Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration: RWK-Kuratorium [1 ed.] 9783896446329, 9783896736321

Es ist ein Thema, das mit jedem Jahr an Bedeutung gewinnt: das Fehlen von Fachkräften. Der Fachkräftemangel ist da und w

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Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration: RWK-Kuratorium [1 ed.]
 9783896446329, 9783896736321

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RKW-Kuratorium

RKW Edition

Otmar Franz (Hrsg.)

Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration RKW-Kuratorium

Verlag Wissenschaft & Praxis

Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration

RKW-Edition

RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e. V. RKW Kompetenzzentrum Düsseldorfer Straße 40 A 65760 Eschborn www.rkw-kompetenzzentrum.de

Otmar Franz (Hrsg.)

Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration

RKW-Kuratorium

Verlag Wissenschaft & Praxis

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ISBN 978-3-89673-632-1 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2013 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. +49 7045 93 00 93 Fax +49 7045 93 00 94 [email protected] www.verlagwp.de Layout: Christopher Dürr Druck und Bindung: Esser-Druck GmbH, Bretten

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Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration

Inhaltsverzeichnis Vorwort 1. Dr. Otmar Franz ◼◼

Vorsitzender des Kuratoriums des RKW – Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e. V. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration ....................................................9

I. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration aus Sicht der Politik 2. Prof. Dr. Annette Schavan MdB ◼◼

Bundesministerin für Bildung und Forschung Fachkräfte sichern durch Bildung – kleine und mittlere Unternehmen vor Chancen und Herausforderungen.........................................................................................................................................17

3. Edelgard Bulmahn MdB ◼◼

Bundesministerin für Bildung und Forschung a. D. Potenziale für die Verminderung des Fachkräftemangels nutzen.............................................. 27

4. Bernd Neumann MdB ◼◼

Staatsminister für Kultur und Medien Fachkräftemangel in der Kultur- und Kreativwirtschaft................................................................ 40

5. Friedhelm Ost ◼◼

Staatssekretär a. D. Fachkräfte sichern unseren Wohlstand – mehe auf Integration bauen!.................................43

6. Dr. Angelika Niebler MdEP ◼◼

Parlamentarische Geschäftsführerin Brauchen wir eine europäische Lösung?............................................................................................... 52



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II. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration aus Sicht der Wissenschaft 7. Prof. Dr. Bernd Kriegesmann ◼◼

Vorstandsvorsitzender des Instituts für angewandte Innovationsforschung, Bochum Marcus Kottmann, Michael Schmidt TalentMetropole Ruhr als regionaler Ansatz zur Überwindung der Fachkräftelücke......... 61

8. Prof. Dr. Wolfgang Maßberg ◼◼

Ruhr-Universität Bochum Qualifizierung zukünftiger Fachkräfte für mittelständische Unternehmen..........................70

9. Prof. Dr. Günter Spur ◼◼

Technische Universität Berlin Innovationsfähiges Technologiemanagement................................................................................... 80

10. Prof. Dr. Andreas Pinkwart ◼◼

Rektor der HHL Leipzig Graduate School of Management Qualifizierte Zuwanderung – eine Chance für den Mittelstand................................................ 89

11. Dr. Eberhard Heinke ◼◼

Vorsitzender des Verwaltungsrats des Rhein.-Westf. Inst. für Wirtschaftsforschung Aktive Zuwanderungspolitik als Lösung des Fachkräftemangels?............................................ 94

III. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration aus Sicht der Wirtschaft 12. Michael Sommer ◼◼

Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Migrantinnen und Migranten als Fachleute heranbilden – Chance für die Sicherung der Fachleutebasis der Zukunft .........................................................105

13. Michael Vassiliadis ◼◼

Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Gesellschaftlicher Kurswechsel hin zu einer integrierenden Gesellschaft............................116

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14. Andrea Kocsis ◼◼

Stellvertretende Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Dimensionen des deutschen Fachkräftemangels und Gegenstrategien aus gewerkschaftlicher Sicht.................................................................................................................... 124

15. Bruno W. Köbele ◼◼

Vorsitzender der IG Bau a. D. Handlungsfelder zur Verminderung des Fachkräftemangels im Mittelstand..................... 136

16. Harald Schartau ◼◼

Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH Mobilisierung der vorhandenen Ressourcen..................................................................................... 144

17. Otto Kentzler ◼◼

Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks Finden, Fördern, Festhalten........................................................................................................................152

18. Hildegard Müller ◼◼

Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie und Wasserwirtschaft Deutschland braucht mehr Migranten mit guter Qualifikation.............................................. 160

19. Dr. Jochen Ruetz ◼◼

Mitglied des Vorstands der GFT Technologies AG Lösung des Fachkräftemangels der GFT Technologies AG............................................................168

20. Dr. Peter M. Rudhart ◼◼

Vorsitzender des Vorstandes des RKW e. V. Der Beitrag des RKW zur Verminderung des Fachkräftemangels im Mittelstand............. 176

Anhang Veröffentlichungen des RKW-Kuratoriums......................................................................................... 185 Mitglieder des RKW-Kuratoriums...........................................................................................................189



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Vorwort

RKW-Kuratorium, Dr. Otmar Franz (Hrsg.)

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Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration

Dr. Otmar Franz Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration Auf Einladung unseres Kuratoriumsmitglieds Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, haben sich die Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Gewerkschaftler des RKW-Kuratoriums in ihrer Sitzung am 8. November 2011 mit dem Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration auseinandergesetzt. In diesem 20. Jahresband des RKW-Kuratoriums werden die Beiträge von RKW-Kuratoriumsmitgliedern zu diesem Thema vorgelegt. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung Prof. Dr. Annette Schavan MdB konzen­ triert sich in ihrem Beitrag auf die Sicherung von Fachkräften durch Bildung. Die Sicherung des Fachkräftebedarfs gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Zukunftsvorsorge für unsere Volkswirtschaft. Der demographische Wandel stellt vor allem kleine und mittlere Unternehmen vor große Chancen und Herausforderungen. Annette Schavan schildert die vielfältigen Initiativen der Bundesrepublik, wobei allerdings – wie sie zu Recht ausführt – wichtiger als alle Programme oder gesetzliche Regelungen ein Wechsel der Mentalität ist. Edelgard Bulmahn MdB, Bundesministerin für Bildung und Forschung in den Jahren 1998 bis 2005, fordert vor allem, die vorhandenen Potenziale zu nutzen. Zunehmende Engpässe für die Nachfrage nach Fachkräften können in den nächsten 15 bis 20 Jahren durch eine gezielte Bildungs-, Arbeitsmarkt- und betriebliche Personalpolitik abgefedert werden. Vor dem Hintergrund der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung ist aber, wie Edelgard Bulmahn ausführt, eine offensive Einwanderungspolitik notwendig. Der Staatsminister für Kultur und Medien Bernd Neumann stellt in den Mittelpunkt seiner Ausführungen den Fachkräftemangel der Kultur- und Kreativwirtschaft im demographischen Wandel. Die Integration ist für Bernd Neumann Schlüsselthema für Deutschland. Unsere wissensbasierte Exportwirtschaft ist in hohem Maße auf neue Ideen und die Präsenz in internationalen Märkten angewiesen. Wir würden wichtige Wachstumspotenziale verschenken, wenn wir nicht in genügendem Maße ausländische Fachkräfte für unser Land begeistern könnten.



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Der ehemalige Staatssekretär Friedhelm Ost, der von 1990 bis 1998 Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages war, weist darauf hin, dass eine Fachkräftelücke eine schwere Hypothek für die zukünftige Entwicklung unserer Wirtschaft wäre, da das ökonomische Potenzial unserer Volkswirtschaft nicht ausgeschöpft werden könnte. Einer erfolgreichen Integrationspolitik kommt – wie Friedhelm Ost ausführt – eine besondere Rolle zu. Die Unternehmen müssen die Notwendigkeit und Chance erkennen, sich für Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund zu öffnen. Dr. Angelika Niebler MdEP, die seit 1999 in den verschiedensten Funktionen Mitglied des Europäischen Parlaments ist, untersucht, inwieweit wir zur Beseitigung des Fachkräftemangels im deutschen Mittelstand eine europäische Lösung benötigen. Angelika Niebler ist überzeugt, dass Deutschland alleine nicht in der Lage sein wird, seinen Bedarf an Fachkräften in den kommenden Jahren zu sichern. Es ist wichtig, die Attraktivität des Standorts Deutschland für gut ausgebildete Fachkräfte zu nutzen. Erfreulicherweise hat die Europäische Union bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen, um die Suche nach ausländischen Fachkräften und deren Anstellung in den Mitgliedsstaaten zu erleichtern. Im zweiten Teil behandeln fünf Wissenschaftler des RKW-Kuratoriums aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln die Beziehungen zwischen Fachkräftemangel und Integration. RKW-Kuratoriumsmitglied Prof. Dr. Bernd Kriegesmann, Vorstandsvorsitzender des Instituts für angewandte Innovationsforschung in Bochum (IAI) und Präsident der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen, hat seinen Beitrag über die TalentMetropole Ruhr als regionaler Ansatz zur Überwindung der Fachkräftelücke gemeinsam mit Marcus Kottmann, Leiter der Abteilung Strategische Projekte der Westfälischen Hochschule und geschäftsführender Vorstand des IAI, und Michael Schmidt, Vorstandsvorsitzender der BP Europa SE, verfasst. Die Autoren lenken den Blick für Ansätze zur Fachkräftesicherung auf regionale Initiativen, wo noch Talentreservoire brachliegen. In zwei umfangreichen Abschnitten wird die TalentMetropole Ruhr als Vorbild für regionale Initiativen zur Fachkräftesicherung und als Perspektive für einen interessanten Business Case in der Fachkräftesicherung analysiert. Eine Profilierung der TalentMetropole Ruhr könnte in der Region neue Bildungs- und Berufschancen eröffnen.

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Der langjährige Rektor der Ruhr-Universität Bochum, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Maßberg, konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Qualifizierung zukünftiger Fachkräfte für mittelständische Unternehmen. Dramatische Auswirkungen sind zu erwarten, wenn das sich verringernde Potenzial der im erwerbsunfähigen Alter stehenden Menschen nicht voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, weil die qualitativen Voraussetzungen unzureichend sind. Fundament für die notwendige nachhaltige Erschließung des Humankapitals durch Qualifizierung und Integration ist – wie Wolfgang Maßberg herausstellt – eine effiziente Sprachförderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Der ehemalige Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin, Prof. Dr.-Ing. Dr. hc. mult. Günter Spur, zeigt in seinem Beitrag über innovationsfähiges Technologiemanagement den dramatischen Wandlungsprozess der mittelständischen Produktionswirtschaft auf, der entscheidend durch die Informationstechnik geprägt ist. Wie Günter Spur ausführt, beginnt Innovation damit, Begabungen zu finden und zu fördern. Für die Entwicklung und Nutzung aller geistigen Ressourcen ist eine nachhaltige Strategie erforderlich. Da das verfügbare Kreativitäts- und Bildungswissen der Engpass für den Fortschritt sein wird, muss die Förderung des Nachwuchses höchste Priorität erhalten. Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Rektor der HHL Leipzig Graduate School of Management, der von 2005 bis 2010 stellvertretender Ministerpräsident und Innovationsminister des Landes Nordrhein-Westfalen war, sieht in qualifizierter Zuwanderung eine Chance für den Mittelstand. In seinem Beitrag stellt Andreas Pinkwart die im November 2011 präsentierten Ergebnisse der „Hochrangigen Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung“, der er angehörte, vor, wobei die jüngsten Beschlüsse des Bundestages aus dem April 2012 zur Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinien berücksichtigt werden. Neben der verstärkten Förderung junger Menschen sollte man auch in der Gruppe der Erwachsenen nach „stillen Fachkräftereserven“ suchen. Aber auch eine gezielte und gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus der Europäischen Union und ein transparentes Punktesystem für Zuwanderung aus Drittstaaten sind notwendig.



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Daran knüpft der frühere Vorsitzende des Verwaltungsrats des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Dr. Eberhard Heinke, an. Er untersucht, inwieweit aktive Zuwanderungspolitik eine Lösung des Fachkräftemangels sein kann. Nach seiner Analyse der Auswirkungen des demographischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt stellt Eberhard Heinke konkrete Lösungsvorschläge vor. Neben einer Erhöhung der Lebensarbeitszeit und der Aktivierung inländischer Arbeitsreserven wird eine auf qualifizierte ausländische Arbeitskräfte ausgerichtete Zuwanderungspolitik gefordert. Kleine und mittlere Unternehmen müssen ihre Personalplanung, -weiterentwicklung und -rekrutierung professionalisieren und verstärkt auf Kooperationen zurückgreifen. Dazu gehören gemeinsame Kinderbetreuungseinrichtungen mehrerer Handwerksbetriebe oder gemeinsame Weiterbildungsaktivitäten. Natürlich sind für die Lösung des Facharbeitermangels nicht nur die Politik, die Rahmenbedingungen setzen muss, und die Wissenschaft gefragt. Wesentliche Anstrengungen sind von der Wirtschaft zu unternehmen, wobei die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Unternehmen und ihren Verbänden notwendig ist. Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, stellt die bessere Heranbildung von Migrantinnen und Migranten als Fachleute in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Menschen mit Migrationshintergrund sind für den deutschen Arbeitsmarkt „ein ungehobener Schatz an Potenzialen“. Jugendliche Migrantinnen und Migranten sind besser in das Bildungs- und Ausbildungssystem zu integrieren, nötig ist möglichst frühe individuelle Förderung. Dem Recht auf einen Schulabschluss muss das Recht auf eine Ausbildung folgen. Für die 1,5 Millionen Jugendlichen, die in den vergangenen Jahren ohne Berufsabschluss geblieben sind, ist eine breit angelegte Nachqualifizierung in einem anerkannten Beruf nötig. Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, ist davon überzeugt, dass kleine und mittlere Unternehmen von einem gesellschaftlichen Kurswechsel hin zu einer integrierenden Gesellschaft profitieren würden. Ein Ausgleich der Interessen muss gelingen. An den Beispielen Arbeitszeit, Gesundheit, Arbeitsorganisation und Ausbildung zeigt Michael Vassiliadis die Veränderungen des vergangenen Jahrzehnts und die Reaktionen und Zielsetzungen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie zu einer integrierenden Gesellschaft. Dazu gehören sektorale Bemühungen, mit denen es der chemischen Industrie gelingt, junge Menschen ohne Schulabschluss für die Ausbildung als

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Chemikant zu qualifizieren. Ein mühsamer, aber lohnender Prozess ist das Entwickeln neuer, innovativer Arbeitsmodelle zum Gegensteuern der zunehmenden Ressourcenknappheit „Mensch“. Andrea Kocsis, stellvertretende Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di setzt sich mit den Dimensionen des deutschen Fachkräftemangels und Gegenstrategien aus gewerkschaftlicher Sicht auseinander. Zunächst werden das deutsche Schulsystem und dessen Defizite sowie die Institutionen und Probleme der Berufsausbildung und der Weiterbildung analysiert. Als Beispiel eines strukturellen und gesellschaftlichen Defizits wird der Fachkräftemangel in der Pflege beleuchtet. Zur Behebung des Fachkräftemangels ist es – wie Andrea Kocsis ausführt – wichtig, an den jeweiligen Hemmnissen und Defiziten anzusetzen und kurzfristig mögliche Aktivitäten mit mittel- und langfristigen Strukturveränderungen zu verbinden. Bruno W. Köbele, der langjährige Vorsitzende der Gewerkschaft IB Bau, Präsident der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter und des Internationalen Bundes, zeigt konkrete Handlungsfelder zur Verminderung des Fachkräftemangels im Mittelstand auf. Ausgehend von den Empfehlungen des Bundeswirtschaftsministeriums für die betriebliche Personalpolitik von kleinen und mittleren Unternehmen erläutert und bewertet Bruno Köbele die zehn Handlungsfelder, die die Bundesagentur insbesondere für die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik identifiziert hat. Dazu gehören die Reduzierung der Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluss, die Erhöhung der Erwerbspartizipation von Frauen und vor allem das Vorantreiben der Ausbildung und Qualifizierung. Die Mittel für Förderprogramme für Jugendliche mit schlechteren Startchancen sind zu erhöhen. Harald Schartau, Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding AG, früher Wirtschaftsminister von NRW, plädiert für eine Mobilisierung der vorhandenen Ressourcen. Für die Aus- und Weiterbildung stellen sich zwei zentrale Aufgaben: den Zugang für „Schwächere“ besser organisieren und die Angebote für Abiturienten ausweiten. Kooperationen mit den Arbeitsagenturen und Kommunen und die Vergabe von Praktika sind – wie Harald Schartau ausführt – für jedes Unternehmen lohnende Investitionen in die Zukunft. Aber genauso wichtig wie Nachwuchsprogramme sind Investitionen in erfahrene Mitarbeiter vor Ort. Dem dient unter anderem das von der Georgsmarienhütte in Zusammenarbeit mit dem arbeitswissenschaftlichen Institut BI in Bochum begonnene Projekt „ergo-stahl“.



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Auch Dipl.-Ing. Otto Kentzler, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, richtet das besondere Augenmerk des Handwerks auf die ungenutzten Potenziale in Deutschland. Dazu gehören die vielen Migranten. Unter dem kurzen Nenner „Finden, Fördern, Festhalten“ fordert Otto Kentzler das Handwerk auf, alle Register zu ziehen, um so viele Menschen wie möglich für sich zu gewinnen, umfassend auszubilden und so eng wie möglich an sich zu binden. Die interkulturelle Öffnung des Handwerks wird mit der Imagekampagne „Bei uns zählt nicht, wo man herkommt, sondern wo man hinwill“ unterstützt. Das Handwerk setzt auf das engagierte Miteinander aller Menschen, wo immer sie herkommen. Dabei soll die berufsbegleitende Nachqualifizierung von An- und Ungelernten, die unter den Migranten stark vertreten sind, besonders gefördert werden. Die ehemalige Staatsministerin im Bundeskanzleramt Hildegard Müller, die jetzt Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie und Wasserwirtschaft (BDEW) ist, weist darauf hin, dass auf die mittelständische Wirtschaft mit ihrem überragend hohen Anteil an beschäftigten Fachkräften bei der Integration der Menschen eine besonders wichtige Rolle zukommt. Deutschland braucht aufgrund seiner demokratischen Entwicklung, wie Hildegard Müller ausführt, eine wachsende Zahl von Migranten mit möglichst guten Qualifikationen. Wir befinden uns schon heute in starker Konkurrenz vor allem zu englischsprachigen Ländern und müssen daher überflüssige Barrieren wie diskriminierende Vorschriften für die Anerkennung von Bildungsabschlüssen abbauen. Dr. Jochen Ruetz, Mitglied des Vorstands der GFT Technologies AG in Stuttgart, schildert, wie sich die GFT Technologies AG wegen des Facharbeitermangels frühzeitig auf die Notwendigkeit zur Internationalisierung eingestellt hat. GFT beschäftigt in den vom Fachkräftemangel am meisten betroffenen Ländern Europas primär hochqualifizierte IT-Experten. IT-Projekte mit geringeren Kommunikationsanforderungen werden über die „verlängerte Werkbank“ in Spanien und Brasilien durchgeführt. Der Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte im Bereich der Informationstechnologie wird sich weiter zuspitzen. Natürlich ist es sinnvoll, die Ausbildung und die Berufsperspektiven für Informatiker intensiver zu bewerben, den Anteil der Frauen zu erhöhen und die Zuwanderung von Experten aus anderen Ländern zu erleichtern. Aber derartige Aktivitäten werden – wie Jochen Ruetz ausführt – mittelfristig den demographischen Effekt nicht ausgleichen können.

