionen über das Recht auf Fortpflanzung nicht wieder belebt werden.38 Das Lernen aus „vergangenem Recht“ ist – so Markus Würdinger – ein Wegweiser für die „Zukunft des Rechts“39.

III. Die analoge Anwendbarkeit von § 1923 Abs. 2 BGB bei der post-mortem-Befruchtung 1. Erbfähigkeit Die Erbfähigkeit als „Teilbereich der Rechtsfähigkeit“ ist die Fähigkeit, „den Nachlass eines Erblassers als erbrechtlicher Gesamtrechtsnachfolger zu erlangen“.40 Erbe kann gemäß § 1923 Abs. 1 BGB nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. Unter „Leben“ im Sinne von § 1923 Abs. 1 BGB ist unter Berücksichtigung von § 1 BGB die „Existenz eines Menschen von seiner Geburt bis zu seinem Tode gemeint“.41 § 1923 Abs. 2 BGB verlegt die Erbfähigkeit für den nasciturus vor.42 Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt gemäß § 1923 Abs. 2 BGB als vor dem Erbfall geboren.43

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Kersten, NVwZ 2018, 1248; Lindenberg, NZFam 2019, 941. Ludyga, NZFam 2020, 185 (186). 35 Gassner, ZRP 2015, 126. 36 Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Artikel 6 GG, Rn. 13; Ludyga, NZFam 2020, 185 (191). 37 Coester-Waltjen, FamRZ 2017, 908 (909); Gülzow, GesR 2017, 552 (555). 38 Allgemein: Lindenberg, NZFam 2019, 941 (944); Coester-Waltjen, FamRZ 2017, 908 (909). 39 Würdinger, Rechtskultur 2013, 79. 40 Lange, Erbrecht, 2. Aufl. 2017, § 7 Rn. 11; Frank/Helms, Erbrecht, 7. Aufl. 2018, § 1 Rn. 11. 41 Mansees, Das Erbrecht des Kindes nach künstlicher Befruchtung, 1991, S. 63; Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 3, Das Erbrecht, 6. Aufl. 1900, S. 24; Frank/ Helms, Erbrecht, 7. Aufl. 2018, § 1 Rn. 11; Leipold, Erbrecht, 22. Aufl. 2020, § 2 Rn. 28. 42 Brox/Walker, Erbrecht, 28. Aufl. 2018, § 1 Rn. 10; Frank/Helms, Erbrecht, 7. Aufl. 2018, § 1 Rn. 11; Leipold, Erbrecht, 22. Aufl. 2020, § 2 Rn. 28. 43 Siehe grundlegend: MüKoBGB/Leipold, 8. Aufl. 2020, § 1923 BGB Rn. 1 – 46.; Frank/ Helms, Erbrecht, 7. Aufl. 2018, § 1 Rn. 11. 34

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2. Lücke im Gesetz Die Möglichkeit der post-mortem-Befruchtung bildet für den Beginn der Erbfähigkeit ein „schwieriges Rechtsproblem“.44 § 1923 BGB schweigt hinsichtlich der Erbfähigkeit nach einer post-mortem-Befruchtung geborener Kinder, da er nur durch „Beiwohnung“ gezeugte Kinder berücksichtigt.45 Ein im Rahmen einer post-mortem-Befruchtung geborener Mensch besitzt nach dem Wortlaut von § 1923 BGB keine Erbfähigkeit, da er zum Zeitpunkt des Erbfalls nicht gezeugt war.46 Eine gesetzliche Erbfolge gemäß § 1923 BGB scheidet damit nach dem Wortlaut der Norm aus. Die analoge Anwendbarkeit von § 1923 Abs. 2 BGB bei der postmortem-Befruchtung ist umstritten.47 Eine Analogie bildet unter Beachtung der entsprechenden methodischen und dogmatischen Voraussetzungen ein anerkanntes Instrumentarium der Rechtsfortbildung.48 Der Gesetzgeber des BGB von 1900 konnte die Lücke einer Erbfähigkeit nach einer post-mortem-Befruchtung nicht vorhersehen.49 Die Möglichkeit einer postmortem-Befruchtung war in der Gedankenwelt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert „schlicht unmöglich und … unvorstellbar“.50 Es liegt hinsichtlich der Erbfähigkeit nach einer post-mortem-Befruchtung im BGB eine nachträgliche Gesetzeslücke vor,51 die ausgefüllt werden muss.

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Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, S. 467 (471). Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, S. 467 (472). 46 Lange, Erbrecht, 2. Aufl. 2017, § 7 Rn. 15a; Mansees, Das Erbrecht des Kindes nach künstlicher Befruchtung, 1991, S. 63 – 64; Ermann/Lieder, 16. Aufl. 2020, § 1923 BGB Rn. 3. 47 Brox/Walker, Erbrecht, 29. Aufl. 2021, § 1 Rn. 10. 48 Bydlinski/Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. Aufl. 2018, S. 85 – 90; Danwerth, ZfPW 2017, 230 – 249; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 12. Aufl. 2018, S. 203 – 216; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 6. Aufl. 2015, S. 83 – 93; BGHZ 105, 143; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 889; Würdinger, AcP 206 (2006), 946 – 979. Die Analogie erfordert eine „planwidrige Regelungslücke“ – eine „unbewusste Lücke“ – und, dass „der zur Beurteilung stehende Sachverhalt“ „mit dem vergleichbar“ ist, „den der Gesetzgeber geregelt hat“. Notwendig ist eine vergleichbare „Interessenslage“. Zu Analogien im Erbrecht: Würdinger, JuS 2020, 97 – 101. 49 Brox/Walker, Erbrecht, 29. Aufl. 2021, § 1 Rn. 10. 50 Brox/Walker, Erbrecht, 29. Aufl. 2021, § 1 Rn. 10; Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 120 – 121; Ludyga, NZFam 2020, 185 (186). Allgemein: Schwab, Familienrecht, 28. Aufl. 2020 Rn. 711. 51 Neuner, JuS 2019, 1 (2). Zu Lücken im Gesetz grundlegend: Zitelmann, Lücken im Recht, Leipzig 1903 passim; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, passim; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 12. Aufl. 2018, S. 193 – 251; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, passim; Herrestahl/Weiß, Fälle zur Methodenlehre, 2020, S. 81 – 91; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 12. Aufl. 2021, 53 – 59. 45

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3. Der hypothetische Wille des Gesetzgebers § 1923 Abs. 2 BGB ist die Grundaussage zu entnehmen, dass „die mangelnde Erbfähigkeit des leiblichen Kindes des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalles“ keinen „Hinderungsgrund für das Erbrecht“ eines Kindes darstellt. Sinn und Zweck von § 1923 Abs. 2 BGB bilden in erbrechtlicher Hinsicht den Schutz eines Kindes, das zum Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht lebte.52 Dies gilt nach dem Grundgedanken53 von § 1923 Abs. 2 BGB für den nasciturus und ein durch eine post-mortem-Befruchtung geborenes Kind.54 Der Schutzzweck von § 1923 BGB greift ein, wenn „der Vater den Zeugungsakt durch Samenspende begonnen hat und erst nach seinem Ableben die Insemination erfolgt“.55 § 1923 Abs. 2 BGB steht einer „Erweiterung des Anwendungsbereichs“56 der Norm auf durch eine post-mortem-Befruchtung geborene Kinder nicht entgegen. Die §§ 2101, 2106, 2108 BGB verdeutlichen, dass im Rahmen einer Nacherbschaft noch nicht gezeugte Kinder in den „Genuss der Erbschaft“ kommen können.57 Parallelen können hinsichtlich der Erbfähigkeit nach einer post-mortem-Befruchtung in gedanklicher Hinsicht zur Annahme eines Kindes gezogen werden. Im Einzelfall ist die Annahme eines Kindes gemäß § 1753 BGB postmortal nach dem Tod des Annehmenden mit der Folge einer Erbfähigkeit für das Kind erlaubt.58 Es ist ein hypothetischer Wille des Gesetzgebers im BGB dahingehend anzunehmen, dass aufgrund einer post-mortem-Befruchtung gezeugte Kinder erbfähig sind.59 Die Zuordnung eines nach einer post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes zum verstorbenen Vater mit einer Folge für die Erbfähigkeit ist über eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung post mortem oder durch ein präkonzeptionelles Anerkenntnis der Vaterschaft möglich.60 52

Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 121. Allgemein zu dieser Argumentation: Bydlinski/Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. Aufl. 2018, S. 89. 54 Ludyga, NZFam 2020, 185 (188 – 189). 55 Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, 467 (472). 56 Allgemein: Danwerth, ZfPW 2017, 230 (233). 57 Ludyga, NZFam 2020, 185 (186); Brox, in: Festschrift Stree – Wessels, 1993, S. 965 (971 – 972); Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 3, Das Erbrecht, 6. Aufl. 1900, S. 24. 58 Krüger, Das Verbot der post-mortem-Befruchtung, 2010, S. 13; zu den rechtlichen Wirkungen: MüKoBGB/Maurer, 8. Aufl. 2020, § 1753 BGB Rn. 21 – 25; Schwab, Familienrecht, 28. Aufl. 2020, Rn. 1006. 59 Ludyga, NZFam 2020, 185 – 191; Brox, in: Festschrift Stree – Wessels, 1993, S. 965 (971 – 972). 60 Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 118; von Scheliha, Familiäre Autonomie und autonome Familie, 2019, S. 114 – 116; Ludyga, NZFam 2020, 185 (188). Einen Anhaltspunkt für die Möglichkeit eines präkonzeptionellen Anerkenntnisses bietet § 1594 Abs. 4 BGB, wonach die Anerkennung der Vaterschaft schon vor der Geburt des Kindes zulässig ist. 53

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Ein Kind, das aufgrund einer post-mortem-Befruchtung geboren wurde, ist dem den Samen spendenden Vater biologisch, sozial und rechtlich zuzuordnen.61 Die klassische Konzeption des BGB in „Mutter“ oder „Vater“ über die §§ 1591 ff. BGB ohne die Beachtung der Möglichkeit einer post-mortem-Befruchtung ist überholt. Erforderlich ist eine Gleichstellung von Beiwohnung und künstlicher Befruchtung zu Lebzeiten sowie post-mortem.62 4. Verfassungsrechtliche Überlegungen a) Drittwirkung der Grundrechte Entscheidend für die Anerkennung der Erbfähigkeit eines durch eine post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes sind verfassungsrechtliche Erwägungen, die über eine Drittwirkung der Grundrechte eine Bedeutung für das Zivilrecht besitzen.63 Beschränkungen der Erbfähigkeit müssen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.64 Die Grundrechte bilden „Abwehrrechte auch gegenüber dem Privatrechtsgesetzgeber“, der an die Verfassung gebunden ist. Sie grenzen die „Rechtssphären der Betroffenen“ im Zivilrecht ab. Artikel 1 Abs. 3 GG bindet den Gesetzgeber, als „hoheitlich handelnde Staatsgewalt“, im Zivilrecht an die Grundrechte unmittelbar.65 Die Grundrechte weisen über eine Drittwirkung eine „erhebliche gesellschaftliche Steuerungsfunktion“66 auf.

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Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, S. 467 (472). Zum „sozialen Tatbestand“ allgemein: HKK/Hermann, §§ 1591 – 1600d Rn. 6. 62 HKK/Hermann, §§ 1591 – 1600d Rn. 6; Schumacher, FamRZ 1987, 313 (318). 63 Hager, JZ 1994, 373 – 383 m. w. N.; zur Drittwirkung der Grundrechte: Hellgardt, JZ 2018, 901 – 910; Neuner, Die Einwirkung der Grundrechte auf das deutsche Privatrecht, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, S. 159 – 176; Neuner, Das BGB unter dem Grundgesetz, in: Diederichsen/Sellert (Hrsg.), Das BGB im Wandel der Epochen, 2002, S. 131 – 151; Singer, JZ 1995, 1134 (1135 – 1136); Guckelberger, JuS 2003, 1151 – 1157; aus der älteren Literatur: Canaris, AcP 184 (1984), 201 – 246; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, passim. 64 Lindner, ZRP 2019, 171 (173). Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht: Medicus, AcP 192 (1992), 35 – 70. 65 Hager, JZ 1994, 373 (374 – 376, 381, 383); Staudinger/Hager, Neubearbeitung 2017, § 823 BGB C 5, C7 – 8; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 12. Aufl. 2020, § 5 Rn. 11 – 12. 66 Kulick, NJW 2016, 2236.

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b) Kindeswohl Das Kindeswohl, das als Generalklausel schwer konkretisierbar ist,67 und deren Ausgestaltung vom gesellschaftlichen Wertesystem abhängt,68 gebietet die Anerkennung einer Erbfähigkeit eines durch eine post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes. Das Kindeswohl ist über das Verfassungs- und Zivilrecht abgesichert. Verankert ist das Kindeswohl in verfassungsrechtlicher Hinsicht im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 1 Abs. 1 GG sowie in der Elternverantwortung gemäß Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG.69 Nach § 1666 Abs. 1 BGB bezieht sich das Kindeswohl auf das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes.70 Bei der post-mortem-Befruchtung ist das Wohl eines noch nicht geborenen Kindes betroffen,71 das zu keinem Zeitpunkt einen lebenden Vater hat.72 Für die Frage der Erbfähigkeit darf es keine Rolle spielen, ob der Vater eines Kindes nach einer Befruchtung während der Schwangerschaft,73 nach einer post-mortem-Befruchtung74 oder nach der Geburt des Kindes stirbt.75 Eine vermeintlich nicht „erreichte und optimale Verwirklichung“ des Kindeswohls,76 was ohnehin wissenschaftlich nicht belegt ist,77 als „Zeugungsschranke“78 aufgrund einer post-mortem-Befruchtung rechtfertigt keine Verneinung der Erbfähigkeit.79 c) Erbrechtsgarantie Das gemäß Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Erbrecht80 verlangt die Anerkennung der Erbfähigkeit eines durch eine post-mortem-Befruchtung geborenen 67 Coester, NZFam 2016, 579; BeckOK-BGB/Veit, 1. 11. 2019, § 1666 BGB Rn. 14; Inthorn/Pisani, MedR 2018, 419 (421). Grundlegend zum Kindeswohl: Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983 passim. 68 Inthorn/Pisani, MedR 2018, 419 (421). 69 Spickhoff/Müller-Terpitz, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Artikel 6 GG, Rn. 12; Biermann, NZFam 2017, 962 (963); Ludyga, NZFam 2020, 185 (187). 70 Wellenhofer, Familienrecht, 5. Aufl. 2019, § 32 Rn. 32; Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 76. 71 Biermann, NZFam 2017, 962 (964). 72 Schack, JZ 2019, 864 (869). 73 Krüger, Das Verbot der post-mortem-Befruchtung, 2010, S. 16; zu diesem Gedanken: Gülzow, GesR 2017, 552 (554). 74 Ludyga, NZFam 2020, 185 (188). 75 Müller-Terpitz, ZRP 2016, 51 (54); Gülzow, GesR 2017, 552 (554). 76 Schwab, Familienrecht, 28. Aufl. 2020, Rn. 798; Ludyga, NZFam 2020, 185 (189). 77 Gassner, ZRP 2015, 126; Mayr, NZFam 2018, 913 (919); Biermann, NZFam 2017, 962 (964). 78 Sternberg-Lieben, NStZ 1988, 1 (4). 79 Ludyga, NZFam 2020, 185 (189). 80 BVerfGE 44, 1 (17); BVerfGE 67, 329 (340); Dreier/Wieland, 3. Aufl. 2013, Artikel 14 GG, Rn. 78 – 83.

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Kindes.81 Bei In-Kraft-Treten von § 1923 BGB existierte Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG mit einer Garantie des Erbrechts nicht. Durch eine post-mortem Befruchtung geborene Kinder dürfen im Erbrecht wie nichteheliche Kinder nicht diskriminiert werden.82 Verfassungsrechtlich ist es vor dem Hintergrund von Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG und Artikel 3 Abs. 1 GG erforderlich, „jedem Kind eine rechtlich geschützte Verbindung zu seinem Vater und seiner Mutter zu gewähren“. Dies beinhaltet die Anerkennung der Erbfähigkeit eines aufgrund einer post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes.83 Das Erbrecht ist vor dem Hintergrund von Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG der falsche Ort die post-mortem-Befruchtung zu „bestrafen“.84 Für die erbrechtliche Stellung eines durch eine post-mortem-Befruchtung gezeugten Kindes ist es unerheblich, dass § 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG eine solche Befruchtung strafrechtlich sanktioniert. Die Rechtsordnung kann nicht über das Strafrecht dem Kind einen Vater im rechtlichen Sinne mit Auswirkungen auf die Erbfähigkeit absprechen.85 Die erbrechtliche Stellung des Kindes darf nicht – so Hans Brox zu recht – „unter der Bewertung des Verhaltens der für die Zeugung Verantwortlichen leiden“.86 Probleme bestehen für die Rechtssicherheit im Erbrecht,87 da keine zeitlichen Grenzen für eine post-mortem-Befruchtung existieren,88 eine post-mortem-Befruchtung lange Zeit nach dem Tod eines Mannes erfolgen kann89 und möglicherweise „Generationengrenzen“ überschritten werden.90 Eine Rechtsunsicherheit ist dem Erbrecht nicht fremd. Die Bestimmungen über die Ausschlagung, die Erbunwürdigkeit und die Anfechtung verdeutlichen, dass die Erben zum Zeitpunkt des Erbfalls nicht zwingend feststehen.91 Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass die Rechtsunsicherheit im Erbrecht Jahrzehnte anhält.92 Die Interessen eines aufgrund einer post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes gehen der Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Erbfolge vor.93 Das Argument gegen die „Erzeugung generationen81

Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 123. Britting, Die postmortale Insemination als Problem des Zivilrechts, 1989, S. 151; Ludyga, NZFam 2020, 185 – 191. 83 MüKoBGB/Leipold, 8. Aufl. 2020, § 1923 BGB Rn. 24 – 25. Zu Artikel 3 Abs. 1 GG bei einer Analogie: Danwerth, ZfPW 2017, 230 (234). 84 BeckOGK/Tegelkamp, 1. 3. 2021, § 1923 BGB Rn. 44. 85 BeckOGK/Tegelkamp, 1. 3. 2021, § 1923 BGB Rn. 42 – 43. 86 Brox, in: Festschrift Stree – Wessels, 1993, S. 965 (968). 87 Ohne diesem Argument zu folgen: BeckOGK/Tegelkamp, 1. 3. 2021, § 1923 BGB Rn. 44. 88 Schumann, FamRZ 2019, 1378 (1379); Schack, JZ 1989, 609 (611). 89 Schack, JZ 1989, 609 (611). 90 Ludyga, NZFam 2020, 185 (189); allgemein dazu: Deutsch, NJW 1986, 1971 (1972). 91 Brox, in: Festschrift Stree – Wessels, 1993, S. 965 (973); Neuner, JuS 2019, 1 (2). 92 OLG Köln, NJW-RR 1992, 1031 (1032). 93 Leipold, in: Festschrift Kralik, 1986, S. 467 (473). 82

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Hannes Ludyga

versetzter Menschen“ durch eine post-mortem-Befruchtung ist von keiner großen Bedeutung, da das Alter der Frau einer solchen Befruchtung Grenzen setzt.94 5. Ethische Bedenken gegen eine post-mortem-Befruchtung Gegen eine post-mortem-Befruchtung werden, jenseits der Thematik der Erbfähigkeit nach einer post-mortem-Befruchtung geborener Kinder, ethische Bedenken vorgebracht.95 Die Ethik umfasst den „Bereich philosophischer Untersuchungen und Reflexionen über die Moral“.96 Ethische Vorbehalte gegen „neue Technologien“ können gewichtig sein.97 Ethische Argumente müssen die Grundrechte beachten und sich dem „Wettbewerb freiheitlich-demokratischer Entscheidungsprozesse stellen und unterwerfen“.98 Entscheidend sind nicht „Mixturen aus Glaubenssätzen“, persönliche „Wunschvorstellungen und Heilsgewissheiten“ jenseits einer „rationalen Begründbarkeit“.99 Ein Rechts- und Verfassungsstaat sichert einen „Kernbereich der sozialethischen Prinzipien“ als „ethisches Minimum“ ab.100 In einer modernen und pluralistischen Gesellschaft bestehen zahlreiche schützenswerte ethische Betrachtungen, Lebensformen, Lebensstile, Wertesysteme und Erfahrungswelten.101 Ethische Bedenken widersprechen einer post-mortem-Befruchtung und der Anerkennung der Erbfähigkeit des aufgrund einer post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes aus rechtlicher Perspektive nicht.102 Unerheblich ist der ethische Einwand, dass sich die post-mortem-Befruchtung von einer „natürlichen Befruchtung“ radikal unterscheidet. Der Begriff der „Natürlichkeit“ ist in juristischer Hinsicht fragwürdig. Er ersetzt keine „wissenschaftliche“ Begründung, um beliebige Ziele zu erreichen. Die Kategorisierung als „natürlich“ oder „unnatürlich“ entscheidet nicht über die Zulässigkeit einer Handlung. Zahlreiche Vorgehensweisen wären ansonsten aufgrund

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Rosenau/Linoh, JZ 2013, 937 (939). Schack, JZ 2019, 864 (869). 96 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 99. 97 Frommel, Kritische Justiz 2000, 341 – 342. 98 Allgemein: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 386a, 403. 99 Allgemein: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 386a, 403. 100 Allgemein: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 408. 101 Gassner/Kersten/Krüger/Lindner/Rosenau/Schroth, Fortpflanzungsmedizingesetz, 2013, S. 19. 102 Gassner/Kersten/Krüger/Lindner/Rosenau/Schroth, Fortpflanzungsmedizingesetz, 2013, S. 19. 95

Erbfähigkeit und post-mortem-Befruchtung

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des technischen Fortschritts nicht gestattet.103 Eine willentliche post-mortem-Befruchtung, bei der Eltern alle Bemühungen unternehmen, um ein Kind auf die Welt zu bringen,104 erfordert die Erbfähigkeit eines aufgrund einer post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes in ethischer Hinsicht.105

IV. Schluss Die derzeitige Rechtslage hinsichtlich der Erbfähigkeit eines aufgrund einer postmortem-Befruchtung geborenen Kindes ist im „Rechtsganzen“ unbefriedigend.106 Eine Anerkennung der ausdrücklichen Erlaubnis der post-mortem-Befruchtung durch den Gesetzgeber und die Regelung der Erbfähigkeit eines durch eine post-mortem-Befruchtung geborenen Kindes ist notwendig. Bis zu einer solchen Anerkennung findet § 1923 Abs. 2 BGB hinsichtlich der Erbfähigkeit eines nasciturus analog Anwendung auf durch eine post-mortem-Befruchtung geborene Kinder zur Erreichung sachgerechter Ergebnisse.107 § 1923 Abs. 2 BGB bildet zwar eine Ausnahmevorschrift.108 Ausnahmevorschriften sind aber analogiefähig.109

103 Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 66 – 67; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 915, 926. 104 Gassner, ZRP 2015, 126. 105 Ludyga, NZFam 2020, 185 (187 – 188). 106 Allgemeinen in methodischer Hinsicht: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 12. Aufl. 2018, S. 194. 107 Brox/Walker, Erbrecht, 29. Aufl. 2021, § 1 Rn. 10; HK-BGB/Thomas Hoeren, 10. Aufl. 2019, § 1923 BGB Rn. 3. 108 Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 122. 109 Würdinger, AcP 206 (2006), 946 – 979.

Die richterrechtliche Ausformung des notariellen Nachlassverzeichnisses (§ 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB) als Beispiel einer missglückten Rechtsfortbildung Von Herbert Roth

I. Bedeutung des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB Die unscheinbare Norm über das notarielle Nachlassverzeichnis ist spätestens seit einer Entscheidung des OLG Celle aus dem Jahre 20021 aus ihrem Dasein als Mauerblümchen erwacht und hat sich in der Rechtsprechung – sehr zum Unwillen vieler Notare – zu einer zentralen Norm des Pflichtteilsrechts (§§ 2303 ff. BGB) entwickelt. 1. Weithin konsentiertes Verständnis Rechtsprechung und Literatur haben das notarielle Nachlassverzeichnis jetzt nahezu einmütig ausgeformt:2 Nicht ausreichend sei es, dass der Notar lediglich Erklärungen des Auskunftspflichtigen über den Bestand des Nachlasses beurkunde. Vielmehr habe der Notar den Nachlassbestand selbst zu ermitteln und festzustellen und durch Bestätigung des Verzeichnisses als von ihm aufgenommen zum Ausdruck zu bringen, dass er den Inhalt verantworte. Er müsse zunächst von den Angaben des Auskunftspflichtigen ausgehen, sei in der Ausgestaltung des Verfahrens aber weit1 OLG Celle, DNotZ 2003, 62 mit zust. Anm. Nieder in Fortführung von OLG Celle, OLGReport Celle 1997, 160; zum Stand der Rechtsprechung etwa Kurth, ZErb 2018, 225 ff.; 257 ff.; 293 ff. 2 Im Anschluss an BGHZ 33, 373 (377) (dort ein Verweis auf RGZ 72, 379 [384: „wichtigste Grundlage für die Berechnung des Pflichtteils“]): BGH (I. Zivilsenat), NJW 2019, 231 Rn. 32; BGH (IV. Zivilsenat), NJW 2020, 2187 Rn. 8 mit zust. Anm. Schönenberg-Wessel; etwas vorsichtiger BGH (IV. Zivilsenat), NJW 2019, 234 Rn. 22; zudem BVerfG, NJW 2016, 2943 Rn. 3. – Aus der reichen neueren Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in Auswahl: OLG Hamm, ZEV 2020, 295 Rn. 12; OLG Dresden, FamRZ 2018, 69; OLG Bamberg, MittBayNot 2017, 169 Rn. 3 mit Anm. Braun; OLG München, ZEV 2017, 460 Rn. 17; OLG Koblenz, NJW 2014, 1972; OLG Schleswig, NJW-RR 2011, 946; OLG Saarbrücken, ZEV 2010, 416; OLG Düsseldorf, RNotZ 2008, 105; weitere Nachweise bei Keim, NJW 2020, 2996; Knut Werner Lange, ZEV 2020, 253; Schönenberg-Wessel, NotBZ 2019, 170 (171); ders., NotBZ 2018, 204 ff.; Zimmer, NJW 2019, 186; Weidlich, ZEV 2017, 241; DNotI-Report 2003, 137; monographisch Schönenberg-Wessel, Das notarielle Nachlassverzeichnis, 2020, § 26; M. Damm, Notarielle Verzeichnisse in der Praxis, 2018, § 2 B VI (Rn. 151 ff.); zu den gebräuchlichen Anschreiben an den Erben: Sarres, ZEV 2020, 464.

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gehend frei. Der Erbe sei über seine Pflicht zu belehren, vollständige und wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Der Notar dürfe sich aber nicht auf eine Plausibilitätsprüfung beschränken. Vielmehr müsse er diejenigen Nachforschungen anstellen, die „ein objektiver Dritter in der Lage des Gläubigers für erforderlich halten dürfe“.3 Trotz (oder wegen) der gerade angeführten Grundsätze hat sich schon der Ausgangspunkt der herrschenden Lehre als Nest von Streitfragen erwiesen. Vor allem besteht nach wie vor keine Einigkeit darin, wie weit die eigene – ermessensgeleitete – Ermittlungspflicht des Notars reicht.4 Gegenwärtig zeichnet sich wohl die Tendenz ab, die geforderten Nachforschungen nicht allzusehr ausufern zu lassen.5 2. Die Gegenauffassung Gegenstimmen zur h. L. finden sich in der Literatur nur vereinzelt. Danach habe der Notar – wie bei § 2002 BGB im Inventarrecht – auch im Anwendungsbereich des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB den Auskunftspflichtigen lediglich zu belehren und Beistand zu leisten. Dagegen liege die Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit des Nachlassverzeichnisses nicht bei dem Notar, sondern bei dem Auskunftspflichtigen.6 Die obergerichtliche Rechtsprechung nimmt diese abweichende Auffassung nicht einmal mehr zur Kenntnis. Natürlich sind die Notare gut beraten, sich in Verfolgung des sichersten Weges an der Rechtsprechung zu orientieren, um sich nicht schadensersatzpflichtig zu machen (§ 19 BNotO) oder sich der Beschwerde nach § 15 Abs. 2 BNotO (§§ 20 Abs. 1 Satz 1, 10a Abs. 2, 15 Abs. 1 BNotO) auszusetzen.7 Gleichwohl wird in diesem Beitrag die These vertreten, dass die eingefahrene Praxis mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren (sogleich unten ab II.), insbeson3 Zur weit gespannten Tätigkeit des Notars etwa das Formular „11. 4. 3. 4 Notarielles Nachlassverzeichnis 25“ von Schönenberg-Wessel, in: Beck‘sche Online Formulare Erbrecht, 2020, 1. 3. 2020; OLG Celle BWNotZ 2020, 407. 4 Ein Beispielskatalog findet sich etwa bei OLG Koblenz, NJW 2014, 1972 (mit fehlerhafter Einbeziehung von Wertgutachten) und krit. Anm. von P. S. Hager, DNotZ 2014, 780; zutreffend dagegen OLG Düsseldorf, ZEV 2020, 294; nicht beifallswert ist die Einschätzung von OLG Bamberg, MittBayNot 2017, 169 Rn. 2, wonach Prüfungs- und Ermittlungspflichten des Notars im Wesentlichen „geklärt seien“. 5 Braun, MittBayNot 2008, 351 (354); P. S. Hager, DNotZ 2014, 783 ff.; Zimmer, ZEV 2008, 365; aus der Rechtsprechung z. B. OLG Köln, RNotZ 2013, 127 (keine „Rasterfahndung“); die gegenläufige Tendenz will ausmachen Müller-Engels, in: Bamberger/H. Roth/ Hau/Poseck, 4. Aufl. 2020, BGB § 2314 Rn. 23. 6 So Heidenreich, ZErb 2011, 71; Palandt/Weidlich, 80. Aufl. 2021, BGB § 2314 Rn. 7; krit. gegenüber der h. L. auch Althammer, in: Limmer, Erbrecht und Vermögenssicherung, 2016, S. 1 (16 f.); Sagmeister, MittBayNot 2013, 519; Zimmer, NJW 2015, 1 (4 ff.); ders., ZEV 2008, 365 (368); so auch de lege ferenda Nieder, DNotZ 2003, 62. 7 Sehr scharf Horn, ZEV 2018, 376; gegen ihn Keim, ZEV 2018, 501; zur Beschwerde Horn, in: Burandt/Rojahn, Erbrecht, 3. Aufl. 2019, § 2314 BGB Rn. 51; dazu OLG Koblenz, ZEV 2020, 697.

Die richterrechtliche Ausformung des notariellen Nachlassverzeichnisses

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dere auch nicht als Rechtsfortbildung zu halten ist (unten V.). Zutreffend ist allein eine teleologische Reduktion des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB (unten IV. 2.) mit der Folge, dass der Notar bei der Aufnahme des Verzeichnisses nur mitwirkt und dem Auskunftspflichtigen beisteht („Zuziehung). Zur Durchsetzung der bereits bestehenden Rechtslage ist der Gesetzgeber aufgerufen, weil von Seiten der Rechtsprechung wohl keine Kehrtwende mehr zu erwarten ist.8 3. Prozessuales Umfeld Zum besseren Verständnis der Funktion des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB sei ein Blick auf die prozessuale Einbettung der Norm vorangestellt. Der Pflichtteilsanspruch der §§ 2303, 2317 BGB und der Auskunftsanspruch des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB richten sich gegen den Erben und werden meist im Wege der Stufenklage nach § 254 ZPO vor dem Prozessgericht geltend gemacht.9 Inhaltlich bestehen zwischen dem privaten Verzeichnis des Erben nach § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB und dem notariellen Verzeichnis nach Satz 3 keine Unterschiede: Das Verzeichnis hat die realen und fiktiven Nachlassaktiva und die Nachlasspassiva zu enthalten.10 Die erste Stufe der Klage nach § 254 ZPO bildet der vorgeschaltete Auskunftsanspruch und erst nach dessen rechtskräftiger Erledigung im Wege des Teilurteils (und gegebenenfalls des Anspruches auf eidesstattliche Versicherung nach § 260 Abs. 2 BGB) wird über den jetzt zu beziffernden Pflichtteilsanspruch entschieden. Bei einer Auskunftspflichtverletzung des Erben trifft ihn im Zivilprozess über den Pflichtteilsanspruch eine sekundäre Darlegungslast; dagegen kommt es bei unvollständiger oder fehlerhafter Auskunft nicht zu einer Umkehr der Beweislast.11 Vielmehr bleibt die Beweislast bei dem Pflichtteilsberechtigten.12 Hält der Pflichtteilsberechtigte das Teilurteil über den Auskunftsanspruch durch Vorlage des notariellen Nachlassverzeichnisses (§ 2314 Abs. 1 Satz 3 ZPO) für (teilweise) nicht erfüllt (§ 362 BGB), so kann er grundsätzlich nicht dessen Ergänzung verlangen, sondern ist unter den Voraussetzungen des § 260 Abs. 2 BGB auf den Weg der eidesstattlichen Versicherung verwiesen.13 In bestimmten Fallgruppen14 wird 8 Ebenso M. Damm, notar 2016, 219 (234); ders., Notarielle Verzeichnisse in der Praxis, 2018, § 2 B Rn. 224 ff. (S. 280). Das Problem wird nicht gelöst durch die Gesetzesinitiative der BRAK, abgedruckt in ErbR 2020, 171; ferner Keim, NJW 2020, 2996 (3000). 9 Einzelheiten bei Stein/Jonas/H. Roth, 23. Aufl. 2016, ZPO § 254 Rn. 18 ff.; Häberle/ Grziwotz, in: Schulze/Grziwotz/Lauda, BGB: Kommentiertes Vertrags- und Prozessformularbuch, 4. Aufl. 2020, § 2314 BGB Rn. 12. 10 BGHZ 33, 373 (375); zum Auskunftsanspruch wegen des „fiktiven Nachlasses“: Zimmer, NJW 2015, 1 ff.; auch BeckOGK/Blum, 15. 11. 2019, BGB § 2314 Rn. 45. 11 BGH, NJW-RR 2010, 1378 (aber ohne Eingehen auf § 888 ZPO im Verfahrensabschnitt der Zwangsmittelfestsetzung bei unvollständiger Auskunftserteilung). 12 Baumgärtel, in: FS Hübner, 1984, S. 395 (397). 13 BGH, LM § 260 BGB Nr. 1; Staudinger/Herzog, 2015, BGB § 2314 Rn. 84.

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dem Pflichtteilsberechtigten aber ein materiellrechtlicher Anspruch auf Ergänzung des notariellen Verzeichnisses eingeräumt, der nicht durch eine weitere ergänzende Auskunftsklage gegen den Erben, sondern im Wege der Zwangsvollstreckung des vorliegenden Auskunftsurteils nach § 888 ZPO durchzusetzen ist.15 Der Erfüllungseinwand des Auskunftspflichtigen (§ 362 BGB) kann wahlweise sowohl im Verfahren der Zwangsvollstreckung nach § 888 ZPO als Verteidigung gegen die Zwangsmittelfestsetzung16 als auch im Wege einer Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO, gerichtet auf Unzulässigerklärung der Zwangsvollstreckung, geltend gemacht werden.17 In beiden Fällen trägt der Auskunftspflichtige für seinen Erfüllungseinwand (§ 362 BGB) die Beweislast.18

II. Auslegungskriterien zur Ermittlung des Normzwecks des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB Für die Ermittlung und Verwirklichung des Normzwecks des notariellen Nachlassverzeichnisses nach § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB als Auslegungsziel herrscht nur über eine recht abstrakte zweiteilige Formulierung Einigkeit: In ihrem ersten Teil soll der materiellrechtliche Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten gegen den Erben (sowohl nach § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB wie nach § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB) dem Gläubiger die notwendigen Kenntnisse zur Bemessung seines auf Geld gerichteten Pflichtteilsanspruches aus §§ 2303 Abs. 1 Satz 1, 2317 BGB verschaffen. Deren zweiter Teil soll durch den Verweis auf § 260 BGB in § 2314 Abs. 1 Satz 2 BGB sichern, dass der gesetzliche Auskunftsanspruch „in einer klaren und übersichtlichen Form befriedigt wird“.19 Allerdings reklamiert die h. L. (oben I. 1.) für das notarielle Nachlassverzeichnis des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB im Vergleich mit dem Privatverzeichnis des Satzes 1 zusätzlich eine „größere Richtigkeitsgewähr“ für die Vollständigkeit und Richtigkeit. Das bedeutete eine qualitative Verstärkung des Auskunftsanspruches. Dagegen betont die Mindermeinung (oben I. 2.) für Satz 3 lediglich die Klarheitsfunktion für die Erstellung eines geordneten Verzeichnisses, wofür es keiner eigenen Ermittlungspflicht des Notars bedarf, sondern eine bloße Beistandspflicht genügt. Im Folgenden soll mit den klassischen Auslegungsmitteln des Wortlauts (sogleich unten 1.), der systematischen Auslegung (unten 2.) und der historischen Auslegung 14 Etwa bei einer verweigerten Zustimmung des Erben zu einem Kontendatenabruf des Notars bei einem ausländischen Kreditinstitut: BGH, NJW 2020, 2187 Rn. 11 mit überwiegend zust. Anm. J. Kuhn, ZEV 2020, 627; Keim, DNotZ 202, 68 ff. 15 BGH, NJW 2020, 2187 Rn. 10; OLG Schleswig, NJW-RR 2011, 1449 (grundlegend). 16 Z. B. OLG Koblenz, ZEV 2018, 413 mit Anm. Weidlich. 17 So im Falle von BGH, NJW 2020, 2187; zur Wahlmöglichkeit des Schuldners Brox/ Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 1073 (zu § 887 ZPO). 18 OLG Schleswig, NJW-RR 2011, 1449 (1451). 19 BGH, NJW 2019, 231 Rn. 31; BGHZ 33, 373 (374).

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(unten 3.) der Normzweck des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB (unten III.) als Auslegungsziel ermittelt werden. Dabei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass sich in der Methodentheorie des BVerfG ein Wandel vollzogen hat. In dessen Rechtsprechung wird in neueren Entscheidungen hervorgehoben, dass der „klar erkennbare Wille des Gesetzgebers“ als Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit nicht übergangen oder verfälscht werden darf. Für die Ermittlung dieses Willens komme den Gesetzesmaterialien „eine nicht unerhebliche Indizwirkung“ zu.20 Das bedeutet eine weitgehende Abkehr von der „objektiven Auslegungstheorie“ und stattdessen eine Betonung der „subjektiven Auslegungstheorie“ (unten 3. a); V. 4.).21 1. Das Wortlautargument Nach § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB kann der Pflichtteilsberechtigte verlangen, dass das Verzeichnis durch … einen Notar „aufgenommen wird“. Der Begriff der „Aufnahme“ findet sich etwa auch im verwandten § 2003 BGB über die amtliche Aufnahme des Inventars. Dort ist unbestritten, dass den Notar eine eigene Ermittlungspflicht trifft und er für die Aufnahme die Verantwortung trägt.22 Qualitativ verschieden verwendet § 2002 BGB den Begriff der „Zuziehung“ des Notars. Dort hat er lediglich die Stellung eines Beistandes und ist zur Prüfung der Vollständigkeit und Richtigkeit des Inventars nicht verpflichtet.23 Hält man die in § 2003 BGB verwendete Begrifflichkeit auch bei § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB für maßgebend, so wäre dort die bloße Zuziehung nicht mehr vom Wortsinn gedeckt. Anderes hätte zu gelten, wenn der Gesetzgeber des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB für diese Norm eine eigene Begrifflichkeit gewählt hätte, die mit „Aufnahme“ auch Fälle der bloßen „Zuziehung“ bezeichnet oder sogar darauf beschränkt. Aufschluss darüber kann die Entstehungsgeschichte bieten, wenn die Gesetzesmaterialien dazu eine Stellungnahme enthalten (unten 3.).

20 BVerfG, NJW 2018, 2542 Rn. 73 ff. (sachgrundlose Befristung bei „Zuvor-Beschäftigung“); BVerfG, NJW 2011, 836 Rn. 52 ff. (Bemessung des nachehelichen Unterhalts). 21 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 799 ff.; MüKoBGB/Säcker, 8. Aufl. 2018, Einl. Rn. 125: „Bei unbefangener Diagnose kann kein Zweifel daran bestehen, dass das BVerfG in praxi dem Willen des Gesetzgebers zum Sieg verhilft“. 22 Staudinger/Dobler, 2020, BGB § 2003 Rn. 8; MüKoBGB/Küpper, 8. Aufl. 2020, § 2003 Rn. 3. 23 Staudinger/Dobler, 2020, BGB § 2002 Rn. 2; Lohmann, in: Bamberger/H. Roth/Hau/ Poseck, 4. Aufl. 2020, BGB § 2002 Rn. 1.

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2. Die systematische Auslegung Ebenso wie das Wortlautargument (oben 1.) wird auch das systematische Argument von der historischen Auslegung beeinflusst.24 Geht der zu beachtende Wille des historischen Gesetzgebers (sogleich unten 3.) dahin, dass sich die zweispurige Konzeption des Inventarrechts mit bloßen notariellen Beistandspflichten in § 2002 BGB einerseits und eigenen Ermittlungspflichten des Notars in § 2003 BGB andererseits nicht in § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB wiederfindet, so treten systematische Brüche zwischen dem Inventarrecht und dem Pflichtteilsrecht von vornherein nicht auf. § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB fügte sich danach widerspruchslos in den Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung ein. 3. Das historische Argument a) Bedeutung Die Entstehungsgeschichte ist jedenfalls wertvoll, wenn sich aus ihr der Gesetzeszweck ermitteln oder verdeutlichen lässt. Das gilt unabhängig davon, ob nach der „subjektiven Theorie“ eine ausdrückliche Stellungnahme der Materialien für den Gesetzesanwender bindend25 oder der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers nach der sogenannten „objektiven Theorie“ mit ihrer Suche nach dem „Willen des Gesetzes“ nicht entscheidend ist.26 b) Erster und Zweiter Entwurf Der erste Entwurf von 1888 kannte mit § 1988-E als Vorgängerregelung des § 2314 Abs. 1 Satz 1 lediglich den Anspruch auf ein privatschriftliches Verzeichnis: „Der Erbe ist gegenüber dem Pflichtteilsberechtigten, welcher nicht Miterbe ist, verpflichtet, über den Bestand des Nachlasses Auskunft zu geben“.27 Erst der zweite Entwurf von 1895 enthielt in § 2179 Abs. 1 Satz 3-E den Satz: „Er (der Pflichtteilsberechtigte) kann auch verlangen, daß das Verzeichnis durch die zuständige Behörde oder durch einen zuständigen Beamten oder Notar aufgenommen wird“.28 Als Be24

Die von Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 725 ff. vorgeschlagene Reihenfolge der Auslegungsmittel ist also nicht zwingend. 25 So für viele MüKoBGB/Säcker, 8. Aufl. 2018, Einl. Rn. 125 ff., 139; Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 720, 796 ff.; je mit Nachw. des Streitstandes. 26 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 333 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Studienausgabe, 3. Aufl. 1995, S. 153 ff.; so auch der Ausgangspunkt von Palandt/Grüneberg, 80. Aufl. 2021, BGB Einl. Rn. 40; eingehende Kritik bei Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 801 ff. 27 Mugdan V, LIV. 28 Mugdan V, LV.

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gründung geben die Protokolle lediglich an: „Auf sein Verlangen müsse ferner, da dies die für die Inventarerrichtung vorgeschriebene Form ist, das Verzeichnis durch die zuständige Behörde oder einen zuständigen Beamten oder Notar aufgenommen werden“.29 Verwiesen wurde damit auf § 2102 des Ersten Entwurfes, den jetzigen § 2002 BGB. § 2102-E lautete: „Das Inventar muss von der zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten aufgenommen werden“.30 Die Ausführungen der Motive zur „Aufnahme“ ergeben eindeutig, dass eine bloße „Zuziehung“ des Notars gemeint war.31 „Indem der § 2102 die Aufnahme des Inventars durch … ein öffentliches Organ vorschreibt, wird nicht das System der amtlichen Nachlaßregulierung teilweise angenommen. Dieses Organ soll nicht berufen werden, gegen den Erben sich richtende Ermittlungen anzustellen; es soll vielmehr dem Erben als Beistand dienen. Der Wert dieses Beistandes liegt im Wesentlichen darin, dass der Erbe, wenn er auch zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Angabe bereit ist, in der Herstellung eines auf seine Angaben sich gründenden Verzeichnisses unterstützt und vor der Herstellung eines unvollständigen, unbrauchbaren und vielleicht gar nicht die Bezeichnung als Inventar verdienenden Schriftstückes bewahrt wird“.

Der zweite Entwurf gab dem § 2102-E schließlich in § 1876 folgende Fassung: „Der Erbe muss zu der Aufnahme des Inventars eine zuständige Behörde oder einen zuständigen Beamten oder Notar zuziehen“.32 Die Protokolle33 führen dazu aus, dass § 2102 von der Subkommission prinzipiell nicht geändert wurde: „Der Erbe kann selbst die Aufnahme besorgen; dann muss aber das Inventar von der zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten aufgenommen werden (§ 2102), d. h. der Erbe hat sich bei der Aufnahme eines öffentlichen Organes als Beistand zu bedienen (Mot. S. 615)“34. Zuziehung und Aufnahme werden also als synonyme Begriffe gebraucht.35 Wenn von „Aufnahme“ gesprochen wird, ist sowohl die bloße Hinzuziehung des jetzigen § 2002 BGB gemeint wie auch die Aufnahme des § 2003 BGB: „Die §§ 2102 ff. regeln die Aufnahme des Nachlassinventars“.36 Allerdings kennt der heutige § 2003 BGB über die amtliche Aufnahme des Inventars gewiss eine Ermittlungspflicht des Notars und dieser trägt anders als im Falle des § 2002 BGB die Verantwortung (oben II. 1.).37 Diese Doppelspurigkeit des Inventar29

Mugdan V, S. 780 = Protokolle, S. 7502. Mugdan V, LXXVII. 31 Mugdan V, S. 330 = Motive, S. 615 f. 32 Mugdan V, LXXVII. 33 Mugdan V, S. 459 = Protokolle, S. 7874. 34 Die Bezugnahme der Protokolle auf die Motive widerlegen den Einwand von Kuhn/ Trappe, ZEV 2011, 347 (350) gegen Heidenreich, ZErb 2011, 71 (74), wonach die Motive der ersten Kommission für die zweite Kommission nicht ausschlaggebend gewesen seien. 35 Wie Heidenreich, ZErb 2011, 71 (74). 36 Mugdan V, S. 459 = Protokolle, S. 7874. 37 Staudinger/Dobler, 2020, BGB § 2003 Rn. 8. 30

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rechts in § 2002 BGB mit der Aufnahme des Inventars durch den Erben und § 2003 BGB mit der amtlichen Aufnahme des Inventars findet sich allerdings bereits im Ersten Entwurf.38 Die Protokolle führen zu § 2103-E (§ 2003 BGB) aus, dass in diesem Falle das Nachlassgericht die Errichtung zu bewirken habe und der Erbe lediglich verpflichtet sei, dabei behilflich zu sein.39 Die das Inventarrecht prägende Doppelspurigkeit hat allerdings in den Materialien zum jetzigen § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB keine Parallele. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass die gesetzgeberische Modellvorstellung des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB ausschließlich auf § 2002 BGB und nicht auf § 2003 BGB zurückgeht. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Materialien zu und im Umfeld des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB keinerlei Hinweise auf eine Ermittlungspflicht des Notars in eigener Verantwortung geben.40 Vielmehr sprechen Motive und Protokolle dafür, dass den Notar nach dem Vorbild der inventarrechtlichen Norm des § 2002 BGB lediglich eine Beistandspflicht mit bloßer Beratung und Hilfestellung treffen sollte. c) 2. KostRModG vom 23. 7. 2013 Im Rahmen der Reform des Notarkostenrechts findet sich jetzt in KV Nr. 23500 zum GNotKG41 zugunsten des Notars eine doppelte Gebühr (früher eine 0,5 Gebühr nach § 52 KostO) für „Verfahren über die Aufnahme eines Vermögensverzeichnisses“. Der Geschäftswert richtet sich gemäß § 115 GNotKG nach dem Wert der verzeichneten Gegenstände.42 Der Regierungsentwurf begründet die Änderung mit den umfangreichen Ermittlungspflichten des Notars und den damit verbundenen Schwierigkeiten sowie dem geleisteten Aufwand (Zeitaufwand in einigen Fällen mit insgesamt zweistelliger Stundenzahl, verteilt auf mehrere Wochen oder gar Monate).43 Die Begründung referiert im übrigen den Standpunkt der h. L. zu § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB (oben I. 1.) nahezu eins zu eins.44 Darin könnte eine Kehrtwende im gesetzgeberischen Willen des 2. KostRModG verglichen mit dem Willen des BGB-Gesetzgebers gesehen werden (oben b)). Die Erhöhung auf eine doppelte Gebühr kann jedoch kaum die methodologische Begründung für eigenverantwortliche Ermittlungspflichten des Notars liefern, zumal die Re38

Mugdan V, LXXVII (§ 2103-E). Mugdan V, S. 459 = Protokolle, S. 7874. 40 Heidenreich, ZErb 2011, 71 (grundlegend); Sagmeister, MittBayNot 2013, 519; Lange, ZEV 2020, 253 (258): Der Gesetzgeber hatte solche Ermittlungstätigkeiten nicht im Blick; anders noch MüKoBGB/Lange, 8. Aufl. 2020, § 2314 Rn. 37 mit Fn. 143. 41 Die Änderung beruht auf dem 2. KostRModG vom 23. 7. 2013, BGBl. I 2586; das GNotKG ist abgedruckt im Schönfelder unter Nr. 119. 42 Dazu Schmitz, RNotZ 2016, 231. 43 BR-Drucks. 517/12 vom 31. 8. 2012, S. 341 f. 44 BR-Drucks. 517/12, S. 341 f. 39

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gierungsbegründung in Bezug auf die zu lösenden Sachprobleme keinerlei Problembewusstsein erkennen lässt.45 Es ist natürlich kaum zu bestreiten, dass die Auslegung des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB in der Spielart der h. L. zu erheblichen Belastungen der Notare führen kann, was die h. L. aber nicht überzeugender macht. Der Gesetzgeber des 2. KostRModG hat an die Belastung der Notare lediglich im Sinne einer feststehenden Tatsache angeknüpft.

III. Der Normzweck des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB Die bisherige Untersuchung der Auslegungskriterien (oben II.) legt nahe, dass der Normzweck des notariellen Nachlassverzeichnisses nicht in einer qualitativ überlegenen Auskunft gegenüber dem privaten Verzeichnis des Erben zu sehen ist, sondern lediglich in der Verschaffung einer übersichtlichen Form (Verzeichnis) zur Befriedigung des Auskunftsanspruches des Pflichtteilsberechtigten. Im Einzelnen: Von einer größeren „Richtigkeitsgewähr“ des notariellen Verzeichnisses ist nirgends die Rede. Daher kann aus dieser bloßen Behauptung auch nicht eine Ermittlungspflicht und Übernahme der inhaltlichen Verantwortung durch den Notar hergeleitet werden.46 Es handelt sich vielmehr um einen Zirkelschluss. Eine größere Richtigkeitsgewähr kann sich als Folge umgekehrt nur ergeben, wenn vorangehend die Ermittlungs- und Einstandspflicht des Notars dargetan wird. So wurde zumindest methodisch zutreffend in einer älteren Entscheidung des BGH verfahren.47 Dort wurde allerdings die Ermittlungspflicht des Notars im Falle des notariellen Nachlassverzeichnisses mit der Parallele zum amtlichen Inventar des § 2003 BGB begründet.48 Der Wille des historischen Gesetzgebers ergibt zugunsten dieser Parallele jedoch nichts (oben II. 3. b)). Auch wenn die Entstehungsgeschichte nach Auffassung der „objektiven Theorie“ für die Ermittlung des Gesetzeszwecks nicht bindend sein soll, verdeutlicht sie gewiss die ratio legis und gewinnt damit wichtige Bedeutung.49 Da das historische Argument nichts für eine eigenverantwortliche Ermittlungspflicht des Notars ergibt, sollte dem notariellen Nachlassverzeichnis des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB nach Auffassung des historischen Gesetzgebers auch gegenüber dem privaten Verzeichnis von Satz 1 keine erhöhte Richtigkeitsgewähr zukommen. Vielmehr war entscheidend die zu § 2002 BGB gezogene Parallele, sodass neben der Vermittlung der notwendigen 45 Ebenso in der Sache Althammer, in: Limmer, Erbrecht und Vermögenssicherung, 2016, S. 1 (17); M. Damm, notar 2016, 219 (228); ders., Notarielle Verzeichnisse in der Praxis, 2018, § 2 B Rn. 218 (S. 277). 46 So aber deutlich in BGH, NJW 2019, 231 Rn. 32; ferner Horn, ZEV 2018, 376. 47 BGHZ 33, 373 (377). 48 BGHZ 33, 373 (377). 49 Das gestehen auch die Anhänger der „objektiven Theorie“ zu, etwa Palandt/Grüneberg, 80. Aufl. 2021, BGB Einl. Rn. 41, 45 f.

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Kenntnisse für den Pflichtteilsberechtigten an erster Stelle die soeben erwähnte Befriedigung des Auskunftsanspruchs in einer „klaren und übersichtlichen Form“ bleibt. Diese Aufgabe leistet der Notar auch dann, wenn ihm bloß die Stellung als Beistand mit notarieller Belehrung und Unterstützung eingeräumt wird. Bei § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB ist es auch erlaubt, dass der Notar das Verzeichnis nach den Angaben des von ihm belehrten Erben anfertigt.50

IV. Argumentationsformen 1. Restriktive Auslegung Die Gesetzesgeschichte (oben II. 3. b)) legt es nahe, dass die in § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB gebrauchte Begrifflichkeit mit „Aufnahme“ des Verzeichnisses durch den Notar den bloßen notariellen Beistand meint. In diesem Falle ließe sich der Normzweck durch bloße restriktive Auslegung von Satz 3 verwirklichen, weil der Wortsinn mehrere Deutungen zulässt und die restriktive Auslegung die engere bevorzugt („Beistand“).51 2. Teleologische Reduktion Hält man dagegen für den in § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB gebrauchten Begriff „Aufnahme“ einen seit Inkrafttreten des BGB eingetretenen Begriffswandel im Sinne eines eigenverantwortlichen notariellen Einstehenmüssens für das Verzeichnis nach der Interpretation der h. L. für unausweichlich, setzt sich der Normzweck (oben III.) mit dem Wortlaut der Norm in Widerspruch. Dann muss auf die Grundsätze der teleologischen Reduktion zurückgegriffen werden, die ihrerseits bereits eine Rechtsfortbildung darstellt.52 Die vorausgesetzte (hier: nachträgliche) planwidrige Regelungslücke liegt darin, dass § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB die vom Gesetzgeber gemeinten Fälle des bloßen notariellen Beistandes überhaupt nicht mehr regelte. Es ist weithin anerkannt, dass zur Feststellung der Lücke wiederum von der in der Gesetzesbegründung enthaltenen historischen Absicht des Gesetzgebers ausgegangen werden kann.53

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So für § 2002 BGB: Staudinger/Dobler, 2020, BGB § 2002 Rn. 2. Etwa BGH, NJW 2009, 427 Rn. 20; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 343; Palandt/Grüneberg, 80 Aufl. 2021, BGB Einl. Rn. 47, 49. 52 Etwa Palandt/Grüneberg, 80 Aufl. 2021, BGB Einl. Rn. 49; Staudinger/H. Honsell, 2018, BGB Einl. zum BGB Rn. 150. 53 Palandt/Grüneberg, 80. Aufl. 2021, BGB Einl. Rn. 49; zur EU-richtlinienkonformen Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion: BGH, NJW 2009, 427 Rn. 21 ff., 23, 24. 51

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Sowohl restriktive Auslegung als auch teleologische Reduktion ermöglichen die Durchsetzung der ratio legis, wonach § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB dem Notar lediglich eine Beistandspflicht auferlegt.

V. Die Ergebnisse der h. L. als Rechtsfortbildung Trotz der geradezu ausufernden Befassung von Rechtsprechung und Literatur mit der rechten Deutung des notariellen Nachlassverzeichnisses findet sich eher selten das Bemühen um eine Begründung der h. L. (oben I. 1.) für die Annahme einer eigenverantwortlichen Ermittlungstätigkeit des Notars. Die einzelnen Gerichtsentscheidungen wiederholen eher reflexhaft vorangegangene Entscheidungen, welche die „erhöhte Richtigkeitsgewähr“ des notariellen Verzeichnisses betonen. Dieses Argument wurde bereits zurückgewiesen (oben III.). 1. Keine Grundlage im geltenden Recht Weder das BGB noch die NotO oder das BeurkG enthalten aber auch Regelungen, die dem Notar wegen des Nachlassverzeichnisses eigenständige und von ihm zu verantwortende Ermittlungspflichten auferlegen.54 Insoweit haben sich zwischen dem Entstehungs- und dem Anwendungszeitpunkt des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB auch keine rechtlichen oder sonstige Veränderungen ergeben, die eine Rechtsfortbildung praeter oder contra legem erlaubte (unten 4.):55 a) Argumente aus § 2003 BGB Eine Analogie zu § 2003 BGB scheidet – entsprechend dem entgegenstehenden Willen des historischen Gesetzgebers (oben II. 3. b)) – aus, weil der Notar dort mit der Aufnahme des Inventars eine Aufgabe des Nachlassgerichts erfüllt und an dessen Stelle tritt.56 Damit kann nach der zutreffenden h. L. auf die für das Nachlassgericht geltenden Verfahrensvorschriften, insbesondere auch auf § 26 FamFG mit der dort angeordneten Amtsermittlung, zurückgegriffen werden. Ganz anders liegt es bei § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB, wo der Notar durch den Erben als einer Privatperson beauftragt wird. Der vereinzelt gegebene Hinweis, wonach der Notar auch bei dieser Norm Aufgaben erfülle, die denjenigen des Nachlassgerichts ähnelten, verfängt

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Keim, ZEV 2018, 501; Zimmer, NJW 2020, 2786; zu den Schwierigkeiten des Notars auch Heinze, RNotZ 2020, 190 (zu § 33 ErbStG). 55 Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 730d. 56 Staudinger/Dobler, 2020, BGB § 2003 Rn. 1; BT-Drucks. 17/1469, S. 23.

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also nicht.57 Eine direkte Anwendung der §§ 26, 27 FamFG ist wegen § 1 FamFG ausgeschlossen. Nach alledem kann es nicht überzeugen, dass die h. L. den Notar bisweilen sogar schärferen Anforderungen bei der Konturierung der Ermittlungspflicht unterwirft als nach diesen Normen möglich wäre.58 b) Argumente aus § 17 Abs. 1 Satz 1 BeurkG; § 20 Abs. 1 Satz 2 BNotO Selbst wenn man mit manchen Autoren die notarielle Beurkundung des Nachlassverzeichnisses den Normen der §§ 6 ff. BeurkG über die Beurkundung von Willenserklärungen und nicht den §§ 36 f. BeurkG unterstellen wollte, ergäbe sich aus § 17 Abs. 1 Satz 1 BeurkG keine Ermittlungspflicht des Notars. Die dort gebrauchte Wendung von der „Klärung des Sachverhalts“ bedeutet keine Anordnung des Untersuchungsgrundsatzes, sondern betrifft das Zusammenwirken des Notars mit den Beteiligten.59 § 20 Abs. 1 Satz 2 BNotO führt zwar die Aufnahme von Nachlassverzeichnissen als Aufgaben der Notare an, ergibt jedoch nichts zu dessen Ermittlungspflichten. 2. Überlegene Ermittlungsmöglichkeiten des Notars? Darüber hinausweisend könnte daran gedacht werden, die Ermittlungspflichten des Notars im Falle des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB mit seinen im Vergleich zu einem Privaten (§ 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB) „überlegenen“ Ermittlungsmethoden zu begründen. Damit ließe sich am ehesten den von der „objektiven Auslegungstheorie“ (oben II. 3. a)) geforderten, im Gesetzeswortlaut objektivierten, Willen des Gesetzgebers, begründen. Demgegenüber ist aber schon des öfteren darauf hingewiesen worden, dass dem Notar derartige Instrumente nicht exklusiv zur Verfügung stehen:60 Er ist weder in den Amtshilfeverkehr der Behörden (Art. 35 GG; §§ 4 ff. VwVfG) noch in den Rechtshilfeverkehr der Gerichte (§§ 156 ff. GVG) eingebunden; im Gegensatz zum Erben (§§ 675, 666 BGB) hat er noch nicht einmal eigene Auskunftsrechte ge57 So aber, freilich mit entlastender Stoßrichtung zugunsten des Notars: Krätzschel, in: Firsching/Graf, Nachlassrecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 32, wo dem Autor wohl eher § 27 FamFG vor Augen steht. 58 Mit Recht beanstandet durch Zimmer, NJW 2015, 1 (5). 59 BGH, DNotZ 1996, 116; BeckOGK/Regler, 1. 4. 2020, BeurkG § 17 Rn. 27; Winkler, BeurkG, 18. Aufl. 2017, § 17 Rn. 213; zu Ausnahmen etwa BGH, WM 2020, 1247 Rn. 12: (Sachverhaltsklärung zu § 17 Abs. 2a BeurkG, ob als Verbraucher gehandelt wird). 60 DNotI-Report 2003, 137 (138); Dietz, in: Beck‘sches Notarhandbuch, 7. Aufl. 2019, § 17. Erbrecht Rn. 502c; Häberle/Grziwotz, in: Schulze/Grziwotz/Lauda, BGB: Kommentiertes Vertrags- und Prozessformularbuch, 4. Aufl. 2020, § 2314 BGB Rn. 14 (keine Nachlassfahndung); BeckOK BNotO/Sander, 1. 4. 2020, § 20 Rn. 104; Keim, ZEV 2018, 501 (502); Weidlich, ZEV 2017, 241 (247); Zimmer, ZEV 2008, 365 (368); ohne eigene Stellungnahme, aber mit wertvoller Übersicht: BeckOGK/Blum, 15. 11. 2019, BGB § 2314 Rn. 46. 1.

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genüber den Banken wegen der Bewegung von Erblasserkonten, wie der sonderbare Rat beweist, der Notar möge sich doch vom Erben bevollmächtigen lassen; Grundbucheinsicht nach § 12 GBO oder Handelsregistereinsicht nach § 9 HGB kann auch der Pflichtteilsberechtigte beantragen; die Besichtigung der Erblasserwohnung steht dem Notar nicht ohne weiteres zu Gebote und verspricht häufig wenig Ertrag usw.61 Weitgehend ist der Notar daher auf die freiwilligen Angaben des Erben angewiesen. Höchst zweifelhaft ist zudem die bisweilen für die höhere Richtigkeitsgewähr gegebene Begründung, der Auskunftspflichtige werde sich bei einer Belehrung durch den Notar „regelmäßig mehr um zutreffende und vollständige Ausführungen bemühen als bei einer privatschriftlichen Auskunft.62 Es spricht daher nichts für einen „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ in Richtung auf eine dem Notar zugeordnete Ermittlungspflicht, die allein die behauptete überlegene Richtigkeitsgewähr des notariellen Nachlassverzeichnisses begründen könnte. Der Rückzug der h. L.63 auf die Feststellung, wonach die Ermittlung des Nachlassbestandes im „konkreten Einzelfall“ im „pflichtgemäßen Ermessen“ des Notars liegt, wirkt eher hilflos und deutet seit jeher auf die Unrichtigkeit der Auffassung hin. 3. Keine bloße Auslegung des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB Die h. L. geht wohl als selbstverständlich davon aus, dass ihre Annahmen zur Ermittlungspflicht des Notars im Wege der einfachen Auslegung des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB hergeleitet werden können, weil der Begriff der „Aufnahme“ diese Möglichkeit gewähre. Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, gibt es für diese Annahme aber keine gesetzliche Grundlage. 4. Verdeckte Rechtsfortbildung Nach meinem Urteil gewinnt die h. L. ihre Ergebnisse der Sache nach nicht im Wege der Auslegung, sondern mithilfe einer verdeckten Rechtsfortbildung. Daher drängt sich die Frage nach deren Zulässigkeit auf. Sie ist zu verneinen, weil die richterliche Rechtsfortbildung nach der gefestigten Rechtsauffassung des BVerfG nicht dazu führen darf, „dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung

61

Etwa Heidenreich, ZErb 2011, 71 (75). Als Argument angeführt aber von BGHZ 33, 373 (377); Staudinger/Herzog, 2015, BGB § 2314 Rn. 71; Heidenreich, ZErb 2011, 71 (75); skeptisch dagegen Keim, ZEV 2007, 332; M. Damm, notar 2016, 219 (232), je mit Nachw. 63 Aus der Kommentarliteratur etwa MüKoBGB/Knut Werner Lange, 8. Aufl. 2020, § 2314 Rn. 37, 39; Staudinger/Herzog, 2015, BGB § 2314 Rn. 69; Dietz, in: Beck‘sches Notarhandbuch, 7. Aufl. 2019, § 17 Erbrecht Rn. 502c; zudem etwa DNotI-Report 2003, 137 (138); Gloser, DNotZ 2020, 639 (640); Schreinert, RNotZ 2008, 61 (69). 62

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an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen“.64 Eine Interpretation einer Norm, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, verstößt gegen die richterliche Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG und greift in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein. Unzulässig ist eine Loslösung von der gesetzgeberischen Grundentscheidung mit der Ersetzung durch ein „eigenes Regelungsmodell, das der Gesetzgeber erkennbar nicht wollte“.65 Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt für die Suche nach der Konzeption des historischen Gesetzgebers neben Wortlaut und Systematik den „Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung“ zu.66 Die schon mehrfach herangezogene Entscheidung des BVerfG67 zur Verfassungsmäßigkeit der sachgrundlosen Befristung bei einer „Zuvor-Beschäftigung“ weist unter dem Aspekt der Methodenlehre deutliche Parallelen zur Problemstruktur des § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB und seiner methodischen Bewältigung auf. Hier wie dort erschließt sich der Bedeutungsgehalt der betreffenden Norm weder deutlich aus dem Wortlaut noch aus der Systematik, wohl aber aus den Gesetzesmaterialien, die zu einem „klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers“ führen. Zudem führt das Fehlen von notariellen Ermittlungsmöglichkeiten zu der Annahme, dass die behauptete Überbürdung von Ermittlungen auf den Notar kein geeignetes Mittel ist, eine richterliche Rechtsfortbildung über den gesetzgeberischen Willen hinaus zu rechtfertigen. Hält man die vom BVerfG68 in jüngerer Zeit immer mehr in den Vordergrund gerückte „subjektive Auslegungstheorie“ (oben II. vor 1.) für methodisch überlegen, läge eine unzulässige Rechtsfortbildung contra legem vor, wenn die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers missachtet wird.69 Auch der von der „objektiven Auslegungstheorie“ als Legitimation für eine derartige Rechtsfortbildung geforderte drohende Rechtsnotstand70 ist gewiss nicht gegeben. Das dem § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB zugrunde liegende Regelungsmodell des BGB-Gesetzgebers kann wenigstens im Wege der teleologischen Reduktion der Norm durchgesetzt werden (oben IV. 2.).

64 BVerfG, NJW 2018, 2542 Rn. 73 m. w. N. (gegen die Rechtsprechung des BAG, NZA 2011, 905 Rn. 19, wonach das Gewicht der historischen Auslegung nicht überschätzt werden dürfe).– Der Wille des historischen Gesetzgebers wird etwa auch betont in BGH, NJW-RR 2018, 738 Rn. 16 ff. (gegen § 73 Abs. 3 GmbHG als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB) und BGH, JZ 2019, 623 Rn. 60 ff., 66 (Qualifizierung von Kinderehen als Nichtehen ohne Einzelfallprüfung). 65 BVerfG, NJW 2018, 2542 Rn. 76. 66 BVerfG, NJW 2018, 2542 Rn. 74. 67 BVerfG, NJW 2018, 2542 Rn. 78. 68 BVerfG, NJW 2018, 2542 mit Nachw. in Rn. 73, 74. 69 Allgemein Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rn. 959 ff. 70 Dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Studienausgabe, 3. Aufl. 1995, S. 251.

V. Wirtschafts- und Unternehmensrecht

Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Eigentumsgarantie für die Ausgestaltung des Gesellschaftsrechts Von Timo Fest

I. Einleitung Inhalt und Schranken des verfassungsrechtlich gewährleisteten Eigentums werden nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Gesetze bestimmt. Den darin enthaltenen Rechtssetzungsauftrag hat der Jubilar in seiner Münchener Habilitationsschrift zum Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb in Bezug auf das Sacheigentum eingehend untersucht. Seine zentrale These, die §§ 892 f., 932 ff. BGB haben weder eine Enteignung noch eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums mit Rücksicht auf die Sozialbindung zum Gegenstand, sondern verwirklichen den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich zwischen den Belangen des Eigentümers und des Erwerbers,1 ist – ungeachtet kritischer Rezeptionen im Übrigen2 – unwidersprochen geblieben. Derartige Regelungen, die dem Ausgleich der Interessen mehrerer Privatpersonen dienen – der Jubilar bezeichnet sie kurz als Kollisionsregeln –, finden sich nicht nur im Sachenrecht, sondern auch in anderen Bereichen des Privatrechts, u. a. im Gesellschaftsrecht. Obgleich gesellschaftsrechtliche Fragen in den letzten Dekaden Gegenstand zahlreicher verfassungsgerichtlicher Entscheidungen waren, die insbesondere das Aktienrecht nachhaltig prägen – beispielhaft hierfür ist das Urteil zum Delisting,3 das trotz Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde eine Kehrtwende der zivilgerichtlichen Rechtsprechung zur Folge hatte4 und den Gesetzgeber zur Neufassung von § 39 Abs. 2 – 6 BörsG veranlasste5 –, fehlt bis heute eine umfassende, auf die gesellschaftsrechtliche Dimension der Eigentumsgarantie fokussierte Aufarbeitung.6 Dieser Befund gibt Anlass, die Untersuchung des Jubilars fortzuset1

Hager, Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb, 1990, S. 56 ff., 65 ff., 75 ff., 459. Besonders pointiert MüKoBGB/Oechsler, 8. Aufl. 2020, § 932 Rn. 3 m. w. N. 3 BVerfGE 132, 99 ff. 4 Siehe BGH, NJW 2014, 146 ff. – Frosta unter Aufgabe von BGHZ 153, 47 (53 ff.) – Macrotron. 5 Siehe Art. 2 Nr. 1 Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie v. 20. 11. 2015 (BGBl. I S. 2029). Dazu BT-Drucks. 18/6220, S. 83 ff. 6 Monographisch bislang – soweit ersichtlich – einzig von Falkenhausen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Mehrheitsherrschaft nach dem Recht der Kapitalgesellschaften, Diss. 2

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zen und die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Ausgestaltung des Gesellschaftsrechts auszuloten. Die bestehende Forschungslücke können die folgenden Zeilen freilich nicht schließen. Sie beschränken sich daher auf die systematische Aufbereitung des Anteilseigentums und des komplementären Eigentumsschutzes der unternehmenstragenden Gesellschaft (I.) sowie der verfassungsimmanenten Grenzen des Regelungsauftrags (II.) und die schlaglichtartige Beleuchtung einzelner Beispiele (III.).

II. Maßgebliche Eigentumsgarantien für das Gesellschaftsrecht 1. Anteilseigentum Das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Eigentum umfasst neben dem Sacheigentum auch das gesellschaftsrechtlich vermittelte Eigentum,7 das unter dem Begriff Aktien- bzw. Anteilseigentum besser bekannt ist.8 Dieser vom BVerfG in dem Mitbestimmungsurteil eingeführte Begriff ist keine bloße rechtsformneutrale Abbreviatur für die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft, sondern eine davon zu unterscheidende, eigenständige verfassungsrechtliche Figur. Dies zeigt sich darin, dass das Gericht in der Mitgliedschaft nicht den verfassungsrechtlich geschützten Eigentumsgegenstand, sondern das Medium sieht, das dem Anteilseigner als Grundrechtsträger privatnützige Rechte vermittelt, die – neben dem Sozialordnungsrecht9 – durch das Gesellschaftsrecht ausgestaltet werden.10 Nur diese vermittelten Rechte genießen den Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie bilden die Substanz des AktieneigenKöln, 1967, und Suhr, Eigentumsinstitut und Aktieneigentum, Diss. Hamburg, 1966. Die von Fleischer (DNotZ 2000, 876 [880]) angekündigte Monographie („Aktienverfassungsrecht – eine Bestandsaufnahme der Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des korporativen Eigentums“) ist bislang nicht erschienen. Aus dem jüngeren Schrifttum stellvertretend Hellgardt/Unger, ZHR 183 (2019), 406 ff.; Leuschner, NJW 2007, 3248 ff.; Mülbert, in: FS Hopt, 2010, S. 1039 f.; Mülbert/Leuschner, ZHR 170 (2006), 615 ff.; Schön, in: FS Ulmer, 2003, S. 1359 ff. 7 BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung; BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfGE 14, 263 (276) – Feldmühle; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 19. Zu dem Begriff siehe Mülbert, in: FS Hopt, 2010, S. 1039 (1053). 8 BVerfGE 50, 290 (341) – Mitbestimmung; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 18; BVerfG, ZIP 2013, 260 Rn. 8 – Wella; BVerfG, NZG 2011, 1379 Rn. 16 – Minderheitsaktionär; BVerfG, NZG 2011, 235 Rn. 8 – Kuka; BVerfG, ZIP 2007, 2121; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 18 – Edscha; BVerfG, NJW 2007, 3266 (3267) – Wüstenrot/Württembergische; BVerfG, NJW 2007, 3265 – Jenoptik; BVerfG, NZG 2003, 1016; BVerfG, NJW 2001, 279 – Moto Meter; BVerfG, NJW 2000, 349 (350) – Wenger/Daimler-Benz; BVerfG, NJW 1999, 1699 (1700) – SEN; BVerfG, ZIP 1990, 228 (230) – DAT/Altana I; Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 143. 9 BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung; BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 19. 10 BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung. Abweichend Mülbert, in: FS Hopt, 2010, S. 1039 (1044).

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tums, die das BVerfG in zwei Bereiche aufteilt, nämlich vermögensrechtliche und mitgliedschaftsrechtliche Elemente.11 a) Vermögensrechtliche Elemente Vermögensrechtlich ist das Anteilseigentum im Rahmen seiner gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung durch die Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis des Anteilseigentümers gekennzeichnet.12 aa) Privatnützigkeit Die Gewährleistung des Privateigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ein elementares Grundrecht.13 Diese Wertigkeit beruht auf dem inneren Zusammenhang des Eigentums mit der persönlichen Freiheit14 dergestalt, dass dem Privateigentum im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zukommt, dem Träger des Grundrechts einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm dadurch die eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen.15 Voraussetzung für die Erfüllung dieser Aufgabe ist die Privatnützigkeit des Eigentums im Sinne der Zuordnung des Eigentumsgegenstands zu einem Rechtsträger,16 in dessen Hand es als Grundlage privater Initiative und im eigenverantwortlichen privaten Interesse von Nutzen sein soll.17 Diese Zuordnung ergibt sich weder aus faktischen Umständen18 noch aus der Verfassung selbst, sondern aus den Inhalts- und Schrankenbestimmungen,19 in erster Linie den bürger11

BVerfGE 132, 99 Rn. 52 – Delisting; BVerfGE 100, 289 (301) – DAT/Altana; BVerfGE 99, 367 (392) – Mannesmann; BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfG, ZIP 2013, 260 Rn. 8 – Wella; BVerfG, NZG 2011, 1379 Rn. 16 – Minderheitsaktionär; BVerfG, NZG 2011, 235 Rn. 8 – Kuka; Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Lfg. (3/2014), Art. 14 Rn. 310; Dreier/Wieland, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 41. 12 BVerfGE 132, 99 Rn. 52 – Delisting; BVerfGE 100, 289 (301) – DAT/Altana; BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung; BVerfGE 42, 263 (294) – Contergan; BVerfGE 37, 132 (140) – Vergleichsmiete; BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfG, ZIP 2013, 260 Rn. 8 – Wella; BVerfG, NZG 2011, 1379 Rn. 16 – Minderheitsaktionär; BVerfG, NZG 2011, 235 Rn. 8 – Kuka; BVerfG, ZIP 2007, 2121; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 18 – Edscha; BVerfG, NJW 2007, 3266 (3267) – Wüstenrot/Württembergische; BVerfG, NJW 2007, 3265 – Jenoptik; BVerfG, NZG 2003, 1016; BVerfG, NJW 1999, 1699 (1700) – SEN. 13 BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung; BVerfGE 24, 367 (389) – Hamburger Deichordnungsgesetz; BVerfGE 14, 263 (277) – Feldmühle. 14 BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung; BVerfGE 31, 229 (239) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 24, 367 (389) – Hamburger Deichordnungsgesetz. 15 BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung; BVerfGE 31, 229 (239) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 24, 367 (389) – Hamburger Deichordnungsgesetz. 16 BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung; BVerfGE 42, 263 (294) – Contergan. 17 BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung. 18 Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, 3. Aufl. 2020, Art. 14 Rn. 7. 19 Zu dem Verhältnis von Inhalts- und Schrankenbestimmungen siehe III. 3.

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lich-rechtlichen Vorschriften über das Eigentum. Sie konstituieren die Substanz der Eigentumsgarantie als normgeprägtes Grundrecht. Bei dem Anteilseigentum als gesellschaftsrechtlich vermitteltem Eigentum20 treten zu den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Inhaberschaft eines Rechts – hier der Mitgliedschaft – Vorschriften des Gesellschaftsrecht hinzu, z. B. solche, die die Entstehung des Anteils – sei es im Rahmen der Gesellschaftsgründung (§§ 29, 41 Abs. 1 Satz 1 AktG, §§ 3 Abs. 1 Nr. 4, 11 Abs. 1 GmbHG), sei es im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung (§ 189 AktG ggf. i. V. m. § 203 Abs. 1 Satz 1 AktG, §§ 200, 211 AktG, § 54 Abs. 3 GmbHG ggf. i. V. m. § 57c Abs. 4 GmbHG) – regeln. Die durch diese Vorschriften begründete Zuordnung ist jedoch nicht dergestalt absolut, dass ein Verlust des Anteilseigentums – abgesehen von einer Enteignung i. S. d. Art. 14 Abs. 3 GG – ohne oder gegen den Willen des Anteilseigners ausgeschlossen ist. Vielmehr sieht die gesellschaftsrechtliche Ausgestaltung unterschiedliche Situationen und Verfahren vor, in denen der Anteilseigner sein gesellschaftsrechtliches Eigentum verlieren kann, z. B. die Kaduzierung (§ 64 AktG, § 21 GmbHG), die Zwangseinziehung von Geschäftsanteilen (§ 34 Abs. 2 GmbHG),21 die Auflösung der Gesellschaft (§§ 60 ff. GmbHG, §§ 262 f. AktG), die Eingliederung durch Mehrheitsbeschluss (§§ 320 ff. AktG) und den Ausschluss von Minderheitsaktionären (§§ 327a ff. AktG, § 62 UmwG, §§ 39a, 39b WpÜG). bb) Verfügungsbefugnis Neben die Privatnützigkeit tritt als weiteres vermögensrechtliches Element des Anteilseigentums und elementarer Bestandteil der Handlungsfreiheit im Bereich der Eigentumsordnung22 die Verfügungsbefugnis des Eigentümers,23 verstanden als das subjektive Recht, den Eigentumsgegenstand (z. B. die Aktie oder den Geschäftsanteil) jederzeit veräußern oder belasten zu können. Diese Befugnis wird im Kapitalgesellschaftsrecht durch zwei Arten von Regelungen ausgestaltet,24 zum einen durch gesetzliche Formvorschriften (z. B. § 15 Abs. 3 GmbHG, Art. 13 Abs. 1 WG i. V. m. § 68 Abs. 1 Satz 2 AktG), zum anderen durch Regelungen, die die Gesellschafter ermächtigen, für die Abtretung von Geschäftsanteilen oder die Übertragung von Namensaktien weitere Voraussetzungen, insbesondere das Erfordernis der Zustimmung der Gesellschaft (z. B. § 15 Abs. 5 GmbHG, § 68 Abs. 2 Satz 1 AktG) oder eines Gesellschaftsorgans (z. B. § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG), in

20 BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung; BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfGE 14, 263 (276) – Feldmühle; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 19. 21 Siehe dazu IV. 1. 22 BVerfGE 50, 290 (340) – Mitbestimmung; BVerfGE 26, 215 (222). 23 BVerfGE 50, 290 (339) – Mitbestimmung; BVerfGE 42, 263 (294) – Contergan; BVerfGE 37, 132 (140) – Vergleichsmiete; BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 26, 215 (222). 24 Zu dem Verhältnis von Inhalts- und Schrankenbestimmungen siehe III. 3.

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den Gesellschaftsvertrag bzw. die Satzung aufzunehmen.25 Für Inhaberaktien ist die Verfügungsbefugnis jederzeit ohne gesetzliche Einschränkungen gewährleistet. Diesen durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten26 Rechtszustand bezeichnet das BVerfG im Anschluss an die Entscheidung DAT/Altana als rechtliche Verkehrsfähigkeit.27 Die Terminologie ist wenig glücklich, da der Begriff der Verkehrsfähigkeit kein Synonym für die Verfügungsbefugnis des Anteilseigentümers ist, sondern anstelle des subjektiven Rechts auf eine Eigenschaft des Eigentumsgegenstands abhebt. Der rechtlichen Verkehrsfähigkeit musste das BVerfG daher die tatsächliche Verkehrsfähigkeit begrifflich gegenüberstellen, um ohne Abweichung von dem DAT/Altana-Beschluss28 begründen zu können, dass die Teilnahme der Aktie am öffentlichrechtlich organisierten börslichen Handels- und Preisbildungssystem nicht Gegenstand des Eigentumsschutzes ist und das Delisting – Gleiches gilt für das sog. Downgrading29 – den Schutzbereich des Anteilseigentums folglich nicht berührt.30 Das überzeugende Ergebnis lässt sich auch ohne diese irreführende terminologische Differenzierung erreichen. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist die Konzentration darauf, dass der Schutzbereich des Anteilseigentums nur Befugnisse umfasst, die dem Anteilseigner durch die Rechtsordnung privatnützig zugewiesen sind.31 Alle sonstigen wertbildenden Faktoren – einschließlich marktregulierender und unternehmensbezogener Vorschriften des Gesellschafts- und des Kapitalmarktrechts32 – und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten stellen nur wirtschaftliche Chancen und Risiken dar, die nicht an dem verfassungsrechtlichen Schutz des Anteilseigentums teilnehmen.33 Zu letzterer Gruppe zählt auch die Zulassung der Aktien zum Handel im regulierten Markt. Sie begründet ein öffentlich-rechtliches Nutzungsverhältnis zwischen der Börse und dem Emittenten, für den Handel mit den zugelassenen Wertpapieren in dem entsprechenden Marktsegment die Einrichtungen der Börse zu nutzen.34 Ein subjektives öffentliches Recht des einzelnen Aktionärs geht damit

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BVerfGE 132, 99 Rn. 59 – Delisting. BVerfGE 100, 289 (305) – DAT/Altana. 27 BVerfGE 132, 99 Rn. 57, 59 – Delisting. 28 BVerfGE 132, 99 Rn. 62 – Delisting. 29 BVerfGE 132, 99 Rn. 69 – Delisting. 30 BVerfGE 132, 99 Rn. 51, 60 – Delisting. 31 Angedeutet in BVerfGE 132, 99 Rn. 53, 66, 67 – Delisting. 32 Zu deren Einordnung jenseits der Inhalts- und Schrankenbestimmungen siehe III. 2. 33 BVerfGE 132, 99 Rn. 53 – Delisting; BVerfGE 105, 252 (277) – Glykolwarnung; BVerfGE 68, 193 (222) – Zahntechniker-Innung; BVerfGE 45, 142 (172 f.) – EWG-Interventionsrecht; BVerfGE 30, 292 (334 f.) – Erdölbevorratung; BVerfGE 28, 119 (142) – Spielbank; BVerfG, NJW 2001, 279 (280) – Moto Meter; BVerfG, ZIP 1990, 228 (230) – DAT/Altana I; Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, 3. Aufl. 2020, Art. 14 Rn. 43; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 14 Rn. 21. 34 Statt vieler Groß, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, BörsG § 39 Rn. 15. 26

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nicht einher.35 Die mit der Zulassung verbundene Aussicht, die Aktien aufgrund der Liquidität des regulierten Marktes leichter veräußern zu können – das BVerfG spricht von einer „möglicherweise faktisch gesteigerten Verkehrsfähigkeit der Aktie“36 –, ist als bloße „Veräußerungschance“37 kein Bestandteil des verfassungsrechtlich geschützten Anteilseigentums.38 Nichts Anderes gilt z. B. für die Aufnahme einer Aktie in einen Index.39 Dieser Vorgang kann die Nachfrage nach der Aktie zwar in beachtlichem Maße beeinflussen. Ein subjektives Recht des Anteilseigners, das den Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG genießt, geht damit aber nicht einher. b) Mitgliedschaftliche Stellung Die in frühen Entscheidungen des BVerfG anzutreffende Formulierung, dass die Aktie als Vermögensrecht den Schutz des Art. 14 GG genießt,40 darf nicht zu dem (Fehl-)Schluss verleiten, dass allein die vermögensrechtlichen Elemente des Anteilseigentums verfassungsrechtlich geschützt sind. Sie rekurriert vielmehr auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG, wonach der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte umfasst, die dem Berechtigten durch die Rechtsordnung in einer Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigener Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf,41 und erschöpft sich folglich darin, dass Aktien – Gleiches gilt für Geschäftsanteile einer GmbH – aufgrund ihrer Eigenschaft als Vermögensgegenstand zum Eigentum i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zählen. Eine Begrenzung des verfassungsrechtlichen Schutzes auf die Privatnützigkeit und die Verfügungsbefugnis, die das Anteilseigentum als Vermögensrecht kennzeichnen,42 geht damit aber nicht einher. Im Gegenteil, der Schutz erstreckt sich auch auf die untrennbar mit den vermögensrechtlichen Elementen verbundene mitgliedschaftliche Stellung in der jeweiligen Gesellschaft,43 die das BVerfG in früheren Entscheidungen – wenig glücklich – als Mitgliedschaftsrecht bezeichnet hat.44 35 Statt vieler BVerfGE 132, 99 Rn. 58 – Delisting. Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob der einzelne Aktionär in Bezug auf den Widerruf der Zulassung nach § 39 Abs. 2 Satz 1 BörsG widerspruchs- und anfechtungsbefugt ist. Dazu Groß, in: Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, BörsG § 39 Rn. 33 m. w. N. 36 BVerfGE 132, 99 Rn. 57 – Delisting. 37 BVerfGE 132, 99 Rn. 60 – Delisting. 38 BVerfGE 132, 99 Rn. 56 – Delisting. 39 BVerfGE 132, 99 Rn. 61 – Delisting. 40 BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfGE 14, 263 (277) – Feldmühle. 41 Statt vieler BVerfGE 112, 93 (107) – Zwangsarbeiter; BVerfGE 101, 239 (258) – Stichtagregelung im VermG; BVerfGE 83, 201 (209) – Vorkaufsrecht. 42 Zuvor II. 1. a). 43 BVerfGE 100, 289 (301) – DAT/Altana; BVerfG, NZG 2011, 1379 Rn. 16 – Minderheitsaktionär; BVerfG, ZIP 2007, 2121; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 18 – Edscha; BVerfG, NJW 2007, 3266 (3267) – Wüstenrot/Württembergische; BVerfG, NZG 2003, 1016; BVerfG, NJW 2000, 349 (350) – Wenger/Daimler-Benz.

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Aus der mitgliedschaftlichen Stellung erwachsen dem Anteilseigner eine Vielzahl von Rechten, die das BVerfG in zwei Bereiche aufteilt, namentlich Herrschaftsrechte – die in vielen Entscheidungen synonym verwendeten Begriffe, namentlich Leitungsbefugnisse45 und Verfügungsbefugnisse mit Ausnahme der Veräußerung und Belastung des Anteils,46 sind wenig glücklich – und vermögensrechtliche Ansprüche.47 Zu letzteren – diese sind strikt von den vermögensrechtlichen Elementen des Anteilseigentums48 zu unterscheiden – zählen die Rechte auf Gewinnbeteiligung und auf die Abwicklungsquote sowie – abhängig von der Rechtsform – das Recht auf Bezug neuer Gesellschaftsanteile.49 Herrschaftsrechte sind die mitgliedschaftsrechtlichen Befugnisse, die das Gesellschaftsrecht und die Satzung den Anteilseigentümern einräumen, insbesondere das Stimmrecht in der Anteilseignerversammlung50 und das Informationsrecht in Angelegenheiten der Gesellschaft.51 2. Eigentum der unternehmenstragenden Gesellschaft Neben den Anteilseignern können auch die unternehmenstragenden Gesellschaften als juristische Personen des Privatrechts sich nach Art. 19 Abs. 3 GG auf die Eigentumsgarantie berufen.52 Der Schutzbereich dieses fortan zur Unterscheidung von dem Anteilseigentum als Gesellschaftseigentum bezeichneten Grundrechts beschränkt sich nicht auf die Außenbeziehungen der Gesellschaft, nämlich die Zuordnung und Nutzung des Eigentums sowie die Verfügung über das Eigentum, sondern umfasst – komplementär zu den durch das Anteilseigentum gewährleisteten mitgliedschaftlichen Rechten der Anteilseigner53 – auch das Recht zur Selbstbestim44

So z. B. BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfGE 14, 263 (285) – Feldmühle. Z. B. BVerfGE 100, 289 (302) – DAT/Altana; BVerfG, NZG 2011, 1379 Rn. 16 – Minderheitsaktionär; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 18 – Edscha; BVerfG, NJW 2007, 3266 (3267) – Wüstenrot/Württembergische; BVerfG, ZIP 2007, 2121; BVerfG, NZG 2003, 1016; BVerfG, NJW 2001, 279 (280) – Moto Meter. 46 Z. B. BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 19. 47 BVerfGE 100, 289 (301 f.) – DAT/Altana; BVerfGE 14, 263 (276) – Feldmühle; BVerfG, NZG 2011, 1379 Rn. 16 – Minderheitsaktionär; BVerfG, ZIP 2007, 2121; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 18 – Edscha; BVerfG, NJW 2007, 3266 (3267) – Wüstenrot/Württembergische; BVerfG, NZG 2003, 1016; BVerfG, NJW 2001, 279 – Moto Meter; BVerfG, NJW 2000, 349 (350) – Wenger/Daimler-Benz; Bryde/Wallrabenstein, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 43; Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 143; Dreier/Wieland, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 41. 48 Zuvor II. 1. a). 49 BVerfGE 100, 289 (302) – DAT/Altana; BVerfGE 14, 263 (276) – Feldmühle. 50 Bryde/Wallrabenstein, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 43. 51 BVerfG, NJW 2000, 349 (350) – Wenger/Daimler-Benz; BVerfG, NJW 2000, 129 – Scheidemandel II; Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 144. 52 Statt vieler BVerfGE 134, 242 Rn. 158, 240 – Garzweiler; BVerfGE 50, 290 (351 f.) – Mitbestimmung; Sachs/Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 83 m. w. N. 53 Zuvor II. 1. b). 45

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mung der inneren Organisation, das Verfahren der Willensbildung und die Führung der Geschäfte.54 Zur Verwirklichung dieser binnenrechtlichen Dimension des Gesellschaftseigentums muss der Staat im Rahmen seines Regelungsauftrags nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Ausgestaltung der Corporate Governance hinreichende rechtliche Handlungsmöglichkeiten gewährleisten.55

III. Regelungsauftrag 1. Kein absoluter Eigentumsbegriff Der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG liegt kein absoluter Begriff des Eigentums zugrunde.56 Dem widerspricht es nicht, wenn das BVerfG in einem Urteil aus dem Jahr 1952 ausführt, dass das GG das Rechtsinstitut des Eigentums so schützen wolle, wie es das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt haben.57 Diese Aussage erschöpft sich in der Selbstverständlichkeit, dass der verfassungsgebende Gesetzgeber bei der Schaffung des normgeprägten Grundrechts mangels Alternativen auf den damals bestehenden einfachgesetzlichen Gehalt des Eigentums zurückgegriffen hat. Die Perpetuierung dieses Schutzumfangs war nicht gewollt. Vielmehr ist der Gesetzgeber durch den Regelungsauftrag in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG fortwährend aufgerufen, Gegenstand und Umfang des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes – namentlich Inhalt und Schranken58 – unter Berücksichtigung der sich wandelnden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Anschauungen seiner Zeit59 durch die abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten fortzuschreiben.60 Mittel hierzu ist in Bezug auf das Anteilseigentum

54 BVerfGE 50, 290 (351) – Mitbestimmung. Siehe zu Art. 9 Abs. 1, 3 GG auch BVerfGE 153, 182 Rn. 326 – Suizidhilfe; BVerfGE 149, 160 Rn. 98 – Vereinigungsverbot; BVerfGE 100, 214 (221) – Gewerkschaftsausschluss; BVerfGE 92, 365 (403) – Kurzarbeitergeld; BVerfGE 80, 244 (253) – Vereinsverbot; BVerfG, NZA 2007, 514 (515); BVerfG, NJW 1996, 185 (188). 55 BVerfG, NJW 1996, 185 (188) zu Art. 9 Abs. 3 GG. 56 BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 20, 351 (355) – Tollwut. 57 BVerfGE 1, 264 (278). 58 Zu dem Verhältnis von Inhalts- und Schrankenbestimmungen siehe III. 3. 59 BVerfGE 126, 331 (360) – Miterben-Entschädigungsfonds; BVerfGE 112, 93 (110) – Zwangsarbeiter; BVerfGE 95, 64 (84) – Mietpreisbindung; BVerfGE 70, 191 (201) – Fischereirecht; BVerfGE 52, 1 (30) – Kleingarten; BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 24, 367 (389) – Hamburger Deichordnungsgesetz; BVerfGE 20, 351 (355) – Tollwut; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 24. 60 BVerfGE 110, 1 (24) – erweiterter Verfall; BVerfGE 72, 66 (76) – Flughafen Salzburg; BVerfGE 70, 191 (201) – Fischereirecht; BVerfGE 58, 300 (330) – Nassauskiesung; BVerfGE 52, 1 (27) – Kleingarten; BVerfGE 42, 263 (294) – Contergan; Papier/Shirvani, in: Maunz/ Dürig, GG, 71. Lfg. (3/2014), Art. 14 Rn. 417.

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und die Innenbeziehungen des Gesellschaftseigentums in erster Linie das Gesellschaftsrecht.61 2. Reichweite des Regelungsauftrags Die Beschreibung des Anteilseigentums als gesellschaftsrechtlich vermitteltes Eigentum62 darf nicht zu der Annahme verleiten, dass sämtliche unternehmensbezogenen Vorschriften das Anteilseigentum ausgestalten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nur die Rechte der Anteilseigner schützt, die ihnen durch die Rechtsordnung privatnützig zugewiesen sind,63 ist der Regelungsauftrag nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG gegenständlich auf die Ausgestaltung dieser Rechte beschränkt. Daher zählen zu den Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Anteilseigentums nur die Vorschriften des Gesellschaftsrechts, die subjektive Rechte des einzelnen Aktionärs begründen, ausgestalten oder begrenzen. Die weit überwiegende Anzahl gesellschaftsrechtlicher Vorschriften betrifft demgegenüber die innere Organisation der Gesellschaft, insbesondere die Leitung und Geschäftsführung, die Zuständigkeit der Anteilseignerversammlung und das Verfahren ihrer Willensbildung. Obwohl diese Regelungen mittelbar im Sinne eines Reflexes auch den Vermögens- und Mitgliedschaftsinteressen des einzelnen Aktionärs nutzen bzw. diese beeinträchtigen können,64 handelt es sich ausschließlich um Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Gesellschaftseigentums,65 die das Recht zur Selbstbestimmung der unternehmenstragenden Gesellschaft und deren Funktionsfähigkeit sicherstellen. Die dritte Gruppe unternehmensbezogener Vorschriften bilden Normen, die der Gesellschaft oder ihren Organen im Außenverhältnis Rechte einräumen oder Pflichten auferlegen (z. B. die bilanz- und kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten). Sie sind keine Inhalts- und Schrankenbestimmungen – weder des Anteils- noch des Gesellschaftseigentums –, sondern legislative Eingriffe in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), auf die sich auch die unternehmenstragende Gesellschaft berufen kann (Art. 19 Abs. 3 GG).66

61 BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung; BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 19. 62 BVerfGE 50, 290 (342) – Mitbestimmung; BVerfGE 25, 371 (407) – lex Rheinstahl; BVerfGE 14, 263 (276) – Feldmühle; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 19. 63 Zuvor II. 1. a) aa). 64 BVerfGE 132, 99 Rn. 66 – Delisting. 65 Zuvor II. 2. 66 Statt vieler BVerfGE 66, 116 (130) – Springer/Wallraff; BVerfGE 10, 221 (225); Sachs/ Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 70 m. w. N.

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3. Verhältnis von Inhalts- zu Schrankenbestimmungen Das Gesellschaftsrecht bestimmt nicht nur den Inhalt des Anteils- und Gesellschaftseigentums, sondern auch die Schranken. Den Ansätzen im verfassungsrechtlichen Schrifttum, die Schranken begrifflich-formal von der logisch vorgelagerten Inhaltsbestimmung des Eigentums zu unterscheiden,67 insbesondere den Kreis der Inhaltsbestimmungen auf Vorschriften zu beschränken, die die mit dem Eigentum verbundenen Befugnisse generell und pflichtneutral festlegen (sog. Eigentumskonstituierung), während Schranken dem Eigentümer – sei es im Verhältnis zu anderen Privatpersonen, sei es gegenüber dem Staat – Handlungs-, Duldungs- oder Unterlassungspflichten auferlegen (sog. Eigentumsbeeinträchtigung),68 ist das BVerfG in Anbetracht des Formenreichtums gesetzgeberischen Handelns und der Austauschbarkeit einzelner Maßnahmen69 zu Recht nicht gefolgt. Stattdessen betont es, dass die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sich erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums ergebe.70 Das Begriffspaar „Inhalt und Schranken“ ist also ein Pleonasmus in dem Sinne, dass jede Schranke den Inhalt des Eigentums definiert und jeder Inhaltsbestimmung ihrerseits Schranken immanent sind.71 4. Verfassungsimmanente Grenzen des Regelungsauftrags Der Befugnis des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen und zu begrenzen, setzt der Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG keine Schranken. Gleichwohl besteht Einigkeit darüber, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des verfassungsrechtlich geschützten Anteilseigentums nicht gänzlich frei ist.72 67 Eine materiell-rechtliche Unterscheidung befürworten z. B. Becker, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 14 Rn. 30 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 14 Rn. 33; Sachs/Wendt, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 55 ff. jeweils m. w. N. 68 So z. B. Becker, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 14 Rn. 33 f.; Sachs/Wendt, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 55. 69 Bryde/Wallrabenstein, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 88. 70 BVerfGE 143, 246 Rn. 218 – Atomausstieg; BVerfGE 126, 331 (360) – Miterben-Entschädigungsfonds; BVerfGE 117, 272 (293) – Rentenanwartschaft; BVerfGE 116, 96 (124 f.) – Fremdrentengesetz; BVerfGE 100, 1 (37) – DDR-Rentenanwartschaften; BVerfGE 75, 78 (97) – Berufsunfähigkeitsrente; BVerfGE 70, 101 (110) – Doppelanrechnung; BVerfGE 58, 81 (109 f.) – Ausbildungsausfallzeit; BVerfGE 53, 257 (292) – Versorgungsausgleich; BVerfGE 50, 290 (339 f.) – Mitbestimmung. 71 Bryde/Wallrabenstein, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 88; Papier/ Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Lfg. (3/2014), Art. 14 Rn. 417; Dreier/Wieland, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 92. 72 BVerfGE 143, 246 Rn. 218 – Atomausstieg; BVerfGE 101, 239 (259) – Stichtagregelung im VermG; BVerfGE 100, 1 (37) – DDR-Rentenanwartschaften; BVerfGE 95, 64 (84) – Mietpreisbindung; BVerfGE 91, 294 (308) – Mietpreisbindung; BVerfGE 50, 290 (340) – Mitbestimmung; BVerfGE 42, 263 (294) – Contergan; BVerfGE 31, 275 (289) – Rothenber-

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Vielmehr ist er – wie bei jedem Legislativakt – nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte und nach Art. 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden,73 insbesondere an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG),74 das Rechts- und Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 3 GG)75 sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.76 Aufgrund der normativen Prägung der Eigentumsgarantie nehmen das Anteils- und Gesellschaftseigentum dabei nur eine untergeordnete Rolle ein. Sie belassen dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Gestaltung privatrechtlicher Beziehungen,77 der erst überschritten wird, wenn das verkürzt wird, was die Verfassung in allem Wandel unverändert gewährleisten will,78 nämlich die Grundentscheiger; BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 25, 112 (117) – Niedersächsisches Deichordnungsgesetz; BVerfGE 21, 150 (155) – Weinwirtschaftsgesetz; BVerfGE 8, 71 (80) – Anbauverbot; BVerfG, ZIP 2013, 260 Rn. 9 – Wella; Dreier/Wieland, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 90. 73 BVerfGE 102, 1 (17) – Altlasten; BVerfGE 101, 239 (259) – Stichtagregelung im VermG; BVerfGE 100, 226 (241) – Denkmalschutz; BVerfGE 74, 203 (214) – Arbeitslosengeld; BVerfGE 70, 191 (200) – Fischereirecht; BVerfGE 62, 169 (183) – Sperrguthaben DDR; BVerfGE 52, 1 (27) – Kleingarten; BVerfGE 37, 132 (140) – Vergleichsmiete; BVerfGE 34, 139 (146) – Fahrbahndecke; BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 26, 215 (222); BVerfGE 25, 112 (117) – Niedersächsisches Deichordnungsgesetz; BVerfGE 21, 150 (155) – Weinwirtschaftsgesetz; BVerfGE 18, 121 (132) – Fiskusprivileg; BVerfGE 14, 263 (278) – Feldmühle; Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 223. 74 BVerfGE 126, 331 (360) – Miterben-Entschädigungsfonds; BVerfGE 110, 1 (28) – erweiterter Verfall; BVerfGE 102, 1 (17) – Altlasten; BVerfGE 100, 226 (241) – Denkmalschutz; BVerfGE 87, 114 (139) – Kleingarten; BVerfGE 74, 203 (214) – Arbeitslosengeld; BVerfGE 72, 66 (78) – Flughafen Salzburg; BVerfGE 49, 382 (395) – Kirchenmusik; BVerfGE 34, 139 (146) – Fahrbahndecke; BVerfGE 14, 263 (278) – Feldmühle; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 24. 75 BVerfGE 36, 281 (293) – Patentrecht; BVerfGE 34, 139 (146) – Fahrbahndecke; BVerfGE 25, 112 (117) – Niedersächsisches Deichordnungsgesetz; BVerfGE 14, 263 (278) – Feldmühle. 76 BVerfGE 110, 1 (28) – erweiterter Verfall; BVerfGE 102, 1 (17) – Altlasten; BVerfGE 100, 226 (241) – Denkmalschutz; BVerfGE 95, 64 (84) – Mietpreisbindung; BVerfGE 95, 48 (58) – Restitution und Vertragsanfechtung; BVerfGE 75, 78 (97) – Berufsunfähigkeitsrente; BVerfGE 74, 203 (214) – Arbeitslosengeld; BVerfGE 72, 66 (78) – Flughafen Salzburg; BVerfGE 72, 9 (23) – Arbeitslosengeld; BVerfGE 70, 191 (200) – Fischereirecht; BVerfGE 62, 169 (183) – Sperrguthaben DDR; BVerfGE 58, 137 (148) – Pflichtexemplar; BVerfGE 53, 257 (293) – Versorgungsausgleich; BVerfGE 52, 1 (29) – Kleingarten; BVerfGE 50, 290 (341) – Mitbestimmung; BVerfGE 42, 263 (294) – Contergan; BVerfGE 31, 275 (289 f.) – Rothenberger; BVerfGE 26, 215 (222); BVerfGE 25, 112 (117 f.) – Niedersächsisches Deichordnungsgesetz; BVerfGE 21, 150 (155) – Weinwirtschaftsgesetz; BVerfGE 21, 73 (86) – Grundstückverkehrsgesetz; BVerfGE 18, 121 (132) – Fiskusprivileg; BVerfGE 8, 71 (80) – Anbauverbot; BVerfG, AG 2014, 279 Rn. 23; Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 223; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 14 Rn. 36. 77 BVerfG, ZIP 2013, 260 Rn. 9 – Wella; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 24 – Edscha; BVerfG, NJW 1999, 1699 (1700) – SEN; Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 14 Rn. 223. 78 BVerfGE 50, 290 (338) – Mitbestimmung.

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dung für ein sozialgebundenes Privateigentum.79 Daher stehen die übrigen Grenzen im Vordergrund, insbesondere das dialektische Verhältnis zwischen der Privatnützigkeit und der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG)80 sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ihre Beachtung entscheidet im Einzelfall darüber, ob die zur Erfüllung des Regelungsauftrags erlassenen Vorschriften zu den Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums zählen und damit die Reichweite der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ausgestalten81 oder – im Fall der Überschreitung einer Grenze – eine rechtwidrige Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums darstellen.82

IV. Ausblick: Was kann eine Untersuchung der verfassungsrechtlichen Vorgaben leisten? Der Nutzen einer systematischen Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen Grundstrukturen des Anteils- und Gesellschaftseigentums erschöpft sich nicht in einem code de bonnes pratiques für künftige Gesetzesvorhaben im Gesellschaftsrecht.83 Die Erkenntnisse geben auch Anlass, das geltende Recht sowie etablierte Vertragsgestaltungen kritisch zu reflektieren. Dies soll an zwei Beispielen illustriert werden. 1. Kaduzierung Aufgrund der Tatsache, dass jeder Gesellschafter den Schutz des Anteilseigentums genießt, muss der Gesetzgeber – als Folgerung aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit84 – bei der Ausgestaltung des Gesellschaftsrechts die Interessen der Gesellschafter gerecht ausgleichen und in ein ausgewogenes Verhältnis bringen.85 79

BVerfG, NJW 1999, 1699 (1700) – SEN. BVerfGE 143, 246 Rn. 218 – Atomausstieg; BVerfGE 102, 1 (16 f.) – Altlasten; BVerfGE 110, 1 (28) – erweiterter Verfall; BVerfGE 95, 64 (84) – Mietpreisbindung; BVerfGE 81, 208 (220) – Urheberrecht; BVerfGE 71, 230 (246 f.) – Vergleichsmiete; BVerfGE 70, 191 (200) – Fischereirecht; BVerfGE 62, 169 (183) – Sperrguthaben DDR; BVerfGE 52, 1 (29) – Kleingarten; BVerfGE 50, 290 (340) – Mitbestimmung; BVerfGE 37, 132 (143) – Vergleichsmiete; BVerfGE 25, 112 (118) – Niedersächsisches Deichordnungsgesetz; BVerfGE 21, 87 (90 f.); BVerfGE 20, 351 (361) – Tollwut. 81 BVerfGE 31, 229 (240) – Schulbuchprivileg; BVerfGE 20, 351 (356) – Tollwut. 82 BVerfGE 100, 1 (37) – DDR-Rentenanwartschaften; BVerfGE 58, 137 (145) – Pflichtexemplar; Dreier/Wieland, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 90. 83 Zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft im Rahmen der Rechtssetzung siehe Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, 11. Aufl. 2020, Rn. 294 ff. 84 BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha. 85 BVerfGE 102, 1 (17) – Altlasten; BVerfGE 101, 239 (259) – Stichtagregelung im VermG; BVerfGE 100, 226 (240 f.) – Denkmalschutz; BVerfGE 95, 48 (58) – Restitution und 80

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Hierfür muss er zu allen Gesellschaftern die gleiche Distanz wahren.86 Dies schließt gesetzliche Regelungen, die den Ausschluss einzelner oder mehrerer Gesellschafter ermöglichen, zwar nicht aus.87 Voraussetzung für ihre Zulässigkeit ist aber, dass auch die berechtigten Interessen der gegen ihren Willen ausscheidenden Gesellschafter gewahrt werden.88 Hierfür verlangt das BVerfG neben einem legitimen Zweck für den Ausschluss und einem effektiven Rechtsschutz, dass die Gesellschafter vollen Wertersatz für den Verlust ihrer Anteile erhalten.89 Diese Voraussetzungen erfüllen die aktienrechtlichen Vorschriften über die Eingliederung und den Squeeze-out.90 Gleiches dürfte für die Zwangseinziehung von Geschäftsanteilen nach § 34 Abs. 2 GmbHG sowie dem ungeschriebenen Ausschluss von Gesellschaftern aus wichtigem Grund gelten, da dem betroffenen Gesellschafter ein Abfindungsanspruch91 in Höhe des Verkehrswertes bzw. des vollen Wertes seines Geschäftsanteils zusteht,92 dessen gesellschaftsvertraglicher Ausschluss grundsätzlich sittenwidrig i. S. d. § 138 Abs. 1 BGB und in entsprechender Anwendung von § 241 Nr. 4 AktG nichtig ist.93 Während der BGH für diese Konstellationen betont, dass das Recht des Gesellschafters, bei einem Ausscheiden aus der Gesellschaft eine Abfindung zu erhalten, zu seinen Grundmitgliedsrechten gehört,94 werden Abfindungs- und Erstattungsansprüche Vertragsanfechtung; BVerfGE 91, 294 (308) – Mietpreisbindung; BVerfGE 52, 1 (29) – Kleingarten; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha. 86 BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha. 87 BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha zu den §§ 327a f. AktG; BVerfG, ZIP 2007, 2121; BVerfG, NJW 2007, 828 Rn. 10 – Siemens/Nixdorf zu §§ 320 ff. AktG; BVerfG, NZG 2003, 1016 zu §§ 339 ff. AktG a. F.; BVerfG, NJW 2001, 279 – Moto Meter zu § 179a AktG; Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Lfg. (3/2014), Art. 14 Rn. 311. 88 BVerfGE 100, 289 (303) – DAT/Altana zu den §§ 320 ff. AktG; BVerfG, NZG 2003, 1016 zu §§ 339 ff. AktG a. F.; BVerfG, Beschl. v. 4. 4. 1998 – 1 BvR 1372/90, juris Rn. 4. 89 BVerfGE 100, 289 (303) – DAT/Altana zu §§ 320 ff. AktG; BVerfG, ZIP 2013, 260 Rn. 8 – Wella; BVerfG, NZG 2011, 235 Rn. 8 – Kuka zu § 15 UmwG; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha zu §§ 327a ff. AktG; BVerfG, NJW 2007, 3266 (3267) – Wüstenrot/ Württembergische; BVerfG, NJW 2007, 828 Rn. 10 – Siemans/Nixdorf zu §§ 320 ff. AktG; BVerfG, NZG 2003, 1016 zu §§ 339 ff. AktG a. F.; BVerfG, NJW 2001, 279 (280) – Moto Meter zu § 179a AktG. 90 Zu den §§ 320 ff. AktG BVerfGE 100, 289 (302 ff.) – DAT/Altana; zu den §§ 327a ff. AktG BVerfG, ZIP 2007, 1987; BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha. 91 Uneinigkeit besteht lediglich darüber, ob die Rechtsgrundlage sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB, dem Gesellschaftsvertrag oder Gewohnheitsrecht ergibt. Siehe dazu MüKoGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rn. 205 m. w. N. 92 Zur Einziehung siehe BGH, NJW 2001, 2638 (2639); Ulmer/Habersack, in: Habersack/ Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2020, § 34 Rn. 77; MüKoGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rn. 208. Zum Ausschluss aus wichtigem Grund siehe BGHZ 16, 317 (322); BGHZ 9, 157 (168); Scholz/Seibt, GmbHG, 12. Aufl. 2018, Anh. § 34 Rn. 53; Ulmer/Habersack, in: Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2020, Anh. § 34 Rn. 41 jeweils m. w. N. 93 Zur Einziehung siehe BGH, NZG 2014, 820 Rn. 11 ff. Zum Ausschluss aus wichtigem Grund siehe Scholz/Seibt, GmbHG, 12. Aufl. 2018, Anh. § 34 Rn. 55. Zu Einzelheiten siehe MüKoGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rn. 227 ff. m. w. N. 94 BGHZ 116, 359 (364); BGH, NZG 2014, 820 Rn. 12; BGH, NZG 2011, 1420 Rn. 8.

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im Fall der Kaduzierung (§ 21 GmbHG, § 64 AktG) einhellig abgelehnt,95 und zwar auch dann, wenn die ausstehende Einlage, die zu der Kaduzierung geführt hat, im Verhältnis zu der bereits erbrachten Einlage unbedeutend ist.96 Dies erscheint im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des Anteilseigentums zumindest zweifelhaft.97 Der Versuch, die wirtschaftliche Härte der Kaduzierung damit zu rechtfertigen, dass andernfalls die generalpräventive Druckfunktion entfiele,98 dürfte das BVerfG bereits deshalb nicht überzeugen, weil nach bisheriger Rechtsprechung der volle Wertersatz kumulativ zu einem legitimen Zweck erforderlich ist.99 Außerdem kennt das Gesellschaftsrecht bei anderen Pflichtverletzungen mildere Sanktions- und Zwangsmaßnahmen (z. B. den Rechtsverlust nach §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 AktG, § 44 WpHG, § 59 WpÜG), die der Gesetzgeber an dieser Stelle nicht ausgeschöpft hat. 2. Stimmrechtslose Geschäftsanteile Die Zulässigkeit stimmrechtsloser GmbH-Geschäftsanteile wird heute – soweit ersichtlich – nicht mehr bestritten.100 Obgleich der Verzicht auf das Stimmrecht, der neben einer statutarischen Regelung auch die Zustimmung des betroffenen Gesellschafters voraussetzt,101 eine empfindliche Einschränkung der mitgliedschaftlichen Verwaltungsbefugnisse darstellt, sind derartige Gestaltungen in der Rechtspraxis gelegentlich anzutreffen.102 Insbesondere bei Zweipersonengesellschaften kann 95 Zu § 21 GmbHG siehe Scholz/Emmerich, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 21 Rn. 26a; Leuschner, in: Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 21 Rn. 60; MüKoGmbHG/Schütz, 3. Aufl. 2018, § 21 Rn. 91. Zu § 64 AktG siehe MüKoAktG/Bayer, 5. Aufl. 2019, § 64 Rn. 59; Schmidt/Lutter/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2020, § 64 Rn. 32 jeweils m. w. N. 96 Leuschner, in: Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 21 Rn. 60; MüKoGmbHG/Schütz, 3. Aufl. 2018, § 21 Rn. 91. 97 Kritisch auch Scholz/Emmerich, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 21 Rn. 26a unter Hinweis auf den Widerspruch zu § 34 GmbHG. 98 MüKoAktG/Bayer, 5. Aufl. 2019, § 64 Rn. 59; Hefermehl/Bungeroth, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 7. Lfg. (6/1983), § 64 Rn. 44. 99 Deutlich BVerfG, NJW 2007, 3268 Rn. 20 – Edscha zu §§ 327a ff. AktG; BVerfG, NJW 2001, 279 (280) – Moto Meter zu § 179a AktG. 100 Statt vieler BGHZ 14, 264 (270); Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 47 Rn. 36; MüKoGmbHG/Drescher, 3. Aufl. 2019, § 47 Rn. 124; Fleischer, in: FS Köndgen, 2016, S. 201 (213); Hüffer/Schäfer, in: Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2020, § 47 Rn. 58; Schäfer, GmbHR 1998, 113 ff.; ders., Der stimmrechtlose GmbH-Geschäftsanteil, 1997, S. 35 ff. jeweils m. w. N. Zur Zulässigkeit stimmrechtsloser Vorzugsaktien siehe BVerfG, ZIP 2007, 1987. 101 Schäfer, Der stimmrechtlose GmbH-Geschäftsanteil, 1997, S. 171 ff.; Hüffer/Schäfer, in: Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2020, § 47 Rn. 58; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 47 Rn. 11. 102 Das prominenteste Beispiel dürfte die Robert Bosch GmbH sein, an der die Robert Bosch Stiftung 92 Prozent der Geschäftsanteile hält, die sämtlich keine Stimmrechte gewäh-

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diese Konstellation die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft bedrohen, z. B. dann, wenn der stimmrechtslose Minderheitsgesellschafter den Geschäftsführer, der zugleich der einzig stimmberechtigte Gesellschafter ist, aus wichtigem Grund abberufen will. Als geklärt kann in derartigen Konstellationen nur angesehen werden, dass der Geschäftsführer-Gesellschafter nicht abstimmen darf.103 Wie mit dem damit einhergehenden Zustand, nämlich dass in der Gesellschafterversammlung mangels Stimmrechts kein Beschluss gefasst werden kann – vom BVerfG prägnant als Funktionsunfähigkeit bezeichnet –, umzugehen ist, ist hingegen weitgehend ungeklärt. Verfassungsrechtlich darf er keinen Bestand haben; er ist mit der Eigentumsgarantie der Gesellschaft104 unvereinbar.105 Der Ausweg ist durch die Gewährleistung des Anteilseigentums und die Schranken seiner Ausgestaltung nur im Ergebnis vorgezeichnet. Denn obwohl das BVerfG in dem Mitbestimmungsurteil letztlich offenlassen konnte, wie weit die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums bei Organisationsmaßnahmen reicht, hat es mehrere mitgliedschaftliche Herrschaftsbefugnisse benannt, die den Anteilseignern jedenfalls zustehen müssen, u. a. die Kontrolle über die Führungsauswahl, sei es auch nur mittelbar über den Aufsichtsrat.106 In einer Zweipersonengesellschaft der beschriebenen Ausprägung kann dieses verfassungsrechtliche Gebot nicht durch eine Ausnahme von dem Stimmrechtsverbot umgesetzt werden; dieses ist seinerseits Ausdruck des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Verbots des Richtens in eigener Sache.107 Vielmehr ist es geboten, den statutarischen Ausschluss des Stimmrechts – sofern die Satzung keine entsprechende Ausnahme enthält – im Wege einer ergänzenden Auslegung des Gesellschaftsvertrags einzuschränken, nämlich dahingehend, dass das Stimmrecht nur für solche Beschlussgegenstände ausgeschlossen ist, in denen die Versammlung ohne das Stimmrecht weder funktionsunfähig ist noch sich in einem Zustand befindet, der der Funktionsunfähigkeit nahekommt.

V. Ergebnisse 1. Aus verfassungsrechtlicher Sicht enthält das Gesellschaftsrecht Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Anteilseigentums sowie des Eigentums der unternehmenstragenden Gesellschaft. 2. Das Anteilseigentum ist eine eigenständige, von der Mitgliedschaft zu unterscheidende verfassungsrechtliche Figur. Sein Schutz durch Art. 14 Abs. 1 ren. Zu Einzelheiten siehe https://www.bosch.de/unser-unternehmen/bosch-gruppe-weltweit/ #struktur-und-organisation (zuletzt abgerufen am 4. 3. 2021). 103 Statt vieler BGHZ 86, 177 (179); BGH, NJW 2010, 3027 Rn. 13; Hüffer/Schäfer, in: Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2020, § 47 Rn. 187 jeweils m. w. N. 104 Zuvor II. 2. 105 BVerfGE 50, 290 (352) – Mitbestimmung. 106 BVerfGE 50, 290 (350) – Mitbestimmung. 107 Siehe z. B. OLG Frankfurt, BeckRS 2017, 102812 Rn. 31.

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Satz 1 GG umfasst nicht nur die vermögensrechtlichen Elemente der Privatnützigkeit und der Verfügungsbefugnis, sondern erstreckt sich auch auf die untrennbar damit verbundenen mitgliedschaftsrechtlichen Herrschaftsbefugnisse, insbesondere das Stimmrecht in der Anteilseignerversammlung und das Recht auf Informationen in den Angelegenheiten der Gesellschaft, sowie die vermögensrechtlichen Ansprüche. 3. Die Eigentumsgarantie der unternehmenstragenden Gesellschaft erschöpft sich nicht in den Außenbeziehungen der Gesellschaft, sondern beinhaltet auch Elemente der Unternehmensverfassung, namentlich das Recht zur Selbstbestimmung der inneren Organisation, das Verfahren der Willensbildung und die Führung der Geschäfte. 4. Bei der Ausgestaltung dieser Eigentumsrechte ist der Gesetzgeber nicht gänzlich frei, sondern an die Grundrechte und die übrigen Verfassungsnormen gebunden, insbesondere an das Wohl der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 2 GG) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Gleichwohl verbleibt ihm bei der Erfüllung seines Regelungsauftrags nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ein weiter Gestaltungsspielraum.

Die Auswirkungen der geplanten Neuregelung für Beschlussfassung und Beschlussmängel bei Personenhandelsgesellschaften auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Partnerschaftsgesellschaft und den Verein Von Barbara Grunewald

I. Fragestellung Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (RegE)1 sieht für die OHG in § 109 HGB RegE Regeln für die Beschlussfassung der Gesellschafter und in §§ 110 – 115 HGB RegE Bestimmungen für fehlerhafte Beschlüsse vor. Über § 161 Abs. 2 HGB gilt für die KG nichts anderes. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Partnerschaftsgesellschaft und den Verein findet sich in dem Gesetzentwurf nahezu keine Aussage zu Beschlussfassung und Beschlussmängeln. Damit stellt sich die Frage, ob die geplanten Neuregelungen für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Partnerschaftsgesellschaft und den Verein nicht gelten sollen oder ob sie als Ausdruck allgemeiner Rechtsgedanken jedenfalls auf alle Personengesellschaften oder vielleicht sogar auch auf den Verein ebenfalls anwendbar sind.

II. Die Ausgangssituation Wenn innerhalb eines Entwurfes, der sich die Reform des Rechts der Personengesellschaften zum Ziel gesetzt hat, eine Regelung nur für Handelsgesellschaften getroffen wird, spricht dies klar dafür, dass diese Bestimmungen eben auch nur für Handelsgesellschaften gelten sollen. Für den Verein ist die Rechtslage weniger klar. § 54 Abs. 1 BGB RegE verweist nach der geplanten Neufassung für den nicht rechtsfähigen Idealverein auf die Regeln für den rechtsfähigen Verein, für nicht rechtsfähige Vereine mit wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb auf die Vorschriften für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts. 1 Abrufbar auf der Homepage des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.

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Die Annahme, dass jedenfalls für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die Partnerschaftsgesellschaft die Neuregelungen nicht gelten sollen, wird noch dadurch unterstrichen, dass der sogenannte Mauracher Entwurf (ME),2 der dem Referentenentwurf zu Grunde liegt, einen anderen Vorschlag gemacht hatte. Er sah in §§ 714a – 714e BGB ME eine Beschlussmängelklage für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und dann über den Verweis in § 105 Abs. 2 HGB ME auch für die Personenhandelsgesellschaften sowie über § 1 Abs. 4 PartGG für die Partnerschaftsgesellschaften vor. Die Begründung zum Regierungsentwurf macht deutlich, warum man sich dann doch anders entschieden hat.3 Dort heißt es: „An sich liegen die institutionellen Voraussetzungen, unter denen sich das aktienrechtliche Anfechtungsmodell rechtsformübergreifend… etablieren konnte, für alle rechtsfähigen Personengesellschaften vor. Es sind dies das Vorhandensein einer gewissen rechtlichen Verselbständigung des Verbands gegenüber seinen Mitgliedern, das Unterworfensein der Mitglieder unter die Mehrheitsentscheidung und das Vorhandensein eines geeigneten Beklagten… Gleichwohl ist festzustellen, dass das Anfechtungsmodell Mindestanforderungen an die Formalisierung des Beschlussverfahrens und damit einen Professionalisierungsgrad erfordert, der bei der gebotenen typisierenden Betrachtung eher bei den kaufmännischen Rechtsformen der OHG und der KG als bei den nicht kaufmännischen Rechtsformen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und der Partnerschaftsgesellschaft zu erwarten ist. Selbst wenn dort im Gesellschaftsvertrag solche Formalien der Beschlussfassung ausnahmsweise bedacht sind, dürften sie im alltäglichen Umgang nicht immer berücksichtigt werden.4“ Das sind deutliche Aussagen. Will man ausgehend von dem Grundgedanken, dass die Neufassung nur für Handelsgesellschaften gelten soll, die Grenze dieser Anordnung entwickeln, muss man jede Regelung zur Beschlussfassung und zu den Beschlussmängeln für sich betrachten. Nur so lässt sich klären, ob es doch Ausnahmen von dem geschilderten Grundsatz gibt.

III. Die Übertragbarkeit der geplanten Reformregelungen auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts 1. § 109 Abs. 1 HGB RegE (Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung) Gemäß § 109 Abs. 1 HGB RegE werden Beschlüsse der Gesellschafter in Versammlungen gefasst. Die Begründung legt dar, dass eine Versammlung gegeben ist, wenn mehrere Personen zu einem bestimmten Zweck zusammenkommen.5 Ver2 Abrufbar auf der Homepage des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. 3 S. 269. 4 Es folgt ein Verweis auf Drescher, ZGR Sonderheft 23 (2020), 116 (125). 5 S. 266.

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mutlich sollen spontane Entscheidungen der Gesellschafter damit aber nicht ausgeschlossen werden. So kann es etwa vorkommen, dass alle Gesellschafter einer OHG/ KG – vielleicht sind es ja nur zwei oder drei – spontan über eine bestimmte Geschäftsführungsmaßnahme (etwa die Farbgebung der neuen Kollektion) entscheiden. Auch dies wäre dann wohl als Gesellschafterversammlung anzusehen. Jedenfalls wäre der Beschluss verbindlich. Warum das nicht auch für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts gelten sollte, ist nicht ersichtlich. 2. § 109 Abs. 2 HGB RegE (Einberufung der Gesellschafterversammlung) Nach § 109 Abs. 2 S. 1 HGB RegE kann jeder Gesellschafter die Versammlung einberufen. Satz 2 bestimmt, dass die Einberufung durch formlose Einladung der anderen Gesellschafter unter Ankündigung des Zwecks der Versammlung mit angemessener Frist erfolgt. Diese Regelung leuchtet für alle Beschlussfassungen ein, die für die Gesellschaft von Bedeutung sind. Sie passt somit für nicht alltägliche Beschlüsse wie Vertragsänderungen, Feststellung des Jahresabschlusses, Verteilung des Bilanzgewinns oder die Entscheidung über größere Investitionen. Die Regelung ist oftmals nicht zweckmäßig für Abstimmungen, die die Gesellschafter über das Tagesgeschäft treffen. Gerade in Gesellschaften mit wenigen Gesellschaftern werden solche Beschlüsse durchaus häufig gefasst. Einladungen zu solchen Absprachen ergehen nicht. Man trifft sich und entscheidet. So kann aber auch dann problemlos verfahren werden, wenn die Neuregelung in Kraft treten sollte. Für Vollversammlungen entspricht es allgemeiner Meinung, dass Formfehler dann unbeachtlich sind, wenn alle Gesellschafter sich auf diese Vorgehensweise verständigt haben. Selbst das formenstrenge Aktienrecht entscheidet so (§ 121 Abs. 6 AktG). Für die GmbH gilt ebenfalls nichts anderes (§ 51 Abs. 3 GmbHG). Sind nicht alle Gesellschafter einbezogen worden, wird es schwieriger. Sollten öfter Beschlüsse auf andere als in § 109 Abs. 2 HGB RegE vorgesehene Weise gefasst und allseitig akzeptiert worden sein, kann eventuell davon ausgegangen werden, dass die Norm konkludent (eventuell nur für bestimmte Beschlussgegenstände) abbedungen wurde. In der Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist die Rechtslage im Prinzip nicht anders. Rein tatsächlich kann es sein, dass Gesellschaften mit weniger Gesellschaftern häufiger als Gesellschaft bürgerlichen Rechts organisiert sind. Vielleicht werden auch öfter Beschlüsse über Alltagsgeschäfte gefasst als in den Personenhandelsgesellschaften. Klar ist das aber keineswegs. Letztlich sind solche Spekulationen aber auch nicht von Bedeutung. Die geplante Neuregelung passt für nicht alltägliche Beschlussgegenstände in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts ebenso wie in der OHG, für andere Entscheidungen der Gesellschafter müssen unter Umständen die Regeln der Vollversammlung oder die Annahme einer konkludenten Abbedingung helfen.

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Wie sinnvoll eine Normierung ist, bei der solch wenig klare Einschränkungen vorprogrammiert sind, steht auf einem anderen Blatt und ist hier nicht zu entscheiden. 3. § 109 Abs. 3 HGB RegE (Zustimmung aller stimmberechtigten Gesellschafter) § 109 Abs. 3 HGB RegE legt fest, dass Gesellschafterbeschlüsse der Zustimmung aller stimmberechtigten Gesellschafter bedürfen. Diese Regelung entspricht § 714 BGB RegE. Damit stellt sich in Bezug auf diese Normierung die hier zur Diskussion stehende Problematik nicht. 4. § 109 Abs. 4 HGB RegE (Beschlussfähigkeit) Nach § 109 Abs. 4 HGB RegE ist die Gesellschafterversammlung in Gesellschaften, in denen das Mehrheitsprinzip gilt, beschlussfähig, wenn die anwesenden Gesellschafter oder ihre Vertreter ohne Rücksicht auf ihre Stimmberechtigung die für die Beschlussfassung erforderlichen Stimmen haben. Ist also beispielsweise eine schlichte Mehrheit der Stimmen erforderlich, müssen bei der Beschlussfassung 51 % der Stimmen präsent sein. Eine andere Frage ist, wie viele der Anwesenden für den Vorschlag stimmen müssen. Dazu sagt die Regelung nichts. Im Allgemeinen wird eine Mehrheitsklausel dahingehend verstanden, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen zählt, wie es § 32 Abs. 1 S. 3 BGB für den Verein festlegt. Es würde also die Mehrheit der anwesenden Stimmen, die mindestens 51 % der Gesamtstimmen repräsentieren müssen, erforderlich sein. Ob man einer schlichten Mehrheitsklausel tatsächlich ein Quorum in dem Sinne entnehmen kann, dass die Mehrheit aller Stimmen präsent sein muss, scheint fraglich. Dem Verweis in der Begründung auf Freitag6 kann dies jedenfalls nicht entnommen werden, da dort nur die in einem Gesellschaftsvertrag getroffene Formulierung, dass die „Mehrheit der Stimmen anwesend oder vertreten“ sein muss, betrachtet wird und aus der genannten Klausel gefolgert wird, dass in diesem Fall auch Gesellschafter mitzuzählen sind, die kein Stimmrecht haben. Weiter wird auf Plückelmann7 verwiesen, der wohl in der Tat der geschilderten Ansicht ist. Ob das eine hinreichende Basis für eine Kodifikation ist, soll hier offen bleiben. Jedenfalls für Publikumsgesellschaften, in denen die Anwesenheit der Mehrheit der Gesellschafter nicht leicht zu erreichen ist, liegt eine solche Interpretation eher fern. Hält man gleichwohl an der Bestimmung fest, passt sie auch für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts – eigentlich sogar besser als für OHG und KG. Denn der Entwurf geht ja davon aus, dass Gesellschaften mit kleiner Gesellschafterzahl häufiger als Gesellschaft bürgerlichen Rechts 6 7

In Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, § 19 Rn. 63. In Anwaltshandbuch Personengesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2019, § 8 Rn. 112.

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organisiert sind und gerade dann ist mit § 109 Abs. 3 HGB RegE eher zu Recht zu kommen als in großen Gesellschaften. 5. §§ 110 – 115 HGB RegE (Anfechtungsklage, Nichtigkeitsklage von Gesellschafterbeschlüssen) In Anlehnung an das im Aktiengesetz geregelte Beschlussmängelrecht sehen §§ 110 – 115 HGB RegE eine Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage für Personenhandelsgesellschaften vor. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts kommt nach der Anordnung des Reformvorschlags eine entsprechende Anwendung nicht in Frage. Die Begründung8 sagt dies – wie geschildert – ganz klar. Man mag dies rechtspolitisch für verfehlt halten, zumal das Anfechtungsmodell in erster Linie auf Rechtssicherheit abzielt, was auch für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts von maßgeblicher Bedeutung ist.9 Auch wird nicht begründet, warum das Anfechtungsmodell eine Formalisierung des Beschlussverfahrens erfordern sollte.10 Schließlich können sich die Regeln des Anfechtungs-/Nichtigkeitsverfahrens an die weniger formalisierten Verfahren der Beschlussfassung bei Personengesellschaften anpassen – wie es der Regierungsentwurf völlig zu Recht an vielen Stellen vorsieht (etwa § 112 Abs. 3 HGB RegE, § 113 Abs. 3, Abs. 5 HGB RegE). Doch ändert dies alles nichts daran, dass für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts die neuen Regeln, sollte der Entwurf gesetzt werden, nicht einschlägig sein werden. 6. § 110 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 HGB RegE (Nichtigkeit von Gesellschafterbeschlüssen) Nach § 110 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 HGB RegE ist ein Gesellschafterbeschluss von Anfang an nichtig, wenn er durch seinen Inhalt Rechtsvorschriften verletzt, auf deren Einhaltung die Gesellschafter nicht verzichten können. Überzeugend führt die Begründung11 aus, dass damit die Regeln des zwingenden Rechts gemeint sind. Im Allgemeinen seien Vorschriften zwingend, wenn sie die schutzwürdigen Belange der Gesellschaftsgläubiger oder den unverzichtbaren Kernbereich der Mitgliedschaft tangieren – mag auch noch nicht abschließend geklärt sein, was genau zu diesem Kernbereich zählt. Nicht erfasst seien – so die Begründung – Sonderrechte von Gesellschaftern, in die mit Zustimmung des Gesellschafters eingegriffen werden dürfe (sogenannte relativ unentziehbare Rechte). Fehle die Zustimmung, sei der Beschluss unwirksam mit der Folge, dass der Gesellschafter seine Zustimmung noch erteilen könne. 8

S. 269. Siehe Koch, Gutachten 72. Deutscher Juristentag, 2018, F 74 ff.; Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 26. 10 So S. 269. 11 S. 270 f. 9

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Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts gilt insoweit nichts anderes. Allerdings ist die Nichtigkeit fehlerhafter Beschlüsse hier die reguläre Rechtsfolge.12 Da das Anfechtungsmodell nicht übernommen werden soll, wird für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts auch weiterhin der Grundsatz gelten, dass jeder rechtswidrige Beschluss nichtig ist. Doch unterlag diese Aussage schon immer erheblichen Einschränkungen. So sollen Verfahrensfehler nur erheblich sein, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Zustandekommen des Beschlusses durch den Fehler beeinflusst ist.13 Sollte der Regierungsentwurf Gesetz werden, wird das vermutlich bei den Personenhandelsgesellschaften anders sein. Denn letztlich beruht die geschilderte Einschränkung im Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts auf Kausalitätserwägungen. In den Kapitalgesellschaften wird stattdessen auf die Relevanz des Verfahrensfehlers abgestellt, also auf den Schutzzweck der Verfahrensnorm.14 Da sich der Regierungsentwurf an das Kapitalgesellschaftsrecht anlehnt, dürfte dies dann auch für die Personenhandelsgesellschaften entscheidend sein. Doch mag es sein, dass sich das Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts in dieselbe Richtung entwickelt. Dafür spricht, dass auch in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts eigentlich nur Verstöße gegen Regelungen bedeutungslos sein sollten, deren Schutzzweck die Nichtigkeit des Beschlusses nicht gebietet. Schlichte Kausalitätsüberlegungen führen da eher in die Irre, zumal bei stabilen Mehrheiten die Kausalität eines Verfahrensmangels kaum ernsthaft bejaht werden kann. Die damit verbundene Entrechtung der Minderheit ist aber nur selten hinnehmbar. Zu Recht wird daher für die Fortentwicklung des Beschlussmängelrechts der Gesellschaft bürgerlichen Rechts auf das Recht der GmbH verwiesen.15 Demgegenüber wird es im Bereich der Inhaltsmängel keine Annäherung zwischen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und den Personenhandelsgesellschaften geben. So führen beispielsweise Verstöße gegen die Treuepflicht oder das Gleichbehandlungsgebot in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts zur Nichtigkeit,16 bei der Personenhandelsgesellschaft nach dem Regierungsentwurf lediglich zur Anfechtbarkeit.

12

MüKoBGB/Schäfer, 8. Aufl. 2020, § 709 Rn. 110; BeckOK BGB/Schöne, 1. 11. 2020, § 709 Rn. 68. 13 Schäfer (s. o. Fn. 12), § 709 Rn. 11; Schöne (s. o. Fn. 12), § 709 Rn. 70; Wertenbruch, in: Handbuch der Personengesellschaften, 77. Lieferung, Stand Juli 2020, I Rn. 451, 455; ErmanWestermann, BGB, 16. Aufl. 2020, § 709 Rn. 37, 38. 14 Unstreitig: zur AG Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 243 Rn. 12; K. Schmidt/Lutter/ Schwaab, AktG, 4. Aufl. 2020, § 243 Rn. 40; zur GmbH Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh. § 47 Rn. 50 f.; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, 22. Aufl. 2019, Anh. § 47 Rn. 123 ff. 15 Schäfer (s. o. Fn. 12), § 709 Rn. 111; siehe auch Drescher, in: FS Krieger 2020, S. 215, 219 ff. 16 Schäfer (s. o. Fn. 12), § 709 Rn. 113; Schöne (s. o. Fn. 12), § 709 Rn. 68.

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IV. Die Übertragbarkeit der geplanten Neuregelungen auf Partnerschaftsgesellschaft und Verein 1. Die Übertragbarkeit auf die Partnerschaftsgesellschaft Nach § 1 Abs. 4 PartGG finden auf Partnerschaftsgesellschaften die Vorschriften über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts entsprechende Anwendung. Damit steht fest, dass das Anfechtungsmodell, auch wenn der Regierungsentwurf Gesetz werden sollte, für die Partnerschaftsgesellschaft nicht gilt. Die Begründung zeigt, dass dies eine bewusste Entscheidung des Regierungsentwurfes ist. Dort wird gesagt, dass in der Partnerschaftsgesellschaft eine Formalisierung des Beschlussverfahrens und damit eine entsprechende Professionalisierung nicht zu erwarten sei, was wiederum Voraussetzung des Anfechtungsmodells sein soll.17 Diese Argumentation leuchtet ersichtlich nicht ein. Denn schließlich steht die Partnerschaftsgesellschaft gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 PartGG nur Freiberuflern offen, also Personen, die im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung Dienstleistungen höherer Art erbringen, die persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig zu leisten sind und die Interessen der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt haben (§ 1 Abs. 2 S. 1 PartGG). De facto handelt es sich zu einem ganz erheblichen Teil um Zusammenschlüsse von Rechtsanwälten und Steuerberatern,18 von denen wohl am ehesten von allen Berufen eine entsprechende Sensibilisierung für Probleme im Bereich der Beschlussfassung und der Beschlussmängel erwartet werden kann. Aber wie dem auch sei. Die geplante Rechtslage ist klar. Man wird darauf hoffen können, dass die Partner bei der Gründung vereinbaren, dass das für die OHG/KG vorgesehene Modell für sie auch gelten soll.19 2. Die Übertragbarkeit auf den Verein Der Regierungsentwurf sieht in § 54 Abs. 1 BGB RegE für Vereine, deren Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, und die nicht durch Eintragung ins Vereinsregister Rechtspersönlichkeit erlangt haben (also nach alter Terminologie für die nicht rechtsfähigen Idealvereine) vor, dass die Regeln des rechtsfähigen Vereins gelten sollen. Die damit in Bezug genommenen Normen (§§ 54 – 53 BGB RegE) beziehen sich nicht auf die hier diskutierte Problematik. Rechtsprechung und herrschende Meinung gehen bislang davon aus, dass ein rechtswidriger Beschluss in Vereinen grundsätzlich nichtig ist, machen aber von dieser An-

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S. 269. MüKoBGB/Schäfer, 8. Aufl. 2020, Vor § 1 PartGG Rn. 27. 19 Dazu, dass dies nicht dazu führen sollte, keine passenden Regeln als Auffangnormen im Gesetz vorzusehen Koch, Gutachten 72. Deutscher Juristentag, 2018, F 75. 18

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nahme zahlreiche Ausnahmen.20 Die Gegenansicht plädiert für eine analoge Anwendung von §§ 241 ff. AktG.21 Die geplante Neuregelung des Regierungsentwurfs verstärkt die Argumente, die für eine analoge Anwendung des Anfechtungsmodells sprechen. Denn nach in Krafttreten der Neuregelung werden vergleichbare Regelungen für OHG und KG gelten. Die Analogiebasis wird also breiter.22 Zudem wird an der Stelle der Begründung, an der Argumente gegen die Einbeziehung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und der Partnerschaft in das Anfechtungsmodell angeführt werden,23 der Verein nicht genannt. Hinzu kommt, dass der geplante § 54 Abs. 1 S. 2 BGB RegE für Vereine, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist und die nicht durch staatliche Verleihung Rechtspersönlichkeit erlangt haben, die Vorschriften über die Gesellschaft entsprechend anzuwenden sind. Das werden oftmals die Bestimmungen sein, die für die OHG gelten. Denn – wie die Begründung zu Recht darlegt24 – kommt es insoweit entscheidend darauf an, ob der Verein ein Handelsgewerbe betreibt (dann Recht der OHG) oder nicht (dann Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts). Wenn somit über schlichte Verweisungen das Anfechtungsmodell im Vereinsrecht sowieso Einzug erhält, spricht auch dies dafür, hierin einen einheitlichen Rechtsgrundsatz für das gesamte Vereinsrecht zu sehen.

V. Zusammenfassung 1. Der Rgierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts sieht Regeln für die Beschlussfassung und die Geltendmachung von Beschlussmängeln nur für OHG und KG vor. 2. Das ändert aber nichts daran, dass manche Regeln auch für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die Partnerschaftsgesellschaft zur Anwendung kommen. Dies gilt für Bestimmungen über die Einberufung der Gesellschafterversammlung, die Interpretation einer Mehrheitsklausel und Fälle der Beschlussnichtigkeit, wobei in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und der Partnerschaftsgesellschaft über die im Regierungsentwurf geregelten Fälle hinaus weitere Beschlüsse nichtig sind.

20 Überblick bei MüKoBGB/Leuschner, 8. Aufl. 2018, § 32 Rn. 54 ff.; Bamberger/Roth/ Hau/Poseck/Schöpflin, BGB, 4. Aufl. 2019, § 32 Rn. 29; Erman-Westermann, BGB, 16. Aufl. 2020, § 32 Rn. 6. 21 MünchKommBGB-Leuschner (s. o. Fn. 20), § 32 Rn. 58; dagegen z. B. Bamberger/ Roth/Hau/Poseck/Schöpflin, BGB, 4. Aufl. 2019, § 32 Rn. 29; Erman/Westermann, BGB, 16. Aufl. 2020, § 32 Rn. 6. 22 So zum Mauracher Entwurf bereits Grunewald, npoR 2020, 279, 280. 23 S. 265. 24 S. 138.

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3. Der Regierungsentwurf kann für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die Partnerschaftsgesellschaft einen Anstoß dafür geben, dass bei Verfahrensfehlern nicht mehr auf die Kausalität, sondern stattdessen auf die Relevanz des Fehlers abgestellt wird. 4. Im Vereinsrecht sollte der Regierungsentwurf dazu führen, dass für Beschlussmängel das Anfechtungsmodell zur Anwendung kommt.

Wertpapiergeschäfte zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades) Von Mathias Habersack

I. Einführung In den Bedingungswerken inländischer Wertpapierbörsen,1 außerbörslicher Handelssysteme und von Kreditinstituten2 finden sich typischerweise Klauseln über die Aufhebung und Rückabwicklung von Wertpapiergeschäften, die zu einem offensichtlich nicht marktgerechten Preis zustande gekommen sind.3 Derlei – Mistrades genannte – Wertpapiergeschäfte begegnen sowohl an Wertpapierbörsen als auch im außerbörslichen Handel, und zwar vorzugsweise im Zusammenhang mit der fehlerhaften Stellung des Preises für strukturierte Wertpapiere durch den Emittenten dieser Papiere. Die Gerichte hatten es schon wiederholt mit Mistrades zu tun.4 Allein von dem für das Bank- und Kapitalmarktrecht zuständigen XI. Zivilsenat des BGH existieren drei Entscheidungen, von denen eines – nämlich das Urteil vom 25. 6. 20025 – den außerbörslichen Handel zum Gegenstand hat, während die Urteile vom 23. 6. 20156 und vom 22. 9. 20207 zum börslichen Handel ergangen sind. Nicht wenige Fragen im Zusammenhang mit Mistrades sind freilich nach wie vor nicht geklärt. So brauchte sich der BGH bislang nicht zu AGB-rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Mistrade-Regeln äußern, so dass nach wie vor offen ist, ob und, 1 Siehe namentlich Abschnitt III (§§ 23 ff.) der Bedingungen für Geschäfte an der Frankfurter Wertpapierbörse, Stand: 23. 11. 2020 (abrufbar unter: https://cms.boerse-frankfurt.de/fi leadmin/Boerse_Frankfurt_Zertifkate_Zulassungen_und_Regelwerke/Alle_Handelsteilneh mer_Boerse_Frankfurt_Zertifikate/FWB04_2020-11-23.pdf); dazu noch unter III. 1., IV. 2. 2 Ihnen stehen im Folgenden nicht als Kreditinstitute zu qualifizierende Finanzdienstleistungsunternehmen gleich. 3 Abdruck einiger in der Praxis verbreiteter Mistrade-Regeln bei Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 195 ff.; Fleckner/Vollmuth, WM 2004, 1263 f.; speziell zu den Mistrade-Reglen der Börsen Jaskulla, WM 2012, 1708 ff. 4 Zusammenstellung der Spruchpraxis der Jahre 1998 bis 2011 bei Fleckner, WM 2011, 585 ff.; seitdem namentlich BGHZ 206, 63 = BKR 2015, 394; BGH, AG 2020, 909 = ZIP 2020, 2279. 5 BGH, NZG 2002, 736. 6 BGHZ 206, 63 = BKR 2015, 394. 7 BGH, AG 2020, 909 = ZIP 2020, 2279.

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wenn ja, unter welchen Voraussetzungen es das AGB-Recht gestattet, die Vereinbarung eines nicht marktgerechten Preises zum Anlass für ein nicht an die Voraussetzungen der §§ 119 ff. BGB gebundenes Recht zur Abstandnahme von einem bindenden Vertrag zu nehmen. Davon zu unterscheiden, aber beim Fehlen klarer Absprachen gleichfalls nicht zweifelsfrei zu beantworten ist die Frage, ob Mistrade-Klauseln Raum für die Anfechtung des Geschäfts nach §§ 119 ff. BGB lassen. Beide Fragen sollen im Folgenden – nach Entfaltung insbesondere der kommissionsrechtlichen Grundlagen – in der Hoffnung aufgegriffen werden, damit das Interesse des an Fragen der Zivilrechtsdogmatik interessierten Jubilars zu treffen. Zu beginnen ist mit dem Verhältnis zwischen Mistrade-Regel und §§ 119 ff. BGB, sind doch die diesbezüglichen Feststellungen für das für die AGB-Kontrolle magebende Leitbild bedeutsam. Zuvor sollen allerdings die kommissionsrechtlichen Grundlagen des Wertpapiergeschäfts und die hierzu ergangenen Rechtsprechungsgrundsätze entfaltet werden.

II. Grundlagen 1. Börsliche und außerbörsliche Geschäfte Das erste der drei BGH-Urteile zeigt die Brisanz der Mistradeklauseln besonders gut auf, lag ihm doch die Klage eines Jurastudenten und einer Unternehmensberaterin zugrunde, mit der eine Direktbank auf Ersatz des von den Klägern mit der Veräußerung der erworbenen Optionsscheine erzielten Gewinns in Höhe von ca. 95.000,– Euro in Anspruch genommen wurde, nachdem sie von ihrem vertraglich vorbehaltenen Recht auf Stornierung der Geschäfte über den Erwerb der Optionsscheine Gebrauch gemacht hatte.8 Im Urteil vom 22. 9. 2020 ging es um den Erwerb von 5.000 Wertpapieren zu einem Preis von 40,14 Euro das Stück, deren marktgerechter Preis sich nach Darstellung der Emittentin auf 51,50 Euro das Stück belaufen hat.9 Schon diese spärlichen Angaben lassen die Divergenz der Interessen zwischen dem Emittenten einerseits und dem Kunden andererseits deutlich hervortreten. In dieses Spannungsverhältnis verwoben ist im Allgemeinen ein als Kommissionär10 auftretendes Kreditinstitut, das vom Kunden mit dem Erwerb11 der Wertpapiere beauftragt worden ist und im außerbörslichen Handel die Wertpapierorder im eigenen Namen, aber auf Rechnung des Kunden dem Emittenten zuleitet,12 der diese sodann – typischerweise automatisiert – annimmt und hierdurch den Kaufvertrag über die Wertpapiere mit dem Kommissionär zustandebringt. Nicht nur im börslichen, 8

BGH, NZG 2002, 736. BGH, AG 2020, 909 Rn. 3 = ZIP 2020, 2279. 10 Zutr. gegen Festpreisgeschäft und für Tätigwerden der Direktbank als Kommissionär BGH, NZG 2002, 920 f. 11 Für Veräußerungsgeschäfte gelten keine Besonderheiten. 12 Bisweilen auch mittelbar unter Einschaltung eines weiteren Kreditinstituts. 9

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sondern auch im außerbörslichen Handel kann sich ein zentraler Kontrahent zwischen den Kommissionär13 und den Emittenten schieben, so dass das Ausführungsgeschäft seinerseits in ein Kaufgeschäft zwischen dem Kommissionär und dem CCP und ein Kaufgeschäft zwischen dem Emittenten und dem CCP aufgespalten wird14 und die Mistrade-Regel sicherzustellen hat, dass beide Geschäfte aufgehoben werden können. Im Innenverhältnis zwischen dem Kommissionär (Kreditinstitut) und dem Kommittenten (Kunde) erfolgt sodann die Auseinandersetzung nach Maßgabe der vertraglichen Vereinbarungen und der §§ 383 ff. HGB und damit vor allem die Übertragung der erworbenen Wertpapiere auf den Kunden. Erfolgt das Ausführungsgeschäft börslich, folgt das Geschehen im Wesentlichen entsprechenden Grundsätzen. Die Aufhebung erfolgt allerdings nicht durch einen der Handelspartner. Dieser hat vielmehr bei der Geschäftsführung der Börse die Aufhebung zu beantragen.15 Die Börse handelt sodann bei Vollzug dieses Antrags in den Formen des öffentlichen Rechts und damit per privatrechtsgestaltendem, das Ausführungsgeschäft – bzw. bei Einschaltung einer zentralen Gegenpartei: die beiden Ausführungsgeschäfte16 – vernichtenden Verwaltungsakt.17 Die dem Verwaltungsakt zukommende Tatbestandswirkung18 lässt dann nach § 394 Abs. 2 S. 1 HGB eine etwaige Delkrederehaftung des Kommissionärs entfallen.19

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Ggf. beauftragt der Kommissionär (unmittelbar oder mittelbar) ein zum Handel am jeweiligen Marktplatz zugelassenes „Clearing-Mitglied“, s. Habersack/Ehrl, ZfPW 2015, 312 f. 14 Siehe Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. 7. 2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister (EMIR), Bl. ABl. Nr. L 201/1. Eingehend zum Vertragsschluss unter Mitwirkung eines zentralen Kontrahenten Habersack/Ehrl, ZfPW 2015, 312, 317 ff. 15 Siehe im Einzelnen §§ 23 ff. der Bedingungen für Geschäfte an der Frankfurter Wertpapierbörse, Stand: 23. 11. 2020 (abrufbar unter: https://cms.boerse-frankfurt.de/fileadmin/Bo erse_Frankfurt_Zertifkate_Zulassungen_und_Regelwerke/Alle_Handelsteilnehmer_Boerse_ Frankfurt_Zertifikate/FWB04_2020-11-23.pdf). 16 Näher Heuser, Mistrades bei Börsengeschäften, 2013, S. 146 ff., die in der MistradeRegelung eine schuldrechtliche Verpflichtung der Handelsteilnehmer gem. § 328 BGB erblickt, auf die Verwirklichung des Erfüllungsanspruchs gegenüber dem zentralen Kontrahenten zu verzichten, wenn der spiegelbildliche Vertrag aufgrund eines Mistrades aufgehoben wird. Dies erscheint unnötig kompliziert und konstruiert; tatsächlich dürften die Börsenbedingungen nicht nur die Aufhebung des vom Antragsteller, sondern auch die Aufhebung des komplementären Geschäfts (das seinerseits zu nicht marktgerechten Preisen zustande gekommen ist) erlauben. 17 BGH, AG 2020, 909 Rn. 22 f. = ZIP 2020, 2279; näher Heuser, Mistrades bei Börsengeschäften, 2013, S. 68 ff.; Lindfeld, Die Mistrade-Regeln, 2008, S. 53 ff.; Jaskulla, WM 2012, 1708, 1714; allgemein zur Verfassung der Wertpapierbörse Kaufhold, ZHR 184 (2020), 562 ff. 18 Dazu neben BGH, AG 2020, 909 Rn. 22 f. = ZIP 2020, 2279 noch BGH, ZIP 2020, 1808 Rn. 35 ff. 19 BGH, AG 2020, 909 Rn. 21 ff. m. w. N.; s. dazu noch unter II. 2. a).

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2. Kommissionsvertragliche Pflichten des Kreditinstituts im Spiegel der BGH-Judikatur zu Mistrades a) Interessenwahrungspflicht Das im Wertpapiergeschäft übliche Auftreten als Kommissionär20 bringt es mit sich, dass das Kreditinstitut nach § 384 Abs. 1 HGB das Geschäft mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns auszuführen und hierbei das Interesse des Kommittenten wahrzunehmen und dessen Weisungen zu befolgen hat. Aus dieser Interessenwahrungspflicht hat der XI. Zivilsenat des BGH bereits in seinem ersten zu Mistrades ergangenen Urteil die Verpflichtung des Kommissionärs hergeleitet, das Ausführungsgeschäft zu Bedingungen abzuschließen, die den Interessen des Auftraggebers angemessen Rechnung tragen.21 Offenlassen konnte der Senat, ob das Kreditinstitut bereits mit der Vereinbarung des Stornierungsrechts im Allgemeinen und der langen Stornierungsfrist von fünf Handelstagen im Besonderen gegen seine Pflicht aus § 384 Abs. 1 Halbs. 2 HGB verstoßen hat. Mit der Interessenwahrungspflicht unvereinbar sei es jedenfalls, dass der Vertrag mit dem Emittenten die Rückabwicklung des Ausführungsgeschäfts ermögliche, ohne eine Schadensersatzpflicht entsprechend § 122 BGB vorzusehen.22 Dabei konnte und musste der BGH in Ermangelung entsprechenden Parteivortrags vom individualvertraglichen Charakter der MistradeVereinbarung in dem Vertrag zwischen Emittent und Kommissionär ausgehen und auf eine AGB-rechtliche Inhaltskontrolle verzichten.23 Im Urteil vom 23. 6. 2015 hat der Senat sodann die Pflicht des Kommissionärs aus § 384 Abs. 1 Halbs. 2 HGB, in dem Ausführungsgeschäft einen dem § 122 BGB entsprechenden Schadensersatzanspruch zu vereinbaren, in Erinnerung gerufen,24 ohne sich an dem Umstand zu stören, dass das Ausführungsgeschäft an der Börse getätigt worden ist, während es das Urteil vom 25. 6. 2002 mit einem außerbörslichen Geschäft zu tun hatte.25 Darauf wird zurückzukommen sein.26 20

Siehe bereits unter II. 1. BGH, NZG 2002, 920 (921). 22 BGH, NZG 2002, 920 (921): „Den Kunden der Beklagten drohen deshalb erhebliche Vermögensschäden, wenn sie im Daytrading, für das die Kursgarantie der Beklagten im Sekundenhandel insbesondere gilt, Gewinne sofort in neue Geschäfte investieren, dabei verlieren und sodann das erste, gewinnbringende Geschäft als „Mistrade“ rückabgewickelt wird. Diese Pflichtverletzung rechtfertigt aber nicht die Klageforderung, weil die Kläger, wenn in dem Ausführungsgeschäft ein dem § 122 BGB entsprechender Schadensersatzanspruch vereinbart worden wäre, nur den Schaden, der ihnen durch ihr Vertrauen auf die Gültigkeit des Ausführungsgeschäfts entstanden ist, nicht aber den Gewinn aus dem Ausführungsgeschäft, der den Gegenstand der Klage bildet, ersetzt verlangen könnten.“ 23 BGH, NZG 2002, 920 (921), dort auch zur Vereinbarkeit der Klausel mit § 138 BGB. 24 BGHZ 206, 63 Rn. 18 = BKR 2015, 394. 25 Betonung dieses Aspekts bei Fleckner, EWiR 2015, 625, 626; U. Schäfer, BKR 2015, 459, 462 f. 26 Unter IV. 2. 21

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b) Benachrichtigungs- und Weisungsbefolgungspflicht Im engen Zusammenhang mit der Interessenwahrungspflicht stehen die in § 384 Abs. 1 HGB hervorgehobene Pflicht des Kommissionärs zur Befolgung von Weisungen des Kommittenten und die in § 384 Abs. 2 Halbs. 1 HGB geregelte Benachrichtigungspflicht des Kommittenten. Beide sind auch im Rahmen von Mistrades relevant. Vor dem Hintergrund nämlich, dass der Kommissionär den Kommittenten über alle Umstände zu benachrichtigen hat, die für die Ausführung des Geschäfts wichtig sind und Anlass zu Weisungen geben können,27 hat der BGH eine Pflicht des Kreditinstituts erwogen, den Kunden über das Stornierungsrecht zu informieren und eine Weisung einzuholen, ob das Wertpapiergeschäft gleichwohl abgeschlossen werden solle.28 Dürfte eine solche Pflicht angesichts der Verbreitung von MistradeRegelungen zu weit gehen, so ist doch unstreitig, dass das Kreditinstitut verpflichtet ist, den Kunden über die tatsächlich erfolgte Aufhebung des Ausführungsgeschäfts zu unterrichten und auf entsprechende Weisung des Kunden der Aufhebung zu widersprechen und gegebenenfalls auch gerichtlich gegen die Aufhebung vorzugehen.29 Hingegen hat sich der BGH im Urteil vom 22. 9. 2020 zu Recht gegen eine Pflicht des Kreditinstituts ausgesprochen, der Aufhebung auch unabhängig von einer Weisung des Kunden zu widersprechen.30 Begründet hat er dies zwar mit dem möglichen Interesse des Kommittenten daran, „es ohne Rücksicht auf ihre Rechtmäßigkeit bei den Rechtsfolgen der Aufhebung durch eine staatliche Stelle zu belassen“,31 doch kann für Aufhebungsentscheidungen privatrechtlichen Charakters und damit im außerbörslichen Handel nichts anderes gelten. c) Eigen- und Delkrederehaftung Nach § 384 Abs. 3 HGB haftet der Kommissionär dem Kommittenten für die Erfüllung des Geschäfts, wenn er ihm nicht zugleich mit der Anzeige nach § 384 Abs. 2 HGB von der Ausführung der Kommission32 den Dritten namhaft macht, mit dem er das Geschäft geschlossen hat. Hierdurch soll insbesondere verhindert werden, dass der Kommissionär dem Kommittenten später einen weniger leistungsfähigen Dritten unterschiebt und das Geschäft mit dem eigentlichen Vertragspartner für sich oder für

27 BGH, NZG 2002, 920 (921); Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 384 Rn. 7 m. w. N. 28 BGH, NZG 2002, 920 (921). 29 BGH, AG 2020, 909 Rn. 25 ff. = ZIP 2020, 2279, dort (in Rn. 31) auch zur Frage, ob der Kommissionär abweichend von § 385 Abs. 2 HGB, § 665 BGB zur Abweichung von Weisungen verpflichtet sein kann. 30 BGH, AG 2020, 909 Rn. 25 = ZIP 2020, 2279. 31 BGH, AG 2020, 909 Rn. 25 = ZIP 2020, 2279. 32 Zu der in § 384 Abs. 3 HGB vorausgesetzten Anzeige gemäß § 384 Abs. 2 HGB s. statt aller Koller, in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2013, § 383 Rn. 147.

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einen anderen Kommittenten reklamiert.33 Die Eigenhaftung des Kommissionärs bezieht sich allerdings immer nur auf das tatsächlich getätigte Geschäft und muss deshalb nicht nur ausscheiden, wenn dessen Ausführung unmöglich geworden ist,34 sondern auch dann, wenn es wegen eines Mistrade aufgehoben worden ist.35 Zu Recht hat der BGH in seinem Urteil vom 23. 6. 2015 darauf hingewiesen, dass die Aufhebung des nicht marktgerechten Optionsscheingeschäfts auch dann erfolgt wäre, wenn das Kreditinstitut seiner Pflicht, den Dritten namhaft zu machen, nachgekommen wäre, und die Nichtbenennung des Dritten in diesem Fall keine Haftung des Kreditinstituts aus § 384 Abs. 3 HGB zur Folge haben kann: „Eine Besserstellung des Kommittenten im Vergleich zu dieser Rechtslage wird mit § 384 Abs. 3 HGB nicht bezweckt.“36 Die Aufhebung des Wertpapiergeschäfts durch den Emittenten lässt allerdings nicht nur die Eigenhaftung aus § 384 Abs. 3 HGB, sondern gleichermaßen die Delkrederehaftung aus § 394 Abs. 1, 2 HGB entfallen. Auch wenn nämlich das Kreditinstitut, wie im Wertpapiergeschäft üblich, die Haftung für die ordnungsgemäße Erfüllung des Ausführungsgeschäfts übernommen hat, ist nämlich schon in Ermangelung einer Verpflichtung des Emittenten aus dem Ausführungsgeschäft– und damit aufgrund des in § 394 Abs. 2 S. 1 HGB zum Ausdruck kommenden akzessorischen Charakters der Delkrederehaftung – kein Raum für eine Einstandspflicht aus § 394 Abs. 1 HGB. Der BGH hat dies erstmals in der zum außerbörslichen Handel ergangenen Entscheidung vom 25. 6. 2002 ausgesprochen.37 In dem zum Handel im börslichen Freiverkehr ergangenen Urteil vom 22. 9. 2020 konnte er auf die diesbezüglichen Erwägungen zurückgreifen, um unter Hinweis auf die Akzessorieät der Delkrederehaftung und die durch den privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt der Börse ausgelöste Vernichtung des Ausführungsgeschäfts eine Haftung des Kreditinstituts aus § 394 Abs. 3 zu verneinen.38

III. Verhältnis zu §§ 119 ff. BGB 1. AGB und Satzungsregeln Die in der Praxis begegnenden Mistrade-Regeln verlangen seit geraumer Zeit nicht mehr, dass einer der Vertragspartner – typischerweise der Emittent – einem Irrtum erlegen ist, sondern stellen schlicht darauf ab, dass das Geschäft zu einem offen-

33 BGHZ 206, 63 Rn. 14 = BKR 2015, 394; Koller, in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2013, § 383 Rn. 146; Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Morck, HGB, 8. Aufl. 2015, § 384 Rn. 21. 34 BGH, WM 1959, 269 (270). 35 BGHZ 206, 63 Rn. 17 ff. = BKR 2015, 394, dort auch zur (offengelassenen) Frage, ob § 384 Abs. 3 HGB für den Wertpapierhandel durch Handelsbrauch außer Kraft gesetzt ist. 36 BGHZ 206, 63 Rn. 17 = BKR 2015, 394. 37 BGH, NZG 2002, 920 (921). 38 BGH, AG 2020, 909 Rn. 20 = ZIP 2020, 2279; zuvor OLG Schleswig, WM 2020, 195.

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sichtlich nicht marktgerechten Preis zustandegekommen ist.39 Damit wird das Recht zur Vertragsaufhebung von den Voraussetzungen der §§ 119 ff. BGB befreit und zugleich die Frage aufgeworfen, ob die Mistrade-Klausel Raum für das ergänzende Eingreifen der Anfechtungsregeln des BGB lässt oder ob §§ 119 ff. BGB – soweit zulässig40 – abbedungen sein sollen. Rechtsprechung und Schrifttum haben sich bislang nur vereinzelt mit dieser Frage befasst. Im Schrifttum steht die überwiegende Ansicht auf dem Standpunkt, dass eine rahmenvertragliche Mistrade-Regelung die Geltung der §§ 119 ff. unberührt lässt und damit eine zusätzliche Möglichkeit zur Abstandnahme vom Vertrag schafft.41 In der Rechtsprechung finden sich keine eindeutigen Stellungnahmen. In seinem Urteil vom 25. 6. 2002 scheint der XI. Zivilsenat des BGH davon auszugehen, dass §§ 119 ff. BGB nicht durch eine Mistrade-Klausel verdrängt werden, wenn er betont, dass der – in casu gegebene – interne einseitige Kalkulationsirrtum nicht zur Anfechtung berechtige.42 Entsprechendes gilt für das OLG Schleswig, soweit es ausführlich die Anfechtung eines außerbörslichen Wertpapiergeschäfts erörtert.43 Unklar ist die Position des LG Frankfurt/M., soweit es ausführt, dass die Mistrade-Regelung mit Blick auf Anfechtung „ergänzend“ „an diese Stelle“ trete.44 Für die Klärung des Konkurrenzverhältnisses ist im Ansatz zwischen rechtsgeschäftlichen Abreden und Börsenbedingungen zu unterscheiden: a) AGB Hat die Mistrade-Regelung rechtsgeschäftlichen Charakter, kommt eine Verdrängung der §§ 119 ff. BGB in Betracht, wenn und soweit sich der Vereinbarung ein entsprechender Parteiwille entnehmen lässt. Bisweilen sehen die Bedingungswerke ex-

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Abdruck einiger in der Praxis verbreiteten Mistrade-Regeln bei Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 195 ff.; Fleckner/Vollmuth, WM 2004, 1263 f.; speziell zu den Mistrade-Reglen der Börsen Jaskulla, WM 2012, 1708 ff. 40 Zum dispositiven Charakter der §§ 119, 123 BGB sowie den Grenzen der Abdingbarkeit siehe MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, § 119 Rn. 151, § 123 Rn. 86 ff. m. w. N.; speziell zu § 123 BGB: BGH, NJW 2021, 296 Rn. 26 ff.; zu den AGB-rechtlichen Schranken siehe noch unter IV. 2. 41 Fleckner, WM 2011, 585 (591 ff.); Fleckner, WuB I G 2.–1.09; Fleckner/Vollmuth, WM 2009, 1819, 1820; Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen, 2012, S. 46; a. A. Lindfeld, Die Mistrade-Regeln – Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Stornierung von Wertpapiergeschäften im börslichen und außerbörslichen Handel, 2008, S. 119 f. 42 BGH, NZG 2002, 920 (922). 43 OLG Schleswig, RIW 2001, 226. 44 LG Frankfurt/M., Urteil vom 20. 5. 2008, 2 – 19 O 370/07.

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plizit vor, dass Anfechtungsrechte unberührt bleiben.45 Fehlt es an einer entsprechenden Klarstellung und wird auch nicht umgekehrt explizit verlautbart, dass §§ 119 ff. BGB abbedungen sein sollen,46 können sich die Parteien nach allgemeinen Grundsätzen konkludent auf eine Verdrängung der §§ 119 ff. BGB verständigt haben. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass es sich bei den Mistrade-Regeln typischerweise um AGB handelt und deshalb die spezifischen Auslegungsgrundsätze des AGB-Rechts zur Anwendung gelangen,47 der Sinngehalt der Klausel also „nach objektiven Maßstäben, losgelöst von der zufälligen Gestaltung des Einzelfalles und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien, unter Beachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise“ zu ermitteln ist.48 Auch auf Grundlage dieser Grundsätze und ungeachtet der insbesondere in der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Formulierungsverantwortung des Verwenders bleibt durchaus Raum für die Annahme einer konkludent erfolgten Abbedingung der §§ 119 ff. BGB. b) Börsenbedingungen In konzeptioneller Hinsicht abweichend ist die Ausgangslage bei Mistrade-Regeln in den Regelwerken der Wertpapierbörsen.49 Derlei Bedingungen werden nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 BörsG als Satzung erlassen, beanspruchen unabhängig von einer rechtsgeschäftlichen Abrede Geltung und können von den Handelsteilnehmern nicht abbedungen werden.50 Dies schließt eine gerichtliche Kontrolle nicht aus; diese hat im Verhältnis zwischen Handelsteilnehmern inzident und nach zutreffender Ansicht auf Grundlage des § 242 BGB zu erfolgen.51 Die Auslegung der Bedingungen

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Näher Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 44 ff., 195 ff. (dort Abdruck gebräuchlicher Klauseln); Fleckner, WM 2011, 585 (591 f.). 46 Dazu noch unter IV. 2. 47 Näher dazu Ulmer/Schäfer, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 305c Rn. 76 ff.; Lindacher/Hau, in: Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 7. Aufl. 2020, § 305c Rn. 105 ff., jew. mit umf. Nachw. 48 So bereits BGHZ 22, 109, 113. 49 Siehe namentlich Abschnitt III (§§ 23 ff.) der Bedingungen für Geschäfte an der Frankfurter Wertpapierbörse, Stand: 23. 11. 2020 (abrufbar unter: https://cms.boerse-frankfurt.de/fi leadmin/Boerse_Frankfurt_Zertifkate_Zulassungen_und_Regelwerke/Alle_Handelsteilneh mer_Boerse_Frankfurt_Zertifikate/FWB04_2020-11-23.pdf). 50 Näher zur Rechtssetzungsbefugnis des Börsenrats Schwark, in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 5. Aufl. 2020, § 12 BörsG Rn. 19 ff.; eingehend zu historischer Entwicklung und Rechtsnatur der Börsengeschäftsbedingungen Fleckner, ZHR 180 (2016), 458 (464 ff.), freilich auf Grundlage des § 12 Abs. 2 BörsG a. F.; zur Unabdingbarkeit siehe noch unter IV. 2. 51 Schwark, in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 5. Aufl. 2020, § 12 BörsG Rn. 30; Kumpan, in: Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 16 BörsG Rn. 4; Groß, Kapitalmarktrecht, 7. Aufl. 2020, §§ 11 – 14 BörsG Rn. 5.

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richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen über die Auslegung von Gesetzen,52 die freilich im Wesentlichen mit den Grundsätzen über die Auslegung von AGB übereinstimmen. 2. Im Zweifel keine Verdrängung der §§ 119 ff. BGB a) Kein relevanter Überschneidungsbereich aa) Zweck der Mistrade-Regel Soweit es an einer ausdrücklichen Regelung des Konkurrenzverhältnisses fehlt, dürften Wortlaut und Systematik der Mistrade-Regeln unergiebig sein. Was den Zweck der Mistrade-Regel anbelangt, so besteht er zunächst darin, in Fällen, in denen es aufgrund eines Fehlers im technischen System des Kunden oder der Bank oder aufgrund eines Irrtums bei Kurs- oder Limiteingabe zu einer erheblichen Divergenz zwischen Vertrags- und Marktpreis gekommen ist, ganz unabhängig von §§ 119 ff. BGB ein Stornorecht zu gewähren. Dieser Primärzweck der Mistrade-Regelung entspricht zwar – sieht man von noch zu erörternden Unterschieden hinsichtlich der Voraussetzungen eines Mistrade einerseits und eines Anfechtungsrechts nach §§ 119 ff. BGB andererseits ab – dem Zweck der §§ 119 ff. BGB und lässt als solcher keine Aussagen zum besagten Konkurrenzverhältnis zu. Denkbar ist indes, dass die Parteien mit der Mistrade-Regelung das Recht der Parteien zur Abstandnahme von einem Wertpapiergeschäft abschließend regeln wollten, um auszuschließen, dass Wertpapiergeschäfte auch unabhängig von dem Tatbestand eines Mistrade und jenseits der vertraglich vorgesehenen zeitlichen Grenzen und betragsmäßigen Schwellenwerte53 angegriffen werden können. Die Annahme eines abschließenden Charakters wäre umso mehr naheliegend, gäbe es zwischen der Mistrade-Regelung und §§ 119 ff. BGB eine vollständige oder zumindest weitgehende Überschneidung ihres jeweiligen Anwendungsbereichs. In diesem Fall wäre es in der Tat wenig stimmig, die Aufhebung eines Wertpapiergeschäfts an über §§ 119 ff. BGB hinausgehende Voraussetzungen hinsichtlich Frist und wirtschaftlichem Volumen zu knüpfen, bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen indes den Rückgriff auf §§ 119 ff. BGB zu eröffnen. bb) Anfechtbarkeit des Wertpapiergeschäfts als Ausnahmefall Tatsächlich ist der Überschneidungsbereich zwischen der Mistrade-Regel und §§ 119 ff. BGB denkbar gering. Während nämlich die Mistrade-Regeln ganz allgemein und vorbehaltlich in der Klausel formulierter Relevanz- und Schwellenwerte54 52 Dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 133 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017, S. 101 ff. 53 Dazu noch unter IV. 1. 54 Dazu noch unter IV. 1.

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jeden Fehler im technischen System sowie jeden Irrtum bei Kurs- oder Limiteingabe erfassen, machen §§ 119 ff. BGB das Recht zur Anfechtung bekanntlich davon abhängig, dass der Erklärende einem Inhalts- oder Erklärungsirrtum (§ 119 Abs. 1 BGB) oder einem relevanten Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2) erlegen ist oder zur Abgabe der Willenserklärung durch arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung (§ 123 BGB) bestimmt worden ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften werden, wie im Folgenden zu skizzieren ist,55 nur ausnahmsweise erfüllt sein: (i) In der Praxis des computerbasierten Wertpapiergeschäfts mag zwar ein Erklärungsirrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB begegnen. Dass nämlich der äußere Tatbestand der Erklärung nicht dem Willen des Erklärenden entspricht,56 ist bekanntlich beim Versprechen, Verschreiben, Vertippen und Verklicken sowie bei der in § 120 BGB geregelten falschen Übermittlung der Fall,57 so dass namentlich die fehlerhafte Eingabe des Preises oder der Eintrag einer Preisangabe im falschen Feld eines Formulars zur Anfechtung berechtigen.58 So hat denn auch der VIII. Zivilsenat in seinem Urteil vom 26. 1. 2005 für die „Verfälschung des ursprünglich richtig Erklärten auf dem Weg zum Empfänger durch eine unerkannt fehlerhafte Software“ entschieden, dass sich der Irrtum nicht auf die Willensbildung bezieht, vielmehr ein dem Übermittlungsfehler im Sinne des § 120 BGB vergleichbarer Fall des Erklärungsirrtums vorliegt; insbesondere handele es sich nicht um einen (verdeckten) Kalkulationsirrtum, „bei dem der bereits im Stadium der Willensbildung unterlaufe Fehler als Irrtum im Beweggrund (Motivirrtum) grundsätzlich nicht zur Anfechtung berechtigt, auch wenn die falsche Berechnung auf Fehlern einer vom Erklärenden verwendeten Software beruht (…).“59 Doch zeigen schon die Sachverhalte

55 Eingehend zu den Anfechtungsrechten der am außerbörslichen und börslichen Wertpapiergeschäft Beteiligten Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen, siehe 41 ff., 153 ff. 56 Dies kennzeichnet den Erklärungsirrtum, siehe BGHZ 177, 62 Rn. 14. 57 Für dessen Qualifizierung als Fall des Erklärungsirrtums siehe BGH, NJW 2005, 976 (977). 58 So am Beispiel eines fehlerhaften Datentransfers (Eingabe eines Preises von EUR 2.650,–, Verlautbarung eines Preises von EUR 245) BGH, NJW 2005, 976 (977); siehe dazu sogleich im Text. – Es bereitet im Übrigen keine Schwierigkeiten, dass nach § 119 Abs. 1 BGB der Irrtum „bei der Abgabe einer Willenserklärung“ unterlaufen sein muss. Denn obgleich es sich bei dem auf dem Bildschirm aufgezeigten Kurs nur um eine unverbindliche Quotierung und damit um eine invitatio ad offerendum handelt (Fleckner/Vollmuth, WM 2004, 1263, 1267) und die eigentliche Angebotserklärung erst vom Kunden abgegeben wird, die sodann von dem Emittenten angenommen wird, genügt es nach BGH, NJW 2005, 976 (977), dass auch ein die fehlerhafte Eingabe und damit an sich nur das Stadium der invitatio ad offerendum betreffender Irrtum zur Anfechtung berechtigt (mithin bei Abgabe der eigentlichen Willenserklärung erfolgt), wenn er im Zeitpunkt der auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung fortwirkt. 59 BGH, NJW 2005, 976 (977).

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der zu Mistrades ergangenen Entscheidungen,60 dass in der Praxis weniger die fehlerhafte Eingabe zutreffend ermittelter Kurse, sondern vor allem die fehlerhafte Ermittlung des vom Emittenten gestellten Kurses begegnet. „Erklärungen, die auf einen im Stadium der Willensbildung unterlaufenden Irrtum im Beweggrund – Motivirrtum – (BGHZ 139, 177, 180)“ beruhen,61 sind zwar unter den Voraussetzungen des § 119 Abs. 2 BGB und damit bei Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft einer Person oder Sache beachtlich. Der Wert oder Preis eines Wertpapiers bildet aber nach herrschender Meinung keine Eigenschaft, so dass ein Irrtum bei Ermittlung des vom Emittenten zu stellenden Kurses im Allgemeinen nicht nach § 119 Abs. 2 BGB zur Anfechtung berechtigt.62 (ii) Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung dürfte im computerbasierten Wertpapiergeschäft nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Zwar ist es im Ausgangspunkt unbestritten, dass eine arglistige Täuschung auch durch Verschweigen von Tatsachen und damit insbesondere durch stillschweigendes Dulden fremden Irrtums begangen werden kann.63 Derlei Sachverhalte sind im Allgemeinen sogar „praktisch sehr bedeutsam“.64 Voraussetzung ist jedoch stets, dass eine Rechtspflicht zur Aufklärung besteht.65 Eine solche Aufklärungspflicht lässt sich zwar, worauf im Spezialschrifttum zu Wertpapiergeschäften zu Recht hingewiesen worden ist,66 auch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum treuwidrigen Ausnutzen eines Kalkulationsirrtums herleiten67 und muss dann auch dann gelten, wenn der Erklärungsgegner einen an sich beachtlichen, infolge des Ablaufs der Anfechtungsfrist des § 121 BGB aber nicht mehr relevanten Erklärungsirrtum auszunutzen sucht. In der Folge kann dem einem Kalkulationsirrtum erliegenden Emittenten durchaus der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung zustehen.68 Im Rahmen des § 123 60 BGH, NZG 2002, 920; BGHZ 206, 63 = BKR 2015, 394; BGH, AG 2020, 909 = ZIP 2020, 2279; siehe ferner die bei Fleckner, WM 2011, 585 ff. referierten Entscheidungen. 61 BGHZ 177, 62 Rn. 15. 62 BGHZ 16, 54 (57); BGH, BB 1963, 285; so im Grundsatz (und vorbehaltlich eines behördlich oder aufgrund überragender Marktstellung festgesetzen Marktpreises) auch MükoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, § 119 Rn. 139 m. w. N.; mit guten Gründen für Anfechtbarkeit nach § 119 Abs. 2 BGB bei Irrtum über den Börsenkurs eines zugrundeliegenden Basiswerts Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen, 2012, S. 86 f. m. w. N.; allg. in diesem Sinne Soergel/Hefermehl, BGB, 13. Aufl. 1999, § 119 Rn. 51. 63 Statt aller MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, § 123 Rn. 32 ff. m. w. N. 64 MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, § 123 Rn. 32. 65 BGH, NJW 1989, 763 (764). 66 Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen, 2012, S. 91 ff. 67 Grundlegend BGHZ 139, 177 (184 f.); sodann BGH, NZG 2002, 920 (922); BGH, WM 2009, 1500, 1503; weitergehend – für Anfechtungsmöglichkeit entsprechend § 119 Abs. 1 BGB – Heuser, Mistrades bei Börsengeschäften, 2013, S. 163 ff. 68 BGHZ 139, 177 (180); speziell im Zusammenhang mit einem Mistrade BGH, NZG 2002, 920 (922).