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Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration

Dr. Peter M. Rudhart, Vorsitzender des Vorstands des RKW e. V., schildert in seinem Aufsatz den Beitrag des RKW zur Verminderung des Fachkräftemangels im Mittelstand. Den Mitgliedern des RKW-Kuratoriums aus Politik, Wissenschaft, Unternehmen und Gewerkschaften danke ich für ihre Aufsätze zum wachsenden Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand. Die Anregungen fließen in die Arbeit des RKW – Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft ein. Die unterschiedlichen Vorschläge zeigen, dass es für den wachsenden Mangel von Fachkräften für den deutschen Mittelstand keine Patentlösung gibt. Ein enger Diskurs von Politik, Wissenschaft, Unternehmen und Gewerkschaften wird notwendig sein, um negative Auswirkungen zu vermeiden. Dafür bietet das RKW auch in Zukunft eine Plattform.



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I. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration aus Sicht der Politik

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Prof. Dr. Annette Schavan MdB Fachkräfte sichern durch Bildung – Kleine und mittlere Unternehmen vor Chancen und Herausforderungen Die demographische Herausforderung Der demographische Wandel wird unser soziales Miteinander und die wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten besonders prägen. Die Deutschen werden älter und weniger, die Biographien „bunter“. „Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob sich [an dieser Entwicklung] etwas ändern wird, sondern was daraus gemacht wird“, heißt es in der Ende April 2012 von der Bundesregierung verabschiedeten Demographiestrategie „Jedes Alter zählt“. Der demographische Wandel stellt uns vor ganz unterschiedliche Herausforderungen: Welche Infrastruktur ist für eine kleiner werdende Bevölkerung noch notwendig? Wie kann in einer alternden Gesellschaft die Versorgung von Seniorinnen und Senioren sichergestellt werden? Wie gelingt die Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschaft? Das sind nur einige wenige Fragen, mit denen wir uns beschäftigen und auf die wir Antworten finden müssen. Doch die demographischen Veränderungen werden nicht erst in fünf oder zehn Jahren konkret. In einigen Regionen Ostdeutschlands, die vom Bevölkerungsrückgang besonders stark betroffen sind, werden schon heute Schulen zusammengelegt oder ganz geschlossen. Kommunale Verwaltungsstrukturen werden an die neuen Gegebenheiten angepasst. Gebäudeleerstände nehmen zu. In manchen Regionen müssen wir in den nächsten Jahren mit einem Rückgang der Bevölkerung von bis zu 20 Prozent rechnen. In den Ballungsgebieten wird gleichzeitig die Bevölkerung wachsen. In diesen Regionen wird die Infrastruktur noch ausgebaut werden müssen.



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Trotz dieser differenzierten Befunde ist das Gesamtbild insgesamt eindeutig: Zukünftig wird unsere Gesellschaft aus weniger jungen und mehr älteren Menschen bestehen. Nach den Prognosen des Statistischen Bundesamtes wird die Gesamtbevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2060 auf 65 bis 70 Millionen Menschen zurückgehen. Im Jahr 2030 werden die 65-Jährigen und Älteren bereits rund ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Damit verbunden ist natürlich auch ein Rückgang der Erwerbsbevölkerung. Zugleich offenbaren die Prognosen, dass bis zum Jahr 2025 die Schülerzahlen um 2,1 Millionen sinken. Das ist ein Minus von knapp 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2009. Der Rückgang der Schülerzahlen wird sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirken. Wirtschaft und Verwaltung werden langfristig auf weniger junge Menschen zurückgreifen können. Das gilt für alle Beschäftigungsfelder – sowohl für Spitzenpositionen in Forschung und Wirtschaft wie auch für einfachere Tätigkeiten. Die Prognosen für den Fachkräftebedarf gehen bis zum Jahr 2025 von einem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials um etwa 6,5 Millionen Menschen aus. Davon werden besonders die Berufe im Gesundheitswesen und in Naturwissenschaft und Technik betroffen sein. Gerade in diesen Bereichen ist jedoch eine alternde Gesellschaft mit einer innovationsorientierten Volkswirtschaft auf geeignete Fachkräfte angewiesen. Fachkräftebasis sichern – inländische Potenziale nutzen Die Sicherung des Fachkräftebedarfs gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Zukunftsvorsorge für unsere Volkswirtschaft. Um bei einer kleiner werdenden Erwerbsbevölkerung nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen und unseren Wohlstand zu erhalten, müssen wir das kostbarste Gut unseres Landes – das Wissen und Können der hier lebenden Menschen – in bester Weise einsetzen. So rückt in das Zentrum der Politik, die Fähigkeiten und Talente jeder und jedes Einzelnen unabhängig von Herkunft und sozialem Hintergrund zu fördern.

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Genau hier setzt das Fachkräftekonzept der Bundesregierung vom Sommer 2011 an. Die Maßnahmen der Bundesregierung richten sich an alle Zielgruppen des Arbeitsmarktes. Dazu gehören sowohl die Ausbildung von jungen Menschen als auch die Qualifizierung von anderen Alters- und Qualifikationsgruppen. Notwendig ist die langfristige Sicherung der Fachkräftebasis durch frühzeitige und dauerhafte Qualifizierung. Dieser Prozess beginnt bei der frühkindlichen Bildung, findet seine Fortsetzung in Schule sowie Berufsausbildung und Hochschule und reicht bis zur Weiterbildung. Große Potenziale zur Gewinnung von Fachkräften gibt es insbesondere bei älteren Arbeitnehmern, Migranten und Frauen. Fachkräftebasis sichern – Zuwanderung gestalten Vorrangig müssen wir dabei die Menschen in unserem Land nutzen und ihre Potenziale weiterentwickeln. Das allein wird aber nicht ausreichen, um die demographische Entwicklung zu bewältigen. Umgekehrt kann allerdings auch die Zuwanderung den demographischen Wandel nicht allein auffangen. Dazu wäre ein jährlicher Zuzug von einer halben Million Menschen erforderlich. Zuwanderung kann aber die Folgen des demographischen Wandels abmildern helfen. Selbstverständlich ist mit Zuwanderung mehr verbunden als nur der Zuzug qualifizierter Fachkräfte. Es kommen nicht Träger von Qualifikationen zu uns, sondern Menschen mit einem individuellen kulturellen Hintergrund und mit familiären Bindungen. Deshalb müssen wir Zuwanderung aktiv und bewusst gestalten. Der Integrationsbeirat der Bundesregierung hat deshalb in seiner Erklärung „Working and living in Germany – Your Future“ (2012) gefordert, Deutschland müsse das deutliche Signal an die Besten der Welt geben, dass sie in unserem Land willkommen sind und gebraucht werden. Mit den neuen Regelungen zur Zuwanderung von Hochqualifizierten gibt die Bundesregierung ein solches Signal: Die sogenannte Vorrangprüfung für Ärzte und einige Ingenieurberufe wird aufgehoben. Auch ausländische Absolventen deutscher Hochschulen können damit leichter eine Stelle annehmen und sich in Deutschland niederlassen.



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Gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirtschaft und Sozialpartnern Die spezifische Stärke der deutschen Volkswirtschaft liegt in der großen Bandbreite der Qualifikationen: Facharbeiter, Meister, Techniker, Ingenieure und Betriebswirte sorgen für hohe Prozess- und Produktqualität. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet unser bewährtes und zukunftsfähiges System der dualen beruflichen Bildung. Diesen Wettbewerbsvorteil wollen wir nutzen, damit unsere Volkswirtschaft im globalen Wettbewerb auch weiterhin eine so hervorragende Rolle einnehmen kann. Nur im engen Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Sozialpartnern können wir die Fachkräftebasis durch Qualifizierung und Zuwanderung sichern. Die Rahmenbedingungen so weiterzuentwickeln, dass sich dadurch der Fachkräftebedarf langfristig decken lässt, ist Aufgabe des Staates. Zu den Aufgaben der Wirtschaft gehört, junge Menschen für ihren Qualifikationsbedarf auszubilden und ihren Mitarbeitern Möglichkeiten kontinuierlicher Weiterbildung zu bieten. Nur die Unternehmen selber können ihren eigenen Fachkräftebedarf feststellen; sie stehen hier in der Verantwortung. Ungeachtet dieser klaren Arbeitsteilung brauchen alle Beteiligten den engen Austausch. Verbände können dabei die Interessen von Unternehmen bündeln und in die Debatte mit der Politik einbringen. Die Politik baut auf die praktische Erfahrung in den Unternehmen, um ihre Maßnahmen und Programme passgenau weiterentwickeln zu können. Kleine und mittlere Unternehmen in den Blick nehmen In der Diskussion um Zuwanderung richtet sich der Blick meist auf große Unternehmen und international agierende Konzerne, die sehr oft über eigene Forschungs- und Entwicklungskapazitäten verfügen. Die deutsche Volkswirtschaft wird aber wesentlich von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) getragen. KMU sind häufig Treiber von Produkt- und Prozessinnovationen und in ihren Produktnischen vielfach weltweite Marktführer. Zugleich stehen KMU im intensiven Wettbewerb mit großen Firmen um qualifizierte Fachkräfte. Vielen jungen Menschen scheint eine berufliche Laufbahn in einem Großunternehmen attraktiver, weil sie auf den ersten Blick bessere Aufstiegschancen und eine größere Arbeitsplatzsicherheit verspricht. Dabei wird häufig außer Acht gelassen, dass der Gestaltungsspielraum in überschaubaren Strukturen meist sehr viel größer ist und die Bindung an ein mittelständisches Unternehmen attraktive und verantwortungsvolle berufliche Perspektiven eröffnet.

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Naturgemäß fällt es kleinen und mittelgroßen Betrieben schwerer, eigene Personalmarketingsund Betriebsbindungsstrategien zu entwickeln und erfolgreich zu implementieren. Dabei sind Unternehmenskulturen nötig, die alle Alters- und Berufsgruppen ansprechen. Nur so können mittelständische Betriebe mit dem absehbaren Mangel an Fachkräften, dem ansteigenden Altersdurchschnitt und der größeren Unterschiedlichkeit ihrer Belegschaften effektiv umgehen. Sie benötigen praktisch handhabbare Instrumente zur Bewältigung der Auswirkungen des demographischen Wandels, um die Personallage erkennen und entsprechend der jeweils spezifischen lokalen Gegebenheiten agieren zu können. So kann die Arbeitsfähigkeit von Mitarbeitern, zum Beispiel durch gezielte Weiterbildung, sichergestellt werden. Angebote wie diese tragen auch dazu bei, neue Mitarbeiter zu gewinnen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, die unterschiedlichen Voraussetzungen und Interessen der Belegschaftsmitglieder zu berücksichtigen. Vielfalt in den Belegschaften nutzen Wie die Gesellschaft insgesamt, wird auch die Zusammensetzung von Belegschaften bunter werden. Altersunterschiede nehmen zu und der Frauenanteil wird weiter steigen. Das frühere Idealbild des unverheirateten flexiblen jungen Mannes hat als Leitbild für das Personalmanagement ausgedient. Die Betriebe stehen vor der Aufgabe, unterschiedlichen Ansprüchen der Belegschaft gerecht zu werden, um weiterhin als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Der Umgang mit Diversität und das Management dieser Vielfalt ist die zentrale Zukunftsaufgabe für das betriebliche Personalmanagement. Das gilt für flexible Arbeitszeiten genauso wie für die Verbindung von Familie und Beruf sowie für durchlässige Strukturen in den Betrieben. Gerade diese drei Punkte sind wichtig für die Beschäftigung von jungen Frauen. Sie sollen sich aber nicht nur auf die klassischen weiblichen Beschäftigungsfelder ausrichten, sondern gerade ihren Blick für die Chancen im MINT-Bereich öffnen. Die Bunderegierung unterstützt dies durch den jährlich stattfindenden „Girls’ Day“, der das Interesse von Mädchen und jungen Frauen an technischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Berufen, Studiengängen und Tätigkeitsfeldern wecken soll. Mit dem Nationalen Pakt für mehr Frauen in MINT-Berufen haben sich fast 100 Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung, Politik, Verbänden, Sozialpartnern und Medien das Ziel gesetzt, technisch begabte und interessierte Schülerinnen anzusprechen und zu fördern, den Anteil der Studienanfängerinnen in naturwissenschaftlich-technischen



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Fächern zu steigern und den Frauenanteil bei Neueinstellungen im MINT-Bereich zu erhöhen. Außerdem soll der Anteil an Frauen in Führungspositionen angehoben werden. Durch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf lassen sich mehr junge Frauen für den Arbeitsmarkt gewinnen. Aber auch immer mehr junge Männer wollen eine berufliche Tätigkeit mit der Gründung einer Familie verbinden. Auch deshalb fördert die Bundesregierung den bedarfsgerechten und qualitätsorientierten Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren. Dabei ist unbestritten, dass gerade in den westlichen Bundesländern ein Nachholbedarf besteht. Betriebe können hierbei mit eigenen Angeboten der Kinderbetreuung unterstützend tätig sein und mit diesem Angebot für die Mitarbeiter besonders attraktiv werden. KMU könnten solche Angebote auch in einem Verbund mit anderen Unternehmen ihrer Größe in ihrer unmittelbaren Umgebung entwickeln. Flexiblere Arbeitszeitmodelle kommen auch älteren Arbeitnehmern entgegen, um beispielsweise einen veränderten Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. Wichtig ist ein neues gesellschaftliches Bewusstsein für einen altersgerechten Personaleinsatz, um gesundheitliche Belastungen zu verringern und einen längeren Verbleib im Arbeitsleben zu ermöglichen. Damit verbunden ist neben der betrieblichen Gesundheitsfürsorge die Weiterbildung. Als Teil eines Prozesses des lebenslangen Lernens ermöglicht die Weiterbildung von älteren Arbeitnehmern betriebliche Innovationen und fördert zugleich die Arbeitszufriedenheit. Den technologischen oder organisatorischen Wandel anzunehmen fällt den Mitarbeitern leichter, wenn sie an neue Rollen und Aufgaben herangeführt und dafür qualifiziert werden. In vielen Betrieben hat sich die Weiterbildung bisher vor allem an Nachwuchs- und Führungskräfte gerichtet. Der Wandel der Alterszusammensetzung der Belegschaften macht es nun zunehmend erforderlich, verstärkt ältere Mitarbeiter mit ihren langjährigen und umfangreichen Erfahrungen einzubeziehen. Die Bundesregierung unterstützt die individuelle Weiterbildungsbereitschaft gezielt mit der im Jahr 2008 eingeführten Bildungsprämie. Die Prämie hat sich als voller Erfolg erwiesen. Insbesondere Frauen (76 Prozent) und Angestellte in KMU (90 Prozent) nehmen die Förderung gerne in Anspruch.

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Jungen Menschen Chancen zur Entfaltung geben Alle Maßnahmen zur Fachkräftesicherung werden nur dann Erfolg haben, wenn junge Menschen ihre Potenziale entfalten können. Die Chancen, in den Beruf einzusteigen, werden sich verbessern, denn langfristig wird eher von einem Mangel an Auszubildenden auszugehen sein. Mit zu der Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt beigetragen hat der „Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“ zwischen Bundesregierung und Wirtschaft. 2011 ist die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge um rund 21.000 (+ 4,5 Prozent) auf über eine halbe Million angestiegen. Auch die hohe der Zahl der Studienanfänger in den vergangenen Jahren zeigt, dass junge Menschen ihre Chancen ergreifen und nach guten beruflichen Qualifikationen in den Hochschulen oder der beruflichen Bildung streben. Wir werden dennoch weiterhin mit einer Gruppe von jungen Menschen zu rechnen haben, die sich mit den schulischen und betrieblichen Anforderungen einer Ausbildung schwertut. Ein besonderes Anliegen muss uns dabei die Senkung der Schulabbrecherquote sein. Bund und Länder haben in ihrer gemeinsamen, auf dem Bildungsgipfel im Herbst 2008 in Dresden beschlossenen Qualifizierungsinitiative für Deutschland vereinbart, diese Quote bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Dabei können schon erste Erfolge verzeichnet werden. Die Schulabbrecherquote ist zwischen 2007 und 2010 von 7,7 Prozent auf 6,5 Prozent gesunken. Darüber hinaus müssen wir den Übergang von der Schule in den Beruf reibungsloser gestalten. Schulische Misserfolge, gering ausgeprägte Berufsvorstellungen sowie fehlende individuelle Begleitung können zur Wahl eines falschen Ausbildungsplatzes, Frustration und vorzeitigem Abbruch der Ausbildung führen. Wertvolle Lebenszeit geht dabei verloren. Deshalb brauchen gerade junge Menschen aus bildungsfernen Milieus individuelle Begleitung. Neben weiteren Programmen setzt die neue Initiative „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hier an, mit der 1.000 hauptamtliche Bildungslotsen Jugendlichen bei der Berufsorientierung und Berufswahl, beim Erreichen des Schulabschlusses und beim Einstieg in und während der Berufsausbildung zur Seite gestellt werden. Weitere rund 1.000 ehrenamtliche Senior-Experten – das heißt Praktiker mit Berufserfahrung – werden zur Betreuung während der Berufsausbildung und zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen eingesetzt.



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Insbesondere KMU übernehmen hier eine wichtige Aufgabe. Sie verfügen aufgrund ihrer Größe und der damit verbundenen Nähe zwischen den Mitarbeitern und den Führungskräften über gute Voraussetzungen, um jungen Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf eine Chance zu geben. KMU sind vor Ort gut vernetzt und können so schon frühzeitig mit den Schulen in Kontakt treten, um junge Menschen an ihr Unternehmen und eine Ausbildung heranzuführen. Auch wenn diese jungen Frauen und Männer vielleicht nicht immer ganz leicht zu integrieren sind, eröffnet sich auch mit ihnen für KMU die Chance, den eigenen Fachkräftenachwuchs auszubilden und früh an sich zu binden. Zudem leisten sie so einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Ausländische Fachkräfte integrieren Eine ähnliche Herausforderung ist die Integration von in Deutschland lebenden Migranten und von zukünftigen Zuwanderern in den Arbeitsmarkt. Letzteres kann nur gelingen, wenn die Integration als eine der großen gesellschaftlichen Aufgaben begriffen und vorangetrieben wird. Nur dann wird die Zuwanderung von neuen Fachkräften auch auf die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung treffen. Von zentraler Bedeutung ist das am 1. April 2012 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen. Das Anerkennungsgesetz stellt nachvollziehbare einheitliche Bewertungen für im Ausland erworbene Qualifikationen sicher. Die Verfahren zur Anerkennung wurden einfacher und transparenter gestaltet. Ergänzend hat die Bundesregierung die Information von Anerkennungssuchenden und über die Anerkennungspraxis verbessert. Das Gesetz schafft erstmals einen Rechtsanspruch auf ein Verfahren zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen – und zwar für alle, unabhängig vom Herkunftsland, und innerhalb von drei Monaten nach Einreichen der erforderlichen Unterlagen. Schätzungsweise 300.000 Frauen und Männer in unserem Land werden von der Regelung profitieren können.