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Abs. 1 BGB wird man hingegen schon deshalb positive Kenntnis des Erklärungsgegners hinsichtlich des Irrtums des Erklärenden verlangen müssen, weil Arglist im Sinne des § 123 Abs. 1 BGB gleichbedeutend mit Vorsatz ist69 und deshalb auch bei gröbster Fahrlässigkeit noch nicht vorliegt.70 Ist aber am Erfordernis positiver Kenntnis des Irrtums festzuhalten, bleibt die Anfechung des Wertpapiergeschäfts nach § 123 BGB Ausnahmefällen vorbehalten. (iii) Damit aber zeigt sich in aller Deutlichkeit: Indem die Mistrade-Regeln nicht nur ganz allgemein technische Fehler, sondern jeglichen die in der Klausel formulierten Relevanzschwelle71 überschreitenden Irrtum und damit insbesondere einen nach § 119 BGB grundsätzlich unbeachtlichen Kalkulationsirrtum bei Kurs- oder Limiteingabe erfassen, geht ihr Anwendungsbereich weit über den Kreis der nach §§ 119, 123 BGB zur Anfechtung berechtigtenden Willensmängel hinaus. Die Gerichte hatten es denn auch bislang, soweit sie über die Anfechtbarkeit von Wertpapiergeschäften zu entscheiden hatten, regelmäßig mit unbeachtlichen Kalkulationsirrtümern zu tun; das Vorliegen eines Anfechtungsrechts ist, soweit ersichtlich, in keinem Fall bejaht worden.72 Schon deshalb liegt die Annahme fern, dass eine Mistrade-Klausel (mag sie AGB- oder Satzungscharakter haben) einen Rückgriff auf §§ 119 ff. BGB generell ausschließen soll.73 Dass die Mistrade-Klausel bei Eingreifen der §§ 119 ff. BGB praktisch bedeutungslos würden, steht jedenfalls nicht zu befürchten. b) Keine Verdrängung der §§ 119 ff. BGB aufgrund Handelsbrauch An dem hier befürworteten Nebeneinander von Ziffer IX der Rahmenvereinbarung und §§ 119 ff. BGB änderte sich nichts, wollte man mit einer in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Ansicht74 davon ausgehen, dass es sich bei der MistradeRegelung um einen Handelsbrauch im Sinne des § 346 HGB handelt. Handelsbrauch wäre dann nämlich allenfalls das Stornorecht als solches, nicht dagegen dessen die allgemeinen Anfechtungsrechte verdrängende Wirkung; insoweit fehlt es ersichtlich 69

BGH, NJW 2007, 3057 (3059). BGH, NJW 1977, 1055 (1056); BAG, NJW 2010, 3390 Rn. 22; MüKoBGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, § 123 Rn. 17; ebenso für Täuschung durch positives Tun BGH, NJW 2007, 3057 Rn. 29 m. w. N. 71 Dazu noch unter IV. 1. 72 Fleckner, WuB I G.2 – 1.09: „… dass Anfechtungsrechte in den Mistrade-Entscheidungen zwar vielfach erwähnt, aber niemals bejaht worden sind“; s. ferner BGH, NZG 2002, 920; BGHZ 206, 63 = BKR 2015, 394; BGH, AG 2020, 909 = ZIP 2020, 2279; siehe ferner die bei Fleckner WM 2011, 585 ff. referierten Entscheidungen. 73 Zur Frage, ob ein im Voraus vereinbarter Ausschluss des Anfechtungsrechts aus § 123 Abs. 1 BGB überhaupt wirksam ist, siehe BGH, NJW 2012, 296 Rn. 26 ff. 74 OLG Frankfurt/M., WM 2009, 1032 (1033 f.); Pamp, in: Oetker, HGB, 6. Aufl. 2019, § 346 Rn. 31; siehe auch BGHZ 206, 63 Rn. 19 = BKR 2015, 394, wo offengelassen wird, ob § 384 Abs. 3 HGB für den Wertpapierhandel durch entgegenstehenden Handelsbrauch außer Kraft gesetzt ist. 70

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an der für die Herausbildung eines Handelsbrauchs unerlässlichen Handelsübung,75 zumal nicht wenige Mistrade-Klauseln ausdrücklich klarstellen, dass die gesetzlichen Anfechtungsrechte unberührt bleiben.76 3. Zwischenergebnis Nach allem kann festgehalten werden, dass bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung des Konkurrenzverhältnisses davon auszugehen ist, dass §§ 119 ff. BGB nicht durch eine Mistrade-Klausel verdrängt werden, vielmehr neben dieser zur Anwendung gelangen. Dies gilt sowohl für AGB-förmige als auch für satzungsmäßige Mistrade-Regeln.77

IV. Schranken der Gestaltungsfreiheit 1. Außerbörsliche Geschäfte Die AGB-Kontrolle von im außerbörslichen Handel verbreiteten Mistrade-Klauseln hat bislang die Rechtsprechung, soweit ersichtlich, kaum beschäftigt.78 Das OLG Schleswig hat allerding eine im Vertrag zwischen dem als Kommissionär auftretenden Kreditinstitut und dem Kunden enthaltene Mistrade-Klausel, die eine Rückabwicklung des Ausführungsgeschäfts gestattet, ohne die Partei, die die Aufhebung des Geschäfts begehrt, entsprechend § 122 BGB zum Schadensersatz zu verpflichten, nach § 9 Abs. 1 AGBG a. F. (= § 307 Abs. 1 BGB) für unwirksam erklärt.79 Es befindet sich hierbei zumindest im Ergebnis in Übereinstimmung mit dem überwiegenden Schrifttum.80 Demgegenüber reklamiert die Gegenansicht81 eine Parallele zum Stornorecht des Kreditinstituts gemäß § 8 Abs. 1 AGB-Banken, das es gestattet, 75

Zu diesem Erfordernis RGZ 118, 140; BGH, NJW 1952, 257. Siehe unter III. 1. a). 77 Zu § 32 der Bedingungen für Geschäfte an der Fankfurter Wertpapierbörse siehe noch unter IV. 2. – Im Falle einer individualvertraglichen Mistrade-Regel wäre nach §§ 133, 157 BGB der wirkliche Wille der konkreten Parteien des Rechtsgeschäfts zu ermitteln; vorbehaltlich konkreter Vorstellungen der Vertragspartner bei Abschluss des Vertrags und sonstiger besonderer Umstände wäre allerdings auch in diesem Fall von einem Nebeneinander von Mistrade-Regel und §§ 119 ff. BGB auszugehen. 78 BGH, NZG 2002, 920 (921) musste vom individualvertraglichen Charakter der Mistrade-Regelung ausgehen; siehe dazu bereits unter II. 2. a). 79 OLG Schleswig, ZIP 2004, 1845 (1846 f.). 80 Fuchs, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 307 Rn. 237; Koch, ZBB 2005, 265 (270 f.); Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 183 f.; offengelassen von Fridrich/Seidel, BKR 2008, 497, 499; a. A. Fleckner/Vollmuth, WM 2004, 1263 (1274 f.); Lindfeld, Die MistradeRegeln, 2008, S. 132 ff. 81 So namentlich Fleckner/Vollmuth, WM 2004, 1263 (1274 f.). 76

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vor Rechnungsabschluss fehlerhafte Gutschriften auf Kontokorrentkonten zu stornieren, und vom BGH bislang AGB-rechtlich nicht beanstandet worden ist.82 Allerdings dürfte der Vergleich mit dem Stornorecht aus § 8 Abs. 1 AGB-Banken hinken, soll dieses doch einem vermuteten Mitverschulden auf Seiten des Bankkunden Rechnung tragen, während das Stornorecht im Falle eines Mistrade typischerweise (wenn auch nicht zwangsläufig) auf einen in der Sphäre des Emittenten angesiedelten Irrtum oder Fehler reagiert.83 Näher liegt vielmehr ein Rückgriff auf die Wertung des § 119 BGB, der zwar die Irrtumsanfechtung zulässt, damit indes die Rechtsfolge des § 122 BGB verbindet. Vor diesem Hintergrund wird man die Angemessenheit der Mistrade-Klausel im Einklang mit dem OLG Schleswig und der überwiegenden Lehre nicht nur von einer hinreichenden zeitlichen Begrenzung des Stornorechts und einer hinreichend schweren Abweichung vom marktgerechten Preis,84 sondern überdies von der Einräumung eines Anspruchs auf Ersatz des Vertrauensschadens abhängig machen müssen.85 Dieser Schadensersatzanspruch muss für den typischen Fall, dass sich der Emittent auf Mistrade beruft, nicht dem Kommissionär, sondern dem Kunden zustehen. Dies verlangt für den Fall, dass sich die Mistrade-Klausel nicht im Kommissionsvertrag, sondern im Vertrag zwischen dem Emittenten und dem Kommissionär befindet, nach einer spezifisch AGB- und schadensrechtlichen Berücksichtigung des fremdnützigen Charakters des Kommissionsgeschäfts.86 Zur Erinnerung: Der BGH ist, basierend auf der Annahme des individualvertraglichen Charakters der Mistrade-Vereinbarung im Vertrag zwischen dem Emittenten und dem Kreditinstitut (Kommissinär), von der Wirksamkeit dieser Abrede ausgegangen und hat dadurch für den Schutz des Kunden gesorgt, dass er in dem Abschluss eines auf Haftung des Emittenten entsprechend § 122 BGB verzichtenden Ausführungsvertrags eine Verletzung der Interessenwahrungspflicht des Kommissionärs aus § 384 Abs. 1 Halbs. 2 HGB erblickt und in der Folge die Haftung des Kommmissionärs auf das negative Interesse des Kunden ausgesprochen hat.87 Im Rahmen der AGB-Kontrolle ist hingegen dem Umstand, dass der Kommissionär auf Rechnung des Kunden handelt, dadurch Rech-

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Vgl. BGHZ 87, 246 (252); s. ferner BGH, NZG 2002, 920 (921) (unter 4.). So zu Recht Koch, ZBB 2005, 265 (271); Fridrich/Seidel, BKR 2008, 497 (499). 84 Dazu Fridrich/Seidel, BKR 2008, 497 (498 f.); Koch, ZBB 2005, 265 (270); Fleckner/ Vollmuth, WM 2004, 1263 (1275). 85 OLG Schleswig, ZIP 2004, 1845 (1846 f.); Fuchs, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 12. Aufl. 2016, § 307 Rn. 237; Koch, ZBB 2005, 265 (270 f.); Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 183 f.; offengelassen von Fridrich/Seidel, BKR 2008, 497 (499); a. A. Fleckner/Vollmuth, WM 2004, 1263 (1274 f.); Lindfeld, Die Mistrade-Regeln, 2008, S. 132 ff. 86 Insoweit berechtigt die Kritik von Fleckner (WuB I G 2. – 1.04) an OLG Schleswig, ZIP 2004, 1845 (1846 f.); siehe ferner Koch, ZBB 2005, 265 (272). 87 BGH, NZG 2002, 920 (921); siehe dazu bereits unter II. 2. a). 83

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nung zu tragen, dass im Rahmen des § 307 Abs. 1 BGB88 nicht nur die Interessen des Kommissionärs als Vertragspartner des Emittenten, sondern auch die Interessen des Kunden als durch das Ausführungsgeschäft wirtschaftlich Betroffener in die Interessenabwägung einzustellen sind.89 Diese Interessen aber streiten – ausgehend vom Leitbildcharakter der §§ 119, 122 BGB – dafür, die Angemessenheit einer Mistrade-Klausel im Vertrag zwischen dem Emittenten und dem Kreditinstitut von der Anerkennung einer Schadensersatzpflicht des Emittenten entsprechend § 122 BGB abhängig zu machen,90 wobei die Verpflichtung zwar gegenüber dem Kreditinstitut besteht, dieses indes den Schaden des Kunden im Wege der Drittschadensliquidation geltend macht.91 Dass eine davon abweichende Klausel auch eine Schadensersatzpflicht des Kunden ausschließt und damit beide Seiten gleichermaßen begünstigt und belastet, vermag jedenfalls die Wirksamkeit der Klausel schon deshalb nicht zu retten, weil es in der Praxis stets der Emittent und damit der Verwender der AGB ist, der sich auf Mistrade beruft.92 Wie der gesetzliche Anspruch aus § 122 BGB hat auch der vertraglich begründete Anspruch nur das negative Interesse des Kunden zu umfassen.93 Im Übrigen bleiben dem Verwender nicht nur Anfechtungsrechte aus §§ 119 ff. BGB,94 sondern auch Einwendungen gegen den Mistrade erhalten. So kann insbesondere der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung eröffnet sein.95 Hingegen wird das Ausführungsgeschäft nur im Ausnahmefall nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein; Voraussetzung hierfür ist nämlich, dass auf Seiten des Kunden, dem die Äquivalenzstörung zum Vorteil gereicht, eine besonders verwerfliche Gesinnung festzustellen ist96 und diese dem Kreditinstitut als Kommissionärin zugerechnet werden kann.97 88

Aus dem im Text genannten Grund müssen zwar auch §§ 308, 309 BGB Anwendung finden, doch lässt sich aus diesen Vorschriften nichts gegen die Mistrade-Klausel herleiten; zutr. Fridrich/Seidel, BKR 2008, 497 (498). 89 Allg. BGH, NJW 1982, 178 (180); Fuchs, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 2016, § 307 Rn. 134 m. w. N.; für vorliegenden Zusammenhang Fridrich/Seidel, BKR 2008, 497 (498); Koch, ZBB 2005, 265 (268 f.); Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 177 f.; für weitergehende Berücksichtigung von Drittinteressen Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, 1992, S. 172 ff. 90 Zu den weiteren Folgen der Unwirksamkeit der Klausel für das Rechtsverhältnis zwischen Kommissionär und Kommittent (insbesondere für eine kommissionsvertragliche Mistrade-Klausel) siehe Koch, ZBB 2005, 265 (272). 91 Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 383 Rn. 21; Koller, in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2013, § 383 Rn. 140 m. w. N. 92 Koch, ZBB 2005, 265 (271). 93 Zur Abgrenzung s. BGH, NZG 2002, 920 (921). 94 Dazu unter III. 95 Speziell im Zusammenhang mit einem Mistrade BGH, NZG 2002, 920 (922); allg. BGHZ 139, 177, 180. 96 BGH, NJW 2010, 363 Rn. 6 („unerlässlich“); BGHZ 146, 298 (303) m. w. N. 97 Dazu Koller, in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2013, § 383 Rn. 131 ff. m. w. N.

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2. Börsliche Geschäfte Vor dem Hintergrund, dass die in den Börsenbedingungen enthaltenen MistradeKlauseln aufgrund ihres Satzungscharakters nicht der AGB-Kontrolle nach § 305 ff. BGB, wohl aber im Verhältnis zwischen Handelsteilnehmern auf Grundlage des § 242 BGB einer Inhaltskontrolle zu unterziehen sind,98 sieht sich § 32 der Bedingungen für Geschäfte an der Fankfurter Wertpapierbörse Bedenken seitens des Schrifttums ausgesetzt, soweit nach dieser Klausel das Recht zur Anfechtung sowie im Falle der Aufhebung von Geschäften durch die Geschäftsführung der Börse „gegenseitige Ansprüche der Parteien auf Schadensersatz ausgeschlossen“ sein sollen.99 Was zunächst den Ausschluss der Schadensersatzhaftung anbelangt, so gilt es allerdings zu beachten, dass die Börse weder Partei der Wertpapiergeschäfte noch anderweitig durch die Mistrade-Klausel und deren Vollzug betroffen ist und es sich somit bei den Börsenbedingungen bei AGB-rechtlicher Betrachtung um Drittbedingungen handeln würde.100 Zwar handelt es sich bei dem zentralen Kontrahenten, der sich zwischen die Parteien des Börsengeschäfts schiebt und Partei eines jeden Börsengeschäfts wird, häufig – und so insbesondere im Falle der Frankfurter Wertpapierbörse – um eine 100 %-ige Tochter der Trägergesellschaft der Wertpapierbörse.101 Auch dies macht die Wertpapierbörse allerdings weder rechtlich noch wirtschaftlich zur Partei des Börsengeschäfts. Vor diesem Hintergrund sprechen die besseren Gründe gegen die Heranziehung der für den außerbörslichen Handel entwickelten Grundsätze. Soweit der BGH in seinem zum Börsenhandel ergangenen Urteil vom 23. 6. 2015 auf sein zum außerbörslichen Handel ergangenes Mistrade-Urteil vom 25. 6. 2002 verweist und betont, der Kommittent werde dadurch geschützt, dass der Kommissionär in dem Ausführungsgeschäft eine dem § 122 BGB entsprechenden Schadensersatzanspruch zu vereinbaren hat,102 kann dem mithin schon deshalb nicht zugestimmt werden, weil die Unterschiede zwischen dem außerbörslichen und dem börslichen Handel und die mit dem Satzungscharakter verbundene Unabdingbarkeit der Börsenbedingungen unberücksichtigt bleiben.103

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Siehe unter III. 1. b). Für Unwirksamkeit Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 183 f.; a. A. Jaskulla, WM 2012, 1708 (1713). 100 Näher Ulmer/Habersack, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 305 Rn. 31 ff.; Pfeiffer, in: Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 7. Aufl. 2020, § 305 Rn. 29. 101 Siehe für die Deutsche Börse AG: https://deutsche-boerse.com/dbg-de/media/deutscheboerse-spotlights/spotlight/Clearing-ber-die-zentrale-Gegenpartei-Stabilit-t-f-r-Finanzm-rkte147972. 102 BGHZ 206, 63 Rn. 18 = BKR 2015, 394. 103 Zutr. Fleckner, EWiR 2015, 625 (626); U. Schäfer, BKR 2015, 459 (462 f.); siehe dazu bereits unter II. 2. a). 99

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Die vorstehenden Grundsätze beanspruchen im Übrigen auch hinsichtlich des Ausschlusses von Anfechtungsrechten Geltung.104 Auch insoweit trägt § 32 der Bedingungen für Geschäfte an der Fankfurter Wertpapierbörse dem berechtigten Anliegen der Börse Rechnung, die Aufhebung von Börsengeschäften an klar definierte Voraussetzungen zu binden und in der Folge eine Überlagerung der Mistrade-Regeln durch die auf die individuellen Verhältnisse eines Marktteilnehmers abstellenden Anfechtungsregeln des BGB auszuschließen.105

V. Fazit Mistrade-Klauseln in den AGB von Emittenten tragen einem berechtigten Interesse an der Stornierbarkeit von zu nicht marktgerechten Preisen zustande gekommenen Wertpapiergeschäften Rechnung. Sie stehen neben den Anfechtungstatbeständen der §§ 119 ff. BGB und lassen deren Anwendbarkeit grundsätzlich unberührt, mögen auch die Voraussetzungen einer Irrtums- oder Arglistanfechtung nur ausnahmsweise vorliegen. Die Angemessenheit der Mistrade-Klausel verlangt allerdings, dass derjenige, auf dessen Initiative die Aufhebung des Wertpapiergeschäfts erfolgt (im Regelfall also der Emittent), der wirtschaftlich betroffenen Gegenseite (und damit im Regelfall dem Kunden als Kommittent) zum Ersatz des negativen Interesses verpflichtet ist. Für die Bedingungen für Geschäfte an einer Wertpapierbörse gelten Besonderheiten: Ihre durch § 12 Abs. 1 Nr. 2 BörsG vorgegebene Satzungsqualität, ihr Charakter als „Drittbedingungen“ und die Angewiesenheit des Börsenhandels auf rechtssicher handhabbare Voraussetzungen eines Stornorechts schließen es aus, im Rahmen des § 242 BGB die für Emittentenbedingungen geltenden Grundsätze unbesehen heranzuziehen. Der Ausschluss von Schadensersatzansprüchen und von Anfechtungsrechten in § 32 der Bedingungen für Geschäfte an der Frankfurter Wertpapierbörse ist deshalb nicht zu beanstanden.

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Im Rahmen von außerbörslichen Geschäften dürfte der Frage, ob Anfechtungsrechte durch die Emittenten-AGB ausgeschlossen werden können, keine gesteigerte Bedeutung zukommen. Denn zum einen ist es im Allgemeinen der Emittent selbst, der einem Irrtum erliegt (siehe bereits unter IV. 1.); zum anderen kommt es im Rahmen des Ausführungsgeschäfts auf die Person des Kommissionärs an, so dass Willensmängel des Kommittenten grundsätzlich unbeachtlich sind, s. G. Hager, AcP 180 (1980), 239, 240; Koller, in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2013, § 383 Rn. 129. 105 So im Ergebnis auch Jaskulla, WM 2012, 1708 (1712 f.); a. A. Clauss, Anfechtungsrechte bei Wertpapiergeschäften zu nicht marktgerechten Preisen (Mistrades), 2012, S. 179 ff.

Der Vertragszulieferer als Pendant zum Vertragshändler Eine Untersuchung zur geschäftsbesorgungsvertraglichen Rechtsnatur von Kfz-Zulieferverträgen Von Michael Martinek

I. Einleitung: Innovative Dogmatik Unser verehrter Jubilar Johannes Hager ist – im besten Sinne des Wortes – ein „Dogmatiker“ der Zivilrechtswissenschaft – und zwar ein herausragender; und man darf annehmen, dass er sich selbst die Qualifikation als Dogmatiker gern zu eigen macht, vielleicht angesichts seiner Bescheidenheit ohne das Epitheton „herausragend“, das ihm aber der Jubilant durchaus bescheinigen darf. Während außerhalb der Jurisprudenz der „Dogmatiker“ nicht selten mit einer Mentalität des engstirnigen Festhaltens an auch überholten Lehrmeinungen, wenn nicht gar mit einer unmodernen Beharrlichkeit und einer orthodoxen Abwehrhaltung gegenüber innovativen Vorstößen verbunden wird, genießen unsere rechtswissenschaftlichen Dogmatiker gerade im Zivilrecht nach wie vor und mit gutem Grund ein erfreuliches Ansehen in ihrem Bemühen um hermeneutisches Erklären und Verstehen der normativen Regelungen, um begriffliche Systembildung sowie um kohärente Rationalität der Subsumtionsvorgänge. Ohne die von ihnen geschaffene Dogmatik wäre es schlecht bestellt um die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und rationale Überprüfbarkeit der Rechtsanwendung; vieles wäre der Beliebigkeit von „Meinungen“ anheimgestellt. Selbstverständlich greift die lebendige zivilrechtliche Dogmatik auch stets neuere Entwicklungen der Praxis auf, um hieraus „dogmatische“ Konsequenzen zu ziehen, ihre bisherigen Ergebnisse in Frage zu stellen und notfalls zu korrigieren. An Beispielen für die Fruchtbarkeit und Unentbehrlichkeit innovativer dogmatischer Jurisprudenz ist das (bisherige) Lebenswerk unseres Jubilars Johannes Hager überreich, wovon sein bahnbrechendes Aufsatzschrifttum und seine wegweisenden Kommentierungen der letzten dreißig Jahre umfangreiches Zeugnis ablegen. Innovative Dogmatiker seines Schlages haben ein Gespür für sich ankündigende Theorieverschiebungen, für aufziehende Paradigmenwechsel, für Schwerpunktverlagerungen zwischen herrschenden und Mindermeinungen sowie für sich ändernde „Rechtsnaturbestimmungen“. Deshalb dürfen die folgenden Überlegungen auf die Aufmerksamkeit unseres Jubilars spekulieren; sie betreffen die Rechtsnatur von Zulieferverträgen, vor allem (aber nicht nur) Kfz-Zulieferverträgen bei deren dogmatischer Erfassung sich ein Wandel anbahnen könnte – oder jedenfalls: sollte. Im Folgenden soll die – neue –

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Rechtsfigur des Vertragszulieferers näher vorgestellt werden. Eins vorab: Der Vertragszulieferer liefert nicht etwa Verträge zu – so wenig wie der Vertragshändler mit Verträgen handelt (oder der Zitronenfalter Zitronen faltet); er versteht sich vielmehr im Gefüge unseres Wirtschaftsaufbaus als das Pendant zum Vertragshändler, vor allem (aber nicht nur) zum Vertragshändler in der Kfz-Branche, der bekanntlich als Absatzmittler nach seinem Vertragshändler(rahmen)vertrag (und konkretisierenden Ausführungsgeschäften) mit dem Hersteller zur weisungsgebundenen Absatzförderung des Produkts verpflichtet ist. Der Vertragszulieferer ist auf der vorgelagerten Produktionsstufe als Teile-Hersteller nach seinem Zuliefer(rahmen)vertrag (und konkretisierenden Ausführungsgeschäften) mit dem Hersteller des Endprodukts zur weisungsgebundenen Entwicklung, Herstellung und (meist produktionssynchronen) Lieferung des Vorprodukts verpflichtet; ihn trifft eine fremdinteressenwahrende Vorproduktionspflicht. Wie der Vertragshändlervertrag ist auch der Zuliefervertrag in erster Linie auf eine kaufmännische Geschäftsbesorgung gerichtet – quod est demonstrandum.

II. Die Fragwürdigkeit der rein kaufrechtlichen Qualifikation von Zulieferverträgen Mit Zulieferverträgen sind allgemein die langfristigen Vertragsbeziehungen zwischen industriellen Herstellern und ihren Vorlieferanten gemeint: Die Hersteller ziehen sich zur Verringerung der Fertigungstiefe in vielen Produktionsbereichen inzwischen weithin auf konstruktive Planungsaufgaben und auf den Zusammenbau (Assembling) vorgefertigter Einzelteile für ihre Endprodukte zurück1 – Stichwort: Outsourcing2 –, während die (oft zahlreichen und netzförmig organisierten) Zulieferer 1

Die mittlere Fertigungstiefe in der Automobilindustrie wird bei ca. 25 % veranschlagt, d. h. durchschnittlich wird ein Outsourcing-Anteil von etwa 75 % der Produktion von Zulieferern geleistet, vgl. dazu Bremenkamp, Rechtliche Governance von Zulieferverträgen, 2021, S. 1; Schneider, Modernes Sourcing in der Automobilindustrie, 2011, S. 1. 2 Mit „Outcourcing“ ist im Kfz-Sektor Folgendes gemeint: Die Entwicklung und Produktion sämtlicher zur Automobilherstellung erforderlichen Bestandteile und Zubehörteile würde für eine Vielzahl von hochspezialisierten Erzeugnissen (Scheinwerfer, Sitze, Zigarettenanzünder, Spiegel, Einspritzpumpen, Lenkgestänge, Bremssysteme, Airbags usw.) den Aufbau umfangreicher Produktionsstätten, den Einsatz besonders ausgebildeter Arbeitskräfte und aufwendiger Werkzeugmaschinen sowie ständige Forschungsanstrengungen zur Verbesserung der Produkte und Fertigungsmethoden erfordern. Vor allem die Bindung technischer Produktionsmittel in einem der planerischen Automobilkonstruktion nachgelagerten und der zusammenbauenden Automobilherstellung vorgelagerten Feld schlüge sich negativ auf die Kostenstruktur der Endprodukt-Hersteller nieder. Für sie bietet es sich daher an, ihre eigene Fertigungstiefe zu verringern, das heißt die Fertigung von abgegrenzten Einzelteilen aus ihrem Herstellungsprozess auszulagern und selbständigen, auf die Fertigung des jeweiligen Einzelteils spezialisierten Unternehmen zu übertragen. Mit der zunehmenden Auslagerung der Produktion und Verringerung der eigenen Fertigungstiefe reduziert sich der Endproduzent immer mehr auf die Aufgaben eines bloßen Assemblers, Montierers und Delegierers, der die

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ihnen die jeweiligen, nach Maßgabe der herstellerseitigen Spezifikationen gefertigten Vorprodukte, meist „just in time“ (JIT) oder gar „just in sequence“ (JIS) liefern.3 Treibende Kraft für die Ausgestaltung von Zulieferverhältnissen und Leitbild für viele andere Branchen ist dabei seit jeher die Automobilindustrie; die Kfz-Zulieferverhältnisse und -verträge bilden seit Jahrzehnten die Orientierungsmuster etwa auch für die Bereiche der elektronischen Unterhaltungsindustrie, der Haushaltsgeräte, der Baumaschinen und anderer komplexer Konsum- oder Investitionsgüter als MassenQualitätsprodukte.4 Üblicherweise werden Zulieferverträge, d. h. Zulieferrahmenund Ausführungsverträge mit konkretisierenden Lieferabrufen und mit den branchenüblichen vorherigen „Nomination Letters“5, von der Rechtsprechung und dee herrschenden monographischen Literatur sowie dem Kommentar- und Aufsatzschrifttum als werklieferungs- und damit kaufvertragliche Rechtsverhältnisse (§§ 433 ff. BGB, 373 ff. HGB i. V. m. 650 Satz 1 BGB – seit 01. 01. 2018, vorher § 651 Satz 1 BGB) mit Dauerschuldcharakter qualifiziert. Dies braucht hier kaum umfänglich belegt, sondern lediglich in Erinnerung gerufen zu werden. Das einschlägige monographische Schrifttum kommt unter Auswertung der sonstigen Literatur und Rechtsprechung insoweit beinahe einhellig zu diesem Ergebnis6 ; dasselbe gilt angeforderten und angelieferten Einzelteile nur noch zum fertigen Produkt zusammensetzt, vgl. dazu Fandel/Reese, ZfB 1989, 55. 3 Die JIT-Produktion beobachtet besonders die Reihenfolge (sequence), in der die einzelnen Bauteile in der Montage verarbeitet werden (reihenfolgesynchrone Produktion). 4 Vgl. zu den Anfängen Nagel/Riess/Theis, Der Lieferant on line. Just-in-Time-Produktion und Mitbestimmung in der Automobilindustrie, 1990, S. 18 ff.; Altmann/Sauer (Hrsg.), Systemische Rationalisierung der Zulieferindustrie, 1989, S. 1 ff.; Martinek, Zulieferverträge und Qualitätssicherung, 1991, S. 1 ff.; dazu Borgwardt, ZIP 1992, 966 (Rezension); Zibell, Die Just-in-Time-Philosophie – Grundlagen, Wirtschaftlichkeit, 1990, S. 1 ff.; Wildemann (Hrsg.), Just-in-Time, Produktion und Zulieferung, 2. Aufl. 1989; Welker, Produktionstiefe und vertikale Integration, 1993; zu neueren Entwicklungen Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. B 251 ff.; Bopp, Hersteller-Zulieferer-Beziehung: Strukturen und Perspektiven, in: Diez/ Reindl/Brachat (Hrsg.), Grundlagen der Automobilwirtschaft, 5. Aufl. 2012, S. 359 ff.; vor allem neuerdings Bremenkamp, Rechtliche Governance von Zulieferverträgen, 2021. 5 Vgl. zu den verschiedenen Vertragsgestaltungen Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 77 ff.; Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste (Hrsg.), Das rechtliche Verhältnis von Automobilherstellern und ihren Zulieferern, WD 7-238/07, 2007, S. 7; Nagel, Der Betrieb 1991, S. 319 ff.; speziell zu den im Automobilbereich üblichen Nomination Letters vgl. Spehl/Schilling, BB 2013, 202 ff.; das komplexe Vertragswerk eines Kfz-Zuliefervertrags umfasst regelmäßig Allgemeine Einkaufsbedingungen, Rahmenliefervereinbarungen, Einzelbestellungen, Qualitätssicherungsvereinbarungen, Lagervereinbarungen, Transportvereinbarungen, Versicherungsvereinbarungen, Kontroll- und Dokumentationsvereinbarungen sowie Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen. Die Dauer von Zulieferverträgen wird regelmäßig an die Laufzeit eines Produkts angepasst, soll den Herstellerbedarf für die volle Lebenszeit eines Modells abdecken und auch die spätere Ersatzteilversorgung sicherstellen. 6 Grundlegend Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, insbes. S. 127 ff.; diese Studie, eine von Klaus Hopt betreute Habilitationsschrift, bildet bis heute die ausführlichste monographische Untersuchung über Zulieferverträge; vgl. neuerdings Bremenkamp, Rechtliche Governance von Zulieferverträgen, 2021, insbes. S. 45 ff.; diese in-

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für das meist rechtspraktisch orientierte Aufsatzschrifttum.7 Zweifel daran werden auch in der Rechtsprechung nicht laut. Lapidar befindet der 8. Zivilsenat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 zum UN-Kaufrecht: „Zulieferverträge (sind) auch dann Kaufverträgen gleichzustellen, wenn der Zulieferer die zu liefernden Waren nach Vorgaben und Anweisungen des Auftraggebers herstellt“.8 In dem jüngst wieder ausgebrochenen Zulieferstreit zwischen dem größten deutschen Kfz-Hersteller (bzw. seinen Töchtern) und einem bedeutenden, weltweit tätigen Zulieferunternehmen (bzw. seinen Töchtern)9 gehen das OLG Düsseldorf10 und das OLG Celle11 in ihren (noch nicht rechtskräftigen) Entscheidungen aus dem Jahr 2020 ohne Weiteres und mit Selbstverständlichkeit von einer kaufvertraglichen Rechtsnatur aus. Aus der Kommentarliteratur sei nur die Stimme von Patrick C. Leyens im Standardkommentar von Baumbach/Hopt zitiert, wonach der Zuliefervertrag „ein Austauschvertrag (ist), der nach dem Inhalt der Hauptpflicht des Zulieferers einen Dauerwerklieferungsvertrag darstellt. Da er die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand hat, unterliegt er seit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz über § 650 S. 1 BGB voll dem Kaufrecht“.12 Gegen diese „voll“ kaufrechtliche Qualifizierung der ganz herrschenden Meinung zieht nun aber eine exponierte Mindermeinung zu Felde, die sich in ersten zaghaften Ansätzen bis ins Jahr 1991 zurückverfolgen lässt13 und inzwischen in den BGB-Großkommentar Staudinger mit dem Kernsatz Eingang gefunden hat: „Eine bedeutsame Rolle spielt das Geschäftsbesorgungsrecht für Zulieferverträge“.14 Für diese Mindermeinung sind namentlich die paradigmatischen Kfz-Zulieferverträge „in Wirklichkeit“ durch ein „ausgeprägtes geschäftsbesorgungsvertragliches der Interessenunterordnung des Zulieferers gegenüber dem Hersteller gekennzeichnet“, was „weitreichende Konsequenzen für das Regelungsprogramm der Rechte und Pflichten der Parteien“ haben soll.15 Einen nennenswerten Zuspruch hat diese Position offenbar (bisher) nicht gefunden, weder in der Rechtsprechung, noch in der Literatur – und auch nicht bei unserem Jubilar Johannes Hager, der sich sogar gesprächsweise beinahe befremdet über die „geschäftsbesorgungsvertragliche Theorie“ vernehmen terdisziplinär und rechtsvergleichend angelegte Studie vernachlässigt allerdings teilweise die dogmatischen Probleme der Rechtsanwendung im Wege der Subsumtion. 7 Vgl. etwa Nagel, Der Betrieb 1991, 319; Kessel/Passauer, BB 2004, 1974; Lange, NJOZ 2013, 577. 8 BGH, Urt. v. 24. 09. 2014 – VIII ZR 394/12 –, juris, unter Hinweis auf OLG Oldenburg, IHR 2008, 112, 117 und OLG Frankfurt am Main, NJW 1992, 633. 9 Dazu Martinek, jM – juris Die Monatszeitschrift 2020, 316. 10 OLG Düsseldorf, Urt. v. 05. 02. 2020 – VI-U 4/19 (Kart) –, juris. 11 OLG Celle, Urt. v. 8. 12. 2020 – 13 U 65/19 (Kart) –, juris. 12 Leyens, in: Baumbach/Hopt, HGB, 40. Aufl. 2021, Einl. vor 373 Rn. 30 a. E. 13 Martinek, Zulieferverträge und Qualitätssicherung, RWS-Skript 229, 1991. 14 Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. B 251; vgl. schon Staudinger/Martinek, 2007, § 675 Rn. B 251 und Staudinger/Martinek, 1995, § 675 Rn. D 88. 15 Martinek, jM – juris Die Monatszeitschrift 2020, 316 (319).

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ließ.16 In Wirklichkeit fehlt es dieser „Theorie“ keineswegs an einer überzeugenden zivilrechtsdogmatischen Begründung, wie sie hier einleitend (oben I.) als unerlässlich für eine nachvollziehbare Rechtsanwendung apostrophiert wurde. Ausgangspunkt der Hypothese ausgeprägter, wenn nicht dominanter geschäftsbesorgungsvertraglicher Rechtsnaturelemente jedenfalls in den typischen, vielfach prototypischen und paradigmatischen Kfz-Zulieferverträgen sind zunächst die beunruhigenden Zweifel an der Angemessenheit einer rein kaufrechtlichen Qualifizierung. Denn schon eine oberflächliche Betrachtung der modernen Kooperationsverhältnisse und der feingliedrigen Arbeitsteilung zwischen der Hersteller- oder Assemblerebene einerseits und der vorgelagerten Zulieferebene muss durchaus Misstrauen und Bedenken gegenüber der Vorstellung heraufbeschwören, Zulieferverträge unterlägen „voll dem Kaufrecht“. Jedenfalls bilden unter den Erscheinungsformen der Zulieferverträge, die sich in den verschiedenen Branchen zu beachtlicher Vielfalt aufgefächert haben, die regelmäßig mit Forschungs- und Entwicklungs-Aufträgen, mit Qualitätssicherungsvereinbarungen und Just-in-time-Abreden einhergehenden Verträge mit den Kfz-Zulieferern eine derartige Intensität und Diversität von Kooperationsinhalten ab, dass man deren normative Bewältigung allein mit den Mitteln des Kaufrechts skeptisch hinterfragen muss, insbesondere seit sich die Entwicklung durch die Digitalisierung überschlägt. Kennzeichnend für die modernen Zulieferverträge im Automobilsektor, bei denen der Endhersteller gewöhnlich über eine hervorstechende Markt- und damit Verhandlungsmacht verfügt und den Vertragsinhalt zumeist vorgibt, ist vor allem eine weitgehende Ausrichtung schon der innovativen Entwicklungsaufgaben, mehr noch des spezifizierten Produktionsablaufs des Zulieferers auf die Bedürfnisse des Herstellers: Der Zulieferer wird am Anfang als ausgelagerte Forschungs- und Entwicklungsabteilung zur Erarbeitung von „Systemlösungen“ und Spezifikationen tätig (etwa für ein Einspritzsystem oder Radaufhängungssystem oder ein Lenk- und Achsensystem) und hat am Ende dafür zu sorgen, dass die jeweils benötigten Teile ohne Zwischenlagerung im Zeitpunkt der geplanten Montage am Endprodukt verfügbar sind. Auf beiden Seiten bedarf es einer möglichst umfassenden vertraglichen Absicherung der Kooperationsziele, -gegenstände und -verfahren und dabei eines Höchstmaßes an Verlässlichkeit und Loyalität, Vertraulichkeit und Sorgfalt, wobei die „Führungsrolle“ des Herstellers unübersehbar ist. Nicht nur müssen vielfach die Einzelteile von höchster Präzision nach den Spezifikationen des Herstellers gefertigt werden. Zumeist ist der Hersteller auch darauf angewiesen, dass der Zulieferer nach seinen Vorgaben und Weisungen an der weiteren Verbesserung der Einzelteile bzw. deren Fabrikation arbeitet und die Forschungsund Entwicklungsergebnisse dem Hersteller zur Verfügung stellt. Beide Kooperationspartner müssen sich zudem auf kurzfristige quantitative oder qualitative Produktionsänderungen und auf eine schnellstmögliche Anpassung an überraschende Bedarfslagen bzw. umgestellte Spezifikationen einstellen, wobei wiederum der Hersteller die Direktiven formuliert. Unsicherheitsfaktoren der Bedarfseinschätzung müs16 Bei einer Flasche „Rust en Vrede – Shiraz 2017“ im Restaurant „Thunderbolt“ in Johannesburg-Cresta/Northcliff, Südafrika, am 20. 08. 2019.

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sen nach Kräften neutralisiert werden, damit es weder zu Über-Lieferungen noch zu Lieferengpässen kommt; Fortschritte etwa in der Sicherheitskonzeption, der Funktionsweise oder der Handhabbarkeit müssen ohne Zeitverlust umgesetzt werden. Hierzu bedarf es raffinierter Dispositions- und Abrufsysteme, auf die sich die Parteien ebenso wie auf die erforderlichen Qualitätssicherungsverfahren verständigen müssen; auch hier ist die autokratische Steuerung durch den Hersteller so nötig wie offensichtlich. Der Hersteller delegiert oft genug weit mehr als bloß die Tauglichkeitsprüfungen des Zulieferteils im Hinblick auf die Verwendung im Endprodukt. Können sich solche Kooperationsverhältnisse wirklich noch in einer kaufvertraglichen Rechtsnatur erschöpfen?

III. Die Bedeutung der vertragstypologischen Geschäftsbesorgungsformel 1. Allgemeines Der Weg von der Hypothese oder spekulativen „Behauptung“ zur rechtsdogmatischen „Begründung“ eines ausgeprägten geschäftsbesorgungsvertraglichen Rechtsnaturelements in den modernen Kfz-Zulieferverträgen kann – nach dem Stand der geschäftsbesorgungsrechtlichen Dogmatik – nur über die sogenannte „Geschäftsbesorgungsformel“ führen, die sich um die Beantwortung der von § 675 Abs. 1 BGB aufgeworfenen (aber offen gelassenen) tatbestandlichen Frage bemüht, wann ein Dienst- oder Werkvertrag „eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand“ hat.17 Diese Formel wurde schon vom Reichsgericht entworfen, das unter einer Geschäftsbesorgung eine selbständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art verstand, für die ursprünglich der Geschäftsherr selbst zu sorgen hatte, die ihm aber durch einen anderen (den Geschäftsführer) abgenommen wird.18 Der BGH hat sie nach dem Krieg in einer Weise verfeinert, die auch von der herrschenden Literatur inhaltlich übernommen wurde, wiewohl oft nicht ohne paraphrasierende Modifikationen. Danach ist die entgeltliche Geschäftsbesorgung i. S. des heutigen § 675 Abs. 1 BGB dadurch gekennzeichnet, dass sich der Geschäftsbesorger gegenüber dem Geschäftsherrn dazu verpflichtet, eine selbständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen auszuführen.19 Schlagwortartig lässt sich artikulieren: dienst- oder werkvertragliche Tätigkeit, Selbständigkeit, Wirtschaftlichkeit, Vermögensbezug, Fremdnützigkeit, Interessenwahrung. In dieser Formel kommen jene vertragstypologischen Qualifikationsmerkmale zum Ausdruck, die in ihrer Summe einen starken Indizcharakter für die Einschlägigkeit des geschäftsbesorgungsver17

Vgl. dazu ausführlich Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. A 9 bis A 22; zu den historischen Hintergründen der Geschäftsbesorgungsformel Ehmann, in: FS für Martinek, 2020, S. 147 ff., insbes. 152 ff. 18 RGZ 97, 61 (65 f.); RGZ 109, 299 (301). 19 BGH, DB 1959, 168; BGHZ 45, 223 (228).

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traglichen Regelungsprogramms begründen, das in § 675 Abs. 1 BGB durch den Verweis auf die dort genannten auftragsrechtlichen Vorschriften in Ergänzung bzw. Änderung der dienst- oder werkvertraglichen Regelungen konkretisiert wird. Der Tatbestand der entgeltlichen Geschäftsbesorgung nach § 675 Abs. 1 BGB ist als ein offener, typologischer und normativer Tatbestand zu verstehen und am ehesten über diese typologischen Qualifikationsmerkmale der Geschäftsbesorgungsformel zu erfassen, denen eine indizielle Bedeutung für die wertungsgetragene vertragstypologische Zuordnung zur entgeltlichen Geschäftsbesorgung zukommt. 2. Dienst- und werkvertragliche Tätigkeiten des Zulieferers An der Voraussetzung einer Verpflichtung des Zulieferers zu dienst- oder werkvertraglichen Tätigkeiten fehlt es gewiss nicht, wie schon die vorstehende Beschreibung der Vertragsinhalte gezeigt hat: die Vorgänge in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Zulieferers beispielsweise von PKW-Fahrersitzen, von CabrioDächern oder digitalisierten Armaturenbrettern für ein bestimmtes Kfz-Modell, die Erarbeitung von Immaterialgüterrechten an den technischen Konstruktionsergebnissen, die Beschaffung und der Einsatz modellspezifischer Werkzeuge und Maschinen, die exakte spezifikationsgemäße Herstellung der Einzelteile, die Erprobung von Modellen, Tauglichkeitsprüfungen des Zulieferteils im Hinblick auf die Verwendung im Endprodukt oder die Maßnahmen des Zulieferers zur Qualitätskontrolle der Zulieferprodukte vor deren exakt fristgemäßer Anlieferung und dem Einbau sind nur die wichtigsten „Tätigkeiten“ teils dienstvertraglicher, oft genug aber erfolgsbezogen werkvertraglicher Art im modernen Kfz-Zuliefer“geschäft“. Entgeltet werden diese Tätigkeiten entweder über Zusatzverträge oder im Wege der „Einpreisung“ durch eine Umlage auf den Teilepreis bei der Serienproduktion.20 Bekanntlich können die Tätigkeiten eines Geschäftsbesorgers auf rechtsgeschäftliche, rechtsgeschäftsähnliche oder tatsächliche Handlungen gerichtet sein. Der Ausdruck „Geschäft“ weist bekanntlich nicht etwa auf eine Beschränkung der möglichen Geschäftsbesorgertätigkeiten auf Rechtshandlungen im engeren Sinne der Rechtsgeschäfte hin. Der Abschluss von Verträgen mit Unter-Zulieferern (SubUnternehmern)21 kommt ebenso als geschäftsbesorgerische Tätigkeit in Betracht wie etwa die Verbindung, Vermischung und Verarbeitung oder die Kontrolle von Lagerbeständen oder von Qualitätsvorgaben.

20

Vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 05. 02. 2020 – VI-U 4/19 (Kart), juris, Rn. 3. Auch die Zulieferunternehmen können ihrerseits Unter-Zulieferbeziehungen begründen, so dass sich ein mehrstufiges System ausformen kann. Die Systemzulieferer setzen ihrerseits eine Outsourcing-Strategie ins Werk und bündeln ihre Beziehungen zu Subzulieferern (sog. Tier 2-Lieferanten), an die sie vielfach die Vertragsbedingungen ihrer eigenen Vertragsbeziehung mit dem Endhersteller weitergeben, vgl. Volker/Neu, Supply Chain Collaboration, 2008, S. 20. 21

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3. Selbständigkeit Die Tätigkeit des Geschäftsbesorgers muss nach der Geschäftsbesorgungsformel „selbständig“ sein. Dieses Erfordernis ergibt sich schon daraus, dass die von § 675 Abs. 1 BGB in Bezug genommenen Auftragsregeln (anders als andere Vorschriften des Auftragsrechts, die auch unselbständige Tätigkeiten genügen lassen22) durchweg eine selbständige Tätigkeit voraussetzen. Das gilt insbesondere für § 665 BGB (Abweichen von Weisungen), §§ 666, 667 BGB (Auskunfts-, Rechenschafts- und Herausgabepflicht) sowie § 670 BGB (Maß der erforderlichen Aufwendungen). So gesehen erscheint die Betonung einer selbständigen Tätigkeit des Geschäftsbesorgers als Ableitung aus dem auftragsrechtlichen Rechtsfolgenprogramm des § 675 Abs. 1 BGB gerechtfertigt. Für die hier aufgeworfene Fragestellung bedeutet dies, dass diejenigen Tätigkeiten des Zulieferers, die dienst- oder werkvertraglichen Charakter tragen, „selbständig“ von ihm ausgeführt werden müssen, um zu einer geschäftsbesorgungsvertraglichen Qualifikation als Rechtsnaturelement des Typenkombinationsvertrags zu gelangen. Es ist allerdings leicht erkennbar, dass dies nur die dienstvertraglichen, rein tätigkeitsbezogenen Beschäftigungen des Zulieferers, nicht aber die werkvertraglichen, erfolgsbezogenen betrifft, denn ein Werkunternehmer ist bei der Herstellung des Werkes ohnehin selbständig und eigenverantwortlich tätig, mag er auch im Einzelfall weisungsgebunden sein23 ; insofern kommt der Betonung der Selbständigkeit des Geschäftsbesorgers bei werkvertraglichen Tätigkeiten keinerlei einschränkende Funktion zu. Im Bereich der dienstvertraglichen Tätigkeiten des Zulieferers bezieht sich das Merkmal der Selbständigkeit aber nicht etwa auf die Verrichtung als solche, sodass etwa rein mechanische Tätigkeiten wie die Bedienung einer Maschine ausgenommen werden müssten. Es kennzeichnet vielmehr die Rechtsbeziehungen zwischen Geschäftsbesorger und Geschäftsherrn dahingehend, dass dem Geschäftsbesorger ein Ermessens- und Gestaltungsfreiraum im Überlegen und Handeln gerade gegenüber dem Geschäftsherrn verbleiben muss. Insoweit ist die Lage unterschiedlich gegenüber dem (unentgeltlichen) Auftrag, bei dem ein solcher Ermessens- und Gestaltungsfreiraum durchaus fehlen kann. Der Dienstverpflichtete aber muss als Geschäftsbesorger (wie ohnehin regelmäßig ein Werkunternehmer) über einen Handlungsspielraum oder „verantwortlichen Entscheidungsspielraum“ verfügen. Gemeint ist damit eine wirtschaftliche, persönliche und sachliche Selbständigkeit 22

Der nach §§ 662 ff. BGB (unentgeltlich) Beauftragte kann – worauf schon in den Protokollen hingewiesen wurde (Prot. II, S. 352) – bei seiner Tätigkeit sowohl eine selbständige wie eine völlig unselbständige Stellung innehaben. Im Auftragsrecht finden sich dementsprechend Vorschriften, die teils auf beide Tätigkeitsprofile, teils auf selbständige und teils auf unselbständige Tätigkeiten zugeschnitten sind. Hier gehen die eine selbständige Tätigkeit voraussetzenden Vorschriften bei einer in casu unselbständigen Tätigkeit des Beauftragten ins Leere und vice versa. 23 Vgl. § 645 Abs. 1 BGB, der von einer „von dem Besteller für die Ausführung erteilten Anweisung“ spricht.

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des Geschäftsbesorgers, die ihm ein Macht- und Entscheidungsreservat bei seiner Tätigkeit für den Geschäftsherrn sichert. Er besitzt einen „Spielraum … im Überlegen und Wollen, im Selbsthandeln wie im Anleiten oder Beaufsichtigen anderer“.24 Zu Recht hat schon das RG festgestellt, dass „Dienste, die keine selbständige Betätigung des Willens und der Überlegung fordern“, nicht der Geschäftsbesorgung unterfallen. Die Selbständigkeit des Geschäftsbesorgers darf freilich nicht als Unabhängigkeit und Ungebundenheit missverstanden werden. Sie ist keine absolute Selbständigkeit, vielmehr eine nur relative, nämlich fremdnützige und gebundene Selbständigkeit; sie steht insgesamt „im Dienste“ des Geschäftsherrn und ist an die Wahrung seiner Vermögensinteressen geknüpft. Eine Weisungsbindung in einzelnen oder auch grundsätzlichen Belangen (§§ 675, 665 BGB) ändert an der geschäftsbesorgerischen Selbständigkeit ebenso wenig wie die interessenwahrende Treuepflicht und die daraus fließende Auskunfts-, Benachrichtigungs- und Rechenschaftspflicht. Die Selbständigkeit steht im Spannungsverhältnis zur Weisungsgebundenheit und Interessenwahrungspflicht des Geschäftsbesorgers, durch die sie aber nicht stranguliert werden darf. Typischerweise bedient sich der Geschäftsherr des Geschäftsbesorgers nicht zuletzt deshalb, weil er dessen kompetente Selbständigkeit, sachkundige Ermessensausübung und eigenverantwortliche Auswahl von Handlungsalternativen für seine Vermögensinteressen nutzbar machen will. Die geschuldete Tätigkeit wird dem Geschäftsbesorger nicht en detail vorgeschrieben, sondern nur rahmenartig nach dem erwarteten Inhalt und/oder Erfolg beschrieben, sodass der Rahmen eigenverantwortlich ausgefüllt zu werden vermag. Der Geschäftsherr belässt dem Geschäftsbesorger zu allermeist bewusst einen Freiraum. „Das Element der selbständigen Aufgabenwahrnehmung kann beim Zulieferer bejaht werden“, heißt es in der grundlegenden Studie von Marina WellenhoferKlein25, gefolgt von dem Hinweis: „Er ist selbständiger Unternehmer und hat trotz der Weisungen des Abnehmers in der Regel einen Spielraum für eigenverantwortliche Überlegungen und Willensbildung.“26 Dem ist nichts hinzuzufügen. Das von der Geschäftsbesorgungsformel betonte Merkmal der Selbständigkeit markiert freilich noch keine ausreichende Grenze zwischen dem Dienstverpflichteten, für den allein die §§ 611 BGB ff. einschlägig sind und dem dienstvertraglichen Geschäftsbesorger nach § 675 Abs. 1 BGB. Während ein Werkunternehmer bei der Herstellung des Werkes ohnehin immer selbständig und eigenverantwortlich tätig ist, kann ein Dienstverpflichteter sowohl selbständig wie unselbständig tätig sein, denn die §§ 611 ff. BGB umfassen sowohl „freie“ wie „abhängige“ Dienstverträge. Ist der Dienstverpflichtete selbständig tätig, dann muss er allerdings ungeachtet dieses typologischen Qualifikationsmerkmals der Geschäftsbesorgungsformel nicht notwendig Geschäftsbesorger sein, denn andere typologische Qualifikationsmerkmale der 24

So schon Isele, Geschäftsbesorgung, 1935, S. 103 f. Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 149. 26 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 149 unter Hinweis auf Steinmann, Qualitätssicherungsvereinbarungen zwischen Endproduktherstellern und Zulieferern, 1993, S. 26. 25

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entgeltlichen Geschäftsbesorgung (Wirtschaftlichkeit, Vermögensbezug, Fremdnützigkeit, Interessenwahrungscharakter) können völlig fehlen; diese sind daher sowohl für werk- wie für dienstvertragliche Tätigkeiten des Zulieferers regelmäßig besonders prüfungsbedürftig. 4. Wirtschaftlichkeit In der Tat: Die selbständige Tätigkeit des Geschäftsbesorgers zeichnet sich nach der Geschäftsbesorgungsformel auch durch einen wirtschaftlichen Charakter aus. Durch das Merkmal der Wirtschaftlichkeit kann die Tätigkeit des (entgeltlichen) Geschäftsbesorgers gegenüber derjenigen eines bloßen Dienstverpflichteten nach § 611 ff. BGB oder bloßen Werkunternehmers nach §§ 631 ff. BGB näher qualifiziert werden, bei denen der wirtschaftliche Charakter der Tätigkeit zwar im Regelfall, aber nicht – wie bei der entgeltlichen Geschäftsbesorgung – praktisch durchweg vorliegt. Mit dem wirtschaftlichen Charakter ist nicht etwa gemeint, dass die geschuldete Tätigkeit einen wirtschaftlichen Wert aufweisen muss; dies ist angesichts ihrer Entgeltlichkeit ohnehin der Fall. Auch reicht der gleichfalls charakteristische Vermögensbezug (dazu sogleich, sub 5.) der Tätigkeit des Geschäftsbesorgers und der damit verbundene wirtschaftliche Effekt für den Geschäftsherrn nicht aus. Keinesfalls darf das Merkmal der Wirtschaftlichkeit – wozu man versucht sein könnte – als schlichte Wiederholung oder Betonung des Vermögensbezugs angesehen bzw. mit dem Vermögensbezug gleichgesetzt werden. Vor allem wird die Tätigkeit speziell wirtschaftlicher Art nicht dadurch entbehrlich, dass man nicht nur einen Vermögensbezug, sondern einen „unmittelbaren Vermögensbezug“ verlangt.27 Der wirtschaftliche Charakter der Geschäftsbesorgertätigkeit ist auch nicht danach zu beurteilen, ob die Tätigkeit der wirtschaftlichen Interessensphäre des Geschäftsherrn (!) angehört.28 Das Qualifikationsmerkmal der Wirtschaftlichkeit zielt schließlich auch nicht auf eine besonders rationelle, kostensparende oder gar effektive und insofern „wirtschaftliche“ Tätigkeit ab. Vielmehr ist mit dem Erfordernis einer Tätigkeit wirtschaftlicher Art gemeint, dass die Tätigkeit des Geschäftsbesorgers der Art nach dem Bereich des Wirtschaftslebens im weiteren Sinne angehören muss und nicht in davon (mehr oder weniger) abgehobenen Bereichen wie etwa der Kunst und Musik, der Religion, der Pädagogik, der Wissenschaft oder der Heilkunst angesiedelt sein darf, die zwar Vermögensbezug für den Geschäftsherrn haben mögen, aber nicht dem Wirtschaftsleben angehören. Diese Überlegungen machen es apodiktisch plausibel, dass der Rechtsanwender bei einer Qualifikation von dienst- oder werkvertraglichen Tätigkeiten des Zulieferers nach Maßgabe der Geschäftsbesorgungsformel mit dem Merkmal der Wirtschaftlichkeit ebenso wenig Probleme hat wie mit dem Merkmal der Selbständigkeit. So konnte denn auch schon Wellenhofer-Klein im Jahr 1999 spartanisch festhalten, was bis heute unbezweifelbar ist: „Die ausgeübte Tätigkeit (des Zulieferers) 27 So aber wohl Musielak, Entgeltliche Geschäftsbesorgung, in: BMJ (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 2 1981, S. 1209 (1224 ff.). 28 So aber noch Isay, Die Geschäftsführung, 1900, S. 44 f.

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ist auch wirtschaftlicher Art, da sie der Art nach dem Bereich des Wirtschaftslebens im weiteren Sinne angehört.“29 5. Vermögensbezug Die selbständige Tätigkeit des Geschäftsbesorgers bedarf aber nach der Geschäftsbesorgungsformel immer auch eines Vermögensbezuges, genauer: eines Bezuges zum Vermögen des Geschäftsherrn. Wellenhofer-Klein lässt eine geschäftsbesorgungsvertragliche Qualifikation von Zulieferertätigkeiten im Ergebnis daran scheitern, dass es an einer Wahrnehmung objektiv fremder Vermögensinteressen fehle.30 Die Werkherstellung und -lieferung seien „originäre Aufgaben des Werkunternehmers …, die dieser im eigenen Interesse tätigt und anbietet“. Es gehe dem Zulieferer um eine Leistung an einen anderen und nicht um die Tätigkeit eines Geschäfts für einen anderen. Dem muss widersprochen werden. Dabei erscheint es allerdings tunlich, zwischen dem Vermögensbezug und der Fremdnützigkeit (dazu sogleich, sub 6.) sowie schließlich dem Interessenwahrungscharakter der Geschäftsbesorgertätigkeit (sub 7.) zu unterscheiden und nicht nur allgemein von einer Wahrnehmung objektiv fremder Vermögensinteressen zu sprechen. Dem Qualifikationsmerkmal des Bezugs der Tätigkeit zum Vermögen des Geschäftsherrn, das sich schon aus der Auskunfts-, Rechenschafts- und Herausgabepflicht des Geschäftsbesorgers nach §§ 666 und 667 BGB rechtfertigt, kommt neben dem wirtschaftlichen Charakter der Tätigkeit des Geschäftsbesorgers durchaus eine eigenständige Bedeutung zu, die es verbietet, den Vermögensbezug und die Wirtschaftlichkeit der Geschäftsbesorgertätigkeit gleichzusetzen. Gewiss darf sich der Vermögensbezug nicht darin erschöpfen, dass der Geschäftsherr ein Entgelt für die Tätigkeit entrichten muss, denn Vermögensbezug bezeichnet nicht den Vermögenswert der Tätigkeit. Vielmehr muss sich die Tätigkeit jenseits ihrer Entgeltlichkeit und zusätzlich zu ihrem wirtschaftlichen Charakter auf das Vermögen des Geschäftsherrn auswirken. Von den selbständigen Verrichtungen des Geschäftsbesorgers muss eine Einflussnahme auf den Vermögensstatus des Geschäftsherrn ausgehen, weshalb namentlich die Erhaltung und Verwaltung höchstpersönlicher Interessen und Werte des Dienstberechtigten oder des Bestellers, die Förderung und Verfolgung seiner höchstpersönlichen Anliegen und Ziele mangels Vermögensbezugs keine Geschäftsbesorgung darstellen. Nicht notwendig ist allerdings, dass das Vermögen des Geschäftsherrn vermehrt oder vermindert werden soll; auch das Halten eines Vermögensbestandes in Abwehr von Bedrohungen ist eine Tätigkeit mit Vermögensbezug. Der Vermögensbezug darf 29

Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 149. Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 149 bis 151 in Auseinandersetzung insbes. mit Saxinger, Zulieferverträge im deutschen Recht, 1993, S. 148 und mit Staudinger/Martinek, 1995, § 675 Rn. D 88, heute ganz ähnlich Staudinger/ Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. B 251. 30

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nicht nur reflexartig, zufällig oder über eine unabsehbare kausale Ereigniskette nur mittelbar zutage treten. Andererseits braucht die Tätigkeit keineswegs unmittelbar die Verwaltung des Vermögens zum Gegenstand und Inhalt zu haben. Sowohl ein objektbezogenes wie auch ein kausalitätsbezogenes Erfordernis der Unmittelbarkeit des Vermögensbezuges ginge zu weit. Auch bedeutete es eine ungebührliche Einengung, wenn man eine unmittelbare Relevanz der Geschäftsbesorgertätigkeit für das Vermögen des Geschäftsherrn verlangte.31 Die geschäftsbesorgerische Tätigkeit muss aber auf eine nicht nur mittelbare Einflussnahme auf das Vermögen angelegt sein, also nach der Lebenserfahrung in gezielter, gesteuerter und voraussehbarer Weise eine Einwirkung auf das Geschäftsherrnvermögen erwarten lassen. Bezogen auf den Zulieferer bedeutet all dies, dass der geschäftsbesorgungsrechtliche Vermögensbezug seiner vertraglich vereinbarten Tätigkeit auf der Hand liegt. 6. Fremdnützigkeit Die Tätigkeit des entgeltlichen Geschäftsbesorgers muss ferner objektiv im fremden Interesse (des Geschäftsherrn) liegen und insofern objektiv fremdnützig sein. Für dieses Erfordernis, das übrigens auch die Tätigkeit eines (unentgeltlich) Beauftragten nach §§ 662 ff. BGB und die eines auftragslosen Geschäftsführers nach §§ 667 ff. BGB kennzeichnet, stört, wie dort, auch bei der entgeltlichen Geschäftsbesorgung nicht, dass die Tätigkeit „auch“ im Eigeninteresse liegt, sofern sie nur im Schwerpunkt im Fremdinteresse liegt.32 Enger eingrenzend wird allerdings vom BGH, im Anschluss an die reichsgerichtliche Rechtsprechung zur Geschäftsführung ohne Auftrag33 sowie zur entgeltlichen Geschäftsbesorgung34, die objektive Fremdnützigkeit der für § 675 Abs. 1 BGB typischen Tätigkeit dahingehend charakterisiert, dass für den Aufgabenbereich „ursprünglich der Geschäftsherr selbst zu sorgen hatte, (er) ihm aber durch einen anderen (den Geschäftsbesorger) abgenommen wird“.35 Der Geschäftsbesorger müsse „eine bestehende Obliegenheit des Geschäftsherrn wahrzunehmen haben“. Dieser Ansatz geht wohl noch auf Planck zurück, der eine Geschäftsbesorgung dadurch kennzeichnen wollte, dass der Geschäftsherr an der Vor-

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So aber Musielak, Entgeltliche Geschäftsbesorgung, in: BMJ (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 2 1981, S. 1209 (1224) im Anschluss an Crome, System des deutschen Bürgerlichen Rechts, 2. Band, Recht der Schuldverhältnisse, 1902, § 252, S. 613. 32 Zutreffend Musielak, Entgeltliche Geschäftsbesorgung, in: BMJ (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 2 1981, S. 1209 (1225). 33 RGZ 97, 61 (65 f.). 34 RGZ 109, 299 (301). 35 BGHZ 45, 223 (229). Auf die Unterscheidung zwischen einer Leistung an und einer Tätigkeit für einen anderen bezieht sich ausdrücklich Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 150 und schon S. 148 mit Fußn. 16 unter Hinweis auf die vorgenannte BGH-Entscheidung.

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nahme der zu verrichtenden Tätigkeit tatsächlich oder rechtlich gehindert ist.36 Man wird diese Rechtsprechung als wenig plausibel kritisieren müssen.37 In Wirklichkeit kommt es für die Fremdnützigkeit der Geschäftsbesorgung auf eine „ursprüngliche Obliegenheit“ des Geschäftsherrn nicht an. Auch eine „neu geschaffene“, erstmalig durch den Geschäftsbesorgungsvertrag wahrgenommene Tätigkeit reicht dafür aus. Dies zeigen beispielsweise Maßnahmen der Vermögensverwaltung wie der Erwerb eines Mietshauses mit Mitteln des Geschäftsherrn, bei denen Aufgabenkreise neu geschaffen werden und deren Geschäftsbesorgungscharakter geradezu idealtypisch ist. Wenig geeignet zur Konkretisierung der Fremdnützigkeit ist auch die Unterscheidung zwischen Leistungen „für“ und Leistungen „an“ einen anderen, wobei nur die ersteren Geschäftsbesorgungscharakter aufweisen sollen.38 Die Betonung des Tätigwerdens „für“ den Begünstigten wird aus dem Wortlaut des § 662 BGB abgeleitet. Danach wird dem Handwerker oder Bauunternehmer, der „an“ und nicht „für“ den Besteller leistet, von vornherein die Geschäftsbesorgereigenschaft versagt. Diese eher spielerische Begrifflichkeit entbehrt inhaltlich als Versuch einer tauglichen Grenzziehung einer hinreichenden Überzeugungskraft; im Grunde sind Leistungen „an“ und solche „für“ einen anderen in puncto Fremdnützigkeit regelmäßig ununterscheidbar. Ohne Weiteres ist etwa ein Dachdecker, der ein undichtes Dach repariert, alte Schäden beseitigt, neuen Schäden vorbeugt und den Wert des Hauses erhöht, auch „für“ den Besteller und objektiv fremdnützig tätig, indem er „an“ den Besteller leistet. Ebenso erhöht die Reparatur einer Uhr durch den Uhrmacher deren Vermögenswert und liegt im objektiven Fremdinteresse des Bestellers. Dass beide keine Geschäftsbesorger iS des § 675 BGB sind, muss mit einem anderen Qualifikationsmerkmal der Geschäftsbesorgung, nämlich dem des Interessenwahrungscharakters erklärt werden. Ohne Weiteres aber übernimmt der Kfz-Zulieferer bei der typischen Just-in-time-Lieferung ureigene Aufgaben des Herstellers wie Wareneingangskontrolle und Lagerhaltung (Reservelager, Pufferlager), Qualitätssicherung sowie Forschungs- und Entwicklungsleistungen, die dem Hersteller eigene Mühen und Ausgaben ersparen.39 36 Planck, BGB-Komm., 1./2. Aufl. 1900, § 675 Anm. 2; auf dieser Grundlage hat der BGH den Geschäftsbesorgungscharakter eines „planenden“ Architektenvertrages verneint, der auf das Erstellen von Entwürfen, Bauzeichnungen und baulichen Berechnungen gerichtet war; erst die Durchführung der vorbereitend erstellten Pläne stelle eine Obliegenheit des Geschäftsherrn dar; vgl. BGHZ 45, 223 (229). 37 Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. A 20. 38 So aber noch Staudinger/Wittmann, 12. Aufl. 1979, § 675 Rn. 6; Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 1253. 39 Was die Forschungs- und Entwicklungsleistungen betrifft, kann es freilich auch vorkommen, dass die dem Zulieferer vorgegebene Spezifikation des Einzelteils allein auf der selbständigen und alleinigen Entwicklungsarbeit des Herstellers bezüglich des Endprodukts beruht, die ja auch dessen Einzelkomponenten umfasst. In vielen Fällen aber schaltet der Hersteller den Zulieferer als externalisiertes Konstruktionsbüro ein, wobei den Ingenieuren des Zulieferers bisweilen sogar die Pflicht auferlegt wird, ausschließlich Zeichenpapier mit dem Firmenkopf des Herstellers zu verwenden; vgl. Nagel/Riess/Theis, Der Lieferant on line,

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7. Interessenwahrungscharakter Das wohl wichtigste typologische Qualifikationsmerkmal der entgeltlichen Geschäftsbesorgung ist der Interessenwahrungscharakter, genauer: die die Tätigkeit des Geschäftsbesorgers tragende und leitende Wahrnehmung der Vermögensinteressen des Geschäftsherrn. Die selbständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art hat nicht nur fremden Vermögensbezug, sondern ist inhaltlich auf die Förderung und Wahrung des Geschäftsherrninteresses ausgerichtet. Man kann insoweit von subjektiver Fremdnützigkeit sprechen. Gemeint ist damit, dass der Geschäftsführer „mit dem ihm anvertrauten Vermögen treu und gewissenhaft umzugehen“ und „im fremden Interesse fürsorglich tätig zu sein“ hat.40 Wellenhofer-Klein verneint nun einen solchen Interessenwahrungscharakter von Zulieferverträgen mit dem Ergebnis, dass der Zuliefervertrag „keinen Geschäftsbesorgungsvertrag im eigentlichen Sinne (darstellt)“.41 Die Anfertigungen im Rahmen eines Werkvertrags hätten doch typischerweise den konkreten Anordnungen und Wünschen des Bestellers zu folgen. „Man denke nur an den Schulfall des Maßanzugs. Die Werkleistung soll dem Besteller ja den Gegenstand verschaffen, der genau seinen Vorstellungen entspricht und den er so auf dem Markt nicht erstehen kann.“ Werkherstellung und –lieferung seien originäre Aufgaben des Werkunternehmers, die dieser im eigenen Interesse tätige und anbiete. „Insofern arbeitet der Zulieferer nicht zur Wahrung der Interessen des Herstellers, sondern im eigenen Interesse und in Wahrnehmung seiner eigenen wirtschaftlichen Angelegenheiten.“42 Bemerkenswert erscheint dabei besonders, dass Wellenhofer-Klein zwar eine geschäftsbesorgungsvertragliche Rechtsnatur des Zuliefervertrags in toto ablehnt, dann aber doch „Nebenleistungen mit Geschäftsbesorgungscharakter“ ausmacht.43 Sie erkennt bereits in ihrer Studie von 1999, dass die Vereinbarungen über die organisatorischen Voraussetzungen der Just-in-Time-Belieferung, über die Datenübertragung, Logistik, Qualitätssicherung usw. „interessenwahrende Züge“ aufweist. Insbesondere die Übernahme der Warenausgangskontrolle durch den Zulieferer zur Entlastung des Herstellers von der Eingangskontrolle qualifiziert sie zu Recht als „eine Aufgabe, die in den originären Verantwortungsbereich des Herstellers fällt“, weil der Hersteller ihm obliegende Verkehrssicherungspflichten delegiert.44 1990, S. 49; es ist offensichtlich, dass die ständige Suche nach Innovationen zur Verbesserung seiner Produkte eigentlich zu den originären Aufgaben des Herstellers gehört. 40 Vgl. schon Larenz, Schuldrecht II/1, 13. Aufl. 1986, § 56 I. 41 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 148 bis 151; anders aber Saxinger, Zulieferverträge im deutschen Recht, 1993, S. 155 f., der betont, dass bei einer Produktion im Stil einer „verlängerten Werkbank“ die Interessenwahrungspflichten einseitig auf den Zulieferer verteilt sind. 42 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 150. 43 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 151 bis 153. 44 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 152; ebenso schon Merz, Qualitätssicherungsvereinbarungen, Zulieferverträge, Vertragstypologie, Risikoverteilung, AGB-Kontrolle, 1992, S. 253; auch Saxinger, Zulieferverträge im deutschen

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Diese „selbständige Dienstleistung mit Geschäftsbesorgungscharakter“ seien „unabdingbarer Vertragsbestandteil“ eines Zuliefervertrags, aber keine „Hauptpflicht“. Immerhin räumt Wellenhofer-Klein ein, dass die Übertragung von Qualitätssicherungspflichten und weiterer Prüfungsaufgaben geschäftsbesorgungsrechtliche „Elemente“ begründen, wenn auch ohne ein die Rechtsnatur des Zuliefervertrags prägendes Gewicht. Sie spricht von einem „geschäftsbesorgungsrechtlichen Teil des Zuliefervertrags“, auf den sie das Weisungsrecht nach § 665 BGB, die Rechenschaftspflichten nach § 666 BGB und Rückgabepflichten bezüglich Unterlagen und Mustern nach § 667 BGB anwenden will.45 Es ist in der Tat unübersehbar, dass der Zulieferer nach der Qualitätssicherungs- und Just-in-time-Vereinbarung den konkretisierenden Weisungen des Herstellers unterworfen, zu Rechenschaftsberichten, Informationspflichten, zum Know-how-Transfer, „ja sogar zu vorauseilendem Gehorsam in Form von Warnungen vor erkannten Gefahren für das Endprodukt verpflichtet“ ist46 und jedenfalls insofern als dessen interessenwahrender Geschäftsbesorger fungiert.47 Damit sind wir beim punctum saliens angelangt, nämlich der Frage: Hat der KfzZuliefervertrag einen seine Rechtsnatur prägenden Interessenwahrungscharakter? Denn anders als Wellenhofer-Klein und die (noch) herrschende Meinung in der Literatur sowie die (noch) einhellige Rechtsprechung erkennt die geschäftsbesorgungsrechtliche Theorie in den Zulieferverträgen nicht nur ein untergeordnetes, nebenRecht, 1993, S. 148 ff., insbes. 153 ff. spricht nur von „einzelnen geschäftsbesorgungsvertraglichen Elementen“ des Zuliefervertrags. In der Tat delegiert der Hersteller – durch die einvernehmliche Abbedingung bzw. Ersetzung der Rügeobliegenheit – auf den Zulieferer, was das Gesetz ausweislich der §§ 377 ff. HGB primär seinem eigenen Verantwortungsbereich zurechnet: die Kontrolle der Qualität (und Quantität) der erhaltenen Ware; er will sich seine vertraglichen Sachmängelgewährleistungsrechte auch ohne eine zeit-, material-, personal- und damit kostenaufwendige Wareneingangskontrolle sichern. 45 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 153; ebenso Merz, Qualitätssicherungsvereinbarungen, Zulieferverträge, Vertragstypologie, Risikoverteilung, AGB-Kontrolle, 1992, S. 254 f. 46 So Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. B 263. 47 Es ist leicht erkennbar, dass die Qualitätssicherungs- und Just-in-time-Vereinbarungen für den Hersteller über eine Abbedingung der Rügeobliegenheit und Sicherung der Sachmängelgewährleistungsrechte hinausweisen, zielt doch die Auslagerung von Testverfahren, Materialprüfungen, Warenkontrollen etc. auch auf eine Reduktion seiner eigenen Haftungsrisiken beim Inverkehrbringen des Endprodukts ab, die ihn nach dem Produkthaftungsgesetz oder nach der deliktischen Produzentenhaftung aus § 823 BGB von Seiten geschädigter Dritter drohen könnten. Neben der Absicherung vor Schadensersatzansprüchen sowie vor Rückrufkosten ist dem Hersteller dabei zudem an einer Vermeidung von Imageeinbußen und Absatzeinbrüchen in Produkthaftungsfällen gelegen; vgl. Nagel, DB 1991, 319; ders., DB 1993, 2469; Quittnat, BB 1989, 571; Steckler, BB 1993, 1225; dies., WiB 1994, 300; Martinek, in: FS Günther Jahr, 1993, S. 305; ders., Moderne Vertragstypen Bd. III, 1993, S. 326 ff.; Graf von Westphalen, DB 1982, 1655 (1658); ders., in: FS 40 Jahre Der Betrieb, 1988, S. 223 (231 ff.); ders., CR 1990, 567 (569); Steinmann, BB 1993, 873; dies., Qualitätssicherungsvereinbarungen zwischen Endproduktherstellern und Zulieferern, 1993, S. 29 ff.; Saxinger, Zulieferverträge im deutschen Recht, 1993, S. 214 ff.; Ensthaler, NJW 1994, 817 (820 ff.).

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sächliches und unbedeutendes, gleichsam nur akzidentelles, sondern vielmehr ein essentielles, „ausgeprägtes geschäftsbesorgungsvertragliches Element der Interessenunterordnung des Zulieferers gegenüber dem Hersteller“, das „weitreichende Konsequenzen für das Regelungsprogramm der Rechte und Pflichten der Parteien“ haben soll.48 Die entscheidende Frage ist damit, was „Interessenwahrung“ bzw. „Interessenförderung“ bedeutet. Die Geschäftsbesorgungsformel beantwortet diese Frage unmittelbar nicht. Sie verweist mit dem Qualifikationsmerkmal des Interessenwahrungscharakters der Geschäftsbesorgertätigkeit vielmehr auf das vertragsrechtstypologische Grundformenparadigma, wonach der Interessenwahrungscharakter den Geschäftsbesorgungsvertrag nach § 675 Abs. 1 BGB als Subordinationsvertrag und damit als einen eigenartigen, von anderen Verträgen abgehobenen Rechtsstrukturtyp prägt. Dem ist näher nachzugehen.

IV. Die Bedeutung des vertragstypologischen Grundformenparadigmas 1. Grundlagen Wenn der Auftrag (§§ 662 bis 674 BGB) und der Geschäftsbesorgungsvertrag (§§ 675 – 675b BGB) neben den Zahlungsdiensten (§§ §§ 675c – 676c BGB) ihre gesetzliche Regelung in ein und demselben Titel (Titel 12) des besonderen Schuldrechts erfahren haben, obwohl der Auftragsvertrag auf eine unentgeltliche Geschäftsbesorgung im weiteren Sinn und der Geschäftsbesorgungsvertrag auf eine entgeltliche Geschäftsbesorgung im engeren Sinn gerichtet sind, dann ist dies kein Zufall. Diese Vertragsarten repräsentieren nämlich einen einheitlichen Rechtsstrukturtyp, der sich durch seine Eigenart sehr markant von den Rechtsstrukturtypen anderer Vertragsarten wie Kauf-, Werk- oder Dienstverträgen abhebt. Zur näheren Erklärung und zum tieferen Verständnis der eigenständigen und herausragenden Bedeutung von Auftrag und Geschäftsbesorgung im System der schuldrechtlichen Vertragstypen ist eine Besinnung auf jene grundlegenden Interessenstrukturtypen unerlässlich, welche die Zivilrechtsordnung zur Kennzeichnung rechtlich relevanter Interessenbeziehungen im rechtsgeschäftlichen Sozial- und Wirtschaftsverkehr sowie als Orientierungsrahmen zur Einordnung der im BGB geregelten Vertragstypen kennt. Es sind dies die von Franz Beyerle sogenannten „Grundformen persönlicher Verkettung“49 oder von Hans Würdinger sogenannten „Grundtatbestände des Rechtsverkehrs“.50 In diese lassen sich alle Vertragsrechtsverhältnisse nach Maßgabe der jeweils verschiedenen

48

Martinek, jM – juris Die Monatszeitschrift 2020, 316 (319); Staudinger/Martinek/ Omlor, 2017, Rn. B 265. 49 Beyerle, Die Treuhand im Grundriß des deutschen Privatrechts, 1932, S. 16 ff. 50 Würdinger, Gesellschaften, 1. Teil: Recht der Personengesellschaften, 1937, S. 9 ff. und schon Vorwort, S. 7.

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Verknüpfung der Parteiinteressen einteilen.51 Für diese Einteilung in Grundformen oder Grundtatbestände ist nicht wie bei den „Vertragstypen“ der Interessen- und der Leistungsinhalt, sondern auf einer Vorstufe die Interessen- und Leistungsrichtung maßgeblich. Schon Rudolf von Jhering hat auf solcher Grundlage drei Arten rechtsgeschäftlicher Verbindung unterschieden: „Im Tauschcontract will der Wille das eigene Interesse auf Kosten des fremden (Egoismus), in der Schenkung das fremde auf Kosten des eigenen (Selbstverleugnung), in der Societas das eigene im fremden.“52 Aber erst Beyerle und Würdinger haben einen geschlossenen Entwurf für ein System von Interessenstrukturtypen rechtsgeschäftlicher Verbindung erarbeitet, die ungeachtet möglicher Mischtypen „in ihrer Art zugleich erschöpfend“ sind.53 Das Grundformen-Paradigma ist inzwischen in vielfältiger Weise und mit weitreichenden Konsequenzen von der Vertragstheorie dogmatisch fruchtbar gemacht worden.54 2. Interessengegensatz, Interessengleichrichtung und Interessenwahrung Danach kann, zum ersten, ein vertragliches Beziehungsverhältnis auf einen Interessengegensatz gegründet sein, bei dem jeder Vertragspartner einen eigenen Vorteil gegen einen dem anderen gewährten Vorteil erstrebt (do ut des, quid pro quo). Hier werden die gegenseitigen und gegensätzlichen Interessen im Leistungsaustauschgeschäft (Kauf, Tausch, Miete etc.) abgestimmt; jeder wahrt seinen Vorteil und schuldet Rücksicht auf den anderen nur insoweit, als Treu und Glauben im Verkehr es erfordern. Der genau umgrenzte Leistungsinhalt und die strenge Sorgfaltspflicht bei der Erfüllung bilden die „Kehrseite dieses rechtmäßigen Eigennutzes“; die Losung lautet hier: mea res agitur.55 Diesen Verhältnissen des Interessengegensatzes als den Austauschverhältnissen stehen als zweiter „Grundtatbestand“ die Gemeinschaftsverhältnisse gegenüber, die sich durch eine Interessenverbindung oder Interessengleichrichtung der Parteien auszeichnen, deren primäre Folge eine gesteigerte „gesellschaftsrechtliche“ Treuepflicht ist: „Fremdes und eigenes Interesse erscheinen in dieser Form als eins; wer das seinige fördert, fördert das fremde und umgekehrt.“56 Hier

51 Vgl. zum Grundformen-Paradigma ausführlich Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, Vorbem. 23 ff., 28 ff. zu §§ 662 ff. 52 Vgl. von Jhering, Der Zweck im Recht, 1. Band, 3. Aufl. 1893, S. 214; vgl. auch Crome, Die partiarischen Rechtsgeschäfte, 1897, S. 146 f. 53 Würdinger, Gesellschaften, 1. Teil: Recht der Personengesellschaften, 1937, S. 10 ff. 54 Rittner, Die Ausschließlichkeitsbindungen in dogmatischer und rechtspolitischer Betrachtung, 1957, S. 112; Ulmer, Der Vertragshändler, 1969, S. 265; Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkungen und Wirtschaftsverfassung, 1958, S. 89; Paul, NJW 1964, 129 (130); Martinek, Franchising, 1987, S. 239 ff.; ders., Moderne Vertragstypen Bd. 2, 1992, S. 62 ff. 55 Beyerle, Die Treuhand im Grundriß des deutschen Privatrechts, 1932, S. 17. 56 von Jhering, Der Zweck im Recht, 1. Band, 3. Aufl. 1893, S. 218.

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steht man zusammen, nicht sich gegenüber; die Losung lautet: nostra, ergo et mea res agitur.57 Zwischen Interessengegensatz und Interessengleichrichtung steht als eigenständige dritte Grundform der Tatbestand der Interessenwahrung, der durch eine Unterordnung der Interessen der einen Partei unter die der anderen und durch eine im Verhältnis zu Austauschgeschäften gesteigerte Treuepflicht beider Parteien gekennzeichnet ist. Die Losung lautet hier: tua res a me quasi mea agitur.58 Hier haben der Auftrag (die unentgeltliche Geschäftsbesorgung im weiteren Sinne), die Geschäftsbesorgung (die entgeltliche Geschäftsbesorgung im engeren Sinne) ebenso wie die Treuhand ihren Platz. Der Geschäftsbesorger ist bei der Interessenwahrung in einer Weise tätig, in der es der Geschäftsherr sein müsste. Er ist am Erfolg seines Handelns nicht unmittelbar beteiligt, denn ein Gewinn des Geschäftsherrn ist nicht notwendig und stets ein Gewinn des Geschäftsbesorgers (wie bei der Interessengleichrichtung), noch ist der Gewinn des Geschäftsherrn jemals der Verlust des Geschäftsbesorgers (wie beim Interessengegensatz). Die aus dieser Interessenkonstellation entspringenden typischen Rechte und Pflichten sind vor allem „Zurückstellung der eigenen Belange des Geschäftsführers hinter die Interessen des Auftraggebers, Befolgung der Weisungen des Geschäftsherrn.“59 In der jüngeren Doktrin zu den rechtsgeschäftlichen Interessenstrukturtypen60 werden die Verhältnisse des Interessengegensatzes, der gegenläufigen Belangwahrung, also der Austauschgeschäfte oder der „Tauschhand“ als Koordinationsverträge bezeichnet und deutlich von den Subordinationsverträgen, den Verhältnissen der weisungsgebundenen Interessenwahrung, der fremdnützigen Belangwahrung, also des Auftrags, der Geschäftsbesorgung und der Treuhand abgehoben.61 3. Der Geschäftsbesorgungsvertrag als Subordinationsvertrag Im Lichte des Grundformen-Paradigmas wird erkennbar, dass der Geschäftsbesorgungsvertrag nach § 675 Abs. 1 BGB einem einheitlichen und eigenständigen Rechtsstrukturtypus, dem Subordinationsvertrag, mit seinen Besonderheiten zuzuordnen ist, ja diesen paradigmatisch repräsentiert. Die dogmatischen Konsequenzen reichen weit: Bei den Verhältnissen des Interessengegensatzes, den Koordinationsverträgen, bilden die wirtschaftlichen Interessen der Parteien regelmäßig nur das 57

Beyerle, Die Treuhand im Grundriß des deutschen Privatrechts, 1932, S. 18. Beyerle, Die Treuhand im Grundriß des deutschen Privatrechts, 1932, S. 19. 59 Würdinger, Gesellschaften, 1. Teil: Recht der Personengesellschaften, 1937, S. 11; in der gemeinrechtlichen Lehre wurde diese rechtsgeschäftliche Interessenkonstellation teilweise unter dem Begriff der contractus bilaterales inaequales erfasst, der sich nicht allein auf unvollkommen zweiseitige Verträge im heutigen technischen Sinne bezog. 60 Vgl. Martinek, Franchising, 1987, S. 239 ff.; ders., Moderne Vertragstypen Bd. 2, 1992, S. 62 ff. 61 Die (gesellschaftsrechtlichen) Verhältnisse der Interessenverbindungen, die Koalitionsoder Konföderationsverträge, können hier außer Betracht bleiben. 58

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Motiv für ihre den Vertrag konstituierenden Willenserklärungen, sie werden aber nicht zu rechtlichen Interessen. Der wirtschaftliche Motivzusammenhang findet rechtlich seinen Ausdruck in dem Grundsatz der genetischen und funktionellen Abhängigkeit der beiderseitigen, „gegenseitigen“ Leistungen. Bei den Interessenwahrungsverhältnissen, den Subordinationsverträgen, werden nur die wirtschaftlichen Interessen der einen Partei, des Auftraggebers oder Geschäftsherrn, Inhalt des Vertrages und damit rechtliches Interesse, während die des Auftragnehmers, Beauftragten oder Geschäftsbesorgers nur Motiv bleiben. Die Entgeltlichkeit ändert nichts an der interessenstrukturtypologischen Qualifikation des Geschäftsbesorgungsvertrages nach § 675 Abs. 1 BGB als Subordinationsvertrag, selbst wenn aufgrund der Entgeltlichkeit der Geschäftsbesorgertätigkeit ein austauschvertragliches Element mitspielt. Gewiss stehen die Zahlung des Entgelts durch den Geschäftsherrn und die Dienste des Geschäftsbesorgers im Synallagma, doch weist das mandatum mea et tua gratia gegenüber Koordinationsverträgen die Besonderheit auf, dass nicht jeder Vertragsteil primär seinen Vorteil wahrt und Rücksicht auf den anderen nur nach Treu und Glauben im üblichen Verkehr schuldet (mea res agitur). Vielmehr ist der Geschäftsbesorger, wenn auch gegen Entgelt, zuerst zur Wahrung bzw. Förderung fremder Interessen, notfalls unter Hintanstellung konfligierender Eigeninteressen, verpflichtet, von der er nur mittelbar profitiert (tua res a me quasi mea agitur). Die Interessenwahrung bleibt auch bei Entgeltlichkeit doch der Kategorie der contractus bilaterales inaequales verbunden. Zwar ist der Geschäftsbesorgungsvertrag des § 675 Abs. 1 BGB ein gegenseitiger, synallagmatischer Vertrag, bei dem die Leistungen des Geschäftsbesorgers im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Entgeltzahlung des Geschäftsherrn stehen. Der Gegenseitigkeitscharakter (Synallagma) macht den Geschäftsbesorgungsvertrag indes nicht zu einem Austauschvertrag. Der Geschäftsbesorger ordnet sich dem Geschäftsherrn als dessen interessenwahrender und weisungsgebundener Repräsentant unter, wenn auch gegen Entgelt. Das idealtypisch an den Austauschvertrag geknüpfte Synallagma ist beim Geschäftsbesorgungsvertrag als Subordinationsvertrag nachdrücklich geschwächt. Der Austausch wird von der Asymmetrie der Interessenunterordnung überlagert; das Synallagma „hinkt“.62 Der Auftragsvertrag, der auf eine unentgeltliche Geschäftsbesorgung im weiteren Sinne gerichtet ist, und der Geschäftsbesorgungsvertrag, der eine entgeltliche Geschäftsbesorgung im engeren Sinne zum Gegenstand hat, sind durch den gemeinsamen und einheitlichen Rechtsstrukturtypus des Subordinationsvertrags verwandtschaftlich verbunden. Dieser Einordnung trägt das BGB in § 675 Abs. 1 BGB Rechnung, wenn trotz der Entgeltlichkeit des Geschäftsbesorgungsvertrags die Vorschriften des unentgeltlichen Auftrages, §§ 663, 665 – 670, 672 – 674 BGB, für anwendbar erklärt werden. Für den entgeltlichen Geschäftsbesorgungsvertrag kommt damit praktisch das gesamte auftragsrechtliche Regelungsprogramm zum Einsatz, obwohl es auf ein unentgeltliches, nicht-synallagmatisches Vertragsverhältnis zugeschnitten 62

Vgl. Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, Vorbem. 28 zu §§ 662 ff.