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Damit wurde ein Instrument geschaffen, um die beruflichen Potenziale vieler schon in Deutschland lebender Migranten wie auch zukünftiger Zuwanderer besser nutzen zu können. Das neue Gesetz unterstreicht den Respekt vor den Qualifikationen von Migranten in Deutschland. Das Gesetz leistet damit einen wichtigen Beitrag sowohl zur Sicherung der Fachkräftebasis wie auch zur Integration von Migranten in Deutschland. Vielfach konnten sie ihre akademischen oder beruflichen Qualifikationen aus ihren Heimatländern nicht nutzen und waren unter ihren persönlichen Möglichkeiten beschäftigt. Die neue Anerkennungsregelung trägt zur Entwicklung einer Willkommenskultur in Deutschland bei. Darüber hinaus wird die EU-Hochqualifizierten-Richtlinie (Blue Card) die anschließende Beschäftigung von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen erleichtern, so dass sich etwa aus studienbegleitenden Betriebspraktika langfristige berufliche Anschlüsse entwickeln können. Doch nur wenn sich unsere Gesellschaft offen zeigt, werden auch mehr qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland ihre berufliche Zukunft suchen. Die Schaffung von gesetzlichen Regelungen ist dabei nur eine Seite der Medaille. Notwendig ist auch die gelebte Offenheit für Menschen mit anderer kultureller Herkunft und anderen Ausbildungswegen. Zugewanderte Fachkräfte brauchen die Anerkennung und das Gefühl, wirklich willkommen zu sein. KMU, die in ihrem regionalen Umfeld gut verankert sind, können zusammen mit Vereinen, Schulen und kommunalen Einrichtungen Fachkräften aus dem Ausland und ihren Familien den Start in Deutschland erleichtern. Notwendig ist ein Bewusstseinswandel, um ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur als eine weitere Herausforderung, sondern als einen Gewinn für die eigene Unternehmenskultur zu begreifen. Neben ihren Sprachkenntnissen bringen ausländische Fachkräfte ihre kulturellen Kompetenzen sowie ihre Bereitschaft zur Mobilität und zur Innovation mit. Wer sein Heimatland verlässt, um in einer anderen Kultur und in einem neuen Umfeld, das besondere sprachliche Anforderungen an den Einzelnen stellt, beruflich tätig zu werden, bringt diesen Geist auch mit in das Unternehmen ein. Der Integrationsbeirat der Bundesregierung regt in seinem jüngst gefassten Beschluss an, dass die Betriebe darauf mit einer gezielten Steigerung der interkulturellen Kompetenz ihrer Führungskräfte und mit Mentoringprogrammen für die neuen Mitarbeiter reagieren.



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Mentalitätswechsel einleiten Die Sicherung der Fachkräftebasis ist ein langfristiger Prozess, bei dem verschiedene Faktoren ineinandergreifen müssen. Im Bildungsprozess müssen mehr junge Menschen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Beteiligung am Arbeitsmarkt erlangen, zudem muss Weiterbildung eine größere Selbstverständlichkeit im Lebens- und Berufsverlauf werden. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, ihre Personalrekrutierungspolitiken zu überprüfen und neue Zielgruppen in den Blick zu nehmen. Zuwanderung muss selbstverständlicher Teil der Fachkräftegewinnung werden. Dazu müssen Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft ihren Beitrag leisten und zusammenwirken. Wichtiger aber als alle Programme oder gesetzlichen Regelungen ist ein Wechsel der Mentalität: Nicht mehr primär die qualifizierten Fachkräfte werden eine Arbeit suchen, vielmehr werden die Unternehmen die Fachkräfte für sich gewinnen müssen. Das gilt sowohl für schon in Deutschland lebende Fachkräfte wie auch für potenzielle Zuwanderer. Insbesondere KMU leisten einen wichtigen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag. Sie bleiben damit auch weiterhin Rückgrat und Garant des Wohlstandes in Deutschland.  

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Edelgard Bulmahn MdB Potenziale für die Verminderung des Fachkräftemangels nutzen Aktuelle Situation Entgegen vielen Meldungen aus den Nachrichten gibt es in Deutschland zurzeit keinen generellen Fachkräftemangel. Das deutsche Institut für Wirtschaft in Berlin untersuchte verschiedene Faktoren wie die Lohnentwicklung, die Arbeitsmarktzahlen sowie die Ausbildungssituation und kam zu dem Schluss, dass Deutschland nur in bestimmten Branchen an einem Fachkräftemangel leidet. So ist die Zahl der Arbeitssuchenden bei fast allen Fachkräften höher als die Zahl der zu besetzenden Stellen. Nur vereinzelt trifft diese Beobachtung nicht zu, wie zum Beispiel bei Elektroinstallateuren, Ärzten oder beim Pflegepersonal.¹ Es muss jedoch bedacht werden, dass viele arbeitslose Fachkräfte erst Zusatzqualifikationen benötigen, bevor sie für die freien Stellen qualifiziert sind. Die Ausbildungssituation ist widersprüchlich. Zwar steigen die Zahlen der Studierenden (2010 lag die Studienanfängerquote bei 46 Prozent)², doch die Fächer im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) bereiten noch Sorge. Hier gibt es unterschiedliche Entwicklungen: Im Bereich des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnik ist die Zahl der Studienanfänger 2011 um ein Fünftel im Gegensatz zum Vorjahr gestiegen.³ Die Fachrichtungen Mathematik, Chemie oder Biologie erhielten ebenfalls mehr Zulauf, Informatik und Humanmedizin stagnierten, was bei letzterem Fach auf die begrenzte Anzahl an Studienplätzen zurückzuführen ist.⁴ Entgegen den Klagen der Unternehmerverbände ist bei den Ingenieuren der Bedarf aber gedeckt. Er wird momentan jährlich auf rund 30.000 Ingenieure geschätzt. 50.000 Ingenieursabsolventinnen und -absolventen verließen allein 2010 die Universitäten.⁵ Kurzfristig scheint der Generationenwechsel hier also gesichert.



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Im Bereich der Ausbildung sind die Unternehmen in der Lage, das Arbeitskräfteangebot über die Zahl und Qualität ihrer Lehrstellen selbst zu beeinflussen. Der Anteil an ausbildenden mittleren Unternehmen liegt bei 69,8 Prozent, zählt man jedoch Klein- und Kleinstbetriebe dazu, fällt er auf 23,6 Prozent.⁶ Die Betriebe sind aber nicht immer in der Lage, all ihre Ausbildungsstellen überhaupt zu besetzen. Bundesweit gibt es mehr offene Ausbildungsstellen als unversorgte Bewerberinnen und Bewerber, besonders in den neuen Bundesländern.⁷ Die Nachfrage-Angebots-Relation ist allerdings regional höchst unterschiedlich. Dies ist aber auch auf die unzureichende Ausbildungsbereitschaft des Mittelstandes zurückzuführen, Schülerinnen und Schülern mit schlechteren Bildungsabschlüssen auch eine Ausbildungschance zu geben. Nicht immer also kann für die Probleme bei der Stellenbesetzung der demographische Wandel zum Sündenbock gemacht werden. Am Beispiel der Altenpflege wird eine weitere Entwicklung für den Fachkräftemangel deutlich, der hier unter anderem durch zu niedrige Bezahlung und zu schlechte Arbeitsbedingungen entsteht.⁸ Auch die weiterhin niedrige Vollerwerbsquote von 28 Prozent⁹ bei Frauen birgt ebenfalls noch viel Potenzial. Zukünftige Entwicklungen Die mittelfristige Fachkräfteentwicklung wird von drei wesentlichen Faktoren beeinflusst. Erstens: dem demographischen Wandel, der zu einem überproportional starken Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter führt. Zweitens: dem wirtschaftlichen Strukturwandel hin zu wissensintensiven Industrien und Dienstleistungen. Drittens: der im internationalen Vergleich zu geringen Dynamik des deutschen Bildungssystems. Der demographische Wandel wird in naher Zukunft gravierende Veränderungen in der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt verursachen. Aufgrund der zunehmenden Zahl von Renteneintritten und Pensionierungen starker Geburtenjahrgänge wird der Fachkräftemangel verstärkt beziehungsweise in weiteren Branchen eintreten. Die Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren wird um rund ein Drittel (33 Prozent) von 16,7 Millionen im Jahr 2008 auf 22,3 Millionen Personen im Jahr 2030 ansteigen.¹⁰ Das Institut für Arbeitsmarkt- und

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Berufsforschung in Nürnberg schätzt, dass sich das Erwerbspersonenpotenzial bis 2025 um 3,5 Millionen Menschen verringern wird.¹¹ Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird nicht ausreichen, um die aktuelle Zahl an Erwerbspersonen zu halten. Der Ausbildungsbereich steht vor etlichen Herausforderungen. Die Nachfrage nach Lehrstellen ist schon jetzt rückläufig und wird auch in Zukunft weiter abnehmen. Die Berufe, in denen ein erheblicher zusätzlicher Bedarf erwartet wird, müssen vermehrt auf dem Ausbildungsmarkt angeboten werden. Auch muss sichergestellt werden, dass es genügend Jugendliche gibt, die fähig sind, eine anspruchsvolle Ausbildung zu absolvieren.¹² Die Qualifikationsanforderungen der Unternehmen an Mitarbeiter werden steigen, speziell an Fachkräfte.¹³ Hier werden vorhandende Stellen in absehbarer Zeit nicht mehr von den nachfolgenden Alterskohorten besetzt werden können.¹⁴ Dies kann vor allem in den Branchen, die für Innovation und Wachstum hohe Relevanz besitzen, sowie im Mittelstand zu Hemmnissen führen. Probleme, Stellen zu besetzen, wird es jedoch nicht nur auf der akademischen Stufe, sondern auch in den mittleren Qualifikationsstufen geben. Qualifizierte Pflegekräfte und Facharbeiter werden wie Ärzte und Ingenieure fehlen.¹⁵ Problem speziell des Mittelstandes Gerade der Mittelstand in Deutschland wird die Auswirkungen des Fachkräftemangels zu spüren bekommen. In der Konkurrenz mit den Großunternehmen ziehen die mittelständischen Unternehmen oft den Kürzeren bei der Deckung ihrer Nachfrage an Fachkräften. Geringere finanzielle und personelle Ressourcen verstärken mögliche Folgen eines Fachkräftemangels und sorgen beim Mittelstand für weniger Ausweichoptionen als bei den Großunternehmen.¹⁶ Es fehlt die Möglichkeit des betriebsinternen, zum Teil internationalen Austauschs von Personal, um Engpässe zu vermeiden.¹⁷ Auch spürt der Mittelstand mangelnde Bildungsqualität der Schulabgänger deutlich stärker, da sich Absolventen teilweise eher den Großunternehmen zuwenden.



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Zuwanderung und Integration: Aktuelle Lage der Zuwanderung Fachkräfte innerhalb der Europäischen Union können ohne große Beschränkungen freie Arbeitsstellen in Deutschland annehmen. Im April wurde auch für Nicht-EU-Länder die sogenannte Vorrangsprüfung für hochqualifizierte Arbeitskräfte ausgesetzt. Dadurch wurde die Einstellung hochqualifizierter ausländischer Fachkräfte für Unternehmen deutlich erleichtert. Die Unternehmen müssen vor der Einstellung eines Bewerbers aus dem nichteuropäischen Ausland nicht länger nachweisen, dass es keinen geeigneten Bewerber im Inland gab. Es wurde ein neuer Aufenthaltstitel die „Blaue Karte EU“ für Ausländer mit Hochschulabschluss oder vergleichbarem Abschluss eingeführt. Sie müssen ein Arbeitsverhältnis und eine jetzt um ein Drittel reduzierte Gehaltsschwelle von 44.800 Euro nachweisen. Bei Mangelberufen, wie beispielsweise bei Ingenieuren, ist die Stufe niedriger (hier liegt sie bei 35.000 Euro). Die Blue-Card-Inhaber bekommen nach drei Jahren, sofern sie einen Arbeitsvertrag nachweisen können, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Zuwanderung und Integration sind Themen, die unsere Gesellschaft auch weiterhin beschäftigen werden. Kulturelle Vielfalt ist eine wichtige Ressource unseres Landes, gerade vor dem Hintergrund der Exportorientierung vieler deutscher Unternehmen. Zuwanderer sorgen für neue Sichtweisen und vermitteln Wissen und Kenntnisse über andere Länder. Damit wird Vielfalt zu einer Standortfrage für Deutschland, der sich noch nicht alle Unternehmen gestellt haben. Eine Kultur, die Heterogenität als Stärke und nicht als Schwäche bewertet, entwickelt sich nur langsam in den Unternehmen wie auch in unserer Gesellschaft insgesamt. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung ist eine offensive Einwanderungspolitik notwendig. Eine gezielte, gesteuerte Einwanderung, zum Beispiel mit Hilfe eines Punktesystems, sollte daher rechtlich ermöglicht und gesellschaftlich unterstützt werden.

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Warum Zuwanderung nicht alles ist In Europa gibt es 200 Millionen potenziell Erwerbstätige, viele davon sind trotz guter Qualifikationen arbeitslos. Freie Stellen wären also zu besetzen, ohne auf Zuwanderung außerhalb des EU-Raumes zurückgreifen zu müssen. Doch stellt sich neben der Frage nach den Zuwanderungszielen auch die Frage nach der Integration in die deutsche Gesellschaft. Knapp 3 Millionen Menschen in Deutschland haben einen ausländischen Bildungsabschluss.¹⁸ Ein Problem ist die fehlende Anerkennung ihrer Qualifikation. Viele Einwanderer müssen dadurch unterhalb ihres Qualifikationsniveaus arbeiten. Nicht selten tragen hierzu auch Lobbygruppen bei, die Branchen vor außerdeutscher Konkurrenz schützen wollen.¹⁹ Eine bessere Anerkennung von Bildungsabschlüssen, gezielte Weiterbildung und zusätzliche Qualifikationsmodule anzubieten könnten hier zu einer deutlichen Verbesserung der Situation führen. Wissen und Fähigkeiten könnten besser genutzt werden, wenn durch ein verbessertes Anerkennungsgesetz jeder Einwanderer spätestens nach drei Monaten weiß, ob seine ausländischen Berufsabschlüsse in Deutschland anerkannt werden. Niedrige Antragsgebühren, kostenfreie Beratungsgespräche und Angebote von spezifischen Aufbau- und Weiterbildungsmodulen müssen hinzukommen. Vor dem Hintergrund des drohenden Fachkräftemangels können wir nicht auf gut ausgebildete Arbeitskräfte verzichten. Mittelständische Unternehmen erhalten flexiblere Möglichkeiten bei der Suche nach Fachkräften durch die Anerkennung eines Abschlusses unter Vorbehalt, bei berufsbegleitenden Nachqualifizierungen sowie der Teilanerkennung mit dem Recht auf Anpassungsqualifizierungen. Dabei dürfen aber weder den Migranten noch dem Mittelstand allein die Kosten von Anpassungslehrgängen aufgebürdet werden. Zu verhindern gilt es, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Lohnsenkung missbraucht werden. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, faire Grundlagen der Leiharbeit und eine umfassende Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.



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Es gibt aber auch noch andere Ursachen: Das zu geringe Angebot zum Beispiel an Pflegekräften lässt sich etwa darauf zurückführen, dass zu wenig ausgebildet wird, der Lohn gerade für eine physisch wie psychisch anspruchsvolle Tätigkeit zu niedrig ist und dass deshalb viele Fachkräfte diese Tätigkeit nach wenigen Jahren wieder aufgeben. Nur wenn systematisch alle Faktoren berücksichtigt und verändert werden, wird sich die Gesamtsituation verbessern. Insgesamt muss festgehalten werden, dass Bildung der wichtigste Schlüssel für erfolgreiche Integration und das wirksamste Mittel gegen Fachkräftemangel ist. Probleme, die in Deutschland gelöst werden müssen, sind Bildungsarmut, die sich verfestigt und vererbt. Der Bildungsbericht 2012 warnt zu Recht vor gesellschaftlichen Folgen der hohen Zahl von nicht ausgebildeten Jugendlichen. Wenn ein Fünftel eines Jahrgangs auf dem Arbeitsmarkt aufgrund mangelhafter Bildung chancenlos ist, dann ist dies nicht nur gesellschaftspolitisch ein Armutszeugnis, sondern auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ein großer Verlust. Die mangelnde Aufstiegsmobilität von geringqualifizierten Arbeitnehmern, insbesondere von Frauen in personalbezogenen Dienstleistungsbereichen, sowie die Berufsfalle Minijob für qualifizierte Frauen, obwohl laut Umfragen viele Frauen länger und mehr arbeiten möchten, stellen weitere Probleme dar. Wir haben deutlich mehr Möglichkeiten, einen hohen Bedarf an Fachkräften durch Menschen zu decken, die bereits in Deutschland und auch in Europa leben. Durch bessere Ausbildung, durch bessere Weiterbildung, durch bessere Integration, durch eine bessere Arbeitsmarktpolitik, kurzum: indem wir unsere Potenziale nutzen. Potenziale nutzen: Für einen guten Start sorgen Wer gute Bildungschancen und eine erfolgreiche Berufsausbildung gewährleisten will, muss die Weichen dafür früh stellen. Die Freude am Lernen und der Tatendrang wollen früh geweckt sein. Eine gut ausgebaute, pädagogisch hochwertige frühkindliche Förderung kann die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufbrechen und abbauen. Ausreichende pädagogische Betreuungsangebote müssen deshalb Regelangebot werden.

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Gerade Kinder aus bildungsfernen Familien brauchen von Beginn an Hilfe. Dies ist eine gute Investition, da sie, langfristig gesehen, der Gesellschaft wieder zugute kommt. Doch nur jedes vierte Kleinkind wird in einer Tagesbetreuung versorgt.²⁰ Der Betreuungsbedarf liegt jedoch bei 39 Prozent.²¹ Für die Integration spielt frühkindliche Betreuung eine besonders herausragende Rolle. Der spielerische Spracherwerb im Kindergarten sowie der Kontakt mit sozialen und kulturellen Gepflogenheiten kann Grundlage sein für einen erfolgreichen Bildungsaufstieg. Integrations- und Bildungsinvestitionen auf dieser Ebene sind weitaus niedriger zu veranschlagen als die Kosten für den Ausgleich von Defiziten im späteren Bildungsverlauf.²² So verbessert der Besuch einer Tagesbetreuung für unter 3-jährige Kinder mit Migrationshintergrund deren Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, um 55 Prozent.²³ Die frühkindliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund wurde aber bis zum heutigen Tag nicht ausreichend geleistet. Das durchschnittliche Abschlussniveau liegt beträchtlich hinter dem von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Im Jahr 2010 verließen ausländische Jugendliche mit einem Anteil von 12,8 Prozent mehr als doppelt so häufig die allgemeinbildende Schule ohne Schulabschluss wie deutsche Schülerinnen und Schüler (5,4 Prozent). Bei den 25- bis 34-Jährigen besitzen 31,6 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund keine abgeschlossene Berufsausbildung im Gegensatz zu 9,2 Prozent bei Menschen ohne Migrationshintergrund.²⁴ Eine der größten Herausforderungen für das gesamte Bildungssystem ist es, Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem aus bildungsfernen Schichten, stärker zu beteiligen und ihre Qualifikationen entscheidend zu verbessern. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beträgt allein bei den unter 25-Jährigen 29 Prozent, bei den unter 5-Jährigen sogar 35 Prozent, also über ein Drittel. In Ballungszentren der alten Bundesländer stammen sogar 40 Prozent aller Jugendlichen aus Zuwandererfamilien.²⁵ Es ist höchste Zeit, diesen Kindern und Jugendlichen durch gezielte Förderung bessere Bildung zu ermöglichen. An der Zeit wäre es auch, dafür zu sorgen, dass jeder Absolvent einer deutschen Schule eine Aufenthaltserlaubnis bekommt. Als Anreiz für alle, noch mehr in Bildung zu investieren und diese Investitionen auch langfristig zu sichern.



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Bildungswege öffnen Bildungswege müssen stärker miteinander verzahnt werden. Wir brauchen mehr Übergänge und Schnittstellen zwischen Schule, beruflicher Ausbildung und Hochschule. Eine qualifizierte abgeschlossene Berufsausbildung ist in vielen Ländern rein rechtlich eine ausreichende Voraussetzung für die Aufnahme eines entsprechenden Studiums. In der Hochschulwirklichkeit gibt es aber immer noch viele Hürden für Jugendliche, die dieses Recht in Anspruch nehmen wollen. Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis wird in den Hochschulen nicht immer als ein Wert betrachtet. Viele Hochschulen erwarten, dass diese Jugendlichen sich anpassen. Ihre Kompetenzen und Erfahrungen werden oft bei der Konzeption von Studiengängen nicht berücksichtigt. Hier bedarf es mehr Aufklärung der eigenen Möglichkeiten und Unterstützung durch die Arbeitgeber und der Entwicklung neuer Studienmodule für diese Gruppe, um den Übergang in das Studium zu erleichtern. Als Brücke in einem offeneren System können auch mittelständische Unternehmen fungieren. Die frühzeitige Vermittlung von Firmenkontakten, enge Kooperation mit lokalen Universitäten, Fachhochschulen und berufsbildenden Schulen sowie betriebliche Tutorenmodelle²⁶ können gerade für Betriebe des Mittelstandes eine Möglichkeit darstellen, Jugendlichen Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, ihnen auf ihrem Weg zu helfen und sie so an sich zu binden. Weiterbildung Wir werden nicht 10 oder 20 Jahre warten können, bis die Bemühungen um eine bessere frühkindliche und schulische Bildung Erfolge zeigen. Die geburtenstarken Jahrgänge der 60er und 70er sind jetzt in ihren Vierzigern und Fünfzigern. Sind Unternehmen nicht bereit, auch diese Arbeitnehmer zu beschäftigen und an Weiterbildung heranzuführen, dann wird sich der Mangel an Fachkräften gerade auf regionaler Ebene weiter verschärfen.²⁷ Von diesen Generationen hängt die wirtschaftliche Stärke in den kommenden Jahren ab. Deshalb muss die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen über ihre gesamte Erwerbsbiographie gesichert werden. Dazu müssen alle, ob sie im Beruf stehen oder nicht, die Möglichkeit haben, Qualifikationen und Kompetenzen durch lebenslanges Lernen und Weiterbildung zu erhalten, zu erneuern und auszubauen.

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Leider ist Deutschland im Bereich der Weiterbildung immer noch ein Entwicklungsland. Seit zehn Jahren stagniert die Quote und liegt 2010 bei 42 Prozent.²⁸ Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit dieser Beteiligungsquote nur im Mittelmaß. Die skandinavischen Länder ermöglichen Erwerbstätigen und Arbeitslosen mehr Möglichkeiten zur Weiterbildung.²⁹ Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen zudem, dass die fehlende Chancengleichheit des deutschen Bildungssystems bis in die berufliche Weiterbildung reicht. Je höher also der erreichte Schulabschluss ist, desto größer sind auch die Chancen auf berufliche Weiterbildung. So haben 2010 56 Prozent der Menschen mit einer Fach- oder Hochschulreife an einer beruflichen Weiterbildung teilgenommen. Bei den Absolventinnen und Absolventen einer Realschule sind es mit 45 Prozent bereits deutlich weniger. In der Gruppe derer mit einem Hauptschulabschluss oder gar ohne Abschluss waren es nur 27 Prozent.³⁰ Wer ein niedriges Bildungsniveau besitzt, nimmt weitaus seltener an betrieblichen Weiterbildungen teil als derjenige mit mittlerem und hohem Bildungsniveau.³¹ Dabei ist eine konsequente Fort- und Weiterbildung gerade für Menschen mit niedrigem oder fehlendem Schulabschluss von entscheidender Bedeutung, um sich nachhaltige Chancen am Arbeitsmarkt zu sichern. Ein gesellschaftliches und individuelles Selbstverständnis, dass Lernen und Bildung dauerhaft einen wesentlichen Anteil des Berufslebens ausmachen, ist eine Voraussetzung. Ausbildung und Qualifikation, die nicht nur vor Arbeitslosigkeit schützen, sondern gerade dem deutschen Mittelstand zu Wachstum und Innovationen verhelfen, tragen schlussendlich durch daraus resultierende Steuereinnahmen zum Wohlergehen aller bei. Überblick behalten Die einzelnen Bildungsbereiche sind mehr als nur eine Aneinanderreihung von abgeschlossenen Bildungsphasen. Sie beziehen sich aufeinander und dürfen nicht voneinander isoliert betrachtet werden. Sie sollten durch drei Prinzipien verbunden sein: 1.

Chancengleichheit: Die Verkettung von sozialer Herkunft, Bildungserfolg und individuellen Lebenschancen muss aufgebrochen werden. Wir können es uns nicht leisten, Begabungsreserven ungenutzt zu lassen – nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern auch aus ökonomischer Vernunft.



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2. Durchlässigkeit: Wir müssen weg vom Vorrang einer frühen und oft genug nicht zu korrigierenden Zuteilung von Bildungschancen in abgeschotteten Bildungsgängen. Bildungswege dürfen nicht zu Sackgassen werden. Wir brauchen mehr Übergänge und Schnittstellen zwischen Schulen, beruflicher Ausbildung und Hochschulen. 3.

Qualität: Wir brauchen eine gezielte Entwicklungsinitiative für unser Bildungssystem, um an die Gruppe der führenden Bildungsnationen anzuschließen. Wir dürfen nicht länger hinnehmen, dass fast jedes fünfte Schulkind in Deutschland nur über elementare Kenntnisse im Lesen und Rechnen verfügt³² und damit wenig Aussicht auf einen qualifizierten Berufsweg hat.

Mehr Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt Nach einem Gutachten der EFI³³ sind mehr als 6 Millionen Frauen in Deutschland nicht erwerbstätig. Viele von ihnen sind gut ausgebildet und hochqualifiziert. Allein 1,2 Millionen der Mütter mit Kindern bis zu 16 Jahren wären – nach vorsichtige Schätzungen – in der Lage, qualifizierte Vollzeitstellen einzunehmen.³⁴ 45 Prozent der schon erwerbstätigen Frauen arbeiten in Teilzeit mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 18,5 Stunden, was im europäischen Vergleich wenig ist.³⁵ Und viele dieser Frauen wünschen sich eine längere Arbeitszeit. Während in Finnland bei einem Paar mit Kindern zu 61 Prozent beide Elternteile Vollzeit arbeiten, liegt der Anteil in Deutschland nur bei 19 Prozent.³⁶ Das sind Fakten, die wir nicht ignorieren dürfen und die uns zwingen, für deutlich bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen. Nur 46 Prozent der mittelständischen Unternehmen bemühen sich jedoch um solche Maßnahmen.³⁷ Dort, wo Möglichkeiten bestehen, hat der Mittelstand aber einen Vorsprung vor den Großunternehmen: Fast jede fünfte Führungskraft ist hier eine Frau.³⁸ Eine Entwicklung, die es zu unterstützen und auszubauen gilt. Länder wie Dänemark, Spanien oder Polen haben gezeigt, dass Frauen sich sehr wohl für Ingenieurberufe interessieren. Dort sind rund ein Drittel der Studierenden in diesem Bereich weiblich.³⁹ Initiativen wie der Girl’s Day, besonders aber gezielte gruppenspezifische Ansprachen und Werbung unterstützen diesen Trend auch bei uns, wobei gerade mittelständische Unternehmen durch regionales Engagement viel bewirken können.

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Fazit Auf dem deutschen Arbeitsmarkt kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen. Der demographische Wandel führt zu einem Rückgang der Bevölkerungszahlen und setzt einen erheblichen Alterungsprozess der deutschen Gesellschaft in Gang. Soweit es das Erwerbspersonenpotenzial betrifft, ist die demographische Entwicklung noch für geraume Zeit weniger durch eine zahlenmäßige Abnahme als durch ein Anwachsen des Anteils der Älteren gekennzeichnet. Zunehmende Engpässe für die Nachfrage nach Fachkräften in den nächsten 15 bis 20 Jahren können durch eine gezielte Bildungs-, Arbeitsmarkt- und betriebliche Personalpolitik abgefedert werden. Der Bedarf an qualifizierten und hochqualifizierten Fachkräften nimmt erheblich zu, während Zahl und Anteil der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte deutlich zurückgehen. Vor dem Hintergrund der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung ist eine offensive Einwanderungspolitik notwendig. Eine gezielte Einwanderung mit Hilfe eines Punktesystems sollte daher ermöglicht und gesellschaftlich unterstützt werden. Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen verlangen nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren sowie nach einer effektiveren und verstärkten Bildung und Weiterbildung. Zudem muss die große Reserve an Geringqualifizierten ohne Ausbildungsabschluss gezielt durch Aus- und Fortbildung aktiviert werden. Insgesamt bleibt die Beseitigung der Ungleichheit der Bildungsbeteiligung verschiedener sozialer Schichten in Deutschland die zentrale Herausforderung.  



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1

Brenke, Karl (2010): Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010.

2

Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011): Bildung und Forschung in Zahlen 2011. Bonn, Berlin. S. 50.

3

Brenke, Karl (2012): Ingenieure in Deutschland – Keine Knappheit abzusehen. In: DIW Berlin (2012): Wochenbericht. Nr. 11, 2012.

4

Brenke, Karl (2010): Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010.

5

Brenke, Karl (2012): Hochschulabgänger decken den Bedarf. In: DIW Berlin (2012): Wochenbericht. Nr. 11, 2012.

6

Dionisius, Regina; Lissek, Nicole; Schier, Friedel (Hrsg.) (2012): Beteiligung an beruflicher Bildung – Indikatoren und Quoten im Überblick. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Nr. 133, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung.

7

Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011): Berufsbildungsbericht 2011. S. 13.

8

Kay, Rosemarie; Richter, Michael (2010): Fachkräftemangel im Mittelstand: Was getan werden muss. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

9

Allmendinger, Jutta (2011): Wachstumsorientierung und Geschlechterverhältnisse. Vortrag in der 10. Sitzung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ im Deutschen Bundestag, 26.9.2011.

10 Statistisches Bundesamt (2011). Demographischer Wandel in Deutschland. Heft 1, Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung im Bund und in den Ländern. 11

Fuchs, Johann; Zika, Gerd (2010): Demografie gibt die Richtung vor. In: IAB-Kurzbericht, Nr. 12, Juni 2010.

12

Brenke, Karl (2010): Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010.

13

Kay, Rosemarie; Richter, Michael (2010): Fachkräftemangel im Mittelstand: Was getan werden muss. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

14 Kay, Rosemarie; Richter, Michael (2010): Fachkräftemangel im Mittelstand: Was getan werden muss. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung. 15

Hinte, Holger; Zimmermann, Klaus F. (2010): Agenda Zuwanderung – Ein Zehn-Punkte-Aktionsplan für gesteuerte Arbeitsmigration und bessere Integration. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010.

16 Kay, Rosemarie; Richter, Michael (2010): Fachkräftemangel im Mittelstand: Was getan werden muss. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung. 17

Hinte, Holger; Zimmermann, Klaus F. (2010): Agenda Zuwanderung – Ein Zehn-Punkte-Aktionsplan für gesteuerte Arbeitsmigration und bessere Integration. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010.

18 Statistisches Bundesamt(2010): Mikrozensus 2009. 19 Hinte, Holger; Zimmermann, Klaus F. (2010): Agenda Zuwanderung – Ein Zehn-Punkte-Aktionsplan für gesteuerte Arbeitsmigration und bessere Integration. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010.

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20 Statistisches Bundesamt (2012): Kinder unter 3 Jahren mit Migrationshintergrund seltener in Kindertagesbetreuung. Pressemitteilung Nr. 039, 02.02.2012. 21

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011): Zweiter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes.

22 Hinte, Holger; Zimmermann, Klaus F. (2010): Agenda Zuwanderung – Ein Zehn-Punkte-Aktionsplan für gesteuerte Arbeitsmigration und bessere Integration. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010. 23 Bertelsmann Stiftung (2008): Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in Deutschland. 24 Bundesministerium für Bildung und Forschung (2012): Integration durch Bildung. Bonn, Berlin 2012. 25 Bundesministerium für Bildung und Forschung (2012): Integration durch Bildung. Bonn, Berlin 2012. 26 Hinte, Holger; Zimmermann, Klaus F. (2010): Agenda Zuwanderung – Ein Zehn-Punkte-Aktionsplan für gesteuerte Arbeitsmigration und bessere Integration. In: DIW Berlin (2010): Wochenbericht. Nr. 46, 18. November 2010. 27 Fuchs, Johann; Zika, Gerd (2010): Demografie gibt die Richtung vor. In: IAB-Kurzbericht, Nr. 12, Juni 2010. 28 Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, S. 142. 29 Weinert, Rainer, Berufliche Weiterbildung in Europa. Was Deutschland von nordeuropäischen Ländern lernen kann, in: Otto Brenner Stiftung, Arbeitsheft 66, Frankfurt a. M. 2010, S. 13. 30 Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, S. 306. 31

Solga, Heike (2011): Etablierung einer Kultur des lebenslangen Lernens (LLL) – Instrumente zur Förderung der Teilnahme am LLL. Impulsreferat für die Anhörung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.

32 OECD (2010), PISA 2009 Ergebnisse: Was Schülerinnen und Schüler wissen und können – Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften (Band I). 33 EFI(2012): Fachkräftemangel bedroht Deutschlands Zukunftschancen. Pressemitteilung, 29.2.2012. 34 Bundesregierung (2012): Der demographische Wandel in Deutschland – Handlungskonzepte für Sicherheit und Fortschritt im Wandel. Antwort der Bundesregierung, Drucksache 17/8372. 35 Bundesregierung (2012): Der demographische Wandel in Deutschland – Handlungskonzepte für Sicherheit und Fortschritt im Wandel. Antwort der Bundesregierung, Drucksache 17/8372. 36 Allmendinger, Jutta (2011): Wachstumsorientierung und Geschlechterverhältnisse. Vortrag in der 10. Sitzung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ im Deutschen Bundestag, 26.9.2011. 37 Commerzbank (Hrsg.) (2012): Frauen und Männer an der Spitze – So führt der deutsche Mittelstand. 38 Commerzbank (Hrsg.) (2012): Frauen und Männer an der Spitze – So führt der deutsche Mittelstand. 39 EFI (2012): Fachkräftemangel bedroht Deutschlands Zukunftschancen. Pressemitteilung, 29.2.2012



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Bernd Neumann MdB Fachkräftemangel in der Kultur- und Kreativwirtschaft Der demographische Wandel wird Deutschland in den kommenden Jahrzehnten tiefgreifend verändern: Wir werden älter, wir werden weniger und unsere Gesellschaft wird vielfältiger. In ihrem Demographiebericht aus dem vergangenen Jahr gibt die Bundesregierung einen Überblick über die relevanten demographischen Daten und Zusammenhänge. Sie hat bereits wichtige Vorhaben zur Gestaltung des demographischen Wandels auf den Weg gebracht: So wurde das „Konzept Fachkräftesicherung“ verabschiedet und gemeinsam mit den ostdeutschen Ländern ein Handlungskonzept zur zukunftsfähigen Gestaltung der Daseinsvorsorge entwickelt. Die Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“ wurde erarbeitet und auf dem 5. Integrationsgipfel am 31. Januar 2012 der Nationale Aktionsplan Integration beschlossen. Diese gemeinsamen Anstrengungen sind notwendig, denn die wirtschaftlichen Konsequenzen des demographischen Wandels hängen entscheidend davon ab, wie wir auf diese Entwicklung reagieren und wie wir sie gestalten. Die in diesem Text nun folgenden Überlegungen orientieren sich an der Ausgangsfrage, was der demographische Wandel für die überwiegend kleinen und mittleren Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft bedeutet und welche Rolle die Kultur und die kulturelle Bildung bei der Gestaltung dieses Wandels spielen können. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft liegt, gemessen an der Bruttowertschöpfung, etwa zwischen der deutschen Automobilindustrie und dem Maschinenbau. Jährlich erwirtschaften die knapp 240.000 zumeist kleinen Unternehmen dieser Branche mit etwa 1 Million Erwerbstätigen rund 134 Milliarden Euro Umsatz. Die Kultur- und Kreativwirtschaft hat sich auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten als außerordentlich robust erwiesen und ist deutlich besser durch die letzte Krise gekommen als Unternehmen anderer Branchen. Die Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft wachsen zum Teil mit erheblichem Tempo und sind dementsprechend in hohem Maße auf ausreichend qualifizierte Fachkräfte angewiesen. Als Folge der demographischen Lücke wird sich insbesondere im Medienbereich, in den IT-nahen Bereichen und im Management ein starker Wettbewerb um qualifizierte, flexible und innovationsfreudige Kreative entwickeln, der es für manche der meist recht kleinen und wissensintensiven Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft

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schwierig machen wird, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden. Engpässe hier würden bedeuten, Entwicklungspotenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft brachliegen zu lassen – nicht nur kulturell, sondern auch wirtschaftlich ein Verlust für unser Land, denn der Kultur- und Kreativwirtschaft kommt eine zentrale gesamtwirtschaftliche Bedeutung zu: Hier entstehen nicht nur hochwertige Kunstwerke, kreative Produkte und Dienstleistungen, sondern auch Ideen für neue Gestaltungsmöglichkeiten in anderen Branchen, hier werden neue Arbeitsformen erprobt und nicht zuletzt findet sich in der Kultur- und Kreativwirtschaft ein hohes Maß an unternehmerischer Flexibilität. Die Branche ist einer der Innovationsmotoren Deutschlands. Sie wirkt stimulierend in andere, auch eher „kulturferne“ Bereiche unserer Volkswirtschaft hinein. Um die Potenziale der Branche auszuschöpfen, hat die Bundesregierung die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft ins Leben gerufen, die von meinem Haus und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gemeinsam geleitet wird. Das Herzstück unserer Initiative ist das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes und seine acht Regionalbüros, das entsprechende Angebote der Länder – mit denen wir eng zusammenarbeiten – sinnvoll ergänzt. Unsere Berater bieten Künstlern und Kulturschaffenden konkrete und individuelle Hilfestellungen bei der Verwirklichung ihrer Geschäftsideen; allein im vergangenen Jahr haben sie fast 3.000 Orientierungsgespräche durchgeführt. Die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft bündelt und ergänzt die Politik der Bundesregierung für diese innovative Zukunftsbranche, zu der auch die aus Mitteln meines Hauses finanzierten Förderprogramme Deutscher Filmförderfonds (DFFF) und Initiative Musik gehören. Die Integration ist eines der Schlüsselthemen für unsere Gesellschaft. Heute leben in Deutschland rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, wobei der Anteil unter jungen Menschen prozentual wesentlich höher ist: Bei den unter 25-Jährigen ist es schon ein Viertel. In dieser zunehmenden Vielfalt liegt ein großes Potenzial gerade für eine Wirtschaft, die in hohem Maße auf neue Ideen und auf die Präsenz auf internationalen Märkten angewiesen ist. Eine wissensbasierte Exportwirtschaft wie die deutsche wird zudem wichtige Wachstumspotenziale verschenken, wenn es ihr nicht gelingt, ausländische Fachkräfte in genügendem Maße für unser Land zu begeistern.