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ist; die Entgeltlichkeit der Geschäftsbesorgung wird damit als zweitrangig apostrophiert und der Zuständigkeit des ordinären Dienst- und Werkvertragsrechts überlassen. Sein Gepräge erlangt der Geschäftsbesorgungswerk- oder -dienstvertrag jedenfalls durch das Auftragsrecht, mit dessen Regelungsprogramm das dienst- oder werkvertragliche Synallagma eine Schlagseite erhält. Seit Jahrhunderten schwingt im Geschäftsbesorgungsrecht die Komponente der vom do ut des-Prinzip abweichenden Interessenunterordnung des Mandatars unter die Interessen des Mandanten (mandatum mea gratia) oder unter diejenigen eines Dritten (mandatum aliena gratia) mit. Bei Zulässigkeit eines Mandats im Interesse sowohl des Mandanten wie des Mandatars (mandatum mea et tua gratia) war doch ein Mandat allein im Interesse des Mandatars (mandatum tua tantum gratia) von vornherein „supervacuum“63 ; die Begründung hat bereits Gaius im 2. Jahrhundert n. Chr. gegeben – wie man heute online nachlesen kann: „quod … tu tua gratia facturus sis, id de tua sententia, non ex meo mandatu, facere debes.“64 Die juristisch-heuristische Fruchtbarkeit des Grundformen-Paradigmas und der Einordnung des Auftrags- wie des Geschäftsbesorgungsvertrages als Subordinationsvertrag reicht allerdings über die Erklärung und das Verständnis der Rechtsfolgeanordnung des § 675 Abs. 1 BGB hinaus. Weite Teile der vertragsrechtlichen Dogmatik des Geschäftsbesorgungsrechts werden erst durch die Figur des Subordinationsvertrages verständlich. Die vertragsimmanente Richtigkeitsgewähr des synallagmatischen Austauschverhältnisses der sich koordinierenden Interessengegensätzlichkeit und der gegenläufigen Belangwahrung, wie sie den idealtypischen Kauf kennzeichnet, ist beim Geschäftsbesorgungsvertrag nicht von vornherein und nicht in vollem Umfang gegeben. Denn der Geschäftsbesorgungsvertrag ist durch eine asymmetrische Interessenkonstellation gekennzeichnet, die erst mehrstufig zum beiderseitigen Interessenausgleich führen kann; der Geschäftsbesorger befriedigt seine Interessen erst mittelbar, indem er unmittelbar diejenigen des Geschäftsherrn befriedigt. Mit dieser Interessenasymmetrie ist zwar nicht notwendig ein wirtschaftliches Machtungleichgewicht zwischen den Parteien verknüpft. Vor allem bedeutet die Interessensubordination des Geschäftsbesorgers keineswegs automatisch ein wirtschaftliches Machtgefälle zu seinen Ungunsten. Vielmehr kann die wirtschaftliche Macht bei Geschäftsbesorgungsverträgen nicht anders als bei Kaufverträgen je nach den Verhältnissen der Parteien und des Marktes sowohl ausgeglichen sein als auch ein Übergewicht auf der Seite dieser oder jener Partei aufweisen.65 Entscheidend aber ist, dass die asymmetrische Interessenkonstellation eines Subordinationsvertra63

Zimmermann, The Law of Obligations, 1990, Chapt. 35, p. 421 et seq. Gaius, Institutionum Commentarius Tertius, 156 (Gaius III 156), https://www.thelatinlibrary.com/gaius3.html#156. 65 So mag bei Handelsvertreterverträgen im Regelfall der Unternehmer als Geschäftsherr, bei Bankverträgen häufig die Bank als Geschäftsbesorgerin die wirtschaftlich überlegene Partei sein, während etwa zwischen einem Werbemittler als Geschäftsbesorger und einem Werbetreibenden als Geschäftsherrn oft ein wirtschaftlich ausgewogenes Machtverhältnis bestehen wird. 64

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ges im Falle eines Machtungleichgewichts der Parteien von vornherein nur in vergleichsweise schwächerem Maße zu einem Interessenausgleich der Parteien mit vertragsimmanenter Richtigkeitsgewähr, tendenziellem Gerechtigkeitsgehalt und virtueller marktwirtschaftlicher Ergebnisrichtigkeit zu führen vermag; es fehlt die Unmittelbarkeit einer Koordination komplementärer Interessen. So erklärt sich der für den Rechtsstrukturtypus des Subordinationsvertrags gegenüber den Austauschverträgen von vornherein erhöhte rechtliche Regelungs- und Interventionsbedarf. Namentlich die herausragende Bedeutung von Treu und Glauben für die in einem Interessenwahrungsverhältnis verbundenen Parteien findet zum Gutteil in der geschilderten asymmetrischen Interessenkonstellation des mandatum ihre Erklärung, das für den Beauftragten/Geschäftsbesorger immer primär ein mandatum tua gratia und nur sekundär ein mandatum mea gratia ist. Die Ausgestaltung etwa des Rechts der Vertriebsverträge mit Handelsvertretern, Vertragshändlern, Kommissionsagenten oder Franchisenehmern mit ihren zahlreichen zwingenden Schutzvorkehrungen zugunsten des interessenwahrenden Absatzmittlers (Geschäftsbesorgers) wird erst dadurch verständlich, dass die vertraglichen Richtigkeitskontrollen von subordinativen Geschäftsbesorgungsverträgen gegenüber denen von koordinativen Austauschverträgen nur eingeschränkt funktionieren. So werden etwa die als Geschäftsbesorger tätigen Franchisenehmer oder Vertragshändler von der Rechtsordnung mittels des Grundsatzes von Treu und Glauben in ihrem interessenstrukturell asymmetrischen Vertragsverhältnis geschützt, soweit der Regelungsbedarf nicht durch die analoge Anwendung spezieller Schutzvorschriften (etwa des Handelsvertreterrechts) gedeckt wird.

V. Der Kfz-Zuliefervertrag als Subordinationsvertrag 1. Die weisungsgebundene interessenwahrende Vorproduktförderpflicht Bezieht man die vorstehenden Überlegungen auf den Kfz-Zuliefervertrag, dann erscheint die dominant geschäftsbesorgungsrechtliche (anstatt kaufrechtliche) Qualifikation seiner Rechtsnatur mehr als naheliegend. „Die Besonderheiten der Beziehung zwischen Zulieferern und Herstellern im Produktionsnetz in der Automobilindustrie führen dazu, dass der reine Austauschcharakter nicht mehr im Vordergrund steht“, heißt es zu Recht in der Anfang 2021 erschienenen Studie von Fernanda Luisa Bremenkamp.66 Der nach § 650 Satz 1 BGB dem Kaufrecht unterstellte Werk66

Bremenkamp, Rechtliche Governance von Zulieferverträgen, 2021, S. 2. Die werklieferbzw. kaufvertragliche Qualifizierung mag in früheren Zeiten (bis Anfang der 1980er Jahre) verständlich und angemessen gewesen sein, als in der Automobilindustrie noch die „Auftragsfertiger“ dominierten, die – anders als die heutigen Systemzulieferer und Modullieferanten – ihre Teile nach den Vorgaben des Abnehmers und vielfach mit vom Abnehmer beigestellten Produktionsmitteln herstellten, ohne spezifisches eigenes Know-how oder eigene Entwicklungsleistungen einzusetzen. Von dieser früher paradigmatischen Figur des Auftragsfertigers rührt die heute noch verbreitete Redeweise vom „verlängerten Arm des Her-

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lieferungsvertrag ist seinem gesetzlichen Leitbild nach als ein Austauschvertrag der gegenseitigen Wahrung eigener Belange, mithin als ein vom Interessengegensatz der Parteien bestimmter Koordinationsvertrag gekennzeichnet. Dem modernen Zuliefervertrag in der Automobilbranche wohnt dagegen ein mehr oder weniger ausgeprägtes, zumeist dominantes Element der Unterordnung der Eigeninteressen des Zulieferers unter diejenigen des Herstellers inne. Geschäftsbesorgungsvertragliche Typenelemente, wonach der Geschäftsbesorger dem Geschäftsherrn dazu verpflichtet ist, eine selbständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen auszuführen67, verwirklichen sich im modernen Zulieferverhältnis zwischen spezifiziertem Entwicklungsauftrag für einzelne Bauteile bis hin zu ihrer qualitätsgesicherten Just-in-time-Lieferung in zahlreichen Kooperationsphasen, in denen der Zulieferer zur entgeltlichen Wahrung von Fremdinteressen und zur Befolgung von Weisungen verpflichtet ist. Nicht Teilhabe oder Austausch, sondern Anpassung ist für den Zulieferer das Strukturelement der Kooperationsdichte. Und nicht Partizipation oder Koordination, sondern Integration und Subordination sind für den Endproduzenten die Maximen der Indienstnahme des Zulieferers. Dieser subordinationsrechtlichen Komponente der weisungsgebundenen Interessenwahrung muss bei der vertragstypologischen Qualifikation Rechnung getragen werden.68 Der Kfz-Zuliefer(rahmen)vertrag hat regelmäßig die Hauptpflicht des Zulieferers (Geschäftsbesorgers) zum Gegenstand, durch die Forschungs- und Entwicklungsleistung, die spezifikationsgemäße Konstruktion, die qualitätssichernde Herstellung und die produktsynchrone Anlieferung des Zulieferteils (Vorprodukts) in weisungsgebundener und interessenwahrender Tätigkeit für den Hersteller (Geschäftsherrn) die Vorproduktion zu fördern; demgegenüber bilden die einzelnen Lieferungen auf Abruf sowie die sonstigen begleitenden Abreden zur Forschung und Entwicklung, Qualitätssicherung oder Warenausgangskontrolle die konkretisierenden Ausführungs- oder Ausfüllungsgeschäfte. Es ist nicht etwa nur eine „allgemeine Ausrichtung“ der zahlreichen Kooperationspflichten des Zulieferers auf die Produktion des Endprodukts unter der Leitung des Herstellers, die eine dominante geschäftsbesorgungsvertragliche Komponente begründet; „dies bliebe konturenlos-global und entzöge sich einer Identifizierung im Rechts- und Pflichtengefüge der Vereinbarungen“.69 Vielmehr kommt die Dominanz der geschäftsbesorgungsvertraglichen Rechtsnatur in zahlreichen Einzelheiten der Vertragsbeziehung sinnfällig und greifbar zum Ausdruck, beginnend mit der vom Hersteller ausbedungenen stellers“ oder von der „verlängerten Werkbank“ her. Inzwischen haben sich die Erscheinungsformen der Zulieferverträge – ähnlich wie im Vertriebsrecht die Vertriebsverträge – zu beachtlicher Vielfalt aufgefächert, sodass man sie nach der Kooperationsintensität untergliedern, nämlich graduell von einfachen kauf- und werklieferungsrechtlichen Verträgen bis hin zu den umfassenden, auf produktionssynchrone Zusammenarbeit angelegten Verträgen der Automobilindustrie abschichten kann. 67 Vgl. nur BGHZ 45, 223 (228); Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. A 9 ff. 68 Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. B 262 a. E.; vgl. auch schon daselbst, Rn. B 251. 69 Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. B 263.

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Weisungsbefugnis bei notwendigen Spezifikationsänderungen der Einzelteile bis hin zur autokratischen Steuerungskompetenz des Herstellers bei der Konkretisierung des Umfangs und des Zeitraums der Lieferungen. In der Summe kann man diese fremdinteressenfördernden Pflichten zusammenfassend als zuliefervertragliche Vorproduktionsförderpflicht bezeichnen. Diese kaufmännische Geschäftsbesorgung des Zulieferers entspricht auf der Absatzseite der interessenwahrenden Absatzförderungspflicht (vgl. § 89 Abs. 1 HGB) des Absatzmittlers (Handelsvertreters, Vertragshändlers, Kommissionsagenten, Franchisenehmers). Damit ist der Kfz-Zulieferer auf der Zulieferseite das Pendant oder Gegenstück zum Kfz-Vertragshändler auf der Absatzseite. Man kann ihn deshalb als Vertragszulieferer bezeichnen. Mit dem Kfz-Vertragshändler lässt sich der Kfz-Zulieferer mithin rechtsstrukturell und vertragstypologisch weit eher vergleichen als – wie noch Marina WellenhoferKlein vor zwanzig Jahren meinte – mit dem Schneider eines „Maßanzugs“.70 2. Vertragszulieferrecht und Vertragshändlerrecht – Rückwärts- und Vorwärtsintegration In der Tat lässt sich auf dieser Grundlage der Vertragszulieferer als „Spiegelbild“ des Vertragshändlers und das Vertragszulieferrecht als Spiegelbild des Vertragshändlerrechts verstehen. Bekanntlich gereicht es unserer Rechtsprechung zum großen Verdienst, im Vertriebsrecht und insbesondere im Vertragshändlerrecht den Gedanken der kaufmännischen Geschäftsbesorgung für die vertragstypologische Qualifikation von Vertriebsverträgen (oder „Absatzmittlungsverträgen“) fruchtbar gemacht zu haben, was hier freilich wegen der Leitbildfunktion des Handelsvertretervertrags nach §§ 84 ff. HGB (eines besonderen Geschäftsbesorgungsvertrags mit der Hauptpflicht der weisungsgebundenen Absatzförderung) nahelag. Die Weichenstellungen hierfür wurden schon Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts getroffen. Das dominante geschäftsbesorgungsvertragliche Element namentlich der Vertragshändlerverträge (die vorher auch als schlichte Kaufverträge fehlverstanden wurden) erwies sich dabei als der juristische Hebel um die volks- und betriebswirtschaftliche Entwicklung der sogenannten „vertikalen Vorwärtsintegration“ vertragsrechtlich einzufangen. Damit wird das erfolgreiche Bemühen der industriellen Unternehmen bezeichnet, ursprünglich „freie“ Handelsunternehmen in ihr Lager zu ziehen und sie zu langfristig gebundenen Interessenwahrern zu machen, um mit ihrer Hilfe gezielt auf die selbstbewusst und wählerisch gewordene Konsumentenschaft Einfluss nehmen zu können. Im Zulieferbereich namentlich der Automobilindustrie ist seit Jahrzehnten – ganz entsprechend – eine „vertikale Rückwärtsintegration“ zu verzeichnen, machen sich doch, wie gezeigt, die Hersteller in systematisch aufgebauten und autokratisch gesteuerten Netzwerken ihre Zulieferer dienstbar und schalten sie („outsourcing“) zur Erbringung von Leistungen und Lieferungen ein, die die Hersteller selbst wegen ihrer Kapazitäts-, Spezialisierungs- oder Know-how-Defizite 70

Vgl. Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, S. 150.

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nicht erbringen können oder wollen. Die vertikale Rückwärtsintegration führt vielfach wegen der Intensität und manchmal Totalität der betrieblichen Ausrichtung des Zulieferers auf die Interessen des Herstellers und wegen der Weisungsbindung des Zulieferers gegenüber dem Hersteller zu ganz ähnlichen Problemlagen wie sie für die vertikale Vorwärtsintegration im Verhältnis von Vertragshändlern und Herstellern bekannt sind, übrigens auch hier in erster Linie (aber nicht nur) im Automobilsektor. Denn hier wie dort kann der Einsatz der Nachfragemacht der Hersteller (nach Absatzmittlungsdiensten bzw. Zulieferprodukten) zu einer existentiellen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Vertragshändler bzw. Zulieferer führen, die nicht nur kartellrechtliche, sondern auch schon vertragsrechtliche Ordnungsaufgaben stellt. Die Besonderheiten des Vertragshändlers wie das „Auseinanderfallen von Entscheidungsgewalt und Risiko“ und die „typische Diskrepanz zwischen fremdbestimmten Funktionen und eigener Risikotragung“71 – sie lassen sich spiegelbildlich im Zulieferbereich ausmachen. Dasselbe gilt für die hohen kooperationsspezifischen Anfangsinvestitionen mit dem Risiko unvollständiger Amortisation bei frühzeitiger Auflösung der Zusammenarbeit.72 Die vertikalen Integrationsprozesse zwischen Industrie und Handel finden sich spiegelbildlich in der vertikalen Rückwärtsintegration zwischen Industrie und Zulieferern – bei immer größeren Kooperationsfeldern und längerer Kooperationsdauer („totale Kooperation“). Dem autokratischen Anweisungsvertrieb im Vertragshandel entspricht im Zulieferbereich eine nicht selten rigorose Anweisungsproduktion mit hochgradiger, quasimonopolistischer Beziehungsverdichtung zwischen Herstellern und Zulieferern. Das Vertragshändlernetz wird durch die Systemzentrale mit den Mitteln der marketing channel administration autokratisch gesteuert; das Netz der rechtlich selbständigen Zulieferunternehmen wird vom Hersteller des Endprodukts „koordiniert“, der die Position des „Fokals“ oder Kernpunkts einnimmt (fokales Produktionsnetz) und dabei bis in die Investitionsentscheidungen über die Anschaffung neuer Werkzeugmaschinen oder die Verwendung bestimmter Computer-Hard- und Software in das Unternehmen des Zulieferers hineinregiert. Im Vertragshändlerrecht hat sich die Rechtsprechung der Ordnungsaufgaben der vertikalen Vorwärtsintegration in richterlicher Rechtsfortbildung sehr erfolgreich angenommen73, was von den vorvertraglichen Aufklärungspflichten bis hin zum Kündigungsschutzrecht, zum analogen Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB oder zur 71 Dazu wegweisend schon Ulmer, Der Vertragshändler, 1969, S. 150 und 227; vgl. auch bereits Schüller, in: ORDO 19 (1968), 171 ff., insbes. 233 ff. 72 Für die Zulieferbeziehungen in der Automobilindustrie sind umfangreiche Anfangsinvestitionen in spezialisierte Maschinen, in Zusatzqualifikationen, in erforderliche IP-Rechte oder sogar in einen neuen Produktionsstandort nahe dem Hersteller (Assembler) charakteristisch. Zu berücksichtigen sind zudem die Informations- und Verhandlungskosten, die für den Abschluss einer langfristigen Vertragsbeziehung sehr hoch liegen können. Wegen solcher beziehungsspezifischen Investitionen sind die Zulieferer davon abhängig, dass die Vertragsbeziehung mindestens solange andauert, bis eine Amortisation ihrer Investitionen über die Gewinne erzielt ist. 73 Vgl. nur BGHZ 54, 338; BGHZ 68, 340.

Der Vertragszulieferer als Pendant zum Vertragshändler

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Rückkaufpflicht für Ausrüstungsgegenstände reicht. Die regelmäßig als verhandlungsschwächer eingeschätzten Fachhändler, Handelsvertreter, Vertragshändler oder Franchisenehmer werden per iustitiam commutativam vor Übervorteilung, Ausbeutung, Einschränkung der unternehmerischen Bewegungsfreiheit und wirtschaftlichem Existenzverlust gegenüber den marktmächtigen Herstellern geschützt. Im Zuliefervertragsrecht steht eine solche Rechtsfortbildung noch aus, obwohl schon lange ein „Zuliefererschutz“ konzipiert und angemahnt wurde.74 3. Rechtsfolgen Die Konsequenzen des ausgeprägten geschäftsbesorgungsrechtlichen Elements moderner Zulieferverträge können sehr weitreichend sein und hier nur grob und bruchstückhaft skizziert werden. Sie sind durch die Vorschrift des § 675 Abs. 1 BGB vorgezeichnet, der das anwendbare Recht näher bezeichnet, das mit seinen gesetzgeberischen Gerechtigkeitsinhalten und seiner Leitbildfunktion durch allgemeine Geschäftsbedingungen nur sehr eingeschränkt abbedungen werden kann. Dazu gehört der Anspruch des Geschäftsbesorgers auf Aufwendungsersatz nach §§ 675 Abs. 1, 670 BGB und auf Vorschuss für erforderliche Aufwendungen nach § 669 BGB. Freilich stehen diese Ansprüche bei (entgeltlichen) Geschäftsbesorgungsverträgen unter dem Vorbehalt der Reichweite der vertraglichen Vergütungsansprüche. Indes werden sie durch die vertraglichen Vergütungsregelungen zwar regelmäßig, aber keineswegs immer ausgeschlossen; andernfalls hätten sie in § 675 Abs. 1 BGB keine ausdrückliche Erwähnung gefunden. Damit aber eröffnet sich für den Zulieferer (wie für den Vertragshändler) eine bemerkenswerte Perspektive: Soweit die Aufwendungen, die der Geschäftsbesorger den Umständen nach für erforderlich halten durfte, nicht bereits durch die Vergütung abgegolten sind, kann der Geschäftsbesorger einen Aufwendungsersatz zusätzlich zu seiner vertraglich vereinbarten Vergütung beanspruchen.75 Und soweit sich das „Preiserhöhungs- oder Preisanpassungsverlangen“ eines Zulieferers während der Vertragslaufzeit als ein gerechtfertigter Anspruch auf Vorschusszahlungen für zusätzliche und erforderliche Aufwendungen erweisen, könnte sich womöglich sogar die Androhung eines Lieferstopps als die Ankündigung der Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts nach § 273 Abs. 1 Satz 1 BGB darstellen.76 Zudem kann man zugunsten des Zulieferers bei bevorstehender Aufkündigung einer jahrzehntelangen Zulieferbeziehung durch den Hersteller an einen zivilrechtlichen Investitionsersatzanspruch denken, der die 74 Ausdrücklich vom „Zuliefererschutz“ spricht etwa Saxinger, Zulieferverträge im deutschen Recht, 1993, S. 61 ff. 75 So Staudinger/Martinek/Omlor, 2017, § 675 Rn. A 38. 76 Vgl. dazu den Sachverhalt in der Entscheidung des LG Braunschweig, Urt. v. 12. 08. 2016 – 21 O 1578/16, juris, Rn. 20: Der vom Zulieferer ausgesprochene Lieferstopp war von ihm ausdrücklich mit bereits getätigten Investitionen im Vertrauen auf die Nominierungen wie internen und externen Entwicklungs- und Projektkosten, Restrukturierungskosten und fehlenden Amortisationen begründet worden.

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vom Hersteller veranlassten und noch nicht amortisierten Investitionen des Zulieferers abdeckt, ohne deren Ersatz eine ordentliche Kündigung als widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium) schwebend unwirksam bliebe; bekanntlich wird ein solcher Investitionsersatzanspruch etwa im deutschen Vertriebsrecht seit langem befürwortet – und in Österreich ist er in § 454 des Unternehmensgesetzbuches schon seit Jahren kodifiziert; auch für Zulieferverträge wird er seit langem diskutiert77, und zwar als zivilrechtlicher Investitionsersatzanspruch unabhängig von den Voraussetzungen der §§ 19, 20 GWB für einen kartellrechtlichen Kündigungsschutz bei nicht amortisierten fremdbestimmten Investitionen. Man kann in langfristigen Zulieferverhältnissen vielleicht auch eine Neuverhandlungspflicht begründen, wenn sich der Zulieferer vom Hersteller an die Kostendeckungsgrenzen oder Insolvenzschwelle manövriert sieht. Schon diese Hinweise lassen erahnen, dass das Recht der Kfz-Zulieferverträge bei einer (zutreffenden) geschäftsbesorgungsvertraglichen anstatt einer (verfehlten) kaufvertraglichen Qualifizierung dogmatische Innovationsschübe erfahren muss. Vor allem aber: Wenn die Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben nach § 242 BGB in Zulieferverhältnissen nicht nur durch den Dauerschuldcharakter, sondern vor allem durch das geschäftsbesorgungsrechtliche Element des Zuliefervertrags deutlich in Richtung auf eine weitreichende gegenseitige Rücksichtnahmepflicht erhöht ist, dann ist damit das Tor für einen folgenschweren Kündigungsschutz bei Zulieferverträgen aufgestoßen. Gerade hier wirkt sich der vertragstypologische Unterschied zwischen einem Subordinationsvertrag und einem Koordinationsvertrag aus: Wenn im Vertriebsrecht der Absatzmittler, der als Geschäftsbesorger in einem interessenstrukturell asymmetrischen Vertragsverhältnis steht, durch den Grundsatz von Treu und Glauben besonders geschützt wird, soweit nicht der Regelungsbedarf durch eine (analoge) Anwendung von Schutzvorschriften etwa des Handelsvertreterrechts gedeckt wird, dann darf der Zulieferer ganz Entsprechendes erwarten. Kurz: Die Umrisse eines innovativen dogmatischen Rechtsfolgeprogramms sind schon erkennbar.

VI. Schluss: Innovative Dogmatik Wie zu Beginn dieses Festschriftbeitrags steht auch am Schluss das Stichwort „innovative Dogmatik“. Die vorstehenden Überlegungen haben sich um den Nachweis bemüht, dass für die Kfz-Zulieferverträge mit Qualitätssicherungs- und Just-in-timeVereinbarungen die vertragstypologische Qualifizierung als Kaufverträge nach §§ 433 ff. BGB, 373 ff. HGB i. V. m. 650 Satz 1 BGB mit allenfalls akzidentellen geschäftsbesorgungsvertraglichen Elementen, wie sie die Rechtsprechung und herrschende Meinung beharrlich befürworten, angesichts der jüngeren Entwicklungs77 Vgl. etwa Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge im Privat- und Wirtschaftsrecht, 1999, insbes. S. 412 ff. m. w. N. zum „Investitionsschutz des Zulieferers“.

Der Vertragszulieferer als Pendant zum Vertragshändler

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schübe der vertikalen Rückwärtsintegration kaum länger aufrechtzuerhalten ist. Geboten ist vielmehr eine dogmatische Neubesinnung und Neubestimmung der Rechtsnatur auf der realanalytisch-empirischen Erkenntnisgrundlage, dass der Kfz-Zulieferer auf der vorgelagerten Produktionsstufe als Teile-Hersteller nach seinem Zuliefer(rahmen)vertrag (und konkretisierenden Ausführungsgeschäften) mit dem Hersteller des Endprodukts zur weisungsgebundenen Entwicklung, Herstellung und (meist produktionssynchronen) Lieferung des Vorprodukts verpflichtet ist. Er stellt sich auf der Zulieferstufe als rückwärtsintegriertes Pendant zum vorwärtsintegrierten Vertragshändler auf der Absatzstufe dar. Man kann ihn deshalb Vertragszulieferer nennen. Wie der Vertragshändler ist auch der Vertragszulieferer in erster Linie zu einer kaufmännischen Geschäftsbesorgung verpflichtet; wie der Vertragshändlervertrag ist auch der Vertragszuliefervertrag kein Koordinations-, sondern ein Subordinationsvertrag – quod erat demonstrandum. Es ist deshalb dringend zu wünschen und zu hoffen, dass unser Jubilar in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Rechtsprechung und herrschender Meinung einen Durchbruch zu einer innovativen geschäftsbesorgungsvertraglichen Dogmatik im Recht der Vertragszulieferer erleben wird. Aber keineswegs nur deshalb: Ad multos annos!

Bankpolitik in Zeiten der Corona-Pandemie Von Leo Schuster

I. Die Corona-Krise als Jahrhundertproblem Corona wird immer öfter als die Herausforderung des Jahrhunderts bezeichnet. Angesichts der Infektions- und Todeszahlen durch COVID-19 in praktisch allen Ländern unserer Erde ist diese Behauptung nicht unrealistisch, wobei man bis jetzt aber nur über ein Jahr seit dem Auftreten der Pandemie etwa im Januar 2020 urteilen kann. Corona hat seither in zwei Wellen alle Bereiche des Lebens erfasst, diese zwar ganzheitlich beeinflusst, dabei jedoch sehr unterschiedliche Wirkungen gezeigt. Der wirtschaftliche Sektor hat bisher eine regelrechte Berg- und Talfahrt hinter und sicherlich auch noch vor sich. Insgesamt beurteilt hat die Corona-Krise den Euro-Raum bis jetzt schon härter getroffen als die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009. Auf beide Krisen wird ihrer zeitlichen Nähe wegen oft gemeinsam Bezug genommen, obwohl sie in ihren Ursachen nicht vergleichbar sind. Die Finanzkrise ist von Banken in den USA ausgegangen, deren Leidtragende sie auch weitgehend selbst waren (Lehmann-Pleite im Jahr 2008). Die Corona-Krise hingegen hat ihren Ursprung in einer vermutlich in China ausgelösten und weltumspannend gewordenen Epidemie. Banken sind in der Corona-Krise also nicht die Verursacher, wohl aber werden sie zu ihren Betroffenen gehören. Ob sich allerdings die Pandemie auch zu einer neuerlichen Bankenkrise aufschaukelt, hängt von ihrer Dauer, der Intensität sowie dem Durchhaltevermögen der Wirtschaft ab, aber auch von der Belastungsfähigkeit des Bankensektors selbst in den einzelnen EU-Ländern und nicht zuletzt von staatlicherseits ergriffenen finanziellen und gesetzgeberischen Maßnahmen. Die bisher verfügbaren Daten zeigen jedoch, dass es 2020, also im ersten Jahr der Krise eine Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes (d. h. eine Veränderung des BIP gegenüber dem Vorjahr) von 7 % in den EU-Ländern und von 5 % in Deutschland gegeben hat. Beachtenswerte Insolvenzen von deutschen Geschäftsbanken aus Gründen der Corona-Krise waren bisher nicht festzustellen. Dennoch wäre es sicher nicht verfrüht, heute schon zukünftiger Schwierigkeiten wegen an die Schaffung einer Bad Bank als Abwicklungsplattform zum Abbau fauler Kredite zu denken. Der vorliegende Beitrag soll die Risiko- und Erwartungssituation der Banken sowie allenfalls nötige strategische Reaktionen beleuchten.

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II. Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Union Da von der Corona-Pandemie ausnahmslos alle Staaten der Europäischen Union betroffen sind, hat sich diese zu einem unerhörten Kraftakt zur Abmilderung der immensen aktuellen und noch zu erwartenden Probleme entschlossen und das größte Konjunkturpaket aller Zeiten mit insgesamt 1,8 Billionen Euro aufgelegt. Dabei ist besonders das Herzstück dieses Plans, der „Next Generation EU-Aufbaufonds“ über 750 Milliarden Euro zu erwähnen, der helfen soll, die unmittelbar durch Corona bedingten Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft abzufedern. Das EU-Parlament stimmte im Februar 2021 diesem Aufbaufonds zu, so dass die Programme in den einzelnen Ländern demnächst aufgesetzt und zielgerichtet ihren Bestimmungen, wie Digitalisierung, Klimaschutz, wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit sowie Stärkung der Institutionen, zugeführt werden können. Es wird sich zeigen, inwieweit die EU-Länder willens und in der Lage sind, ihrer Verantwortung für die nutzenstiftenden Investitionen dieser ihnen separat zugesprochenen Mittel gerecht zu werden.

III. Maßnahmen der Bundesregierung zur Bewältigung der Corona-Krise Auf nationaler Ebene und mit dem Anspruch zeitnaher Hilfe ist die deutsche Exekutive mit vielfältigen Maßnahmen gegen die unerwünschten Auswirkungen der Pandemie auf den Plan getreten. Frühzeitig wurde die Aussetzung des Insolvenzrechts beschlossen, also der Pflicht zur Insolvenzanmeldung von Unternehmungen (terminiert bis Ende 2021), zudem die Möglichkeit der Kurzarbeit, verbunden mit einer Hilfeleistung des Staates von 100 Milliarden Euro, die viele Firmen in die Lage versetzte, betriebsnotwendige Kündigungen zu vermeiden und dadurch eine übergreifende Arbeitslosigkeit zu verhindern. Hinzu kommen Kredite mit staatlichen Garantien, Sofortkredite und all das in bisher unbekannten Größenordnungen. Aus den Soforthilfeprogrammen des Bundes für kleine Unternehmen, Selbständige und Freiberufler wurden bereits über 13 Milliarden Euro ausbezahlt (Stand: 31. 12. 2020). Dazu kommen die Soforthilfeprogramme einzelner Bundesländer. Für Überbrückungshilfen I und II wurden mehr als 3 Milliarden Euro ausbezahlt, für die sogenannten November- und Dezemberhilfen etwa 5 Milliarden Euro. Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds bietet Unterstützungsmaßnahmen mit einem Gesamtvolumen von etwa 39,5 Milliarden Euro an. Zudem sind im Großbürgschaftsprogramm des Bundes sowie bei Bürgschaftsbanken 4 Milliarden Euro beantragt worden. Mehrere Sondermaßnahmen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bieten Corona-Hilfen für Unternehmen an. Allein in diesem Bereich wurden 115.000 Anträge gestellt mit einem Gesamtvolumen von 62 Milliarden Euro. Diese noch nicht einmal abschließende Aufzählung der Unterstützungsmaßnahmen stellt angesichts ihrer Vielfalt die staatlichen Befürchtungen eines Wirtschaftskollapses unter Beweis. Die nicht immer kohärenten Einzelmaßnahmen, aber auch

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das Problem, dass in den dynamischen Verläufen oft nur auf kürzere Sicht gehandelt werden kann, erschweren die langfristige Perspektive. Je länger aber der zweite Lockdown aufrechterhalten werden muss, desto mehr muss nachgebessert bzw. müssen Laufzeiten verlängert werden, desto größer wird auch der Kampf um die finanziellen Ressourcen. Das neueste Hilfspaket (Überbrückungshilfe III, Februar 2021), das abschließend noch anzufügen ist, beläuft sich auf weitere 22,6 Milliarden Euro für die Jahre 2021 und 2022. Es betrifft Gastwirte, Künstler, aber auch Familien, Geringverdiener und Hartz-IV Bezieher. Unternehmer werden insofern davon profitieren, als sie durch einen erleichterten Verlustrücktrag eine steuerliche Entlastung erfahren. Diese ergibt sich dadurch, dass bei aktuellen Verlusten in der Zeit der Pandemie, aber bei früheren Gewinnen, diese nachträglich verrechnet werden können. Die Absicht hinter all diesen historisch beispiellosen Hilfsmaßnahmen unterschiedlichster Art besteht darin, dass kein Unternehmen, das in normalen Zeiten profitabel ist, wegen der Pandemie untergehen sollte. Diese Maxime durchzuhalten, ist wichtig, um einer zu befürchtenden „Zombifizierung“ der Wirtschaft vorzubeugen, denn bereits in normalen Zeiten überschuldete Unternehmen, die sich nur mit staatlichen Corona-Hilfen über Wasser halten, können langfristig nicht überlebensfähig sein. Es wird sich erst nach Ende der Pandemie erweisen, ob Prognosen zutreffen, die von mehreren tausend solcher „Zombieunternehmen“ ausgehen, die dann aus dem Markt ausscheiden müssen.

IV. Staatliche Corona-Strategie versus Kreditpolitik der Banken Die einführenden Bemerkungen konzentrierten sich vornehmlich auf das staatliche Krisenmanagement in der Pandemie, das sich wesentlich von der Kreditpolitik der Banken unterscheidet. Die öffentliche Kreditvergabe orientiert sich nämlich nicht in erster Linie an der Tragfähigkeit und den Bonitäten der Wirtschaftssubjekte sondern an deren hochgerechnetem branchenrelevanten Bedarf an Mitteln im wirtschaftlichen Überlebenskampf. Wichtige Kriterien, wie die Art der Kreditfazilitäten, Grenzen der allgemeinen Kreditvergabe, das Problem der Kreditrückzahlungen, die Nachhaltigkeit der Unterstützungsmaßnahmen treten gegenüber anderen Maßstäben zurück. Zu diesen gehört die Überlebensfähigkeit von systemrelevanten Branchen und ein sich eventuell einstellender Strukturwandel, z. B. in der mittelständischen Wirtschaft. Pessimistische Schätzungen gehen heute schon davon aus, dass etwa 50.000 Betriebe des Einzelhandels mit 250.000 Mitarbeitern nach der Pandemie nicht werden überleben können. Ob es zu dieser Insolvenzwelle kommen wird, hängt allerdings von weiteren staatlichen Maßnahmen ab. Auch die exportorientierte deutsche Wirtschaft muss mit Einbrüchen in den kommenden Jahren rechnen, nachdem bereits im Jahr 2020 ein Umsatzverlust von 9,3 % zu verzeichnen war. Andere, nämlich marktwirtschaftliche Kriterien, haben die Banken bei ihrer Kreditpolitik anzulegen. Sie sind an einschlägige Gesetze und Verordnungen gebunden, an Kreditwürdigkeitsprüfungen ihrer Debitoren, eingeschränkt in der Kredithöhe,

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belastet mit wachsenden Mindestreserven, Berichtspflichten etc., was verbindlich vorgeschrieben ist und entsprechend kontrolliert wird. Allerdings kann der Staat in Stresssituationen, wie sie in der Corona-Pandemie gegeben sind, Erleichterungen in der Kreditpolitik der Banken gewähren. So sind Banken vom Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen aufgerufen, auf Ausschüttungen von Gewinnen zu verzichten. Die Eigenkapitalregeln wurden für die Zeit der Corona-Krise erleichtert, was verhindern soll, dass die in den Jahren, vor allem nach der Bankenkrise 2009 aufgebauten Kapitalpuffer aufgezehrt werden. Die Bundesregierung ermöglichte den Bankkunden, dass ihre laufenden Kredite vorübergehend gestundet werden konnten und fällige Zahlungen aufgeschoben wurden. Nachdem dieses Kreditmoratorium, von dem tausende Bankkunden aller Bankengruppen Gebrauch machten, im Juni 2020 ausgelaufen ist, zeigt sich, dass je länger die Pandemie andauert, desto größer die Kreditausfallrisiken werden. Bereits Mitte des Jahres 2020 und vor allem danach (vgl. Christian Siedenbiedel: Pleitenwelle wird die Banken treffen, in: FAZ vom 14. 10. 2020, S. 25; Bundesbank erwartet Welle an Kreditausfällen, in FAZ vom 06. 05. 2020, S. 23) erwartete die Deutsche Bundesbank nennenswerte Kreditausfälle bei den Banken. Dieses Szenario hat sich bis heute nicht bestätigt, nicht zuletzt, weil die einschlägigen Hilfsmaßnahmen des Staates für die Wirtschaft bisher eine stabilisierende Wirkung gezeitigt haben. Wie lange dieser Stabilisierungseffekt anhält, bleibt abzuwarten, ebenso welche Konsequenzen dann im einzelnen zu erwarten sind. Sicher wird es dann zu einer verstärkten Risikovorsorge der Banken in Form von zusätzlichen Rückstellungen kommen müssen, soweit es nicht schon in 2020 gemacht wurde. Dies wiederum wird die Ergebnisse verschlechtern, und die Handlungsfähigkeit für neue Geschäfte verringern. Es muss also befürchtet werden, dass die Pandemie in diesem Falle ihre Spuren in den Bankbilanzen hinterlassen wird. Die Bankenverbände Deutschlands und Italiens haben bereits in einem gemeinsamen Positionspapier an die Europäische Union um Ausnahmeregelungen bei aufsichtsrechtlichen Anforderungen und verschiedene weitergehende Erleichterungen nachgesucht. Eine grundsätzliche Konsequenz, die praktisch von allen Banken zu ziehen wäre, ist die Überprüfung ihrer strategischen Ausrichtung und die Konzeption eines einschlägigen post-Corona Geschäftsmodells.

V. Geschäftsmodelle der Banken post-Corona Gesellschaftliche Umbrüche wie die Corona-Krise verlangen stets nach Überprüfung und gegebenenfalls nach neuen Konzepten für die Geschäftsmodelle. Damit sind auch die Banken aufgerufen, sowohl die auf einem konzisen Leitbild beruhende Grundstrategie als auch die von ihr abgeleiteten funktionalen Strategien auf den Prüfstand zu stellen. Viele der ohnehin die Banken bedrängenden Fragen der Vergangenheit nehmen durch die Corona-Pandemie einen neuen Stellenwert und oft besondere Dringlichkeit an. Dazu gehört der Wettbewerbsdruck, vor allem durch neue Anbieter,

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auch solche aus dem Ausland, ebenso wie die stetig ausufernde Finanzmarktregulierung mit ihren aufwändigen Berichtspflichten. Die seit langem schon andauernde und in ihrem Ende nicht abzusehende Niedrigzinsperiode erhöht den Mangel an Profitabilität zusätzlich. Die sich dabei für die Strategiepositionierung stellenden Fragen zielen auf das Problem der optimalen Betriebsgröße ab, damit allenfalls auf anstehende Restrukturierungen und einem erforderlichen Konzernumbau. Eine besondere Erscheinung der letzten Jahre, die auch als Disintermediation bezeichnet wird, ist das zunehmende Problem, dass Banken vom Finanzmarkt durch Crowd-Financing verdrängt werden, indem Kapitalnehmer guter Bonität direkt mit Kapitalgebern über Internettechnologien in Verbindung treten. Ein weiterer fast immer an vorderster Stelle der Schwachstellen genannter Nachholbedarf betrifft die grundsätzlich unzulängliche Digitalisierung in Banken, wobei die Quellen dieser Kritik recht oft von Unternehmungsberatungsfirmen ausgehen, deren Beratungsangebot in Krisenzeiten verständlicherweise zunimmt.

VI. Digitalisierung im Bankensektor Durch digitale Verarbeitung, Speicherung (z. B. in der Cloud) und Auswertung von Daten können Prozesse optimiert, Komplexitäten reduziert, Marktauftritte verbessert, eine nachhaltige Kundenbeziehung erreicht sowie Risiken besser gestreut werden. Die in Banken typische Unterteilung der Betriebsprozesse in den Frontbereich, also z. B. Marketing, und in Back Offices, wo die gesamten Verarbeitungen stattfinden, erfährt durch die Anwendung der Digitaltechnologie eine Neubewertung, indem diese Prozesse weitgehend verschmelzen. Davon sind betroffen im Kreditgeschäft die Kreditwürdigkeitsprüfung mit auf künstlicher Intelligenz beruhenden Kreditmodellen und die periodische Kreditkontrolle mit Bilanzanalysen sowie die Big Data-Verarbeitung mit der Auswertung von Kunden- und Marktdaten, die stets gleichzeitig für alle Beteiligten zur Verfügung stehen. Die Banken haben für diese digitalisierten Funktionen in der Pandemie-Krise auf Homeoffice-Tätigkeiten ihrer Mitarbeiter zurückgegriffen, wobei es zukünftig ein Thema der innerbetrieblichen Standortplanung sein wird, wie viele räumliche Kapazitäten wieder in die Banken und ihre Schalterhallen zurückverlegt werden. Es ist dem historisch gewachsenen Bankensystem geschuldet, dass die konventionelle Schnittstelle zum Kunden hauptsächlich über Bankfilialen im persönlichen Kontakt des Bankmitarbeiters mit dem Kunden stattfindet. Dazu war eine beachtliche Filialstruktur für eine flächendeckende Versorgung der Kunden notwendig, in deren Augen die Bank in ihrer Nähe zu sein hatte, praktisch immer physisch erreichbar. Offensichtlich ist diese digitalfeindliche Struktur in allen klassischen Bankengruppen, den Privatbanken, den Sparkassen und Raiffeisen-Volksbanken zu lange aufrechterhalten worden. Dabei ist einzuräumen, dass auch die Bankbetriebslehre diese kostenintensive Marketingkultur in ihren Analysen stets unterstützt hat, obwohl sich längst andere, computergestützte Absatzwege, wie das Electronic Ban-

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king, angeboten hatten. Dadurch sind so skurrile Situationen entstanden, dass die 1870 gegründete Commerzbank einen offensichtlich verlustreich gewordenen Filialbetrieb aufrecht erhielt, aber eine inzwischen erfolgte Neugründung für den Direktvertrieb, die Comdirect, gewinnbringend als Tochtergesellschaft weitgehend daneben autonom auftritt. Nicht nur diese Duplizität scheint im Zug der durch Corona angestoßenen Neuformulierung der Absatzstrategie bereinigt zu werden, die gesamte Bankenbranche ist dabei, sich diesbezüglich neu aufzustellen. Dieser Kulturwandel hat sich eigentlich schon mit der Gründung der ersten Direktbanken Ende der neunziger Jahre angeboten. Er vollzieht sich aber erst jetzt durch den Druck der Märkte und einem sich abzeichnenden Generationenwechsel. So wird die Deutsche Bank 100 ihrer 500 Filialen in Deutschland schließen und auch ihre Tochter, die Postbank, soll davon betroffen sein. Die Commerzbank plant 450 von 790 Zweigstellen aufzugeben, eine Entwicklung, die sich in den beiden Banken in den nächsten Jahren noch verstärken dürfte. Reduzierte Zweigstellenintensität in Kombination mit digitalen Kundenkontakten bedeuten aber auch weltweit eine Mitarbeiterreduktion, die beispielsweise bei der Commerzbank bis 2023 insgesamt 10.000 von knapp 40.000 Arbeitsplätzen betreffen soll. Auch die Deutsche Bank plant ihre Mitarbeiterzahl von 87.000 auf 74.000 zu reduzieren. Bei den mehr auf die mittelständische Wirtschaft ausgerichteten Sparkassen sowie Raiffeisen- und Volksbanken kommen neben Filialschließungen und -zusammenlegungen auch aufgrund der Marktentwicklungen Fusionen innerhalb der Bankengruppen vor. Versuche, sektor-übergreifende Fusionen oder Kooperationen durch Filialsharing hat es bereits gegeben, allerdings bis jetzt ohne weitere Verbreitung. Die Zahl der Raiffeisen- und Volksbanken hat sich seit 2008 um 356 auf 841 Institute verringert, die der Sparkassen um 67 auf 379. Mit diesen sich gerade akzentuierenden Maßnahmen müssen Umstrukturierungen praktisch aller funktionalen Strategien einhergehen, wobei dem Marketingbereich insofern eine besondere Bedeutung zukommt, als auch die Bankkunden mit einzubeziehen sind. Diese nämlich haben sich nicht nur mit der Technik des Electronic Banking vertraut zu machen, sie müssen sich auch damit abfinden, Funktionen, die früher von den Banken wahrgenommen wurden, jetzt selbst zu verrichten. Hierzu gehört vor allem der gesamte Bargeldbereich, der in einer Übergangsphase noch über Geldautomaten (Cash Dispenser) abgewickelt wurde. Diese Geräte werden heute weitgehend abgeschafft, so wie auch der Kassenbereich und der Bankkassier bei vielen Instituten der Vergangenheit angehören. Dazu sind neue Kontoführungs- und Gebührenmodelle der Banken zu akzeptieren, denen unterschiedliche Konzepte zugrunde liegen, weshalb sie keine echte Konditionentransparenz als Entscheidungsgrundlage für die Kunden bieten. Diese müssen dazu auf externe Vergleichsformate zurückgreifen.

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VII. Die neuen Substitutionskonkurrenten der Banken Wenn in den vorangegangenen Kapiteln von Banken die Rede war, dann von Universalbanken, d. h. in erster Linie der drei großen klassischen Gruppen, der Privatbanken, Sparkassen, Raiffeisen- und Volksbanken. Universalbanken werden sie deswegen genannt, weil sie praktisch alle Kundengruppen, also nationale wie internationale Unternehmen, Institutionen wie Verbände, aber auch Privatkunden im sog. Mengengeschäft betreuen. Diese grundsätzliche Unterteilung in Whole Sale und Retailbanking behält auch ihre Richtigkeit, wenn Banken sich auf bestimmte Kundengruppen und ein spezielles Sortiment konzentrieren. Daneben hat es auch immer Spezialbanken gegeben, die entweder als Tochtergesellschaften der Universalbanken jeweils nur eine spezielle Marktnische bearbeiteten, wie Leasing- und Factoringgesellschaften, Kreditkartenunternehmen, Vermögensverwalter oder z. B. Zahlungsdienstleister, worunter auch die in offensichtlich betrügerischen Konkurs gegangene Wirecard zu rechnen war. Mit zunehmender Bedeutung und Verbreitung der Informationstechnologie hat sich ein neuer Spezialbanktypus schon seit den 90er Jahren etabliert, womit die Direktbanken angesprochen sind (DKB, ING-DiBa, Consors etc.), die ohne Filialen ihre Geschäfte zunächst am Telefon und Fax und dann über Internet betrieben. Ihr Sortiment ist in der Regel breit aufgestellt, sie besitzen Vollbanklizenz und bieten nicht nur Zahlungsverkehr sondern auch Kredit- und Wertpapiergeschäfte an. Mit dem endgültigen Siegeszug der Smartphone-Technologie haben sich neue technisch getriebene und meistens nur in einer Nische tätige Spezialisten etabliert, die Fintechs. Die multifunktionalen Möglichkeiten des Smartphones haben diese Entwicklung begünstigt, gerade auch in der Corona-Krise. Diese hat – auch aus hygienischen Gründen – die Abkehr vom Bargeld intensiviert, was nicht nur mehr Kreditkartenzahlungen, sondern auch das Zahlen mit dem Smartphone förderte. Die Geschäftsmodelle der Fintechs beinhalten stets alternative Bezahlsysteme, mitunter auch automatisierte Anlageberatung, Blockchain-Technologien etc. Inzwischen hat sich sogar eine Legendenbildung um die Fintechs, die „jungen Wilden“ ergeben, für die auch der Begriff der „Einhörner“ steht. Zu dieser Gruppe rechnen Start-ups sobald sie einen Wert von einer Miliiarde Dollar haben, aber noch nicht an der Börse notiert sind. Insgesamt wird deren Zahl auf 250 geschätzt, das weltweit Größte von ihnen, Stripe, mit einem Wert von 95 Milliarden Dollar, das größte europäische, Checkout (15 Milliarden Dollar). Ihr Ziel ist es, sich zunächst im Zahlungsverkehr zu etablieren, nach der immer noch gültigen Regel, wer den Zahlungsverkehr macht, hat auch bald den ganzen Kunden. Im Prinzip sind sie Konkurrenten zu den Universalbanken, die allerdings nach dem Motto „If you can’t beat them, join them“, auch Kooperationen oder Beteiligungen eingehen. Alle großen Hightech-Unternehmen, wie Samsung, Apple, Google, etc. bieten heute eigene Bezahldienste an, wobei der Einstieg über Kredit-und Debitkarten erfolgt, sicherlich auch mit dem Ziel, das Kreditgeschäft an sich zu ziehen. Die Check 24 Gruppe ist in 2020 mit der C24 Bank „life“ gegangen. Sie ist eine reine Smart-

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phone-Bank und bietet Produkte mit dem Fokus auf digitale Prozesse an und stellt sich als „open banking plattform“ dar, die auch Dienstleistungen anderer Banken vermarktet. Eine relativ neue, der Nullzinsperiode geschuldete Entwicklung ist in den so genannten Zinsplattformen zu sehen. Beispiele dafür sind Unternehmen wie „Zinspilot“ oder „Weltsparen“, die Gelder von Sparern an – oft kleinere oder ausländische Banken – weiterleiten, die aufgrund ihres Standings einen gewissen Zinsvorteil bieten. Einlagen dieser Art bedürfen allerdings besonderer Risikoüberlegungen der Anleger. Die Marktchancen dieser Neobanken sind insofern nicht zu unterschätzen, als die Treue zur Hausbank alten Stils vor allem in der jüngeren Generation im Abnehmen begriffen ist, und das Marketing jugendgerecht mit dem Anspruch, das Girokonto auch als Lifestyle-Produkt aufzufassen, betrieben wird. Es ist sicherlich noch von Interesse nachzutragen, dass auch die Deutsche Bank bereits im Jahre 1995 eine Online-Bank, die Bank 24 als Tochtergesellschaft gründete, diese aber nach nur drei Jahren wieder schloss, wahrscheinlich, weil sie nicht in das damalige Geschäftsmodell passte, auch die Zeit dafür noch nicht wirklich reif war.

VIII. Green Banking Die immer intensiver geführte Nachhaltigkeitsdiskussion, also die Konzentration auf Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung, ist längst zu einem umfassenden gesellschaftlichen Problem avanciert, das auch alle Bereiche wirtschaftlichen Handelns betrifft. Das zentrale Anliegen ist der bedrohliche Klimawandel und die Schaffung eines Bewusstseins dafür, soll doch ein Temperaturanstieg von mehr als 2 Grad (vorteilhafterweise 1,5 Grad) bis 2050 verhindert werden, und die Europäische Union bis dahin CO2-neutral sein. Der Corona-Schock hat zwar zunächst zu einem Stillstand in der Nachhaltigkeitsdebatte geführt, aber inzwischen hat diese wieder umso mehr Fahrt aufgenommen, wobei staatliche Signaleffekte einen wichtigen Beitrag geleistet haben. Damit sei u. a. auf die grüne Anleihe (green bond), des deutschen Staates im September 2020 Bezug genommen, die mit einem Zinscoupon von null Prozent ein Volumen von 6,5 Milliarden Euro erreichen konnte und als ein Meilenstein für die Entwicklung des globalen Marktes für nachhaltige Anleihen zu betrachten ist. Weitere staatliche green bonds sollen folgen, womit die nationalen und europäischen Kapitalflüsse zu nachhaltigen Technologien und Geschäftsmodellen umgelenkt werden sollen. Die konkreten in diesen Modellen abzubildenden Nachhaltigkeitskriterien wurden wie folgt festgelegt. Sie betreffen den Klimaschutz, die Anpassung an den KIimawandel, nachhaltige Nutzung sowie Schutz von Wasser und Meeresressourcen, Übergang zur Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, Schutz gesunder Ökosysteme. Ein Finanzprodukt, das einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung mindestens eines dieser Umweltziele leistet, gilt als nachhaltig, sofern es nicht gleichzeitig andere Kriterien negativ beeinflusst.

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Eine Reihe deutscher Banken ist zum Klimaschutz im Juli 2020 eine Selbstverpflichtung eingegangen und will die Kreditvergabe künftig stärker an Klimazielen im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen orientieren. Dazu hat der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Christian Sewing, (vgl. Banken verpflichten sich zu mehr Klimaschutz, in: FAZ vom 01. 07. 2020, S. 23) das folgende Statement abgegeben: „Banken spielen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Klimawandel, denn es liegt an uns, über Finanzierungen und Anlageprodukte die Mittel für die Transformation der globalen Wirtschaft bereitzustellen“. Green loans und green bonds wird ein zunehmendes Wachstum eingeräumt, nicht zuletzt, weil nachhaltige grüne Investitionen nicht mit Renditeverzicht einhergehen müssen, was der Vergleich des Weltaktienindex mit seinem nachhaltig orientierten Pendant ergibt. Nachhaltigkeit spielt auch im Wertpapier-Anlagesektor eine zunehmende Rolle insofern, als konservative Portfolios vermehrt teilweise oder ganz umgeschichtet und zunehmend grüne Investmentfonds aufgelegt werden, die sich in der CoronaKrise offensichtlich widerstandsfähiger zeigten als ihre konventionellen Pendants. Bei den festverzinslichen Papieren bieten green bonds den Emittenten, seien sie Staaten oder Unternehmen, interessante Möglichkeiten, Klimaschutzprojekte zu finanzieren. Nachhaltigkeit hat offensichtlich das Image eines Nischenthemas abgelegt und ist ein unumkehrbarer Megatrend geworden. Bis allerdings nachhaltig, sozial und grün die wirklich neue Normalität sind, muss es noch in der Breite der deutschen Banken und ihrer Kunden angekommen sein. Dann erst wird sie auch in den Geschäftsmodellen der Banken einen festen und ihr gebührenden Rang einnehmen.

IX. Börsen in der Corona-Pandemie Nach der einschlägigen Lehre sind die Börsen neutrale Marktplätze, auf denen ein geregelter Kauf und Verkauf von Wertpapieren (und anderen Werten, wie Devisen und Metalle etc.) stattfindet. Was man nicht lernen sondern nur real erfahren kann, ist das Börsengeschehen mit seinen Extremen, wie ein „schwarzer Freitag“. Der 9. März 2020 war ein solcher schwarzer Tag, an dem an allen Börsen weltweit in einer Panikreaktion innerhalb weniger Stunden Milliarden an Werten vernichtet wurden, ausgelöst von der Corona-Pandemie. Der deutsche Leitindex DAX verlor 8 % an diesem einen Tag, nachdem er schon seit dem 22. Februar 2020 insgesamt 39 % seines Wertes und der amerikanische Standard & Poors 35 % einbüßten. Seit dem Beginn der Pandemie finden an der Börse Kursbewegungen statt, die vordergründig oft irrational erscheinen, zumindest aber den Schluss nahelegen, dass sie sich vom realen Leben und den realwirtschaftlichen Vorgängen abgekoppelt hätten. Nachdem der Sommer 2020 einen entspannteren Verlauf in der Corona-Krise nahm, wurde die Situation im Oktober 2020 wieder kritischer, und es ging dem zweiten Lockdown entgegen. Die Konsequenz an der

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Leo Schuster

Börse war ein Kurssprung des DAX über 13.000, auf einen damals seit Wochen höchsten Stand. Und danach ist auch die Marke von 14.000 überschritten worden, womit die Börseneuphorie die Alltagsstimmung bei weitem überbot. Die Entwicklung seitdem ist ähnlich zwiespältig und von vielfachen Kurskapriolen einzelner Werte gekennzeichnet. Ist eine Verschärfung der Lockdownbestimmungen zu gewärtigen, so steigen die sogenannten Corona-Aktien, die auch als „zu-Hause-bleib-Aktien“ bekannt sind, wie die des Essenslieferanten Delivery Hero, des Online-ModeHändlers Zalando oder des Kochbox-Versenders Hellofresh. In dieser Phase müssen die Corona-Verlierer entsprechende Kurseinbrüche hinnehmen, wie die Reiseveranstalter und Touristikunternehmen, die Lufthansa und Fraport, die dann wieder ihre Kurschancen hatten, als der Impfstart gegen Corona in Aussicht gestellt wurde. Aufgrund der hohen Volatilität an den Wertpapierbörsen und des diese noch verstärkenden international vernetzten Börsengeschehens bedarf es einer Anpassung der Regeln von Zeit zu Zeit. Einer der Anlässe dafür war der in der Pandemie erfolgte, aber nicht von ihr ausgelöste Konkurs von Wirecard, eine im DAX 30 enthaltene Aktie, deren ohnehin sehr spät erfolgten Eliminierung für viel Diskussionsstoff sorgte. Es wird deshalb nicht zu Unrecht gefordert, den DAX auf eine breitere Basis zu stellen, ähnlich wie der FTSE 100 in Großbritannien oder Standard & Poors 500 in den USA, was sinnvoll wäre, sollten im Fortgang der Corona-Pandemie weitere Unternehmen aus dem DAX ausscheiden müssen. Die Kritik, dass die deutsche Wirtschaft in der Digitalisierung ihrer Prozesse internationalen Standards hinterherhinkt, ist jedenfalls für die Börsen nicht gerechtfertigt. Bereits vor Jahren ist der traditionelle Handel à la crié durch Computerhandelssysteme abgelöst worden, die den Handel ohne zeitliche Einschränkungen ermöglichen bis hin zum Sekunden-Trading. Inzwischen plant die Deutsche Börse einen Quantencomputer zu entwickeln, der die Berechnung von Risiken und anderer Parameter weit schneller und besser ermöglichen würde als die herkömmlichen Verfahren. Im Prinzip besteht Einigkeit darüber, dass es nicht die Funktion der Börse ist, Anleger vor Kursstürzen zu schützen. Ein lehrreiches Beispiel dafür hat die GamestopSpekulation in den USA anfangs 2021 vor Augen geführt. Organisierte Kleinanleger hatten sich im Kampf gegen Hedgefonds, die à la Baisse gegen den Spielehersteller Gamestop spekulierten, zusammengetan und gemeinsam den Kurs in die Höhe getrieben, so dass eine Gamestop-Aktie innerhalb von zwei Wochen von 30 Dollar auf 350 Dollar stieg. Damit war den Baisse-Spekulanten ein Milliardenverlust entstanden, aber auch den vereinigten Kleinanlegern, wenn sie beim anschließenden Kurssturz nicht rechtzeitig wieder ausgestiegen waren. An diesem Fall ist neben dem börsentechnischen Geschehen der sozialpsychologische Zusammenhang interessant, weil er mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie erklärt wird. So wie sich technologieaffine Menschen über Internetforen zu verschiedenen gemeinsamen Aktivitäten organisieren, scheint dies auch im Falle der Gamestop-Spekulation gewesen zu sein. Sowohl die erfolgreiche Anlage als auch der von den anderen erlittene Verlust, wird in diesen Kreisen jeweils als Bereicherung der Gefühle und als Stimulus in der

Bankpolitik in Zeiten der Corona-Pandemie

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vom Corona-Virus heruntergefahrenen Zeit beschrieben. Das Gemeinschaftsgefühl mit anderen ein Teil von etwas Größerem zu sein und gemeinsam ein Ziel zu verfolgen, war offensichtlich das entscheidende Erlebnis. Die ohnehin umfangreiche Literatur zur Börsenpsychologie ist mit diesem Geschehen erneut bereichert, ging es doch um ein „David gegen Goliath“-Erlebnis und um die Bloßstellung von Hedgefonds, die selbst ihre Vermögen mit oft ruinöser Spekulation verdienten (vgl. Seidl: Das Böse an der Börse bekämpfen, in: FAZ vom 09. 02. 2021, S. 9). Dieses abschließende Beispiel steht dafür, dass Bank- und Börsenpolitik in Zeiten der Corona-Pandemie nicht nur wirtschaftliche und technische Aspekte sondern auch soziale und psychologische Hintergründe haben kann. Dabei ist es einer abschließenden Beurteilung nach Ende oder in einer Spätphase der Pandemie vorbehalten, zu beurteilen, ob diese die Entwicklungen beschleunigt oder vielleicht sogar verzögert hatte. Der Ansicht, es gäbe vor allem einen Push in der Digitalisierung muss beigepflichtet werden. Im Bankensektor trifft das vor allem auf das Kreditgeschäft zu, auch auf das Mengengeschäft im Retail-Banking, allerdings entsprechend unterschiedlicher digitaler Entwicklungsstufen einzelner Banken, sodann schon weniger auf den digitalisierten Anlagesektor (z. B. Robo-Advice) und kaum noch auf den digital hochgerüsteten Börsenbereich. Ob sich eine andere Meinung bewahrheitet, wonach die Pandemie derart starke Triebkräfte entfaltet, dass ein Vorsprung in der Entwicklung der Wirtschaft von zwei bis drei Jahren entsteht, bleibt heute noch unbeantwortet. Ebenso, ob Banken in dieser Krise Teil der Lösung bleiben oder später noch selbst Teil des Problems werden, wenn sich die vollen Auswirkungen der Pandemie in den Bilanzen ihrer Kunden niederschlagen werden. Dazu müssen noch die Gefahren abgewartet werden, die evtl. von weiteren Lockdowns ausgehen können (Stand: Februar 2021).

Literatur Dorfleitner/Hornruf: Fin Tech-Markt in Deutschland, Abschlußbericht vom 17. 10. 2016 Fehr: Filialen sind entbehrlich, Banken nicht, in: FAZ vom 07. 09. 2020, S. 21 Mannweiler/Nestler: Auch Einhörner kämpfen mit Corona, in: FAZ vom 06. 11. 2020, S. 23 Preußer: Green Finance kommt, in: FAZ vom 17. 09. 2020, S. 18 Schönauer: Die Börse darf die Krise nicht verschwenden, in: FAZ vom 15. 08. 2020, S.15 Schuster: Wege aus der Banken- und Börsenkrise 2004, S. 3 ff. Wagner: Mittelständler im Blick, in: Green Finance, Grüne Finanzierung und nachhaltige Kapitalanlagen, Finance Magazin, September 2020.

Der Notar im kollektiven Arbeitsrecht Von Christine Windbichler

I. Einführung Johannes Hager hat sich mit vielen dogmatisch spannenden und praktisch relevanten Rechtsfragen intensiv auseinandergesetzt. Das kollektive Arbeitsrecht stand dabei nicht unbedingt im Mittelpunkt. Doch bestehen deutliche Berührungspunkte einzelner Probleme aus dem kollektiven Arbeitsrecht mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in allen seinen Ausprägungen,1 dem Einsatz von Notaren,2 verfassungsrechtlichen Grenzen im Zivilrecht und Abwägung als Methode, also zentralen Interessengebieten des Jubilars. Deshalb sei ihm die folgende Schilderung einer etwas entlegenen Problematik in der Hoffnung auf seine Aufmerksamkeit gewidmet. Das BetrVG und das MitbestG,3 auch andere Gesetze, räumen Gewerkschaften zahlreiche Rechte ein unter der Voraussetzung, dass sie im Betrieb bzw. Unternehmen „vertreten sind“. Die ständige Rechtsprechung des BAG deutet das „Vertretensein“ so, dass dafür ausreicht, wenn auch nur ein Arbeitnehmer des Betriebes bzw. Unternehmens Gewerkschaftsmitglied ist.4 Das führt zu der Frage, wie das ggf. nachzuweisen ist. Die betroffene Person soll – u. a. im Interesse ihres Persönlichkeitsschutzes – nicht namentlich genannt werden müssen. Deshalb soll die Gewerkschaft den erforderlichen Nachweis auch mithilfe notarieller Erklärungen führen können. Diese mittelbare Beweisführung hat der Gesetzgeber durch Einfügung des § 58 Abs. 3 ArbGG akzeptiert und verallgemeinert; ein Bedarf dafür wurde wegen der sog. Mehrheitsregel zur Auflösung von Tarifpluralität im Tarifeinheitsgesetz5 gesehen. Fragen des materiellen und des Prozessrechts einschließlich verfassungsrechtlicher Bezüge werden damit aber kaum gelöst, sondern eher überdeckt. Das alles ist hier nicht umfassend zu erörtern; eher praxisorientiert ist zu fragen, was der Notar tun

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Hager, in: Staudinger, BGB, 2017, § 823 C. Bestens belegt durch seine Tätigkeit an der Forschungsstelle für Notarrecht der LudwigMaximilians-Universität München und die regelmäßigen Berichte zum Notarrecht zusammen mit Müller-Teckhof in der NJW. 3 §§ 2, 16 ff., 23 Abs. 3, 46, 66 Abs. 1 BetrVG; § 7 Abs. 5 MitbestG. 4 NZA 1993, 134 m. w. N. 5 Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) v. 22. 5. 2015, BGBl. I 1130, geändert durch Gesetz v. 30. 11. 2018, BGBl. I 2651. 2

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Christine Windbichler

soll, kann und darf. Zu diesem Zweck sind die einschlägigen Entscheidungen und die Argumente des Gesetzgebers sowie die Kritik in der Literatur näher zu betrachten.

II. Die Rechtsprechung und Literatur zum Vertretensein einer Gewerkschaft im Betrieb und Unternehmen 1. Die Leitentscheidung Eine Gewerkschaft verlangte Zutritt zu einem Betrieb, um gem. §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 BetrVG zu einer Betriebsversammlung einzuladen. Dieses Recht steht Gewerkschaften zu, die in dem betr. Betrieb vertreten sind. Dazu musste sie wenigstens ein Mitglied unter den dortigen Beschäftigten haben. In dem Betrieb mit über 600 Arbeitnehmern verfolgte die Arbeitgeberin ein sog. individualistisches Personalkonzept – „Im Mittelpunkt steht der Mensch“, dem kollektive Interessenvertretung zuwiderlaufe.6 Sie bestritt, dass die antragstellende Gewerkschaft im Betrieb vertreten sei. Die Gewerkschaft wiederum behauptete, eines ihrer Mitglieder sei bei der Arbeitgeberin beschäftigt, wollte aber das Mitglied nicht namentlich als Zeugen benennen. Stattdessen stützte sie die Beweisführung auf notarielle Erklärungen. Der Notar bescheinigte, vor ihm sei eine Person zusammen mit einem Sekretär der Gewerkschaft erschienen und habe die eidesstattliche Versicherung abgegeben, dass sie derzeit im Werk 2 der Arbeitgeberin beschäftigt sei und in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehe. Diese Person habe ihm einen gültigen Reisepass sowie einen bankverbuchten Überweisungsträger vorgelegt, bei dem es sich nach Form und Gestaltung um eine Lohnabrechnung handele. Der Überweisungsträger enthalte Angaben zur Personalnummer, zur Steuerklasse, zum Lohnsatz, zur Sozialversicherung etc. Als Auftraggeber der Banküberweisung sei die Arbeitgeberin und als Empfänger der Name des erschienenen Arbeitnehmers angegeben. In der mündlichen Verhandlung traten der Gewerkschaftssekretär sowie der Notar als Zeugen auf. Die Arbeitgeberin hielt eine Liste ihrer Beschäftigten zwar bereit, verweigerte aber dem Notar die Einsicht. Das LAG verwertete die notarielle Erklärung im Wege des Urkundenbeweises als Hilfstatsache für einen Indizienbeweis. Dass es sich nicht um einen leitenden Angestellten handelte, der nach, § 5 Abs. 3 BetrVG nicht erfasst wäre, wurde aus der Vergütung geschlossen. Das hat das BAG nicht beanstandet. Die mittelbare Beweisführung sei gerechtfertigt im Interesse der Gewerkschaft, die die personelle Grundlage ihres Betätigungsrechts im Betrieb nicht gefährden wolle, und im Interesse des Schutzes des Arbeitnehmers vor Belastungen des Arbeitsverhältnisses durch Gegenmaßnahmen des Arbeitgebers.7 Im entschiedenen Fall wurde eine solche konkrete Gefahr festgestellt. 6

BAG, Beschl. v. 25. 3. 1992 – 7 ABR 65/90 (juris) Rn. 35, in NZA 1993, 134 ff. insoweit nicht abgedruckt; anschaulich auch die Vorinstanz LAG Nürnberg, AuR 1991, 220; s. auch LAG Baden-Württemberg, BeckRS 2010, 66271. 7 BAG, NZA 1993, 134 (136).

Der Notar im kollektiven Arbeitsrecht

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Das BVerfG verwies in seinem Nichtannahmebeschluss8 die Beweisregeln ins einfache Recht und nicht in den Bereich des Art. 103 Abs. 1 GG; der Richter müsse bei der freien Beweiswürdigung aber den geringeren Beweiswert eines mittelbaren Beweismittels berücksichtigen. 2. Die namentliche Benennung In einem anderen Fall wurde das Gewerkschaftsmitglied namentlich benannt; der Streit ging darum, ob der Arbeitnehmer H. zu Unrecht von der Gewerkschaft aufgenommen worden war und ob es auf die Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft für das Vertretensein im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne ankomme.9 Nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch die übrige Belegschaft erschien der Wahl eines Betriebsrates wenig zugeneigt. Im Ergebnis wurde die antragstellende Gewerkschaft als im Betrieb vertreten bestätigt und war damit befugt, die Bestellung eines Wahlvorstandes zur Betriebsratswahl zu beantragen. Das Arbeitsgericht hatte einen Wahlvorstand bestellt, war aber dem Vorschlag, H. zu bestellen, nicht gefolgt. Das wurde vom BAG nicht beanstandet. Der Fall zeigt, dass die Anonymität nicht unbedingt der Regelfall sein muss, und dass immer wieder materiell- und prozessrechtlichen Fragen zu den Anforderungen des Vertretenseins, hier der Qualität der Mitgliedschaft und der Relevanz der Tarifzuständigkeit, auftauchen. 3. Die Literatur Das Schrifttum hat sich ganz überwiegend der Rechtsprechung angeschlossen, die für das Vertretensein ein einziges Gewerkschaftsmitglied im Betrieb genügen lässt.10 Die Grundfrage nach der Legitimation der nicht unbeträchtlichen gewerkschaftlichen Rechte in der Betriebsverfassung ist damit nicht unbedingt befriedigend gelöst. De lege lata und auch im Rechtsvergleich finden sich aber kaum tragfähige Alternativen,11 zumal gewachsene Strukturen ein beträchtliches Eigengewicht besitzen. Auch die Beweisführung mithilfe notarieller Tatsachenbescheinigung hat ganz überwiegend Zustimmung gefunden.12 Gegenstimmen sind vereinzelt, aber nach8

BVerfG, NZA 1994, 891. BAG, NZA 2005, 426. 10 Richardi/Maschmann, in: Richardi, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 2 Rn. 69 f. m. w. N. 11 Vgl. etwa zum US-amerikanischen Arbeitsrecht (Mehrheitsentscheid der Beschäftigten in geheimer Abstimmung) Reiter/Clement, RdA 2019, 290 (292 f.); umfassend Schüren, Die Legitimation der tariflichen Normsetzung, 1990; zur Tarifbindung in Schweden Schlachter, SR 2020, 205. 12 Besgen, in: BeckOK Arbeitsrecht, 58. Ed., BetrVG § 2 Rn. 21; U. Koch, in: ErfK, 21. Aufl. 2021, ArbGG § 58 Rn. 3; Richardi/Maschmann, in: Richardi, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 2 Rn. 71. 9

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drücklich.13 Es handele sich um ein Geheimverfahren, das der Gegenseite die Möglichkeit, die Auskunftsperson (den Arbeitnehmer) als Zeugen zu befragen, nehme, und das die Beweisaufnahme unzulässig auf den Notar delegiere.14 Dem wird entgegengehalten, dass der Notar ausschließlich Tatsachen bescheinige. Die Formulierungsvorschläge für eine solche Tatsachenbeurkundung zum mittelbaren Nachweis des Vertretenseins einer Gewerkschaft i. S. d. BetrVG gehen denn auch von einer Auflistung der vorgelegten Dokumente und Wiedergabe des maßgeblichen Inhalts, ohne Echtheitsprüfung und rechtlicher Würdigung, sowie der Niederschrift eidesstattlicher Versicherungen aus.15

III. Das Tarifeinheitsgesetz Das Phänomen der Tarifpluralität ist nicht neu; die ältere Rechtsprechung löste Kollisionen pragmatisch (im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit) nach dem Prinzip „ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ und dem Spezialitätsprinzip. In der Literatur wurde diese „Tarifeinheit“ mangels dogmatischer Begründung und mit verfassungsrechtlichen Bedenken abgelehnt.16 Dem ist das BAG seit 2010 gefolgt.17 Daraufhin, auch durch die Zunahme von Spartengewerkschaften, traten häufiger Tarifpluralitäten und Spartenarbeitskämpfe auf.18 Der Gesetzgeber führte 2015 mit dem Tarifeinheitsgesetz die Tarifeinheit als Kollisionsregel ein. Das BVerfG hielt das Gesetz für überwiegend mit dem GG vereinbar, verlangte aber einige Korrekturen; die abweichende Meinung des Richters Paulus und der Richterin Baer enthält herbe Kritik.19 Insgesamt wird das Gesetz, auch mit den Nachbesserungen 2018, als missglückt bzw. untauglich angesehen.20 Es soll offenbar die Tarifparteien 13 Für Verfassungswidrigkeit Prütting, NJW 1993, 576 (577); Prütting/Weth, DB 1989, 2273; Schilken, SAE 1993, 308 (314). 14 Prütting, NJW 1993, 576 (577); ähnlich Ulrici, NZA 2017, 1161 (1165). 15 Becker, BWNotZ 2013, 175; Manske/Witt, MPFormB ArbR, 5. Auflage 2017, Form. C. VI. 1. Anm. 5; vgl. auch Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, DNotZ 2017, 534 (544). 16 Vgl. etwa Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2008, § 38 III. 2. b) m. w. N. 17 BAG, NZA 2010, 1068. 18 Zur Entwicklung Giesen, ZfA 2919, 40. 19 BVerfG, NZA 2017, 915. 20 Z. B. Bayreuther, NZA 2013, 1395 (zum Entwurf); Bayreuther, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, 2014, S. 58 (76 ff.) (bereits im Vorfeld: nicht rechtfertigungsfähig); Bepler, RdA 2015, 194; Ewer, NJW 2015, 2230; Greiner, NZA 2015, 769; Henssler, in: HWK, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 4a TVG Rn. 7; Konzen/ Schliemann, RdA 2015, 1 (zum Entwurf); Lobinger, in: FS Windbichler, 2020, S. 289 (291 ff.); Mückl/Koddenbrock, GWR 2015, 6 (zum Entwurf); Richardi, NZA 2015, 915; Temming nach Brauer/Hornschu, RdA 2019, 252 (253); Ulrici, NZA 2017, 1161; aus den wenigen positiven Stimmen Baeck/Winzer/Ruttloff, NZG 2015, 2715; Giesen, ZfA 2019, 40 (63 ff.).

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dazu animieren, es nicht zur Anwendung kommen zu lassen;21 das abweichende Votum hält das für einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Tarifautonomie.22 Aber was kommt ggf. auf den Notar zu? 1. Die Regelung im TVG Nach § 4a TVG Abs. 2 Satz 2 TVG sind in einem Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat, soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden. Das erfordert die Feststellung, wie viele Mitglieder die mutmaßliche Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb hat, je nach Organisationsgrad auch der Mitgliederzahl einer konkurrierenden Gewerkschaft. Daneben bestehen weitere Anwendungsprobleme, etwa die Bestimmung des Betriebes i. S. d. Vorschrift (tarifrechtlich oder betriebsverfassungsrechtlich, Gemeinschaftsbetrieb, Vereinbarungen nach § 3 BetrVG, Sonderregeln für See- und Luftfahrt),23 die Art der erforderlichen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft (Voll-, Gast-, Ehrenmitglied, „Karteileiche“),24 welche Arbeitnehmer erfasst sind (leitende Angestellte, AT-Angestellte, Auszubildende,25 Beurlaubte, Gekündigte bei noch laufender Kündigungsfrist oder angegriffener Kündigung, Scheinselbständige, Altersteilzeitler im Blockmodell)26 etc. Die Arbeitnehmereigenschaft, Betriebszugehörig-

21 BegrRegE BT-Drucks. 18/4062 S. 9: „Es ist Aufgabe der Tarifvertragsparteien, durch autonome Entscheidungen Tarifkollisionen zu vermeiden.“; Greiner, NZA 2015, 769 (770 f.): „bad law makes good contracts“, „[e]ine gesetzliche Regelung mit hohen Anwendungsunsicherheiten kann wirksame Anreize setzen, die Dinge autonom und außerhalb des Gesetzes zu lösen“; Lobinger in FS Windbichler, 2020, S. 289 (297); eine Wirkung in dieser Richtung stellt Giesen, ZfA 2019, 40 (61 ff.), fest. 22 BVerfG, NZA 2017, 915 (927 ff.). 23 Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1397) (zum Entwurf); Bepler, RdA 2015, 194 (196); Franzen in ErfK, 21. Aufl. 2021, TVG § 4a Rn. 19 ff.; Giesen, in: BeckOK Arbeitsrecht, 27. Ed. 1. 3. 2021, TVG § 4a Rn. 18; Greiner, NZA 2015, 769 (772, 774); Henssler, in: HWK, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, TVG § 4a Rn. 26 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 81 ff. 24 Greiner, NZA 2015, 769 (773); Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 167 f.; Grimm, in: Tschöpe, Arbeitsrecht Hdb, 11. Aufl. 2019, Koalitions-, Arbeitskampf- und Tarifrecht Rn. 360. 25 Die BegrRegE BT-Drucks. 18/4062 S. 13 will diese mitzählen; a. A. Klumpp, in: MüHdbArbR, Bd. 3, 4. Aufl. 2019, § 256 Rn. 48; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 158. 26 Giesen, in: BeckOK Arbeitsrecht, 27. Ed. 1. 9. 2020, TVG § 4a Rn. 19; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 165 ff.

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keit und Mitgliedschaft in der Gewerkschaft müssen ferner kumulativ zum Zeitpunkt des zuletzt abgeschlossenen Tarifvertrags gegeben sein, § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG.27 2. Das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren Eingedenk der Schwierigkeiten der Feststellung der Mehrheit i. S. d. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ergänzte der Gesetzgeber das ArbGG um ein besonderes Beschlussverfahren für diese Fälle, §§ 2a Abs. 2 Nr. 6, 99 ArbGG.28 Im Beschlussverfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, ergänzt durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten und die Beweislastverteilung.29 § 58 Abs. 3 ArbGG lässt insbesondere den Beweisantritt über die Zahl der in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder oder das Vertretensein einer Gewerkschaft in einem Betrieb durch die Vorlegung öffentlicher Urkunden zu. Die Gesetzesbegründung ging dabei von der Zulässigkeit mittelbarer Beweismittel, auch bei vorhandenen unmittelbaren Beweismitteln, aus und zitiert die Entscheidung des BAG von 1992.30 Die Beweisführung über eine notarielle Erklärung stelle sicher, dass die Gewerkschaft die Namen ihrer im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Rahmen nicht nennen müsse. Gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würden damit in ihrer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition aus Art. 9 Abs. 3 GG sowie ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Ferner wird durch die Mehrheitsfeststellung der Organisationsgrad der Gewerkschaft offengelegt, was nach der Rechtsprechung während der Tarifverhandlungen vertraulich bleiben darf.31 Nach Tarifabschluss gilt das nur eingeschränkt, doch soll laut BVerfG die Offenlegung der Mitgliederstärke möglichst vermieden werden.32

27 Zur Bestimmung des Zeitpunkts Klumpp, in: MüHdbArbR, Bd. 3, 4. Aufl. 2019, § 256 Rn. 51. 28 Ob das Beschlussverfahren gestaltend oder deklaratorisch ist, ist umstritten; vgl. Klumpp, in: MüHdbArbR, Bd. 3, 4. Aufl. 2019, § 256 Rn. 52 ff.; Löwisch, NZA 2015, 1369; Löwisch, NZA 2016, 997; Ulrici, NZA 2017, 1161 (1162 ff.) m. w. N. Zum Individualverfahren sagt das Gesetz nichts; die damit verbundenen Probleme beeinträchtigen die Möglichkeit der Arbeitnehmer, sich auf einen „Mehrheitstarifvertrag“ zu berufen; Greiner, NZA 2015, 769 (774); Henssler, in: HWK, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 4a TVG Rn. 32; milder Ulrici, NZA 2017, 1161 (1163). 29 Schwab/Weth, ArbGG, 5. Aufl. 2018, § 83 Rn. 5 ff., 10 ff., 23 ff. 30 BegrRegE BT-Drucks. 18/4062 S. 16 unter Hinweis auf BAG, Beschl. v. 25. 3. 1992 – 7 ABR 65/90, NZA 1993, 134. 31 BAG, NZA 2015, 306; gegen Verallgemeinerung Ulrici, NZA 2017, 1161 (1164). 32 BVerfG, NZA 2017, 915 (921, 925).

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IV. Die Notarbescheinigung 1. Der Nachweis eines Gewerkschaftsmitglieds im Betrieb Bereits der Nachweis des Vertretenseins einer Gewerkschaft im Betrieb mithilfe der Notarbescheinigung hat sich als äußerst voraussetzungsvoll erwiesen. Dabei geht es in diesem Fall nur um eine einzige Person. Die Auflistung der Unterlagen, die dem Notar vorgelegt wurden bzw. vorzulegen sind, sowie die eidesstattlichen Versicherungen, die aus den entschiedenen Fällen und den Praxishandreichungen zu entnehmen sind, summieren sich zu einem beträchtlichen Konvolut. Zur Vorlage bei Gericht hat der Notar die Angaben, die die betr. Person identifizieren, zu schwärzen, § 18 Abs. 1 BNotO. Die Beweiswirkung der §§ 415, 418 ZPO bezieht sich auf die durch die Urkundsperson beurkundete Tatsache, also die Vorlage der Abrechnungen etc. und die abgegebenen Erklärungen. Eine inhaltliche Richtigkeit wird damit nicht belegt.33 Das Vertretensein der Gewerkschaft würdigt das Gericht im Lichte dieser Angaben, ggf. unter Hinzuziehung von Zeugenaussagen und anderen Erwägungen, z. B. der Gehaltshöhe als Indiz für eine nichtleitende Funktion. Kritiker dieser Lösung bemängeln, dass die Gegenseite in Unkenntnis der vorgelegten Unterlagen und der Identität der aussagenden Personen in ihren prozessualen Rechten beschnitten werde.34 Der Arbeitgeber mag kooperieren und eine Liste der Beschäftigten vorlegen oder auch nicht. Sein Verhalten ist ggf. für die Beweiswürdigung relevant. Streitig ist ferner, ob und in welchem Umfang der Notar Sachverhaltserforschung betreiben und rechtliche Erwägungen anstellen darf oder muss. Es handelt sich schließlich um ein Wahrnehmungszeugnis, das aber nicht ohne rechtlichen Kontext ist.35 2. Die Weiterungen § 58 Abs. 3 ArbGG, eingeführt angesichts der Notwendigkeit, bei Tarifpluralität die Mehrheitsgewerkschaft festzustellen, ist nicht auf diesen Anwendungsfall beschränkt.36 Voraussetzungen und Folgen dieser Art der Beweisführung regelt die Vorschrift aber nicht. Für die Feststellung der in einem Betrieb mit relativer Mehrheit vertretenen Gewerkschaft kommen zu den oben genannten weitere, vor allem auch praktische, Probleme hinzu. Die Begründung zum Regierungsentwurf macht es sich leicht und spricht schlicht von der „Beweisführung über eine notarielle Erklä33

Herrler, in: Staudinger, BGB (2017), BeurkG Rn. 702 f.; Schwab/Weth, ArbGG, 5. Aufl. 2018, § 58 Rn. 60. 34 Prütting, in: GMP, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 58 Rn. 95 f.; Prütting/Weth, NJW 1993, 576; Schilken, SAE 1993, 308 (314); Weth, in: FS Prütting, 2018, S. 597. 35 Das steht einer Beurkundungspflicht wie bei bestimmten Rechtsgeschäften oder einem Beurkundungsanspruch, die besondere Schutz- und Belehrungspflichten auslösen, nicht gleich; vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 18. 3. 2014 – 2 W 495/13, NJW 2014, 1972 zum Nachlassverzeichnis; dazu Hager/Müller-Teckhof, NJW 2015, 1857 (1858). 36 BegrRegE BT-Drucks. 18/4062 S. 16.

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rung“.37 Auch das BVerfG geht davon aus, dass notariell bescheinigt werden könne, wer die Mehrheit im Betrieb organisiere.38 In der Literatur haben sich unscharfe Breviloquenzen, wenn nicht Fehlverständnisse, eingeschlichen, etwa die „notarielle Beurkundung der Mehrheitsverhältnisse“.39 Im schriftsätzlichen Vorbringen im Beschlussverfahren mag die Formulierung „durch diese notarielle Tatsachenbescheinigung ist der Nachweis erbracht, dass die Antragstellerin im Betrieb vertreten ist“,40 bzw. die meisten Mitglieder im Betrieb hat, hingehen. Das Gericht muss aber mit den zahlreichen vor- und nachgelagerten Rechts- und Tatsachenfragen umgehen und sich unabhängig seine Überzeugung bilden, § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Und welche Tatsachen kann der Notar praktischerund sinnvollerweise bescheinigen? Aus der Notarpraxis wird vorgeschlagen, arbeitsrechtliche Streitfragen wie Betriebszugehörigkeit, Arbeitnehmereigenschaft etc. vorab im Beschlussverfahren zu klären; das führe zu einer konsentierten „Arbeitgeberliste“, die dem Notar zwecks Abgleichs mit der Mitgliederliste der Gewerkschaft vorgelegt werde.41 Das verkennt, dass die mutmaßliche Mehrheitsgewerkschaft und der Arbeitgeber sich durchaus einig sein können,42 der Antragsteller, eine mutmaßliche Minderheitsgewerkschaft, die Probe aufs Exempel haben will und der Arbeitgeber zwar anzuhören, womöglich aber nicht Beteiligter ist.43 Über die Bereitschaft der Arbeitsgerichte, ein Verfahren nach § 99 ArbGG an fehlenden Nachweisen scheitern zu lassen,44 kann man allenfalls spekulieren. Es könnte jedenfalls zu einem rechtsmittelfähigen Zwischenbeschluss und langwierigen Kontroversen kommen. Welche Streitfragen zu klären sind, ist abstrakt ohne Kenntnis der vorhandenen Belegschaft auch kaum endgültig entscheidbar; die „Arbeitgeberliste“ müsste zudem auf den Stichtag des Tarifabschlusses erstellt werden, was erneut zu Unklarheiten und Konflikten führen kann. Die Rechtsfragen, die mit der Qualifizierung der Mitgliedschaften in einer oder gar beiden konkurrierenden Gewerkschaften verbunden sind, lassen sich auf diese Weise ohnehin nicht lösen. Die Vorschläge, die 37

BegrRegE BT-Drucks. 18/4062 S. 16. BVerfG, NZA 2017, 915 (925). 39 Temming nach Brauer/Hornschu, RdA 2019, 252 (253) (Tagungsbericht); auch Greiner, NZA 2015, 769 (773): „Errichtung einer notariellen Urkunde über den Mitgliederbestand“. 40 Manske/Witt, MPFormB ArbR, 5. Aufl. 2017, Form. C. VI. 1. 41 Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, NZA 2017, 1167; Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, DNotZ 2017, 534 (545 f.); ähnlich Henssler, in: HWK, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 4a TVG Rn. 34. 42 Vgl. den nachdrücklichen Hinweis des Sondervotums in BVerfG, NZA 2017, 915 (929): Das angegriffene Gesetz gehe auf einen politischen Kompromiss zwischen DGB und BDA zurück, an dem die Branchen- und Berufsgruppengewerkschaften nicht beteiligt waren; vgl. auch Mückl/Koddenbrock, GWR 2015, 8. – In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen behauptet die GDL genau das; FAQ der GDL 3.14, https://www.gdl.de/Aktuell-2021/Telegramm1615220939 (abgerufen 28. 4. 2021). 43 Ulrici, DB 2015, 2511 (2513); a. A. Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, DNotZ 2017, 534 (540). 44 Ulrici, NZA 2017, 1161 (1166 a. E.). 38

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Gewerkschaftsmitglieder möchten den Notar aufsuchen und ihre Mitgliedsausweise vorzeigen, oder Arbeitnehmer als Zeugen zur Klärung solcher Fragen zu laden,45 helfen hier nicht. 3. Die Kritik Die Vorschrift wird deshalb überwiegend kritisch gesehen;46 Prütting hält sie für evident verfassungswidrig.47 Abgesehen von rein praktischen Problemen sind die Grenzen zwischen der Wahrnehmung und der rechtlichen Einschätzung zu ziehen.48 Der Notar kann getreulich aufnehmen, was ihm vorgelegt und vorgetragen wird, ohne die rechtliche Relevanz zu beachten. In den Fällen des Nachweises zum Vertretensein hat man den Eindruck, dass das so geschehen ist. Z. B. machte in der Leitentscheidung die beim Notar erschienene Person keine Angabe dazu, ob sie eine leitende Position innehabe. Für die Betriebsverfassung ist das aber wichtig, denn für leitende Angestellte gilt das BetrVG nicht, § 5 Abs. 3 BetrVG. Das Gericht entschied die Frage mithilfe der Lohnhöhe. Fraglich ist die Bedeutung der aufgenommenen Aussage, dass die Person in einem „ungekündigten“ Arbeitsverhältnis stehe.49 Das mag hilfreich gemeint sein, ist rechtlich aber nicht entscheidend, denn bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ist ein Arbeitnehmer weiterhin Arbeitnehmer; danach kommt es ggf. auf den Ausgang eines Kündigungsrechtsstreits an.50 Für eine Zählung zu einem Stichtag passt „ungekündigt“ nicht. Wenn dagegen die „Mitgliedschaft“ in einer Gewerkschaft bzw. der mehrheitliche Organisationsgrad in einem Betrieb belegt werden sollen, ist das ohne rechtliche Einschätzungen nicht möglich.51 Das BVerfG erwartet offenbar, dass die notwendige 45

Grimm, in: Tschöpe, Arbeitsrecht Hdb, 11. Aufl. 2019, Koalitions-, Arbeitskampf- und Tarifrecht Rn. 370 (Mitgliedsausweis); Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, DNotZ 2017, 534 (545) (Zeugen). 46 Ganz, NZA 2015, 1110; Griese, in: Küttner, Personalbuch, 27. Aufl. 2020, Tarifeinheit Rn. 8; Hamacher, in: BeckOK Arbeitsrecht, 59. Ed. 1. 3. 2021, ArbGG § 58 Rn. 22 ff.; Henssler, in: HWK, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 4a TVG Rn. 34; Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, NZA 2017, 1167 (1168): Steine statt Brot; Ulrici, DB 2015, 2511; Ulrici, NZA 2017, 1161; milder Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (10); Schwab/Weth, ArbGG, 5. Aufl. 2018, § 58 Rn. 69c: die schwierigen Fälle dürften praktisch selten sein. 47 Prütting, in: GMP, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 58 Rn. 45, 97. 48 Dem Notar wird empfohlen, Schlussfolgerungen und Wertungen jeglicher Art zu unterlassen; Becker, BWNotZ 2013, 175 (177); Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, DNotZ 2017, 534 (542 f.); Folgerungen tatsächlicher oder rechtlicher Art und Wertungen wahrgenommener Tatsachen haben keinen Beweiswert, Schreiber, in: MüKoZPO, 6. Aufl. 2020, § 418 Rn. 5. 49 Formulierungsvorschlag bei Manske/Witt, MPFormB ArbR, 5. Aufl. 2017, Form. C. VI. 1.; Becker, BWNotZ 2013, 175: „ungekündigte“ Stellung als Voraussetzung des Vertretenseins. 50 Besgen, in: BeckOK Arbeitsrecht, 59. Ed. 1. 3. 2021, BetrVG § 2 Rn. 21. 51 Greiner, NZA 2015, 769 (773 f.); Tiedemann, ArbRB 2015, 124 (126): Mitgliederliste nicht ausreichend; vgl. auch Ganz, NZA 2015, 1110.

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Mehrheit notariell bescheinigt werden könne.52 Aber darf und muss der Notar die damit verbundenen komplexen Rechtsfragen wirklich prüfen?53 Die Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses oder einer Mitgliedschaft bezieht sich auf Rechtsverhältnisse,54 die aus Wahrnehmungen abgeleitet werden, nicht auf die Wahrnehmung selbst. Wenn der Notar sich nach den Maßstäben für die richterliche Überzeugungsbildung Gewissheit verschaffen müsste, damit die öffentliche Urkunde den Zeugen- oder Augenscheinsbeweis vor Gericht ersetzen könnte,55 ist das Terrain des Wahrnehmungszeugnisses verlassen. Dann würde in der Tat die Beweisaufnahme an den Notar delegiert, was z. B. Prütting beanstandet.56 Das BAG verwertete die notarielle Erklärung über Hilfstatsachen zu Recht im Zusammenhang mit Zeugenaussagen und anderen Indizien.57 Wenn es um den Organisationsgrad einer oder mehrerer Gewerkschaften in einem Großbetrieb geht, ist das Sammeln und Auswerten solcher weiteren Indizien schwierig; genannt werden etwa die Ergebnisse von Betriebsratswahlen. Das erhöht das Gewicht der notariellen Erklärungen und könnte zu dem inkriminierten „reinen“ Urkundenbeweis führen.58 Die Bestätigung, dass Listen vorgelegt wurden, die übereinstimmende Namen enthalten, beweist aber wenig, zumal bei Interessengleichlauf die Listenersteller kaum etwas in Frage stellen dürften. Der gewissenhafte Notar würde in Gehaltsbescheinigungen etc. ertrinken und müsste eine Massenabfertigung einrichten. Die Deutsche Bahn berichtet im März 2021 von 71 Betrieben mit Tarifüberschneidungen und (angeblich) klaren Mehrheitsverhältnissen;59 die GDL ruft ihre Mitglieder zu „Tarifbindungsanzeigen“ an den Arbeitgeber auf.60 Der Gesetzgeber und das BVerfG hatten mutmaßlich die Vorstellung eines reinen Listenverfahrens, das aber den o. g. Zweifeln ausgesetzt ist. Sogar die Auswahl des Notars und dessen Unparteilichkeit werden als Konfliktquelle gesehen.61

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BVerfG, NZA 2017, 915 (925). So jedenfalls Greiner, NZA 2015, 769 (774); Poeche, in: BeckOK Arbeitsrecht, 57. Ed., ArbGG § 99 Rn. 6; auch Prütting, in: GMP, 9. Aufl. 2017, ArbGG § 58 Rn. 94; a. A. Hamacher, in: BeckOK Arbeitsrecht, 57. Ed., ArbGG § 58 Rn. 23; Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, DNotZ 2017, 534 (541 ff.); Ulrici, DB 2015, 2511 (2514); Ulrici, NZA 2017, 1161 (1165). 54 Ganz, NZA 2015, 1110 f., weist, wohl scherzhaft, darauf hin, dass für die Feststellung eines Rechts von unbestimmter Dauer der zehnfache Jahreswert des Rechts als Geschäftswert gelte; Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, NZA 2017, 1167 (1169). 55 So Greiner, NZA 2015, 769 (773). 56 Prütting, NJW 1993, 576 (577). 57 BAG, NZA 1993, 134 (135); BVerfG, NZA 1994, 891. 58 Prütting, in: GMP, 9. Aufl. 2017, ArbGG § 58 Rn. 95. 59 https://www.deutschebahn.com/de/presse/pressestart_zentrales_uebersicht/Tarifeinheitsge setz-Mehrheitsverhaeltnisse-in-Betrieben-stehen-fest-6053342 (abgerufen 28. 4. 2021). 60 FAQ der GDL 3.14, https://www.gdl.de/Aktuell-2021/Telegramm-1615220939 (abgerufen 28. 4. 2021). 61 Tiedemann, ArbRB 2015, 124 (125). 53

Der Notar im kollektiven Arbeitsrecht

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Auch die Notargebühren haben schon gebührende Aufmerksamkeit gefunden.62 Wenn das Gericht, nach dem Amtsermittlungsgrundsatz im Beschlussverfahren, den Notar beauftragt,63 fallen die Kosten der Staatskasse zur Last. Auch sonst kann § 2 Abs. 2 GKG dazu führen, dass die Kostenbelastung bei der Staatskasse verbleibt. Darin könnte ein Anreiz für die Beteiligten liegen, einen Beweisbeschluss abzuwarten. In den Entscheidungen zum Vertretensein wurde die Vorlage der Notarbescheinigung als Teil des schlüssigen Vortrags angesehen,64 was aber möglicherweise auf das Tarifeinheitsverfahren nicht übertragbar ist.65 Über den Geschäftswert kann man sich füglich streiten. Jedenfalls ist die Aussage der Regierungsbegründung, es entstünden für Bund und Länder keine Kosten,66 mit Vorsicht zu genießen.

V. Was folgt daraus? Wenn das Auslaufen des Grundlagen-Tarifvertrags zwischen Deutsche Bahn, EVG und GDL zum 1. 1. 2021 ohne Nachwirkung und ohne Nachfolgevereinbarung als Schreckensszenario, nämlich Anwendungsfall des Tarifeinheitsgesetzes, geschildert wurde,67 spiegelt das den vermuteten Zweck des Gesetzes wider, nämlich dass es nicht zur Anwendung kommen möge. Das hindert die rechtswissenschaftliche Befassung mit der Notarbescheinigung nicht, zumal schon die Ausgangsfälle mit Beteiligung nur einer Person etliche Fragen offenlassen. Die gewichtigsten Probleme liegen im materiellen Recht und den dahinterstehenden Wertungen. Das sind die bekannten kollektivarbeitsrechtlichen Fragen der Legitimation der kollektiven Interessenvertretung und der Begründung der Tarifautonomie als kollektiv-privatrechtlich oder delegiert, im Hintergrund dazu das Arbeitskampfrecht. Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen darüber sind partiell über hundert Jahre alt, rechtspolitisch und gesetzgeberisch aber nur teilweise gelöst.68 Hinzu kommt das generelle Spannungsverhältnis von Anonymität und Transparenz. Agieren aus dem Verborgenen und legitimer Persönlichkeitsschutz sowie Kampfparität bedingen einander nicht zwingend. Auch ohne Beschränkung des Grundrechtsschutzes auf einen Kernbereich69 steht nicht jede taktische oder strategische Vorstellung einer Gewerkschaft unter dem Schirm des Art. 9 Abs. 3 GG, vor allem, wenn es um das Verhältnis zu konkurrierenden Koalitionen geht. Der 62

Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg, NZA 2017, 1167 (1169 f.). Ob dieses Vorgehen zulässig ist, steht auch nicht außer Zweifel, vgl. Ulrici, DB 2015, 2511 (2514); Ulrici, NZA 2017, 1161 (1165): der Normalfall des Urkundenbeweises ist die Vorlage einer existierenden Urkunde, nicht deren Herstellung. 64 BAG, NZA 1993, 134 (135). 65 Ulrici, NZA 2017, 1161 (1166). 66 BegrRegE BT-Drucks. 18/4062 S. 2. 67 Vgl. FAZ v. 19. 12. 2020, S. 21. 68 Vgl. Sondervotum BVerfG, NZA 2017, 915 (927 f.). 69 BVerfG, NZA 1996, 381; krit. Schwarze, ZfA 2018, 149 m. w. N. 63

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Blickwinkel auf die klassische Gegenüberstellung Arbeitgeber – Gewerkschaft ist hier zu eng. Im vorliegenden Zusammenhang wird deutlich, dass die unausgewogenen und kaum praktikablen Verfahrenslösungen einen Weg um eine materiellrechtliche Regelung herum bahnen sollen.70 Dabei kann der Notar in missliche Situationen geraten. Das Tarifeinheitsgesetz wird intensiv unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit verhandelt.71 Was es dem Notar zumutet, ist eine Zumutung.

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Zur Bedeutung der Darlegungs- und Beweislast für die materielle Grundrechtskoordination Giesen/Rixen, NZA 2019, 577 (580 f.); vgl. auch Lobinger, in: FS Windbichler, 2020, S. 289 (299). 71 BVerfG, NZA 2017, 915: „zumutbar“ kommt 18-mal vor.

VI. Prozessrecht und Rechtsdurchsetzung

Zur Widerruflichkeit außergerichtlicher und gerichtlicher Feststellungsverträge Von Wolfgang Hau

I. Einleitung An Widerrufsrechten wie an Feststellungsverträgen scheiden sich die Geister: Erstere erweisen sich rechtspolitisch den einen insbesondere im Bereich des Verbraucherschutzes als unverzichtbar, den anderen als Irrweg;1 bei letzteren verhält es sich genauso, allerdings weniger aus rechtspolitischer als aus dogmatischer Perspektive. Aber auch in der Sache zeigt sich ein Zusammenhang: Feststellungsverträge bergen häufig besondere Risiken, deren Erkenn- und Kalkulierbarkeit nicht zuletzt von der Geschäftserfahrung abhängt, während Widerrufsrechte gerade dem typischerweise Geschäftsunerfahrenen die Abstandnahme vom bereits geschlossenen Vertrag ermöglichen sollen. Angesichts dessen erscheint es reizvoll, das bislang kaum erörterte Zusammentreffen beider Institute näher in den Blick zu nehmen.2

1 Beachte zu dieser Diskussion, statt mancher, etwa Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 82 f.; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 12. Aufl. 2020, § 43, insbes. Rn. 8 ff. 2 Weitaus intensiver als die Anwendbarkeit gesetzlicher Widerrufsrechte auf Feststellungsverträge wird bislang diskutiert, inwieweit die Parteien mit einem Feststellungsvertrag (namentlich vergleichsweise) über ein Widerrufsrecht disponieren können. Nach verbreiteter Ansicht soll dies nur dann zuzulassen sein, wenn sich der Vergleich zumindest auch auf Tatsachenfragen bezieht (so Soergel/Gröschler, 13. Aufl. 2015, § 779 Rn. 10) oder wenn sich die aufgeworfenen Rechtsfragen unter Heranziehung des Gesetzes und gefestigter Rechtsprechung nicht klären lassen (so MüKoBGB/Wendehorst, 8. Aufl. 2019, § 312k Rn. 5 f.); richtigerweise sollte man aber schon Rechtsunklarheit der Parteien genügen lassen (so etwa MüKoBGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, § 779 Rn. 12; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 779 Rn. 19). Streitig ist zudem, ob der Verbraucher für den Verzicht kompensiert werden muss (dafür BeckOK-BGB/Maume, Bearb. 2020, § 312k Rn. 6; dagegen Seidenberg, NJW 2019, 1254 [1256]). Beachte zum Streitstand hinsichtlich der Reichweite des in § 305 Abs. 5 KAGB vorgesehenen Verzichtsverbots etwa Wilhelmi, in: Assmann/Wallach/Zetzsche, Kapitalanlagegesetzbuch, 2019, § 305 Rn. 14.

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II. Eingrenzung des Themas 1. Feststellungsverträge Charakteristisch für Feststellungsverträge ist der Zweck, Streit oder Ungewissheit der Parteien hinsichtlich eines Rechtsverhältnisses zu beseitigen. Das augenfälligste Beispiel bildet der Vergleichsvertrag im Sinne von § 779 BGB:3 Soweit dessen Regelung reicht, ist es jeder Partei verwehrt, sich wieder auf ihren zuvor eingenommenen Standpunkt zurückzuziehen. Der Vergleich verwirklicht seinen Zweck, indem er die bestehenden Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel für unerheblich erklärt und ohne Rücksicht auf die wirkliche Rechtslage festlegt, was fortan zwischen den Parteien verbindlich gelten soll. Der Einwand, dass es sich anbiete, in diesem Zusammenhang eher von „Bereinigungsverträgen“ bzw. „Bereinigungszweck“ zu sprechen,4 setzt zwar den Akzent etwas anders, weicht aber in der Sache nicht wesentlich ab. Zu widersprechen ist hingegen der These, der Vergleich sei kein Feststellungs-, sondern ein Risikoübernahmevertrag, bei dem die Parteien gegenseitig teilweise die Risiken der Unrichtigkeit der Prätention der anderen Partei übernehmen, mithin ein gegenseitiger Vertrag mit Austauschzweck, dem der Feststellungs- bzw. Streitbeseitigungszweck als bloßer Abwicklungszweck nur „angestaffelt“ sei.5 Eine weitere, ebenso praktisch wie theoretisch bedeutsame Spielart des Feststellungsvertrags ist das sog. kausale Schuldanerkenntnis:6 Auch sein Zweck besteht darin, das Schuldverhältnis vertraglich entweder insgesamt oder in einzelnen Punkten dem Streit oder der Ungewissheit der Parteien zu entziehen und es insoweit endgültig festzulegen. Hier zeigt sich die Ähnlichkeit zum Vergleich, von dem es sich jedoch dadurch unterscheidet, dass Streit oder Ungewissheit nicht durch gegenseitiges, sondern durch einseitiges Nachgeben – nämlich des Schuldners – beseitigt wird. Der kausale (einseitige) Schuldanerkenntnisvertrag ist zwar im Gesetz nicht im Einzelnen geregelt, kommt aber durchaus gelegentlich zur Sprache7 und beruht letztlich auf der Vertragsfreiheit.8 Die gleichwohl immer wieder gegen seine dogmatische 3 Näher zu dieser Einordnung, statt mancher, etwa MüKoBGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, § 779 Rn. 32; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 779 Rn. 77 f.; jeweils m. w. N. 4 So etwa Bork, Der Vergleich, 1988, S. 155 ff. m. w. N. 5 So aber Ehmann, Schuldanerkenntnis und Vergleich, 2005, S. 115 ff., dessen These dem Charakteristikum und Primärzweck des Vergleichs, nämlich Beseitigung von Streit oder Ungewissheit, nicht annähernd gerecht wird. 6 Die verbreitete Bezeichnung als „deklaratorisches Schuldanerkenntnis“ ist ungenau und sollte vermieden werden; vgl. etwa Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 61 II 1 c. 7 So kann mit dem in § 13 Abs. 2 S. 2 ProdHaftG angesprochenen Anerkenntnis nur das kausale Schuldanerkenntnis gemeint sein. Dazu Staudinger/Oechsler, Bearb. 2018, § 13 ProdHaftG Rn. 14. 8 Zutreffend etwa Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 61 II 1 c; Marburger, Das kausale Schuldanerkenntnis als einseitiger Feststellungsvertrag, 1971, S. 30 ff.

Widerruflichkeit außergerichtlicher und gerichtlicher Feststellungsverträge

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Existenzberechtigung erhobenen Stimmen9 können nicht überzeugen.10 Nicht zur Gruppe der Feststellungsverträge11 zählen hingegen – zumindest im Regelfall – die abstrakten Schuldverträge im Sinne von §§ 780, 781 BGB: Denn deren Funktion besteht in erster Linie in der sog. Schuldverstärkung und nur ausnahmsweise zugleich darin, Streit oder Zweifel der Parteien über die Kausalschuld vergleichsähnlich auszuräumen.12 2. Gesetzliche Widerrufsrechte Beim Stichwort „Widerruf von Feststellungsverträgen“ kommen wohl zuerst Widerrufsvorbehalte in den Sinn, wie sie etwa beim Prozessvergleich oder im Versicherungsrecht im Zusammenhang mit Deckungszusagen geläufig sind.13 Im Folgenden werden indes nur gesetzliche Widerrufsrechte erörtert, die häufig, aber keineswegs stets auf europarechtlichen Vorgaben beruhen. Meist geht es um den Schutz von Verbrauchern im Sinne von § 13 BGB, sei es vor den Gefahren von Verträgen, die außerhalb von Geschäftsräumen oder im Fernabsatz abgeschlossen werden (§ 312g BGB), sei es vor bestimmten Vertragstypen, die der deutsche oder europäische Gesetzgeber als besonders risikoreich bzw. schwer überschaubar einstuft.14 Eine Kombination von abschlussmodus- und vertragstypbezogenem Widerrufsrecht enthält § 305 Abs. 1 KAGB für Käufer von Anteilen oder Aktien eines offenen Investmentvermögens, allerdings nur für Verbraucher (arg. Abs. 3 Nr. 1), die außerhalb von Geschäftsräumen zur Abgabe ihrer Willenserklärung bestimmt worden sind. Zu den Verträgen, die Verbraucher ohne Rücksicht auf den Abschlussmodus widerrufen können, zählen Teilzeit-Wohnrechteverträge, Verträge über ein langfristiges Urlaubsprodukt, Vermittlungs- oder Tauschsystemverträge (§ 485 BGB), Verbraucherdarlehensverträge (§ 495 Abs. 1 BGB), Vereinbarungen über einen Zahlungsaufschub oder sonstige Finanzierungshilfen (§ 506 Abs. 1 BGB), Ratenlieferungsverträge (§ 510 Abs. 2 BGB) sowie Verbraucherbauverträge (§ 650l BGB). Das Widerrufsrecht gemäß § 4 FernUSG knüpft zwar nicht an die Verbrauchereigenschaft an, wird aber am ehesten im Verbrauchergeschäft relevant. § 513 BGB erweitert den persönlichen Anwendungsbereich der § 495, § 506 und § 510 BGB auf Existenzgrün-

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Beachte aus neuerer Zeit Leitmeier, NZBau 2013, 681; Albers, JZ 2020, 776. Dazu etwa Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 781 Rn. 13 f. 11 Weitere Beispiele nennt Bork, Der Vergleich, 1988, S. 157 in Fn. 45. 12 Hierzu MüKoBGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, § 780 Rn. 46; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 780 Rn. 20, 22, 43 f. Wiederum verfehlt Ehmann, Schuldanerkenntnis und Vergleich, 2005, S. 84 ff., der meint, eine solche Abrede sei „vollkommen sinnlos, überflüssig und verfehlt“. 13 Zu Letzterem Ries, r+s 2019, 70 (76 f.). 14 Hierzu etwa Bülow/Artz, Verbraucherprivatrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 113 ff.; Gsell, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, Bearb. 2020, Rn. K 16 ff.; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 329 ff. 10

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der.15 Noch weiter reicht § 8 VVG, wonach alle Versicherungsnehmer, also grundsätzlich sogar Gewerbe- und Industriekunden, widerrufen können, und zwar unabhängig vom Vertriebsweg oder von den konkreten Umständen des Vertragsschlusses.16 Auch das mit § 2d VermAnlG geschaffene Widerrufsrecht für internetbasierte Schwarmfinanzierungen (Crowdinvesting) kommt nicht nur Verbrauchern, sondern ebenso professionellen Anleger zugute.17

III. Außergerichtliche Vergleiche 1. Abschlussmodusbezogene Widerrufsrechte Es fällt nicht schwer, sich Beispiele für Vergleichsabschlüsse vorzustellen, die außerhalb von Geschäftsräumen (§ 312b BGB) oder im Fernabsatz (§ 312c BGB) zustande kommen; man denke nur an eine Streitbeilegung zwischen einem Wohnraumvermieter und seinem Mieter in dessen Wohnung18 oder zwischen einem Händler und seinem Kunden via E-Mail. Im Verbrauchergeschäft unterliegt ein solcher Vergleich nach Maßgabe von § 312g BGB, also vorbehaltlich der dort in Abs. 2 und 3 vorgesehenen Ausnahmen, dem Widerrufsrecht des Verbrauchers.19 Dabei kommt es allein darauf an, ob der widerrufsrelevante Abschlussmodus gerade den Vergleich betrifft; hingegen ist weder notwendig noch hinreichend, dass bereits der Ausgangsvertrag geschäftsraumfern oder in einer Fernabsatzsituation begründet wurde. Keine durchgreifenden Bedenken gegen die Widerruflichkeit eines Vergleichs ergeben sich aus § 312 Abs. 1 BGB, wonach das fragliche Geschäft „eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand“ haben muss.20 Der in mehrfacher Hinsicht unglücklich gewählte Begriff der Entgeltlichkeit setzt (anders als eine „Entgeltforderung“ im Sinne von §§ 286 Abs. 3, 288 Abs. 5 BGB) nicht voraus, dass der Ver-

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Dazu BT-Drucks. 16/11643, S. 96. Beachte BT-Drucks. 16/3945, S. 61 (mit S. 59 f.). Kritisch Bruns, Privatversicherungsrecht, 2015, § 19 Rn. 25, 40. 17 Dies wird nicht näher begründet in BT-Drucks. 18/4708, S. 65. Klarstellend und kritisch zur Reichweite des Widerrufsrechts Danwerth, WM 2016, 1212 (1214 f.); aufgeschlossener Schneider, WM 2018, 2061 (2063 f.). 18 Beachte § 312 Abs. 4 S. 1, Abs. 3 Nr. 7 BGB; der in § 312 Abs. 4 S. 2 BGB vorgesehene Ausschluss des Widerrufsrechts gilt nur für die Begründung des Mietverhältnisses, nicht für dem nachfolgende Vertragsschlüsse; vgl. BT-Drucks. 17/12637, S. 48. 19 Dazu etwa Greger, in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 MediationsG Rn. 293; MüKoBGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, § 779 Rn. 12; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 779 Rn. 64; BeckOGK-BGB/Hoffmann, Bearb. 2020, § 779 Rn. 114. 20 Beachte zur europarechtlichen Problematik dieses Kriteriums noch unten V. 16

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braucher mit dem Geschäft eine Geldzahlungspflicht übernimmt.21 Ebenso wenig ist zu fordern, dass sich der Vergleich als gegenseitiger Vertrag im Sinne von §§ 320 ff. BGB erweist: Das ist zwar häufig, aber keineswegs zwingend der Fall; insbesondere liegt ein gegenseitiger Vertrag richtigerweise nicht schon deshalb vor, weil die Streitbeilegung gemäß § 779 Abs. 1 BGB „im Wege gegenseitigen Nachgebens“ zu erfolgen hat.22 Vielmehr kann sich der Vergleichsvertrag je nach getroffener Vereinbarung auch als nur einseitig verpflichtend oder als reines Verfügungsgeschäft erweisen.23 Dies steht indes seiner Widerruflichkeit nicht entgegen, weil man selbst dann das vergleichscharakteristische gegenseitige Nachgegeben für die von § 312 Abs. 1 BGB geforderte „entgeltliche Leistung des Unternehmers“ genügen lassen kann.24 Ganz in diesem Sinne ergibt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien, dass sogar ein Aufhebungsvertrag, mithin ein Verfügungsgeschäft par excellence, widerruflich sein soll.25 In der Sache wäre es im Hinblick auf den gebotenen Schutz des Verbrauchers vor übereilten Entscheidungen ohnehin alles andere als einsichtig, die Widerruflichkeit des Vergleichs von dessen Einordnung als Verpflichtungs- und/oder Verfügungsgeschäft abhängig zu machen. Ebenso wenig erschiene es angebracht, den Widerruf nur dann zu eröffnen, wenn der Unternehmer vergleichsweise eine neue Sachleistung verspricht: Die Erwägung, dass dem Verbraucher die Möglichkeit eröffnet werden soll, die Qualität einer Sachleistung zu überprüfen, ist zwar häufig, neben dem Übereilungsschutz, ein weiteres gesetzgeberisches Motiv für das Eröffnen von Widerrufsrechten,26 aber keineswegs ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung. Das Recht zur nachträglichen Abstandnahme von einem Vergleich erscheint im Übrigen, was hier nicht vertieft werden soll, deshalb besonders wichtig, weil etliche verbraucherschützende Vorschriften ausgerechnet dann keinen Schutz mehr bieten, wenn es schon zu Streit oder Ungewissheit über das Ausgangsrechtsverhältnis ge-

21 Klarstellend etwa BT-Drucks. 17/13951, S. 72; Staudinger/Thüsing, Bearb. 2019, § 320 Rn. 6. Nur mangels Vorliegens der situativen Voraussetzungen wurde ein Widerrufsrecht verneint bei BGH, NJW-RR 2008, 643 (644). 22 Zutreffend etwa BAG, NZA 2016, 716 (718 f.). 23 Vgl. zum Streitstand Bork, Der Vergleich, 1988, S. 139 ff., 170 ff.; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 779 Rn. 84 ff. 24 Wenn die Gesetzgebungsmaterialien voraussetzen, dass der Unternehmer die für den Vertrag charakteristische Leistung erbringen muss, aber einräumen, dass als „Entgelt“ jegliche Leistung des Verbrauchers genügen soll (BT-Drucks. 17/13951, S. 72), werden auch Fälle erfasst, in denen beide Seiten strukturell dasselbe tun, so wie beim Tausch oder eben – in Form des Nachgebens – beim Vergleich. 25 Vgl. BT-Drucks. 17/12637, S. 48. Beachte zudem etwa MüKoBGB/Artz, 8. Aufl. 2020, § 557 Rn. 37. Unter Berufung auf angebliche arbeitsrechtliche Besonderheiten meint BAG, NZA 2019, 688 (689 f.), allerdings, arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge seien nicht widerruflich (zweifelhaft). 26 Näher zu den gesetzgeberischen Zwecken etwa Höhne, Das Widerrufsrecht bei Kaufverträgen im Spannungsverhältnis von Opportunismus und Effektivität, 2016, S. 9 ff.

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kommen ist.27 Zwar sprechen gute Gründe für eine solche zeitlich halbzwingende Ausgestaltung des Verbraucherschutzrechts;28 dieser Umstand ist aber gleichwohl im Hinblick auf die hier interessierende Frage der Widerruflichkeit zu beherzigen, weil Verbraucher in Vergleichsverhandlungen ganz besonders anfällig sind sowohl für endogene Präferenzstörungen als auch für opportunistisches Verhalten seitens des Unternehmers. Das Widerrufsrecht als Instrument der Abschlusskontrolle kann und soll eben auch dort (noch) Schutz bieten, wo der Marktmechanismus versagt und Inhaltskontrolle nicht (mehr) zu Gebote steht. 2. Vertragstypbezogene Widerrufsrechte Was die Anwendbarkeit vertragstypbezogener Widerrufsrechte auf Vergleiche angeht, ist zu differenzieren. Einvernehmen sollte herrschen, dass der Widerruf jedenfalls dann eröffnet ist, wenn die vergleichsweise Einigung ein Rechtsverhältnis begründet, das seinerseits – wiederum oder erstmals – die Tatbestandsmerkmale des vom Gesetzgeber als besonders riskant bzw. komplex erachteten Vertragstyps erfüllt.29 Demgemäß kann ein Vergleich widerrufen werden, der sich nach seinem eigenen Pflichtenprogramm beispielsweise als Verbraucherdarlehens-, Verbraucherbau- oder Versicherungsvertrag einordnen lässt. Diese Regel bestätigende Ausnahmen enthalten § 491 Abs. 4, § 506 Abs. 4 S. 1 und § 510 Abs. 3 S. 1 BGB für Darlehensverträge, entgeltliche Finanzierungshilfen sowie Ratenlieferungsverträge, die dann, wenn sie in gerichtlichen Vergleichen enthalten sind, unter den jeweils genannten Voraussetzungen eben nicht gemäß § 495 BGB widerruflich sein sollen. Entsprechendes gilt für die Regelung in § 495 Abs. 2 Nr. 1 BGB zur ausnahmsweise ausgeschlossenen Widerruflichkeit von Darlehensverträgen, die (vergleichsweise) vereinbart werden, um ein gerichtliches Verfahren zu vermeiden. Soweit ersichtlich, wird nur selten die weitere Frage diskutiert, ob ein Widerrufsrecht, das auf einen bestimmten Vertragstyp zugeschnitten ist, auch für einen Vergleich gelten soll, der sich zwar auf ein einschlägiges Rechtsverhältnis bezieht, dessen Regelungsgehalt für sich genommen aber nicht den Tatbestand des widerruflichen Vertragstyps erfüllt. Zu denken ist insbesondere an Vergleiche, die sich darauf beschränken, dem Vertragspartner des Darlehensgebers, Bauunternehmers, Versicherers etc. entweder zusätzliche Verpflichtungen aufzuerlegen oder bestimmte (Gewährleistungs-)Rechte abzusprechen. Wenig aufschlussreich dazu, wie solche Fälle zu behandeln sind, ist der Gesetzeswortlaut, wenn er sich auf die Anordnung beschränkt, dass das Widerrufsrecht beispielsweise „bei einem Teilzeit-Wohnrechtevertrag“ (§ 485 BGB), „bei einem Verbraucherdarlehensvertrag“ (§ 495 Abs. 1 27

Deutlich etwa § 476 Abs. 1 S. 1 BGB („Auf eine vor Mitteilung eines Mangels an den Unternehmer getroffene Vereinbarung […]“). Näher dazu, zu weiteren Beispielen und zum Folgenden Hau, ZfPW 2018, 385. 28 Vgl. auch Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 12. Aufl. 2020, § 3 Rn. 20. 29 Ebenso BeckOGK-BGB/Hoffmann, Bearb. 2020, § 779 Rn. 115.

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BGB) oder „bei einem Fernunterrichtsvertrag“ (§ 4 FernUSG) bestehen soll; zu § 650l BGB ergibt sich zwar nicht aus dem Gesetz, wohl aber aus den Materialien, dass an Verbraucherbauverträge im Sinne von § 650i Abs. 1 BGB gedacht ist.30 Eine engere, allein auf den Ausgangsvertragsschluss bezogene Formulierung findet sich in § 305 Abs. 1 KAGB, wonach die „auf den Kauf gerichtete Willenserklärung“ widerruflich ist (ähnlich § 2d VermAnlG). Deutlich weiter gefasst ist demgegenüber § 8 VVG, der lediglich auf die „Vertragserklärung“ des Versicherungsnehmers abstellt, woraus allgemein abgeleitet wird, dass außer dem ursprünglichen Versicherungsvertrag auch spätere Vertragsänderungen widerruflich sein sollen.31 Letztlich wird man aus derart weit divergierenden Formulierungen noch am ehesten darauf schließen können, dass sich der Gesetzgeber der Problematik schlicht nicht hinreichend bewusst ist,32 kaum hingegen, dass er die Widerruflichkeit im Zweifel auf die Begründung des Ausgangsrechtsverhältnisses beschränken will. Richtigerweise wird man also den Zweck der jeweils in Rede stehenden Regelung in den Blick nehmen und klären müssen, ob er auch die einvernehmliche Neuordnung eines umstrittenen oder ungewissen Rechtsverhältnisses des fraglichen Typs erfassen soll. Das dürfte in aller Regel anzunehmen sein, denn aus der Perspektive des Verbrauchers bzw. Versicherungsnehmers nimmt die Unübersichtlichkeit, verglichen mit dem Erstvertragsschluss, bei einem vergleichsweisen Zugriff eher zu: Wenn beispielsweise schon ein Versicherungs- oder Verbraucherbauvertrag nur schwer durchschaubar ist, dann muss dasselbe doch wohl erst recht für eine Vereinbarung gelten, die einzelne Rechte und Pflichten aus einem solchen Vertrag konkretisieren bzw. modifizieren soll, weil sich der Vertrag in der ursprünglichen Fassung als problematisch erwiesen hat oder eine Pflichtverletzung des Unternehmers in Rede steht. Dabei gilt es zu bedenken, dass es dem Verbraucher bzw. Versicherungsnehmer in einer solchen Situation besonders schwerfallen wird, das Rechtsverhältnis so, wie es fortan gelten soll, mit den Konditionen anderer Anbieter entsprechender Geschäfte abzugleichen. Zu eng erscheint es daher, wenn zu § 8 VVG vereinzelt vertreten wird, dass ein Widerrufsrecht nur bei Änderungen „von einigem Gewicht“, die auch Gegenstand eines neuen Versicherungsvertrags sein könnten, bzw. dann bestehe, wenn der Versicherungsnehmer eine neue Verpflichtung eingeht:33 Ersteres lässt sich kaum sinn30 Vgl. BT-Drucks. 18/8486, S. 63. Dennoch wird die Möglichkeit der Widerruflichkeit eines Vergleichs offenbar unterstellt, wenn im Hinblick auf § 650l S. 1 Halbs. 2, § 127a BGB eine Ausnahme für gerichtliche Vergleiche diskutiert wird: vgl. Lenkeit, in: Messerschmidt/ Voit, Privates Baurecht, 3. Aufl. 2018, § 650l Rn. 4; BeckOGK-BGB/Reiter, Bearb. 2020, § 650l Rn. 4; Seidenberg, NJW 2019, 1254 (1256). 31 Klarstellend etwa BGH, VersR 2012, 1375 (1376). 32 So geht der Regierungsentwurf zur VVG-Reform auf Änderungen des ursprünglichen Versicherungsvertrags zwar hinsichtlich der Reichweite von Informationspflichten ein (BTDrucks. 16/3945, S. 61 linke Spalte), nicht aber hinsichtlich des unmittelbar danach erläuterten Widerrufsrechts (rechte Spalte). 33 So aber Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl. 2021, § 8 Rn. 3 (anders noch J. Prölss in der 28. Aufl. 2010); ders., r+s 2008, 493 (494); ders./Schreier, VersR 2015, 1053 (1056). BeckOK VVG/Brand, Bearb. 2020, § 8 Rn. 14/14.1, verlangt „wesentliche Änderun-

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voll eingrenzen, während Letzteres schon deshalb nicht überzeugt, weil nicht einzusehen ist, warum der Kunde nur im Falle einer vergleichsweisen Neuverpflichtung, nicht aber im Falle eines vergleichsweisen Verzichts (namentlich auf Gewährleistungsrechte) schutzwürdig sein soll. Vielmehr liegt die Gefahr auf der Hand, dass sich der Kunde vorschnell zur Einigung auf einen allzu geringen Erfüllungs- oder Schadensersatzanspruch verleiten lässt, obwohl ihm insoweit kaum Marktdaten und damit Orientierungsgrößen zur Verfügung stehen. Im Übrigen gilt auch für vertragstypbezogene Widerrufsrechte, dass ihre Anwendbarkeit auf Vergleiche nicht zuletzt im Hinblick auf den zeitlich nur halbzwingenden Charakter des Verbraucherschutzrechts geboten erscheint.34 3. Konsequenzen des Widerrufs Die Rechtsfolgen des Widerrufs ergeben sich, vorbehaltlich etwaiger Sonderregeln, aus §§ 355 ff. BGB. Besteht ein Recht zum Widerruf nur hinsichtlich des Vergleichs, bleiben die Parteien an ihre Willenserklärungen gebunden, die das Ausgangsrechtsverhältnis begründet haben.35 Im Hinblick auf dieses sind die Parteien, wenn der Vergleich widerrufen wird, wieder beim status quo ante angelangt: Der Streit bzw. die Ungewissheit ist nicht beigelegt. Vergleichsweise eingegangene neue Verpflichtungen entfallen, bereits ausgetauschte Leistungen sind zurückzugewähren (§ 355 Abs. 3 BGB). Ohne Weiteres hinfällig sind auch die im Vergleich als Handgeschäft enthaltenen Anerkenntnisse und Verfügungen (wie Erlasse oder Zessionen); diese müssen nach hier vertretener, freilich umstrittener Ansicht also nicht etwa kondiziert werden.36 Hat der Vergleich novierende Wirkung, wovon allerdings nur ausnahmsweise auszugehen ist,37 entfällt mit seinem Widerruf auch die Aufhebung des Ausgangsrechtsverhältnisses, sodass es keiner Neubegründung bedarf.

gen“, nicht aber, dass diese auch Gegenstand eines eigenständigen Versicherungsvertrags sein könnten. Ohne solche Einschränkungen für Widerruflichkeit etwa Heinig/Makowsky, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. 2016, § 8 Rn. 28; Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 8 Rn. 2. Offenlassend, aber ersichtlich mit der widerrufsfreundlicheren Ansicht sympathisierend: BGH, VersR 2012, 1375 (1376). 34 Dazu schon oben III. 1. 35 Klargestellt wird dies häufig für den Widerruf von Änderungsverträgen; vgl. wiederum BGH, VersR 2012, 1375 (1376). 36 Vgl. zum Streitstand MüKoBGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, § 779 Rn. 36; Staudinger/ Hau, Bearb. 2020, § 779 Rn. 93, 175. 37 Zutreffend etwa BGH, NJW 2014, 2637 (2638).

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IV. Gerichtliche Vergleiche Ausgehend von der vorherrschenden sog. Doppelnaturlehre38 beseitigt die Ausübung eines materiell-rechtlichen Widerrufsrechts zugleich die prozessualen Wirkungen eines gerichtlichen Vergleichs.39 Unterstellt man, dass die nach allgemeinen Regeln eröffneten Widerrufsrechte, wie dargelegt (III.), grundsätzlich auch auf Vergleiche anwendbar sind, so ergeben sich hinsichtlich der vertragstypbezogenen Widerrufsrechte keine Besonderheiten, wenn man einmal absieht von der bereits erwähnten speziell angeordneten Unwiderruflichkeit von Darlehensverträgen, entgeltlichen Finanzierungshilfen sowie Ratenlieferungsverträgen, die in gerichtlichen Vergleichen enthalten sind (§ 491 Abs. 4, § 506 Abs. 4 S. 1, § 510 Abs. 3 S. 1 BGB). Demgegenüber stellt sich hinsichtlich der abschlussmodusbezogenen Widerrufsrechte die umstrittene Frage, ob ein von Verbraucher und Unternehmer in der mündlichen Verhandlung geschlossener und protokollierter Prozessvergleich als Vertrag im Sinne von §§ 312b, 312g BGB eingeordnet werden kann, weil der Gerichtssaal ersichtlich kein „Geschäftsraum des Unternehmers“ ist.40 Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass gerichtliche Vergleiche zwar nicht vom Anwendungsbereich der Verbraucherrechte-RL41 erfasst werden (Art. 3 Abs. 3 lit. i VRRL),42 dass der deutsche Gesetzgeber sie aber nicht aus §§ 312 ff. BGB ausgeklammert hat. Dagegen ist nichts einzuwenden: Während die Umsetzungsgesetzgeber daran gebunden sind, dass in den Fällen des Art. 16 VRRL kein Widerrufsrecht bestehen soll, steht es ihnen ausweislich Erwägungsgrund Nr. 13 frei, Widerrufsrechte im Hinblick auf solche Verträge zu schaffen, die von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Daher besteht auch kein Anlass, gerichtliche Vergleiche im Wege einer richtlinienkonformen teleologischen Reduktion von §§ 312b, 312g BGB auszunehmen.43

38 Vgl., statt vieler, aus neuerer Zeit etwa BGH, NJW 2019, 310 (311); Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 131 Rn. 33 ff. 39 Hinsichtlich der hier interessierenden Fragen ergeben sich keine Unterschiede, wenn man mit der sog. Doppeltatbestands- bzw. moderaten Trennungslehre zwar davon ausgeht, dass beim gerichtlichen Vergleich ein prozess- und ein materiell-rechtlicher Vertrag lediglich in einem Akt zusammengefasst werden, aber regelmäßig den Parteiwillen unterstellt, die Wirksamkeit beider Verträge miteinander zu verknüpfen. So etwa MüKoZPO/Wolfsteiner, 6. Aufl. 2020, § 794 Rn. 11 ff. (vgl. Rn. 73 speziell zum verbraucherschützenden Widerruf). 40 Kaum vorstellbar erscheint hingegen, dass ein sog. Beschlussvergleich gemäß § 278 Abs. 6 ZPO den Tatbestand eines Fernabsatzvertrags im Sinne von § 312c BGB erfüllt. Unklar Seidenberg, NJW 2019, 1254 (1256 rechte Spalte). 41 RL 2011/83/EU, ABl. EU 2011 L 304/64. 42 Danach gilt die Richtlinie nicht für Verträge, „die nach dem Recht der Mitgliedstaaten vor einem öffentlichen Amtsträger geschlossen werden, der gesetzlich zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet ist und durch umfassende rechtliche Aufklärung sicherzustellen hat, dass der Verbraucher den Vertrag nur aufgrund gründlicher rechtlicher Prüfung und in Kenntnis seiner rechtlichen Tragweite abschließt“. 43 Dafür aber Fleindl/Haumer, Der Prozessvergleich, 2016, Kap. 4 Rn. 86.

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Indes ist zu berücksichtigen, dass das Widerrufsrecht gemäß § 312 Abs. 2 Nr. 1 lit. b bzw. § 312g Abs. 2 Nr. 13 BGB entfällt, wenn der in Rede stehende Vertrag notariell beurkundet wird. Letzteres spielt in der mündlichen Verhandlung zwar keine Rolle, doch laut § 127a BGB substituiert eine ordnungsgemäße Protokollierung des Prozessvergleichs die notarielle Beurkundung,44 und es ist nicht ersichtlich, warum dies nicht auch für die Frage der Widerruflichkeit berücksichtigt werden sollte.45 Schließt man sich dem an, so bleibt für den Ausschluss des Widerrufsrechts ausweislich § 312 Abs. 2 Nr. 1 lit. b Halbs. 2 BGB allerdings noch zu fordern, dass der Verbraucher darüber belehrt wird, und zwar – anstelle des Notars – durch das Gericht;46 denn es ist nicht anzunehmen, dass § 312g Abs. 2 Nr. 13 BGB, wo von einer solchen Belehrung merkwürdigerweise keine Rede ist, dieses Erfordernis in den hier interessierenden Fällen wieder beseitigen will.47 Zu der Belehrung ist das Gericht zwar nicht aus freien Stücken gehalten, wohl aber dann, wenn der Unternehmer darum nachsucht. Die bündige richterliche Belehrung über das Nichtbestehen des Widerrufsrechts bereitet in der Verhandlung deutlich weniger Aufwand als eine ordnungsgemäße Belehrung seitens des Unternehmers aus dem Stegreif über das Bestehen des Widerrufsrechts; es kann also keine Rede davon sein, dass sachgerechte Vergleichsschlüsse dadurch erschwert würden. Die These, dass selbst dann, wenn ein Widerruf des gerichtlichen Vergleichs (insbesondere mangels Belehrung) in Betracht kommt, eine teleologische Reduktion von §§ 312b, 312g BGB geboten sei, weil eine situative Überrumpelung des Verbrauchers vor Gericht schlicht auszuschließen sei,48 erscheint leider allzu realitätsfern.49 Eine davon wiederum zu trennende Frage lautet, ob es auch dann bei der Widerruflichkeit des gerichtlichen Vergleichs bleibt, wenn der Verbraucher – nach Maßgabe

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Grundsätzlich hierzu BGH, NJW 2017, 1946. Ebenso AG Hanau, WuM 2015, 543 (544); Rolfs/Möller, NJW 2017, 3275 (3277); für analoge Anwendung von § 127a BGB Fleindl/Haumer, Der Prozessvergleich, 2016, Kap. 4 Rn. 86. Anders, jeweils ohne oder mit unzureichender Begründung, Seidenberg, NJW 2019, 1254 (1256); MüKoZPO/Wolfsteiner, 6. Aufl. 2020, § 794 Rn. 73. Übersehen wird die Relevanz von § 127a BGB bei Mediger, NZM 2015, 185 (188). 46 Wie hier MüKoBGB/Artz, 8. Aufl. 2020, § 557 Rn. 36; Rolfs/Möller, NJW 2017, 3275 (3277). Zur richterlichen Belehrung rät „sicherheitshalber“ auch BeckOGK-BGB/Hoffmann, Bearb. 2020, § 779 Rn. 114.1. Eine Belehrung durch den Unternehmer verlangt Mediger, NZM 2015, 185 (188). 47 Anders AG Hanau, WuM 2015, 543 (544 f.). Im Ergebnis ebenso, freilich nur substanzlos gegen die Belehrung polemisierend, Streyl, NZM 2015, 433 (435). Allgemein zum problematischen Zusammenspiel von § 312 Abs. 2 Nr. 1 lit. b Halbs. 2 und § 312g Abs. 2 Nr. 13 BGB etwa BeckOK BGB/Martens, Bearb. 2020, § 312g Rn. 54. 48 So BeckOGK-BGB/Hoffmann, Bearb. 2020, § 779 Rn. 114. 49 Beachte zur Problematik übertriebenen richterlichen Vergleichsdrucks etwa Fries, Verbraucherrechtsdurchsetzung, 2016, S. 117 ff.; Hidding, Zugang zum Recht für Verbraucher, 2019, S. 231 f.; Oberheim, Erfolgreiche Taktik im Zivilprozess, 7. Aufl. 2017, Rn. 2793 ff.; Schramm, Richterliche Pflichten und Haftung beim Prozessvergleich der ZPO, 2015, S. 27 f.; Tolani, Parteiherrschaft und Richtermacht, 2019, S. 190 f. 45

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von § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO oder freigestellt im Parteiprozess – anwaltlich vertreten ist.50

V. Kausale Schuldanerkenntnisse Im Anschluss an die oben (unter III. 2.) zum Vergleich angestellten Überlegungen sollte auch ein kausales Schuldanerkenntnis, das ein Verbraucher hinsichtlich einer umstrittenen bzw. ungewissen Verpflichtung aus einem widerruflichen Vertrag abgibt, dem entsprechenden vertragstypbezogenen Widerrufsrecht unterliegen. Als problematischer erweist sich die Anwendbarkeit von § 312g BGB, wenn das kausale Schuldanerkenntnis des Verbrauchers in einer von § 312b oder § 312c BGB erfassten Konstellation zustande gekommen ist. Die Zweifel rühren daher, dass die § 312 Abs. 1 BGB zu entnehmende Voraussetzung eines Geschäfts, das „eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand“ hat, beim einseitigen Anerkenntnisvertrag, anders als bei dem von vornherein durch gegenseitiges Nachgeben geprägten Vergleich (dazu III. 1.), in aller Regel kaum erfüllt zu sein scheint: Denn das kausale Anerkenntnis betrifft in den hier interessierenden Fällen eben nur die Verpflichtung des Verbrauchers. Gleichwohl wird bislang, sofern die Frage überhaupt erörtert wird, davon ausgegangen, dass die abschlussmodusbezogenen Widerrufsrechte für kausale Anerkenntnisse, wie im Übrigen auch für abstrakte Schuldanerkenntnisse im Sinne von § 781 BGB, eröffnet sind, sofern keine notarielle Beurkundung erfolgt ist (§ 312g Abs. 2 Nr. 13 BGB).51 Dieser Befund erklärt sich wohl vor allem dadurch, dass das deutsche Erfordernis der Entgeltlichkeit als höchst problematisch angesehen wird, und zwar spätestens, nachdem der EuGH im Hinblick auf das frühere Richtlinienrecht klargestellt hat, dass auch die Bürgschaft, also der Paradefall eines einseitig verpflichtenden Vertrags, widerruflich sein kann.52 Die Tragfähigkeit eines solchen Parallelschlusses ist freilich zweifelhaft geworden, nachdem der BGH unlängst einem Ver-

50 Bejahend: AG Hanau, WuM 2015, 543 (544); Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 779 Rn. 228; verneinend: BeckOGK-BGB/Hoffmann, Bearb. 2020, § 779 Rn. 114; unklar Mediger, NZM 2015, 185 (189). Vgl. zum damit zusammenhängenden Streit, ob das Widerrufsrecht aufgrund teleologischer Reduktion entfällt, wenn sich der Verbraucher durch einen Unternehmer vertreten lässt, bejahend etwa Stürner, Jura 2015, 341 (345); Staudinger/Thüsing, Bearb. 2019, § 312b Rn. 43; verneinend etwa Bülow/Artz, Verbraucherprivatrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 64; Erman/Koch, BGB, 16. Aufl. 2020, § 312b Rn. 8. 51 Zum kausalen Anerkenntnis: BeckOGK-BGB/Hoffmann, Bearb. 2020, § 779 Rn. 114; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 781 Rn. 40. Zum abstrakten Anerkenntnis: OLG Hamm, BKR 2015, 516 m. Anm. Nodoushani; BeckOGK-BGB/Albers, Bearb. 2020, § 780 Rn. 85; Staudinger/Hau, Bearb. 2020, § 780 Rn. 29. 52 EuGH, NJW 1998, 1295 (Dietzinger); im Anschluss daran BGH, NJW 1998, 2356.

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braucherbürgen das Recht zum Widerruf verweigert hat.53 Es ist unerfindlich, wie der BGH angesichts der von ihm selbst eingehend dargestellten Kontroverse54 zu der These gelangen konnte, dass hinsichtlich der Vorgaben der VRRL ein acte clair vorliege und es ihm daher freistehe, sich seiner Vorlagepflicht gemäß Art. 267 AEUV zu entziehen.55 Selbst wenn die Position des BGH, was die Bürgschaft angeht, irgendwann in der Zukunft vom EuGH bestätigt werden sollte, ließe sich daraus aber noch nicht ohne Weiteres auf die Unwiderruflichkeit eines kausalen Anerkenntnisses schließen, das ein Verbraucher zugunsten eines Unternehmers hinsichtlich einer Verpflichtung aus einem Vertrag abgibt, der in den Anwendungsbereich der VRRL fällt (Art. 3) und als solcher widerruflich ist (Art. 16). Dafür spricht insbesondere, dass der Verbraucher im Falle einer zu seinen Lasten erfolgenden verbindlichen Klärung seiner Verpflichtung nicht weniger schutzbedürftig erscheint als beim ursprünglichen Begründen der sodann streitig oder ungewiss gewordenen Verpflichtung. Dabei dürfte der Umstand, dass es beim kausalen Anerkenntnis, anders als beim Vergleich, an einem Nachgeben des Unternehmers fehlt, dem Verbraucher in aller Regel keineswegs Warnung genug sein, sondern ganz im Gegenteil das Bedürfnis für eine spätere Abstandnahme noch zusätzlich erhöhen.

VI. Fazit Die durch ein Widerrufsrecht geschaffene „cooling-off period“ ist auch und gerade dann sinnvoll, wenn sich die Gemüter der Parteien durch einen Streit bereits erhitzt haben. Der Aufschub wirkt sich freilich nur aus, wenn sie vom Verbraucher auch wirklich als „better think twice period“ genutzt wird: Für ihn gilt es, am besten wohlberaten, zu überdenken, ob er den sprichwörtlich „mageren Vergleich“ – oder gar das kausale Anerkenntnis ohne jedes Entgegenkommen seitens des Unternehmers – einem womöglich „fetten Prozess“ vorziehen will. Dieses Fazit leitet, ceterum censeo, über zu dem Vorschlag, ein Widerrufsrecht nicht nur bei bestimmten Abschlussmodi und Vertragstypen vorzuhalten, sondern ganz allgemein für Vergleichs-, Anpassungs- und Aufhebungsverträge mit Verbraucherbeteiligung einzuführen.56 53

BGH, NJW 2020, 3649; dazu Fritz, NJW 2020, 3629; Omlor, EWiR 2020, 673; Samhat, WuB 2020, 608. Für Widerruflichkeit in der Vorinstanz noch OLG Hamburg, WM 2020, 1067; dazu Tiedemann/Brix-Neve, BKR 2020, 415; Rümpker/Rüsing, WuB 2020, 432. 54 Beachte zusätzlich zu den schon vom BGH angeführten zahlreichen Wortmeldungen, die sich für Widerruflichkeit aussprechen, aus neuerer Zeit etwa Staudinger/Stürner, Bearb. 2020, Vorbem. zu §§ 765 – 778 Rn. 81 ff. 55 Berechtigte Kritik üben Fritz, NJW 2020, 3629 (3631 f.); Knops, JZ 2021, 299. 56 Dazu schon Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, 2003, S. 212 ff. Im Ergebnis ähnlich speziell für den in ADR-Verfahren ohne anwaltlichen Beistand zustande gekommenen Vergleich Wendenburg, Der Schutz der schwächeren Partei in der Mediation, 2013, S. 341 ff., 352 ff.

Der Beitrag des Schadensrechts zum Schutz der Gerichtsstandsvereinbarung (BGH III ZR 42/19) Von Peter Kindler

I. BGHZ 223, 269 (Cogent ./. Deutsche Telekom): Leitsätze und prozessuale Interessenlage Nach BGHZ 223, 2691 kann die Vereinbarung eines inländischen Gerichtsstands eine Verpflichtung begründen, Klagen nur an diesem Gerichtsstand zu erheben. Verletzt eine Vertragspartei schuldhaft diese Verpflichtung durch die Klage vor einem ausländischen Gericht, das die Klage wegen fehlender Zuständigkeit abweist, ist sie nach § 280 Abs. 1 BGB verpflichtet, der anderen Partei die Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung zu ersetzen. Das Urteil hat ein vielstimmiges Echo im Schrifttum hervorgerufen,2 und schon davor wurde die Thematik im wissenschaftlichen Raum breit diskutiert.3 Diese Diskussion in einer Festschrift für Johannes Hager, dem dieser Beitrag in fachlicher und persönlicher Hochschätzung zugeeignet

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BGH, Urt. v. 17. 10. 2019 – III ZR 42/19. Abdruck mit Urteilsanmerkungen in: NJW 2020, 399 (m. Anm. Wais), IPRax 2020, 459 (m. Aufs. Colberg 426), JZ 2020, 797 (m. Anm. Mäsch), EuZW 2020, 143 (m. Anm. Antomo), IWRZ 2020, 39 (m. Anm. Graf von Westphalen), BB 2019, 3023 (m. Anm. Unseld), RIW 2020, 64 (m. Anm. Mankowski), JuS 2020, 363 (m. Anm. K. Schmidt), GWR 2020, 48 (m. Anm. Korte), LMK 2019, 422740 (m. Anm. Pfeiffer), EWiR 2020, 95 (m. Anm. Schatz), WuB 2020 Heft 7, 328 (m. Anm. Ultsch). Umfassend Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321; Rieländer, RabelsZ 84 (2020), 549; Resch, NZG 2020, 241; Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197; Skauradszun, DB 2020, 100. 3 Monographisch Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017; ferner (Auswahl) Adrian Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 2008, Kap. 8; Gebauer, in: FS Kaissis, 2012, S. 267; Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 (249 f.); Linke/Hau, Int. Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 7.34; Mankowski, IPRax 2009, 23; Merrett, ICLQ 55 (2006), 315; E. Peiffer, Schutz gegen Klagen im forum derogatum, 2013, S. 429 ff., 474 ff., 489 ff.; E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/ Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, 57. EL Stand: Juni 2019, Art. 25 Brüssel Ia-VO Rn. 297 ff.; Pfeiffer, in: FS Lindacher, 2007, S. 77; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, bespr. von Hau, RabelsZ 82 (2018), 1048; Sanchez Fernandez, YB PIL 12 (2010) 377; Spickhoff, in: FS Deutsch, 1999, S. 327; Takahashi, YB PIL 10 (2008) 57; Tan/Jao, LMCLQ 2003, 435; Tan, Tex. Int’l L.J. 40 (2005) 623; Chee Ho Tham, LMCLQ 2004, 46. 2

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ist, schadensersatzrechtlich4 nachzuzeichnen und fortzusetzen, erscheint schon deshalb nicht ganz abwegig, weil der Jubilar selbst, obwohl in der Wolle gefärbter Zivilist, unter anderem gerne an der Grenze zur Prozessualistik arbeitet. Dabei soll die Klage im forum derogatum nachfolgend der Kürze halber als Derogationsverstoß bezeichnet werden. Die Parteien internationaler Handelsverträge vereinbaren für die Austragung etwaiger Streitigkeiten aus dem Vertragsverhältnis häufig die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte eines bestimmten Staates. Sie wollen dadurch Rechtssicherheit schaffen5 und Prozessrisiken berechenbar machen („forum planning“). Vor allem will man hierdurch ein nachträgliches forum shopping ausschließen.6 Der Fall BGHZ 223, 269 zeigt freilich, dass solche Gerichtsstandsvereinbarungen von den Vertragspartnern nicht immer beachtet werden und vor den Gerichten mancher Staaten nicht ernst genommen werden. Im Jahr 2016 hatte die Klägerin – das US-amerikanische Telekommunikationsunternehmen Cogent – Klage gegen die Beklagte (Deutsche Telekom) vor einem District Court in den USA erhoben. Die Beklagte verwahrte sich unter anderem gegen die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und berief sich dabei auf eine zwischen den Parteien abgeschlossene und anwendbare Gerichtsstandsvereinbarung. Vorsorglich nahm sie auch zur Sache Stellung. Der District Court wies die Klage wegen fehlender Zuständigkeit ab. Eine Erstattung von Rechtsanwaltskosten ordnete das Gericht nicht an. Im deutschen Folgeprozess begehrte die Beklagte widerklagend den Ersatz der in im US-Verfahren aufgewendeten Anwaltskosten. Abwehrmöglichkeiten, etwa Prozessführungsverbote (anti-suit injunctions), sind in derartigen Fällen nur bedingt verfügbar und geeignet, die redliche Partei vor den Folgen einer Klage im derogierten Forum zu schützen.7 Für die im forum derogatum abredewidrig mit einem Prozess überzogene Partei stellt sich daher die Frage, ob ihr aus der Missachtung der Gerichtsstandsvereinbarung Schadensersatzansprüche erwachsen. In BGHZ 223, 269 wird dies in Anwendung deutschen Sachrechts (§§ 280, 249 ff. BGB)8 grundsätzlich bejaht. Das Urteil ist für den Großteil aller aus4

Zu möglichen verfahrensrechtlichen Grenzen einer Haftung des vertragsbrüchigen Klägers Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197 (204 ff.). Zutreffend hält der BGH jedenfalls fest (BGHZ 223, 269 Rn. 30 f.), dass die Rechtsprechung des EuGH zur Unzulässigkeit von antisuit-injunctions im Rahmen der Brüssel Ia-VO einem Schadensersatzanspruch nicht entgegensteht (vgl. EuGH, ECLI:EU:C:2004:228 = Slg. 2004, I-3578), sofern das vereinbarungswidrig angerufene Gericht seine Zuständigkeit verneint; dazu schon Pfeiffer, in: FS Lindacher, 2007, S. 77 (82 f.) und Pfeiffer, LMK 2019, 422740. 5 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 15 zur Brüssel Ia-VO („Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein …“), und dazu Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 (243 ff.). 6 BGHZ 223, 269 Rn. 37; Colberg, IPRax 2020, 426 (430). 7 Kindler, in: FS Geimer, 2017, S. 321 (322). 8 Zur kollisionsrechtlichen Anknüpfung s. nur Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197 (207); Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (324 f.); Antomo, EuZW 2020, 149 (150) sowie Colberg, IPRax 2020, 426 (427) in der Anm. zu BGHZ 223, 269. Maßgeblich ist nicht das Statut des

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schließlichen Zuständigkeitsvereinbarungen zugunsten deutscher Gerichte maßgeblich. Der BGH stärkt damit den Justizstandort Deutschland.9 Dieser Beitrag wendet sich zunächst den Grundvoraussetzungen der Schadensersatzhaftung zu (nachfolgend unter II.). Sodann geht es um die Frage, wie die Schadensersatzpflicht sinnvoll als Instrument zur Bekämpfung des nachträglichen forum shopping ausgestaltet werden kann (nachfolgend unter III.). Im Anschluss werden unter IV. einzelne Schadensposten auf den Prüfstand der Adäquanztheorie gestellt. Der Beitrag schließt mit einem Fazit in Thesen (V.).

II. Pflichtverletzung, Verschulden und (fehlender) Haftungsausschluss 1. Pflichtverletzung Im Ausgangspunkt hat jede Partei einen Anspruch auf „Realerfüllung“ der Zuständigkeitsvereinbarung.10 Diese vom BGH ausführlich begründete Pflicht zur Unterlassung einer Klageerhebung im forum derogatum11 hatte die US-amerikanische Partei verletzt, indem sie beim District Court Klage erhoben hatte. Zwar kann ein (gerichtlich durchsetzbarer) Hauptanspruch auf Unterlassung nicht wirksam vereinbart werden, doch seien auch Verstöße gegen unselbstständige, nicht einklagbare Nebenpflichten, gleichgültig, ob sie aus § 241 Abs. 1 oder 2 BGB folgen, nach § 280 Abs. 1 BGB schadensersatzbewehrt.12 Dabei kommt es für die Feststellung einer Pflichtverletzung bei § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht zu einer Überlagerung der nach deutschem Recht auszulegenden Derogationswirkung der Klausel durch die Hauptvertrags, sondern das Statut der Gerichtsstandsvereinbarung, näher Mankowski, RIW 2020, 70 (71) mit Verweis auf BGHZ 223, 269 Rn. 20, 37. Im Zweifel führt schon die Vereinbarung eines ausschließlichen Gerichtsstands in Deutschland zu einer umfassenden konkludenten Wahl (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 Rom I – VO) des deutschen Rechts (qui eligit iudicem elegit ius): Kindler, in: Geimer/Czernich, Handbuch der Streitbeilegungsklauseln, 2017, Kap. 1 Rn. 45 mit Verweis auf Erwägungsgrund Nr. 12 zur Rom I-VO; Rauscher/von Hein, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 3 Rom I-VO Rn. 20 ff.; näher R. Wagner, IPRax 2008, 377 (379); Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (532 f.); Spickhoff, in: Kieninger/Remien, Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 2012, S. 117 (124); OLG Frankfurt/M., RIW 1998, 477; BeckOGK/Wendland, 1. 2. 2020, Rom I-VO Art. 3 Rn. 141 ff.; Staudinger/Magnus, BGB, 2016, Art. 3 Rom I-VO Rn. 75 ff. 9 Pfeiffer, LMK 2019, 422740; Resch, NZG 2020, 241 (245); zur internationalen Zuständigkeit für die Schadensersatzklage im (deutschen) forum prorogatum Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (322 f.); Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197 (202). 10 Geimer, IZPR, 8. Aufl. 2020, Rn. 1599 im Anschluss an Berti, in: FS Siehr, 2010, S. 33 (41). 11 BGHZ 223, 269 Rn. 24 ff.; zur Vorgeschichte der – schrittweise – Anerkennung der materiellrechtlichen Verpflichtungswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen Rieländer, RabelsZ 84 (2020), 549 (557 ff.). 12 BGHZ 223, 269 Rn. 29; kritisch insoweit Mäsch, JZ 2020, 802 (803), der dem BGH Halbherzigkeit vorwirft: das Urteil begründe der Sache nach eine deutsche anti-suit-injunction.

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ausländische lex fori derogatum.13 Davon geht der Senat implizit aus, wenn er das „amerikanische Rechtsverständnis“ erst im Rahmen des Vertretenmüssens prüft (dazu sogleich),14 und dies zu Recht: auf die lex fori derogatum sollte es nach dem Parteiwillen gerade nicht ankommen. Dass das deutsche Recht insoweit der Parteiautonomie folgt, findet seinen Ausdruck flankierend im prozessualen Spiegelbildprinzip, welches aus der Missachtung einer Gerichtsstandsvereinbarung einen Anerkennungsversagungsgrund macht (§ 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).15 Auch aus Billigkeitsgründen besteht kollisionsrechtlich für eine kumulative Berücksichtigung des Aufenthaltsstatuts der US-amerikanischen Partei neben dem deutschen Recht als dem Statut des Hauptvertrages kein Raum (arg. Art. 9 Abs. 3, 10 Abs. 2, 12 Abs. 2 Rom I-VO).16

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So aber Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197 (210) mit Verweis auf Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, S. 769; gleichsinnig Mäsch, JZ 2020, 802 (804): der BGH schlage dem US-Kläger „einen legal und legitim erlangten Erfolg“ aus der Hand. Übersehen wird dabei u. a., dass gerade das US-Recht eine vertragliche Schadensersatzhaftung bei abredewidrigen Klagen zulässt: New York Supreme Court Appelate Divison, Urt. v. 17. 4. 2003 – Indosuez International Finance, B.V. v. National Reserve Bank, 304 A. D.2d 429; Ohio Supreme Court, Urt. v. 21. 4. 2003 – Masiongale Electrical-Mechanical Inc. v. Construction One Inc., 102 Ohio St. 3d 1; dazu Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (mit Nachweisen auch zu England und Spanien); Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197: „in der Welt des Common Law schon fast selbstverständlich“; zu England Rieländer, RabelsZ 84 (2020), 549 (553 ff.): Schadensersatz ohne Rücksicht auf die Rechtsauffassung des abgewählten Gerichts; Antomo, ZEuP 2018, 261 zu UK Supreme Court, Urt. v. 1. 3. 2017 – AMT Futures Limited v Marzillier, Dr. Meier & Dr. Guntner Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. 14 BGHZ 223, 269 Rn. 53 – 56. 15 Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (324); Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197 (207, 216 f.); zur Parteiautonomie als dem dogmatischen Fundament der Anerkennungsversagung Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 (243); zu § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auch nachfolgend unter IV. 3. a). 16 Eine Pflichtverletzung verneinend Mäsch, JZ 2020, 802 (804), der mit seiner Fundamentalkritik („absurd erscheinende Schadenersatzpflicht für einen legal und legitim erlangten Erfolg“) auf die Perspektive des forum derogatum – hier: des US-amerikanischen Rechts – abstellen will. Dass es auf diese Perspektive in ihrem Vertragsverhältnis gerade nicht ankommen sollte, hatten die Parteien indes glasklar vereinbart („Bonn shall be the place of jurisdiction.“). Eindrücklich Geimer, IZPR, 8. Aufl. 2020, Rn. 1599: „Liegt eine […] ausschließliche Prorogation vor, dann kennen beide Seiten mittelbar das in ihrem Fall zum Zuge kommende internationale Privatrecht und damit auch das anzuwendende materielle Recht.“; zum „right not to be sued abroad“ grdl. schon J. Schröder, in: FS Kegel, 1987, S. 523 (534): „Infolge der Nationalität aller Kollisionsnormen des internationalen Privatrechts waltet hier unvermeidlich die schon von Pascal apostrophierte Relativität jeder rechtlichen Beurteilung: Im (wirksam) prorogierten Forum kann auf die abweichenden Rechtsvorstellungen der (unwirksam) derogierten Justiz keine Rücksicht genommen werden. Der Anspruch, nicht im Ausland verklagt zu werden, ist demnach begründet, wenn er im gewählten Gerichtsstand nach Maßgabe der lex fori prorogati besteht.“; dazu Gebauer, in: FS Thümmel, 2020, S. 197 (210).

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2. Verschulden Eine Exkulpation (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) schied aus.17 Die US-amerikanische Partei hatte zwar eingewandt, dass es nach US-amerikanischem Rechtsverständnis naheliegend und vertretbar gewesen sei, von einer Zuständigkeit der US-Gerichte auszugehen. Dies hätten ihr ihre dortigen Anwälte geraten. Der BGH trat dem indes mit Recht entgegen: Die einzige vertragliche Verbindung zwischen den Parteien war der streitgegenständliche Vertrag mit der die nachfolgende Schadensersatzklage tragenden Gerichtsstandsvereinbarung. Allein hieraus hätten sich die Ansprüche ergeben können, die die US-amerikanische Klägerin beim District Court geltend machte. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte sei daher für sie erkennbar gewesen. Sie habe mithin jedenfalls fahrlässig gehandelt, wobei sie sich das Verschulden ihrer US-amerikanischen Rechtsanwälte gemäß § 278 BGB zurechnen lassen musste.18 Fraglich ist außerdem, ob eine Exkulpation nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB eingreift, wenn das abgewählte Gericht seine Zuständigkeit trotz der Gerichtsstandsvereinbarung bejaht hat. Auch dies dürfte der Haftung nicht entgegenstehen, denn mit dem Abschluss der Gerichtsstandsvereinbarung haben sich die Parteien darauf eingelassen, dass allein die Sichtweise des darin benannten Gerichts entscheidend ist.19 3. Fehlender Haftungssauschluss Der vertragliche Haftungssausschluss war in casu tatbestandlich nicht auf die Gerichtsstandsvereinbarung anwendbar (§§ 133, 157 BGB),20 und dürfte in künftig zu entscheidenden Fällen häufig an § 276 Abs. 3 BGB (Vorsatz), § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB (Kardinalpflichtverstoß, bezogen auf die Gerichtsstandsvereinbarung mit dem dort verankerten „right not to be sued abroad“21) oder § 309 Nr. 7 lit. b BGB (grobes Verschulden) scheitern.

III. Die Schadensersatzpflicht als Instrument zur Bekämpfung des nachträglichen forum shopping 1. Grundbegriffliches zur Kausalität Unausweichlich stellt sich nach dem anwendbaren Sachrecht stets das Kausalitätsproblem, wie der gerade durch die Klage vor dem derogierten Gericht dem dor-

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BGHZ 223, 269 Rn. 53 ff. BGHZ 223, 269 Rn. 55 f.; näher Colberg, IPRax 2020, 426 (430 f.). 19 Antomo, EuZW 2020, 149. 20 BGHZ 223, 269 Rn. 57 f.; näher Colberg, IPRax 2020, 426 (430 f.). 21 Dazu nochmals oben Fn. 16.

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tigen Beklagten entstandene Schaden nach Art und Umfang zu bestimmen ist.22 Finden insoweit die §§ 249 ff. BGB kollisionsrechtlich Anwendung,23 so gelten – vorbehaltlich abweichender Parteivereinbarungen –24 die dazu anerkannten Kausalitätslehren. Hat der Schädiger zurechenbar ein geschütztes Rechtsgut des Geschädigten – hier: dessen Vermögen – verletzt, so ist er nach dem Grundsatz der Totalreparation (§ 249 Abs. 1 BGB) zum Ersatz allen Schadens verpflichtet, der aus diesem Ereignis entsteht, selbst wenn der Schädiger auf dessen Ausmaß keinen Einfluss hat. Man unterscheidet zwei Kausalketten:25 Die zum Haftungsrecht (z. B. § 280 BGB) zählende, hier unproblematische haftungsbegründende Kausalität erstreckt sich von der Handlung des Schädigers bis zur ersten Rechtsgutsverletzung, hier: der Verletzung der Verpflichtung aus der Gerichtsstandsvereinbarung (Primärschaden).26 Die für das Schadensersatzrecht maßgebliche haftungsausfüllende Kausalität meint den ursächlichen Zusammenhang zwischen dieser ersten Rechtsgutsverletzung und den daraus entstehenden weiteren (Folge-)Schäden (Sekundärschaden).27 Folgeschäden – wie in der hiesigen Fallsituation u. a. die Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung im forum derogatum – können dem Verursacher nur dann zugerechnet werden, wenn die Erstverletzung im naturwissenschaftlichen Sinn kausal ist. Als kausal gilt jede Ursache, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Geschehensablauf ein anderer gewesen, das Ereignis nicht oder nicht zu diesem Zeitpunkt eingetreten wäre (conditio sine qua non-Formel).28 Dieses Kausalitätserfordernis wird durch die Klageerhebung im forum derogatum ohne Weiteres erfüllt.

2. Adäquanzprüfung im Lichte der Präventivfunktion der Haftung aus Derogationsverstößen a) Die Adäquanztheorie als wertende Beschränkung des zu ersetzenden Schadens Kausalitätsketten können endlos sein; sie können auch durch zufälliges Zusammentreffen unglücklicher Umstände weitergeführt werden.29 Dann widerstrebt es dem Rechtsgefühl, dem Schädiger derartige Folgerisiken aufzuerlegen. Durch den 22 Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl., 2016, Vorbem. zu Art. 4 Brüssel Ia-VO Rn. 63 ff.; ansatzweise auch Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 (249 f.). 23 Nachweise oben Fn. 8. 24 Zur Schadenspauschalierung und anderen Gestaltungsmöglichkeiten Resch, NZG 2020, 241 (244 f.). 25 Jauernig/Teichmann, BGB, 18. Aufl. 2021, vor § 249 Rn. 24. 26 BGHZ 221, 43 Rn. 12. 27 BGHZ 221, 43 Rn. 12. 28 Medicus/Lorenz, SchuldR AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 678 ff.; Jauernig/Teichmann, BGB, 18. Aufl. 2021, vor § 249 Rn. 26. 29 Zum Folgenden Jauernig/Teichmann, BGB, 18. Aufl. 2021, vor § 249 Rn. 27; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 104 ff.

Der Beitrag des Schadensrechts zum Schutz der Gerichtsstandsvereinbarung

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im deutschen Haftungsrecht „anerkannten Maßstab adäquater Kausalität“30 will man den „Kreis der rein logischen Folgen im Interesse billiger Ergebnisse auf die zurechenbaren Folgen ein[…]schränken“.31 Es geht damit nicht um die Bestimmung einer „anderen“ Kausalität, sondern um ein wertendes Korrektiv zur Vermeidung „offenbar unbilliger“32 Schadensersatzansprüche, m. a. W. um eine wertende Beschränkung des zu ersetzenden Schadens.33 Bei dieser Wertung kommt es nicht zuletzt auf die Art des Haftungstatbestands an, z. B. aus Gefährdungshaftung (§ 717 Abs. 2 ZPO) oder aus § 826 BGB.34 b) Berücksichtigung der Präventivfunktion der Schadensersatzhaftung im Rahmen der Adäquanzprüfung Bedeutsam für eine mögliche wertende Beschränkung des zu ersetzenden Schadens ist in unserem Zusammenhang nun, dass der Senat für Gerichtsstandsvereinbarungen die Präventivfunktion der (Vertrags-)Haftung35 hervorhebt:36 Mit der Festlegung eines bestimmten Gerichtstands hätten die Vertragsparteien ein nachträgliches forum shopping durch eine Vertragspartei verhindern, Rechtssicherheit schaffen und – auch wirtschaftliche – Prozessrisiken berechenbar machen wollen. Um dies zu erreichen, müsse einerseits die Gerichtsstandsvereinbarung prozessual als ausschließliche verstanden werden.37 Auf der anderen, materiellrechtlichen Rechtsfolgenseite rechtfertigt der Bundesgerichtshof die Schadensersatzpflicht mit deren potentiell abschreckender, verhaltenssteuernder Wirkung auf eine Partei, die mit dem Gedanken einer Klage im forum derogatum spielt:38 „Der […] Zweck, Streitigkeiten über die Zuständigkeit und damit auch unnötige Kosten für die Anrufung eines unzuständigen Gerichts zu vermeiden, kann, wenn er durch die Anrufung eines Gerichts unter Verstoß gegen die Vereinbarung konterkariert wird, nur dadurch ver30

BGHZ 190, 145 Rn. 44. BGHZ 3, 265; BGHZ 18, 288. 32 Medicus/Lorenz, SchuldR AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 680. 33 Treffend Medicus/Lorenz, SchuldR AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 680; zur Funktion der Adäquanzprüfung als einem „Negativfilter“ (Esser/Schmidt) ferner BGH, NJW 2013, 2345 Rn. 20 und MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 104. 34 BGHZ 79, 259; BGHZ 85, 110 („Der im wesentlichen an statistischer Häufigkeit und Voraussehbarkeit ausgerichtete hergebrachte Adäquanzbegriff ist eben deshalb, weil er im Grunde nur ein Maßstab für die rechtliche Zurechnung ist, von der Art des Haftungstatbestandes nicht unabhängig.“). 35 Zur Präventivfunktion der Verzinsungspflicht von Geldschulden (diese soll den Schuldnern den Anreiz nehmen, fällige Zahlungen hinauszuzögern) MüKoBGB/Ernst, 8. Aufl. 2019, § 288 Rn. 4; für weitere, über den Schadensausgleich hinausgehende Regelungsziele (Stärkung der allgemeinen Zahlungsmoral; Justizentlastung) s. Kindler, Gesetzliche Zinsansprüche im Zivil- und Handelsrecht, 1996, S. 172 ff. 36 BGHZ 223, 269 Rn. 33 ff. 37 BGHZ 223, 269 Rn. 38. 38 BGHZ 223, 269 Rn. 42, Hervorbungen durch Verf. 31

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wirklicht werden, dass der dadurch belasteten Partei ein Anspruch auf Kostenerstattung zugestanden wird.“

Diese Aussage ist ein Beispiel für präventiv verstandenes Haftungsrecht; bei allem Streit im Grundsätzlichen ist jedenfalls die Prävention eine nützliche Folge der Kompensation.39 Zugleich hat auch das hier interessierende Schadensrecht – die den Umfang der Haftung im Einzelnen regelnden Normen (§§ 249 ff. BGB) – insoweit eine Präventivfunktion, als es sicherstellt, dass der zu leistende Schadensersatz „ernst gemeint“ ist und nicht nur symbolischen Charakter aufweist.40 Grundstürzend neu ist dies nicht – man denke nur an die präventive Ausrichtung der Regelung des Schuldnerverzugs.41 Eine bloß prozessual wirkende Klausel – so überzeugend der BGH weiter – schränke die Möglichkeit, ein unzuständiges Gericht anzurufen, rechtlich und tatsächlich nicht hinreichend wirksam ein; das mit der Derogationsklausel naturgemäß verbundene „Misserfolgsrisiko“ (welches der Kläger nach US-Recht durch eine Erfolgshonorarklausel zudem stark begrenzen kann), bietet in der Tat keine effektive Abschreckung vor einer Klage im forum derogatum.42 Für eine mögliche wertende Beschränkung des zu ersetzenden Schadens im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität (oben a)) folgt daraus, dass – unter Wahrung des schadensrechtlichen Bereicherungsverbotes –43 die adäquate Kausalität einzelner Schadensposten nicht allzu kleinlich verneint werden darf, soll das Schadensrecht einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung des nachträglichen forum shopping leisten.44

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BGHZ 190, 145 Rn. 62; näher MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 9; zurückhaltend zur Präventivfunktion des (deliktischen) Haftungsrechts Staudinger/Hager, BGB, 2017, vor § 823 Rn. 10; Hager, in: FS Deutsch, 2009, S. 769 (771). 40 MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 9 m. w. N. 41 Kindler, Gesetzliche Zinsansprüche im Zivil- und Handelsrecht, 1996, S. 172 ff., S. 308 ff. 42 BGHZ 223, 269 Rn. 46; präventive Deutung des Ansatzes des BGH auch bei Schatz, EWiR 2020, 95 (96): „Zwar vermag auch ein drohender Schadensersatzanspruch die tatsächliche Möglichkeit einer Klage vor einem unzuständigen Gericht nicht auszuräumen. Er kann jedoch mittelbar die Beachtung der Gerichtsstandsvereinbarung befördern.“; gleiche Einschätzung bei Korte, GWR 2020, 48. Der BGH liegt hier zugleich auf einer Linie mit einem Grundanliegen der Brüssel Ia-VO; diese zielt ausweislich ihres Erwägungsgrundes Nr. 22 – im Sinne einer Vorfeldwirkung – darauf ab, die „Wirksamkeit von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern und missbräuchliche Prozesstaktiken zu vermeiden“. 43 BGH, NJW 2014, 535 Rn. 11; BeckOK-BGB/J. W. Flume, Stand: 01. 11. 2020, § 249 Rn. 46 ff. 44 Zum prozessualen Bumerang wird die Klage im forum derogatum für den Kläger, wenn das angegangene Gericht eine Widerklage der abredewidrig verklagten Partei auf Schadensersatz wegen unerlaubter Klageerhebung zulässt; dazu Gebauer, in: FS Kaissis, 2012, S. 267 (283); Mankowski, RIW 2020, 70 (71).

Der Beitrag des Schadensrechts zum Schutz der Gerichtsstandsvereinbarung

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c) Adäquanzformeln Nach der anerkannten Adäquanzformel muss, wenn der Folgeschaden dem Schädiger zugerechnet werden soll, die Schadensursache „die objektive Möglichkeit eines Erfolges generell in nicht unerheblicher Weise erhöht“ haben.45 Negativ formuliert soll derjenige Folgeschaden nicht zugerechnet werden, der nur auf Grund einer ganz ungewöhnlichen Verkettung von Umständen eintreten konnte.46 In neuerer Zeit verbindet der Bundesgerichtshof den positiven mit dem negativen Ansatz: Das Ereignis müsse im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sein, einen Erfolg (den Folgeschaden) dieser Art herbeizuführen.47 Dies gilt für alle typischen Gerichts-, Anwalts- und Nebenkosten, die bei einem Prozess im Staat des Derogationsverletzers anfallen und nicht unerheblich über den üblichen Sätzen liegen: Je mehr der Schädiger weiß, umso wahrscheinlicher i. S. d. Adäquanzlehre wird das, was nachher wirklich eingetreten ist.48 d) Keine wertende Beschränkung des zu ersetzenden Schadens bei Vorsatz Handelt der Schädiger vorsätzlich, so haftet er selbst dann, wenn der Erfolgseintritt ganz ungewöhnlich und nicht zu erwarten war. Der Vorsatzschädiger verdient keinen Schutz durch die Adäquanztheorie. Eine wertende Beschränkung des zu ersetzenden Schadens kommt – wie übrigens auch der Mitverschuldenseinwand –49 nur für Fahrlässigkeitstaten in Frage.50 Wenn der Senat in BGHZ 223, 269 dem US-Kläger unterstellt, dieser habe in casu bei Beginn des Erstprozesses die Gerichtsstandsvereinbarung „jedenfalls“ fahrlässig missverstanden,51 dann deutet dies darauf hin, dass man sich in derartigen Fällen eine Vorsatzhaftung gut vorstellen kann. In der Tat: Was sollte an der Gerichtsstandsvereinbarung „Bonn shall be the place of jurisdiction“52 falsch zu verstehen sein? 45

RGZ 69, 59; grundlegend BGHZ 3, 261. OLG München, VersR 2005, 89 m. w. N. 47 BGH, NJW 2018, 944 Rn. 16; Medicus/Lorenz, SchuldR AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 681; Jauernig/Teichmann, BGB, 18. Aufl. 2021, vor § 249 Rn. 28. 48 Medicus/Lorenz, SchuldR AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 681. 49 BGH, NJW 2002, 1643 (1646); MüKoBGB/Grundmann, 8. Aufl. 2019, § 276 Rn. 153. Zu einer möglichen Kürzung des Schadensersatzanspruchs im vorliegenden Zusammenhang wegen Mitverschuldens des abredewidrig Beklagten Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (329). 50 BGHZ 79, 259 (262); BGH, NJW 1992, 1381 (1382); BGHZ 189, 299 Rn. 39; Weitnauer, in: FS Oftinger, 1969, S. 321 (344); Lange, JZ 1976, 200; Soergel/Ekkenga/Kuntz, BGB, 13. Aufl. 2014, vor § 249 Rn. 134; Palandt/Grüneberg, 79. Aufl. 2020, BGB vor § 249 Rn. 27; Staudinger/Schiemann, BGB, 2017, § 249 Rn. 24; zurückhaltend MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 113. 51 BGHZ 223, 269 Rn. 55; allg. zum Rechtsirrtum im Leistungsstörungsrecht MüKoBGB/ Ernst, 8. Aufl. 2019, § 286 Rn. 111 ff. 52 Das Beispiel entstammt dem Fall BGHZ 223, 269. 46

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IV. Einzelne Schadensposten auf dem Prüfstand der Adäquanztheorie 1. Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung im forum derogatum a) Geschädigtenfreundliche Adäquanzprüfung Angesichts dieser Maßstäbe dürfte die Bemessung des Schadens bei der Missachtung einer Gerichtsstandsvereinbarung zu bewältigen sein.53 Der III. Zivilsenat gibt dazu die richtige Leitlinie vor, wenn danach zu fragen ist, welche Kosten für eine zweckentsprechende Rechtsverteidigung erforderlich waren.54 Das Gericht folgt damit auch im Schadensrecht der Wertung des § 91 ZPO. Zugespitzt geht es darum, zu welchen Ausgaben sich die vertragstreue Partei aufgrund ihrer Beklagtenrolle im Ausland „herausgefordert fühlen“ durfte.55 Da in den USA jedenfalls nicht sicher mit der Durchsetzbarkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung gerechnet werden kann,56 spricht einiges dafür, dass sich eine dort abredewidrig verklagte Partei bereits vorsorglich auf den Auslandsprozess vorbereiten darf; der Umfang des ersatzfähigen Schadens dürfte ferner vom Streitwert abhängen, denn je höher der wirtschaftliche Schaden im Falle des Unterliegens ist, desto umfangreichere Vorbereitungen wird man der redlichen Partei zugestehen müssen. Neben den Anwaltskosten können eigene Reisekosten der Partei und die Kosten eines Korrespondenzanwalts erstattungsfähig ein,57 ferner Dolmetscher- und Übersetzerkosten.58 Über die Anspruchsabwehr in der Hauptsache deckt dieser Schadensposten auch die Kosten für die Erwirkung eines Prozessführungsverbots (anti-suit injunction) gegen den abredewidrigen Kläger sowie Ausgaben im Rahmen einer pre-trial discovery ab.59 In schwierigen Fällen kann eine Schätzung nach § 287 ZPO erfolgen.60 Die aufgewandten Rechtsanwaltskosten sind dabei grundsätzlich in voller Höhe zu erstatten. Sie sind insbesondere nicht auf die nach den §§ 91 ff. ZPO i. V. m. dem RVG erstattungsfähigen Kosten herabzusetzen.61 Es handelt sich bei dem vom BGH zugesprochenen Anspruch nämlich nicht um einen prozessualen, sondern um einen

53

Schwierigkeiten sieht hier Antomo, EuZW 2020, 149; zurückhaltend vor BGHZ 223, 269 auch noch Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 (249 f.). 54 BGHZ 223, 269 Ls. 2 und Rn. 60. 55 Näher Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 513. 56 Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht, 5. Aufl. 2020, S. 35 f. 57 Mankowski, IPRax 2009, 23 (29); Mankowski, RIW 2020, 70 (71); zuvor schon Sandrock, in: FS Schlosser, 2005, S. 821 (835). 58 LG Dortmund, RIW 2002, 69; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 185. 59 Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (327). 60 Antomo, EuZW 2020, 149; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 108. 61 Colberg, IPRax 2020, 426 (431); Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (328).

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materiellen Erstattungsanspruch,62 dessen Höhe sich nach § 249 BGB richtet. Die in manchen Rechtssystemen üblichen hohen Zeithonorare für Rechtsanwälte63 entstehen nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen (oben III. 2. a. E.), sondern sind dort selbstverständlicher Teil der forensischen Praxis. Gerade weil dieser Faktor von den Klägern bei einem Derogationsverstoß typischerweise als Druckmittel bei Vergleichsverhandlungen eingesetzt wird (unten 2. d)), verdienen die Kläger insoweit keinen Schutz durch die im Rechtsgefühl wurzelnde Adäquanztheorie (oben III. 2.). Eine Kürzung ist allenfalls im Rahmen eines Mitverschuldens gemäß § 254 BGB möglich. Ein nicht marktübliches Honorar hat jedenfalls der vorsätzlich vertragsbrüchige Kläger dem abredewidrig Beklagten zu ersetzen (oben III. 2. d));64 bei Fahrlässigkeit hat der vertragsbrüchige Kläger eine Überschreitung der marktüblichen Sätze jedenfalls insoweit hinzunehmen, als die Überschreitung nicht völlig unangemessen ist. Dieser geschädigtenfreundliche Maßstab bei der Adäquanzprüfung ist wiederum der vom BGH betonten Präventivfunktion der Haftung (oben III. 2. b)) geschuldet. b) Abgrenzung zum Bereicherungsverbot Als Verteidigung bleibt dem Derogationsverletzer meist nur noch das schadensrechtliche Bereicherungsverbot. Danach darf der Geschädigte „nicht in unangemessener Art und Weise (§ 242 BGB)“ zu Lasten des Schädigers besser gestellt werden, als er ohne das Schadensereignis stehen würde.65 Daher dürften die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten, wie sie bei einer Klage vor dem prorogierten Gericht angefallen wären, als Sowieso-Kosten einen Abzugsposten bilden.66 Die Adäquanzprüfung ist auch von weiteren Fallgestaltungen abzugrenzen, in denen das Vorliegen eines ersatzfähigen Schadens vorderhand zweifelhaft erscheint. So mag man darüber nachdenken, eine vor dem forum derogatum zugesprochene Kostenerstattung abzuziehen.67 Dagegen spricht indes die gesetzgeberische Grundsatzentscheidung, wonach prozessualer Kostenerstattungsanspruch und materieller Kostenerstattungs- oder Schadensersatzanspruch miteinander konkurrieren sollten; und auch die gewollte Sanktions- und Abschreckungswirkung der Schadensersatz62

BGHZ 66, 112 (114 f.); BGHZ 111, 168 (171); Schlosser, NJW 2009, 2413 (speziell zum schadensersatzrechtlichen Erstattungsanspruch für über die Sätze des RVG hinausgehende Anwaltskosten). 63 Mankowski, IPRax 2009, 23 (29). 64 Gegen dessen Ersatz nach § 249 Abs. 1 BGB Skaraudszun, DB 2020, 100 (103); Peiffer/ Weiler, RIW 2020, 321 (328). 65 BGH, NJW 2020, 40 Rn. 10; Jauernig/Teichmann, BGB, 18. Aufl. 2021, vor § 249 Rn. 39; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 20. 66 Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 (249 f.); unentschieden Mankowski, IPRax 2009, 23 (29). 67 Mankowski, IPRax 2009, 23 (29 bei Fn. 112).

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pflicht (oben III. 2.) entfiele.68 Daher sind materiellrechtliche Kosten selbst dann zu erstatten, wenn sie prozessual von einem abgewählten Gericht bereits zugesprochen wurden oder wenn man dort eine Kostenentscheidung erwirken könnte. Dafür spricht wiederum das kostenrechtliche Zweisäulenmodell, in dem materiellrechtlicher Schadensersatz und prozessuale Kostenerstattung nebeneinanderstehen. Der Schadensersatzanspruch tritt daher neben die prozessuale Kostenerstattung, mindert sich der Höhe nach aber insoweit, als bereits eine Kostenerstattung stattgefunden hat.69 2. Weitere Schadensposten70 a) Auferlegte Kosten Als weitere Schadensposten kommen auferlegte Kosten des abredewidrigen Verfahrens in Frage. Sie sind ohne weiteres adäquat kausal,71 wäre doch die hiervon betroffene Partei dem Kostenrecht des forum derogatum von vorneherein nicht unterworfen gewesen, hätte die andere Partei sich an die Derogation gehalten. Es sind keine Wertungsgesichtspunkte erkennbar (oben III. 2. a)), die für einen Verbleib dieses Schadenspostens beim Geschädigten sprechen könnten. b) Verzögerungsschäden Auch der Ersatz des Verzögerungsschadens steht unter dem Vorbehalt der Adäquanztheorie.72 Typischerweise verzögert die abredewidrig erhobene Klage vor einem langsam arbeitenden Gericht („Italian torpedo“) die Durchsetzung eigener Rechte des Beklagten. Der hieraus resultierende Verzögerungsschaden (§§ 280 Abs. 2, 286 BGB) ist wegen dieser Typizität adäquat kausal und damit ersatzfähig.73 c) Zinsschäden Zinsschäden aufgrund der Vorfinanzierung der Rechtsverfolgung durch den Beklagten (§ 288 Abs. 4 BGB) entsprechen dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und liegen deshalb als solche nicht außerhalb der schadensrechtlichen Adäquanz. Dabei 68

So schon Mankowski, IPRax 2009, 23 (29). In diesem Sinne zutr. Antomo, EuZW 2020, 149; zuvor schon Mankowski, IPRax 2009, 23 (29 bei Fn. 113). 70 Zum Folgenden vor allem Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 25 Brüssel Ia-VO Rn. 63 ff. 71 Mankowski, IPRax 2009, 23 (29) mit Verweis auf Köster, Haftung wegen Forum Shopping in den USA, 2001, S. 96. 72 RGZ 109, 97 (99); MüKoBGB/Ernst, 8. Aufl. 2019, § 286 Rn. 131. 73 Mankowski, IPRax 2009, 23 (29) mit Verweis auf Pfeiffer, FS Lindacher, 2007, 77 (79); Mankowski, RIW 2020, 70 (71). 69

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kann es sich um aufgewendete Kreditzinsen oder entgangene Guthabenzinsen handeln.74 Nicht mehr adäquat kausal können Zinsschäden allenfalls der Höhe nach sein, d. h. bei unwahrscheinlich hohen Kreditzinsen oder entgangenen Guthabenzinsen. Bei Vorsatz hilft dem Derogationsverletzer auch dieser Einwand indes nicht (oben III. 2. d)). d) Vergleichssumme Zum Schaden zählen ferner Differenzbeträge aus einem Vergleich, welchen der Beklagte im forum derogatum unter Druck abgeschlossen hat. Hier besteht eine deutsch-amerikanische Besonderheit für das Vorliegen eines äquivalent-kausalen Schadens auf Seiten der redlichen Partei: Kontinentaleuropäische Beklagte drohen nämlich selbst bei Obsiegen in der Sache Verfahrenskosten zu erleiden, wenn USUnternehmen sie in den USA entgegen einer Vereinbarung eines deutschen Gerichtsstands verklagen, weil die American Rule75 keine Kostenerstattung vorsieht. Die exorbitante Höhe von US-Prozesskosten wird so zum Druckpotenzial und zur Basis dadurch erzwungener Vergleiche.76 Eine Abgeltungsklausel erfasst den im Folgeprozess geltend gemachten Schadensersatz nicht (§ 138 Abs. 1 BGB, ggf. i. V. m. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO).77 e) Zeitaufwand des Geschädigten Der Zeitaufwand des Geschädigten durch die Schadensabwicklung ist grundsätzlich nicht zu erstatten (arg. § 651n Abs. 2 BGB).78 Nur beim Eintritt einer Vermögensminderung (z. B. einem Verdienstausfall) liegt ein ersatzfähiger Schaden vor.79 Dies folgt zudem aus der Wertung des § 91 Abs. 1 Satz 2 ZPO.80 Es wäre sinnwidrig, wenn die dortige Einschränkung für die Ersatzfähigkeit der „Zeitversäum74

Kindler, Gesetzliche Zinsansprüche im Zivil- und Handelsrecht, 1996, S. 265; Kindler, WM 1997, 2017 (speziell zum Ersatz entgangener Anlagezinsen); zum letzten Stand hier BeckOK-BGB/Lorenz, Stand: 01. 11. 2020, § 288 Rn. 8 ff.; MüKoBGB/Ernst, 8. Aufl. 2019, § 286 Rn. 137 ff. 75 Zur American Rule Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht 5. Aufl. 2020, S. 11; ders., IZVR, 8. Aufl. 2021, § 12 Rn. 703. 76 Mankowski, RIW 2020, 70. 77 Zweifelnd aber Mankowski, IPRax 2009, 23 (29); eher für Durchsetzung von § 138 BGB als Teil des deutschen ordre public indes MüKoBGB/Martiny, 8. Aufl. 2021, Art. 9 Rom I-VO Rn. 60. 78 BGHZ 66, 112 (114 ff.); BGHZ 75, 230 (231 f.); BGHZ 76, 216 (218 f.); BGHZ 111, 168 (177); BGH, NJW 2012, 2267 Rn. 10; OLG Frankfurt, NJW 2012, 2977 (2978); J. Schmidt, NJW 1976, 1932 (1933); Stoll, JZ 1977, 97 f.; Mertens, Der Begriff des Vermögensschadens im Bürgerlichen Recht, 1967, S. 153; Staudinger/Schiemann, BGB, 2017, § 251 Rn. 125; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 84. 79 MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 88 f. (auch zum Folgenden). 80 BGHZ 66, 112 (117); BGHZ 75, 230 (232).