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Gelungene Integration hat nicht nur wirtschaftliche und soziale, sondern vor allem auch kulturelle Dimensionen. Die Förderung des Dialogs ist für die erfolgreiche Integration von Fachkräften mit Migrationshintergrund und letztlich aller in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln unerlässlich. Ein wichtiger Baustein ist dabei die kulturelle Bildung; sie spielt in der Politik der Bundesregierung eine beachtliche Rolle. In meinem Ressort habe ich ein Referat zur Förderung von Projekten der kulturellen Bildung eingerichtet und die Stiftung Genshagen bei Berlin zu einem Zentrum des Dialogs über kulturelle Bildung in Europa ausgebaut, in dem wir jedes Jahr bundesweit vorbildliche Projekte mit dem Preis für kulturelle Bildung auszeichnen. Kulturelle Bildung ist darüber hinaus ein Schwerpunkt der Kulturstiftung des Bundes, die aus dem Etat meines Hauses finanziert wird. Sie hat mit Modellprogrammen wie zum Beispiel „Jedem Kind ein Instrument“ in Nordrhein-Westfalen oder auch den derzeit in fünf Bundesländern angelaufenen „KULTURAGENTEN – für kreative Schulen“ bundesweit Maßstäbe gesetzt. Für beide Programme hat die Kulturstiftung des Bundes jeweils 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Erfreulich ist, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung ab 2013 erstmalig unter dem Motto „Kultur macht stark“ außerschulische Angebote der kulturellen Bildung für benachteiligte Kinder und Jugendliche fördert, um sie an Kunst, Kultur und neue Medien heranzuführen. Im Anfangsjahr beträgt die Fördersumme 30 Millionen Euro; sie soll in den Folgejahren auf 50 Millionen Euro erhöht werden. Im globalen Wettbewerb um die besten, innovativsten und kreativsten Köpfe sind Kunst und Kultur entscheidende Einflussgrößen für die Standortqualität. Insbesondere für hochqualifizierte Fachkräfte ist das kulturelle Angebot einer Stadt oder einer Region ein wichtiges Entscheidungskriterium dafür, wo sie leben und arbeiten möchten. Deutschland bezieht seine kreative Kraft nicht nur aus dem hohen kulturpolitischen Einsatz der öffentlichen Hand und einem herausragenden bürgerschaftlichen Engagement für Theater, Opern, Museen und Kulturdenkmäler. Immer stärker haben auch Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft Anteil daran, unsere weltweit einzigartige kulturelle Landschaft noch vielfältiger, reicher und attraktiver zu gestalten. Die Förderung von Kunst und Kultur ist keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft unseres Landes.  

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Friedhelm Ost Fachkräfte sichern unseren Wohlstand – Mehr auf Integration bauen! Weltweit genießt die Berufsausbildung und vor allem das Ingenieurwesen Deutschlands Bewunderung und Anerkennung. Das sogenannte Humankapital ist die wichtigste Quelle für unseren Wohlstand. Als Volkswirtschaft, die über keine beziehungsweise keine nennenswerten Bodenschätze wie Öl, Gas, Erze, seltene Erden und so weiter verfügt, erfolgt die Wertschöpfung vor allem aus dem optimalen Einsatz des Humankapitals. Innovative Betriebe – ob im Handwerk und Handel, ob in der Industrie und im Dienstleistungssektor – haben dies immer erkannt und praktiziert. Allerdings haben viele Unternehmer in allen möglichen Bereichen nicht nach dem Leitsatz „früher an später denken“ gehandelt, obwohl sich der demographische Wandel in Deutschland seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, also seit über 40 Jahren, abzeichnet. Diese gravierenden Veränderungen im Altersaufbau stellen Wirtschaft und Gesellschaft vor größte Herausforderungen in der Zukunft. Schon heute wird auf unserem Arbeitsmarkt ein Bedarf an Fachkräften deutlich, der nur schwer oder zum Teil nicht ausreichend zu decken ist. Dabei bestehen gegenwärtig noch regionale Unterschiede hinsichtlich Art und Umfang des Arbeitskräftebedarfs und -angebots. Drohender Fachkräftemangel In einzelnen Fächern und bei verschiedenen Berufen werden schon aktuell große Engpässe registriert. Insbesondere gilt dies für die MINT-Fachkräfte. Im Ingenieurbereich zeichnen sich gerade in den Fachrichtungen Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Elektrotechnik Engpässe ab. Dasselbe gilt heute schon für die Gesundheits- und Pflegeberufe, in denen ein nahezu flächendeckender Fachkräftemangel verzeichnet wird. Da auch der Anteil der alten und älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in vielen Betrieben und Bereichen überproportional hoch ist, zeichnet sich hier ein entsprechend großer Ersatzbedarf ab – wie zum Beispiel bei Lehrern, Ärzten, Apothekern und in ähnlichen Berufen.



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Das Potenzial an Arbeitskräften wird nach Berechnungen von Experten in den kommenden 15 Jahren um 3,6 Millionen Personen schrumpfen. Im selben Zeitraum wird der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften spürbar ansteigen. Es droht ein gravierender Fachkräftebedarf bei gleichzeitig hoher Unterbeschäftigung. So werden nach Berechnungen des Instituts zur Zukunft der Arbeit bis zum Jahr 2020 rund 240.000 Ingenieure fehlen, wenn nicht gegengesteuert wird. Eine aktuelle McKinsey-Studie rechnet gar mit bis zu 6,5 Millionen fehlenden Fachkräften bis zum Jahr 2025. Und das Prognos-Institut geht bis zum Jahr 2030 von einer Fachkräftelücke von 5,2 Millionen Personen aus. Wichtigster Standortfaktor: Humankapital Eine solche Fachkräftelücke ist eine schwere Hypothek für die zukünftige Entwicklung unserer Wirtschaft. Finanz- und Sachkapital sowie Informationen sind heute mobiler und flexibler denn je. Die Qualität von Produktionsstandorten wird für Investoren maßgeblich dadurch bestimmt, dass dort gut qualifizierte Menschen sind, dass also ausreichend Humankapital zur Verfügung steht. Bildung, Weiterqualifizierung und Fortbildung werden zu immer wichtigeren Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit und damit für Wachstum wie Wohlstand. Fachkräftelücken bedeuten dagegen, dass das ökonomische Potenzial unserer Volkswirtschaft nicht ausgeschöpft werden kann. Vor allem kleine und mittlere Firmen, die in besonderer Weise für die Herstellung spezieller Produkte sowie Erbringung von Dienstleistungen auf gut ausgebildete Mitarbeiter angewiesen sind, die weniger als große Konzerne mit angelernten Kräften operieren und meistens nicht an Standorte ins nähere oder fernere Ausland ausweichen können, müssen sich mit dem immer brennenderen Problem des Fachkräftemangels beschäftigen. Qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können weder von der Politik beschafft werden noch fallen sie bei Bedarf „vom Himmel“. Dass nicht einmal ein Drittel aller deutschen Firmen Ausbildungsbetriebe sind, könnte sich für viele Unternehmen negativ in der Zukunft auswirken. Dass nur wenige Firmen die Alterspyramide ihres eigenen Betriebes kennen und sich mit den Konsequenzen für die zukünftigen Herausforderungen beschäftigen, könnte für viele existenzbedrohend werden.

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Fachkräfte entscheidend für Wettbewerbsfähigkeit Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft hängt ebenso wie die jedes einzelnen Unternehmens davon ab, dass der Bedarf an qualifizierten und motivierten Fachkräften gedeckt werden kann. Ob in der Produktion, im Vertrieb, im Controlling oder bei Forschung und Entwicklung. Das gilt für kleine und mittlere Unternehmen in besonderer Weise – hier wirkt sich jede Vakanz in Schlüsselpositionen besonders schwerwiegend auf die Unternehmensentwicklung aus. Der Fachkräftemangel droht zur Bremse für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu werden – insbesondere für die hochspezialisierte mittelständische Wirtschaft. Vor allem bei den sogenannten MINT-Berufen – Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschaftler und Techniker – zeichnet sich ein bedrohlicher Engpass ab. Speziell das Fehlen von Ingenieuren hätte äußerst negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland. Über 60 Prozent der deutschen Maschinenbauunternehmen klagen schon heute über unbesetzte Stellen, wobei es sich zu circa 95 Prozent um Arbeitsplätze für Ingenieure handelt. Die Sicherung der Fachkräftebasis hat deshalb zu Recht einen hohen Stellenwert für die deutsche Wirtschaftspolitik. Branchenübergreifend mehren sich die Anzeichen dafür, dass Unternehmen schon heute zunehmend Schwierigkeiten haben, offene Stellen angemessen zu besetzen. Die Auswirkungen des demographischen Wandels werden allmählich spürbar. Engpässe sind insbesondere ab 2015 zu erwarten, wenn die Zahl der Schulabgänger deutlich zurückgehen wird. Es erscheint deshalb dringend geboten, in die Zukunft zu blicken und sich auf die Entwicklungen hinsichtlich Arbeitskräfteangebot und -nachfrage einzustellen. Es muss die Frage beantwortet werden, wer die Arbeit von morgen leisten soll. Blue Card: Ein positiver Versuch Die Schwierigkeit dabei ist die Beispiellosigkeit der Situation. Ab 2020, wenn die geburtenstarken Jahrgänge dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen, wird das Erwerbspersonenpotenzial von heute rund 50 Millionen auf 36 Millionen bis 2050 zurückgehen. Die Altersstruktur der Bevölkerung wird sich in diesem Zeitraum dramatisch verschieben. Das durchschnittliche Alter wird 2050 voraussichtlich bei 50 Jahren liegen.



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Während der Anteil an älteren Menschen über 65 Jahren kontinuierlich ansteigt auf circa 33 Prozent, geht insbesondere der Anteil jüngerer Bewohner in Deutschland zurück. Eine Entwicklung, die beträchtliche Auswirkungen auf die Sozialsysteme, auf unsere Märkte, auf den Arbeitsmarkt und natürlich auch auf den Fachkräftebedarf respektive das -angebot haben wird. Der einzige Weg, diesen Trend abzuschwächen, wäre eine massive Zuwanderungsoffensive mit allen daraus resultierenden gesellschaftlichen Herausforderungen. Hierzu ist anzumerken, dass die mutigen Prognosen davon ausgehen, dass der jährliche Zuwanderungssaldo bei 100.000 Personen liegen könnte – eine Zahl, die in den zurückliegenden Jahren selten erreicht wurde. Eine Verdoppelung des Zuwanderungssaldos liegt also in weiter Ferne. Selbst die Anstrengungen, die von deutschen Betrieben unternommen werden, um qualifizierte Mitarbeiter aus den krisengeschüttelten EU-Staaten wie Spanien, Portugal oder Griechenland, in denen die Jugendarbeitslosigkeit zwischen 25 und 40 Prozent liegt, nach Deutschland zu locken, werden hier nur marginal etwas Positives bewirken. Ein wichtiger Schritt für den Einstieg in die qualifizierte Zuwanderung ist ohne Zweifel das im Mai 2012 verabschiedete Bundesgesetz für die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie. Mit der sogenannten „Blauen Karte“ können in Zukunft Akademiker und vergleichbar Qualifizierte aus Drittstaaten einen deutlich leichteren und unbürokratischen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt finden. Damit sollten auch eine neue Willkommenskultur für ausländische Fachkräfte und der Einstieg in die qualifizierte Zuwanderung geschaffen werden. Die Blaue Karte können Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Staaten erhalten, wenn sie einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland vorlegen und ein Gehalt von mehr als 44.800 Euro pro Jahr haben. In Berufen, in denen bereits jetzt Fachkräftemangel herrscht, beispielsweise bei Ärzten und Ingenieuren, beträgt die Gehaltsschwelle knapp 35.000 Euro. Bei entsprechenden Deutsch-Kenntnissen erhalten Inhaber der Blauen Karte bereits nach 21 Beschäftigungsmonaten eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Das Gesetz erleichtert zudem die Beschäftigung ausländischer Studenten und ausländischer Absolventen deutscher Hochschulen. Die Suchphase, in der sie sich um eine adäquate Beschäftigung in Deutschland bemühen können, wird auf 18 Monate erweitert. Das neu geschaffene sechsmonatige Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche bietet gut ausgebildeten Akademikern aus dem Ausland einen stärkeren Anreiz, Karrierechancen in Deutschland zu suchen.

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Die gleichzeitige Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung in Deutschland wird hinsichtlich des Fachkräftemangels wie ein Katalysator wirken. Die schon heute in einigen Branchen zu beobachtende Fachkräftelücke wird sich zunehmend vergrößern. Zumal neben den quantitativen Aspekten auch qualitative Fragen wie das Bildungsniveau dabei eine Rolle spielen. Sollte dieses bei jüngeren Arbeitnehmern der Zukunft deutlich höher sein als das der ausscheidenden Jahrgänge, könnte der Rückgang des Arbeitskräfteangebots zumindest durch eine höhere Produktivität abgemildert werden. Jedoch weist auch hier der Trend in genau die entgegengesetzte Richtung. Es ist noch optimistisch anzunehmen, dass sich das Gesamtqualifikationsniveau der Bevölkerung in den vergangenen Jahren nicht verschlechtert hat – übrigens trotz eines Anstiegs der Akademikerquote. Gleichzeitig allerdings steigen die Qualifikationsanforderungen der Unternehmen. Der hohe internationale Wettbewerbsdruck und der technologische Fortschritt bleiben nicht ohne Folgen auf den Arbeitskräftebedarf. Deutschland droht seinen wichtigsten Standortvorteil, nämlich seine im Vergleich enorm hohe Produktivität, zugunsten bildungshungriger Schwellenländer zu verlieren. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften steigt also weiter an, während gleichzeitig in immer geringerem Umfang ein Arbeitsmarkt für Ungelernte oder Geringqualifizierte besteht. Denn wenn die Fachkräfte fehlen, schmälert das auch die Chancen von Menschen mit geringeren Qualifikationen: Bleibt die Ingenieurstelle unbesetzt, gibt es auch keine Arbeit für den technischen Zeichner, die Sekretärin, die Reinigungskräfte und so weiter. Ausbildung: Herausforderung für den Mittelstand Zusammengefasst stehen die Unternehmen also vor der Herausforderung, einen starken Anstieg des Anteils älterer Beschäftigter beziehungsweise einem zukünftig deutlich höheren Durchschnittsalter ihrer Belegschaften und das zunehmende Missverhältnis zwischen ausscheidenden und nachrückenden Jahrgängen im Wettbewerb um die besten Köpfe zu meistern. Von diesem Wettbewerb werden mittelständische Unternehmen besonders betroffen sein. Im Vergleich zu Großunternehmen haben sie einen geringeren Bekanntheitsgrad am Arbeitsmarkt und werden auch seltener in der Lage sein, höhere Entgelte anzubieten. Auch die weniger differenzierten Karrierepfade und die im Unternehmensalltag im Vergleich zu Großunternehmen weniger stark ausgeprägte internationale Ausrichtung sind für Fachkräfte Gründe, sich gegen mittelständische Arbeitgeber zu entscheiden. Natürlich haben Fachkräfte in kleinen und mittleren Unternehmen auch erhebliche Vorteile.



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Zum Beispiel wird ihnen viel schneller Verantwortung übertragen. Das allerdings ist oft nicht bekannt und führt so insgesamt zu einer Benachteiligung mittelständischer Betriebe im Wettbewerb um Arbeitskräfte. Auch die Situation am Ausbildungsmarkt wird sich dramatisch zu Lasten mittelständischer Unternehmen verändern. Während der Nachwuchsbedarf des deutschen Mittelstands heute noch weitgehend aus dem System der dualen Ausbildung gedeckt werden kann, wird sich dies in Zukunft aufgrund des Geburtenrückgangs drastisch ändern. Insgesamt wird sich der Fachkräftemangel zu einem Problem von volkswirtschaftlicher Bedeutung entwickeln. Integrationsbemühungen verstärken Einer erfolgreichen Integrationspolitik kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Nicht nur die Anwerbung qualifizierter Zuwanderer stellt uns vor große Herausforderungen, auch und vor allem die Integration der hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ist eine zwingende Voraussetzung dafür, die mit dem demographischen Wandel einhergehenden Probleme zu meistern. Aktuell verlassen junge Menschen mit Migrationshintergrund die Schule mit durchschnittlich niedrigeren Bildungsabschlüssen als einheimische Schulabgänger. Als Folge dessen gelingt es ihnen seltener, ein Studium oder eine berufliche Ausbildung zu absolvieren. Ein Vergleich zeigt dies deutlich: Lediglich zwei Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund besitzen keinen Schulabschluss. Ein Viertel hat einen Hauptschulabschluss und jeweils rund ein Drittel einen Realschulabschluss oder das Abitur. Bei Deutschen beispielsweise türkischer Herkunft hingegen machen acht Prozent gar keinen Schulabschluss, nur etwa die Hälfte einen Hauptschulabschluss, ein Viertel einen Realschulabschluss und lediglich 22 Prozent das Abitur. Da die Schulbildung von ganz erheblicher Bedeutung für den Erfolg einer späteren Ausbildung ist, wirken sich diese Diskrepanzen ganz unmittelbar auf das Fachkräfteangebot aus. Durch den technischen Wandel und den zunehmenden internationalen Wettbewerb werden die Ansprüche an die betriebliche Ausbildung zukünftig noch weiter wachsen.

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Die Verantwortung für eine gelungene Integration der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ist auf unterschiedlichen Ebenen wahrzunehmen, vor allem aber haben die Schulen hier einen großen Beitrag zu leisten. Sicherlich sind auch im Rahmen der dualen Berufsausbildung die Integrationsbemühungen zu verbessern. Entscheidend ist aber, dass bereits in der schulischen Ausbildung eine bessere Integration erreicht wird. Zusätzlich müssen im Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung zielgruppenspezifische Anstrengungen unternommen werden, um die Ausbildungschancen für diese jungen Menschen zu erhöhen. Aktuell ist der Anteil von Beschäftigten mit Migrationshintergrund in mittelständischen Unternehmen noch eher gering. Auch hier wird man sich mit den Chancen einer kulturell vielfältigen Belegschaft auseinandersetzen müssen. Große Unternehmen haben schon lange damit begonnen, langfristige Strategien für die Integration einer kulturell bunter gemischten Belegschaft zu entwickeln und sogar Chancen für die Ansprache ganz neuer Kundengruppen daraus zu entwickeln. Immerhin können Fachkräfte mit Migrationshintergrund für Unternehmen durch ihre zusätzlichen sprachlichen und kulturellen Kompetenzen wertvoll und gerade im Dienstleistungssektor auch ein Schlüssel zur Erschließung von Märkten sein. Integration durch Bildung und Qualifizierung Für die Politik ergeben sich aus der Problemlage eine Reihe von Handlungsfeldern und -notwendigkeiten. Das wohl größte Problem unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind mangelhafte Sprachkenntnisse. Bereits heute spielt deshalb die Sprachförderung eine immer größere Rolle schon im vorschulischen Bereich, in der Ausbildungsvorbereitung und in der Ausbildung selbst. Dennoch sollten diese Anstrengungen weiter verstärkt werden – nicht nur im Interesse gleicher Chancen auf Bildung, sondern aus einem vitalen Interesse an einem starken deutschen Ausbildungsmarkt. Die Bundesregierung hat unter dem Motto „Fachkräfte gewinnen – Wohlstand sichern“ Mitte 2011 ein Konzept zur Fachkräftesicherung beschlossen. Es ruht auf zwei Säulen. Zum einen sollen verstärkt Initiativen unternommen werden, das inländische Potenzial stärker als bisher zu nutzen. Das setzt nicht zuletzt eine erfolgreiche Integration in Arbeit voraus. Zum anderen soll verstärkt um qualifizierte Zuwanderung geworben werden. Auch dafür ist eine aufnahmebereite Gesellschaft die Voraussetzung.



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Wir müssen Zuwanderinnen und Zuwanderer auf ihrem Weg in die deutsche Gesellschaft unterstützen. Beratungsangebote für erwachsene Zuwanderinnen und Zuwanderer, Integrationskurse, berufsbezogene Sprachförderung sowie Integrationsvereinbarungen sind hierfür einige Beispiele. Weitere Unterstützung ist im Rahmen des Instrumentariums der Arbeitsmarktpolitik denkbar. Außerdem gibt es bundesweit Förderprogramme wie „Integration durch Qualifizierung“ oder das Programm „Integration durch Ausbildung“. Eine derartige Unterstützung ist wichtig und unverzichtbar. Viele der Zugewanderten und auch viele Deutsche haben in anderen Ländern gute berufliche Qualifikationen und Abschlüsse erworben. Diese können sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt oft nicht optimal einsetzen. Es fehlt an geeigneten Bewertungsmaßstäben und Bewertungsverfahren. Hier ist die Bundesregierung erste Schritte gegangen. Jedoch sind zur Erschließung der Qualifikationspotenziale von Migrantinnen und Migranten weitere Verbesserungen nötig. Ziel muss es dabei sein, eine qualifikationsadäquate Integration in das Erwerbsleben zu erreichen. Wir brauchen für deutsche Firmen nachvollziehbare und bundesweit möglichst einheitliche Bewertungen für die im Ausland erworbenen Qualifikationen. Im Bereich der beruflichen Bildung unterstützt die Bundesregierung bereits die Entscheidungsträger durch den Aufbau eines internetgestützten berufs- und länderübergreifenden Informationsportals. Verbesserte Angebote für Anpassungs- und Ergänzungsqualifikationen zur vollen Arbeitsmarktintegration bei nur teilweise nachgewiesenen Qualifikationen bilden ebenfalls eine Herausforderung für alle Beteiligten. Eine breit angelegte Informationskampagne könnte dazu beitragen, die Hemmschwelle bei mittelständischen Unternehmen zu senken, Ausbildungs- oder Arbeitsplatzbewerber mit Migrationshintergrund einzustellen. Parallel dazu sollte die Qualität der Berufsberatung für Jugendliche mit Migrationshintergrund verbessert werden. Die interkulturelle Kompetenz in vielen Bereichen der Arbeitsverwaltung ist ebenfalls durchaus ausbaufähig. Vor allem sollten in Kommunen, die einen hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Wohnbevölkerung aufweisen, in den Arbeitsagenturen und Jobcentern Integrationsbeauftragte einsetzen und die migrationssensible Beratung verbessern.

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Seitens der mittelständischen Unternehmen muss zwingend ein Umdenken in der Personalpolitik stattfinden. Allzu häufig finden Bewerbungen beispielsweise auf einen Ausbildungsplatz ungeachtet aller Qualifikationen schon deshalb keine Resonanz, weil der Name des Jugendlichen schwer auszusprechen oder zu schreiben ist. Die Unternehmen müssen die Notwendigkeit und die Chancen erkennen, sich für Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund zu öffnen. Auch die Gewerkschaften und Betriebsräte sind hier in ihrer Verantwortung gefordert. Insgesamt gilt: Der Fachkräftemangel ist die wohl größte wirtschaftliche Herausforderung der kommenden Jahre. Dabei gilt es keine Zeit zu verlieren. Die Ausgangslage ist derzeit so günstig wie schon lange nicht mehr. Die Wirtschaft hat einigen Schwung, der Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie selten zuvor. Und bei allen negativen Prognosen gibt es vor allem eine gute Nachricht: Wir können das Fachkräfteangebot erheblich steigern; es bedarf nur der richtigen Schritte und der notwendigen Konsequenz bei allen Akteuren. Ursula von der Leyen, die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, hat mit ihrer Bemerkung Recht: „Wenn wir uns nicht in die richtige Richtung bewegen, geht uns nicht die Arbeit aus, sondern die Arbeitskraft.“  



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Dr. Angelika Niebler MdEP Brauchen wir eine europäische Lösung? „Quellen unseres künftigen Wohlstands“ – so lautete der Titel des dritten Spitzentreffens zum Thema Fachkräftemangel, das von Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Juni 2012 im Schloss Meseberg einberufen wurde. Und in diesem Titel steckte bereits vor Abschluss des Treffens die wichtigste Botschaft: Die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland ist von der Sicherung des Fachkräftebedarfs abhängig. Wie dieser Bedarf konkret in den kommenden Jahren gesichert werden kann, erörterte Merkel gemeinsam mit Kabinettsmitgliedern, Sozialpartnern und Kammern. Die Zahlen sind alarmierend: Laut einer DIHK-Umfrage aus dem August 2010 hatten Mitte 2010 70 Prozent der Unternehmen generell (20 Prozent) oder teilweise (50 Prozent) Probleme bei der Besetzung offener Stellen. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. geht in ihrer Studie „Arbeitslandschaft 2030“ von 3 Millionen fehlenden Fachkräften in Deutschland bis zum Jahr 2015 aus, diese Zahlen wurden Ende 2011 in einer Neuauflage der Studie bestätigt. Und hierbei geht es keinesfalls nur um hochqualifizierte Ingenieure oder Architekten, gesucht werden insbesondere Elektroinstallateure, Maschinenschlosser, Techniker, Kfz-Mechaniker und viele weitere Berufsgruppen, die vorwiegend in mittelständischen Betrieben angestellt sind. Den Unternehmen ist das Problem schon längst bewusst: 70 Prozent der Unternehmen aus dem Mittelstand räumten dem Fachkräftemangel bereits Ende 2007 einen sehr wichtigen beziehungsweise wichtigen Stellenwert ein¹ – sogar 83 Prozent glaubten, dass die Problematik an Bedeutung gewinnen oder sogar sehr stark an Bedeutung gewinnen wird. Ende 2010 gaben neun von zehn Unternehmen in einer ifo-Sonderumfrage an, für das kommende Jahrzehnt mit einem Fachkräftemangel zu rechnen. Auch vor diesem Hintergrund sprach sich Bundeskanzlerin Merkel nach dem Treffen für die Schaffung eines europäischen Arbeitsmarktes aus, denn Deutschland allein wird die Fachkräftelücke auch angesichts des demographischen Wandels nicht lösen können. Obwohl in der Europäischen Union bereits seit über 20 Jahren ein gemeinsamer Binnenmarkt mit der Personenfreizügigkeit als einer von vier Grundfreiheiten existiert, sind wir von einem tatsächlichen gemeinsamen Arbeitsmarkt noch sehr weit entfernt. Dabei steht der intensiven Suche nach Fachkräften in Deutschland eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in

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vielen anderen, insbesondere südeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten gegenüber. In Spanien beispielsweise lag die Gesamtarbeitslosenquote im ersten Quartal des Jahres 2012 bei nahezu 25 Prozent, mehr als die Hälfte der Jugendlichen sind mittlerweile ohne Job. Voraussetzung für einen gemeinsamen Arbeitsmarkt ist zum einen, ein gutes Ausbildungssystem in allen europäischen Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, und zum anderen, die Vergleichbarkeit von Berufs- und Hochschulabschlüssen sicherzustellen. Nur dann ist es möglich, Vakanzen durch qualifizierte Fachkräfte aus anderen Mitgliedsstaaten besetzen zu können. Darüber hinaus ist eine effektive Vernetzung der EU-Arbeitsagenturen unabdingbar. Dies kann mittels standardisierter Verfahrensabläufe, durch zeitliche befristete finanzielle Unterstützung für Arbeitnehmer aus anderen europäischen Ländern und durch einen Eingliederungspaket wie beispielsweise Unterstützung bei der Wohnungssuche, ein spezielles Versicherungspaket, feste Ansprechpartner sowie Sprach- und Fortbildungskurse erfolgen. Die Arbeitsagenturen in den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten müssen diesbezüglich gründlich vorbereitet werden. Bachelor, Master oder Meister? Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen ohne eigene Personalabteilung ist es jedoch schwierig bis nahezu unmöglich, die Qualifikation von ausländischen Bewerbern zu beurteilen. Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission im Jahr 2008 den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), eine Art Übersetzungsinstrument, geschaffen, um die Vergleichbarkeit von Berufsabschlüssen europaweit zu vereinfachen.² Ziel ist es, dass nach vollständiger Umsetzung des EQR die Zeugnisse einen Hinweis auf das EQR-Referenzniveau enthalten und die Vergleichbarkeit von Abschlüssen aus unterschiedlichen Ländern damit stark verbessert wird. Die Mitgliedsstaaten waren aufgerufen, bis zum Jahr 2010 einen sogenannten Nationalen Qualifikationsrahmen (NQR) zu erarbeiten, welcher den nationalen Besonderheiten der jeweiligen Bildungssysteme Rechnung trägt. Erst Ende Januar dieses Jahres einigten sich in Deutschland die Vertreter von Bund und Ländern sowie die Sozialpartner auf den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR). Wenn das Ziel, wie von Bundeskanzlerin Merkel gefordert, tatsächlich ein europäischer Arbeitsmarkt



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sein soll, dann ist eine Einordnung der jeweiligen nationalen Bildungsabschlüsse in den EQR unumgänglich. Große Schwierigkeiten und Meinungsunterschiede gab es zunächst bei dem in Deutschland insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen so wichtigen Meistertitel, dem Gütesiegel der deutschen Berufsausbildung. Auf insgesamt acht Niveaus beschreibt der Deutsche Qualifikationsrahmen Kompetenzen, die zur Erlangung einer bestimmten Qualifikation erforderlich sind. Anhand dieser Kriterien erfolgt die Zuordnung der Qualifikation, die während einer akademischen oder beruflichen Ausbildung erworben wurde. Nach zahlreichen Gesprächsrunden einigten sich Vertreter des berufsbildenden Bereichs sowie Hochschulvertreter, dass der Meistertitel genauso wie der Fachwirt, Techniker und Bachelor dem Niveau 6 des DQR zugeordnet wird.³ Damit wird der hohen Qualität des deutschen Meisterbriefs angemessen Rechnung getragen. Die Referenzierung zum Europäischen Qualifikationsrahmen wird laut dem Sachstandsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung voraussichtlich im vierten Quartal 2012 erfolgen. Neben dem Europäischen Qualifikationsrahmen, der lediglich einen empfehlenden Charakter besitzt und auf die bessere Vergleichbarkeit von nationalen Berufsabschlüssen abzielt, gibt es seit 2005 das rechtsverbindliche Instrument einer Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen.⁴ Ende 2011 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie vor, um den geänderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen und Erfahrungen aus den vergangenen Jahren einfließen zu lassen. Auch diese Richtlinie hat das Ziel, die Mobilität von Fachkräften in Europa zu erhöhen. Einer der Kernpunkte des neuen Richtlinienvorschlags⁵ ist die Einführung eines europäischen Berufsausweises, der interessierten Berufsangehörigen die Möglichkeit eröffnet, ihre Qualifikation leichter und schneller anerkennen zu lassen. Dabei handelt es sich im Prinzip um eine elektronische Bescheinigung, in einem anderen Mitgliedsstaat Dienstleistungen zu erbringen oder sich dort niederzulassen. Großes Aufsehen hat der Richtlinienvorschlag insbesondere in Deutschland erregt. Die Kommission schlägt vor, aufgrund der „neuen beruflichen Herausforderungen für Krankenschwestern und Krankenpfleger sowie Hebammen“ die Zulassungsvoraussetzungen für die Ausbildung in diesen Berufen von einer zehnjährigen allgemeinen Schulausbildung auf zwölf Jahre heraufzusetzen. Dies sei in 24 Mitgliedsstaaten ohnehin bereits der Fall.

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Die Europäische Kommission verkennt hierbei leider vollkommen die extrem hohe Qualität und die Vorteile des dualen Ausbildungssystems in Deutschland und wertet die Krankenpflegeausbildung gegenüber anderen europäischen Ländern massiv ab. Durch die Tatsache, dass ein Großteil der Ausbildung direkt im Betrieb erfolgt, verfügen die deutschen Krankenschwestern und Krankenpfleger über sehr fundierte praktische Kenntnisse bereits beim Einstieg in den Beruf. Darüber hinaus zählen zum Lehrplan auch allgemeinbildende Inhalte, weshalb es jeder Grundlage entbehrt, eine zwölfjährige allgemeine Schuldbildung anstelle von zehn Jahren als Zulassungsvoraussetzung vorzuschreiben. Der Erfolg des beruflichen Bildungssystems spiegelt sich in Deutschland in der aktuell niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union wider. Unser System ist Garant für eine hohe Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und maßgebliche Grundlage für eine extrem hohe Qualifizierung der Fachkräfte in der Wirtschaft. Dieses Erfolgsmodell gilt es zu bewahren und auch über Deutschlands Grenzen hinaus zu bewerben. EU-Bildungskommissarin Androulla Vassiliou zeigte sich in einem Interview mit der Financial Times Deutschland Ende März 2012 begeistert von der dualen Berufsausbildung in Deutschland und schlug vor, ein ähnliches Ausbildungssystem in Südeuropa einzuführen, was sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung wäre. Grün oder blau? Um die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu verbessern und das Abwandern von Fachkräften zu verhindern, soll nach Vorstellung der Europäischen Kommission jedoch nicht nur auf Fachkräfte aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten zurückgegriffen werden. 2009 trat eine Richtlinie in Kraft, welche den Zugang von hochqualifizierten Arbeitskräften aus Drittländern zum Europäischen Arbeitsmarkt erleichtern soll.⁶ Auch dies kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Denn mit anteilig 1,72 Prozent hochqualifizierter Drittstaatsangehöriger an der Gesamtbeschäftigung liegt die EU derzeit noch weit hinter Australien, Kanada und den USA zurück. Dem soll nun Abhilfe geschaffen werden. Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Green Card soll die „Blaue Karte EU“ hochqualifizierten Drittstaatsangehörigen ausgestellt werden, die länger als drei Monate in einem der 27 EU-Mitgliedsstaaten arbeiten wollen. Sie soll gleichzeitig als Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung gelten. Im Gegensatz zur Green Card



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wird die Blaue Karte EU für maximal vier Jahre ausgestellt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, nach Ablauf einer bestimmten Frist einen Daueraufenthaltstitel zu beantragen. Erleichtert werden sollen diese Schritte mit Hilfe des Internetportals für ausländische Fachkräfte www. Make-it-in-Germany.com. Hier gibt es unter anderem hilfreiche Informationen über Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland und deren rechtliche Voraussetzungen. Voraussetzung für die Beantragung einer Blauen Karte EU ist das Vorliegen eines Arbeitsvertrags oder eines verbindlichen Arbeitsplatzangebots mit einem Gehalt, das mindestens dem Eineinhalbfachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts im Mitgliedsstaat entspricht. In Deutschland stimmte der Deutsche Bundestag kürzlich über das Gesetz zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie ab und legte darin eine Schwelle von 44.800 Euro fest, in bestimmten Mangelberufen wie denen von Ärzten, Mathematikern, Ingenieuren oder auch IT-Fachkräften wird diese Schwelle sogar noch einmal deutlich niedriger liegen.⁷ Unumstritten sind solche Maßnahmen, die seitens der Europäischen Union eingeleitet werden, jedoch nicht. Zu groß ist die Angst der Mitgliedsstaaten vor einem weiteren regulatorischen Kompetenzverlust. Doch es ist längst Zeit zu handeln: Nach Prognosen des IAB wird das Erwerbspotenzial allein in Deutschland ohne Zuwanderung und bei konstanter Erwerbsquote von heute etwa 45 Millionen auf etwa 27 Millionen Personen im Jahr 2050 sinken.⁸ Positive Zahlen sind bereits bei den Existenzgründungen durch Migranten zu vermelden. Laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie wird rund jeder dritte Gewerbebetrieb von einem Bürger ohne deutsche Staatsbürgerschaft angemeldet. Dabei geht die Zahl der Gründungen in Handel und Gastronomie zurück, während Gründungen im Dienstleistungssektor zunehmen.

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Männlich oder weiblich? Bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels darf der Fokus nicht allein auf einer bestimmten Bevölkerungsgruppe liegen. Vielmehr gilt es, sämtliche Gruppen einzubeziehen und deren Potenzial zu nutzen. Zwar sind heutzutage deutschlandweit über 50 Prozent und europaweit sogar etwa 60 Prozent der Hochschulabsolventen weiblich, trotzdem sind in Deutschland mit 66,2 Prozent immer noch deutlich weniger Frauen als Männer (75,6 Prozent) erwerbstätig. Gleichzeitig liegt die Zahl der Absolventinnen in den sogenannten MINT-Berufen, die besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind, bei lediglich 31,4 Prozent, wenn auch mit leicht steigender Tendenz. So schlossen im Jahr 2005 rund 19.900 Frauen (30,6 Prozent der Absolventen) ein MINT-Studium ab, während die Zahl im Jahr 2010 bereits bei 30.900 lag (31,4 Prozent).⁹ Der starke Anstieg in relativen Zahlen und der kaum wahrnehmbare Anstieg in prozentualen Zahlen verdeutlichen, dass sich heutzutage deutlich mehr junge Menschen für die Aufnahme eines Studiums im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik entscheiden und auch zum Abschluss bringen als noch vor einigen Jahren. Insgesamt lag die MINT-Quote unter den Erstabsolventinnen eines Hochschulstudiums im Jahr 2010 bei lediglich 20,2 Prozent. Daher muss es das Ziel sein, noch mehr Frauen für diese Berufssparten zu gewinnen und sie bereits frühzeitig über Möglichkeiten in diesem Bereich zu informieren. Vor diesem Hintergrund startete das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2008 beispielsweise die Initiative „Komm, mach MINT!“ Solche Maßnahmen werden jedoch im Sande verlaufen, wenn Staat und Arbeitgeber nicht umdenken und Initiativen ergreifen, um die Rahmen- und Arbeitsbedingungen stärker auf die Bedürfnisse von Frauen auszurichten. Genau diese Forderung stellt das Europäische Parlament in unzähligen Resolutionen auf, unter anderem in einer Entschließung aus dem November 2010 zu den demographischen Herausforderungen und der Solidarität zwischen den Generationen, die unter Federführung von CDU/CSU-Abgeordneten erarbeitet wurde.¹⁰ Das Europäische Parlament fordert darin die Bereitstellung bezahlbarer, hochwertiger Betreuungsangebote für Kinder, Vaterschaftsurlaub sowie die Förderung von Teilzeitarbeit bei Männern und auch Frauen genauso wie Unterstützung jeglicher Art für Mitarbeiter, die sich um die Pflege von Angehörigen kümmern müssen oder wollen.