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nis“ unterlaufen werden könnte, indem dem Geschädigten der Zeitaufwand als Teil seines materiellrechtlichen Anspruchs uneingeschränkt ersetzt wird. Dass verlorene Zeit keinen Schadensposten darstellt, gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Geschädigte den Schadensfall in seinem Unternehmen durch Arbeitnehmer bearbeiten lässt und deshalb Personalkosten anfallen. Anders liegt es, wenn die Arbeit des Personals bei der Schadensabwicklung den Rahmen allgemeiner Verwaltungstätigkeit überschritten hat. Nur wenn dies nachweisbar der Fall ist (z. B. Freistellung von Arbeitnehmern von ihrer sonstigen Tätigkeit oder bei Einstellung von Arbeitnehmern eigens zur Schadensabwicklung), ist ein Anspruch auf Ersatz der Personalkosten zu bejahen.81 Adäquat verursacht sind diese Kosten allemal, soll doch die – wie hier – Vereinbarung eines heimischen Gerichtsstands typischerweise und für den Vertragspartner von vorneherein erkennbar jeden mit der Führung eines Auslandsprozesses verbundenen Aufwand vermeiden. f) „Litigation PR“ In großen US-amerikanischen Zivilverfahren kann es für eine zweckentsprechende Rechtsverteidigung erforderlich sein, die eigentliche forensische Arbeit durch Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen.82 Diese sog. Litigation PR („Öffentlichkeitsarbeit im Rechtsstreit“, auch strategische Rechtskommunikation oder prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit) ist eine Form der Pressearbeit, bei der die Kommunikation nach außen vor, während und nach dem Gerichtsverfahren gesteuert wird.83 Ziel hierbei ist es, die juristische Strategie der beteiligten Rechtsanwälte zu unterstützen, das Ergebnis der juristischen Auseinandersetzung mit Hilfe der Öffentlichkeit zu beeinflussen und gleichzeitig Schäden an der Reputation des Mandanten zu vermeiden. Diese Form der Öffentlichkeitsarbeit kostet Geld. Die dafür im Staat des forum derogatum aufgewandten Kosten wird man der redlichen Partei jedenfalls dann als Schadensposten anerkennen, wenn der Kläger selbst durch eigene Litigation PR zeigt, dass er dieses Vorgehen als zweckentsprechend erachtet, um sein Anliegen durchzusetzen. Es liegt dann aus Sicht des Klägers nämlich nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit im Sinne der Adäquanzformeln (oben III. 2. b)), dass der Prozessgegner gleichfalls mit Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit antwortet, um eine Klageabweisung zu erreichen.

81

BGH, NJW 1969, 1109; BGH, NJW 1977, 35; BGH, NJW 2009, 1066 (1068); im Grundsatz auch OLG Frankfurt, NJW 2012, 2977 (2978); s. ferner BGHZ 76, 216 (218 ff.); MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 89. 82 So hat etwa die Deutsche Bahn das New Yorker Büro von Ketchum für Litigation-PR engagiert. Anlass war eine Schadenersatzklage des Konzerns vor dem New Yorker Bundesgericht gegen die Fluglinien Air France, KLM, Martin-air, Cargolux, Qantas, SAS und All Nippon Airways wegen Kartellbildung im Bereich Luftfracht. Vgl. den Bericht unter www.prmagazin.de (1. 10. 2014). 83 Einführend Schulze/Ostheim, ZRP 2019, 233; Heinrich, Litigation-PR, 2010; Rademacher/Schmitt-Geiger, Litigation-PR: Alles was Recht ist, 2012.

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g) Beraterkosten im Rahmen der Geschworenenauswahl In den USAwerden große Zivilverfahren nicht selten durch Geschworenengerichte entschieden.84 Die Parteien verwenden dann viel Zeit und Mühe darauf, die vom Gericht benannten Geschworenen auf ihre Unparteilichkeit zu überprüfen. Diese Praxis hat den Berufsstand der jury consultants hervorgebracht, der an großen USamerikanischen Zivilprozessen gut mitverdient.85 Vergleichbare Kosten entstehen bei einem deutschen Zivilprozess nicht. Schon aus Gründen der Waffengleichheit muss sich der Beklagte an diesem „Spiel“ indes beteiligen, selbst wenn er davon überzeugt ist, dass das US-Gericht wegen der Derogation den Fall nicht zur Entscheidung annehmen dürfte. Die damit verbundenen Kosten entsprechen daher dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge (oben III. 2. c)) und sind adäquat kausal durch den Derogationsverstoß verursacht. 3. Sachentscheidung durch das derogierte Gericht Eine drittstaatliche86 Entscheidung, welche sich über eine aus deutscher Sicht (Spiegelbildprinzip!) wirksame und in concreto anwendbare Gerichtsstandsvereinbarung hinwegsetzt, erfüllt den Anerkennungsversagungsgrund des § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Es fehlt dem ausländischen Gericht an der compétence indirecte.87 Das neue Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 2. 7. 201988 sieht für derartige Fälle sogar einen ausdrücklichen Anerkennungsversagungsgrund vor.89 84

Schack, US-am. Zivilprozessrecht, 5. Aufl. 2020, S. 66, 72. „Since the 1980s, large jury and trial consulting firms have emerged, earning multimillion dollar revenues, mostly from such high-stakes civil litigation.“ (https://en.wikipedia. org/wiki/Scientific_jury_selection); eindrucksvoll J. Grisham, Das Urteil (Originaltitel: The Runaway Jury), 1996: In Biloxi/Mississippi findet ein Zivilprozess statt, der weltweit Aufsehen erregt. Die Witwe eines an Lungenkrebs verstorbenen Rauchers hat vor einem Geschworenengericht einen Tabakkonzern auf Schadensersatz verklagt. Die Tabakkonzerne gründen einen Fonds, mit dessen Hilfe sie beabsichtigen, den Prozess über die Geschworenen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Diese Aufgabe übernimmt Rankin Fitch, ein schmieriger „jury consultant“. Doch seinem Gegenspieler gelingt es, nach und nach einige ihm missliebige Geschworene aus der Jury zu entfernen und durch ihm genehme Ersatzjuroren ersetzen zu lassen … 86 Liegt das derogierte Forum in einem EU-Mitgliedstaat, so ist die Entscheidung aus dem abredewidrigen Forum – ungeachtet der Missachtung der Gerichtsstandsvereinbarung – in Deutschland nach Art. 36 Abs. 1 Brüssel Ia-VO anzuerkennen, Peiffer/Weiler, RIW 2020, 321 (324, 330); hiergegen de lege ferenda Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241. 87 Linke/Hau, Int. Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 7.34; 13.1; BGHZ 223, 269 Rn. 19, 46. 88 Text unter www.hcch.net.; Näheres zu diesem Übereinkommen bei Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2020, 97 (124 f.); R. Wagner, NJW 2020, 1864 (1866). 89 Für dessen Übernahme in die Brüssel Ia-VO Kindler, in: FS Kronke, 2020, S. 241 ff.; monographisch Brüggemann, Die Anerkennung prorogationswidriger Urteile im Europäischen und US-amerikanischen Zivilprozessrecht, 2019. 85

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In einer solchen Konstellation ist es nur folgerichtig, wenn nach deutschem Sachrecht (§ 280 Abs. 1 BGB) Schadensersatz dafür verlangt werden kann, dass das abredewidrig angerufene Gericht eine andere Sachentscheidung getroffen hat, als sie in einem hypothetischen Verfahren im forum prorogatum aller Wahrscheinlichkeit nach ergangen wäre.90 Das damit anlaufende „Vollstreckungskarussell“ (Hau) ist – wegen der beim „right not to be sued abroad“ notwendig bestehenden „Relativität jeder rechtlichen Beurteilung“ (J. Schröder)91 – eher hinzunehmen als die Folgenlosigkeit des Vertragsbruchs durch den Derogationsverletzer.92 Um die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den geltend gemachten Schaden festzustellen, ist zu prüfen, welchen Verlauf die Dinge bei pflichtgemäßem Verhalten genommen hätten.93 Der Schaden liegt dann im Unterschiedsbetrag zwischen der Summe, zu welcher der Beklagte vom abredewidrig angerufenen Forum verurteilt wurde, und der Summe, zu der er bei einem hypothetischen Prozess vor dem forum prorogatum verurteilt worden wäre (d. h. u. U. zu gar keiner Zahlung). Die hier gebotene hypothetische Prüfung, wie es sich bei einer Klage vor dem vereinbarten Gericht verhalten hätte und welche Entscheidung das vereinbarte Gericht gefällt hätte, müsste nicht in jedem Fall den gesamten Prozessstoff nochmals aufrollen (in dieser Konstellation indirekt und mit umgekehrten Parteirollen).94 Denn bei seiner – im Rahmen der adäquaten Kausalität des Vertragsbruchs durch Klageerhebung für den Schaden der redlichen Partei vorzunehmenden – Sachprüfung kann sich das Gericht im Haftungsprozess (§ 287 ZPO) an den abgeschwächten Maßstäben des § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO orientieren. Eine summarische Prüfung wie im Falle der Erledigung der Hauptsache erscheint hier sachgerecht. Auch über die Frage, wie ein vorausgegangener Rechtsstreit ohne einen vom Rechtsanwalt zu verantwortenden Fehler hätte enden müssen, ist schließlich im Regressprozess nach § 287 ZPO zu entscheiden.95 Ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme anzuordnen ist, bleibt danach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen (§ 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Im Unterschied zu den Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO kann das Gericht von einer weiteren Beweisaufnahme absehen, wenn ihm bereits hinreichende Grundlagen für ein Wahrscheinlichkeitsurteil zur Verfügung stehen. Das hat für den Geschädigten eine Beweiserleichterung zur Folge, bedeutet aber auf der anderen Seite auch, dass das Gericht die Tatsachen nicht weiter aufzuklären braucht, wenn der Nachweis bisher nicht geführt und bereits hinreichend erkennbar ist, dass die noch zur Verfügung stehenden Beweise nicht ausreichen werden, die Behauptung des Klägers mit Wahrscheinlichkeit zu belegen. 90 Antomo, EuZW 2020, 149; Mankowski, IPRax 2009, 23 (29 bei Fn. 115 mit Nachweisen zum US-Schrifttum). 91 J. Schröder, in: FS Kegel, 1987, S. 523 (534); Wortlaut oben Fn. 16. 92 Kritisch aber Hau, RabelsZ 82 (2018), 1048 (1051). 93 Vgl. BGH, NJW 2013, 540 Rn. 26 (zur hypothetischen Prüfung des Prozessausgangs in anderem Zusammenhang). 94 Dies befürchtend und daher kritisch Mankowski, IPRax 2009, 23 (29). 95 BGHZ 133, 110 (auch zum Folgenden).

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V. Fazit in Thesen 1. Das Schadensrecht vermag einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung von Derogationsverstößen zu leisten, wenn man bei der Prüfung der adäquaten Kausalität einzelner Schadensposten zugunsten des Geschädigten den Präventivcharakter der Schadensersatzhaftung in die Abwägung einstellt. Näher oben III. 2. c). 2. Das Recht des derogierten Forums ist für die Beurteilung von Pflichtwidrigkeit und Verschulden auf Seiten des Derogationsverletzers im Rahmen von § 280 Abs. 1 BGB nicht relevant. Näher oben II. 3. Wer vorsätzlich gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung verstößt, kann sich nicht auf die fehlende Adäquanz einzelner Schadensposten berufen. Näher oben III. 2. d). 4. Bei den Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung im forum derogatum ist der Prüfungsmaßstab, zu welchen Ausgaben sich die vertragstreue Partei aufgrund ihrer Beklagtenrolle im Ausland „herausgefordert fühlen“ durfte. Neben den Anwaltskosten können eigene Reisekosten der Partei und die Kosten eines Korrespondenzanwalts erstattungsfähig ein, ferner Dolmetscher- und Übersetzerkosten. Eine Kürzung ist allenfalls im Rahmen eines Mitverschuldens gemäß § 254 BGB möglich. Ein nicht marktübliches Honorar hat jedenfalls der vorsätzlich vertragsbrüchige Kläger dem abredewidrig Beklagten zu ersetzen (oben III. 2. d)); bei Fahrlässigkeit hat der vertragsbrüchige Kläger eine Überschreitung der marktüblichen Sätze wegen der vom BGH betonten Präventivfunktion der Haftung (oben III. 2. b)) insoweit hinzunehmen, als die Überschreitung nicht völlig unangemessen ist. Näher oben IV. 1. a). 5. Nach dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot dürften die Kosten, wie sie bei einer Klage vor dem prorogierten Gericht angefallen wären, als Sowieso-Kosten einen Abzugsposten bilden. Das Bereicherungsverbot rechtfertigt es indes nicht generell, eine vor dem forum derogatum zugesprochene Kostenerstattung abzuziehen. Dafür spricht das kostenrechtliche Zweisäulenmodell, in dem materiellrechtlicher Schadensersatz und prozessuale Kostenerstattung nebeneinanderstehen. Der Schadensersatzanspruch mindert sich der Höhe nach insoweit, als bereits eine Kostenerstattung stattgefunden hat. Näher oben IV. 1. b). 6. Als weitere Schadensposten kommen in Betracht: auferlegte Kosten, Verzögerungsschäden, Zinsschäden, eine bezahlte Vergleichssumme, der Zeitaufwand des Geschädigten, die Kosten für „Litigation PR“, Beraterkosten im Rahmen der Geschworenenauswahl. Näher oben IV. 2. 7. Eine drittstaatliche Entscheidung, welche sich über eine aus deutscher Sicht wirksame und in concreto anwendbare Gerichtsstandsvereinbarung hinwegsetzt, kann im Wege des Schadensersatzes rückgängig gemacht werden. Dies setzt voraus, dass das abredewidrig angerufene Gericht eine andere Sachentscheidung getroffen hat, als sie in einem hypothetischen Verfahren im forum prorogatum aller Wahrscheinlichkeit nach ergangen wäre. Der Schaden liegt dann im Unter-

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schiedsbetrag zwischen der Summe, zu welcher der Beklagte vom abredewidrig angerufenen Forum verurteilt wurde, und der Summe, zu der er bei einem hypothetischen Prozess vor dem forum prorogatum verurteilt worden wäre. Näher oben IV. 3.

Über den Rückgang der Zivilprozesse Von Christoph G. Paulus

I. Einleitendes Wer sich vom antiken römischen Recht und seiner Entwicklungsgeschichte herkommend mit der zum Thema des vorliegenden Beitrags erkorenen Problematik auseinanderzusetzen unternimmt, muss an sich halten, um nicht den Untergang, wenn nicht schon des gesamten Abendlandes, dann doch der abendländischen Rechtskultur aufscheinen zu sehen. War doch Wesenskern römischen Rechtsdenkens das sogenannte aktionenrechtliche System, demzufolge Recht das war, was vor Gericht durchgesetzt werden konnte. Dieser Gleichsetzung huldigte man nicht nur in der Antike; sie dominierte das Rechtsverständnis bis weit in die Neuzeit. Auf sie wird sogleich zurückzukommen sein wie auch auf ihr Ende durch Windscheid. Doch auch heute noch finden sich Rudimente aktionenrechtlichen Denkens, wenn nämlich etwa Studenten auf feinsinnige materiell-rechtliche Differenzierungen im subjektiven Bereich mit der Frage reagieren: „Wie soll man das denn beweisen?“. Wenn also nachfolgend den Gründen nachgespürt werden soll, die zu einem Rückgang der vor den Zivilgerichten ausgetragenen Rechtsstreitigkeiten geführt haben und nach wie vor führen, so ließe sich nach dem Voranstehenden resignierend konstatieren, dass das Recht mit dem Rückgang der Zivilverfahren im Schwinden begriffen zu sein scheint. Doch soll ein derartig hergeleiteter Pessimismus gerade nicht der Anstoß und Leitfaden der nachfolgenden Ausführungen sein. Mit der von Windscheid eingeläuteten scharfen Trennung des formellen vom materiellen Recht soll vielmehr ersteres als eigenständiges Phänomen verstanden und allein (besser: hauptsächlich) dessen Bedeutungsverlust untersucht werden. Zu dem Thema selbst ist freilich schon viel geschrieben worden,1 und die dabei aufgedeckte Bandbreite der zu berücksichtigenden Faktoren und Umstände ist beein1 Nur beispielshalber sei verwiesen auf etwa Dudek, Rückgang der Fallzahlen – Änderung der Konfliktkultur, JZ 2020, 884 ff.; Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz, 2016; Graf-Schlicker, Der Zivilprozess vor dem Aus?, AnwBl. 2014, 573; Engel, Außergerichtliche Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten – Mehr Zugang zu weniger Recht, NJW 2015, 1633 ff.; Gaier, Schlichtung, Schiedsgericht, staatliche Justiz – Drei Akteure in einem System institutioneller Rechtsverwirklichung, NJW 2016, 1367; Braun, Systembildung im Zivilprozessrecht, ZZP 2018, 277, 313 ff.; Greger, Realität und Reform des Zivilprozessrechts im Spiegel der Justiz-Statistik, ZZP 2018, 317 (speziell Fn. 2); Prütting, Rückgang der Klageeingangszahlen bei den staat-

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druckend – wobei besondere Hervorhebung der Verweis auf die heute geänderte Konfliktkultur verdient.2 Angesichts dessen lässt sich dem bereits Vorgetragenen vermutlich nicht viel Neues hinzufügen, so dass sich die nachfolgenden Ausführungen vornehmlich damit begnügen, bereits selbst in der Debatte Gesagtes ein wenig breiter auszuführen (III.), bevor dann (IV.) ein bislang doch allzu vornehm übergangener Teilaspekt angesprochen wird. Zuvor sollen aber (II.) ein paar Daten unterbreitet werden, die die Berechtigung der vorliegenden Untersuchung bzw. der geführten Diskussion belegen.

II. Einige Fakten Auf der Website des Bundesjustizministeriums finden sich Nachweise dazu, warum das Thema von nicht geringer Brisanz ist.3 Danach sind bei den Amtsgerichten kontinuierlich seit 1995 die Eingangszahlen zurückgegangen von 1,75 Mio. auf 1,24 Mio. im Jahr 2009, bis 2019 auf 927 Tsd.; bei den Landgerichten als Eingangsinstanz sieht es weniger drastisch, im Endeffekt aber vergleichbar aus: von 418 Tsd. auf 368 Tsd. bzw. 354 Tsd. Wiederum für den gleichen Zeitraum (1995 – 2019) korrespondieren die Berufungseingänge: bei den Landgerichten starten sie bei 98 Tsd., sinken auf 59 Tsd. in 2009 und enden 2019 bei 40 Tsd.; bei den Oberlandesgerichten geht es von 64 Tsd. auf 53 Tsd. bzw. 50 Tsd. runter. Weil all diese Zahlenkolonnen einheitlich gen Null konvergieren – wem das zu drastisch formuliert erscheinen sollte, lese dies so: weil all diese Kolonnen kontinuierlich zur kleineren Zahl streben –, ist es verständlich, dass das Bundesjustizministerium eine Studie in Auftrag gegeben hat, die sich mit den Gründen für diese doch sehr eindeutige Tendenz auseinandersetzen soll.4 Denn wie beim Zauberlehrling begibt man sich damit pflichtschuldigst auf die Suche danach, wie der böse Geist wieder in die Flasche zurückbeordert werden könnte, den dort herausgeholt zu haben sich auch dieses Ministerium selbst (neben vielen weiteren „Tätern“) zum Vorwurf machen lassen muss, indem es in früheren Jahren mit vielfältigen Einsparungsvorschlägen hinsichtlich des Personals und mit zahllosen Aufgabenverlagerungen auf nicht-justizielle Institutionen aktiv geworden war.

lichen Gerichten, DRiZ 2018, 62 ff.; Basedow, Rechtsdurchsetzung und Streitbeilegung, JZ 2018, 1 ff.; Lahav, In Praise of Litigation, 2017; Paulus, Vom aktionenrechtlichen Denken zur Privatisierung der Streitentscheidung, AnwBl 2019, 352 (mit Verweis auf AnwBl online 2019, 444 = https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/files/anwaltsblatt.de/anwaltsblatt-online/2019-444. pdf). 2 Dudek, Rückgang de Fallzahlen – Änderung der Konfliktkultur, JZ 2020, 884 ff. 3 Siehe file:///Users/cgp1000/Downloads/Geschaeftsentwicklung_Zivilsachen-1.pdf. 4 Vgl. https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2020/092520_Forschungsvorhaben_zi vilgerichtliche_Verfahren.html.

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III. Geistesgeschichtliches und seine Konsequenzen Auch wenn, wie zuvor einleitend schon betont worden ist, hier nicht ein rückwärts gewandtes Lamento angestimmt werden soll, erscheint mir der Blick in Vergangenes doch insofern hilfreich, als er Entwicklungslinien aufzuzeigen vermag, die Erklärungen für heutige Zustände geben können und vielleicht auch – gleichsam in Verlängerung des Bisherigen – Andeutungen für künftige Zustände eröffnen. Wie an anderer Stelle5 bereits ausgeführt, richtet man diesen Blick für unser Thema am besten auf das schon angesprochene aktionenrechtliche Denken der römischen Jurisprudenz. Bekanntlich bringt der Terminus ,aktionenrechtliches Denken‘ zum Ausdruck, wie Juristen für buchstäblich Jahrtausende Recht verstanden haben: Recht war danach, was vor Gericht realisiert und mit Hilfe von gerichtlicher Hilfe durchgesetzt werden konnte.6 Gab es keine actio, gab es kein Recht. Recht war demnach ein in Bezug auf Gericht und Richter gedachtes und verstandenes Phänomen. Eine paradigmatische Verkörperung dieses Verständnisses findet sich im antiken Rom: Das Edikt des Prätors war an zentraler Stelle, am Amtssitz, aufgestellt. Wie wir einigen in der Asche Pompeis gefundenen Dokumenten7 entnehmen können, pflegten die streitenden Parteien ihre vorprozessualen Streitschlichtungsgespräche dort in der Nähe zu führen, um zu jeder Zeit zu dem Edikt hinübergehen und nachprüfen zu können bzw. dem Gegner anzuzeigen, welche Formel ihrer Einschätzung nach ihr Anliegen unterstützte.8 Wenn und sofern der Prätor eine actio (genauer: eine formula) gewährte, nahm das Gerichtsverfahren seinen Lauf; wenn nicht, musste der Streit anderweitig gelöst werden. Unbeschadet vieler Änderungen des prozeduralen Musters und seiner Ausformung im Detail blieb dies als das Grundverständnis für die nachfolgenden gut 1.800 Jahre unverändert. Recht hatte mit Gerichten und Richtern zu tun.9 Ebenso bekannt wie dieser Werdegang ist die Tatsache, dass diese Gleichung in der Mitte des 19. Jahrhunderts erschüttert wurde. Der endgültige Schlag wird ge5 Paulus, Vom aktionenrechtlichen Denken zur Privatisierung der Streitentscheidung, AnwBl 2019, 352. 6 Dazu etwa Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, § 1 Abs. 2; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 187; Babusiaux, Celsus und Julian zum Edikt si certum petetur – Bemerkungen zu Prozess und Aktionendenken, in: Baldus/Miglietta/Santucci/Stolfi (Hrsg.), Dogmengeschichte und historische Individualität der römischen Juristen. Atti del Seminario internazionale Montepulciano 14.–17. Juni 2011, Trento 2012, S. 367 ff.; dies., Prozessuales Denken und Interesseberechnung – Felix Wubbe zum 90. Geburtstag in: In honorem Felicis Wubbe antecessoris nonagenarii, Pichonnaz (Hrsg.), Freiburg 2013, S. 15 ff. 7 Zu diesen sog. Tabulae Pompeianae s. etwa J. G.Wolf, Aus dem neuen pompeianischen Urkundenfund: Die Streitbeilegung zwischen L. Faenius Eumenes und C. Sulpicius Faustus, St. In on. Sanfilippo IV, 1985, S. 771 ff.; ders., Das sogenannte Ladungsvadimonium, Satura Feenstra, 1985, S. 59 ff.; Bürge, Zum Edikt de edendo, Zeitschrift der Savigny-Stiftung – rom. Abt. 112, 1995, S. 1 ff; Paulus, in: Neuer Pauly, s. v. ,Edikt‘. 8 Siehe nur Paulus, Reallexikon für die Antike, Der Neue Pauly, s.v. ,Prozessrecht‘. 9 Siehe hierzu eindrucksvoll H. Hofmann, „Recht ist Streit“, JZ 2018, 473 mit Hinweis u. a. auf Grotius’ De iure belli ac pacis sowie Jherings Kampf ums Recht.

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meinhin Windscheid zugeschrieben und seinem 1856 veröffentlichtem Buch „Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts“. Mit diesem Buch schaffte es der Verfasser, den Fokus vom Verfahren hin auf die Substanz zu verlagern, vom Prozess- hin zum materiellen Recht. Die Willenserklärung und der Anspruch rückten in die Position von Klage und Verfahrensgewand ein. Das Gericht war nun nicht mehr der alles entscheidende Prüfstein für die Existenz eines Rechts; dieses konnte vielmehr durchaus auch ohne jene Institution oder gar irgendeinen Juristen als bestehend gedacht und behandelt werden. Gleichwohl erkennt man das Fortwirken des alten, überkommenen Verständnisses in vielen Aussagen auch späterer Zeit, am markantesten vielleicht bei Jhering, dessen „Kampf ums Recht“ im Grunde genommen den gerichtlichen Kampfplatz ständig mitdenkt. „Wer sein Recht behauptet, verteidigt innerhalb des engen Raumes desselben das Recht. Das Interesse und die Folgen dieser seiner Handlungsweise gehen daher über seine Person weit hinaus.“10 In dieser Schlussfolgerung ist unausgesprochen, aber wegen der weit über die eigene Person hinausreichenden Folgen implizit als gegeben unterstellten Öffentlichkeit und Breitenwirkung das Gerichtsforum als Austragungsort des jeweiligen Kampfes unterstellt. Genau dasselbe Vorverständnis liegt aber auch etwa dem § 543 Abs. 2 ZPO zugrunde, wenn er die Revisionszulassung etwa für Fälle statuiert, in denen der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt; nach Ansicht des BGH ist das dann der Fall, wenn die zu klärende Rechtsfrage in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen auftreten kann.11 Auch hier also ist der Prozess als Kampfstätte im Sinne von Jhering mitgedacht. Wenn dann noch der Rechtsfrieden als zumindest einer der Zwecke des Zivilprozesses apostrophiert wird,12 zeigt sich hieran im Grunde genommen die geradezu ungebrochene Fortwirkung der den staatlichen Gerichtsverfahren zugedachten autoritativen Zentralrolle des Rechts und seiner Entwicklung. Wie schon einmal an anderer Stelle vorgetragen,13 ist mit dieser Zuordnung allerdings die von Windscheid vorgenommene Spaltung wohl nicht wirklich zu Ende gedacht. Denn nicht nur, dass sie dazu führte, dass das Prozessrecht von seiner ehedem dominierenden Rolle in die eines Dieners gesteckt wurde; es hat danach nunmehr die tendenziell als subsidiär zuerkannte Rolle, die Vorgaben des materiellen Rechts (gefälligst) im Streitfall umzusetzen (1.). Darüber hinaus folgt wenigstens mittelbar aus dieser Rollenumkehr im Weiteren auch eine Kontraktualisierung der Streitbeilegung (2.).

10

Jhering, Der Kampf ums Recht, 1872, Neudr. Klostermann 2003, S. 26 f. BGH, NJW 2003, 65. 12 Etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 1 Abs. 3, 4; MüKoZPO/Rauscher, 6. Aufl. 2020, Einleitung Rn. 9. 13 Paulus, Vom aktionenrechtlichen Denken zur Privatisierung der Streitentscheidung, AnwBl 2019, 352. 11

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1. Das Prozessrecht als Diener des materiellen Rechts Das Schädliche an dieser weit verbreiteten Metapher ist, dass sie sich ins Unterbewusste der Juristen einzuschleichen geeignet ist und dort ein Vorverständnis begründet, bei dem die Evidenz so mancher Widerlegungen einfach als Ausnahme beiseite geschoben wird. Ein paar dieser „Ausnahmen“ seien hier angeführt. - So ist die Zuerkennung eines Schadensersatzanspruchs durchaus angemessen, um eine neu anerkannte Rechtsposition nachhaltig zu schützen. Wenn dabei aber nicht mitbedacht ist, dass die gegebenenfalls erforderliche Einforderung eines derartigen Ersatzes an prozessualen Beweisproblemen scheitern muss, dann ist damit die Zuerkennung durch das materielle Recht (= den Herrn) wertlos. Eine solche Situation gab es tatsächlich vor nunmehr einigen Jahrzehnten, als der Software nach längerer Diskussion der Status eines urheberrechtlich relevanten Werkes eingeräumt worden war,14 in Fällen einer behaupteten Verletzung dieses Rechts aber das materielle Recht keinen Anspruch auf Zugang und Einsicht in den Quellcode beim Verletzer bereithielt. - Von einem vergleichbaren Leerlauf eines zuerkannten Rechts profitieren schon seit langem so manche Produzenten gefährlicher Stoffe. Wenn der von ihnen zugefügte Schaden nur hinreichend gering ist, um nicht bei dem (oder den) Geschädigten über die Schwelle der rationalen Apathie hinauszureichen, kann er viele Kosten sparen und seinen Gewinn vergrößern. Hier muss der „Diener“ einspringen, um dem „Herrn“ zur Realisierung seiner Vorstellungen zu verhelfen. Das bezieht sich auf die schon geraume Zeit geführte Diskussion über Wert und Unwert einer class action im europäischen Gewande.15 - Eine schließliche „Ausnahme“ zeigt sich bei der Theorie der Wirkungserstreckung,16 wenn etwa nach der Brüssel Ia-VO, Art. 36, ein in einem anderen Mitgliedstaat gefälltes Urteil im Inland anzuerkennen ist, auch wenn es etwa das an sich einschlägige deutsche Recht ignoriert. Zu einer derartigen Konstellation kann es in Fällen einer scheme of arrangement-Vereinbarung kommen. Die das scheme bestätigende Entscheidung ist ein Urteil im Sinne des Art. 36 Brüssel Ia-VO, das infolgedessen automatisch anzuerkennen ist und dem betroffenen Gläubiger hierzulande allenfalls den Rückgriff auf eines Verletzung des Ordre Public, Art. 45, eröffnet.

14 Dazu seinerzeit Karger, Beweisermittlung im deutschen und U.S. amerikanischen Software-Verletzungsprozess, 1996, S. 13 – 164. 15 Statt vieler siehe nur Stadler, Die Umsetzung der Kommissionsempfehlung zum kollektiven Rechtsschutz, ZfPW 2015, 61 ff.; Brömmelmeyer, Die EU-Sammelklage, 2013. 16 BGH, Beschl. v. 5. 4. 1990 – IX ZB 68/89; BeckOK ZPO/Garber, 1. 3. 2021, Brüssel IaVO Art. 36 Rn. 25; D. Paulus/E. Peiffer/M. Peiffer, Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsverordnung (Brüssel Ia), 2017, Art. 36 Rn. 13 ff.

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Diese Beispiele belegen bereits, dass die Diener-Metapher zu keiner Zeit wirklich zutreffend war.17 Sie ist allerdings auch nicht völlig verkehrt, wie sich an einem Trend offenbart, der in dem nachfolgenden Abschnitt über die „Vertraglichung“ ausführlich aufzugreifen sein wird. Die dort angeführten Beispiele zeigen das Verfahrensrecht nämlich in einer Funktion, die sich darauf beschränkt, den Beteiligten eine verhaltenssteuernde Richtung vorzugeben, ohne eine Stellung zu dem auf diesem Weg erreichten Ziel zu beziehen. Damit mäandert das Verfahrensrecht also zwischen Diener und Herrn hin und her, sodass es dem Rechtsverständnis insgesamt wesentlich förderlicher wäre, wenn man die jeweilige Eigenständigkeit und Komplementarität von materiellem und Verfahrensrecht betonen würde, statt sie in ein assoziativ aufgeladenes Über-Unterordnungsverhältnis zu packen. 2. „Vertraglichung“ der Streitbeilegung Die Fokussierung auf das materielle Recht dürfte aber auch einer der Auslöser des Phänomens sein, das hier als Vertraglichung bzw. Kontraktualisierung gekennzeichnet werden soll. Mit ihrer in dem vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Deklassierung des Prozessrechts zum Diener drängt es diese Rechtsmaterie zwangsläufig in den Hintergrund, was sich als Entwicklung recht eindeutig an den akademischen Curricula widerspiegelt, die für eine Prozessrechtsvorlesung immer weniger Stunden zur Verfügung stellt. Der damit subkutan einhergehende Bedeutungsverlust in der Werteskala der Studierenden schlägt sich dann naturgemäß als das oben angesprochene Vorverständnis irgendwann einmal nieder in der späteren Welt ihres beruflichen Lebens. Wem das zu spekulativ erscheinen sollte, mag vielleicht mehr Überzeugungskraft in folgender Beobachtung finden, die – natürlich nicht ganz zufällig von dem gegenwärtigen Autor – zunächst einmal dem Insolvenzrecht entnommen ist, de facto aber weit darüber hinaus reicht. Jene Rechtsmaterie war buchstäblich seit Jahrtausenden Inbegriff des rigor iuris, also des unverrückbaren, gesetzten Rechts; es war so wie geschrieben anzuwenden. Vor bzw. beim Insolvenzgericht gab es (so gut wie) nichts zu verhandeln. Offenbar hat der Erlass des berühmten Chapter 11-Verfahrens des US-amerikanischen Bankruptcy Code vor gut 40 Jahren genügt, um diesen bis dahin ehernen Befund weltweit aufzulockern.18 Das geschah mittels einer gern so genannten ,invitation to negotiation‘.19 Denn dieses Sanierungsinstrument offeriert der 17 Siehe auch Zöllner, Materielles Recht und Prozeßrecht, AcP 190 (1990), 471 ff.; Münch, Eberhard Schilken und seine Lehre zum Prozesszweck, in: FS Schilken, 2015, S. 387 ff.; Paulus, Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2017, Rn. 9 ff., u. a. mit Hinweis auf BGH, NJW-RR 2003, 1212. 18 Über die Hintergründe dieser Entwicklung Paulus, Ausdifferenzierungen im Insolvenzund Restrukturierungsrecht zum Schutz der Gläubiger, JZ 2019, 11 (12 ff.). 19 Westbrook/Warren/Porter/Pottow, The Law of Debtors and Creditors, 7. Aufl. 2014, S. 359.

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Sache nach nichts anderes als einen ordnenden Rahmen, innerhalb dessen Schuldner und Gläubiger ihre Verhandlungen führen können und sollen. Materielle Inhalte werden dagegen nicht abverlangt oder aufoktroyiert. Hier beschränkt sich das Verfahrensrecht ganz bewusst auf eine rein dienende Funktion. Fast noch deutlicher tritt eben dieses Phänomen zu Tage bei dem jüngst erlassenen Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Ende 2020) sieht es zu weiten Teilen aus wie eine Modifikation des Insolvenzplanverfahrens der §§ 217 ff. InsO. Die Modifikationen sind dem Umstand geschuldet, dass – erstmalig für Deutschland – ein Verfahren eingeführt wird, das der Vermeidung eines Insolvenzverfahrens dienen soll. Man befindet sich damit in einer Situation, die bislang allein dem Vertragsrecht vorbehalten war – was im Klartext bedeutet hat, dass für Änderungen Einstimmigkeit erforderlich gewesen ist. Dieses Erfordernis führte im Falle eines in praxi durchaus verbreiteten Auftretens eines „Akkordstörers“20 (neuerdings auch gerne „hold-out“ genannt) dazu, dass die einzige Alternative die Einleitung eines Insolvenzverfahrens ist. Das kann man heute nicht mehr mit demselben Nachdruck wie noch zu Zeiten von Ernst Jaeger als den „Wertevernichter der schlimmsten Art“21 bezeichnen; doch sonderlich kosteneffizient ist ein Insolvenzverfahren nicht einmal im Vergleich zum früheren Konkursverfahren.22 Um also der Unerbittlichkeit der Alternative einer Einstimmigkeit hier und einem Gesamtverfahren zur Schuldenbereinigung dort zu entkommen, ist nunmehr ein gleichsam minimalinvasiver Eingriff vorgesehen, in dem es letzten Endes allein darum geht, bei den Verhandlungen zwischen Schuldner und Gläubigern den Aktionsradius eines Akkordstörers weitestgehend einzuschränken.23 Das erreicht man, indem man das Einstimmigkeitserfordernis zu Gunsten einer bindenden Mehrheitsentscheidung verdrängt. Alles, was das StaRUG regelt, ist die verfahrenstechnische Ausgestaltung der privatautonomen Verhandlungen. Dabei ist zu beachten, dass der deutsche Gesetzgeber den Gerichten sogar eine recht maßgebliche Rolle zugedacht hat; die Vorarbeiten zu der zugrunde liegenden Richtlinie24 dagegen zielten ursprünglich darauf ab, die Gerichte nahezu komplett zu umgehen.

20

Vgl. dazu BGH, NJW 1992, 967. Jaeger, Lehrbuch des deutschen Konkursrechts, 8. Aufl. 1932, S. 216. 22 Zur Effizienz des heutigen Insolvenzrechts etwa Paulus, Effizienz der Insolvenzordnung, in: FS K.Wimmer, 2017, S. 465 ff. 23 In dem Maße, in dem sich der Internationale Währungsfonds um die Ausgestaltung eines Schuldenbereinigungsverfahrens für zahlungsunfähige Staaten bemüht, geht diese Institution davon aus, dass einziger Grund für die Einführung eines Verfahrens ist, dass die hold-outs gebändigt werden können. Vgl. Sovereign Debt Restructuring – Recent Developments and Implications for the Fund’s Legal and Policy Framework, April 26, 2013, S. 12 ff. 24 Richtlinie EU 2019/1023 vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren. 21

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Ein vergleichbarer Trend weg von der Dezision des Richters25 hin zur konsensualen, kontraktualen Konfliktbereinigung26 ist aber auch im Zivilprozessgeschehen27 zu beobachten. Das zeigt sich zunächst einmal anhand des § 278 ZPO, der den Richter nicht nur zum uralten28 Streitbeilegungsmechanismus des Vergleichs, sondern auch zur Mediation ermächtigt.29 Daran wird auch erkennbar, dass hinter dieser Entwicklung schon auch politische Erwägung, und hier vornehmlich Kosteneinsparungspotential steckt.30 Aber auch über diesen gleichsam an der Türschwelle zum Gericht vorgesehenen Streitvermeidungsmechanismus hinaus werden Gerichte zunehmend nicht mehr als die „geborenen“ Streitentscheider gesehen, sondern als Dienstleistungserbringer, die in Konkurrenz zu vergleichbaren Anbietern stehen.31 Das betrifft nicht nur die (gerade von Schiedsrechtlern schon seit langem propagierte, selten allerdings zahlenmäßig nachgewiesene) Zunahme der Schiedsgerichtbarkeit,32 sondern hat auch und wohl besonders mit dem sogenannten LegalTech und dabei insbesondere mit der Digitalisierung auch des Streitentscheidungswesens zu tun.33 Es sind hier nicht nur die Plattform-Giganten wie Amazon, eBay oder ihre chi25 Hierzu könnte auch der Hinweis v. Westphalens in ZIP 2020, 2203 auf einen Beitrag Dauner-Liebs im AnwBl 2006, 430 über eine „Zwischenbilanz“ nach viereinhalb Jahren Schuldrechtsmodernisierungsgesetz aufschlussreich sein, wo ein BGH-Richter mit der Bemerkung zitiert wird, man hätte es im Kaufrecht in den vier Jahren nach der Reform nur mit „Gebrauchtwagen, Hunden und Pferden zu tun“, nicht aber bzw. so gut wie nicht mit „Unternehmenskauf“ oder „Gesellschafterstreit“. Zur mangelnden Konkurrenzfähigkeit der hiesigen Gerichte mit u. a. der Schiedsgerichtsbarkeit s. auch Raeschke-Kessler, Ein Lehrstück über den Lästigkeitswert: Der Vergleich Kirch/Deutsche Bank, NJW 2019, 2678. 26 Dazu aufschlussreich Dudek, Rückgang der Fallzahlen – Änderung der Konfliktkultur, JZ 2020, 884 ff., der hier einen gesamtgesellschaftlichen Mentalitäts- oder doch zumindest Verhaltensumschwung am Werke sieht. 27 Das zeigt sich auch in der Zwangsvollstreckung etwa anhand des § 794 Abs. 1 Nrn. 1 und 5 ZPO; zumindest in Italien wird im Kontext von Sicherungsrechten die Frage nach Selbsthilfe des Sicherungsgebers als Hybrid zwischen Prozess und Vertrag diskutiert, dazu Confortini, Primato del Credito, 2020, S. 141 ff., insbes. S. 255 ff. 28 Siehe nur Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht: ein Beitrag zur Lehre des arbiter, actiones arbitrariae, Verfahren in iure und exceptio, 1931. 29 Diese Entwicklung veranlasst Nöhre zu der Frage: Wie viel Streitschlichtung verträgt der deutsche Zivilprozess?, AnwBl 2019, 91 ff. S. darüber hinaus – in einem breiteren Kontext –, EuGH, EuZW 2017, 736, sowie Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2013, S. 324. 30 Darauf weist etwa Prütting, Rückgang der Klageeingangszahlen bei den staatlichen gerichten, DRiZ 2018, 62 (65) hin. 31 Cf. Engel, Außergerichtliche Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten – Mehr Zugang zu weniger Recht, NJW 2015, 1633 et seq. 32 Zu dem Versuch, sich staatlicherseits diesem Trend entgegenzustemmen, siehe etwa Köhler/Hudetz, Commercial Courts – Staatliche Konkurrenz für die Schiedsgerichtsbarkeit?, BB 2020, 2179 ff. 33 Hierzu etwa Eidenmüller, Online Dispute Resolution (ODR) und Consumer ADR: Ein Plädoyer für die Online-Verbraucher(schieds)gerichtsbarkeit, Bitburger Gespräche – Jahrbuch 2016, S. 101 ff.

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nesischen Pendants, die allerdings ganz besonders, die einen Service der Streitbeilegung anbieten. Die Zahlen, die allein das Jahr 2016 betreffen und die sich ausschließlich auf das betreffende Angebot von eBay USA beziehen, sind so beeindruckend wie aussagekräftig:34 Während dieser regionale Anbieter allein 60 Millionen Klagefälle in dem einen Jahr 2016 bearbeitete, haben sämtliche Gerichte der USA zusammen nur 40 Millionen Fälle abgehandelt, also nur 23 ihres privatrechtlichen Äquivalents jenes einen Anbieters. Das allerdings ist eine alarmierende Entwicklung.35 Nicht nur, dass das Zivilprozessrecht für diese Beschwerdeinstanzen keine Rolle spielt; fraglich ist überdies, ob das auch für das materielle Recht gilt.36 Nach welchem Recht entscheidet eBay USA? eBay Deutschland? Ist es überhaupt Recht, was hier zur Anwendung kommt, oder ist es reine Billigkeit? Das Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) verlangt in § 6 Abs. 2 allein, dass der Streitmittler Rechtskenntnisse insbesondere im Verbraucherrecht hat, und dass er über Fachwissen und Fähigkeit verfügt, „die für die Beilegung von Streitigkeiten in der Zuständigkeit der Verbraucherschlichtungsstelle erforderlich sind.“ Dazu muss er entweder die Befähigung zum Richteramt besitzen oder zertifizierter Mediator sein. Laut § 5 VSBG muss es eine Verfahrensordnung geben; das anzuwendende Recht wird aber nicht vorgeschrieben. Beim Grundsatz zum eBayKäuferschutz erfährt man allein, dass die Entscheidungen eBays endgültig sind und dass sie getrennt von gesetzlichen Rechten des Käufers wie Verkäufers sind.37 Es stellen sich mithin Fragen, die in der Logik des einmal von Windscheid losgetretenen Entwicklungsstrangs liegen: Die Privatisierung des Rechts kommt zu dem Preis einer zunehmend abnehmenden Bedeutung der staatlichen Gerichtsbarkeit daher. Und der Preis dafür ist, so wird man prognostizieren dürfen, dass auch das materielle Recht in seiner Bedeutung schwindet: Wenn 60 Millionen US-Amerikaner bei Beschwerden nur auf eine Taste ihres Computers in den eigenen vier Wänden zu drücken haben – wie sollte ihnen dabei bewusst sein, dass sie damit auf teilweise recht komplexe Fragen des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts zu rekurrieren versuchen? Essentielle Teile des (in diesem Fall: materiellen) Rechts werden auf diese Weise eben diesem Recht entfremdet. Ob man das wirklich will oder auch nur wollen sollte, müsste wohl gründlich durchdacht werden. Der Vergleich mit 34 Hierzu Braegelmann, Online Streitbeilegung (Online Dispute Resolution – ODR), in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal Tech, 2018, S. 215 (216); ders., Moderne Onlinegerichte: Ein Reformvorschlag aus dem Vereinigten Königreich – Vorbild für die Digitalisierung des deutschen Insolvenzechts?, ZInsO 2016, 952. 35 Eidenmüller, Online Dispute Resolution (ODR) und Consumer ADR: Ein Plädoyer für die Online-Verbraucher(schieds)gerichtsbarkeit, Bitburger Gespräche – Jahrbuch, S. 109, spricht zutreffend von der Herausbildung einer „Schattenjustiz“. 36 Zur „Rechtsetzung“ dieser Akteure etwa Schweitzer, Digitale Plattformen als private Gesetzgeber: Ein Perspektivwechsel für die europäische „Plattform-Regulierung“, ZEuP 2019, 1 ff. 37 Siehe www.ebay.de/help/policies/rules-policies-buyers/invalid-bid-retraction-policy?id= 4210.

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dem Hausrecht38 erfasst nicht recht die Dimension des sich hierbei stellenden Problems. Bedenkenswert ist dabei aber allemal, was Dudek ganz fundamental zur Erwägung stellt: Müssen diese Konflikte denn tatsächlich von Juristen – und damit juristisch – gelöst werden?39

IV. Richterliches Ethos Was in der bisherigen Diskussion um die in diesem Beitrag thematisierte Frage nach den Gründen für den Rückgang der Fallzahlen bei den Zivilgerichten freilich so gut wie durchgängig ausgespart worden ist, was aber nach Einschätzung des Verfassers dieser Zeilen eine keineswegs zu vernachlässigende Rolle spielt, ist der Eigenanteil der Richterschaft an dieser Entwicklung. Vermutlich kann gar nicht nachdrücklich genug betont werden, dass es bei der nachfolgenden Thematisierung dieser Problematik nicht um ein flächendeckendes Unwerturteil über die hiesige Richterschaft geht; die weitaus überwiegende Anzahl der Richter erledigen – man ist geneigt zu sagen: natürlich und erfreulicherweise – jeden Tag aufs Neue die ihnen gestellte Aufgabe mit Bravour, Hingabe und Können. Umso bedauerlicher sind die Ausnahmen, die geeignet sind, einem Anwalt im Interesse seines Mandanten von einem Prozess abzuraten. So ergibt sich etwa aus einer Entscheidung des BGH,40 dass selbst die Richter eines OLG den Tatsachenvortrag des Klägers konsequent aus ihrer Entscheidung ausgeblendet hatten, obgleich dieser in Verbindung mit dem tatsächlichen Verhalten der Parteien sehr deutlich auf eine Firmenbestattung und damit eine Haftung nach § 826 BGB hinwies. In einer anderen Entscheidung fühlt sich der BGH sogar zu folgender Rüge der Vorinstanz (erneut ein OLG) veranlasst: „Das BerGer. lässt völlig außer Acht, dass seine Würdigung zu dem Vortrag des Bekl. und ebenso zu dem – bis zur Erteilung eines entsprechenden Hinweises durch das BerGer. gehaltenen – Vortrag der Kl. in eklatantem Widerspruch steht. Die Begründung des BerGer. lässt nur den Schluss zu, dass seine Entscheidung auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, nicht aber den Sinn des Vortrags des Bekl. erfassenden Wahrnehmung.“41

Es ist betrüblich, sagen zu müssen, dass dies beileibe keine Einzelfälle sind. Eine jüngst erschienene Dissertation hat sich (auch) dieses Themas angenommen42 und 38

Hierzu Schweitzer, Digitale Plattformen als private Gesetzgeber: Ein Perspektivwechsl für die europäische „Plattform-Regulierung“, ZEuP 2019, 1 (4 ff.) mit nachdrücklichem Verweise auf BVerfG, JZ 2018, 930. 39 Dudek, Rückgang der Fallzahlen – Änderung der Konfliktkultur, JZ 2020, 884 (892). 40 BGH, NJW 2018, 2404, Rn. 56 ff. mit Anm. Paulus. 41 BGH, NJW-RR, 2009, 178 – Tz. 4. 42 Rust, Die Substantiierungslast im Zivilprozess, Erster Teil, Drittes Kap., insbes. sub. B II 1 (erscheint 2021) mit vielen Nachweisen zu auch zuvor schon erhobener literarischer Anprangerung, etwa Stürner, JZ 1985, 183 (186); H. D. Lange, NJW 1990, 3233; Ahrens, in: Wieczorek/Schütze, 4. Aufl. 2013 vor § 286 Rn. 44.

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eine geradezu erschreckende Vielzahl entsprechender Rügen durch den BGH zusammengetragen. Wohl richtigerweise ist dort noch hinzugefügt, dass die Dunkelziffer vermutlich erheblich größer ist, weil nun einmal nicht jeder Fall in die Revisionsinstanz kommt. Was immer hinter einer derartigen Zuflucht zur Tatbestandsselektion (gerade auch mittels überhöhter Schlüssigkeitsanforderungen) an richterlicher Motivation43 stecken mag; sie ist in ihrer Häufung durchaus geeignet, den Gang zum Zivilgericht künftighin gerade nicht mehr anzutreten bzw. aus Gründen des sichersten Weges44 davon sogar abzuraten. Nimmt man dann noch die häufig gehörte Klage hinzu, vom Gericht in einen (bisweilen der lex lata Hohn sprechenden) Vergleich gedrängt worden zu sein,45 oder auch zufällig aufgeschnappte Erzählungen von Anwälten wie etwa die, dass er einen Prozess vor einem OLG so verloren habe, dass der Richter den Hinweis auf die entgegenstehende BGH-Rechtsprechung damit beiseite geschoben hat, dass es ja „glücklicherweise“ anschließend noch die Berichtigungsmöglichkeit durch eben dieses Höchstgericht gebe, um dann im Urteil selbst die Revision gerade nicht zuzulassen – wenn also ein derartiges, geradezu zynisches Verhalten von Richtern sogar der Oberlandesgerichte klagenden, ihr Recht suchenden Parteien widerfährt, dann wird sehr viel und überdies sehr kostbares Porzellan zerschlagen – nämlich das Vertrauen in die Justiz. Denn irgendwann einmal ist auch in diesem Bereich das sprichwörtliche Fass voll, und es mutiert die Ziviljustiz insgesamt zu einer „nogo-area“. Was in all diesen Fällen als Mindestabhilfe fungieren sollte, ist eine Besinnung auf das richterliche Ethos. Das wird freilich an der Universität in den Vorlesungen und in den einschlägigen Lehrbüchern so gut wie gar nicht thematisiert, geschweige denn gelehrt. Über all der vom Wissenschaftsrat schon vor einigen Jahren tadelnd hervorgehobenen Konzentration der deutschen universitären Juristenausbildung auf „positives Norm- und Applikationswissen“46 geht der Blick auf das Große und Ganze – im vorliegenden Zusammenhang auf das von einem hohen Berufsethos der Richterschaft abhängige Funktionieren eines Rechtsstaates – verloren. Kennzeichnend für diesen Trend ist, dass Ethos jüngst erst geradezu zum Modebegriff geworden ist,47 wenn es um Künstliche Intelligenz geht; für die Ausbildung von Richtern bzw., ganz allgemein, von Juristen dagegen fehlt es allein schon am Erkennen einer zu füllenden Lücke. Hier bedarf es vermutlich einer ebenso dringenden wie intensiven konzertierten Aktion sämtlicher an der Juristenausbildung beteiligten Akteure. 43 Es ist halt keineswegs völlig aus der Luft gegriffen, was M. Schwab in seinem Lehrbuch zum Zivilprozessrecht diesbezüglich schreibt: „Leider trifft es jedoch ebenso zu, dass zahlreiche Richter an der Wahrheit kein Interesse haben, wenn dies eine u. U. aufwendige Beweisaufnahme erfordern würde – die letztlich auf Kosten der eigenen Freizeit ginge“, Rn. 471. 44 Dazu Gehrlein, Anwalts- und Steuerberatungshaftung, 5. Aufl., 2019, B I 4, S. 28 ff. 45 Siehe etwa mit Nachweisen MüKoZPO/Wolfsteiner, 6. Aufl. 2020, § 794 Rn. 7. 46 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, Drs. 2558 – 12, S. 56. 47 Dazu etwa Möslein, Die normative Kraft des Ethischen, RDi 2020, 34 ff.

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Christoph G. Paulus

V. Ausblick Um am Schluss doch noch einmal auf den eingangs perhorreszierten Untergang der abendländischen Rechtskultur zurückzukommen: Der wird wohl nicht eintreten. Veränderungen aber wird es voraussichtlich sehr wohl geben. Die oben angesprochene Kontraktualisierung dürfte sich einer wachsendenden Beliebtheit erfreuen, weil der zwischen Streit und Lösung eingeschaltete Mittler entfällt. Dieser Mittler ist der gesamte Rechtsdienstleistungsmarkt, der zeitaufwändig arbeitet, teuer und nur schwer (wenn überhaupt) kalkulierbar ist.48 So wie der internationale Handel immer wieder Wege hin zu einer lex mercatoria sucht,49 werden auch die großen Plattformen ihre eigenen Regelungen durchzusetzen versuchen. Das liegt ganz auf der Linie der heute so hoch gehaltenen Disruption, die nicht allein schlagwortartiges Motto der start-up Szene ist, sondern gleichsam als Fanal für die gegenwärtige Zeit gelten dürfte.

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Zu einem Beispiel für den möglichen Entfall des Rechtspersonals aus dem Vollstreckungsrecht s. nur Paulus/Matzke, Smart Meter und Smart Contracts – Versorgungssperre per Fernzugriff, NJW 2018, 1905 ff. 49 Dazu eindrucksvoll Mazzoni/Malaguti, Diritto del commercio internazionale – Fondamenti e prospettive, 2019 (dt. 2021: Die Architektur des internationalen Wirtschaftsrechts – Grundlagen und Ausblicke).

Notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärungen im Äußerungsrecht Eine Aufforderung zur Emanzipation des Äußerungsrechts Von Walter Seitz

I. Vorbemerkungen 1. Der Jubilar In Staudinger/Johannes Hager, Buch 2, Recht der Schuldverhältnisse, § 823 A – D, Unerlaubte Handlungen 1 – Rechtsgüter und Rechte, Persönlichkeitsrecht, Gewerbebetrieb, Neubearbeitung 2017, werden zu den Randnummern C 258 ff. die Voraussetzungen der Ansprüche auf (vorbeugende) Unterlassung erörtert. Danach setze der Unterlassungsanspruch Wiederholungsgefahr nach den allgemeinen Regeln voraus. Es handele sich um eine echte Anspruchsvoraussetzung, nicht um eine Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses. Wenn eine vorausgegangene Persönlichkeitsbeeinträchtigung in rechtwidriger Weise erfolgt gewesen sei, werde die Wiederholungsgefahr vermutet. Die Anforderungen an ihre Widerlegung seien zwar streng aber nicht so gewichtig, wie im Wettbewerbsrecht. Es folgen dann bei Johannes Hager einige Einzelheiten. Die Wiederholungsgefahr werde beispielsweise ausgeräumt, wenn eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben werde. Ansonsten nur in Ausnahmefällen. Das alles ist natürlich (Staudinger!) zutreffend dargestellt. Im vorliegenden Beitrag soll der Frage eines konkreten Ausnahmefalls nachgegangen werden: Wird die (tatsächliche) Vermutung der Wiederholungsgefahr auch durch eine notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung ausgeräumt? 2. Der Autor des Beitrags Als Richter auf Lebenszeit habe ich immer versucht, mich auf sicherem Boden zu bewegen – wenn es um eine gerichtliche Entscheidung ging. Ausreißermeinungen waren nicht mein Ding. Auf Sand wird nicht gebaut. Deshalb werden wohl auch einige unserer Senatsentscheidungen im kritischen Fokus des Jubilars stehen. Das hindert aber nicht, mich im vorliegenden Beitrag auf die – grundsätzlich richtige – kritische Ebene des Jubilars zu begeben. Nichts ist so stetig, dass es nicht hinterfragt

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werden muss. Das gilt wohl auch allgemein für das Notarrecht. Das zeigen schon die jährlichen Berichte zum Notarrecht von Johannes Hager/Müller-Teckhof1 in der NJW. Jedenfalls gilt es aber für die Diskussion über notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärungen. Die Vertragsfreiheit ist als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit wesentlicher Bestandteil unserer freiheitlichen Demokratie.2 Sie wird durch Art. 2 Abs. 1 GG weitgehend geschützt. Soll sie beschränkt werden, dann bedarf es dazu überzeugender Argumente.

II. Wettbewerbsrecht Zutreffend weist Johannes Hager im genannten Staudinger-Beitrag darauf hin, dass die Anforderungen an die Widerlegung der (tatsächlichen) Vermutung der Wiederholungsgefahr im Wettbewerbsrecht streng sind.3 Natürlich ist für diese Vermutung auch hier Voraussetzung, dass ein rechtwidriger Eingriff – hier also (im Wettbewerbsrecht) ein rechtwidriger Wettbewerbsverstoß – bereits stattgefunden hat.4 Auf die Frage einer Erstbegehungsgefahr5 gehe ich vorliegend nicht ein. Im Wettbewerbsrecht gibt seit der UWG-Reform 2004 § 12 Abs. 1 Satz 1 UWG das Grundmuster für ein Vorgehen des verletzten Wettbewerbers vor. Dem Schuldner soll vor der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens Gelegenheit gegeben werden, durch Abgabe einer mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrten Unterlassungsverpflichtung den Streit vorgerichtlich beizulegen.6 Das hat für die Justiz den großen Vorteil, dass sie nicht eingeschaltet werden muss, dass das Problem ohne Rechtsstreit gelöst wird (Streitvermeidungsfunktion). Zugleich wird der Verletzte rechtzeitig vor Beschreiten des Rechtswegs durch den Gläubiger gewarnt. Und die Streitlösung wird deutlich billiger (Kostenvermeidungsfunktion).7 Diese Regelung hat eine langjährige Praxis des Wettbewerbsrechts nur festgeschrieben. Deshalb wird die vorherige Rechtsprechung hierzu auch im Rahmen der Reform von 2004 immer noch zur Lösung von Rechtsfragen mit herangezogen. Im Wettbewerbsrecht wurde eine Zeit lang die von § 12 UWG nicht gedeckte Variante diskutiert, ob die Vermutung der Wiederholungsgefahr auch durch eine notarielle Unterlassungs- oder Unterwerfungserklärung ausgeräumt werden könnte. Warum bitte nicht, fragt man sich. In einer solchen Urkunde könnte sich der Unter1

S. zuletzt Hager/Müller-Teckhof, NJW 2020, 1857. BeckOGK/Herresthal , 01. 01. 2021, BGB § 311 Rn. 17 ff. 3 Staudinger/Hager, 2017, BGB § 823 Rn. C 260. 4 MüKoUWG/Fritzsche, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 29. 5 S. hierzu Borck, WRP 1984, 583; MüKoUWG/Fritzsche, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 77 ff. 6 Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, 38. Aufl. 2020, UWG, § 12 Rn. 1.138; MüKoUWG/Ottofülling, 2. Aufl. 2014, § 12 Rn. 174. 7 BeckPFormB/Götz, 14. Aufl. 2019, Formular zur wettbewerbsrechtlichen Abmahnung (II, P, 1), Anm. 1.; Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, 38. Aufl. 2014, UWG, § 12 Rn. 1.5. 2

Notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärungen im Äußerungsrecht

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lassungsschuldner der sofortigen Zwangsvollstreckung unterwerfen. Dadurch entstünde ein Titel zur Zwangsvollstreckung im Sinn von § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO. Also fehlte – hat man argumentiert – einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung das Rechtsschutzbedürfnis. Und zudem würde die Vermutung der Wiederholungsgefahr ausgeräumt.8 Ergebnis der Diskussion dazu war schließlich leider, dass diese rechtlichen Annahmen nicht durchgriffen. Das musste allerdings bis zum Bundesgerichtshof9 durchgestritten werden. Und es hat sich gezeigt, dass eine für den Gläubiger unzumutbare Schutzlücke bleiben würde, ginge man diesen Weg der notariellen Unterlassungsverpflichtungserklärung. Die Zwangsvollstreckung aus einer solchen Urkunde soll nämlich eine gerichtliche Androhung im Sinn von § 890 Abs. 2 ZPO voraussetzen.10 Diese Androhung kann nur ein Gericht aussprechen. Und welches Gericht das sein könnte, war umstritten: Das Gericht am Sitz des beurkundenden Notars11 oder das, welches für eine einstweilige Verfügung zuständig wäre12? Und es wurde vertreten, dass den Antrag nach § 890 Abs. 2 ZPO nur der Gläubiger stellen kann. Ein Antrag durch den Vollstreckungsschuldner wurde schließlich vom Bundesgerichtshof als unzulässig angesehen.13 Alles hätte also so ablaufen müssen, dass die notarielle Urkunde dem Gläubiger zugestellt wird und dieser dann zu dieser Urkunde die Androhung der Sanktionen durch das zuständige Gericht beantragen müsse.14 Und weiter hat dann der Bundesgerichtshof entschieden, dass durch eine solche notarielle Unterlassungserklärung die Vermutung der Wiederholungsgefahr nicht ausgeräumt werde.15 Für das Wettbewerbsrecht ist das entschieden, weil es der Bundesgerichtshof entschieden hat. Man sollte hier noch erläuternd hinzufügen: Diese angedachten oder errichteten notariellen Urkunden enthielten – das ist der Witz an der Sache – keine mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrte Unterlassungsverpflichtung. Die ganzen unangenehmen Seitenprobleme einer solchen Vertragsstrafe wären dadurch ausgeschaltet. 8 So grundlegend Köhler, GRUR 2010, 6 (9 f.); bejahend auch LG Köln, Urt. v. 23. 09. 2014 – 33 O 29/14 –, juris; Löffel, GRUR-Prax 2014, 536, 536; a. A. LG Berlin, WRP 2015, 1407 (1408); OLG Köln, WRP 2015, 623 (625); Tavanti, WRP 2015, 1411 (1412); Sakowski, GRUR-Prax 2016, 272; krit. auch Hess, jurisPR-WettbR 2/2015 Anm. 2; Teplitzky, WRP 2015, 527 (532). 9 BGH, GRUR 2016, 1316 = NJW 2017, 171; s. auch Besprechungen von Berlit, LKM 2016, 384086; Hess, jurisPR-WettbR 11/2016 Anm. 4; Pörksen, jurisPR-ITR 24/2016 Anm. 5; Sakowski, GRUR-Prax 2016, 515; Schmidt, JuS 2017, 365. 10 BGH, GRUR 2016, 1316 (1317); zustimmend Tavanti, WRP 2016, 1498 (1499). 11 So OLG Köln, WRP 2014, 746, 746; OLG Köln, WRP 2015, 623 (624); OLG Düsseldorf, WRP 2015, 71 (72); OLG München, WRP 2015, 646 (647). 12 So Nippe, WRP 2015, 532 (534); Tavanti, WRP 2015, 1411 (1412); Teplitzky, WRP 2015, 527 (529). 13 BGH, GRUR 2018, 973, 973; zustimmend Tavanti, WRP 2018, 1067 (1068); a. A. Löffel, GRUR-Prax 2018, 389, 389. 14 BGH, GRUR 2016, 1316 (1318). 15 BGH, GRUR 2016, 1316 (1318), zustimmend Kessen, GRUR 2017, 141 (144).

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III. Äußerungsrecht Eine wichtige Wesenseigenschaft des Jubilars ist es, wie schon angedeutet, Rechtsmeinungen nicht einfach abzunicken. Es ist ein wenig wie im Konzert: In jeder Aufführung muss die Komposition neu gelebt werden. Auch wenn Meinungen vom Bundesgerichtshof vertreten werden, auch wenn sie sich so richtig verfestigt haben, nichts wird blind durchgewunken. Nichts ist so statisch, dass sich ein erneutes, vertieftes Nachdenken nicht lohnen würde. Für Instanzrichter sollte dies nicht anders sein. Hier muss man aber immer überlegen, ob man den Prozessparteien einen Weg zum Bundesgerichtshof zumuten soll, wenn dieser die Rechtsfrage des konkreten Rechtsstreits schon (mehrfach) entschieden hat. Für den Wissenschaftler, das ist der Jubilar im tiefsten Herzen, ist dies anders. Wir brauchen die Wissenschaft, um neue Rechtsfragen gut auf den vielleicht steinigen Weg zu bringen. Aber auch um so richtig Festgefahrenes zu lockern. Die im Wettbewerbsrecht für die Praxis schon gelösten Rechtsfragen zur Frage notarieller Unterlassungsverpflichtungserklärungen müssen deshalb hier für das Äußerungsrecht etwas stärker aufgerollt, neu durchdacht werden. Jedenfalls für das Äußerungsrecht darf die verfestigte Meinung zum Wettbewerbsrecht nicht einfach durchgewunken werden. Und es wird – meine ich – ein anderes Ergebnis herauskommen. 1. Schwerer Grundsatzfehler Ich bitte um Nachsicht, wenn ich hier mit kleinen Überspitzungen arbeite. Myops (Zeitschrift!) lässt grüßen. Ganz im Sinn des Jubilars. Das Äußerungsrecht muss sich bitte und unbedingt von der „Durchseuchung“ mit dem Wettbewerbsrecht lösen. Dort geht es um (oft starke) wirtschaftliche Interessen. Das UWG dient dem Schutz der Mitbewerber,16 der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen.17 Es schützt zugleich auch das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb (so § 1 UWG).18 Bei den äußerungsrechtlichen Streitigkeiten geht es überwiegend um den Schutz persönlicher Ehre.19 Es sind oft nichtvermögensrechtliche Streitigkeiten. Anders wäre es nur, wenn auch wirtschaftliche Interessen eine wesentliche Rolle spielen. Das Äußerungsrecht muss sich – mein Appell – frei machen von Überlegungen und Auffassungen aus dem Lauterkeits- oder Wettbewerbsrecht. Ich rufe nach einem überzeugenden Befreiungsschlag. Weg mit den Auffassungen der Wettbewerbsrechtler. Schweigt sie tot im Äußerungsrecht!

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Mitbewerberinnen gibt es im Gesetz nicht. Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler, 38. Aufl. 2020, UWG, § 1 Rn. 9 ff. 18 Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler, 38. Aufl. 2020, UWG, § 1 Rn. 40 ff. 19 Burkhardt/Peifer, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 5 Rn. 94 ff. 17

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Zugegeben: Alle führenden Darstellungen im Äußerungsrecht betonen gerne Unterschiede zwischen Äußerungs- und Wettbewerbsrecht. Das gilt insbesondere für Burkhardt20, für Soehring21 und für Steffen22. Und es gilt im Äußerungsrecht auch ein wenig für den Jubilar. Verdächtig ist es aber immer, wenn zum Beleg für im Äußerungsrecht vertretene Auffassungen wettbewerbsrechtliche Entscheidungen zitiert werden. Der Jubilar zitiert in Fußnote 2750 zu Rn. C 260 zum Beleg für die Vermutung der Wiederholungsgefahr BVerfG und BGH und einige Oberlandesgerichte. Die meisten davon sind Entscheidungen im Bereich des Äußerungsrechts. Gut so. Diese, die vorhergehenden, und die folgenden Fußnoten sind aber auch und leider intransparent durchsetzt mit wettbewerbsrechtlichen und anderen Fällen. Das gilt für die Fußnote 2745 (Wiederholungsgefahr als echte Anspruchsvoraussetzung), aber auch für die Fußnoten 2755, 2756 und 2758.23 In Fußnote 2750 ist es aus dem feindlichen Lager BGH GRUR 2013, 1259. Weitere der dort zitierten BGH-Entscheidungen entstammen anderen Rechtsgebieten mit Urteilen des II. und des V. Zivilsenats. Ich plädiere dafür, auch in dem hier diskutierten Bereich des Äußerungsrechts nur die Entscheidungen aus diesem Gebiet einzuarbeiten. Und das muss auch für die Literatur dazu gelten. Sicher hat Köhler mit seinem Aufsatz in GRUR24 einen überzeugenden Anstoß für das in diesem Beitrag diskutierte Thema gegeben. Aber wir Äußerungsrechtler müssen uns von diesen ganz anders programmierten Kollegen aus dem Wettbewerbsrecht ganz einfach befreien. Ich verlange uneingeschränkte Emanzipation für das Äußerungsrecht. Wer, wenn es um äußerungsrechtliche Fragen geht, heimlich in Kommentaren zum UWG blättert, verrät unsere Souveränität. Ich habe deshalb Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, hervorragender Kommentar (leider zum Wettbewerbsrecht), gerade eben einfach zugeschlagen und zurück ins Regal gestellt. 2. Rechtsschutzbedürfnis Der Gläubiger des Unterlassungsanspruchs erhält durch eine notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung einen nicht nur vorläufig vollstreckbaren Unterlassungstitel (§ 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). Er steht also besser da, als wenn er nur einen Titel aus einer einstweiligen Verfügung hätte. Das mit der von den Wettbewerbsrechtlern diskutierten „Schutzlücke“ ist für das Wettbewerbsrecht in der Tat zu diskutieren.25 Immerhin ist aber dort durch die Rechtsprechung geklärt, bei welchem Gericht die Androhung nach § 890 Abs. 2 ZPO zu beantragen ist. Die befürchteten 20 S. etwa Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 8, 31b. 21 Vgl. Soehring, in: Soehring/Hoene, Presserecht, 6. Aufl. 2019, § 30 Rn. 30.8 ff. 22 Steffen, in: Löffler, Presserecht, 6. Aufl. 2015, § 6 LPG, Rn. 266. 23 Hier wird jeweils BGH, NJW-RR 2002, 608 zitiert. 24 Köhler, GRUR 2010, 6. 25 BGH, GRUR 2016, 1316 = NJW 2017, 171 (Anm. Pustovalov S. 175): Der Zugang einer solchen Erklärung beseitigt nicht das Rechtsschutzbedürfnis (Wettbewerbsrecht!).

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Verzögerungen durch ein hin- und/oder herverweisen durch das Gericht am Sitz des beurkundenden Notars und das für den Unterlassungsanspruch zuständige Gericht, bestehen nicht mehr. Zuständig ist das Gericht am Sitz des Notars26 – auch wenn es, so wurde zum Teil argumentiert – ein „Provinzgericht“ ohne Spezialkenntnisse im Wettbewerbsrecht ist. Dass es das Gericht eines potentiellen Unterlassungsantrags sein soll, erscheint eher absurd. Auch im Weg des § 12 UWG erzielt man den Schutz zudem nicht so schnell, dass keine Schutzlücke bleibt. Auf das Äußerungsrecht kann man die Bedenken aus dem Wettbewerbsrecht nicht übertragen.27 Da geht es um völlig verschiedene tatsächliche Geschehnisse. Und so richtig eilig sind nicht so sehr viele Fälle. Gegen Äußerungen in der Fernsehsendung am Abend kann man auf diesem Weg nicht erfolgreich vorgehen. Es kann aber auch um Äußerungen in einem Blatt gehen, das nur monatlich erscheint. Da muss die Äußerung erst zum Verletzten kommen. Der muss dann einen (seinen?) Anwalt einschalten, dieser braucht ebenfalls eine angemessene Überlegungsfrist. Aus meiner Sicht kann auch die wettbewerbsrechtlich motivierte Vierwochenfrist für die Dringlichkeit im Rahmen eines Verfahrens der einstweiligen Verfügung im äußerungsrechtlichen Bereich nicht herangezogen werden. Es gilt die konkrete Einzelprüfung. Der Unterlassungsschuldner wendet Notarkosten auf, um sich zu unterwerfen. Warum macht er das? Doch nicht, um in der Schutzlücke seine verletzende Äußerung schnell nochmals wiederholen zu können. Er riskiert ja auch, dass zusätzlich andere äußerungsrechtliche Ansprüche bestehen. Irgendeinen konkreten Ansatzpunkt gibt es nicht, um gegen die Ausräumung der Wiederholungsgefahr durch die notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung argumentieren zu können. Also allein hier kann schon entschieden werden, dass die notarielle, nicht strafbewehrte Unterlassungsverpflichtungserklärung die Vermutung der Wiederholungsgefahr ausräumt.28 Es bedarf keines Verfügungsverfahrens, keiner Abschlusserklärung dazu, und schon gar keiner Hauptsacheklage. Auch durch ein solches Vorgehen wird die Justiz ebenfalls nachhaltig entlastet. 3. Androhung nach § 890 Abs. 2 ZPO Es wird immer – im Bereich des Wettbewerbsrechts – ohne Vertiefung angenommen, dass § 890 Abs. 2 ZPO auch für vollstreckbare Urkunden auf Unterlassung gilt. Das ist zu bezweifeln. Nachdenken, sagt der Jubilar. Der Wortlaut der Norm zwingt nicht zur Annahme, dass sie auch für die notariellen Unterlassungsverpflichtungserklärungen gilt. Immerhin ist ja die Wartefrist des § 798 ZPO einzuhalten. Der Vollstreckungsschuldner hat also Zeit zum Nachdenken. Eine Diskussion hierzu vertiefe ich nicht. 26

S. o. Fn. 11. So auch Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 31b. 28 Befürwortend daher Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 20, 31b. 27

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§ 890 Abs. 2 ZPO ist nämlich – äußerungsrechtlich vertieft nachgedacht – abdingbar. Man kann in die notarielle Urkunde aufnehmen, dass der Schuldner auf die Androhung nach § 890 Abs. 2 ZPO ausdrücklich verzichtet. Die Norm dient ja seinem Schutz. Und seiner Schutzbedürftigkeit wird im Rahmen der Errichtung der notariellen Urkunde Genüge getan. Ich meine, dass ein solcher Verzicht möglich, ja sogar anzuraten ist. Dann entfiele der Schutzlückeneinwand jedenfalls zu einem gewichtigen Teil. Dem kann eine allgemeine Aufregung in Rechtsprechung und Literatur zum Wettbewerbsrecht nicht entgegengehalten werden. Alle haben eine Entscheidung des Reichsgerichts in RGZ 40, 413 übernommen.29 Leider enthält diese Entscheidung – über 120 Jahre alt – keine brauchbare Begründung, ganz im Gegensatz zu vielen anderen, hervorragend begründeten Entscheidungen des Reichsgerichts. In RGZ 40, 413 wird nur der Wortlaut des damaligen § 775 ZPO herangezogen. Und der BGH30, der dieser Entscheidung auch folgt, zitiert ergänzend eine imponierende Latte von Rechtsprechung und Literatur mit gleicher Auffassung. Das reicht aber nicht, um dem Vorwurf des Abnickens zu entgehen. Die Beschränkung auf § 890 Abs. 2 ZPO soll wegen des „öffentlich-rechtlichen Charakters“ der Verfügung (damit ist die gerichtliche Androhung gemeint) der Disposition der Parteien entzogen sein.31 Dieser Charakter besteht aber allenfalls dann, wenn die Androhung durch das Gericht erfolgt. Die Abdingbarkeit ist eine andere Frage. Die Androhung soll dem Schuldner die möglichen Folgen eines Verstoßes gegen das Unterlassungsgebot deutlich vor Augen führen und ihn dadurch anhalten, die Unterlassungspflicht zu befolgen, schreibt der BGH32 (im Wettbewerbsrecht). Das wird ihm auch deutlich genug durch Aufnahme in eine notarielle Erklärung klar gemacht. Durch einen richterlichen Beschluss wird er nicht deutlicher gewarnt. Meist ist die richterliche Androhung ja schon im Unterlassungstitel enthalten.33 Da geht sie eher unter als wenn der Schuldner konkret durch den Notar belehrt wird. Das ist mir zu sehr das überholte obrigkeitsrechtliche Denken gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das schmeckt muffig. Zur grundgesetzlich garantierten Handlungsfreiheit passt das alles nicht mehr. Es ist insbesondere auch eher unverhältnismäßig, also verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Keine Einwendungen aus der Sicht des Äußerungsrechts bestehen zur Auffassung, dass die notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung dem Gläubiger zugestellt worden sein muss.34 29 So etwa MüKoZPO/Gruber, 6. Aufl. 2020, § 890 Rn. 25; Stein/Jonas/Bartels, 23. Aufl. 2017, ZPO, § 890 Rn. 13. 30 BGH, GRUR 2012, 957 (958). 31 Vgl. OLG Frankfurt a. M., NJW-RR 2006, 1441. 32 BGH, GRUR 2012, 957 (958). 33 MüKoZPO/Gruber, 6. Aufl. 2020, § 890 Rn. 25 – idR Aufnahme der Androhung in den Vollstreckungstitel. 34 BGH, GRUR 2016, 1316 = NJW 2017, 171 (Anm. Pustovalov S. 175) – zum Wettbewerbsrecht. Die Besonderheiten des Wettbewerbsrechts spielen hier keine Rolle. Die Übernahme dieser Auffassung stört nicht das Selbstverständnis der Äußerungsrechtler.

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4. Schuldnerantrag Auf die Frage, ob nur der Vollstreckungsgläubiger den Antrag nach § 890 Abs. 2 ZPO stellen kann, ist nach dem Gesagten eigentlich nicht einzugehen. Trotzdem ist auch hier nachzufassen. Nach dieser Norm ist die erforderliche Androhung, wenn sie in dem die Verpflichtung aussprechenden Urteil nicht enthalten ist, auf Antrag von dem Prozessgericht des ersten Rechtszuges zu erlassen. Wer diesen Antrag zu stellen hat, steht in der Norm nicht. Weshalb also soll den Antrag nicht auch der Schuldner stellen können? Auch hier hat sich – im Wettbewerbsrecht – eine sichere Meinung gebildet, die keinen Widerspruch duldet. Nur der Gläubiger kann den Antrag stellen. So der BGH.35 Basta! Selbstverständlich begründet der BGH seine den Wortlaut der Norm beschränkende Auffassung sehr gut. Keine Diskussion. Aber es bleibt genügend Luft, um dieser Meinung im Bereich des Äußerungsrechts nicht zu folgen. Im Vordergrund steht eine Art Inzucht-Argument: Weshalb sollte der Schuldner eine Zwangsvollstreckung gegen sich selbst betreiben? Aber darum geht es nicht. Es geht um die Frage, ob man den Gläubiger entlasten, und ob man eine drohende Schutzlücke, die zu Lasten des Gläubigers gehen würde, verkürzen kann. Die BGH-Entscheidung verrät deutlich, was – im Wettbewerbsrecht – gedacht wird: „Mit dieser Stellung des Gläubigers als Herrn des Verfahrens ist es unvereinbar, dem Schuldner über einen Antrag nach § 890 Abs. 2 ZPO die Möglichkeit zu geben, dem Gläubiger entgegen dem Regelungsprogramm des Gesetzes eine Streiterledigung durch notarielle Unterlassungserklärung aufzuzwingen.“36

Da tut einem der Gläubiger so richtig leid. Mit dem Regelungsprogramm ist § 12 UWG gemeint: Entweder strafbewehrte Unterlassungserklärung oder gerichtliches Verfahren. Der Gläubiger ist Herr des Verfahrens, der Schuldner ist unterworfen. Er ist ja auch der Böse. Für das Äußerungsrecht gibt es dieses gesetzliche Programm aber gerade nicht. Und es gilt die Meinungs- und die Pressefreiheit.37 Schön, dass der BGH immerhin betont, dass sich zu dieser Frage aus dem Wortlaut des § 890 Abs. 2 ZPO nichts ergibt, was zweifellos zutrifft. Und den anderen vom BGH angeführten Argumenten kann ich für das Äußerungsrecht nichts abgewinnen. Hier muss es eine freie Entwicklung im Rahmen vor allem von §§ 935 ff. ZPO geben. Wie schon gesagt wird der Antrag nach § 890 Abs. 2 ZPO in der Regel schon zusammen mit dem Unterlassungsantrag an das Gericht gestellt. Und dem Argument mit der angeblichen Unabdingbarkeit der Normen im Bereich des Zwangsvollstreckungsrechts kann ich nichts abgewinnen. Das Gesetz gibt doch in § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO ausdrücklich die Möglichkeit, eine notarielle Vereinbarung zu treffen, die einen Titel zur Zwangsvollstreckung bildet.

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BGH GRUR 2018, 973 = NJW-RR 2018, 960 – Schuldnerantrag. BGH GRUR 2018, 973. 37 Zur Konfliktlösung zwischen Äußerungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz vgl. Burkhardt/Peifer, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 4 ff. 36

Notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärungen im Äußerungsrecht

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5. Notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung im Äußerungsrecht Wie ist also vorzugehen im Bereich des Äußerungsrechts, wenn der Unterlassungsschuldner die notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung wählt? Eine notarielle Urkunde im Sinn von § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO ist zu erstellen. Die Befugnis der Notare für die Erstellung einer solchen Urkunde folgt aus § 20 Abs. 1 Satz 1 BNotO. Gegenstand der Urkunde ist die Unterwerfung des Schuldners unter die sofortige Zwangsvollstreckung.38 Diese muss sich auf einen ganz bestimmten Sachverhalt – hier also die verletzende Äußerung, und/oder etwaiger verletzender Bildnisveröffentlichungen – beziehen.39 Vielleicht ist auch Prozessrecht – etwa § 253 ZPO40 – mit einzubeziehen. Da können Probleme bei der Formulierung lauern, wie auch bei einer strafbewehrten Unterlassungsverpflichtungserklärung. Auch enthält die Konkretisierung auf die verletzende Äußerung wenigstens mittelbar eine einer Willenserklärung ähnliche Erklärung. Die Einschränkung in § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zu Willenserklärungen wird hier heruntergespielt. Die Zustellung der Unterwerfungserklärung bedarf keiner Annahme; es handelt sich um eine einseitige Willenserklärung, die mit Zugang bindet. Das scheint mir eher zutreffend zu sein, als die Einordnung der Urkunde als Angebot, das vom Unterlassungsgläubiger erst noch angenommen werden müsste.41 Dann ergäbe sich nämlich die Frage, was gilt, wenn der Unterlassungsgläubiger die Unterwerfung nicht annimmt.42 Die Urkunde muss auch einen Verzicht auf die Androhung nach § 890 Abs. 2 ZPO enthalten. Und sie muss dem Unterlassungsgläubiger zugestellt werden.43 Auch die Zustellung von Erklärungen gehört zum Aufgabenkreis der Notare (§ 20 Abs. 1 Satz 2 BNotO). Die Formalien der Beurkundung ergeben sich aus dem Beurkundungsgesetz. Soll sich der Schuldner der konkreten Abmahnung unterwerfen (plus Stichwort „konkrete Verletzungsform“)44, was meist zu empfehlen ist, dann wird in der Niederschrift auf die Abmahnung verwiesen, und diese wird der Niederschrift beigefügt (§ 9 Abs. 1 Satz 2 BeurkG). Eine Erstreckung der Unterwerfung auf kerngleiche Verstöße ist nicht erforderlich, weil diese (bei Wortäußerungen) auch ohne Klarstellung miter38 Burkhardt/Peifer, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 31b. 39 MPFormB GewRS/Burkhardt, 5. Aufl. 2018, Form. H. 7, Anm. 5 – bestimmte Verletzungshandlung. 40 Bestimmtheit des Klageantrags. 41 Vgl. MPFormB GewRS/Burkhardt, 5. Aufl. 2018, Form. H. 7, Anm. 1; Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 22 – Einordnung der (strafbewährten) Unterlassungserklärung als Vertrag iSd § 311 BGB bei Annahme durch den Anspruchsteller. 42 Vgl. hierzu Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 23. 43 Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 31b – Erfordernis des Zugangs. 44 MPFormB GewRS/Burkhardt, 5. Aufl. 2018, Form. H. 7, Anm. 5

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fasst sind.45 Mit der Zustellung entfällt die Wiederholungsgefahr bezogen auf die verletzende Äußerung.46 Das heißt, es entfällt eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung. Auch würde für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung oder gar für eine Hauptsacheklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Die nach Erlass einer Unterlassungsverfügung erforderliche Abschlusserklärung ist nicht erforderlich. Bei einem Verstoß gegen die Unterlassungsverpflichtung kann ohne weitere Voraussetzungen die Festsetzung von Ordnungsmitteln nach § 890 Abs. 1 ZPO beantragt werden. Ein Ordnungsgeld fließt dann dem Staat zu, während eine Vertragsstrafe an den Unterlassungsgläubiger zu leisten ist. 6. Weshalb keine strafbewehrte Unterlassungsverpflichtungserklärung? Jetzt muss nur noch die Frage beantwortet werden, weshalb man akzeptieren soll, dass die Wiederholungsgefahr auch entfällt, wenn eine notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärung abgegeben und dem Gläubiger zugestellt worden ist? Ergibt sich aus den gesetzlichen Regelungen eine Wahlmöglichkeit für Reaktionen auf das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigende Äußerungen, dann bedarf es – wegen der verfassungsrechtlich geschützten Handlungsfreiheit – einer überzeugenden Argumentation, weshalb eine oder einige der Möglichkeiten ausgeschlossen sein sollen. Schon für das Wettbewerbsrecht47 kann man bezweifeln, dass die Argumente zum Ausschluss der notariellen Unterlassungsverpflichtungserklärungen ausreichen. Sie tun dies für das Äußerungsrecht aber keinesfalls. Die Nachteile der Vertragsstrafebewehrung von Unterlassungsverpflichtungserklärungen liegen auf der Hand. Diskutiert wird eine Vielfalt von Varianten in der Formulierung, in der Festlegung der Höhe der Vertragsstrafe (Hamburger Brauch?)48, zur Frage des Fortsetzungszusammenhangs49 und zur Frage der Kerngleichheit von Verstößen50. §§ 339 ff. BGB rufen mit ihren vielfältigen Problemen und den oft sehr vertiefenden Kommentierungen hierzu auf. Muss das alles wirklich sein? Oder könnte man dies alles zum Teil vereinfachen, indem man notarielle Unterlassungsverpflichtungserklärungen im Äußerungsrecht anerkennt? Ich meine: eindeutig ja.

45 Sog. Kerntheorie, vgl. BGH GRUR 1952, 577 (580); MüKoZPO/Becker-Eberhard, 6. Aufl. 2020, § 253 Rn. 133; Staudinger/Hager, 2017, BGB, § 823 Rn. C 263a – keine Geltung bei Bildberichterstattung, vgl. MPFormB GewRS/Burkhardt, 5. Aufl. 2018, Form. H. 7, Anm. 5 f. 46 Burkhardt, in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 12 Rn. 31b. 47 Ich bitte um Nachsicht für diesen Querschlag. 48 MPFormB GewRS/Schabenberger/Sonntag, 5. Aufl. 2018, Form. A. 2, Anm. 6; MPFormB GewRS/Burkhardt, 5. Aufl. 2018, Form. H. 7, Anm. 3. 49 BGH NJW 1993, 721; BGH GRUR 2001, 758. 50 MPFormB GewRS/Schabenberger/Sonntag, 5. Aufl. 2018, Form. A. 2, Anm. 4.