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Jung oder alt? Gleichzeitig sprechen sich die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in dieser Resolution für eine stärkere Einbindung älterer Arbeitnehmer im Arbeitsmarkt aus. Die Mitgliedsstaaten und die Europäische Kommission wurden zu dem ehrgeizigen Ziel aufgefordert, im Rahmen der EU 2020-Strategie die Vollbeschäftigung von Arbeitnehmern über 50 bis zum Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters zu sichern. Gleichzeitig sollen Anreize beispielsweise zur Frühverrentung abgebaut werden. Angesichts sinkender Geburtenraten ist die Erhöhung der Lebensarbeitszeit der Beschäftigten eine sinnvolle Maßnahme und die Rente mit 67, wie sie in Deutschland beschlossen wurde, ein konstruktiver Schritt. Zu wertvoll sind die Erfahrungen, die ältere Arbeitnehmer im Laufe ihres Berufslebens gewonnen haben, als dass man auf ihre Unterstützung verzichten könnte. Insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben ist es von großer Bedeutung, Wissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben und so die Wettbewerbsfähigkeit aufrecht zu erhalten beziehungsweise im günstigsten Fall sogar zu verbessern. Altersgemischte Teams können dabei einen entscheidenden Beitrag leisten. Fazit Deutschland alleine wird nicht in der Lage sein, seinen Bedarf an Fachkräften für die kommenden Jahre zu sichern. Positiv zu bewerten ist, dass die Problematik den Unternehmen bereits vor Jahren bewusst geworden und ein Umdenken früh erfolgt ist. Insbesondere der Mittelstand steht aufgrund der Besonderheit seiner Strukturen vor großen Herausforderungen, da oftmals keine Personalabteilung mit Spezialwissen und Fortbildungsangeboten der Unternehmensführung unterstützend zur Seite steht. Wichtig ist es, die Attraktivität des Standortes Deutschland auszunutzen und die Augen vor gut ausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland nicht zu verschließen. Die Europäische Union hat gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen, um die Suche nach ausländischen Fachkräften und deren Anstellung in anderen Mitgliedsstaaten zu erleichtern.

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1

Haufe Studie „Fachkräftemangel im Mittelstand – Staus quo, Ursachen und Strategien“, 12/2007.

2

2008/C 111/01 – Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen.

3

Siehe www.deutscherqualifikationsrahmen.de

4

Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen.

5

KOM(2011)883 final – Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarktinformationssystems.

6

Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung.

7

Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages – Gesetz zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union (Drucksache 236/12).

8

McKinsey Deutschland – Wettbewerbsfaktor Fachkräfte, Strategien für Deutschlands Unternehmen (Mai 2011).

9

MINT-Trendreport 2012.

10 P7_TA(2010)0400 – Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. November 2010.



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II. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration aus Sicht der Wissenschaft 

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Prof. Dr. Bernd Kriegesmann, Marcus Kottmann, Michael Schmidt TalentMetropole Ruhr als regionaler Ansatz zur Überwindung der Fachkräftelücke Fachkräftesicherung braucht regionale Perspektive Dass Unterjüngung¹ und Wirtschaftswachstum in Deutschland gleichermaßen voranschreiten, lässt die seit Jahrzehnten geführte Fachkräftemangeldiskussion langsam real werden. Wenngleich sich bisherige Symptomkuren bei vergangenen Mangelzyklen kaum bewährt haben, ignoriert man geflissentlich die Fehlschläge und glaubt weiter, mit Alibiaktionismus Engpässe überwinden zu können.² Vielleicht ist aber der Optimismus mancher Protagonisten auch begründet, und es werden bis 2025 etwa 2.000.000 qualifizierte Zuwanderer nach Deutschland kommen.³ In 2009 waren etwa 17.000 hochqualifizierte Zugewanderte zu zählen. Selbst wenn man außer Acht lässt, dass im gleichen Jahr mehr Deutsche ins Ausland abgewandert sind und insgesamt ein negativer Wanderungssaldo zu verzeichnen war, müssten noch erhebliche Steigerungsraten realisiert werden, um dieses Ziel zu erreichen. Nimmt man den diskutierten Zeitraum ab 2015, müssten bis 2025 jährlich 200.000 qualifizierte Zuwanderer den Weg nach Deutschland finden – eine Steigerung von 1.176 Prozent auf der Basis von 2009. Wenn zeitgleich andere Länder ihre Bemühungen einstellen, qualifizierte Zuwanderer zu akquirieren, und die Krise in Südeuropa aus deutscher Sicht eine Sonderkonjunktur für den Fachkräfteimport initiiert, gehört der seit Jahren stabile Fachkräfteexportüberschuss vielleicht – zumindest vorübergehend – wirklich der Vergangenheit an. Wer sich aber diesem optimistischen Szenario nicht anschließt und dafür Sorge tragen will, dass Fachkräfteengpässe nicht nur bei einigen international agierenden Großunternehmen überwunden werden, sondern auch in der Breite des Mittelstands, muss sich stärker mit den verfügbaren Potenzialen vor Ort auseinandersetzen. Doch wo sind diese Potenziale noch zu finden und zu aktivieren?



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Fast reflexartig kapriziert man sich auf „Zielgruppen“, die bislang nur unzureichend in den Arbeitsmarkt (re)integriert werden konnten: Frauen, Ältere, Migranten. Flächendeckende Maßnahmen werden schnell diskutiert und eine Unterschiedslosigkeit in den regionalen Bedarfen und vor allem Potenzialen zwischen Flensburg und Kempten unterstellt. Dass etwa in manch ländlicher Region Süddeutschlands schon längst die typischen „Zielgruppen“ erschlossen wurden oder in einigen ostdeutschen Regionen andere Zielgruppen gar nicht vorkommen, bleibt weitgehend unbeachtet. Wer aber auf den unterschiedlichen Qualifikationsebenen Fachkräftepotenziale für morgen aktivieren will, muss sich wohl der Mühe unterziehen, die Unterschiedlichkeit in Deutschland zu akzeptieren. Unter dem Label „Diversity Management“ hat sich das Denken in Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit Blick auf die Menschen in den Unternehmen längst vollzogen. Aber auch eine regionale Diversität birgt die mit diesem Begriff verbundenen Chancen. Unterschiedliche Regionen in Deutschland verfügen über unterschiedliche Potenziale! In erster Näherung fällt dabei schnell auf, dass Ballungsgebiete in der Tendenz noch über erhebliche unerschlossene Talentreserven verfügen, während ländliche Räume mit einem stark vertretenen Mittelstand eher ungedeckte Fachkräftebedarfe aufweisen. So ist etwa im Ruhrgebiet durchschnittlich eine Arbeitslosenquote von elf Prozent (in den kreisfreien Städten meist deutlich höher) und in direkt angrenzenden Landkreisen um die vier Prozent zu verzeichnen. Natürlich ist die Arbeitslosenquote kein geeigneter Potenzialindikator, sie gibt aber zumindest Hinweise, wie verschwenderisch mit dem vielbeschriebenen „Humankapital“ umgegangen werden kann. Offensichtlich bedarf es noch keiner besonderen Anstrengungen, mit differenzierten Initiativen auf die Vielfalt der Regionen einzugehen. Es ist doch viel einfacher zu unterstellen, dass die etablierten Bildungsstrukturen überall auf Menschen mit gleichem sozialen Hintergrund, gleichgeschalteten Begabungen, ähnlichen Bildungsbiographien und so weiter treffen. Viele junge Menschen werden so – unabhängig von ihren Potenzialen – oft nicht in die Ausbildung und den Beruf integriert, der ihren Talenten durchaus entsprechen würde. Bestehende Steuerungsmechanismen etwa im Hochschulbereich sorgen dafür, dass das auch so bleibt.⁴ Im Ergebnis versucht man dann, mit Programmen für „Problemgruppen“ Defizite zu überwinden und auftretende soziale Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.

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Verlässt man den eingefahrenen Pfad der Defizit- und Klagesicht, drängt sich die Frage auf, ob nicht diese regionale Unterschiedlichkeit auch Chancen bietet. Bleibt man beim Beispiel des Ruhrgebiets, ist dann zu fragen: Was hat die Region in Sachen Fachkräfte zu bieten? Abgesehen von der absoluten Dichte an Menschen lässt sich erkennen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen in besonderem Maße in der Region vertreten sind, die im Gegensatz zu den herbeigedachten 2.000.000 qualifizierten Zuwanderern aber bereits in Deutschland leben. Insbesondere im nördlichen Ruhrgebiet ist das eine große Gruppe junger Menschen, die einem eben nicht bildungsbürgerlich geprägten Umfeld zuzuordnen ist, oft einen spezifischen ethnischen Hintergrund aufweist, mitunter kaum ein berufliches Umfeld in ihrem Familienkreis kennt, in ihrem gesamten sozialen Umfeld nicht auf akademische Vorbilder rekurrieren kann und Ähnliches. Alles für sich natürlich kein Makel, aber eine Erschwernis, neue Karrieren für sich zu erschließen. Wer weiß nicht, wie schwierig es gelegentlich ist, das völlig Neue und Unbekannte zu wagen? Aber genau diesen jungen Menschen das Wagnis schmackhaft zu machen und den Weg zu bereiten ist eine große Chance, den sich abzeichnenden Fachkräftemangel auf allen Qualifikationsebenen zu überwinden. Regionale Talentinitiativen bergen das Potenzial, nicht „end of pipe“ das retten zu wollen, was noch zu retten ist, sondern Zukunft zu erschließen. Die Integration junger Menschen in bislang unbekannte oder verschlossene (Aus-)Bildungs- und Berufsbiographien wird zur Leitlinie entsprechender Initiativen. Dabei geht es allerdings im Kern nicht darum – ohne das vernachlässigen zu wollen – zu helfen, irgendeinen formalen Abschluss zu erzeugen, sondern den bislang unerschlossenen Talenten auf allen Ebenen zur Entfaltung zu verhelfen. TalentMetropole Ruhr – Vorbild für regionale Initiativen zur Fachkräftesicherung Die Debatte um den Fachkräftemangel wird derzeit kaum unter dem Blickwinkel regional unterschiedlich verteilter Potenziale geführt. Gleichzeitig eröffnen aber genau die in diesem Kontext diskutierten Risiken für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft neue Chancen, führen sie doch zu einer Neubewertung von regional sehr unterschiedlich verteilten Talentpotenzialen. Sichtbar wird das in besonderer Weise im Ruhrgebiet.



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Mit über 5 Millionen Einwohnern repräsentiert die Metropole Ruhr auf etwa 4.435 Quadratkilometern Fläche nach London und Paris einen der größten Ballungsräume Europas. Dabei kann auf eine Pionierrolle im Zuge der industriellen Entwicklung zurückgeblickt werden. Herausforderungen, die das dynamische Wachstum mit sich brachten, wie etwa die Integration ausländischer Arbeitskräfte oder die Akademisierung einer in der Breite hochschulfernen Bevölkerung, wurden kreativ gelöst. Seitdem hat die Strahlkraft des Ruhrgebiets jedoch deutlich verloren. Häufig wird die Region auf eine hohe Arbeitslosenquote, einen großen Anteil Jugendlicher ohne Schulabschluss, Integrationsprobleme und so weiter reduziert. Dabei gerät das gewaltige Potenzial an Bildungsaufsteigern allzu oft aus dem Blick. Zeichnet die Selbst- und Außenwahrnehmung oft ein Bild, das externe Unterstützungserfordernisse suggeriert, verfügt das Ruhrgebiet jedoch tatsächlich noch über erhebliche Talentreserven, während in anderen Regionen schon die letzten Fachkräftepotenziale erschlossen wurden. In dieser Lesart avanciert das Ruhrgebiet zum bislang nur unzureichend erkannten TalentHot-Spot, und man wird bei der Überwindung der Fachkräfteengpässe an dieser Region nicht vorbeigehen können. Nimmt man nur den akademischen Teil, zeigt sich, dass in der Region viele Menschen aus Arbeiterfamilien kommen. Gerade hier sind die Übergangsquoten in die Hochschule äußerst gering. Während von 100 Akademiker-Kindern in Deutschland heute 81 die Sekundarstufe II erreichen und 71 nach der Schule ein Studium aufnehmen, erreichen von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien lediglich 45 die Sekundarstufe II und nur 24 nehmen ein Studium auf. Von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien nehmen sogar nur 17 ein Studium auf – oder eben: 83 nehmen kein Studium auf.⁵ Allein dieser Umstand ist für die betroffenen Individuen, aber auch aus der Perspektive einer innovierenden Wirtschaft ein Desaster. Gerade bei eskalierendem Ringen um gute Köpfe werden sich diese Fehlsteuerungen insbesondere für den Mittelstand, der in der Gunst der Absolventen oft hinter den attraktiven Angeboten der Großunternehmen zurückfällt, bemerkbar machen.

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Die lange geführte Diskussion, dass das deutsche Bildungssystem sozial selektiv ist, hat nichts an Aktualität verloren. Was aber nie wirklich in den Blick fachkräfteaktivierender Initiativen gerät, ist, dass die Ausgangsbedingungen junger Menschen und damit die Wirksamkeit sozialer Selektivität regional stark unterschiedlich verteilt sind. So unterscheidet sich beispielsweise der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit „Vollabitur“ im Ruhrgebiet und im Münsterland erheblich: In Bottrop sind es 26,2 Prozent, in Gelsenkirchen 28,3 Prozent, in Mülheim schon 39,4 Prozent und in Münster sogar stolze 44,6 Prozent eines Jahrgangs. Sieht man diese Verteilung nicht durch eine „Benachteiligtenbrille“, sondern nimmt die Chancen in den Blick, dann lassen sich in solchen Regionen die Talentreserven lokalisieren, die den Fachkräftemangel überwinden helfen. Wenn es gelingt, diese Talente unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion sowie Bildungsbiographie und Einkommen der Eltern zur Entfaltung zu bringen, gibt es eine echte Chance auf positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Die heute zu Recht unter einer Risikoperspektive diskutierten Bildungsschwächen in der Metropolregion Ruhr können – offensiv angegangen – auch als Ansatzpunkte verstanden werden, um nennenswerte Beiträge zur Überwindung des Fachkräftemangels – auch jenseits des akademischen Niveaus – zu realisieren und neue unternehmerische Impulse freizusetzen. Das Timing für eine breite Initiative scheint dabei optimal: Der eskalierende Fachkräftemangel erhöht den Druck, vorhandene Talentreserven zu heben. Einzelne Akteure haben sich bereits auf den Weg gemacht und manche lokale Aktivitäten adressieren genau dieses Potenzial. Was fehlt, ist ein gemeinsamer Kristallisationskern, der die Potenziale sichtbar macht, der Initiativen bündelt und regionale Spezifika mit neuen Antworten aufgreift. Einige Protagonisten haben sich auf den Weg gemacht, die Metropole Ruhr jenseits dominierender defizitorientierter Ansätze als Region der Talente zu profilieren. Wenn es gelingt, hier Phantasien für Bildungsinvestitionen zu erzeugen und bisher unerschlossene Talentreserven zu erschließen, wird: ◼◼

es in der Metropole Ruhr keinen Fachkräftemangel geben,

◼◼

die TalentMetropole Ruhr zu einem Magneten für internationale Talente werden (Wo Talente sind, wollen Talente hin!) und

◼◼

die TalentMetropole Ruhr zu einem selbstbewussten „Exporteur“ von Talenten.



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Eine gemeinsame Vision weist den Weg in die mögliche Zukunft der Metropole Ruhr: Innerhalb des laufenden Jahrzehnts entwickelt sich die Metropolregion Ruhr zu einer der fünf vielfältigsten europäischen Talentregionen – der TalentMetropole Ruhr. Das Kulturhauptstadtjahr hat im Ruhrgebiet gezeigt, welche Aktivierungskraft in einer gemeinsamen Orientierung liegt. Um diese Vision strategisch zu unterlegen, sind dabei zwei Ebenen anzusteuern: ◼◼

Erhöhung der Sichtbarkeit vorhandener Stärken der Talententwicklung! Faktisch gehört die Metropolregion Ruhr in maßgeblichen Bereichen der Talententwicklung schon heute zu den national wie international führenden Regionen (z. B. Hochschuldichte, Anzahl Studierende, Besucheranzahl auf Abiturientenmessen etc.). Eine mangelnde Bündelung dieser Kapazitäten beeinträchtigt die Wahrnehmung eigener Stärken in der Binnen- wie in der Außenperspektive. Die Verdichtung dieser Stärken und ihre Vermarktung in Form von selbstbewussten Botschaften könnte die Metropolregion Ruhr auf den unterschiedlichen Qualifikationsebenen bereits „auf Augenhöhe“ mit den nationalen Top-Talentregionen bringen.

◼◼

Ausschöpfung andersartiger Talente! Durch die Formierung sichtbarer „best-in-class“Talentinitiativen können bislang brachliegende Talentpotenziale erschlossen werden. Hierzu wird in der Metropolregion Ruhr ein Kulturwandel notwendig sein, der bisherige Defizitperspektiven mit Blick auf inhärente Investitionsphantasien erweitert (10 bis 15 Prozent weniger Hochschulzugangsberechtigte pro Jahrgang könnten fünf Prozent Talente bergen, die mit vergleichsweise geringem Aufwand zu entfalten sind! – und Ähnliches gilt für den nichtakademischen Bereich). Gelingt eine derartige Potenzialerweiterung, bietet dies der Metropolregion Ruhr zukünftig erhebliche Wachstumschancen, die in anderen Regionen kaum zu aktivieren sind.

Ein derartiger Ansatz ist ungewohnt und passt nicht in die rezeptartigen Denkschablonen der Händler von schnellen Konzepten zur Überwindung des Fachkräftemangels. Nimmt man aber nicht nur die Fehlschläge bisher gestarteter Initiativen in diesem Bereich, sondern auch empirische Befunde zum Return von Bildungsinvestitionen für spezifische Zielgruppen ernst, zeigt sich hier ein erfolgversprechender Weg für ein neues Format in der Fachkräftesicherung.

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TalentMetropole Ruhr – Perspektive für einen interessanten Business Case in der Fach­kräftesicherung Fachkräftesicherung setzt Investitionen voraus – immer! Jeder Investor ist daher gut beraten, dabei Initiativen zu suchen, die sich gut verzinsen. Dass Investitionen in unerschlossene Talentreserven zukünftig hohe Renditen erwarten lassen, legen Befunde aus Wissenschaft und Consulting längst nahe.⁶ Dabei geht es im Kern um die bessere Ausschöpfung von Potenzialen unter Jugendlichen aus sozial schwachen Familien und Nicht-AkademikerFamilien (innerhalb dieser Zielgruppen machen dabei Jugendliche aus Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte einen hohen Anteil aus). Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf auf allen Ebenen der (vor-)schulischen Bildung, der Berufsausbildung sowie in der Frequentierung akademischer Ausbildungsgänge. Gleichzeitig liegen klare Hinweise vor, dass diese Potenziale durch gezielte Interventionen in der Ausbildungskette zu heben sind. Diese Chancen des Ruhrgebiets zur Profilierung als TalentMetropole sind Investoren argumentativ zugänglich zu machen. Folgt man Studien, die Renditen für Talent-Investments in Deutschland von 12 bis 14 Prozent berechnen, kann man sich diesem Aktionsfeld kaum entziehen. Dies gilt umso mehr, als die berechneten Durchschnittsrenditen innerhalb Deutschlands stark differieren: ◼◼

In bildungsbürgerlichen Regionen, in denen die Talentreserven weitgehend abgeschöpft sind, ist der Aufwand zur Erschließung weiterer Fachkräfte enorm hoch. Der Grenznutzen zusätzlicher Investments ist erreicht, die Bildungsrenditen sind geringer.