Sportschiedsgerichtsbarkeit Von Wolf-Dietrich Walker*

I. Einordnung der Sportschiedsgerichtsbarkeit in die Gerichtsbarkeit im Sport Die Sportschiedsgerichtsbarkeit ist eine von drei Säulen der Gerichtsbarkeit im Sport: Zunächst gibt es in den meisten Sportarten die verbandsinternen Gerichte. Dazu gehören im nationalen Bereich zum Beispiel gem. §§ 38 ff. DFB-Satzung das Sportgericht und das Bundesgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Im internationalen Fußball gibt es die FIFA-Disziplinarkommission und die Berufungskommission. Für alle Sportarten soll es in Deutschland insgesamt um die 1.000 Sportgerichte geben, bei denen jährlich (mit steigender Tendenz) rund 400.000 Verfahren anhängig sein sollen.1 Dabei handelt es sich weder um staatliche Gerichte noch um echte Schiedsgerichte, sondern um Organe des Verbandes. Das Recht der Verbände zur Einrichtung solcher internen Verbandsgerichte beruht auf der verfassungsrechtlich geschützten Verbandsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG). Gegen verbandsgerichtliche Entscheidungen steht der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten zur Verfügung. Allerdings kann verbandsrechtlich festgelegt werden, dass vor der Anrufung staatlicher Gerichte der verbandsinterne Rechtsweg ausgeschöpft sein muss.2 Daneben gibt es die staatlichen Gerichte auf Grundlage der nationalen Verfassungen und des nationalen Gerichtsverfassungsrechts. Im Sport geht es meistens um zivil- oder strafrechtliche Streitigkeiten, über die grundsätzlich die ordentlichen Gerichte entscheiden. Die Klage vor staatlichen Gerichten ist allerdings nur zulässig, wenn sie nicht durch eine wirksame Schiedsvereinbarung ausgeschlossen ist (§ 1032 Abs. 1 ZPO). Die dritte Säule bildet die Sportschiedsgerichtsbarkeit. Sie stellt wie jede Schiedsgerichtsbarkeit einen gleichartigen Ersatz für die staatliche Gerichtsbarkeit in sportrechtlichen Streitigkeiten dar. Eine wirksame Schiedsvereinbarung führt dazu, dass * Für Johannes Hager in Erinnerung an einen gemeinsamen Vortragsauftritt bei einer Sportrechtstagung zum Kinder- und Jugendschutz im Sport. 1 SportR-PraxisHdB/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 3 Rn. 499. 2 SportR-PraxisHdB/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 3 Rn. 500; SportR in der Praxis/ Adolphsen, 2012, Rn. 1046 f.

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Klagen vor einem staatlichen Gericht unzulässig sind (§ 1032 Abs. 1 ZPO). Der Spruch eines Schiedsgerichts kann von staatlichen Gerichten für vollstreckbar erklärt werden (§ 1060 ZPO). Diese Vollstreckbarerklärung ist dann Vollstreckungstitel (§ 794 Nr. 4a ZPO).

II. Internationale und nationale Sportschiedsgerichtsbarkeit Sportschiedsgerichte gibt es sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene. 1. Internationale Ebene Auf internationaler Ebene gibt es den internationalen Sportgerichtshof „Court of Arbitration for Sport“ (CAS).3 Er ist zuständig für die Entscheidung von Streitigkeiten im internationalen Sport, zum Beispiel im Zusammenhang mit Olympischen Spielen, Welt- und Kontinentalmeisterschaften, und zwar in allen Sportarten. Der CAS wurde 1984 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) eingerichtet und hat seinen Sitz in Lausanne in der Schweiz. Er ist bei der Stiftung „International Council of Arbitration for Sport“ (ICAS) angesiedelt. Diese unterliegt dem Recht der Schweiz. Sie ist vom IOC unabhängig. Sie entscheidet über die Verwaltung, die Finanzen und die Auswahl der Schiedsrichter beim CAS. Dessen Entscheidungen können nur unter engen Voraussetzungen (bei Verfahrensfehlern wie Unzuständigkeit, falscher Besetzung des Schiedsgerichts oder Befangenheit von Schiedsrichtern sowie bei Verstößen gegen den Ordre public) mit der Beschwerde vor dem Schweizer Bundesgericht (Art. 191 Schweizer IPRG) angefochten werden (Art. 77 Abs. 1 Buchst. a BGG i. V. m. Art. 190 Schweizer IPRG). Soweit die Zuständigkeit des CAS gegeben ist, sind Klagen vor nationalen staatlichen Gerichten unzulässig (für Deutschland vgl. §§ 1025 Abs. 2, 1032 Abs. 1 ZPO). Die meisten Entscheidungen des CAS betreffen die Überprüfung von Dopingsanktionen, die von intentionalen Verbänden verhängt wurden.4 Aus jüngerer Zeit sei beispielhaft die Verhängung einer Dopingsperre gegen den vielfachen Weltmeister und Olympiasieger im Schwimmen Sun Yang aus China erwähnt.5 Dieser war im Juni 2018 zum wiederholten Mal positiv auf Doping getestet worden. Seine Dopingprobe wurde von Personen aus dem Umfeld von Sun Yang mit einem Hammer zer3 Dazu näher SportR-PraxisHdb/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 7 Rn. 259 ff.; SportR in der Praxis/Adolphsen, 2012, Rn. 1061 ff. 4 SportR in der Praxis/Adolphsen, 2012, Rn. 1061. 5 Siehe dazu etwa die Berichte in FAZ.net vom 23. 12. 2020, abrufbar unter: https://www. faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/wada-bundesgericht-hebt-cas-sperre-gegen-sun-yang-auf17117479.html und Süddeutsche Zeitung vom 27. 12. 2020, abrufbar unter: https://www.sued deutsche.de/sport/sun-yang-sperre-1.5158147, beide zuletzt abgerufen am 28. 12. 2020.

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stört und unbrauchbar gemacht. Er wurde vom internationalen Schwimmverband FINA freigesprochen. Der CAS hat ihn auf Berufung der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) im November 2019 zu einer Sperre von acht Jahren verurteilt. Diese Sperre hätte das Ende der Karriere des chinesischen Schwimmstars bedeutet. Allerdings hat das Schweizer Bundesgericht am 23. 12. 2020 die vom CAS verhängte Sperre aufgehoben. Das wurde mit der Befangenheit des Panel-Vorsitzenden beim CAS, des früheren italienischen Außenministers Franco Frattini, begründet. Dieser ist Tierschützer und hatte sich in Tweets kritisch dazu geäußert, dass in China Hundefleisch gegessen wird. Der CAS muss nunmehr mit einem anderen Panel-Vorsitzenden erneut über die Sperre gegen Sun Yang entscheiden. 2. Nationale Ebene Auf nationaler Ebene gibt es in Deutschland seit dem Jahr 2008 vor allem das Deutsche Sportschiedsgericht.6 Es ist bei der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS), einem eingetragenen Verein, angesiedelt. Es ist zuständig für alle Streitigkeiten mit Bezug zum Sport, über die aufgrund einer Schiedsvereinbarung durch ein Schiedsgericht entschieden werden soll. Dazu gehören Dopingstreitigkeiten, solche im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen, Sponsoring und Lizenzverträgen sowie Transfer- und Vereinsstreitigkeiten. Das Deutsche Sportschiedsgericht ist eine von den Sportverbänden unabhängige Institution. Rechtsgrundlage für seine Zuständigkeit und das Verfahren sind die §§ 1025 ff. ZPO über die Schiedsgerichtsbarkeit sowie die DIS-Sportschiedsgerichtsordnung in der Fassung vom 28. 03. 2018.7 Gegen Entscheidungen des Deutschen Sportschiedsgerichts kann Berufung beim CAS eingelegt werden. Daneben haben viele Sportverbände eigene Sportschiedsgerichte, die für Streitigkeiten im Sport in den jeweiligen Sportarten zuständig sind. So gibt es allein im Fußball mehrere ständige Schiedsgerichte zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen jeweils verschiedenen Beteiligten.8

6 Dazu näher Adolphsen, Deutsche Sportschiedsgerichtsbarkeit, Vortrag bei der DVSRJahrestagung 2017 in Kaiserslautern, unter III. (zur Veröffentlichung vorgesehen in einem noch nicht erschienenen Tagungsband); SportR-PraxisHdb/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 3 Rn. 510 ff. 7 Abrufbar unter: www.disarb.org/de/, zuletzt abgerufen am 5. 1. 2021. 8 Dazu Sengle, Verbandsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit im nationalen Fußball (DFB), in: FS Röhricht, 2005, S. 1205 (1216 ff.).

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III. Gründe für die Einrichtung einer Sportschiedsgerichtsbarkeit Der Sinn der Sportschiedsgerichtsbarkeit ergibt sich aus den allgemeinen Vorteilen von Schiedsgerichten.9 Vor allem die Schnelligkeit des Verfahrens und die besondere Sachkunde der Schiedsrichter spielen auch bei sportrechtlichen Streitigkeiten eine Rolle.10 So muss bei Streitigkeiten über Wettkampfsperren oder bei Nominierungsstreitigkeiten eine Entscheidung bis zum nächsten Wettkampf getroffen werden, wenn effektiver Rechtsschutz möglich sein soll. Das ist in einem Verfahren vor staatlichen Gerichten meist nicht zu leisten.11 Ferner setzt die Entscheidung zum Beispiel über Dopingstreitigkeiten ein besonderes Fachwissen der Richter voraus. Ein solches Fachwissen kann von dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Richter bei einem staatlichen Gericht oft nicht erwartet werden.12 Es gibt in der deutschen Justiz bei den ordentlichen Gerichten keine Spezialkammern oder -senate für Sportrecht. Ein weiterer Vorteil der Schiedsgerichtsbarkeit liegt darin, dass Sprüche von ausländischen Sportschiedsgerichten aufgrund des weltweit geltenden „New Yorker Übereinkommens“13 international anerkannt und vollstreckt werden können und alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ausländische (wirksame) Schiedsvereinbarungen anzuerkennen.14 Nur durch die weltweite Zuständigkeit eines internationalen Schiedsgerichts lassen sich Dopingvergehen auch weltweit einheitlich ahnden.15 Diese Einheitlichkeit wäre bei Zuständigkeit der jeweiligen staatlichen Gerichte mit ihren unterschiedlichen Verfahrensordnungen nicht möglich.

IV. Der Fall Claudia Pechstein gegen International Skating Union (ISU) Das gesamte System der Sportschiedsgerichtsbarkeit wurde im Rahmen einer Streitigkeit, die sowohl zum CAS und zum Schweizer Bundesgericht als auch zum Bundesgerichtshof (BGH) und anschließend zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ging, in Frage gestellt. Es geht um den Rechtsstreit zwischen der bekannten deutschen Eis9

Zu den Vorteilen von Schiedsgerichten im Allgemeinen siehe etwa MüKoZPO/Münch, 5. Aufl. 2017, Vor § 1025 Rn. 51 ff.; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, Vor § 1025 Rn. 1. 10 Zu den Vorteilen der Schiedsgerichtsbarkeit im Sport auch Summerer, SpuRt 2018, 197. 11 SportR-PraxisHdB/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 3 Rn. 507; SportR in der Praxis/ Adolphsen, 2012, Rn. 1032. 12 SportR in der Praxis/Adolphsen, 2012, Rn. 1032. 13 New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. 06. 1958. In Deutschland am 28. 09. 1961 in Kraft getreten. 14 BT-Drs. 18/4898; BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 59. 15 SportR-PraxisHdB/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 7 Rn. 254; SportR in der Praxis/ Adolphsen, 2012, Rn. 1035.

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schnellläuferin Claudia Pechstein und dem internationalen Dachverband International Skating Union (ISU). Er begann vor über zehn Jahren und ist immer noch nicht endgültig beigelegt. Die Sportlerin hat in ihrer Karriere an vier Olympischen Winterspielen teilgenommen und dabei allein fünf Goldmedaillen errungen. Zuletzt hat sie im Jahr 2020 als damals 48-Jährige (!) an der Weltmeisterschaft im Eisschnelllauf in Salt Lake City teilgenommen. Sie war im Jahr 2009 bei der Weltmeisterschaft in Norwegen aufgrund auffälliger Blutwerte positiv auf Doping getestet worden. Deshalb hat die ISU-Disziplinarkommission am 01. 07. 2009 eine zweijährige Wettkampfsperre gegen Pechstein verhängt. Diese konnte folglich nicht an den Olympischen Winterspielen in Vancouver im Jahr 2010 sowie an zahlreichen anderen nationalen und internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Dadurch sind ihr möglicherweise Einnahmen in Höhe von mehreren Millionen Euro entgangen. Pechstein legte gegen die Wettkampfsperre Berufung beim CAS ein.16 Sie hatte von Anfang an jedes Doping bestritten. In dem Verfahren vor dem CAS legte sie erst nach Ablauf einer von beiden Parteien akzeptierten Frist medizinische Gutachten vor, die bestätigten, dass ihre auffälligen Blutwerte auf eine genetische Anomalie zurückzuführen waren, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Die Blutwerte hatten also mit Doping nichts zu tun. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat sich deshalb offiziell bei der Athletin für den zu Unrecht ausgesprochenen Dopingverdacht entschuldigt. Der CAS ließ diese neuen Gutachten jedoch wegen der verspäteten Vorlage unberücksichtigt. Er lehnte am 25. 11. 2009 die von Pechstein beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens ab und bestätigte weitgehend die verhängte zweijährige Sperre. Dagegen legte Pechstein Beschwerde beim Schweizer Bundesgericht ein. Sie beantragte, den Spruch des CAS aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung vor dem CAS zurückzuverweisen. Die Beschwerde wurde jedoch abgewiesen.17 Pechstein habe keinen relevanten Verfahrensfehler gerügt und auch keinen Verstoß gegen den Ordre public dargelegt. Der CAS sei ein echtes Schiedsgericht mit unabhängigen Richtern und einem fairen Verfahren. Auch die von Pechstein eingelegte Revision beim Schweizer Bundesgericht blieb erfolglos.18 Die Revision nach Schweizer Recht, die der Wiederaufnahme nach §§ 578, 580 ZPO ähnlich ist, kann nämlich nur auf neue Tatsachen und neue Beweismittel gestützt werden, die im früheren Verfahren noch nicht vorgebracht werden konnten. Pechstein hatte für die von Anfang an behauptete Tatsache, dass ihre auffälligen Blutwerte auf einer genetischen Anomalie beruhten und nicht auf Doping zurückzuführen waren, zwar neue Gutachten als Beweismittel eingebracht. Sie konnte aber nicht darlegen, dass diese Beweismittel nicht rechtzeitig vor Ablauf der in dem CAS-Verfahren angeordneten und akzeptierten Frist vorgelegt werden konnten.

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Der gesamte Verfahrensablauf ist dargestellt im Sachverhalt von BGH, NJW 2016, 2266. SchwBG v. 10. 02. 2010 – 4A_612/2009. 18 SchwBG v. 28. 09. 2010 – 4A_144/2010. 17

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Danach klagte Pechstein beim Landgericht München I auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Millionenhöhe. In der ersten Instanz wurde ihre Klage abgewiesen.19 Die Entscheidung wurde damit begründet, das Landgericht sei an den Spruch des CAS gebunden, wonach die Wettkampfsperre von der ISU zu Recht verhängt worden sei. Das Oberlandesgericht München als Berufungsinstanz hat durch Zwischenurteil die Klage von Pechstein für zulässig erklärt. Die Schiedsvereinbarung zur Zuständigkeit des CAS stehe nicht entgegen, weil sie aus kartellrechtlichen Gründen (Missbrauch von Marktmacht) unwirksam sei.20 Deshalb verstoße der Spruch des CAS gegen den Ordre public. Er könne daher nicht anerkannt werden, und die staatlichen Gerichte seien an den Spruch des CAS nicht gebunden. Auf Revision der ISU hat dagegen der BGH mit Urteil vom 07. 06. 201621 die Klage vor den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt. Die Schiedsvereinbarung sei wirksam. Daher stehe der Zulässigkeit der Klage die Einrede der Schiedsgerichtsbarkeit (§ 1032 Abs. 1 i. V. m. § 1025 Abs. 2 ZPO) entgegen.22 Gegen diese Entscheidung des BGH legte Pechstein Verfassungsbeschwerde beim BVerfG und Beschwerde beim EGMR ein. Eine Kammer des EGMR wies die Beschwerde am 04. 10. 2018 zurück.23 Der EGMR hat die Schiedsabrede am Maßstab des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EGMR geprüft und für wirksam erklärt. Der CAS sei ein unabhängiges und unparteiisches Schiedsgericht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren. Die Sportverbände könnten von den Sportlern den Abschluss einer Schiedsvereinbarung mit dem CAS als Schiedsgericht verlangen. Das BVerfG hat zwar über die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BGH noch nicht entschieden. Es wird jedoch allgemein nicht damit gerechnet, dass es sich gegen die Entscheidung des EGMR stellen wird. Damit scheint das System der Sportschiedsgerichtsbarkeit mit dem CAS als weltweit zuständigem internationalem Schiedsgericht zunächst einmal gesichert zu sein.24 Trotzdem gibt es weiterhin kritische Stimmen sowohl in Deutschland25 als auch in anderen Nationen. So sei ein Urteil des Belgischen Appellationshofs Brüssel vom 29. 08. 201826 erwähnt. Das belgische Gericht hat im Rahmen eines TransferRechtsstreits die Schiedsklausel des Weltfußballverbands (FIFA) im internationalen Fußball als unwirksam angesehen, weil sie sich entgegen dem belgischen Recht nicht auf ein „bestimmtes Rechtsverhältnis“ beziehe, sondern nur eine allgemeine Anerkennung der Zuständigkeit des CAS für Streitigkeiten unter den Beteiligten zum In-

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LG München I, SchiedsVZ 2014, 100. OLG München, SchiedsVZ 2015, 40. 21 BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 22 ff. 22 BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 22 ff. 23 EGMR, SpuRt 2018, 253. 24 So auch Blandfort, SchiedsVZ 2019, 120 (125). 25 Z. B. Heermann, NJW 2019, 1560; ders., NJW 2016, 2224; Summerer, SpuRt 2018, 197. 26 Appellationshof Brüssel, SpuRt 2018, 263.

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halt habe. Die Bezugnahme auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis ist auch in § 1029 Abs. 1 ZPO vorgesehen.

V. Kritik an der Sportschiedsgerichtsbarkeit Die weiterhin bestehende Kritik an der Sportschiedsgerichtsbarkeit stützt sich vor allem auf folgende Gründe:27 1. Wirksame freiwillige oder erzwungene Schiedsvereinbarung Von einer verbreiteten Ansicht wird die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarungen im Sport in Frage gestellt.28 Die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts unter Ausschluss der staatlichen Gerichte und damit der Verzicht auf Justizgewährung durch staatliche Gerichte setze eine freiwillige Schiedsvereinbarung voraus.29 An dieser Freiwilligkeit bestehen trotz der erwähnten Entscheidungen des BGH und des EGMR Zweifel. Ein Athlet kann an einem internationalen oder nationalen Wettkampf nur teilnehmen, wenn er eine von dem internationalen oder nationalen Fachverband vorformulierte Wettkampfmeldung unterschreibt. Ohne diese Meldung wird er nicht zum Wettkampf zugelassen. Mit der Meldung verpflichtet sich der Athlet zur Einhaltung der Anti-Doping-Regelungen des Verbandes. Außerdem muss er eine Schiedsvereinbarung unterzeichnen, die für internationale Streitigkeiten den CAS unter Ausschluss des Rechtsweges zu den ordentlichen Gerichten als Schiedsgericht vorsieht. Der Athlet kann auch nicht auf andere Wettkampfveranstaltungen in seiner Sportart ausweichen; denn es gilt in allen Sportarten das sogenannte Ein-Platz-Prinzip.30 Danach gibt es jeweils nur einen nationalen und einen internationalen Verband, die Wettkämpfe in der jeweiligen Sportart auf nationaler oder internationaler Ebene veranstalten. Diese Verbände haben also eine Monopolstellung. Wenn ein Athlet in seiner Sportart seinen Beruf ausüben will, ist er somit gezwungen, unter anderem eine Schiedsvereinbarung zu unterzeichnen. a) Argumentation des BGH Der BGH hat die Wirksamkeit derartiger Schiedsvereinbarungen dennoch „gerettet“. Die Unterzeichnung der Schiedsvereinbarung sei zwar fremdbestimmt, aber 27

Siehe etwa Summerer, SpuRt 2018, 197. Heermann, NJW 2019, 1560 f.; Monhem, SpuRt 2014, 90 (91); Orth, SpuRt 2015, 230 (231); Summerer, SpuRt 2018, 197. 29 BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 52. 30 Dazu SportR-PraxisHdB/Pfister/Fritzweiler, 4. Aufl. 2020, Einl. Rn. 16 ff.; SportR in der Praxis/Rössner/Adolphsen, 2012, Rn. 8 ff., 45. 28

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eine solche Fremdbestimmung spreche nicht gegen Freiwilligkeit. Die Vereinbarung werde nicht durch physische oder psychische Gewalt erzwungen.31 Der BGH misst die fremdbestimmte Schiedsvereinbarung vielmehr am Kartellrecht (§ 19 GWB). Danach ist eine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen verboten. An der marktbeherrschenden Stellung der ISU und der anderen Sportverbände bestehen zwar aufgrund des EinPlatz-Prinzips keine Zweifel. Aber die ISU missbrauche ihre Marktmacht nicht, wenn sie von Pechstein und allen anderen Athleten die Unterzeichnung der Schiedsvereinbarung verlange.32 Das ergebe sich aus einer Abwägung zwischen dem Anspruch des Athleten auf Justizgewährung und seinem Recht auf Berufsausübung einerseits sowie der ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Verbandsautonomie der Sportverbände andererseits.33 Zur Verbandsautonomie gehöre, dass die Verbände grundsätzlich selbst darüber entscheiden können, wie sie ihre Sportart organisieren. Sie hätten auch ein berechtigtes Interesse daran, dass ihre Regelwerke nach einheitlichen Maßstäben angewendet und durchgesetzt werden. So sei zum Beispiel eine einheitliche Ahndung der Anti-Doping-Regelungen zur Sicherung eines fairen internationalen sportlichen Wettbewerbs zwingend erforderlich.34 Diesen Interessen der Verbände stünden keine überwiegenden Interessen der Athleten entgegen. Vielmehr würden die Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit nicht nur den Verbänden, sondern auch den Athleten Zugutekommen. Beide Seiten hätten insoweit gleichgerichtete Interessen (an dopingfreiem Sport) und stünden nicht in verschiedenen Lagern.35 Auch der Gesetzgeber sei bei der Schaffung des Anti-Doping-Gesetzes (AntiDopG)36 mit der Regelung einer Schiedsgerichtsbarkeit in § 11 dieses Gesetzes davon ausgegangen, dass eine vom Verband vorgegebene Schiedsvereinbarung nicht wegen Unfreiwilligkeit unwirksam sei.37 b) Kritik Über die Aussagen des BGH zur Freiwilligkeit lässt sich streiten. Die Unterzeichnung einer Schiedsvereinbarung durch den Athleten beruht zwar nicht auf physischem oder psychischem Zwang, wohl aber auf einem faktischen und rechtlichen Zwang. Wenn ein Athlet von dem Grundrecht auf Berufsausübung nur bei einem Verzicht auf Rechtsschutz durch staatliche Gerichte Gebrauch machen kann, fällt es schwer, das als freiwillig anzusehen.38 Fremdbestimmtheit und Freiwilligkeit stehen 31

BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 54 f. BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 61. 33 BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 57 ff. 34 BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 59. 35 BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 62. 36 In Kraft getreten am 18. 12. 2015, BGBl. I 2210. 37 BT-Drs. 18/4898, S. 38 unten. 38 SportR-PraxisHdB/Summerer, 4. Aufl. 2020, Kap. 3 Rn. 515; Steiner, SpuRt 2014, 2. 32

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im Widerspruch zueinander.39 Auch die Ansicht des BGH, Athleten und Verbände hätten gleichgerichtete Interessen und stünden im selben Lager, überzeugt nicht.40 Wenn ein Athlet sich gegen eine Verbandssperre wehrt oder eine Nominierung zu einem Wettkampf gegen die ablehnende Entscheidung des Verbandes durchsetzen will, stehen sich beide Parteien als Gegner mit entgegengesetzten Interessen gegenüber. Schließlich ist die Aussagekraft der Gesetzesbegründung zu § 11 AntiDopG gering.41 Erstens ist die Gesetzesbegründung nicht in den Gesetzestext eingeflossen. Zweitens ändert die Einschätzung des Gesetzgebers nichts daran, dass die Wirksamkeit aufgezwungener Schiedsvereinbarungen an dem Justizgewährungsanspruch aufgrund der nationalen Verfassungen und an dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der EMRK zu messen ist. c) Argumentation des EGMR Im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK geht auch der EGMR bei den Schiedsvereinbarungen der Athleten nicht von einer freiwilligen, sondern von einer erzwungenen Einwilligung aus.42 Trotzdem hat er keinen Verstoß gegen die EMRK festgestellt. Auch ein erzwungenes Schiedsgericht könne den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten dann ausschließen, wenn es wie diese die Garantien des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK erfülle.43 Danach hat jedermann ein „Recht auf ein faires Verfahren“. Das setzt eine Entscheidung durch ein unabhängiges und unparteiisches auf Gesetz beruhendes Gericht voraus. Der CAS ist nach Ansicht des EGMR ein solches unabhängiges und unparteiisches Gericht.44 Er wird also vom EGMR als ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EGMR angesehen.45 Die Entscheidung ist allerdings nicht einstimmig ergangen. Zwei Richter haben sich insoweit mit einem Sondervotum der Mehrheitsentscheidung entgegengestellt.46 2. Der CAS als unabhängiges und unparteiisches Schiedsgericht Damit ist der zweite Kritikpunkt an der Sportschiedsgerichtsbarkeit angesprochen. Dass ein erzwungenes Schiedsgericht unabhängig und unparteiisch sein muss, ergibt sich nicht nur aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, sondern auch aus den 39

So auch Heermann, NJW 2016, 2224 (2225); Summerer, SpuRt 2018, 197 (199). Zu Recht kritisch auch Heermann, NJW 2016, 2224 (2225). 41 Ebenso Heermann, NJW 2016, 2224 (2227). 42 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 114; zustimmend Blandfort, SchiedsVZ 2019, 120 (122) und Heermann, NJW 2019, 1560 f. 43 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 115. 44 EGMR, SpuRt 2018, 253 Leitsatz 1. 45 EGMR, SpuRt 2018, 253 Leitsatz 1. 46 Sondervotum der Richterin Keller (Schweiz) und des Richters Serghides (Zypern), SpuRt 2018, 253 (259). 40

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Justizgewährungsansprüchen der nationalen Verfassungen.47 Ob der CAS diese Voraussetzungen wirklich erfüllt und ein echtes Schiedsgericht48 und nicht nur ein Verbandsgericht ist, wird auch nach der Entscheidung des EGMR durchaus sehr unterschiedlich beurteilt. a) Prüfung der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit Maßstab für die Prüfung der Unabhängigkeit des Schiedsgerichts sind Regelungen zur Bestimmung der Mitglieder, zur Länge ihres Mandats, zum Vorhandensein von Schutzniveaus gegen Druck von außen sowie der allgemeine Eindruck, ob das Gericht insgesamt als unabhängig erscheint.49 Zur Unparteilichkeit gehört das Nichtvorhandensein von Voreingenommenheit und Befangenheit. Das wird sowohl in subjektiver Hinsicht (persönliche Überzeugungen und Verhaltensweisen der Richter) als auch in objektiver Hinsicht (Zusammensetzung des Gerichts) geprüft.50 Der EGMR verknüpft die Begriffe der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit miteinander und prüft beides zusammen.51 b) Anwendung auf den CAS Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des CAS wird von dessen Kritikern aus den folgenden Gründen in Frage gestellt: aa) Finanzierung des CAS durch die Verbände Der CAS sei nicht unabhängig, weil er durch das IOC und die Sportverbände finanziert werde.52 Allerdings ist fraglich, ob allein daraus eine Abhängigkeit des CAS von den Verbänden abgeleitet werden kann. Auch die staatlichen Gerichte, die aus dem Staatshaushalt finanziert werden, stehen nicht unter dem allgemeinen Verdacht einer einseitigen Entscheidungspraxis zugunsten des Staates.53 Die Finanzierung durch die Verbände ändert nichts daran, dass der CAS nicht in einen Verband oder einen Verein eingegliedert und auch nicht vom IOC abhängig ist.54 Nach Ansicht des EGMR folgt daraus nichts für die Annahme einer Abhängigkeit von Sportverbänden oder eine

47

Vgl. BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 24; NJW 2004, 2226 f.; NJW 1986, 3027 (3028). So ausdrücklich BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 23 ff. 49 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 140. 50 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 141 f. 51 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 144. 52 Summerer, SpuRt 2018, 197 (198). 53 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 151. 54 So auch BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 25. 48

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Parteinahme für diese.55 Die Richtigkeit dieser Annahme belegt auch ein Beispiel aus dem deutschen Arbeitsrecht. Bei Regelungsstreitigkeiten zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten entscheiden betriebliche Einigungsstellen (§ 76 BetrVG). Diese sind mit einer gleichen Anzahl von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sowie einem unparteiischen Vorsitzenden besetzt. Sie werden allein vom Arbeitgeber finanziert (§ 76a Abs. 1 BetrVG). Trotzdem unterstellt niemand diesen Einigungsstellen, dass sie überwiegend zugunsten des Arbeitgebers entscheiden. bb) Einfluss der Verbände bei der Zusammenstellung der Schiedsrichterliste und der Ernennung der Schiedsrichter Ein weiterer Kritikpunkt an der Unabhängigkeit des CAS beruht darauf, dass bei der Zusammenstellung der Schiedsrichterliste des CAS und bei der Auswahl der Schiedsrichter für das jeweilige Panel der Einfluss der Verbände größer ist als derjenige der Athleten.56 (1) Übergewicht der Verbände Das folgt aus der Verfahrensordnung des ICAS (CAS-Code). Danach wird die Schiedsrichterliste in der Weise zusammengestellt, dass drei Fünftel der Schiedsrichter von den internationalen Fachverbänden und den Nationalen Olympischen Komitees (NOKs) ausgewählt werden, ein Fünftel vom ICAS zwecks Wahrnehmung der Interessen der Athleten und ein weiteres Fünftel vom ICAS aus externen Kreisen, die von den genannten Organisationen unabhängig sind. Diese so gebildete Schiedsrichterliste besteht aus mindestens 150 Schiedsrichtern, gelegentlich bis über 300 Schiedsrichtern aus der ganzen Welt. Es handelt sich dabei um eine geschlossene Liste. Nur aus ihr können die Schiedsrichter für die einzelnen Verfahren entnommen werden (R 33, 35, 38 CAS-Code). Es gibt also für die Beteiligten nur eine beschränkte Wahlfreiheit.57 (2) Keine entscheidende Bedeutung für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Aus dem Übergewicht der Verbände bei der Erstellung der Schiedsrichterliste folgt jedoch nicht, dass deshalb das jeweils gebildete Schiedsgericht nicht unabhängig oder unparteiisch ist.58 An der für ein echtes Schiedsgericht erforderlichen hinreichenden Unabhängigkeit fehlt es nur dann, wenn die Mitglieder des Spruchkörpers alle oder überwiegend von einer Seite bestellt werden oder wenn die Streitparteien keinen paritätischen Einfluss auf die Besetzung des Spruchkörpers 55

EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 151. Summerer, SpuRt 2018, 197 (198). 57 Kritisch dazu etwa Summerer, SpuRt 2018, 197 (198). 58 So unmissverständlich auch EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 157. 56

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haben.59 Beim CAS kann jedoch der Athlet ebenso wie der Verband einen Schiedsrichter aus der Schiedsrichterliste benennen. Bei einer Schiedsrichterliste von 150 bis über 300 Schiedsrichtern gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass darunter nicht genügend vom Verband unabhängige Personen sind. Insoweit wirkt sich ein gewisses Übergewicht der Verbände bei der Zusammenstellung der Schiedsrichterliste auf die Unabhängigkeit des streitentscheidenden Panels nicht aus.60 Der Vorsitzende des Panels wird zwar vom Präsidenten der Berufungsabteilung des CAS bestimmt, bei dessen Wahl die Verbände ebenfalls einen größeren Einfluss haben als die Athleten. Aber das reicht nicht aus, um von einem mittelbaren Einfluss der Verbände auf eine einseitige Zusammensetzung des Schiedsgerichts ausgehen zu können. (3) Größere Akzeptanz des CAS bei offener Schiedsrichterliste Das ändert allerdings nichts daran, dass die Akzeptanz des CAS größer wäre, wenn es sich nicht um eine geschlossene, sondern um eine offene Schiedsrichterliste handeln würde.61 Eine solche Regelung gilt beim Deutschen Sportschiedsgericht. Es besteht kein Zwang, einen in dieser Liste geführten Schiedsrichter zu wählen. Deshalb gibt es hier keine Diskussionen über die Unabhängigkeit des Schiedsgerichts.62 Auch die Bestimmung des Vorsitzenden eines CAS-Panels könnte besser nach einem Geschäftsverteilungsplan oder in einem weniger angreifbaren Verfahren erfolgen. cc) Unparteilichkeit der einzelnen Schiedsrichter Die vorsitzenden Schiedsrichter des Panels, das in der konkreten Streitigkeit zu entscheiden hat, müssen wie die Richter des Spruchkörpers bei einem staatlichen Gericht unabhängig und unparteiisch sein. Das ist keine Besonderheit des CAS. Diese Richter können von jeder Seite wegen Befangenheit abgelehnt werden.63 Dafür müssen allerdings konkrete Tatsachen vorgetragen werden. Das wird zum Teil für den Athleten als unzumutbar und kaum erfüllbar angesehen.64 Diese Ansicht erscheint jedoch nicht zwingend. So kann die Befangenheit etwa mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, einseitigen medialen Äußerungen oder früheren Entscheidungen des Schiedsrichters begründet werden. Liegen keine konkreten Anhaltspunkte für eine Befangenheit vor, besteht auch kein Anlass für die Annahme einer Parteilichkeit.

59

BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 30; NJW 2004, 2226. A. A. OLG München, SchiedsVZ 2015, 40; Orth, SpuRt 2015, 230 (232); zweifelnd auch Heermann, SchiedsVZ 2015, 78 (79). 61 In diesem Sinne auch Heermann, NJW 2016, 2224 (2226). 62 Adolphsen, Deutsche Sportschiedsgerichtsbarkeit, Vortrag bei der DVSR-Jahrestagung 2017 in Kaiserslautern, unter IV. 3. 63 Darauf abstellend auch BGH, NJW 2016, 2266 Rn. 34. 64 Blandfort, SchiedsVZ 2019, 120 (125); Heermann, NJW 2019, 1560 (1562). 60

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In dem Verfahren Pechstein gegen ISU hat Pechstein zwar den Vorsitzenden ihres Schiedsgerichts abgelehnt, allerdings ohne konkrete Begründung.65 Deshalb blieb sie mit ihrem Befangenheitseinwand in allen Instanzen erfolglos. Dagegen hat der chinesische Schwimmer Sun Yang die Befangenheit des Panel-Vorsitzenden mit dessen Tweets zum Tierschutz begründet, die angeblich gegen das ganze chinesische Volk gerichtet seien. Das mag nicht jedermann überzeugen. Es wurde aber vom Schweizer Bundesgericht als konkret belegter Befangenheitsgrund anerkannt. dd) Ergebnis zur Einordnung des CAS als unabhängiges und unparteiisches Schiedsgericht Im Ergebnis hat der EGMR in seiner Entscheidung im Verfahren Pechstein gegen ISU die Stellung des CAS als unabhängiges und unparteiisches Schiedsgericht gestützt. Er hat klargestellt, dass die vom Verband erzwungene Schiedsvereinbarung mit der Zuständigkeit des CAS unter Ausschluss des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK vereinbar ist.66 3. Kritik am Verfahren vor dem CAS In verschiedenen Details gibt es auch Kritik am Verfahren vor dem CAS. Zwei Punkte sollen erwähnt werden: a) Nichtöffentlichkeit des Verfahrens Es wird beanstandet, dass das Verfahren vor dem CAS nicht öffentlich stattfindet.67 Das entspricht tatsächlich nicht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK an ein faires Verfahren. Deshalb hat der EGMR Pechstein einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 8.000 E zugesprochen.68 Die geringe Höhe ist wohl berechtigt, weil nicht dargelegt werden kann, dass die Entscheidung des CAS nach einer öffentlichen Verhandlung anders ausgegangen wäre.69 Im Übrigen hat dieser Mangel nicht zur Folge, dass der CAS als echtes Schiedsgericht im Sport insgesamt in Frage zu stellen wäre. Im deutschen Sport haben alle Beteiligten aus dem Verfahren Pechstein gegen ISU gelernt.70 Seit der Neufassung der DIS-Sportschiedsgerichtsordnung im 65

EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 150, 157. EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 159. 67 Summerer, SpuRt 2018, 197 (199). 68 EGMR, SpuRt 2018, 253 Rn. 183, 195. 69 Darauf hinweisend auch Blandfort, SchiedsVZ 2019, 120 (125). 70 Adolphsen, Deutsche Sportschiedsgerichtsbarkeit, Vortrag bei der DVSR-Jahrestagung 2017 in Kaiserslautern, unter unter IV. 6. 66

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Jahr 2016 sind die Verhandlungen vor dem Deutschen Sportschiedsgericht zwingend öffentlich, wenn der Sportler dies wünscht. Auch die Verfahrensregelungen des CAS wurden zum 1. 1. 2019 reformiert. Dort ist jetzt in Regel 57 vorgesehen, dass die mündliche Verhandlung zwar grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, aber nur, wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben. Außerdem soll auf Antrag einer am Verfahren beteiligten Person eine öffentliche Anhörung abgehalten werden, wenn die Angelegenheit disziplinarischer Natur ist. Diese beschränkte Öffnung für ein öffentliches Verfahren könnte durchaus noch großzügiger gestaltet werden. b) Keine Wiederaufnahme des Verfahrens Ferner wird bemängelt, dass es im Verfahren vor dem CAS keine Wiederaufnahme des Verfahrens bei neuer Beweislage gibt.71 Solange das CAS-Verfahren noch läuft, geht es um die nachträgliche Zulassung von verspätet vorgelegten entscheidungserheblichen Beweismitteln. Die Gerechtigkeit spricht für eine solche Lösung. Claudia Pechstein ist jedenfalls objektiv zu Unrecht gesperrt worden. Das hätte bei Berücksichtigung der verspätet vorgelegten medizinischen Gutachten durch eine rückwirkende Aufhebung der zweijährigen Sperre und der anderen gegen Pechstein verhängten Sanktionen verhindert werden können. Offen ist allerdings, ob und wie sich das auf die Begründetheit der Schadensersatz- und Schmerzensgeldklage gegen die ISU ausgewirkt hätte.

VI. Fazit 1. Ein weltweit organisierter Sport funktioniert nur, wenn seine Regeln auch weltweit beachtet, einheitlich durchgesetzt und Verstöße einheitlich geahndet werden. Deshalb besteht ein allgemeines Interesse an einer weltweit anerkannten Schiedsgerichtsbarkeit im Sport. 2. Im nationalen Sport gibt es ein entsprechendes allgemeines Interesse an einer nationalen Sportschiedsgerichtsbarkeit. 3. Der CAS wird sowohl vom deutschen BGH als auch vom Schweizer Bundesgericht und vom EGMR als echtes Schiedsgericht anerkannt. Seine Zuständigkeit in sportrechtlichen Streitigkeiten kann Inhalt einer wirksamen Schiedsvereinbarung sein, obwohl diese den Sportlern aufgezwungen wird. Dadurch wird der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten ausgeschlossen.

71

Summerer, SpuRt 2018, 197 (200).

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4. Die Regeln über den CAS und das Verfahren vor dem CAS sind aus rechtlichen Gründen und zur Erhöhung seiner Akzeptanz verbesserungsbedürftig. Die geschlossene Schiedsrichterliste sollte durch eine offene Liste ersetzt werden. Die Öffentlichkeit des Verfahrens sollte zwingend vorgeschrieben werden, sofern nicht beide Parteien darauf verzichten. Ferner sollte für den Fall einer neuen Beweislage eine Zulassung auch von nicht fristgerecht vorgelegten Beweismitteln und eine Wiederaufnahme des Verfahrens beim CAS erwogen werden. 5. In der DIS-Schiedsgerichtsordnung für das Deutsche Sportschiedsgericht in der Neufassung von 2016 sind die offene Schiedsrichterliste und die Öffentlichkeit des Verfahrens bereits berücksichtigt.

VII. Varia

Die Grundrechte in den Zeiten von Corona Von Reinhard Singer Für die Schüler von Claus-Wilhelm Canaris war die Beschäftigung mit Grundrechten „Pflicht“. Dementsprechend stößt man auch in den Arbeiten von Johannes Hager auf verfassungsrechtliche Diskurse, besonders eindrucksvoll in seiner Habilitationsschrift zum „Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb“, der eine eingehende verfassungsrechtliche Analyse der §§ 932 ff. BGB am Maßstab des Art. 14 GG vorausgeht.1 Insofern könnte es den Freund und Kollegen interessieren, wenn ich ihm einige Gedanken zu der bisweilen hitzig geführten Debatte um den Grundrechtsschutz bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie widme.

I. Maßnahmen der Corona-Bekämpfung im Spiegel der Kritik Die gegenwärtig nicht abebben wollende „zweite Welle“ der Pandemie zwingt die Bürger zu ähnlich harten Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheitsrechte wie nach ihrem ersten Ausbruch im Frühjahr 2020. Von Maskenpflicht, Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen über die Schließung von Gaststätten und Hotels bis hin zu Verboten von Gottesdiensten, Versammlungen und Reisen reicht das Arsenal der von den Landesregierungen verordneten Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der Pandemie. Während lange Zeit die Bandbreite der möglichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie noch nicht im Einzelnen spezifiziert wurde, hat der Gesetzgeber mit dem Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 einen – nicht abschließenden – Katalog von 17 Maßnahmen verabschiedet, die von den zuständigen Behörden und per Verordnung von den Landesregierungen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) ergriffen werden können.2 Auf Hygiene- und Querdenkerdemonstrationen wurden nicht nur Verschwörungstheorien3 verbreitet, sondern vor allem auch Klagen über die Einschränkung von Grundrechten geführt, die auch in seriösen Meinungsäußerungen von Vertretern der Wissenschaft, Politik und Presse zum Ausdruck gebracht wurden. Eine große Gruppe von Verfassungsrechtlern weist nachdrücklich darauf hin, dass es einen 1

1990, 9 ff. BGBl 2020, I, 2397; zu den Empfehlungen des Ausschusses für Gesundheit vgl. BTDrs. 19/24334, S. 10 ff. 3 Vgl. Rühle, SZ vom 5. 5. 2020, S. 9: „Die Corona des Irrsinns“. 2

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„Schutz des Lebens um jeden Preis“ nicht gebe.4 „Andernfalls müssten wir die Gesellschaft einstellen, denn in ihr sind zahlreiche Arrangements eingelassen, die Lebensquanten reduzieren“.5 Gewarnt wird vor übertriebenem „Pandemie-Absolutismus“6 und vor einer Vernachlässigung der Folgen, die ein harter Lockdown für die Gesellschaft hat, für das Gesundheitssystem, die Wirtschaft, für Bildung und häuslichen Frieden.7 Die Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit hat nach Auffassung des amtierenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble Grenzen: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.”8 Kritiker vermissen auch Maß und Mitte der getroffenen Maßnahmen. Das von Polizisten verfolgte Verbot, auf Parkbänken ein Buch zu lesen, die Ausreiseverfügung für die Schriftstellerin Monika Maron, die in ihrem Ferienhaus an einem Buch arbeitete, und das Betretungsverbot von Inseln in Mecklenburg-Vorpommern zu Ostern auch für Einheimische waren anfängliche Exzesse, hinter denen Oliver Lepsius eine regelrechte Lust der Exekutive an der Demonstration ihrer Macht vermutete.9 Wer die Bilder aus Wuhan, Bergamo oder Manaus vor Augen hat, fragt sich allerdings, ob die größere Sorge nicht den Personen gewidmet sein sollte, deren Leben und Gesundheit unmittelbar bedroht ist.10 Aus der Außenansicht eines Zivilrechtlers war es jedenfalls etwas überraschend, dass die Sorge im verfassungsrechtlichen Diskurs vorwiegend den beschränkten Grundrechten gegolten hat und weniger dem offensichtlich erforderlichen Schutz vor einer Ausbreitung der Infektion.11 Durchschlagende Gründe, die das Störgefühl entkräften, sind auch bei näherer Betrachtung nicht ersichtlich.

4 Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wissmann, JZ 2020, 861 ff.; s. ferner Volkmann, FAZ vom 1. 4. 2020; ders., VerfBlog 2020/3/20; Kingreen, VerfBlog 2020/3/20; ders., Jura 2020, 1019 (1027 f.); Katzenmeier, MedR 2020, 461 (463 f.). 5 So der Schweizer Moraltheologe Daniel Bogner, NZZ vom 29. 4. 2020. 6 Zielcke, SZ vom 17. 4. 2020. 7 Häberle/Kotzur, NJW 2021, 132 (134). 8 https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-willdem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html (Abruf 23. 1. 2021); aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum vgl. nur Kingreen, Jura 2020, 1019 (1027). 9 FAZ vom 25. 4. 2020: „Warum lauert die Polizei Spaziergängern auf“. 10 Schwedens Sonderweg gilt inzwischen als gescheitert, vgl. https://www.tagesspiegel.de/ politik/viele-infektionen-neues-pandemiegesetz-schwedens-scheitern-der-sonderweg-fuehrt-indie-sackgasse/26783128.html (Abruf 21. 1. 2021). 11 Mit Recht kritisch auch Hase, JZ 2020, 697 (700 ff.); Richter, DVBl. 2021, 16 ff.

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II. Rechtliche Rahmenbedingungen: Corona-VO, InfSchG, Grundrechte 1. Ermächtigung der Landesregierungen zum Erlass von Verordnungen Rechtsgrundlagen für die unter I. beschriebenen Maßnahmen sind in der Regel Rechtsverordnungen der Landesregierungen, die ihrerseits auf einer Ermächtigung durch § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes v. 20. 7. 200012 beruhen. Danach wurden die Landesregierungen ermächtigt, „unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen“. § 28 Abs. 1 InfSG a. F. gestattete den zuständigen Behörden, „die notwendigen Schutzmaßnahmen“ zu treffen, „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. a) Bestimmtheit der Ermächtigung? Im verfassungsrechtlichen Schrifttum wurde die mangelnde Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage kritisiert, da sie nicht den Anforderungen entspreche, die in Ausfüllung der Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung an die Bestimmtheit von Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen gestellt werden.13 Verlangt wird eine detaillierte Ermächtigung, die angibt, welche Maßnahmen unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Ausnahmen angeordnet werden dürfen.14 Das Parlament dürfe sich durch eine Blankoermächtigung an die Exekutive nicht selbst entmachten.15 Damit eng zusammen hängt das Erfordernis, dass die grundrechtsrelevanten wesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden sollen.16 Dennoch haben die Fachgerichte bisher die Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes ganz überwiegend akzeptiert.17 Dafür spricht, dass im Einzelnen kaum vorhersehbar ist, welche Schutzmaßnahmen beim Auftreten übertragbarer und bisher 12

Gesetz vom 20. 7. 2000 (BGBl. I, 1045). BVerfGE 58, 257 (277 f.); 78, 249 (272 ff.); 150, 1 (100 f.); BVerfG, NJW 1998, 669 (670). 14 Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 2020, 861 (867); Lepsius, FAZ 25. 4. 2020; Möllers, VerfBlog 2020/3/26; Volkmann, NJW 2020, 3153 (3157 ff.); Katzenmeier, MedR 2020, 461 (462); für eine – inzwischen erfolgte – Nachschärfung Brocker, NVwZ 2020, 1485 (1487). 15 Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 2020, 861 (867); Lepsius, Politik und Recht 2020, 258 (266 f.). 16 Zu diesem Zusammenhang vgl. BVerfGE 150, 1 (96, 99). 17 Vgl. insbesondere OVG Lüneburg, BeckRS 2020, 6303 Rn. 20; BeckRS 2020, 36298 Rn. 16 ff.; OVG Berlin/Brandenburg, BeckRS 2020, 29409, Rn. 19; OVG Hamburg, BeckRS 2020, 34449 Rn. 12 ff. – A. A. VerfGH Saarland, NVwZ 2020, 1513, das jedoch wegen der Schutzpflicht des Staates die Grundrechtseingriffe im Ergebnis tolerierte. 13

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unbekannter Krankheiten ergriffen werden müssen.18 Das Gesetzgebungsverfahren ist viel zu schwerfällig, um bei akut drohenden Gefahren die zum Schutz der Bürger erforderlichen Maßnahmen rechtzeitig zu treffen. Bei der Bekämpfung von neuartigen Pandemien wie COVID19 erweist sich deshalb das vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Erfordernis, dass vorhersehbar sein müsse, „in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht wird“,19 als nur bedingt taugliches, jedenfalls aber anpassungsbedürftiges Kriterium. Das Bundesverfassungsgericht erkennt im Übrigen an, dass sich die Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm einer generalisierenden Betrachtung entziehen und insbesondere „bei vielgestaltigen, komplexen Lebenssachverhalten … geringere Anforderungen an die Bestimmtheit“ gestellt werden können, um „sachgerechte Lösungen bei der Abgrenzung von Befugnissen des Gesetzgebers und der Exekutive“ zu ermöglichen.20 Die in den Polizeigesetzen der Länder enthaltenen Generalklauseln zeigen eindringlich, dass man im Bereich der Gefahrenabwehr nicht auf flexible und tatbestandsmäßig relativ offene Befugnisnormen verzichten kann. Zum Beispiel ermächtigt Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 des bayerischen Landesstraf- und Verordnungsgesetzes (LStVG) die Sicherheitsbehörden, „Gefahren abzuwehren oder Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder die Freiheit von Menschen oder Sachwerte, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, bedrohen oder verletzen.“ Würde man auf solche Generalklauseln verzichten, drohten Schutzlücken, die angesichts des Ranges der bedrohten Rechtsgüter nicht hingenommen werden dürften.21 Die polizeilichen Generalklauseln werden denn auch damit gerechtfertigt, dass sie den zuständigen Stellen ermöglichen sollen, „auf neuartige, unvorhergesehene Gefahren zu reagieren, bis der Gesetzgeber eine spezielle Regelung getroffen hat“.22 Offensichtlich vergleichbar ist die Lage, wenn unmittelbare Gefahren für Leib und Leben nicht nur durch Einzelmaßnahmen, sondern auch durch abstrakt generelle Regelungen wie die §§ 28, 32 InfSG (a. F.) bekämpft werden sollen. Selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, dass die reformierte Ermächtigungsnorm zu unbestimmt gewesen sei, würde dies nicht zwangsläufig zur Aufhebung der angegriffenen Maßnahmen führen. Da der Staat eine Schutzpflicht für die bedrohten Grundrechte hat, müsste ihm mindestens eine Übergangsfrist bis zur Verabschiedung eines rechtskonformen Gesetzes gewährt werden, um noch verfassungs18 Überzeugend OVG Berlin/Brandenburg, BeckRS 2020, 29409, Rn. 19; s. a. Lübbe-Wolff, Augsburger Allgemeine vom 20. 3. 2020. 19 BVerfGE 150, 1 (101 Rn. 202). 20 BVerfGE 150, 1 (99 und 102). 21 Ein Beispiel ist die Dauerüberwachung eines Sexualstraftäters, der wegen der vom EGMR (NJW 2010, 2495 (2499)) für konventionswidrig erachteten Bestimmungen über die Sicherheitsverwahrung freigelassen werden musste; die auf die polizeiliche Generalklausel gestützte Überwachung hat das BVerfG (Beschl. v. 08. 11. 2012 – 1 BvR 22/12, juris, Rn. 25) jedenfalls übergangsweise akzeptiert. 22 Erbguth/Mann/Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 433; Wehr, Jura 2019, 940 (945).

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fernere Zustände zu vermeiden.23 Auch das BVerfG hat bisher keinen Anlass gesehen, die von den Landesregierungen erlassenen Verordnungen wegen der unzureichenden Ermächtigungsnorm außer Kraft zu setzen, sondern im Rahmen der beim einstweiligen Rechtsschutz gebotenen Folgenabwägung dem Infektionsschutz grundsätzlich den Vorrang eingeräumt.24 b) Präzisierung der Ermächtigungsnorm und nachträgliche Parlamentsbeteiligung Die im verfassungsrechtlichen Schrifttum angestoßene Diskussion um die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm hat den Gesetzgeber zu einer Nachbesserung angeregt. Mit dem Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 202025 ist nun ein detaillierter Katalog von Maßnahmen aufgelistet und ihre Reichweite an bestimmte Inzidenzwerte gekoppelt, die in der bisherigen Praxis der Pandemiebekämpfung als Richtschnur für die Intensität der Eingriffsmaßnahmen gedient haben. Im Moment sind in allen Bundesländern die höchsten Inzidenzwerte von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner überschritten, so dass „umfassende Schutzmaßnahmen“ ergriffen werden dürfen, „die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“ (§ 28a Abs. 3 S. 6 InfSG n. F.).26 Mit diesem parlamentarischen Akt wurde zugleich die bisherige Praxis der Pandemiebekämpfung durch die Exekutive bestätigt und ihr somit eine demokratische Legitimation verliehen. Bei aller Aufregung um die angebliche Selbstentmachtung des Parlaments sollte die diesem Befund eindeutig widersprechende „Willenserklärung“ nicht unberücksichtigt bleiben, zumal dem Parlamentsvorbehalt auch in prozeduraler Hinsicht Rechnung getragen wird. Es war jedenfalls nachträglich die Beteiligung der parlamentarischen Opposition gewährleistet und ein Verfahren in Gang gesetzt worden, das den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an den Parlamentsvorbehalt Rechnung getragen hat. Es bot der „der Öffentlichkeit Gelegenheit …, ihre Auffassungen auszubilden und

23

Zutreffend VerfGH Saarland, NVwZ 2020, 1513. Vgl. BVerfG, NVwZ 2020, 1040 (1041, Rn. 15); BVerfG, Beschl. v. 15. 7. 2020 – 1 BvR 1630/20, juris (Rn. 18). 25 Empfehlung des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drs. 19/24334, S. 10 ff. 26 BT-Drs. 19/23944. – Für prinzipiell ausreichend halten dies die Sachverständigen Wollenschläger und Brenner, sehen aber auch „Optimierungspotential“, während Klafki und Möllers weiterhin grundsätzliche Bedenken äußern, vgl. https://www.bundestag.de/resource/ blob/805844/09aa6cdba9932ca18a4a560e817817b1/19_14_0246-20-ESV-Prof-Dr-FerdinandWollenschlaeger-3-BevSchG-data.pdf; https://www.bundestag.de/resource/blob/805842/ 730992d71899fd11e76ee168d0c7fd0f/19_14_0246-19-ESV-Dr-Michael-Brenner-3-Bev SchG-data.pdf. https://www.bundestag.de/resource/blob/805568/07051b199add717e04d7c ca843c3de48/19_14_0246-9-ESV-prof-Dr-Klafki-3-BevSchG-data.pdf; https://www.bun destag.de/resource/blob/805682/90775997933c613cc334fd5065cded6e/19_14_0246-15ESV-Prof-Dr-Moellers-3-BevSchG-data.pdf (Aufruf am 21. 1. 2020). 24

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zu vertreten“, und hielt die Volksvertretung dazu an, „Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.“27 Praktische Konkordanz zwischen dem Erfordernis flexibler Handlungsspielräume einerseits und parlamentarischer Beteiligung und Kontrolle andererseits könnte am ehesten hergestellt werden, wenn in Zukunft die erlassenen Rechtsverordnungen von den Länderparlamenten – gestützt auf Art. 80 Abs. 4 GG – bestätigt werden müssten. Dieses Vorgehen erlaubte den Landesregierungen weiterhin eine schnelle, flexible, auch regionalen Besonderheiten Rechnung tragende Reaktion auf das jeweilige Infektionsgeschehen und wahrte zugleich die Rechte des Parlaments. Entsprechende Parlamentsbeteiligungsgesetze sind in einer Reihe von Bundesländern in Vorbereitung; in Berlin ist ein solches Gesetz am 14. Januar 2021 beschlossen worden.28 Allerdings befreit das Vorgehen über Art. 80 Abs. 4 GG den Bundesgesetzgeber nicht von dem Erfordernis hinreichend bestimmter Ermächtigungsnormen, da es sich um eine bloß „derivative Kompetenz“ handelt.29 2. Materielle Legitimation der Grundrechtseingriffe a) Schutzpflicht des Staates und Verhältnismäßigkeitsprinzip Die bei der Bekämpfung der Pandemie getroffenen Maßnahmen beinhalten zum Teil schwerwiegende Grundrechtseingriffe. Diese sind nur gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig sind. Dazu müssen sie „der Verfolgung eines legitimen Zwecks dienen und zur Erreichung des konkreten Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.“30 Die Legitimität der verfolgten Ziele ist offensichtlich. Die Corona-Schutzmaßnahmen sollen Leben und Gesundheit der Bürger schützen sowie die Leistungsfähigkeit der Krankenversorgung sicherstellen. Nach dem Lagebericht des Robert-KochInstituts vom 12. Januar 2021 wird die Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung derzeit als „sehr hoch“ eingeschätzt.31 Allerdings wird die Erforderlichkeit der Schutzmaßnahmen nicht nur von Anhängern von Verschwörungstheorien in Frage 27

BVerfGE 150, 1 (96 f.). Vgl. das Berliner COVID-19-Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 14. 1. 2021 (Drs. 18/ 3276); der Landtag von Baden-Württemberg hat in seiner Plenarsitzung am 30. 9. 2020 beschlossen, dass er künftig von der Landesregierung beim Erlass von infektionsschützenden Maßnahmen beteiligt werden muss (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-bun destag-beschluesse-100.html; Aufruf 21. 1. 2021). Zu weiteren Initiativen in den Ländern vgl. den Sachstandsbericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, https://www.bundes tag.de/resource/blob/709096/1e5b2f9b25a2368f78b3415355ed0a59/WD-%203-147-20-pdf-da ta.pdf (zuletzt aufgerufen am 21. 1. 2021). 29 Brocker, NVwZ 2020, 1485 (1488). 30 BVerfGE 81, 156 (188 ff.); 91, 207 (222 ff.); BeckOK GG/Lang, Stand: 15. 11. 2020, GG Art. 2 Rn. 26. 31 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jan_ 2021/2021-01-12-de.pdf?__blob=publicationFile (Aufruf 21. 1. 2021). 28

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gestellt, sondern auch von seriösen Wissenschaftlern. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben bezweifelte gegen Ende des ersten Lockdowns im Mai 2020 die Wissenschaftlichkeit der verbreiteten Daten und setzte die 23.000 Toten, für die COVID-19 in Italien verantwortlich gemacht wurde, in Bezug zur Gesamtzahl der 647.000 Toten, die im vorangegangenen Jahr gestorben waren, davon 230.000 Toten infolge Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 180.000 durch Tumore und 53.000 infolge Atemwegserkrankungen. Angesichts dieser Zahlen stelle sich die Frage, „ob die Pandemie Maßnahmen zur Einschränkung unserer Freiheit rechtfertigen kann.“32 Indessen verpflichtet das Grundgesetz den Staat zum Schutz der Grundrechte (Art. 1 Abs. 1 GG) und folgerichtig auch zum Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG).33 Es wäre wenig überzeugend, wenn diese Verpflichtung entfiele, nur weil Menschen auch an anderen Krankheiten oder an Altersschwäche sterben. Aus dem – unvermeidlichen – Auftreten von Krankheiten und Todesfällen folgt nicht, dass die Bürger vor vermeidbaren Gefährdungen von Leib und Leben nicht geschützt werden sollen. Die Verpflichtung entfällt auch nicht, weil jedes Jahr Millionen Menschen durch Grippe sterben oder Tausende Opfer von Verkehrsunfällen werden. Gegen die Grippe kann man sich durch Impfung schützen, und auch das Risiko von Verkehrsunfällen mit tödlichem Ausgang lässt sich durch vorsichtiges Fahren, verkehrslenkende Maßnahmen und technische Verbesserungen des Fahrzeugs zumindest minimieren. In der Zeit von 1991 – 2019 ist aufgrund solcher Maßnahmen die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland von 11.300 auf 3.059 gesunken.34 b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Eines der zentralen Argumente vor allem gegen gravierende Grundrechtseingriffe ist die Erwägung, dass die Kur nicht verheerender sein dürfe als die Krankheit.35 In der Tat ist eine Abwägung zwischen dem gebotenen Schutz des Lebens und der Gesundheit und den schweren Folgen, die vor allem durch die Schließung von Geschäftsbetrieben und Bildungseinrichtungen verursacht werden, zu treffen. Keines der im Widerstreit stehenden Grundrechte genießt per se den Vorrang.36 Aber ganz ohne Aussagekraft ist die Verfassung nicht. Der Schutz des Lebens und der Gesundheit steht nicht an letzter Stelle, sondern unmittelbar nach der unantastbaren Menschenwürde in Art. 2 GG. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts stellt das menschliche Leben innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen 32

NZZ vom 5. 5. 2020. BVerfGE 39, 1 (42); 88, 203 (251 ff.); 115, 25 (44 f.); speziell zu Maßnahmen der Pandemiebekämpfung Beschl. v. 12. 11. 2020 – 1 BvR 2530/20, juris, Rn. 16: Ablehnung des von einem Kinobesitzer beantragten einstweiligen Rechtsschutzes. 34 Quelle: Statistisches Bundesamt. 35 Giorgio Agamben, NZZ vom 5. 5. 2020; Zielcke, SZ vom 17. 4. 2020, S. 13; Battis, Die Welt vom 29. 3. 2020. 36 Lepsius, FAZ vom 25. 4. 2020; Katzenmaier, MedR 2020, 461 (464); Kingreen, Jura 2020, 1019 (1027). 33

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„Höchstwert“ dar.37 Dafür spricht, dass vom Leben alle anderen Freiheitsrechte abgeleitet sind38 und der Verlust des Lebens – in gewissem Umfang auch der Gesundheit – irreversibel ist. Insofern spricht einiges dafür, dass eine unkontrollierte Entwicklung der Pandemie die Rechte und Interessen der Bürger stärker beeinträchtigt als die durch die Pandemiebekämpfung verursachten Freiheitsbeschränkungen, vor allem wenn der Staat eine Reihe von Maßnahmen ergreift, um die finanziellen Einbußen durch die Pandemie zu kompensieren. Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Gesetzgeber einen großen Spielraum ein, um die widerstreitenden Interessen in einen gerechten Ausgleich zu bringen, insbesondere wenn die Umstände nicht sicher beurteilt werden können.39 Die Aufgabe, praktische Konkordanz zwischen den widerstreitenden Grundrechtspositionen herzustellen, ist primär Aufgabe des Gesetzgebers.40 Da es sich bei den verschiedenen betroffenen Rechtsgütern um inkommensurable Größen handelt, sind die Konflikte in aller Regel nicht durch „Wiegen und Messen“ zu lösen, sondern können nur durch die Anwendung prozeduraler „Verfahren“ gelöst werden. Insofern gebührt dem Gesetzgeber die primäre Entscheidungskompetenz. Daraus folgt, dass die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Korrektur schwerer Abwägungsfehler und offensichtlicher Fehleinschätzungen beschränkt ist. Das ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere der Fall, wenn bestimmte Regelungen offensichtlich ungeeignet oder unzulänglich sind, um das Schutzziel zu erreichen.41 Zum Beispiel war die an Ostern 2020 verfügte Absperrung der Inseln und Strände für Bewohner von Mecklenburg-Vorpommern außerhalb ihres Wohnortes offensichtlich ungeeignet, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.42 Die Maßnahme hätte u. a. zur Folge gehabt, dass zwar auf dem Darss und den Inseln die Strände wie erwünscht leer geblieben wären, dafür aber in Warnemünde Gedränge geherrscht hätte. Offensichtlich unverhältnismäßig war auch der in einer Coronaregionalverordnung im Sommer 2020 über den ganzen Landkreis Gütersloh verhängte Lockdown, obwohl sich damals rasch zeigte, dass es nur einen lokal begrenzten Ausbruch von Neuinfektionen in einer Fleischfabrik gab und in den umliegenden Gemeinden die gleichen – als niedrig angesehenen – Infektionszahlen zu verzeichnen waren wie in anderen Landkreisen des betreffenden Bundeslandes, für die keine strengen Schutzmaßnahmen getroffen wurden.43 Absolute Besuchsverbote von Altenheimen oder Pflegeeinrichtungen sind trotz der größeren Gefährdung von älteren Menschen 37

BVerfGE 39, 1 (42). Richter, DVBl. 2021, 16 (17). 39 BVerfG, NVwZ 2020, 876 (878 Rn. 10). 40 Hoffmann-Riem, AöR 144 (2019), 467 (475). 41 BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1824 Rn. 7); früher schon BVerfGE 56, 54 (80); 77, 170 (215); 92, 26 (46); 125, 39 (78 f.); 142, 313 (337 f.); Dreier, Vor Art. 1 GG Rn. 149. 42 OVG Greifswald, Beschl. 09. 04. 2020 – 2 KM 268/20 OVG und Beschl. 09. 04. 2020 – 2 KM 281/20 OVG, juris; Pressemitteilung Nr. 4/2020. 43 OVG Münster, Beschl. v. 06. 07. 2020 – 13 B 940/20.NE, juris. 38

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bei einer Ansteckung mit dem Virus unverhältnismäßig, weil sich durch Schnelltests und Schutzkleidung inzwischen die Gefahren durch Besucher – vor allem aus dem Kreis der engsten Familie (Art. 6 GG) – auf ein vertretbares Maß reduzieren lassen.44 Bei besonders wichtigen Grundrechten wie der Religionsfreiheit und der Versammlungsfreiheit sind ausnahmslose Verbote vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden, weil Auflagen zum Schutz der Teilnehmer genügt hätten.45 Inzwischen ist allerdings eine Anti-Corona Demonstration von sog. „Querdenkern“ mit Recht untersagt worden, weil die Veranstaltung angesichts der erwarteten 20.000 Teilnehmer keine Gewähr für einen sicheren Verlauf geboten hatte.46 Der Rechtsstaat funktioniert, und die Demokratie ist nicht abgeschafft.47 Assoziationen zum Ausnahmestaat48 relativieren die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur, in der die Ermächtigung der Exekutive zum Staatsterror und Völkermord missbraucht wurden. Die Sorge, dass die Pandemiebekämpfung zum Schutze der Bevölkerung ähnliche Missbrauchsgefahren heraufbeschwören könnte, ist nur schwer zu begreifen.

III. Fragen der Gleichbehandlung Aus verschiedenen Perspektiven wurde die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Frage gestellt. Ausgehend von dem unterschiedlichen Betroffensein der Menschen je nach Alter und bestehenden Vorerkrankungen49 hielt es der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, für vertretbar, bei „Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen“ strengere Quarantänemaßnahmen auszusprechen als gegenüber den Jungen und Gesunden.50 Große Empörung löste auch seine Bemerkung aus, dass wir bei der Bekämpfung der Pandemie womöglich „Men-

44 Zutreffend Hufen, SZ v. 22. 11. 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-pflege heime-1.5123607 (zuletzt aufgerufen am 21. 1. 2021). 45 Zur Unverhältnismäßigkeit des ausnahmslosen Verbots von Gottesdiensten im Fall einer Moschee in Niedersachsen BVerfG, Beschl. v. 29. 4. 2020 – 1 BvQ 44/20, juris; zur Erlaubnis von Demonstrationen BVerfG, Beschl. v. 15. 4. 2020 – 1 BvR 828/20, juris; Beschl. v. 17. 4. 2020 – 1 BvQ 37/29, juris. 46 BVerfG, Beschl. v. 5. 12. 2020 – 1 BvQ 145/20, juris. 47 Fischer, NZZ vom 6. 4. 2020; Papier, DRiZ 2020, 180 (181). 48 Carl Schmitt, Politische Theologie, 1. Aufl. 1922, zit. nach der 10. Aufl. 2015, S. 13; vgl. Zielcke, Wer schützt im Notstand die Freiheit, SZ 7. 5. 2020 (allerdings vor blindlings gefällten Schlussfolgerungen warnend); Agamben NZZ vom 5. 5. 2020 („Der Notstand erlaubt alles, die Ethik hingegen dankt ab“); kritisch Fischer, NZZ vom 6. 4. 2020. 49 Laut RKI entfallen 96 % der Todesfälle auf Menschen über 60 Jahre; t-online Stand 24. 12. 2020 (https://www.t-online.de/gesundheit/krankheiten-symptome/id_89189776/coronavi rus-so-alt-waren-die- covid-19-toten-in-deutschland.html (Aufruf 21. 1. 2021). 50 Vgl. Janisch, SZ vom 14. 4. 2020 („Die Alten isoliert, die Jungen frei“).

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schen retten, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“.51 Auch Kanzleramtsminister Helge Braun erregte Verwunderung mit der zeitweiligen Suspendierung des Gleichheitssatzes bei der schrittweisen Lockerung des Lockdowns im Sommer 2020: Beim schrittweise Öffnen des Alltagslebens könne es „nicht immer eine absolute Gleichberechtigung der gesellschaftlichen Bereiche geben“, weil das Vorgehen der Regierung „eben schrittweise ist.“52 Nun besteht kein Zweifel, dass der Gleichheitssatz natürlich auch bei der schrittweisen Lockerung des Lockdowns gilt. Wenn Baumärkte geöffnet werden, aber Möbelhäuser nicht, muss dies sachlich begründbar sein. Und offensichtlich ist auch, dass jedes Menschenleben den gleichen Wert hat und folglich auch den gleichen Schutz verdient.53 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz keinen Zweifel daran gelassen: „Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz.“54 Auf einem anderen Blatt steht, ob Alte und Risikogruppen womöglich stärker geschützt werden müssen. Da damit zugleich eine stärkere Beschränkung ihrer Grundrechte verbunden ist, wurde darüber lebhaft gestritten. 1. „Die Alten isoliert, die Jungen frei“55 Auslöser war auch hier eine Äußerung von Boris Palmer, der sich für eine solche differenzierte Anwendung der Quarantäne-Maßnahmen ausgesprochen hat: „Ich halte es für vertretbar, bei Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen solche Quarantäne-Anordnungen auszusprechen“ … „Es wäre ein neuer Generationenvertrag, bei dem die Jüngeren arbeiten gehen, die Infektion auf sich nehmen, während die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten.”56 Unterstützung bekam der Vorschlag von Verfassungsrechtlern.57 Ihrer Ansicht nach handele es sich nicht um eine Altersdiskriminierung, wenn man der besonders bedrohten Gruppe stärkere Belastungen auferlege und z. B. Pflegeheime nicht öffne oder unterschiedliche Einkaufszeiten für Alte und Junge vorschreibe. Denn die Maßnahmen würden dazu beitragen, das die Pandemiebekämpfung rechtfertigende Ziel zu erreichen, nämlich eine Überlastung des Gesundheitssystems abzuwehren. 51 Interview im Sat.1-Frühstücksfernsehen: https://www.tagesspiegel.de/politik/boris-pal mer-provoziert-in-coronavirus-krise-wir-retten-moeglicherweise-menschen-die-in-einem-hal ben-jahr-sowieso-tot-waeren/25782926.htm (Aufruf 21. 1. 2021). 52 https://www.zeit.de/news/2020-05/03/kanzleramtschef-keine-absolute-gleichbehandlungin-krise (Aufruf 23. 1. 2021). 53 Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 (705 f.); Merkel, FAZ vom 4. 4. 2020. 54 BVerfGE 115, 118 (158). 55 Wolfgang Janisch, SZ vom 13. 4. 2020. 56 Interview in der Tageszeitung, zit. nach Janisch SZ 13. 4. 2020 und RDN 6. 4. 2020. 57 Gertrude Lübbe-Wolff, FAZ vom 24. 3. 2020; Klaus Ferdinand Gärditz, SZ vom 13. 4. 2020; zustimmend Zielcke, SZ vom 17. 4. 2020.

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Für eine Ungleichbehandlung sprechen auf den ersten Blick gute Gründe: Alte und Kranke sind größeren Gefahren ausgesetzt als Junge und Gesunde, da das Risiko schwerer und tödlicher Verläufe – wie die Statistiken zeigen – deutlich höher ist. Bei einer Häufung schwerer Krankheitsverläufe droht eher eine Überlastung des Gesundheitssystems. Dennoch erlauben nicht alle Maßnahmen eine Differenzierung zwischen Risiko- und Nichtrisikogruppen. a) Ausgangssperren nur für Risikogruppen? Ausgangssperren verfolgen den Zweck, die Betroffenen vor Ansteckung zu schützen und eine Verbreitung des Virus sowie eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. In Bezug auf die Selbstgefährdung ist ein Schutz des Menschen vor sich selbst nur gerechtfertigt, wenn die Gefahr besteht, dass sein Wille nicht das Ergebnis autonomer Selbstbestimmung ist oder Rechte anderer oder Gemeinschaftsgüter beeinträchtigt werden. Nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist eine Freiheitseinschränkung gegen den Willen des Betroffenen nur zulässig, wenn dessen Ernsthaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Freiheit von Fremdeinflüssen nicht gewährleistet ist.58 Diese Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit kann im Einzelfall durchaus gegeben sein, darf aber nicht allgemein vermutet werden. Auch der Schutz gegen die Verbreitung des Virus ist grundsätzlich berechtigt, rechtfertigt aber keine Sonderbehandlung der Risikogruppen. Denn die Verbreitungsgefahr ist bei Risiko- und Nichtrisikogruppen gleich groß. Solange keine Überlastung des Gesundheitssystems droht, wäre daher eine Ausgangssperre nur für Alte nicht gerechtfertigt. Die Behandlung von Angehörigen der Risikogruppen ist allerdings finanziell aufwendiger als die der Nichtrisikogruppen und könnte den Schutz der Alten auch gegen ihren Willen rechtfertigen. Die Belastung der Solidargemeinschaft bildet eine anerkannte Rechtfertigung des Schutzes vor sich selbst und wurde vom BVerfG59 herangezogen, um die Helmpflicht für Kraftradfahrer zu begründen. Indessen haben die bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Faktoren unterschiedliches Gewicht. Bei der Helm- und Anschnallpflicht ist die Freiheitseinschränkung relativ geringfügig, wohingegen die Kosten für die Versorgung Schwerstverletzter sehr hoch sein können. Die Isolierung von Risikogruppen ist demgegenüber ein schwerwiegender Eingriff, der bei einer Abwägung zwischen Freiheitseinschränkung und Behandlungskosten nicht zwangsläufig zugunsten der Solidargemeinschaft ausfallen muss. Auch sonst verlangt niemand eine schwerwiegende Einschränkung der persönlichen Handlungsfreiheit besonderer Risikogruppen, nur um die Kosten ihrer Heilbehandlung zu ersparen. Alkoholismus, Adipositas, Rauchen oder Unsportlichkeit schließen den Ersatz aufwendiger Heilbehandlungskosten grundsätzlich nicht aus. Eine Grenze dürfte folglich erst erreicht sein, wenn dem Gesundheitssystem insgesamt eine 58 59

BVerfG, NJW 2020, 905 (907 Rn. 209 ff.). BVerfGE 59, 275 (279).

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Überlastung droht, was zumindest kurzzeitig durchaus ein realistisches Szenario darstellte. Gegen eine Sonderquarantäne für Risikogruppen spricht schließlich, dass es an eindeutigen Abgrenzungskriterien fehlt und die Einhaltung der Verbote nur schwer zu kontrollieren ist. Zu Recht wurde darauf verwiesen, dass die Altersgruppe ab 65 „heterogen“ sei. „Es gibt 75-Jährige, die in drei Orchestern spielen oder noch Berufe ausüben. Sie können mindestens genauso gesund wie ein 63-Jähriger sein“.60 Schwierig, wenn nicht unmöglich dürfte es sein, die Gruppe mit Vorerkrankungen zu erfassen und die Einhaltung der Beschränkungen zu kontrollieren. Mit Recht hält es auch das BVerfG für zulässig, die Risikogruppen zu schützen und dabei zugleich die Jüngeren zu belasten.61 Eine nicht geregelte Immunisierung der unter 60 Jahre alten Menschen würde für die stärker gefährdeten Menschen ein deutlich höheres Infektionsrisiko begründen. Aus den gleichen Gründen sollte der Gesetzgeber davon absehen, getrennte Ausgangszeiten für Risiko- und Nichtrisikogruppen vorzusehen. b) Besuchseinschränkungen in Pflegeheimen und Krankenhäusern? Der Schutz der Alten und Pflegebedürftigen durch Besuchseinschränkungen ist demgegenüber grundsätzlich gerechtfertigt, weil nicht unterstellt werden kann, dass alle Insassen von ihrer Freiheit zur Selbstgefährdung Gebrauch machen wollen, die Gruppe der Geschützten homogen und das Infektionsrisiko hoch ist. Nahezu die Hälfte aller Todesfälle entfällt auf Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Sammelunterkünfte. Jedoch müssen die Beschränkungen verhältnismäßig sein, so dass absolute Besuchsverbote nach dem Abflachen der Infektionszahlen und dem Vorhandensein effektiver Schutzbekleidung nicht mehr gerechtfertigt erscheinen.62 2. Bevorzugung von Geimpften Seit die ersten Impfungen erfolgt sind, stellt sich die Frage, ob Geimpfte bevorzugt behandelt werden dürfen, z. B. Zugang zu Restaurants oder Hotels erhalten, der Nicht-Geimpften verwehrt bleibt.63 Sobald feststeht, dass von Geimpften keine oder vernachlässigbar geringe Ansteckungsgefahren ausgehen, wäre die Beschränkung ihrer Grundrechte durch staatliche Maßnahmen des Infektionsschutzes nicht mehr verhältnismäßig und daher auch nicht mehr gerechtfertigt. In ihrer Bevorzugung bestünde auch kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da es gerechtfer60

Christian Ströbele, zit. nach Janisch, SZ vom 13. 4. 2020 https://www.sueddeutsche.de/ politik/corona-massnahmen-die-alten-isoliert-die-jungen-frei-1.4875290 (Abruf 21. 1. 2021). 61 BVerfG, NVwZ 2020, 876 (877 Rn. 9). 62 Ebenso Glaab/Schwedler, NJW 2020, 1702 (1705); Justizministerin Lambrecht, Spiegel vom 2. 5. 2020, S. 36. 63 Illustrativ Janisch, SZ vom 23./24. 1. 2021, S. 2.

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tigt und geboten ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.64 Für Private besteht ohnehin Vertragsfreiheit. Sie dürfen also ihr Restaurant oder Hotel nur für Geimpfte öffnen. Die Ungleichbehandlung beruht in diesem Fall auch nicht auf Gründen, die nach § 1 AGG eine verbotene Benachteiligung darstellen. Bei Unternehmen, die eine monopolartige Stellung auf dem Markt haben oder Leistungen anbieten, deren Inanspruchnahme in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheide, besteht zwar eine Pflicht zur Gleichbehandlung, aber diese besteht eben gerade nicht, wenn sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung der Gäste rechtfertigen.65 Die Kriterien, die bei der Auswahl der Geimpften durch die staatlichen Behörden zur Anwendung kommen, sind in einer Impfverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 18. 12. 202066 festgelegt worden und unterscheiden zwischen Personen mit höchster, hoher und erhöhter Priorität. Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass es sich bei diesen Entscheidungen um wesentliche Fragen handelt, die für die Grundrechtsverwirklichung von ausschlaggebender Bedeutung sind, so dass es einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage bedarf. Die in § 20i Satz 2 Nr. 1a und Nr. 2, Satz 3, 7 und 8 SGB V enthaltene Ermächtigung dürfte diesen Anforderungen zwar nicht genügen, aber mit dem grundrechtlichen Teilhabeanspruch kann ein Antragsteller lediglich eine sachlich gerechtfertigte Gleichbehandlung erreichen.67 Diesen Anforderungen wird ein Behördenhandeln, das sich an die Kriterien der Impfschutzverordnung hält, gerecht. 3. Auswahlkriterien bei der „Triage“ Um eine Frage der Gleichbehandlung geht es auch, wenn Ärzte aufgrund einer Überlastung des Gesundheitswesens gezwungen sein sollten, eine Auswahl („Triage“)68 unter den Patienten zu treffen, die intensivmedizinisch mit Beatmungsgeräten versorgt werden. Es liegt nahe, eine gesetzliche Regelung zu verlangen, um Willkür bei der Auswahl der zu versorgenden Patienten auszuschließen. Der Eilantrag einer Gruppe von Antragstellern, die aufgrund von Vorerkrankungen zur sog. Risikogruppe gehörten, war nur deshalb erfolglos, weil das Bundesverfassungsgericht im Juli 2020 den Eintritt des befürchteten Szenarios als „derzeit unwahrscheinlich“ ansah.69 Eine solche Regelung, die etwa den Patienten mit den größeren Heilungs64 Thomas Fischer, Spiegel vom 1. 1. 2021 – https://www.spiegel.de/panorama/justiz/coro na-impfungen-es-geht-nicht-um-privilegien-a-ecd68437-5b88-4094-bdbc-be2f26e833d4 (Abruf 22. 1. 2021). 65 BVerfG, NJW 2018, 1667 (1669 Rn. 45). 66 http://www.gesetze-im-internet.de/coronaimpfv/CoronaImpfV.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 1. 2021). 67 VG Gelsenkirchen, BeckRS 2021, 58 Rn. 31 und 33. 68 Zum Begriff der „Triage“ und ihren verschiedenen Erscheinungsformen Rönnau/Wegner, JuS 2020, 403 (404); Jäger/Gründel, ZIS 2020, 151 ff. 69 BVerfG, NVwZ 2020, 1353 (1354).

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chancen Priorität einräumt, erscheint ethisch plausibel, ist jedoch sowohl bei der sog. Ex-ante-Konkurrenz, bei der mehr Patienten einen unbesetzten Beatmungsplatz benötigen als Plätze zur Verfügung stehen, als auch bei der Ex-post-Konkurrenz, bei der alle Plätze besetzt sind und die lebenserhaltende Behandlung eines Patienten beendet werden müsste, auf verfassungsrechtliche Bedenken gestoßen. Jedes menschliche Leben ist gleich viel Wert und darf nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Daher darf nach verbreiteter Ansicht das Leben des einen Patienten nicht für die Rettung eines anderen geopfert werden.70 Gestützt wird diese Ansicht durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz,71 das aus diesem Grunde die gesetzliche Erlaubnis zum Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs, um das gefährdete Leben einer vermutlich größeren Zahl von Menschen zu retten, für verfassungswidrig erklärt hat.72 Im Falle der Ex-post-Konkurrenz führen die gleichen Überlegungen zu dem Ergebnis, dass das Leben des bereits an dem Beatmungsgerät angeschlossenen Patienten nicht geopfert werden dürfe. Es sei niemandem erlaubt, einen Menschen zu töten, nur um einen anderen zu retten.73 Entsprechendes gelte, wenn einem Patienten die ärztliche Behandlung verweigert wird, um für andere, aussichtsreichere Patienten die Maschine zu reservieren. Diese „präventive“ Triage wäre als Tötung durch Unterlassen zu bestrafen.74 Indessen stellt sich bei allen Triage-Konstellationen die Frage, ob es nicht ein verfassungsfernerer Zustand ist, wenn am Ende Willkür darüber entscheidet, wessen Leben dem Tode preisgegeben wird. Die beschriebene Pflichtenkollision führt unausweichlich zu der Notwendigkeit, eine Entscheidung zwischen konkurrierenden Leben treffen zu müssen. Ist aber eine Abwägung unausweichlich, sollte sie – im Lichte des Rechts (Art. 3 GG) – nicht willkürlich, sondern rational erfolgen. Das strikte Abwägungsverbot vermag daher nicht zu überzeugen.75 Soll ernsthaft das Los76 über die Zuteilung von Behandlungschancen entscheiden? Für die Akzeptanz der ärztlichen Entscheidungen ist es von fundamentalter Bedeutung, dass diese unter fairen Bedingungen getroffen werden. Nicht ohne Grund werden auch von Gegnern einer wertenden Abwägung der Auswahlfreiheit Grenzen gezogen. Gänzlich unvertretbare Entscheidungen, die ärztliche Standards grob verfehlen,77 sollen nicht als 70

Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise Ethikrat, 2020, S. 3 f.; Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 (705); Sternberg-Lieben, MedR 2020, 627 (631); Jäger/Gründel, ZIS 2020, 151 ff. 71 BGBl. 2005, I, 78; dazu BT-Drs. 15/2361, S. 14. 72 BVerfG, NJW 2006, 751 (757 f. Rn. 118 ff.). 73 Sternberg-Lieben, MedR 2020, 627 (635); Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 (710 ff.). 74 Rönnau/Wegner, JuS 2020, 403 (405 f.). 75 Hoven, JZ 2020, 449 (450); Taupitz, MedR 2020, 440 (445); Gaede/Kubiciel/Saliger/ Tsambikakis, medstra 2020, 129 ff. 76 Dafür Sternberg-Lieben, MedR 2020, 627 (634). 77 Dafür Jäger/Gründel, ZIS 2020, 151 (161 f.).

Die Grundrechte in den Zeiten von Corona

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Rechtfertigungsgrund toleriert, Diskriminierung und Korruption78 unter Strafe gestellt werden. Wenn man dies aber akzeptiert, lässt sich die Maxime, dass die Entscheidung des Arztes nicht auf einer wertenden Abwägung von Menschenleben beruhen darf, nicht widerspruchsfrei durchhalten. Ob eine Diskriminierung wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) vorliegt, hängt davon ab, ob für die ungünstigere Behandlung sachliche Gründe – wie z. B. ihre Dringlichkeit oder größere Erfolgschance – sprechen. Und die evidente Verletzung ärztlicher Standards setzt voraus, dass ihnen – wenngleich beschränkte – juristische Relevanz zugesprochen wird. Die besseren Gründe sprechen daher dafür, bei der Auswahlentscheidung die Einhaltung ethischer Standards zu verlangen und die vorrangige Behandlung von Patienten davon abhängig zu machen, dass sie dringlicher ist und – falls gleiche Dringlichkeit besteht – die größeren Erfolgschancen hat. Da es wenig einleuchtet, bei der Ex-post-Konkurrenz und der präventiven Triage anders zu entscheiden, obwohl die Konfliktlage die gleiche ist,79 sollten auch dort die gleichen Auswahlkriterien zum Zuge kommen. Da es sich schließlich um wesentliche Fragen handelt, ist es Sache des Gesetzgebers, den Konflikt zu regeln und für Rechtsklarheit zu sorgen.

IV. Zusammenfassung 1. Die Einschränkung der Grundrechte durch Maßnahmen des Infektionsschutzes ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zulässig und zum Schutze von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens geboten. 2. Die Abwägung der im Widerstreit befindlichen Grundrechtspositionen ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, dem dabei ein weiter Spielraum zukommt. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist auf die Korrektur schwerer Abwägungsfehler und offensichtlicher Fehleinschätzungen beschränkt. Von vereinzelten Ausreißern abgesehen, trifft dies auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID19-Pandemie nicht zu. 3. Die Bekämpfung der Pandemie erfordert ein schnelles, flexibles und an die regionalen Verhältnisse angepasstes Reagieren der staatlichen Organe. Daher sind an die Bestimmtheit der Ermächtigungsnormen und den Umfang der Parlamentsbeteiligung geringere, situationsadäquate Anforderungen zu stellen, denen die §§ 28, 32 InfSG a. F. und §§ 28a, 32 InfSG nF ausreichend Rechnung tragen. 78

Dafür Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 (714). Die Strafbarkeit diskriminierender Auswahlentscheidungen hält Sternberg-Lieben, MedR 2020, 627 (634) für „Gesinnungsstrafrecht“. 79 Taupitz, MedR 2020, 440 (446 f.) unter Bezugnahme auf BGH, NJW 2010, 2963 (2966), wonach die Abgrenzung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten nicht allein in der äußeren Handlungsqualität als Tun oder Unterlassen gesehen werden könne.

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4. Die Spaltung der Gesellschaft durch Isolierung der Alten bei gleichzeitiger Liberalisierung für die Jungen ist gegenwärtig nicht mehr aktuell. Gegen die Bevorzugung von Personen mit größeren Infektionsrisiken bei der Impfung gibt es hingegen keine durchschlagenden Einwände, doch sollte der Gesetzgeber die maßgeblichen Kriterien festlegen, da es sich um eine wesentliche, grundrechtsrelevante Frage handelt. Entsprechendes sollte für die Auswahlkriterien im Falle einer unausweichlichen „Triage“ gelten. 5. Die massiven Grundrechtseinschränkungen verlangen von den Bürgern zweifellos große Opfer. Persönlich habe und hätte ich jedoch größere Befürchtungen bei einem Regime, das die gegenwärtigen Freiheitseinschränkungen für bedrohlicher hält als die Pandemie.

Zur möglichen Verpflichtung von medizinischem und in der Pflege tätigem Personal zu Impfungen Von Andreas Spickhoff

I. Problemstellung Die Option einer Impfpflicht für Pflege- oder medizinisches Personal ist in neuester Zeit unter dem Aspekt der COVID-19-Pandemie in die Diskussion eingebracht worden. Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass auch „normale“ Influenza-Erkrankungen bei Personen, die durch Vorerkrankungen geschwächt sind, erhebliche Zusatzgefährdungen auslösen können, insbesondere bei Schwerstkranken, die sich in stationärer Behandlung oder in Alten- oder Pflegeeinrichtungen befinden. Ebenso lange wird daher nicht nur über die Grundproblematik von Impfpflichten generell diskutiert, sondern ist die Impfpflicht auch in medizinisch-wissenschaftlichen Fachkreisen zunehmend Gegenstand der Debatte,1 nicht zuletzt aufgrund einer signifikanten Erhöhung der Sterblichkeitsrate von Schwer- oder Schwerst-Vorerkrankten, vermittelt von Personal, das im Gesundheitswesen tätig ist (Ärzte, Pflegekräfte und sonstiges Personal). Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage, ob und wie das entsprechende Personal angehalten werden kann, sich seinerseits nicht nur selbst vor Grippeinfektionen zu schützen, sondern auch das Risiko der Weiterübertragung der Influenza zu minimieren. Dabei wird insbesondere an eine durchgehende Impfung des betreffenden Personals gedacht. Daneben steht der Einsatz von verpflichtendem Mundschutz, und zwar nicht (nur) zum Zwecke des Selbstschutzes, sondern auch, ja sogar zuvörderst zum Zwecke des Schutzes Dritter (Patienten oder Pflegebedürftiger). Schon die Influenza-Durchimpfungsraten in Deutschland haben beim Personal dem Vernehmen nach nicht mehr ca. 15 % erreicht, in Kliniken mit besonders aktiver Arbeitsmedizin ca. 30 %. Anders als in den USA akzeptiert das Pflege- oder Klinikpersonal schon eine vorbeugende Grippeschutzimpfung, ja sogar teils bzw. subsidiär das Tragen von Gesichtsmasken bekanntlich keineswegs durchgehend, obwohl ein nachgewiesenes medizinisches Risiko von substantiellem Ausmaß zum Nachteil des Klinikpersonals nicht oder kaum festgestellt werden kann. Das gilt erst recht für den wenngleich praktisch belastenden Einsatz von Mundschutz. Es wurde daher erwogen, Per1 Siehe bereits z. B. Wicker/Marckmann/Poland/Rabenau, Inspection Control and Hospital Epidemiology 2010 (Oktober), Vol. 31 Nr. 10, 1066; Poland/Jacobson/Tilburt/Wicker, AoRM 2011; 2: (1); Wicker/Rabenau/Marckmann/Sträter/Pollandt/Gottschalk, DMW 2009, 1650.

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sonal, das sich weigert, an der Influenza-Schutzimpfung teilzunehmen (oder Mundschutz zu tragen), im Wege der Um- bzw. Versetzung in Bereichen einzusetzen, in denen eine Infektionsgefahr für die betroffenen vulnerablen Gruppen ausgeschlossen bzw. minimiert werden kann. Nicht nur die Wirkungen einer Impfung gegen COVID-19, die je nach eingesetztem Mittel uneinheitlich ist, sondern auch die Wirkungen von Influenza-Impfungen sind nicht restlos geklärt. Die Influenza-Impfung schützt je nach Auftreten der unterschiedlichen, schwer prognostizierbaren konkreten Erreger 20 % – 80 % der Geimpften vor einer Infektion und dementsprechend auch vor einer Weiterübertragung. In Bezug auf das Tragen von Schutzmasken wurde in der Vergangenheit offenbar vorrangig untersucht, wie dadurch deren Träger geschützt werden können, nicht aber, ob und inwieweit dadurch auch die Umwelt bzw. Patienten oder Pflegebedürftige, also dritte Personen geschützt werden. Schutzmasken bewirken bekanntlich nur einen relativen Selbstschutz ihrer Träger, der je nach Typ der Maske unterschiedlich ausgeprägt ist. Gründe für geringere Schutzeffekte bei den Trägern werden darin vermutet, dass Masken nicht korrekt getragen werden, ihrerseits eine unzureichende Eignung aufweisen oder dass die Infektion über andere Übertragungswege erfolgt ist (Infektion in einer Pause ohne Maske, über die Hände oder über die Bindehaut der Augen).2 Vor diesem Hintergrund erheben sich eine Reihe von Fragen: Kann medizinisches Personal zu Impfungen mittelbar oder unmittelbar verpflichtet werden? Besteht im Falle der Weigerung die Möglichkeit des verpflichtenden Tragens eines Mundschutzes? Besteht die Möglichkeit, die verpflichtende Influenzaschutzimpfung in den Arbeitsvertrag des Mitarbeiters aufzunehmen? Kann die verpflichtende Influenzaschutzimpfung in einer Betriebsvereinbarung festgeschrieben werden? Ist das Umsetzen des Mitarbeiters bei Verweigerung der Influenza-Schutzimpfung in weniger gefährdete Bereiche möglich? Diesen Fragen soll im folgenden Beitrag nachgegangen werden, der Johannes Hager in herzlicher Verbundenheit und mit allen guten Wünschen gewidmet ist.

II. Gesetzliche Impfpflicht – gesetzgeberischer Spielraum Lediglich für bestimmte Personengruppen ist eine auf Gesetz beruhende bzw. gesetzliche Vorgaben konkretisierende Impfpflicht in Deutschland nur ausnahmsweise möglich, § 20 Absätze 6 bis 8 IfSG.3 § 17 Abs. 4 Soldatengesetz, der einen Impfzwang für Soldaten vorsah, ist aufgehoben worden. Eine allgemeine Impfpflicht 2 Näher Booth/Clayton/Crook/Gawn, Journal of Hospital Infection 84 (2013), 22; BinReza/Lopez Chavarrias/Nicoll/Chamberland, Influenza and other Respiatory Viruses 2012; 6 (4), 257. 3 Zur Impfpflicht bei Masern Rixen, NJW 2020, 647; Henseler, MedR 2020, 1000; Aligbe, ARP 2020, 227; bereits zuvor Schaks/Krahnert, MedR 2015, 816; Amhaouach/Kießling, MedR 2019, 853; zum erfolglosen Versuch einstweiligen Rechtsschutzes gegen die MasernImpfpflicht BVerfG, NJW 2020, 1946.

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in Deutschland in Bezug auf Pocken, die 1874 durch das Reichsimpfgesetz für Kinder eingeführt worden war, ist wieder abgeschafft worden. Eine gesetzliche Impfpflicht in Bezug auf COVID-19 oder erst recht auf die Influenza besteht auch gegenüber einzelnen Berufsgruppen wie Angehörigen der Medizinalberufe oder Heilberufe nicht. Auch noch im Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite wurde von einer Impfpflicht, die das Bundesministerium für Gesundheit im Übrigen nach § 20 Abs. 6 IfSG für bedrohte Teile der Bevölkerung hätte vorsehen können, ausdrücklich abgesehen.4 Im Schrifttum wird dieser Zustand im Prinzip auch verfassungsrechtlich untermauert. Es ist unstreitig, dass Impfungen einen Eingriff in die körperliche Integrität begründen, also eine Körper- oder Gesundheitsverletzung nach sich ziehen und dann, wenn sie staatlich angeordnet werden würden, in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eingreifen, wonach jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat; in diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes, das seinerseits verfassungsmäßig sein muss, eingegriffen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat es immerhin verfassungsrechtlich akzeptiert, Soldaten z. B. in Bezug auf Tetanus im Rahmen von § 17 Abs. 4 SoldatenG a. F. eine weitergehende Impfpflicht aufzuerlegen als anderen Staatsbürgern.5 Sowohl im medizinisch-ethischen Schrifttum6 als auch im juristischen Fachschrifttum wird eine gesetzliche Impfpflicht nur als ultima ratio toleriert. Ein gesetzlicher Impfzwang lässt sich nur dann grundrechtlich legitimieren, wenn es um den Schutz des menschlichen Lebens und der Gesundheit anderer geht, also um außerordentlich hohe Rechtsgüter, zu deren Schutz eine grundrechtliche staatliche Schutzpflicht angenommen werden kann.7 Geht von einzelnen Verweigerungen jedenfalls im Normalfall so gut wie keine Gefahr für diese Güter aus, ist auch eine ernsthafte Gewissensentscheidung gegen eine Impfung zu akzeptieren. Allerdings wird auch vertreten, es ließen sich Fälle vorstellen, in denen die Weigerung eines Impflings sogar einen unmittelbaren Angriff auf fremdes Leben oder zumindest auf fremde Gesundheit begründen könne.8 In derartigen, freilich besonders seltenen und überaus sorgfältig zu begründenden Fällen könne die Gewissensentscheidung gegen die (Zwangs-)Impfung auch von Verfassungs wegen nicht mehr toleriert und daher überspielt werden. Insbesondere in Epidemiezeiten müsse der Staat indes das Recht haben, auch gegenüber der Gewissensentscheidung des Einzelnen seine Pflicht zur Sicherung der menschlichen Existenz zu erfüllen. Denn dann könne jeder Ein4

Sangs, NVwZ 2020, 1780 (1782). BVerwGE 33, 339 = NJW 1970, 532. 6 Etwa Marckmann, Bundesgesundheitsblatt 2008, 175 (181). 7 Dazu näher von Steinau/Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 111 ff. m. w. N. 8 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 105; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 11/1988, Art. 4 Rn. 157 m. w. N.; ebenso zu Art. 3 GG P. Kichhoff, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 8/2020, Art. 3 Rn. 253. 5

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zelne, der nicht geimpft ist und infolgedessen als potentieller Krankheitsverbreiter in Betracht kommt, eine akute Gefahr für alle anderen darstellen.9 Die verfassungsrechtliche Lösung hängt demgemäß von der konkreten Situation und insbesondere von der konkreten Gefährdung der im Spiel befindlichen Rechtsgüter, mit anderen Worten: im Ergebnis von einer Abwägung ab. Wenn die überwiegende Mehrheit des Volkes die Impfung verweigere, sei ohnedies davon auszugehen, dass einer raschen Ausbreitung von Epidemien nicht mehr effektiv entgegen gewirkt werden könne.10 Damit ist in gewissem Sinne die normative Kraft des Faktischen angesprochen. Übereinstimmend heißt es auch aus medizinischer Sicht, internationale Erfahrungen verdeutlichten, dass ein gesetzlicher Impfzwang nur dann zu den gewünschten Erfolgen führt, wenn die Bevölkerung mehrheitlich bereit ist, sich impfen zu lassen.11 Im Falle einer entsprechenden gesetzgeberischen Prognose, die naturwissenschaftlich fundiert wäre, wäre es nach alledem also in freilich überaus begrenzten Ausnahmesituationen denkbar, dass der Gesetzgeber zulässigerweise eine Impfpflicht (wieder) einführt. Im Falle entsprechender statischer Unterlegung wäre dies auch im Hinblick auf die Influenzaimpfung von Klinik- und Pflegepersonal nicht von vornherein auszuschließen12, erst recht nicht im Falle der COVID-19-Pandemie. Vorauszusetzen wäre freilich, dass die Impfung nicht nur das Personal vor der Erkrankung schützt – insoweit gilt zunächst einmal auch das „Recht auf Krankheit“13, – sondern vor allem auch davor, dass das Personal die Krankheit weiter überträgt.14 Stets ist streng die Verhältnismäßigkeit zu beachten.15

9

von Steinau/Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, S. 191 ff. 10 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 11/1988, Art. 4 Rn. 157. 11 Marckmann, Bundesgesundheitsblatt 2008, 175 unter Hinweis auf Salmon/Teret/Macintyre et al. (2006) Lancet 367: 436 – 442. 12 Vgl. Wicker/Rabenau/Marckmann/Sträter/Pollandt/Gottschalk, DMW 2009, 1650 (1651 f.): „Eine präventive, außerhalb von Krisen angeordnete Impfpflicht erfordert eine neue gesetzliche Grundlage“. Vgl. auch von Steinau/Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, S. 193 f. (Instrument der Impfpflicht nur als „ultima ratio“). 13 Vgl. BVerfGE 133, 112 (122). 14 Auch insoweit mit guten Gründen kritisch, zweifelnd und zurückhaltend Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, S. 83 ff.; zur Frage einer COVID-19-Impfpflicht gegenüber Beamten Bretschneider/Peter, NVwZ 2020, 1462 (1464 f.). 15 Mager, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 111; Morlok, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 155 unter Hinweis auf die Möglichkeit von Freistellungen.

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III. Autonom vereinbarte Regelung Nicht nur aus rein verfassungsrechtlicher Perspektive deutlich vorzugswürdig ist allerdings eine freiwillige Befolgung von Impfempfehlungen oder eine durch die Parteien autonom vereinbarte Regelung dieser Frage.16 Ein staatlicher Impfzwang wäre unter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit dann bereits nicht erforderlich und daher unzulässig, wenn die betroffenen Personen auf andere Weise die Gefahr, die von einer Influenza-Infektion auf vulnerable Personengruppen ausgeht, wirksam hintanhalten würden.

1. Grundrechtliche Schutzpflichten und die sog. Drittwirkung von Grundrechten Das lenkt den Blick auf die Statuierung und Begründung vertraglicher Impfpflichten. Auch hier ist allerdings zweierlei zu berücksichtigen: Eine wirksam vereinbarte bzw. bestehende vertragliche Impfpflicht hätte im Falle ihrer Nichtbefolgung durch den Arbeitnehmer oder Angestellten als Konsequenz eine entsprechende Pflichtverletzung zur Folge, die das arbeitsvertragliche Spektrum der entsprechenden Sanktionen bis hin zur Kündigung (als letzte Option) auslösen könnte.17 Das zeigt, dass eine vertraglich geforderte oder durch Betriebsvereinbarungen unterlegte Impfpflicht mittelbar erheblichen Druck auf die entsprechenden, dieser Pflicht unterworfenen Vertragspartner ausüben kann. Weigern sich die jeweiligen Arbeitnehmer, einen Dienst- bzw. Arbeitsvertrag mit entsprechender Impfpflicht abzuschließen oder im Rahmen eines solchen Vertrages zu arbeiten, bliebe nur der Nichtabschluss des Vertrages bzw. – in freilich erst letzter Konsequenz – die Kündigung eines bereits bestehenden Vertrages wegen Nichtbefolgung von Pflichten, etwa aus einer Betriebsvereinbarung.18 Eine solche vertragliche Vereinbarung von Impfpflichten – nicht zuletzt unter dem Aspekt der (wie auch immer gearteten, unmittelbaren oder mittelbaren) Drittwirkung von Grundrechten der Arbeitnehmer und Angestellten, insbesondere im Hinblick auf deren körperliche Integrität gegenüber verpflichtenden Impfungen – unterliegt deutlichen, auch verfassungsrechtlichen Grenzen unter dem Aspekt grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates. Diese wirken durchaus in das private Vertragsrecht hinein,19 auch wenn Privatpersonen im Anschluss an den Wortlaut von trotz Art. 1 Abs. 3 GG, wonach die Grundrechte eben nur die drei Staatsgewalten 16

Ebenso Marckmann, Bundesgesundheitsblatt 2008, 175. Siehe dazu (insbesondere zu Hepatitis) etwa Kamps, MedR 2005, 1 (11); Nölling, ArztR 2009, 200 (201); zur HIV-Infektion (insbesondere bei konkreter Gefährdung Dritter) Jacobs, MedR 2002, 140 (144 f.) 18 Auf die „relativ starke Stellung“ von Klinikleitungen bei der Einstellung weist deshalb mit Grund auch Jacobs, MedR 2002, 140 (144 f.) hin. 19 Dazu näher Höfling, Vertragsfreiheit, Eine grundrechtsdogmatische Studie, 1991, S. 48 ff.; Stern, Staatsrecht, Band III/1, 1988, S. 1572 ff. 17

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binden, traditionell nicht als der Grundrechtsbindung unterliegend angesehen werden.20 Jedenfalls die Normen des Privatrechts selbst sind als Gesetzgebungsakte unmittelbar an den Grundrechten zu messen. Das gilt ebenso für den Bereich der privaten Normsetzung, jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber solchen privaten Regelungen wie im Falle von Betriebsvereinbarungen normative Kraft beimisst.21 Auch insoweit fällt die Schonung von und die Rücksichtnahme auf die Grundrechtssubstanz gegenüber Bedrohungen durch Dritte in privatrechtlichen Beziehungen jedenfalls in die Schutzpflichtdimension der Grundrechte. Demgemäß ist das einfache Recht des Vertragsschlusses ohne Weiteres grundrechtsorientiert auszulegen.22 Insbesondere Generalklauseln wie §§ 138, 242 BGB (Verstoß gegen die guten Sitten sowie die Grundsätze von Treu und Glauben), aber auch die Nachfolgeregeln des § 242 BGB der aus den Grundsätzen von Treu und Glauben entwickelten Restriktionen im Hinblick auf die Verwendung Allgemeiner Geschäftsbedingungen wie die Generalklausel des § 307 BGB,23 können besonders offensichtlich als „Einfallstore“ für grundrechtliche Wertungen dienen. Das gilt es im Hinblick auf einen möglichen Spielraum für vertragliche Regelungen, die eine Impfpflicht begründen, zu berücksichtigen. 2. Mittelbare Anerkennung der Anordnung von Impfungen durch das Recht der Unfallversicherung? Die Rechtsprechung war bislang nicht unmittelbar mit der Frage nach der zivilrechtlichen Anerkennung einer vertraglich vereinbarten oder durch Betriebsvereinbarung angeordneten Impfpflicht befasst. Immerhin hat die sozialgerichtliche Rechtsprechung implizit anerkannt, dass es zumindest die Sozialversicherung auslösende Anordnungen des Arbeitgebers, Impfungen vorzunehmen, geben kann. Denn nur dann, wenn eine Impfung auf Anordnung des Arbeitgebers erfolgt ist, können entsprechende, aufgrund (angeordneter) Impfung erlittene Gesundheitsschäden der Arbeitnehmer als Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung bzw. als Arbeitsunfälle angesehen werden.24 Allerdings ist hervorzuheben, dass es in den von der Sozialgerichtsbarkeit entschiedenen Zusammenhängen nicht genuin um eine streitige Pflicht zur Impfung, 20 Stellvertretend Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 116: „Grundrechtsbindung Privater kein Thema des Art. 1 III“. 21 Siehe (auch) dazu – mit der Konsequenz der unmittelbaren Anwendbarkeit – J. Hager, Grundrechte im Privatrecht, 1996, S. 10 ff. und JZ 1994, 373 unter Hinweis auf das Sondervotum in BVerfGE 73, 261 (278); im Ergebnis ebenso Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 8/2020, Art. 1 Abs. 3 Rn. 100 m. N. 22 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 8/2020, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64. 23 MüKoBGB/Wurmnest, 8. Aufl. 2019, § 307 Rn. 55. 24 LSG Hessen, Urt. v. 01. 12. 2010 – L 9 U 47/07 – juris: Schutzimpfungen einer Krankenpflegerin gegen Hepatitis A und B); Bieresborn, in: Ratzel/Sissel, Handbuch des Medizinschadensrechts, 2013, § 20 Rdnrn. 308 (333 f.)

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gar gegen den Willen des Versicherten, und obendrein um den Schutz der Arbeitnehmer durch Impfung vor eigener Gesundheitsgefährdung, zu deren Vorbeugung die Impfung dienen soll, geht; im Allgemeinen handelt es sich um beschäftigungstypische Gefährdungen. In diesem Zusammenhang sind neben Tetanusschutzimpfungen und Hepatitisschutzimpfungen auch Grippeschutzimpfungen für Beschäftigte zu nennen, die der Gefahr, an Grippe zu erkranken, aufgrund des im Vergleich zu vielen anderen Arbeitsplätzen vermehrten Kontakts mit Mitarbeitern oder sonstigen Dritten in erhöhtem Maße ausgesetzt sind.25 Jedenfalls reicht es nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung nicht für die Anerkennung als (Unfall-)Versicherungsfall aus, dass die Impfmaßnahme vom Arbeitgeber nur empfohlen oder finanziert wird, wenn die Teilnahme an der Schutzimpfung dem freien Entschluss der einzelnen Betriebsangehörigen überlassen bleibt. Immerhin hat das Bundessozialgericht hervorgehoben, dass die Unfallversicherung einzutreten hat, wenn die Maßnahme wesentlich dem Unternehmen dient, was dann der Fall sein kann, wenn durch die Impfung im Betrieb der erheblich größere Ausfall an Arbeitszeit durch das Aufsuchen eines Hausarztes vermieden wird.26 Ein Recht des Arbeitgebers auf Anordnung einer Pflicht zur Impfung gegen den Willen der Versicherten lässt sich aus dieser Judikatur bzw. aus dem Sozialversicherungsrecht im Ergebnis indes nicht herleiten. 3. Organisations- und Verkehrssicherungspflichten des Betreibers von Kliniken und Pflegeeinrichtungen Während die sozialgerichtliche Rechtsprechung in der Sache den unfallversicherten Arbeitnehmer und namentlich dessen Interessen an (Unfall-)Versicherungsschutz ins Blickfeld zu nehmen und mit den Interessen der Gemeinschaft in Ausgleich zu bringen hat, greifen die von der straf- und haftungsrechtlichen Judikatur zu berücksichtigenden Interessen weiter. Neben den Interessen der Arbeitnehmer und Angestellten sind hier auch die Belange Dritter, namentlich der Patienten oder pflegebedürftiger bzw. betreuter Personen, in Rechnung zu stellen. Das hat zu einer ausgedehnten Judikatur im Hinblick auf Organisations- und Verkehrssicherungspflichten geführt.27 Diese Pflichten, die naturgemäß voraussetzen, dass ihre Erfüllung überhaupt rechtlich zulässig ist, sind nicht zuletzt auch im Bereich drohender Infektionsgefahren anerkannt. So ist die Möglichkeit einer Haftung des Krankenhausträgers bei Infizierung der Operationswunde durch einen Keimträger aus dem Kreis des Operati25 Siehe Krasney, in: FS Deutsch, 2009, S. 317 (320); Bieresborn, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des Medizinschadensrechts, § 20 Rn. 334. 26 BSG, Urt. v. 31. 01. 1974 – 2 RU 277/73 – juris). 27 Siehe dazu etwa Staudinger/Hager, BGB, 2009, § 823 Rn. I-37 ff.; Soergel/Spickhoff, BGB, 13. Aufl. 2005, § 823 Anhang I Rn. 162 (169 ff.); Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 350 ff. (379).

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onsteams unzweifelhaft. Zwar kommt – auch strafrechtlich28 – eine Belangung des Krankenhausträgers nur in Betracht, wenn die Keimübertragung durch die gebotene hygienische Vorsorge hätte verhindert werden können. Auch ist anerkannt, dass absolute Keimfreiheit von Ärzten und der weiteren Operationsbeteiligten nicht erreichbar ist, zumal die Wege, auf denen sich die ihnen unvermeidlich anhaftenden Keime verbreiten können, im Einzelnen kaum kontrollierbar sind. Keimübertragungen, die sich aus nicht beherrschbaren Gründen und trotz Einhaltung der gebotenen hygienischen Vorkehrungen ereignen, gehören daher zum entschädigungslos bleibenden Krankheitsrisiko des Patienten. Steht demgegenüber fest, dass die Infektion aus einem hygienisch beherrschbaren Bereich hervorgegangen ist, hat der Krankenhausträger für die Folgen der Infektion einzustehen. Das folgt haftungsrechtlich aus § 630h Abs. 1 BGB.29 Ebenso ist entschieden worden, dass die allgemeine und spezifische Hygiene zum pflegerischen Bereich gehört, für deren Einhaltung, Überwachung und Kontrolle der Krankenhausträger bzw. dessen pflegerische Leitung zuständig und für Fehler haftbar, ja ggf. sogar strafbar30 ist. Es müssen sich Risiken verwirklicht haben, die durch den Krankenhausbetrieb gesetzt werden und von dem Träger des Krankenhauses und dem dort tätigen Personal beherrscht werden können. Zur Haftung können insbesondere unzureichende hygienische Zustände führen.31 Aus diesen Grundüberlegungen folgt, dass ein Klinikträger ebenso wie der Betreiber von Einrichtungen, in denen sich entsprechend vulnerable Personenkreise befinden, in besonderer Weise für das Hintanhalten von Infektionen organisatorisch Sorge zu tragen hat. Das gilt namentlich dann, wenn es um gefährliche Infektionen geht, zu denen Grippe- und erst recht COVID-19-Infektionen von geschwächten Personen gehören können. Entspricht es dem einzuhaltenden fachmedizinischen Standard (im Sinne von § 630a Abs. 2 BGB), dass durch – rechtlich zulässige – Maßnahmen die Übertragung entsprechender Virenstämme durch das Klinikpersonal aufgrund einer Impfung und/oder auf andere Weise vermieden werden können, so trifft den Klinikträger die Organisations- bzw. Verkehrssicherungspflicht, sicherzustellen, dass dieser Standard vom Medizinpersonal auch eingehalten wird. 4. Vertragliche Vereinbarungen und Betriebsvereinbarungen Für die autonome Vereinbarung einer Pflicht zur Influenza-Schutzimpfung durch die Vertragsparteien kommen eine Individualvereinbarung, eine klauselmäßige Inte-

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Näher Gaede, in: Ulsenheimer/Gaede, Arztstrafrecht in der Praxis, 6. Aufl. 2021, Rn. 1767. 29 Spickhoff, in: Spickhoff, Medizinrecht, Kommentar, 3. Aufl. 2018, BGB § 630h Rn. 5; Jaeger, Patientenrechtegesetz, 2013, Rn. 352 ff.; bereits früher etwa BGH, NJW 1991, 1541. 30 Gaede, in: Ulsenheimer/Gaede, Arztstrafrecht, Rn. 1767. 31 OLG Zweibrücken, GesR 2004, 468 = NJW-RR 2004, 1607.

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gration einer Impfpflicht in das vertragliche Pflichtenprogramm sowie eine Betriebsvereinbarung in Betracht. Es wurde eingangs bereits hervorgehoben, dass hierbei zumindest die Wertungen der Grundrechte der Beteiligten zu beachten sind. Das gilt auch dann, wenn eine Betriebsvereinbarung zustande kommt. Diese ist zwar nach ganz herrschender Auffassung privatrechtlicher Natur.32 Betriebsvereinbarungen werden aber ebenso wie sonstige Verhältnisse des Privatrechts mittelbar durch die Ausstrahlungswirkung von Grundrechten beeinflusst.33 Das gilt unabhängig von der im Einzelnen zweifelhaften privatautonomen Legitimationsgrundlage von Betriebsvereinbarungen, deren Unsicherheit darauf beruht, dass es an einem besonderen und disponiblen Verbandsbeitritt im Sinne einer rechtsgeschäftlichen Unterwerfung an sich fehlt.34 Im Hinblick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten besteht also zwischen Betriebsvereinbarung und vertraglicher Regelung kaum ein prinzipieller Unterschied, wobei freilich die vertragliche Regelung immerhin auf individueller Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmer beruht. Allerdings sind Betriebs- und Dienstvereinbarungen nach § 310 Abs. 4 BGB von der Überprüfung wesentlicher Regeln zur Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen ausgenommen. Dem entspricht es, dass Betriebsvereinbarungen ebenso wenig einer auf das gleiche Ergebnis hinauslaufenden allgemeinen Billigkeitskontrolle nach § 242 BGB unterzogen werden können.35 Maßstab für die Beurteilung ist vielmehr § 75 BetrVG, wonach Arbeitgeber und Betriebsrat darüber zu wachen haben, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden; zudem ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Arbeitnehmer von Arbeitgeber und Betriebsrat zu schützen und zu fördern.36 Daraus folgt zumindest, dass Betriebsvereinbarungen – anders als vorformulierte Vertragsklauseln – nicht den strikten Regeln zur Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterliegen, sondern prinzipiell anhand flexiblerer Prüfungsmaßstäbe zu kontrollieren sind.37

32 Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 19. Aufl. 2020, Rn. 715; Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, S. 486 ff.; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, 1996, S. 140 f. 33 BVerfGE 73, 261; BAG AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14. 34 Siehe dazu Schmidt, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, Einleitung GG Rn. 57 m. w. N. 35 BAG AP BetrVG 1972 § 77 Betriebsvereinbarung Nr. 28; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, §§ 305 – 310 BGB Rn. 9. 36 BAG AP BetrVG 1972 § 77 Betriebsvereinbarung Nr. 28 (Rn. 27 f.). 37 Für die Zulässigkeit einer Impfpflicht in Betriebsvereinbarungen Schuster, AiB 2010, 23 (25), offensichtlich aber nur für Schutzimpfungen im Interesse der Arbeitnehmer selbst vor Infektion.

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5. Individualvertragliche Regeln und Weisungsrecht Letzteres gilt naturgemäß auch für individualvertragliche Vereinbarungen. Diese stoßen freilich auf das Problem, dass sie dann, wenn sie stets gleichlautend formuliert werden, zum einen doch wieder in den Anwendungsbereich der Regeln über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der §§ 305 ff. BGB fallen. Lediglich dann, wenn Klauseln mit ausfüllungsbedürftigen Leerräumen verwendet werden und eine Einfügung den Regelungsgehalt mitbestimmt, die auf dem freien Willen des Vertragspartners des Verwenders beruht, ist eine solche Klausel keine Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne der § 305 ff. BGB.38 An einer solchen Gestaltungsoption im Sinne einer freien Wahlmöglichkeit soll und wird es in den hier interessierenden Konstellationen indes gerade fehlen. Deswegen wird man typischerweise in den einschlägigen Verträgen in Bezug auf eine Influenza-Impfpflicht gegebenenfalls von Allgemeinen Geschäftsbedingungen auszugehen haben. Wenn dies – wohl eher untypisch – nicht der Fall ist, dürfte eine entsprechende vertragliche individuelle Vereinbarung indes rechtlich keinen Bedenken unterliegen. Ohne eine solche Vereinbarung ist der Arbeitgeber freilich nach bislang mehrheitlich vertretener Ansicht nicht berechtigt, die Arbeitnehmer im Rahmen des ihm zustehenden Direktions- bzw. Weisungsrechts schlicht anzuweisen, sich gegen eine drohende Infektion impfen zu lassen.39 Aufgrund der Tiefe des Eingriffs in die körperliche Integrität der Arbeitnehmer wird eine Impfpflicht auch unter dem Aspekt einer ungeschriebenen Nebenpflicht als Schutzpflicht zugunsten der Interessen des Vertragspartners des Arbeitgebers (Klinikträgers oder Heimbetreibers) abgelehnt, und zwar auch und gerade trotz der Rücksichtnahme- bzw. Verkehrssicherungs- und Organisationspflicht des Klinikträgers im Hinblick auf den Schutz seiner Patienten.40 Das Direktionsrecht des Arbeitgebers, das den Arbeitgeber nach § 106 GewO dazu berechtigt, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher zu bestimmen, besteht ohnedies nur, soweit die Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz festgelegt sind. Es dient im Übrigen zwar der Konkretisierung des vertraglich vereinbarten Tätigkeitsinhalts, beinhaltet aber nicht das Recht zu einer Änderung des Vertragsinhalts.41 Wegen der Gefahren einer Pandemie durch COVID-19-Infektionen wird – bislang freilich wohl nur vereinzelt – allerdings immerhin die Auffassung vertreten, 38 BGH, NJW 1998, 1066; ebenso BGH, JZ 2008, 685 m. Anm. Spickhoff zu Vertretervereinbarungen in Wahlarztverträgen; kritisch und insoweit für eine zumindest analoge Anwendung der Regeln über AGB dagegen Deutsch, in: Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1636; einschränkend gegenüber der Annahme von Individualvereinbarungen OLG Hamburg, Beschl. v. 27. 3. 2018 – 3 U 220/16, BeckRS 2018, 5935. 39 Klimpe-Auerbach, Der Personalrat 2009, 431 (433); Schuster, AiB 2010, 23; Nölling, ArztR 2009, 200 (201); Stück, CCZ 2020, 205 (209). 40 Nölling, ArztR 2009, 200 (201), der aber eine entsprechende Obliegenheit des Personals annimmt, deren Verletzung zur Möglichkeit der Kündigung (a. a. O. 204) führen kann. 41 BAGE 135, 239; BAG, NZA 2014, 264.

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es sei denkbar, der Arbeitgeber könne hier vom Arbeitnehmer aufgrund der Treuepflicht ausnahmsweise doch verlangen, dass dieser sich impfen lässt42. Eine entsprechende individuelle vertragliche Klausel, die vom Direktionsrecht deutlich zu unterscheiden ist, erscheint demgegenüber als zulässig. Sie wäre nicht etwa als sittenwidrig und daher als nichtig anzusehen (§§ 138 Abs. 1, 139 BGB). Zwar wird durch die Impfung in die körperliche Integrität des Geimpften eingegriffen. Doch beruht zum einen die vertragliche Verpflichtung hierzu auf der freien Entscheidung des Verpflichteten. Zum anderen ist hervorzuheben, dass die Vereinbarung einer vertraglichen Pflicht auf der einen Seite und eine Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität auf der anderen Seite deutlich zu trennen sind.43 Der Arbeitnehmer erteilt durch die Unterzeichnung der vertraglichen Impfpflicht-Vereinbarung nicht einmal ohne weiteres (ggf. inzident) die Einwilligung zu dem Eingriff, und zwar ganz einfach deshalb nicht, wenn und weil er im Zweifel nicht durch eine ausreichend qualifizierte Person (vgl. § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB) ausreichend aufgeklärt worden ist, was Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung wäre (§ 630d Abs. 2 BGB). Überdies sieht – im Gegensatz zu einer eher unglücklichen Entscheidung des BGH zur Schluckimpfung gegen Kinderlähmung44 (die zum Teil auf alle medizinischen Routinemaßnahmen erstreckt wurde) – das Patientenrechtegesetz in § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB eine entsprechende mündliche Aufklärung zwingend vor; auf (übliche und durchaus sinnvoll bereits bei Vertragsschluss zu übergebende) Aufklärungs- und Informationsformulare kann nur im Gespräch „Bezug genommen werden“.45 Selbst wenn aber eine zureichende Aufklärung erfolgt wäre, könnte der Arbeitnehmer eine Einwilligung ohne weiteres später widerrufen. Ein solcher Widerruf ist ohne weiteres rechtsverbindlich und zu beachten (vgl. auch § 630d Abs. 3 BGB); eine Zuwiderhandlung gegen diesen Widerruf der Einwilligung (also eine zwangsweise Impfung) würde die Maßnahme zur rechtswidrigen Körperverletzung werden lassen. Ungeachtet dessen wäre im Falle der vertraglich vereinbarten Impfpflicht der spätere Widerruf der Einwilligung als Vertragsverletzung anzusehen, wenn sich nicht die der vertraglichen Regelung zugrunde gelegten Umstände (z. B. die fachwissenschaftliche Risikobewertung) im Nachhinein grundlegend geändert haben.46 Trotz der dann drohenden vertragsrechtlichen Konsequenzen, die im Einzelfall bis hin 42

So Stück, CCZ 2020, 205 (209). Zutreffend auch Jacobs, MedR 2002, 140 (141). 44 BGH, NJW 2000, 1788; mit Grund kritisch dazu Deutsch, JZ 2000, 902. 45 S. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 483 f.; Spickhoff, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 630e BGB Rn. 3. Ein der aktuellen Gesetzesfassung vorausgehender anders lautender Referentenentwurf ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens kritisiert (dazu Spickhoff, ZRP 2012, 65 (68)) und insoweit korrigiert worden. 46 Ebenso (zu HIV-infiziertem Klinikpersonal) Jacobs, MedR 2002, 140 (145), „wenn durch die Tätigkeit […] Dritte gefährdet werden können“; noch weitergehend Kamps, MedR 2005, 1 (11). 43

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zur Kündigung reichen könnten, ist eine Sittenwidrigkeit deshalb abzulehnen, wenn und soweit die Vereinbarung der Impfpflicht und der Eingriff in die körperliche Integrität des Geimpften im Vergleich und im Verhältnis zu dem Risiko einer Infektion der betreffenden vulnerablen Personengruppen (alte oder schwer kranke Patienten, Personen bzw. Pflegefälle) als geeignet, erforderlich und bei Abwägung der betroffenen Rechte und Rechtsgüter auch angemessen, mit anderen Worten also als verhältnismäßig im weiteren Sinne erscheinen. Das gilt natürlich ausschließlich für diejenigen Personengruppen, die mit den entsprechend vulnerablen Infektionsgefährdeten in Berührung kommen, von denen also eine Gefahr durch Übertragung ausgeht, und das gilt nur dann und insoweit, als die Impfung nicht nur vor dem Ausbruch der Krankheit, sondern vor allem auch vor dem Risiko der Weiterübertragung schützt. Bei alledem darf es kein weniger eingreifendes, aber praktisch ebenso geeignetes Mittel des Infektionsschutzes geben, zumal dann, wenn es vom Arbeitnehmer vorgezogen wird. Das ist insbesondere im Hinblick auf die denkbare Alternative eines geeigneten und effektiven Mund- und Atemschutzes zu prüfen. Denn letzterer greift zwar in die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers ein, nicht aber unmittelbar in die körperliche Integrität. Vorausgesetzt wäre indes ein ebenso hoher Schutzeffekt entsprechender Masken für Dritte wie Impfungen. 6. Vertragliche Regelung durch Allgemeine Geschäftsbedingung Abgesehen davon, ob überhaupt eine Allgemeine Geschäftsbedingung vorliegt, stellt sich die Frage, ob die darauf bezogenen Regeln der §§ 305 ff. BGB inhaltlich gegen eine klauselmäßige Vereinbarung einer Impfpflicht in Bezug auf den betroffenen Personenkreis sprechen. In der Literatur wird dies vertreten,47 indes nur bezogen auf Impfungen zum Schutz der Arbeitnehmer. Abgesehen von § 305 Abs. 2 BGB gelten die Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB im Grundsatz auch für Arbeitsverträge. Nach § 305c BGB werden überraschende Klauseln, also solche, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrages, so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Vertragsbestandteil. Da und solange die Vereinbarung einer Impfpflicht nicht als selbstverständlicher Bestandteil entsprechender Arbeitsverträge angesehen werden kann und obendrein zu einer durchaus belastenden Pflicht führt, Eingriffe in die körperliche Integrität zuzulassen,48 ist erforderlich, die entsprechende 47 Nölling, ArztR 2009, 200 (201): „Eine solche Verpflichtung [Impfpflicht] wäre als explizite, im Arbeitsvertrag schriftlich niedergelegte Pflicht unstatthaft. Arbeitsvertraglich ist eine Klausel, in der der Arzt zur Vornahme einer Hepatitis-Impfung verpflichtet wird, unwirksam, § 307 Abs. 1 und 2 BGB“. Wie hier auch Thysing/Bleckmann/Rombey, COVuR 2021, 66 ff. 48 Je belastender die Klausel ist, umso eher ist das Überraschungsmoment zu bejahen; BAG, NZA 2008, 170; BAG, NZA 2009, 1337; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, BGB §§ 305 – 310 Rn. 29.

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Impfpflicht in hervorgehobener Weise im Vertrag deutlich zu machen (z. B. durch Fettdruck). Anderenfalls dürften sie aufgrund eines Überraschungselementes auf durchgreifende Wirksamkeitsbedenken stoßen. In inhaltlicher Hinsicht ist zunächst zu beachten, dass nach § 309 Nr. 7a BGB kein Ausschluss der Haftung des Arbeitgebers wegen der Impfung möglich ist, wenn es zu Personenschäden kommt, die auf einer fahrlässigen Pflichtverletzung des Verwenders oder seiner Erfüllungsgehilfen beruhen. Abgesehen davon bestehen unter dem Aspekt der besonderen Klauselverbote, die in §§ 308, 309 BGB statuiert sind, keine erkennbaren Bedenken gegen die Vereinbarung von Impfpflichten in Arbeitsverträgen. Es bleibt zu prüfen, ob eine entsprechende Klausel gemessen an den Maßstäben der allgemeinen Inhaltskontrolle (§ 307 BGB) zu beanstanden wäre. Danach sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Das ist insbesondere der Fall, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist, oder wenn wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so eingeschränkt werden, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Eine Einschränkung wesentlicher Rechte oder Pflichten, welche die Erreichung des Vertragszwecks des Arbeitsvertrages gefährden würde, ist durch die Vereinbarung einer Impfpflicht nicht ersichtlich; vielmehr wird die Durchführung des Vertragszwecks in Erbringung der Verkehrssicherungsund Organisationspflicht des Arbeitgebers gerade erst ermöglicht. Allerdings mutet eine entsprechende Klausel den Arbeitnehmern durch die Impfung einen Eingriff in ihre körperliche Integrität zu. Das weicht naturgemäß von der gesetzlichen Regelung ab, wonach ein Eingriff in die körperliche Integrität prinzipiell zu unterlassen ist (arg. e § 823 Abs. 1 BGB, § 223 StGB, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Indes wurde bereits dargelegt, dass der Widerruf der Einwilligung bzw. die Nichterteilung der Einwilligung in die Impfung ohne Weiteres möglich bleibt. Freilich führt dies zu einer Drucksituation (oder kann zumindest zu einer solchen führen), weil daraus arbeitsrechtliche Sanktionen hergeleitet werden können. Indes ist ebenso wenig wie die Sittenwidrigkeit auch ein unangemessener Verstoß gegen die Gebote von Treu und Glauben durch die AGB-mäßigen Vereinbarung einer Grippe-Impfpflicht anzunehmen. Der Arbeitgeber kommt hierdurch lediglich seiner Verkehrssicherungspflicht nach. Hinzu kommt, dass zumindest typischerweise das Risiko der Virusübertragung durch Arbeitnehmer auf vulnerable Personenkreise (insbesondere Patienten) deutlich größer ist als das offensichtlich zu vernachlässigende oder zumindest geringe Risiko von Gesundheitsverletzungen infolge der Influenza-Infektion. Auch unter dem Aspekt der Drittwirkung von Grundrechten bzw. der Schutzpflichten, die auch im Privatrecht aus grundrechtlichen Wertungen folgen, kann eine Unwirksamkeit entsprechender Klauseln nicht angenommen werden. Im Gegenteil sprechen die zu schützenden Grundrechte der vulnerablen Perso-

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nen, die durch die Impfpflicht geschützt werden sollen, geradezu für die Vereinbarung einer entsprechenden Impfpflicht. Demgemäß wird dann, wenn es durch Arbeitnehmer als Träger von Viren zu einer substanziellen Gefährdung Dritter kommen kann, sogar eine Beendigungskündigung für möglich gehalten.49 Diese Wertung kommt ebenso in der Annahme von Organisations- und Verkehrssicherungspflichten von Betreibern entsprechender Einrichtungen (Kliniken und Pflegeheimen) zur weitestmöglichen Vermeidung der Übertragung von Viren auf den betreffenden vulnerablen Personenkreis zum Ausdruck. Die scheinbar gegenteilige Ansicht50 beruht auf der Prämisse, dass eine Impfpflicht nur bzw. zuvörderst den Schutz der Arbeitnehmer verfolgt, während es im hier interessierenden Kontext in erster Linie um den Schutz vulnerabler Dritter (schwerkranke Patienten bzw. Pflegebedürftige) geht. All dies steht naturgemäß unter dem Vorbehalt, dass geimpftes Personal als „Transporteur“ der jeweiligen Viren überhaupt oder zumindest im Wesentlichen ausscheidet. Dann aber bestehen weder individualvertraglich noch in Gestalt von wiederverwendeten Klauseln durchgreifende Bedenken gegen die vertragliche Vereinbarung einer Impfpflicht. Dieses Ergebnis steht unter der weiteren Prämisse, dass keine von den Arbeitnehmern präferierte, gleichermaßen wirksame alternative Schutzmaßnahme vor der Übertragung von Krankheitserregern auf Dritte (etwa durch Schutzmasken) ersichtlich ist. 7. Betriebsvereinbarungen Betriebsvereinbarungen, die der Schriftform bedürfen (§ 77 Abs. 2 BetrVG) und die bekannt zu machen sind, können einen relativ weitreichenden Gegenstand aufweisen. Auch wenn anerkannt ist, dass sich eine Betriebsvereinbarung ihrem Inhalt nach in ihrer persönlichen Geltung auf einzelne Arbeitnehmergruppen beschränken kann,51 ist die Konkretisierung des Gegenstandes von Betriebsvereinbarungen nicht ganz unzweifelhaft. a) Der zulässige Regelungsgegenstand von Betriebsvereinbarungen und die Zuständigkeit des Betriebsrates Nach vielfach vertretener Ansicht kann eine Betriebsvereinbarung grundsätzlich nur über Fragen geschlossen werden, die nach dem Gesetz der Zuständigkeit des Betriebsrates unterliegen.52 Dabei hat das BAG den Betriebsparteien eine relativ umfassende Regelungskompetenz zugesprochen, die ebenso weit geht wie die der Tarifpar49

So Jakobs, MedR 2002, 140 (145) in Bezug auf die seinerzeitige Gefahr einer HIVInfektion als ultima ratio, wenn keine alternativen sicheren Schutzmaßnahmen oder eine Weiterbeschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz möglich sind. 50 Nölling, ArztR 2009, 200 (201) (zu Hepatitis-Impfungen). 51 Wollenschläger, Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. 503. 52 Richardi, in: Richardi, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 77 Rn. 73.

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teien.53 Bei alledem sind mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten und Angelegenheiten im mitbestimmungsfreien Raum zu unterscheiden. Anerkannt ist, dass Betriebsvereinbarungen auch Regelungen über den Arbeitsschutz beinhalten können.54 Das entspricht der Regel des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, wonach der Betriebsrat über Regelungen mitzubestimmen hat, die auf die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie auf den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften gerichtet sind. Nach dem Regelungszweck sind damit indes allein Arbeitsschutzmaßnahmen Regelungsgegenstand,55 nicht aber Maßnahmen zum Schutz Dritter. Das gilt wohl ebenso für die Möglichkeit des Abschlusses freiwilliger Betriebsvereinbarungen im Sinne von § 88 Nr. 1 BetrVG über zusätzliche Maßnahmen zur Verhütung von Gesundheitsschädigungen.56 Darüber hinaus hat der Betriebsrat auch in Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer mitzubestimmen (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG). Davon wird zwar eine Regelung über die Notwendigkeit eines Arztbesuchs oder zur Dienstkleidung während der Dienstzeit noch erfasst.57 Indes soll § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG schon nicht mehr greifen, wenn für die Erbringung der Arbeitsleistung eine bestimmte Dienstbekleidung ohnedies notwendig ist, etwa zur Wahrung der Hygiene in einem Krankenhaus.58 Der Grund dafür ist darin zu erblicken, dass für eine Betriebsvereinbarung kein Raum besteht, wenn der Arbeitgeber ohnedies über keinen verhandelbaren Spielraum für eine Betriebsvereinbarung verfügt.59 Rechtsprechung zu der entsprechenden Problematik einer Impfpflicht fehlt dagegen bislang. Immerhin hat das BAG60 eine Betriebsvereinbarung thematisiert, welche unter anderem die Durchführung von ärztlichen Untersuchungen einschließlich notwendiger Schutzimpfungen vorsah. Es ging um Monteure im Bereich der Kälte- und Einrichtungstechnik, die bei ihren Kunden im Ausland eingesetzt wurden. Das Arbeitsgericht hatte festgestellt, dass dem Betriebsrat hinsichtlich des Entwurfs einer Betriebsvereinbarung über Regelungen für Auslandsmontagen ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG zusteht, unter anderem soweit es um die Durchführung von ärztlichen Untersuchungen einschließlich notwendiger Schutzimpfungen geht. Das (zweitinstanzlich eingeschaltete) Landesarbeitsgericht entschied in dieser Beziehung nicht, weil das anzuwendende BetrVG seinen Geltungsbereich auf das Inland 53 BAG AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 94; Kania, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 77 BetrVG Rn. 36. 54 Siehe etwa Kohte, in: Münchener Handbuch Arbeitsrecht, Band 2, 4. Aufl. 2018, § 174 Rn. 65. 55 Richardi, in: Richardi, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 87 Rn. 573. 56 Kohte, in: Münchener Handbuch Arbeitsrecht, Band 2, 4. Aufl. 2018, § 174 Rn. 65. 57 BAG AP BetrVG 1972 § 87 Ordnung des Betriebs Nr. 27. 58 Kaiser, in: FS Kreutz, 2010, S. 183 (186 ff.) m. w. N. 59 Kaiser, in: FS Kreutz, 2010, S. 183 (186). 60 BAGE 37, 102.

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beschränke und daher nicht auf Auslandseinsätze anwendbar sei. Das BAG entschied in der betreffenden Entscheidung in der Sache selbst gleichfalls nicht, sondern hielt die Klage bereits wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses für unzulässig. Dabei ist erneut hervorzuheben, dass es in der hier in Rede stehenden Konstellation um den Schutz der ins Ausland gesandten Arbeitnehmer durch Impfung ging; aus dem Bereich von Flugzeugpersonal ist bekannt, dass notwendige Impfungen in den Bereich der vergüteten Arbeitszeit fallen.61 Insgesamt wird man in Bezug auf eine Impfpflicht von einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit (namentlich im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nur ausgehen können, wenn damit zumindest auch der Gesundheitsschutz der anderen Arbeitnehmer bezweckt würde. An dieser Intention bzw. dieser Schutzrichtung fehlt es indes, wenn mit der Maßnahme der Schutz vulnerabler Personengruppen (Patienten, Pflegebedürftige) verfolgt werden soll. Abgesehen davon ist es aber prinzipiell nicht ausgeschlossen, freiwillige Betriebsvereinbarungen im Sinne von § 88 BetrVG zu schließen. Aus dem Wortlaut des § 88 BetrVG („insbesondere“) folgt nämlich, dass die dort aufgeführten möglichen Regelungsgegenstände nur beispielhaft genannt sind.62 Vielfach sind deshalb prinzipiell alle Arbeitsbedingungen in einem weit verstandenen Sinne als Gegenstände einer Betriebsvereinbarung denkbar.63 b) Die Grenze höherrangigen Rechts und die Verhältnismäßigkeit Doch selbst dann ist immer noch die Frage, ob ein Impfzwang in einer Betriebsvereinbarung geregelt werden kann. Denn auch Betriebsvereinbarungen haben rechtliche Grenzen.64 Sie finden sich insbesondere in höherrangigem Recht. Dazu gehören insbesondere der Persönlichkeitsschutz (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) und der Schutz der körperlichen Integrität (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie die eingangs erwähnten grundrechtlichen Einflussnahmen auf die Privatautonomie. So ist die außerbetriebliche Lebensgestaltung von Arbeitnehmern (Freizeit, gesunde Lebensführung) kein möglicher Gegenstand einer Betriebsvereinbarung.65 Im Übrigen ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seinen Ausprägungen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit (Prinzip des mildesten unter gleichermaßen geeigneten Mitteln) und der Angemessenheit (Proportionalität) der Zweck-Mittel-Relation zu wahren.

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S. BAG, Beschl. v. 14. 01. 2014– 1 ABR 66/12 – juris unter Hinweis auf § 6 Abs. 1 S. 2 MTV Coc/Kab. 62 Statt aller Kania, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 77 BetrVG Rn. 38. 63 Richardi, in: Richardi, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 88 Rn. 6 m. w. N. 64 BAG AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 94. 65 BAG AP BetrVG 1972 § 87 Ordnung des Betriebes Nr. 28.

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Zu bedenken ist ferner, dass eine Verpflichtung zur Impfung speziell für Beschäftigte weder nach der BiostoffV noch nach dem IfSG besteht. Eine entsprechende Verordnung mit der Folge einer Teilnahmepflicht zugunsten bedrohter Teile der Bevölkerung insbesondere an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe im Falle von übertragbaren Krankheiten mit klinisch schweren Verlaufsformen und der Wahrscheinlichkeit ihrer epidemischen Verbreitung ist bislang nicht erlassen worden. Zwar soll die Verpflichtung zur Duldung ärztlicher Untersuchungen in Betriebsvereinbarungen nicht generell unmöglich sein, zumal aus Gründen des Arbeitsschutzes (vgl. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG). Doch wird die Regelung eines generellen Impfzwanges in einer Betriebsvereinbarung wegen der Tiefe des Eingriffs in die persönliche (genauer: körperliche) Integrität des einzelnen Arbeitnehmers „grundsätzlich“ herkömmlich als nicht zulässig angesehen, auch wenn übergeordnete Bedürfnisse des Betriebes dies als „sinnvoll“ erscheinen lassen.66 Überdies ist ohnehin prinzipiell dann, wenn es um die Verhütung von Unfällen und Krankheiten, also um den Schutz der Arbeitnehmer selbst geht, in gewisser Weise auch ein „Recht auf Krankheit“ anerkannt.67 Dem entspricht es, wenn vertreten wird, dass die gesetzlichen Vorschriften des Arbeitsschutzes und die Unfallverhütungsvorschriften zumindest regelmäßig nicht zu mitbestimmten Regelungen ermächtigen, die eine ärztliche Untersuchung der Arbeitnehmer vorschreiben. Nach oft vertretener Ansicht können Arbeitnehmer durch Betriebsvereinbarungen nicht verpflichtet werden, sich ärztlichen Untersuchungen zu unterziehen.68 Allerdings geht es in den hier interessierenden Zusammenhängen nicht um eine generelle Impfpflicht im Sinne des IfSG, sondern vielmehr um die auf der Verkehrssicherungspflicht beruhende Schutzpflicht zu Gunsten besonderer, infektionsgefährdeter vulnerabler Gruppen in Krankenhäusern und entsprechenden Pflegestationen, also um den Schutz dritter Personen. Besteht die Gefahr bzw. aufgrund der Arbeitsabläufe die Möglichkeit, dass Arbeitnehmer wie Ärzte und Pflegepersonal mit vulnerablen Personengruppen zusammentreffen und eine Infektionskrankheit wie die COVID-19-Infektion oder die Influenza übertragen, die für die vulnerablen Personengruppen äußerst gefährlich wird, könnten daher die grundrechtliche Abwägung und die Schutzpflichten der betreffenden vulnerablen Personen gebieten, den potentiellen Trägern der betreffenden Grippeviren zuzumuten, ungefährliche, nicht weiter belastende Maßnahmen zur Vermeidung einer Influenza-Übertragung hinzunehmen. Nicht erfasst von diesem Ausgangspunkt ist indes, wenn es lediglich um den Schutz der betreffenden Arbeitnehmer vor einer Eigeninfektion geht, und ebenso wenig ist eine entsprechende Impfpflicht für solche Arbeitnehmer und Angestellten denkbar, 66

Worzalla, in: Hess/Schlochauer et al., BetrVG, 10. Aufl. 2018, § 77 Rn. 71 m. w. N. So mit Grund ausdrücklich BVerfG 58, 208 (226) zur „Freiheit zur Krankheit“. 68 Vgl. LAG Sachsen, Beschl. v. 29. 8. 2003, BeckRS 2003, 30474739; Matthes, in: Münchener Handbuch Arbeitsrecht, Band II, 3. Aufl. 2009, § 254 Rn. 21; Müller, NJOZ 2011, 1105 (1111); anders Diller/Powietzka, NZA 2001, 1227 (1232) (Drogenscreening). 67

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die mit den vulnerablen Personengruppen nicht berufsbedingt im Krankenhaus oder in Pflegestationen in Berührung kommen. Diese Einschränkung folgt aus dem Notwendigkeitsprinzip, wonach ein Eingriff nicht weiter gehen darf als zu Erreichung des erstrebten (legitimen) Ziels unabdingbar notwendig. Unter der Prämisse, dass eine entsprechende Impfung des betroffenen Personals zumindest geeignet ist, das Risiko einer Übertragung auf den hier in Rede stehenden vulnerablen Personenkreis zu vermeiden, und dass sich das Tragen von Mundschutz nicht gleichermaßen effizient in Bezug auf den Schutz Dritter vor Influenza-Infektionen erweist, stellt sich indes in besonderer Weise die Frage nach der Angemessenheit im Sinne einer Gesamtabwägung einer eine solche Impfpflicht vorsehenden Betriebsvereinbarung. In Betracht kommt von vornherein nur eine Impfpflicht in eng umgrenzten Fällen bei Personal, das mit vulnerablen, für Grippeinfektionen anfälligen Personen (Patienten und Pflegebedürftigen) berufsbedingt in Kontakt kommt. Dafür dürfte praktisch im Falle der Integration des Betriebsrates als Organ der Interessen der Arbeitnehmer eine größere Akzeptanz sprechen; dieser Aspekt wird gerade in Bezug auf die Impfpflicht seit jeher hervorgehoben.69 Prämisse ist sodann, dass die betreffenden Patientengruppen durch eine entsprechende Erkrankung (wie COVID19) erheblichen, ja ggf. lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt sind, und dass diese Gefahren anders als durch Schutzimpfung des mit den vulnerablen Personen in Kontakt kommenden Personals nicht gleichermaßen wirksam hintangehalten werden können. Gleichwohl verbleiben Bedenken: Im Unterschied zu vertraglichen Vereinbarungen wirken Betriebsvereinbarungen nach ganz herrschender Ansicht, die durch § 77 Abs. 4 BetrVG gestützt wird („Betriebsvereinbarungen gelten unmittelbar und zwingend.“), normativ.70 Der einzelne Arbeitnehmer ist Betriebsvereinbarungen und dem aus ihnen folgenden Pflichtenkatalog – auch wenn sie in einen bestehenden Arbeitsvertrag eingreifen – im Prinzip ohne weiteres unterworfen. Im Unterschied zur vertraglich vereinbarten Impfpflicht ist zudem im Falle einer entsprechenden Betriebsvereinbarung nicht einmal eine (unterhalb der Schwelle der rechtfertigenden Einwilligung liegende) vertragliche prinzipielle Zustimmung durch den Rechtsgutsträger (die Angestellten) zur Impfung notwendig. c) Autonomieprinzip und Interessenabwägung Es bietet sich an, die abwägungsgeleiteten Grenzen zulässiger Betriebsvereinbarungen (auch) durch Wertungen in anderen Regelungszusammenhängen zu konkretisieren. Dabei bietet sich ein Blick auf im Strafrecht anerkannte Wertungen an. Zum 69

Vgl. Marckmann, Bundesgesundheitsblatt 2008, 175 (181 f.): individuelles Vertrauen anstelle kollektiven Zwangs. Internationale Erfahrungen verdeutlichen, dass ein (gesetzlicher) Impfzwang nur dann zu den gewünschten Erfolgen führt, wenn die Bevölkerung mehrheitlich überhaupt bereit ist, sich impfen zu lassen. 70 Hanau, RdA 1989, 207; Kania, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 77 BetrVG Rn. 5.

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rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) fällt auf, dass auch dort eine Interessenabwägung erforderlich ist. Der Rechtfertigung des Notstandstäters entspricht – nicht anders als im hier in Rede stehenden Kontext – eine Duldungspflicht dessen, der durch den Eingriff in seine Rechtsgüter betroffen ist.71 Das geschützte Interesse (hier: der vulnerablen Personen) muss das beeinträchtigte Interesse (hier: der Arbeitnehmer durch Impfung) zur Rechtfertigung des Eingriffs wesentlich überwiegen. Kaum etwas anderes wird man im hier interessierenden Zusammenhang als Maßstab zugrunde zu legen haben. Geht es um Eingriffe in Personenwerte, so ist mehrheitlich anerkannt, dass sogar trotz einer Höherwertigkeit des bedrohten Rechtsgutes (wie dem Lebensschutz der vulnerablen Schutzgruppe) ein Eingriff in einen anderen Personenwert weitgehend ausscheidet, weil der Anspruch auf Selbstbestimmung und Respektierung der Person (das sog. Autonomieprinzip) dem Ansinnen weitgehend entgegensteht, den Mitmenschen zur Duldung nicht unerheblicher Eingriffe in seine Person zu zwingen. Das gilt insbesondere, sofern es um körperliche Eingriffe geht.72 Zum Teil wird allerdings einschränkend hinzugefügt, etwas anderes könne gelten, wenn der drohende Schaden unverhältnismäßig groß sein würde;73 geringe körperliche Eingriffe wie Impfungen verstießen nicht stets gegen die Menschenwürde. Als Beispiel wird der klassische Fall diskutiert, dass jemand in einer konkreten Gefahrensituation die lebensrettende Blutspende verweigert, obwohl er als einziger die erforderliche Blutgruppe hat. Die herkömmliche Auffassung lässt, weil der Mensch keine „lebende Blutkonserve“ sei, eine gerechtfertigte zwangsweise Blutentnahme durch den Arzt nicht zu, während die Gegenansicht hier – zumal dann, wenn der Inanspruchgenommene eine Garantenstellung innehat – eine Rechtfertigung wegen Notstands anerkennt.74 Doch geht es in den hier interessierenden Fällen keineswegs um die Versagung einer ganz konkret „lebensrettenden“ Verhaltensweise, sondern zunächst einmal nur um die mittelbare Vermeidung einer potenziellen späteren Gefährdung (freilich auch von Leben) durch Infektion. Hinzu kommt, dass eine frühere Impfung dieses Risiko nicht ausschließen, sondern nur (mehr oder weniger) verringern kann. Selbst wenn im Übrigen das medizinische Personal eine (etwa durch den Behandlungsvertrag) begründete Schutz- und Beistandspflicht übernommen hätte, würde dies auch zu nicht mehr als einem – von der herrschenden Ansicht keineswegs pauschal kon-

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Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 1. Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 68 (unter Hinweis auf Gallas, ZStW 80 (1968), 23 f., 26 f.). 73 So Schönke/Schröder/Perron, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 38; bei nicht gravierenden Gesundheitsschäden auch MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, § 34 Rn. 144. 74 Siehe dazu (mit begrenzter Ausnahme bei Garantenpflichten) Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 68. 72

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Andreas Spickhoff

sentierten „eventuellen Zurücktreten“75 des Autonomiegesichtspunktes führen. Schließlich ist die schwankende Wirkung von Impfungen (auch je nach Mittel) zu bedenken. Anders als bei Arbeitsschutzmaßnahmen soll zudem die Influenza-Impfung von ihrer Intention hier fremdnützig wirken. Nach alledem erscheint im Unterschied zu vertraglichen Vereinbarungen die Möglichkeit, in Betriebsvereinbarungen normativ zwingend, auch in bestehende Arbeitsverträge hineingreifend Schutzimpfungen zugunsten von Patienten oder Pflegebedürftigen zu statuieren, aufgrund der zu berücksichtigenden grundrechtlichen Positionen des betroffenen Gesundheitspersonals als rechtlich fragwürdig. Dagegen spricht auch der Vorbehalt des Gesetzes, den Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG im Falle des Eingriffs in die körperliche Integrität (ohne individuelle Zustimmung des Rechtsgutsträgers) statuiert. 8. Gesichtsmasken Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass in der arbeitsrechtlichen Praxisliteratur zunächst weitgehend anerkannt ist, dass eine Pflicht zum Tragen von Mund- und Nasenschutz sowie die Pflicht zur Einhaltung von Desinfektions- und Hygieneanweisungen namentlich im Falle einer Pandemie im Rahmen von § 87 Abs. 1 BetrVG – unter der gebotenen Einschaltung des Betriebsrates – selbst dann möglich sind, wenn es um den Schutz anderer Arbeitnehmer geht.76 Umso eher ist diese Möglichkeit im Falle der gebotenen Schutzpflicht zu Gunsten vulnerabler Personengruppen, die zusätzlich dem entsprechenden Risiko mit typischer Weise deutlich größerem Gefahrenpotential ausgesetzt sind, möglich. Im Hinblick auf die von Klinikträger und Pflegeeinrichtung einzuhaltenden Organisations- und Verkehrssicherungspflichten ist der Einsatz von bloßem Mundund Nasenschutz rechtlich tolerabel, wenn bzw. weil dadurch das Risiko einer Krankheitsübertragung signifikant verringert wird.

IV. Ergebnisse 1. Medizinisches Personal kann prinzipiell zur COVID-19- oder Influenza-Schutzimpfung durch vertragliche Vereinbarungen verpflichtet werden. Das ist auch in Form von sog. Allgemeinen Geschäftsbedingungen möglich, vorausgesetzt, die Impfpflicht wird im Vertragsformular deutlich hervorgehoben. Die vertragliche Verpflichtung zur Schutzimpfung lässt allerdings die Möglichkeit jedes einzelnen 75 So – mit Grund sehr vorsichtig – Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 68. 76 Siehe etwa Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg im Regierungspräsidium Stuttgart, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 27 H9 Arbeitsrecht v3-2 100107, H9, Anhang 2: Betriebliche Pandemieplanung, S. 4 (http://www.gesundheitsamt-bw. de/SiteCollectionDocuments/40_Service_Publikationen/Handbuch_BePPv3_27_H9_Arbeits recht.pdf, Stand: 17. 06. 2014).

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Arbeitnehmers unberührt, dem konkreten Eingriff (Impfung) die Einwilligung zu verweigern. Er handelt dann freilich entgegen seinen arbeitsvertraglichen Verpflichtungen. 2. Eine verpflichtende Influenzaschutzimpfung kann demgegenüber nicht in einer normativ für alle Arbeitnehmer verbindlichen Betriebsvereinbarung, durch die ggf. nachträglich in das vertragliche Pflichtenprogramm eingegriffen werden würde, vorgesehen werden.

Verzeichnisse

Dissertationen und Habilitationen Barth, Jan Die Haftung des Mittelverwendungskontrolleurs – Zur Dritthaftung bei fehlgeschlagenen Fondsbeteiligungen Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2016 Billing, Tom Die Bedeutung von § 307 III 1 BGB im System der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2005/2006 Erhardt, Karsten Vermeidung und Umgehung im Verbrauchsgüterkaufrecht – Eine Untersuchung zur Reichweite des zwingenden Rechts im Verbrauchsgüterkauf unter besonderer Berücksichtigung der Teleologie des Verbrauchervertragsrechts Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2008/2009 Fest, Timo Anleihebedingungen – Rechtssicherheit trotz Inhaltskontrolle Habilitationsschrift, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2015 Fußeder, Florian Soziale Netzwerke im Nachlass – Eine Untersuchung zum postmortalen Geheimnisschutz Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2018/2019 Gomille, Christian Standardisierte Leistungsbewertungen Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2008/2009 Informationsproblem und Wahrheitspflicht Habilitationsschrift, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2015 Grötsch, Michael Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsangleichung durch vertragliche Vereinbarungen im Rahmen der Vermögensauseinandersetzung bei Ehescheidung im deutsch-österreichischen Rechtsverkehr Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2006/2007 Hecht, Johannes Die Struktur der Grundpfandrechte nach dem Risikobegrenzungsgesetz Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2011/2012 Jahnke, Kim Die fehlende Postulationsfähigkeit in Familiensachen und die Möglichkeit ihrer Heilung Dissertation, Humboldt-Universität, Berlin, 2001

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Dissertationen und Habilitationen

Kim, Dea Kyung Die dogmatische Untersuchung der Privilegierung des gesetzlich zum Rücktritt Berechtigten gemäß § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB – Der Ausschluss der Wertersatzpflicht und Gefahrverteilung Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2007/2008 Kim, Sungmi Komparative Betrachtung der Gefährdungshaftung im Luftverkehrsrecht zwischen dem deutschen und südkoreanischen Recht Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2015/2016 Mylich, Falk Die Aufrechnungsbefugnis des Schuldners bei der Vorausabtretung einer künftigen Forderung Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2008/2009 Nusser, Johanna Maria Europäisches Nachlasszeugnis und Erbschein Disseration, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2019 Panagiotopoulos, Vagias Die Rückforderung unbegründeter Zahlungen bei einer Bankgarantie „auf erstes Anfordern“ Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2006/2007 Regul, Maximilian Grundschulden und Treuhandverhältnisse Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2014 Sitzmann, Norbert Die Verteilung der Folgerechte nach der Zession und nach der Übertragung der Anwartschaft Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, 1998 Stretz, Christian Die Funktionalitätshaftung des Bauunternehmers im BGB-Bauvertrag – Eine Untersuchung der dogmatischen Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung der Fallgruppe fehlerhafter Auftraggeberanordnungen Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2012/2013 Tetenberg, Stefan Die Anwartschaft des Auflassungsempfängers Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2005/2006 Unseld, Florian Die Kommerzialisierung personenbezogener Daten Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2010/2011 Yang, Seung-Uk Zuwendung unter Lebenden auf den Todesfall – Mittelstellung zwischen Zuwendungen unter Lebenden und Verfügungen von Todes wegen Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2020/2021

Schriftenverzeichnis des Jubilars I. Selbständige Veröffentlichungen 1. Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung und Aufrechterhaltung von Rechtsgeschäften, München 1983 (zugleich Diss. München) 2. Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb, München 1990 (zugleich Münchener Habilitationsschrift) 3. Die Stellung des Kindes nach heterologer Insemination, Berlin, 1997

II. Kommentierungen und Beiträge in Lehrbüchern 1. Das Rücktrittsrecht, in: Das Neue Schuldrecht, 2002, 174 ff. 2. Kommentierung der §§ 823 – 825, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, E-I, 2. Halbband, Bearb. 2009 3. Kommentierung der §§ 346 – 354, in: Nomos-Kommentar, BGB Schuldrecht, 4. Aufl. 2021 (seit 1. Aufl.) 4. Kommentierung des § 823, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, A – D, 1. Halbband, Bearb. 2017 5. Kommentierung der §§ 286 – 304, 315 – 319, in: Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, 15. Aufl. 2017 (seit 12.Aufl.) 6. Kommentierung des Rechts der unerlaubten Handlungen, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 7. Aufl. 2020 (seit 1. Aufl.)

III. Aufsätze 1.

Die Beteiligung der Gemeinden an der Erteilung von Baugenehmigungen, BayVBl. 1980, 131 ff.

2.

Lagerschein und gutgläubiger Erwerb, WM 1980, 666 ff.

3.

Die Kontrolle der Freiheitsentziehung durch die Gerichte der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach Entlassung des Betroffenen, ZZP 94 (1981), 407 ff.

4.

Die Rechtsbehelfsbefugnis des Prozessunfähigen, ZZP 97 (1984), 174 ff.

5.

Die Kostentragung bei Rückruf fehlerhafter Produkte, VersR 1984, 799 ff.

6.

Die gesetzeskonforme Aufrechterhaltung übermäßiger Vertragspflichten , BGHZ 89, 316 und 90, 69, JuS 1985, 264 ff.

7.

Die verdeckte Gewinnausschüttung in der GmbH, ZGR 1989, 71 ff.

8.

Die Umdeutung der außerordentlichen in eine ordentliche Kündigung, BB 1989, 693 ff.

566 9.

Schriftenverzeichnis des Jubilars Das Mitverschulden von Hilfspersonen und gesetzlichen Vertretern des Geschädigten, NJW 1989, 1640 ff.

10. Das Erlöschen des possessorischen Anspruchs aufgrund des petitorischen Titels, KTS 1989, 515 ff. 11. Fetale Hypoxie und rechtliche Konsequenzen, Der Gynäkologe 1989, 390 ff. 12. Die Vormerkung, JuS 1990, 429 ff. 13. Rechtsfragen des Finanzierungsleasing von Hard- und Software, in: Grundfragen des Finanzierungsleasing, 1990, 324 ff. = AcP 190 (1990), 324 ff. 14. Die Anwartschaft des Auflassungsempfängers, JuS 1991, 1 ff. 15. Die Prüfungskompetenz des Vollstreckungsgerichts im Rahmen des § 850f II ZPO, KTS 1991, 1 ff. 16. Die klassische Entscheidung: Der Kupolofenfall (BGHZ 92, 143 ff.), Jura 1991, 303 ff. 17. Der Anspruch des Pensionssicherungsvereins im Konkurs des Arbeitgebers, in: Die soziale Dimension der Unternehmung, 1991, S. 83 ff. 18. Die Vertretung der Aktiengesellschaft im Prozess mit ihren früheren Vorstandsmitgliedern, NJW 1992, 352 ff. 19. Das Handelsregister, Jura 1992, 57 ff. 20. Die Zulässigkeit der Zwischenfeststellungsklage, KTS 1993, 39 ff. 21. Streckengeschäft und redlicher Erwerb, ZIP 1993, 1446 ff. 22. Die Manipulation des Rechtswegs – Bemerkungen zur Reform der §§ 17 ff. GVG, in: Festschrift für Otto Rudolf Kissel, 1994, 327 ff. 23. Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373 ff. 24. Schutz einer Handelsgesellschaft gegen die Analyse ihrer Jahresabschlüsse im Lichte der Grundrechte, ZHR 158 (1994), 675 ff. 25. Persönlichkeitsschutz gegenüber Medien, Jura 1995, 566 f. 26. Der lange Abschied vom Verbot der geltungserhaltenden Reduktion, JZ 1996, 175 ff. 27. Der Schutz der Ehre im Zivilrecht, AcP 196 (1996), 168 ff. 28. Ablösung von Grundpfandrechten und redlicher Erwerb, ZIP 1997, 133 ff. 29. Die culpa in contrahendo in den „Unidroit-Prinzipien“ und den „Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts“ aus der Sicht des deutschen Bürgerlichen Rechts, in: Basedow, Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, 2000, 67 ff. 30. Die klassische Entscheidung: Der Mephisto-Fall des Bundesverfassungsgerichts, Jura 2000, 186 ff. 31. Der sachenrechtliche Verkehrsschutz als Muster der Lösung von Dreipersonenkonflikten, in: Festgabe für den Bundesgerichtshof zum 50jährigen Bestehen, 2000, 777 ff. 32. Das geplante Recht des Rücktritts und des Widerrufs, in: Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform – Zum Diskussionsentwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes des Bundesministeriums der Justiz, 2001, 429 ff. 33. Die gesetzliche Einziehungsermächtigung, in: Transport-Wirtschaft-Recht, Gedächtnisschrift für Helm, 2001, 697 ff. 34. Die Versteigerung im Internet, JZ 2001, 786 ff. 35. Kindersport und Elternverantwortung, in: Kinder- und Jugendschutz im Sport, 2001, 27 ff.

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36. Der Erwerb der schuldnerfremden Sache in der Zwangsversteigerung, in: Festschrift für Canaris 2002, 1 ff. 37. Die Zulassung der Revision im Licht des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruchs, 2. Hannoveraner ZPO-Symposion, NJW Sonderheft zu Heft 48, 2003, 23 ff. 38. Der Wert- und Schadensersatzanspruch beim Rücktritt, in: Festschrift für Hans-Joachim Musielak, 2004, 195 ff. 39. Auswirkungen der Qualitätssicherung auf die Produkthaftung in: Seewald (Hrsg.), Schriften des Instituts für Landwirtschaftsrecht, 2004, 170 ff. 40. Der Kündigungsschutz des Arbeitnehmers im Umwandlungsrecht, in: Gedächtnisschrift für Heinze, 2004, 311 ff. 41. Die Schließung von Krankenkassen wegen Überschuldung, zusammen mit Max-Theo Gaßner, NZS 2004, 632 ff. 42. Erbenhaftung und Konfusion, in: Festschrift für Heldrich, 2005, 173 ff. 43. Der rechtliche und der leibliche Vater, in: Festschrift für Schwab, 2005, 773 ff. 44. Der Vertragsschluss im Internet, in: Festschrift für Georgiades, 2005, 205 ff. 45. Die Kausalität bei Massenschäden, in: Festschrift für Canaris, 2007, 403 ff. 46. Der Sicherungsvertrag bei der Grundschuld, in: Festschrift für Wolfsteiner, 2007, 41 ff. 47. Die Forderungszuständigkeit als absolutes Recht, in: Festschrift für H. P. Westermann, 2008, 287 ff. 48. Fundamental Rights in National Contract Law, in: Constitutional Values and European Contract Law (Tagung Secola Berlin), 2008, 21 ff. 49. Durchführungsdefizite beim Ersatz des Schadens?, in: Festschrift für Deutsch, 2009, 769 ff. 50. Die Haftung des Mitglieds einer Wohnungseigentümergemeinschaft, in: Festschrift für Spiegelberger, 2009, 1213 f. 51. Der Schutz der Persönlichkeit im Prozess, in: Festschrift für Medicus, 2009, 171 ff. 52. Die Produktbeobachtungspflicht und die Kosten des Rückrufs, in: Festschrift für Prölss, 2009, 71 ff. 53. Die „Wiederaufladung“ der Vormerkung, in: Festschrift für Kanzleiter, 2010, 195 ff. 54. Die „Wiederaufladung“ der Vormerkung, in: Aktuelle Probleme zum Grundstücksrecht, Tagungsband München, 2010, 77 f. 55. Das deutsche Recht der unerlaubten Handlungen, Hokkaido Journal of New Global Law and Policy, Vol. 9, 2010, 249 ff. 56. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2008 bis 2010, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2011, 1716 f. 57. Grundlagen des Deutschen Verbraucherschutzes, Ritsumeikan Law Review No. 28, 2011, 233 ff. = (etwas ausführlicher) JA 2011, 721 ff. 58. Der Krankenversicherungsbeitrag bei Auszahlung einer vom Arbeitnehmer finanzierten Direktversicherung, NZS 2011, 801 ff. 59. Die „institutionelle“ Betrachtung der betrieblichen Altersversorgung – zugleich Bemerkungen zu den Urteilen des BSG vom 30. 3. 2011 – B 12 KR 16/10 R und B 12 KR 24/ 09 R -, NZS 2012, 281 ff.

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60. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2011 bis 2012, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2012, 2081 ff. 61. Schenkung und rechtlicher Nachteil, in: Festschrift für Leenen, 2012, 43 f. 62. Die Haftung der Arbeitgeber und der Versicherer bei der vom Arbeitnehmer eigenfinanzierten Direktversicherung, FA 2012, 262 f. 63. Der Vertragsübergang nach § 651b BGB, RRa 2012, 214 f. 64. Das Persönlichkeitsrecht im europäischen, österreichischen und deutschen Recht, öJBl 2013, 273 ff. 65. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2012 bis 2013, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2013, 1917 ff. 66. Der verfassungsrechtliche Schutz der Persönlichkeit und der Schutz des Privatlebens im Zivilrecht, Kyung Hee Journal vom 30. 03. 2014, 343 ff. 67. Die Haftung des Produzenten für Entwicklungsrisiken, in: Festschrift für Corsten, 2014, 191 ff. 68. Der Schutz der Persönlichkeit und des Privatlebens im Verfassungsrecht und im Zivilrecht, Ritsumeikan Law Review No. 31, 2014, 53 ff. 69. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2013/2014, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2014, 1918 ff. 70. Schadensanlage und Mitverschulden, in: Festschrift für Egon Lorenz, 2014, 589 ff. 71. Teilrechtsfähigkeit und Ultra-vires-Lehre, in: Festschrift für Köhler, 2014, 229 ff. 72. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2014/2015, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2015, 1857 ff. 73. Die unbenannte Zuwendung, in: Festschrift für Coester-Waltjen, 2015, 101 ff. 74. Die nicht bestellte Ware oder Leistung – § 241a BGB im Licht des deutschen Verfassungsrechts und der Richtlinie 211/83/EU –, in: Festschrift für Doris, 2015, 249 ff. 75. Behindertentestament und Bedürftigentestament, in: Festschrift für Arai, 2015, 341 ff. 76. Der Schutz vor dem ungeliebten Partner, in: Fragen aus dem Bereich der Rechtsnachfolge unter Lebenden und von Todes wegen, Tagungsband zur achten Verleihung des HelmutSchippel-Preises in München, 2016, 77 ff. 77. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2015/2016, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2016, 1857 ff. 78. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2016/2017, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2017, 1860 ff. 79. Normen ohne Anwendungsbereich? – Zur Funktion der §§ 265 Abs. 3, 325 Abs. 2 ZPO –, in: Festschrift für W. Krüger, 2017, 389 ff. 80. Die Dogmatik des Persönlichkeitsrechts, in: Festschrift für Canaris z. 80. Geb., 2017, 569 ff. 81. Datenschutz in den sozialen Medien aus privatrechtlicher Perspektive, Austrian Law Journal (ALJ), Heft 2, 2017, 95 ff. 82. Die Entwicklung der Produkthaftung, in: Festgabe Institut für Recht und Technik – Erlanger Festveranstaltungen 2011 und 2016, 2017, 39 ff. 83. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2017/2018, zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2018, 1853 ff.

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84. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2018/2019 zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2019, 1922 ff. 85. Die Drittauskunft in der Zwangsvollstreckung im deutschen Recht, Ritsumeikan Law Review No. 37 (2019), 87 ff. 86. Die alternative Klagehäufung, in: Festschrift für V. Vorwerk, 2019, 133 ff. 87. Die Entwicklung des Notarrechts in den Jahren 2019/2020 zusammen mit Alexander Müller-Teckhof, NJW 2020, 1857 ff. 88. Die Leistung an den Nichtberechtigten, in: Festschrift für Michael Martinek z. 70. Geb., 2020, 289 ff.

IV. Anmerkungen Anmerkung zu BayVerfGH, Entscheidung vom 13. 11. 1981, Vf 108-VI-80, BayVBl. 1982, 464 f. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 13. 05. 1987, VIII ZR 137/86, JR 1988, 287 ff. Anmerkung zu BAG, Urteil vom 06. 09. 1989 – 5 AZR 586/88, SAE 1990, 279 ff. Anmerkung zu BAG, Beschluss vom 05. 03. 1991 – 1 ABR 39/90, SAE 1992, 230 ff. Anmerkung zu BAG, Urteil vom 26. 10. 1994 – 5 AZR 93/92, SAE 1996, 363 ff. Anmerkung zu BAG, Beschluss vom 24. 4. 1996 – V AZB 25/95, AP Nr. 1 zu § 2 ArbGG 1979 Zuständigkeitsprüfung Anmerkung zu BAG, Urteil vom 3. 9. 1997 – 5 AZR 428/96, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Dienstreise Anmerkung zu BGH, Urteil vom 13. 11. 1997 – IX ZR 289/96, JR 1998, 419 ff. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 22. 12. 1999 – VIII ZR 299/98, JZ 2000, 1065 ff. Anmerkung zu BAG, Urteil vom 15. 4. 1999 – VII AZR 437/97 und Urteil vom 28. 6. 2000 – VII AZR 100/99, SAE 2000, 317 ff. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 19. 5. 2000 – V ZR 453/99, DNotZ 2001, 325 ff. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 6. 6. 2000 – XI ZR 235/99, LM Nr. 159 zu § 276 (Fa) BGB Anmerkung zum BAG, Urteil vom 21. 11. 2000 – 9 AZR 665/99, AP Nr. 35 zu § 242 BGB, 2001 Anmerkung zu BGH, Urteil vom 07. 11. 2001 – VIII ZR 13/01, JZ 2002, 506 ff. Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 18. 03. 2004 – V ZR 222/03, BGH-Report 2004, 976 ff. Anmerkung zu BAG, Urteil vom 10. 02. 2004 – 9 AZR 116/03, SAE 2005, 160 ff. Anmerkung zum BGH, Urteil vom 6. 6. 2013 – IX ZR 204/12, KTS 2014, 307 ff. Anmerkung zum BGH, Urteil vom 19. 1. 2016 – VI ZR 302/15, NJW 2016, 1588 f. Anmerkung zum OLG Bremen, Urteil vom 26. 10. 2018 – 4 UF 39/18, FamRZ 2019, 437 f. Anmerkung zum BGH, Urteil vom 04. 04. 2019 – III ZR 35/18, juris November 2019, S.410 ff.

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Schriftenverzeichnis des Jubilars

V. Rezensionen Rezension von Helm, J.G., Speditionsrecht, 2. Aufl. 1986, JR 1987, 526. Rezension von Bülow P., Handelsrecht, 1986, Jura 1988, 559. Rezension von Heymann, Handelsgesetzbuch, 1988/89, KTS 1990, 371 f. Rezension von Jaschke, M., Gesamthand und Grundbuchrecht, 1991, ZHR 156 (1992), 272 ff. Rezension von Zöller, Zivilprozessordnung, 17. Aufl. 1991, KTS 1992, 324 ff. Rezension von Gerhardt, W., Mobiliarsachenrecht, 3. Aufl. 1992, Jura 1993, 446. Rezension von Lenenbach, Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozessrecht, 1997, ZZP 112 (1999) 117 ff. Rezension von Boujong/Ebenroth/Joost, Handelsgesetzbuch, 2001, JZ 2001, 1181. Rezension von Indra Spieker, genannt Döhmann, Die Anerkennung von Rechtskraftwirkungen ausländischer Urteile, ZZP 2004, 395 ff. Rezension von Christian Seyfert, Mass Toxic Torts: Zum Problem der kausalen Unaufklärbarkeit toxischer Massenschäden, ZZP 2006, 256 ff. Rezension von Prütting/Wegen/Weinreich, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, Luchterhand, Neuwied in Deutsche Richterzeitung, 2007, 28.

VI. Rechtsprechungsübersichten in JA BGH, Urteil vom 11. 04. 2006 – XI ZR 220/05, JA 2006, 738 ff. BGH, Urteil vom 13. 06. 2006 – VI ZR 323/04, JA 2006, 816 f. BGH, Urteil vom 18. 07. 2006 – X ZR 142/05, JA 2006, 895 ff. BGH, Urteile vom 13. 09. 2006 – IV ZR 378/02, IV ZR 116/05, IV ZR 273/05 und IV ZR 26/04, JA 2007, 60 ff. BGH, Urteil vom 28. 06. 2006 – XII ZR 50/04, JA 2007, 143 ff. BGH, Urteil vom 14. 11. 2006 – VI ZR 48/06, JA 2007, 227 ff. BGH, Urteil vom 05. 12. 2006 – VI ZR 45/05, JA 2007, 296 ff. BGH, Urteil vom 14. 11. 2006 – X ZR 34/05, JA 2007, 383 ff. BGH, Urteil vom 09. 01. 2007 – VI ZR 59/06, JA 2007, 458 ff. BGH, Urteil vom 06. 03. 2007 – VI ZR 120/06, JA 2007, 548 f. BGH, Urteile vom 06. 03. 2007 – VI ZR 13/06, VI ZR 14/06, VI ZR 50/06, VI ZR 51/06, VI ZR 52/06 und VI ZR 53/06, JA 2007, 647 ff. BGH, Urteil vom 17. 04. 2007 – VI ZR 109/06, JA 2007, 736 f. BGH, Urteil vom 22. 05. 2007 – VI ZR 17/06, JA 2007, 812 f. BGH, Urteile vom 28. 06. 2007 – VII ZR 81/06 und VII ZR 8/06, JA 2008, 62 ff.

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BGH, Urteil vom 10. 07. 2007 – VI ZR 199/06, JA 2008, 141 f. BGH, Urteil vom 15. 11. 2007 – IX ZR 44/04, JA 2008, 303 f. BGH, Urteil vom 11. 12. 2007 – VI ZR 14/07, JA 2008, 387 ff. BGH, Urteil vom 29. 01. 2008 – VI ZR 98/07, JA 2008, 650 BGH, Urteil vom 29. 04. 2008 – XI ZR 371/07, JA 2008, 733 ff. BGH, Urteil vom 08. 07. 2008 – VI ZR 235/07 und BGH, Urteil vom 03. 06. 2008 – VI ZR 247/ 07, JA 2008, 894 f. BGH, Urteil vom 16. 12. 2008 – VI ZR 170/07, JA 2009, 387 f. BGH, Urteil vom 10. 02. 2009 – VI ZR 28/08, JA 2009, 646 f. BGH, Urteil vom 23. 06. 2009 – VI ZR 196/08, JA 2009, 897 ff. BGH, Urteil vom 17. 11. 2009 – VI ZR 226/08, JA 2010, 301 ff. BGH, Urteil vom 15. 12. 2009 – VI ZR 227/08, JA 2010, 464 ff. BGH, Urteil vom 22. 06. 2010 – VI ZR 212/09, JA 2010, 899 ff. BGH, Urteil vom 18. 01. 2011 – VI ZR 325/09, JA 2011, 468 ff. BGH, Urteil vom 28. 06. 2011 – VI ZR 184/10, JA 2012, 66 f. BGH, Urteil vom 18. 01. 2012 – I ZR 187/10, JA 2012, 548 ff. BGH, Urteil vom 08. 05. 2012 – XI ZR 61/11, JA 2013, 146 ff. BGH, Urteil vom 14. 05. 2013 – VI ZR 269/12, JA 2013, 630 ff. BGH, Urteil vom 29. 04. 2014 – VI ZR 246/12, JA 2014, 627 ff. BGH, Urteil vom 18. 11. 2014 – VI ZR 76/14, JA 2015, 386 ff. BGH, Urteil vom 19. 01. 2016 – VI ZR 302/15, JA 2016, 546 ff. BGH, Urteil vom 8. 11. 2017 – VI ZR 200/15, JA 2017, 546 ff. BGH, Urteil vom 17. 10. 2017 – VI ZR 423/16, JA 2018, 226 ff. BGH, Urteil vom 17. 04. 2018 – VI ZR 237/17, JA 2018, 706 ff. BGH, Urteil vom 27. 02. 2018 – VI ZR 489/16, JA 2018, 546 f. BGH, Urteil vom 27. 02. 2018 – VI ZR 86/16, JA 2018, 865 ff. BGH, Urteil vom 08. 08. 2018 – VI ZR 275/97, JA 2019, 385 ff. BGH, Urteil vom 28. 08. 2018 – VI ZR 509/17, JA 2019, 304 ff. BGH, Urteil vom 10. 07. 2018 – VI ZR 225/17, JA 2019, 67 ff. BGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – VI ZR 105/18, JA 2020, 389 ff. BGH, Urteil vom 27. 02. 2020 – VII ZR 151/18, JA 2020, 545 ff.

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VII. Herausgeberschaften Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken. Symposion zu Ehren von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus-Wilhelm Canaris, 1998, herausgegeben von: Koller, Hager, Junker, Singer, Neuner. Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung. Festschrift für Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. ClausWilhelm Canaris zum 65. Geburtstag, 2002, herausgegeben von: Koller, Hager, Hey, Langenbucher, Neuner, Petersen, Singer. Festschrift für Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, 2007, herausgegeben von: Heldrich, Koller, Prölss, Grigoleit, Hager, Hey, Langenbucher, Neuner, Petersen, Singer.

VIII. Herausgeberschaften der Schriftenreihe zum Notarecht Band 1: Die Patientenverfügung, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-38329-1856-9 Band 3: Vertragsfreiheit im Ehevertrag? – Der aktuelle Stand der Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-38329-3099-8 Band 6: Entwicklungstendenzen im Stiftungsrecht, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-3420-0 Band 10: Aktuelle Entwicklungen der notariellen Vertragsgestaltung im Erbrecht, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager, Rainer Schröder; ISBN 978-3-8329-4083-6 Band 11: Aktuelle Fragen des Wohnungseigentumsrechts, Tagungsband München; Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-4069-0 Band 16: Zukunft des Bauträgervertrags, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-5210-5 Band 20: Grundschulden und Risikobegrenzungsgesetz, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-5939-5 Band 22: Grundstücksrecht, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-83296165-7 Band 28: (Vorweggenommene) Erbfolge und soziale Sicherung, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-6926-4 Band 30: Verbriefung und Zession im Recht der Grundschuld, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-7415-2 Band 32: Wohnungseigentümer und ihre Gemeinschaft, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8329-7574-6 Band 34: Vorweggenommene Vermögensübertragung unter Ausschluss von Pflichtteilsansprüchen, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8487-0198-8 Band 36: Die neue Erbrechtsverordnung, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-3-8487-0594-8

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Band 38: Update Familienrecht, Tagungsband München, Hrsg. Johannes Hager; ISBN 978-38487-0883-3 Band 45: Fragen aus dem Bereich der Rechtsnachfolge unter Lebenden und von Todes wegen, Tagungsband zur achten Verleihung des Helmut-Schippel-Preises, Hrsg. Johannes Hager, Rainer Kanzleiter; ISBN 978-3-8487-3259-3

IX. Sonstiges Jura Methodik, Übungsklausur Zivilrecht (Ein aufwendiger Kinobesuch), Jura 1985, 214 ff. mit abschließender Stellungnahme Jura 1985, 670 f. Methodik der Fallbearbeitung, Übungsklausur Zivilrecht (Eine schwierige Finanzierung), JuS 1987, 555 ff. Das Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, DtZ-Informationen 1990, 57 ff., JuS, Einführung in das Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1990, 43 ff.

Autorenverzeichnis Arai, Makoto, Dr., Universitätsprofessor an der Chuo-Universität in Tokio Coester, Michael, Dr., em. Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Coester-Waltjen, Dagmar, Dr. Dr. h.c., LL.M., em. Universitätsprofessorin an der Georg-August-Universität-Göttingen Dutta, Anatol, Dr., M. Jur., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilian-Universität München Fest, Timo, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Gomille, Christian, Dr., Universitätsprofessor an der Universität des Saarlandes Grundmann, Stefan, Dr. Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin Grunewald, Barbara, Dr., Universitätsprofessorin an der Universität zu Köln Habersack, Mathias, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Hau, Wolfgang, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Hecht, Johannes, Dr., Notar in Hengersberg Hermann, Hans-Georg, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Kanzleiter, Rainer, Dr., Notar a. D., Honorarprofessor an der Universität Augsburg Kindler, Peter, Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Köhler, Helmut, Dr., em. Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Kössinger, Winfried, Dr., Notar in München Lemcke, Thomas, Dr., Notar in Greifswald Lepsius, Susanne, Dr., M.A., Universitätsprofessorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München Looschelders, Dirk, Dr., Universitätsprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Ludyga, Hannes, Dr., Universitätsprofessor an der Universität des Saarlandes Martinek, Michael, Dr. Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor i. R. an der Universität des Saarlandes Paulus, Christoph G., Dr., Universitätsprofessor i. R. an der Humboldt-Universität zu Berlin

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Autorenverzeichnis

Peres, Holger, Dr., Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Petersen, Jens, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Potsdam Platschek, Johannes, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Riehm, Thomas, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Passau Roth, Herbert, Dr. Dr. h.c., em. Universitätsprofessor der Universität Regensburg Schuster, Leo, Dr. rer. pol., em. Universitätsprofessor an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt Seitz, Walter, Dr., Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München i. R. Singer, Reinhard, Dr., Universitätsprofessor i. R. an der Humboldt-Universität zu Berlin Spickhoff, Andreas, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Streinz, Rudolf, Dr., em. Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Suppé, Georg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München Vieweg, Klaus, Dr., Universitätsprofessor i. R. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Vorwerk, Volkert, Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der Leibniz Universität Hannover Walker, Wolf-Dietrich, Dr., Universitätsprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen Windbichler, Christine, Dr., LL.M., Universitätsprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin Würdinger, Markus, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Passau