◼◼

In Ballungsräumen existiert eine breite Basis junger Menschen, die noch für neue Bildungsbiographien und damit als Fachkräftenachwuchs zu aktivieren ist. Vergleichbar geringe Bildungsinvestitionen führen zu spürbaren Effekten, die Bildungsrenditen sind hoch.



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In der TalentMetropole Ruhr sind demnach überdurchschnittliche Bildungsrenditen zu erwarten. Eine Talentinitiative wird zum interessanten Business Case. Diese Zusammenhänge durch eine Kampagne sichtbar zu machen trägt dazu bei, Investitionen in eine Region zu lenken, in der noch zu erschließende Bevölkerungsschichten in besonderem Maße vertreten sind. Angesichts dieser wirtschaftlichen Bedeutung des Themas stellt sich nicht die Frage, ob das Talentthema im Wettbewerb der Regionen besetzt wird, sondern allenfalls wann dies geschieht und welche Region sich „first-mover-advantages“ sichert. Hier scheint die Zeit für eine breitangelegte Talentinitiative günstig, da sich im Ruhrgebiet erhebliche Bedarfe für neue Impulse ausmachen lassen. Ein weiteres Argument kommt noch hinzu: Sozio-ökonomische Rahmenbedingungen implizieren gerade im nördlichen Ruhrgebiet wachsende Risiken für die regionale Entwicklungsfähigkeit, wenn die Teilnahme an sozialen Aufstiegsprozessen durch Bildung zukünftig nicht deutlich erhöht werden kann. Nicht von ungefähr dominieren in der Wahrnehmung des Ruhrgebiets häufig eher problembehaftete Vorstellungen von „strukturschwachen Räumen“ oder ein defizitärer Blick auf „bildungsferne Schichten“ und damit einhergehende regionale Segregationseffekte. Hier erscheint es dringend geboten, von der Defensive in die Offensive zu kommen und die Talentpotenziale der Metropole Ruhr offensiv zu aktivieren. Eine Initiative zur Profilierung der TalentMetropole Ruhr bietet nicht nur ökonomisch betrachtet hohe Renditen, sondern: ◼◼

eröffnet für Menschen in der Region neue Bildungs- und Berufschancen,

◼◼

schafft für Kommunen Entlastung bei Transferleistungen und Einnahmen aufgrund regionaler wirtschaftlicher Effekte,

◼◼

sichert Unternehmen den Nachwuchs zur Personifizierung ihrer Wachstumsabsichten,

◼◼

profiliert das Image einer ganzen Region und erzeugt bei Investoren Wachstumsphantasien.

Mit der Aussicht auf eine derartige Bilanz wird deutlich, dass der Blick für Ansätze zur Fachkräftesicherung auf regionale Initiativen zu lenken ist. Besonders wirksam sind sie dabei dort, wo noch Talentreservoirs brachliegen. Diese Einsicht macht nicht nur den Weg für Neues in der Fachkräftemangeldebatte frei, sondern wirft Fragen auf, wo sich zusätzliche Bildungsinvestitionen kaum mehr lohnen, weil der Grenznutzen erreicht ist.  

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1

Vgl. Lehr, U.: Die Jugend von gestern – und die Senioren von morgen. Aus Politik und Zeitgeschichte B 30/2003, S. 3–5.

2

Vgl. Staudt, E./Kottmann, M.: Deutschland gehen die Innovatoren aus. Zukunftsbranchen ohne Zukunft?, Frankfurt a. M. 2001; Staudt, E./Kottmann, M.: Zuwanderung kann Versäumnisse der Wirtschaft bei der Aus- und Weiterbildung nicht kompensieren! In: Franz, O. (Hrsg.): Zuwanderung, Arbeitsmarkt und der deutsche Mittelstand, RKW-Nr. 1445, Eschborn 2002, S. 28–39; Kottmann, M./Kriegesmann, B./Striewe, F.: Fachkräftemangel in Deutschland: Handlungsfelder für eine Neuausrichtung der beruflichen Bildung, in: LIST FORUM für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Band 34, Heft 1/2008, S. 56–70.

3

Vgl. o.V.: Fachkräftemangel – Chef der Arbeitsagentur fordert zwei Millionen Zuwanderer, in: Zeit-online vom 14.05.2011.

4

Vgl. Kriegesmann, B.; Kottmann, M.: Woher kommen die Innovatoren für morgen? In: Franz, O.; RKW e. V. (Hrsg.): Die Zukunft des deutschen Mittelstands, RKW-Edition, Sternenfels 2011, S. 50–57.

5

Vgl. BMBF (Hrsg.): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009, 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, Bonn/Berlin 2010.

6

Vgl. The Boston Consulting Group (Hrsg.): Standortfaktor Bildungsintegration, 2009, S. 46; IW Köln (Hrsg.): Integrationsrendite – Volkswirtschaftliche Effekte einer besseren Integration von Migranten, Mai 2010, S. 115.



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Prof. Dr. Wolfgang Maßberg Qualifizierung zukünftiger Fachkräfte für mittelständische Unternehmen Junge Menschen mit Migrationshintergrund – Ressourcen für den Abbau zukünftiger Mitarbeiterengpässe im Mittelstand? Eine kurze demographische Situationsanalyse Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes von 2011 führt zu dem Ergebnis, dass die bereits seit 2003 rückläufige Bevölkerungszahl Deutschlands weiter abnehmen wird. Wenn sich die aktuelle demographische Entwicklung fortsetzt, wird sich die Einwohnerzahl Deutschlands von derzeit etwa 82 Millionen bis zum Jahr 2060 auf 65 bis 70 Millionen reduzieren. Das rasch ansteigende Geburtendefizit kann von der Nettozuwanderung keinesfalls kompensiert werden. Diese Entwicklung wird einhergehen mit schwerwiegenden Veränderungen der Altersstruktur. Die Erhebung kommt zu dem Schluss, dass im Jahr 2060 bereits 34 Prozent der Bundesbürger mindestens 65 Jahre alt sein werden und dass dann doppelt so viele 70-Jährige leben werden, wie Kinder geboren werden. Noch 2008 betrug der Anteil von Kindern und jungen Menschen unter 20 Jahren rund 19 Prozent, der Anteil der 20- bis unter 60-Jährigen 61 Prozent und der Anteil der über 65-Jährigen 20 Prozent. Die Studie des Statistischen Bundesamtes geht davon aus, dass der Anteil der über 80-Jährigen von derzeit rund 4 Millionen bis 2050 auf über 10 Millionen steigen wird. Die Bevölkerung im Erwerbsalter von derzeit 20 bis 65 Jahren zählt gegenwärtig etwas weniger als 50 Millionen Menschen. Ab 2020 wird dieser Anteil der Bevölkerung dramatisch zurückgehen. Die Studie des Statistischen Bundesamtes geht davon aus, dass die Anzahl der Bürger im Erwerbsalter sich bis 2035 auf rund 40 Millionen verringern wird. Bis 2060 werden danach nur noch 36 Millionen im Erwerbsalter sein. Würde sich die Nettozuwanderung gegenüber derzeit durchschnittlich 200.000 pro Jahr verringern, ist mit einer noch weiteren Verringerung des Anteils der Bevölkerung im Erwerbsalter zu rechnen.

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Unter dem Bevölkerungsanteil im Erwerbsalter wird sich eine erhebliche Verschiebung zu den älteren Jahrgängen vollziehen. Derzeit gehören immer noch knapp 20 Prozent der Bürger im erwerbsfähigen Alter zu den 20- bis 30-Jährigen und 49 Prozent zur mittleren Altersgruppe von 30 bis 50 Jahren. Der Anteil der Älteren zwischen 50 und 65 Jahren liegt bei 31 Prozent. Zwischen 2017 und 2024 wird nach der statistischen Hochrechnung das Potenzial der Erwerbspersonen zu 40 Prozent aus 30- bis unter 50-Jährigen und zu ebenfalls 40 Prozent aus 50- bis 65-Jährigen bestehen. Aus dieser Entwicklung ist abzuleiten, dass dem im Erwerbsalter stehenden Bevölkerungsanteil ein stark zunehmender Anteil von Menschen oberhalb des Renteneintrittsalters gegenüberstehen wird. Die statistische Erhebung verweist darauf, dass vor knapp vier Jahren auf 100 Personen im Erwerbsalter noch 34 Personen im Rentenalter entfielen. Bis 2060 werden dann auf 100 Personen im Erwerbsalter bereits rund 65 Rentenbezieher entfallen. Fazit: Sollten sich die Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes bestätigen, so wird Deutschland in 50 Jahren rund 17 Millionen weniger Einwohner zählen. Jeder Dritte wird dann über 65 Jahre und jeder Siebte über 80 Jahre alt sein. Die Hauptursachen für diese Entwicklung sind die anhaltend niedrigen Geburtenraten und die stetig zunehmende Lebenserwartung der Menschen. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Dramatische Auswirkungen wären zu erwarten, wenn bei der dargestellten demographischen Entwicklung das sich verringernde Potenzial der im erwerbsfähigen Alter stehenden Menschen nicht voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen würde, weil bei zu vielen die qualitativen Voraussetzungen unzureichend sind. Nicht nur der Fachkräftebedarf der Wirtschaft würde Not leiden – auch das Sozialsystem unseres Landes würde zusätzlich dadurch belastet, dass eine sich wegen qualitativer Defizite zusätzlich verringernde Anzahl im Erwerbsprozess stehender Bürgerinnen und Bürger noch höhere Sozialleistungen schultern muss.



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Was den Fachkräftemangel angeht, würde die geschilderte Situation insbesondere mittelständische Unternehmen im industriellen Gewerbe, im Handwerk, Handel und in den Dienstleistungen treffen, die – im Vergleich zu den großen Global Players – sehr viel stärker auf den Standort Deutschland fixiert sind. Über 99 Prozent aller Unternehmen in Deutschland mit Jahresumsätzen unter 50 Millionen Euro und weniger als 500 Beschäftigten gehören zur Kategorie der kleinen und mittleren Unternehmen. Rund 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben bei ihnen ihren Arbeitsplatz. Großunternehmen mit Standorten im Ausland werden auf einen wachsenden Fachkräftemangel in Deutschland durch Verlagerungen von Produktion und Entwicklung in solche Länder reagieren, die ein größeres Fachkräftepotenzial anbieten. Die vor Ort zu erwartenden „human resources“ sind schon heute ein wichtiges Kriterium für Standortentscheidungen. Blickt man auf die Generation der 15- bis 25-Jährigen in Deutschland, die sich im ausbildungsfähigen Alter befindet und innerhalb weniger Jahre das Erwerbsalter erreichen wird, ist zu berücksichtigen, dass rund ein Viertel dieser 9,5 Millionen zählenden Bevölkerungsgruppe einen Migrationshintergrund besitzt. Es ist eine besondere gesellschaftspolitische Herausforderung, diese Gruppe junger Mitbürgerinnen und -bürger uneingeschränkt in Schulausbildung, Berufsqualifikation, Berufsleben und Gesellschaft zu integrieren und deren interkulturelles Kapital zu nutzen. Eine grundlegende Voraussetzung für berufliche und soziale Partizipation sind Schulabschlüsse. Der Schulabschluss stellt die Weichen für das Berufsleben und den sozialen Status. Ohne Schulabschluss wird es auch immer schwieriger, einen beruflichen Ausbildungsplatz zu erhalten. Der Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund an den Haupt- und Förderschülern liegt erheblich über dem Durchschnitt. Die Folge ist, dass diese benachteiligten Jugendlichen nur mit großer Mühe und häufig sehr spät einen Ausbildungsplatz finden. Während nach Erhebungen des Mikrozensus 2008 nur zwölf Prozent der Schüler ohne Migrationshintergrund eine Hauptschule besuchten und davon nur 8 Prozent die Schule ohne Abschluss verließen, betrug der Anteil der Hauptschüler mit Migrationshintergrund 28 Prozent, von denen wiederum rund ein Fünftel keinen Abschluss erreichte.

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Im Realschulbereich gab es zwischen beiden Gruppen keinen signifikanten Unterschied. Jedoch nur 32 Prozent der Schüler mit Migrationshintergrund besuchten zum Zeitpunkt der Erhebung ein Gymnasium, während die Schüler ohne Migrationshintergrund mit über 40 Prozent am Gymnasium vertreten waren. Nicht ein geringeres Qualifizierungspotenzial ist die Ursache für den geringeren Anteil von Gymnasiasten mit Migrationshintergrund, sondern meistens der Mangel an deutscher Sprachkompetenz. Signifikante Veränderungen dieser Situation sind seit 2008 nicht zu beobachten. Nach einer Erhebung der Bundeszentrale für politische Bildung von 2011 besaßen rund 20 Prozent (15,7 Millionen) der Gesamtbevölkerung Deutschlands im Jahr 2010 einen Migrationshintergrund. Der Anteil der Studierenden mit Migrationshintergrund an deutschen Hochschulen, bezogen auf die Gesamtzahl der Studierenden, betrug nach der 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks von 2010 jedoch nur elf Prozent (ca. 174.000). Diese Bevölkerungsgruppe ist also an den Hochschulen deutlich unterrepräsentiert. Nach einer Studie des Hochschulinformationssystems HIS im Auftrag des Deutschen Akademischen Austauschdienstes aus dem Jahr 2011 liegt der Anteil dieser Studierendengruppe, die erfolgreich einen Hochschulabschluss erreicht, bei nur rund 60 Prozent, während etwa 75 Prozent der Studierenden ohne Migrationshintergrund die Hochschulen nach erfolgreichem Abschluss verlassen. Neben sprachlichen Defiziten sind finanzielle Probleme, aber auch das Gefühl, nicht gut genug in soziale Netze eingebunden zu sein, die Gründe für die hohe Abbrecherquote. Der Anteil der Studierenden aus der „niedrigen“ sozialen Herkunftsgruppe, also aus einkommensschwächeren, hochschulfernen Familien, ist bei den Studierenden mit Migrationshintergrund mit 34 Prozent fast dreimal so hoch wie bei den Studierenden ohne Migrationshintergrund (13 Prozent). Zieht man eine Bilanz aus den vorstehenden Betrachtungen, so steht zu befürchten, dass die vor dem Eintritt in das Erwerbsalter stehende junge Generation mit Migrationshintergrund keinen, ihrem Anteil an der gleichaltrigen Gesamtpopulation entsprechenden Beitrag leisten kann zur Milderung der negativen Auswirkungen des demographischen Schrumpfungsprozesses auf das zukünftige Fachkräfteangebot in Deutschland. Gut ausgebildete Nachwuchskräfte werden in breiter Front knapp werden – sowohl in den mittleren wie auch in den akademischen Qualifikationsstufen. Wir haben uns nicht nur auf einen Mangel an Forschern, Ärzten und Ingenieuren einzustellen, sondern genauso auf ein immer knapper werdendes Angebot von Facharbeitern, Pflege- und Servicekräften. Fachkräfte sind die Treiber



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für Innovation und Wachstum und damit für sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand in unserem Land. Wir können es uns nicht leisten, dass die vorhandenen Potenziale eines wachsenden Anteils der in das erwerbsfähige Alter nachrückenden Generation mit Migrationshintergrund unzureichend erschlossen werden, wenn es darum geht, die demographisch bedingten Engpässe des Fachkräfteangebots durch qualifizierte Nachwuchskräfte von den mittleren bis zu den akademischen Qualifikationsstufen abzuschwächen. Sprachliche Bildung als wichtige Voraussetzung für die Integration und berufliche Qualifikation Die Förderung und die schulische Integration sowie der Abbau von Bildungsbenachteiligungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind weitgehend von der sprachlichen Bildung abhängig, die im frühkindlichen Alter beginnen sollte. Das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung hat im Jahr 2009 darauf hingewiesen, dass die überwiegende Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in Deutschland geboren ist und die gesamte Schullaufbahn hier verbringt. Der Anteil Heranwachsender, die selbst zugezogen sind, hat hingegen deutlich abgenommen. Die Kompetenz in der deutschen Sprache und damit der schulische Bildungserfolg hängen sehr weitgehend davon ab, in welcher Sprache bei diesen Schülern zu Hause gesprochen wird. Kompetenzunterschiede im Lesen sowie in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund werden zu 40 Prozent dem Mangel an Sprachkompetenz zugeschrieben. Wenn hingegen in den Familien ausreichend gutes Deutsch gesprochen wird, entwickeln die Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund gleiche Kompetenzen. Aus der PISA-Studie 2009 geht hervor, dass rund 58 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu Hause Deutsch sprechen. Mit rund 89 Prozent ist die Quote derer, die zu Hause Deutsch sprechen, am höchsten in Familien, bei denen nur ein Elternteil im Ausland geboren ist.

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In der sogenannten zweiten Generation der Zuwanderung, bei der beide Elternteile im Ausland geboren sind, der oder die Jugendliche aber in Deutschland geboren wurde, ist nur bei knapp unter 50 Prozent der Fälle Deutsch die häusliche Umgangssprache. Noch wesentlich geringer ist der Anteil der Jugendlichen, die selbst und deren beide Eltern im Ausland geboren sind. Nur bei 26 Prozent dieser Angehörigen der ersten Generation der Zuwanderung wird zu Hause Deutsch gesprochen. Gegenüber den Erhebungen in 2003 und 2006 hat sich dieser Prozentsatz leider signifikant verringert. Für Kinder und Jugendliche, die nicht den Vorteil genießen, dass in ihrem häuslichen Umfeld Deutsch gesprochen wird, sind Fördermaßnahmen unverzichtbar, die möglichst noch vor Schulbeginn Hilfestellungen anbieten bei der Alphabetisierung in der Familiensprache und beim Erlernen der Unterrichtssprache. Hier scheint sich ein erheblicher Widerspruch aufzutun zwischen dem Plädoyer des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan für Türkisch als Erstsprache bei türkischen Migrantenkindern und der von der deutschen Politik vertretenen Forderung, dass das Erlernen der deutschen Sprache für Kinder mit Migrationshintergrund zur Pflicht wird. Nun zeigt die Erfahrung, dass beispielsweise in den Elternhäusern türkischer Migrationskinder hauptsächlich Türkisch gesprochen wird. Meist beherrscht in diesen Familien ein später nach Deutschland nachgezogener Elternteil überhaupt nur die Muttersprache, während die Deutschkenntnisse des anderen auch nur selten hinreichend sind. Die Kinder haben in diesen Fällen gar keine Möglichkeit, während der ersten drei Jahre in diesem häuslichen Umfeld Deutsch zu lernen. Das Risiko besteht vielmehr in diesen Fällen, dass solche Kinder weder richtig Türkisch noch richtig Deutsch sprechen lernen. Sie wären dann in beiden Sprachräumen benachteiligt. Wenn die Familiensprache Türkisch ist, wäre die Erwartung unrealistisch, dass Kinder derartiger Migrantenfamilien Deutsch als Erstsprache erlernen könnten. Wenn sie hingegen die türkische Sprache gut beherrschen, fällt es ihnen erfahrungsgemäß auch leichter, Deutsch zu lernen. Von großer Bedeutung ist es aber, dass die Eltern das Beherrschen der deutschen Sprache als unverzichtbar erkennen für die Zukunft ihrer Kinder. Das ist auch ein triftiger Grund, für nicht Deutsch sprechende Elternteile deutsche Sprachkurse obligatorisch zu machen. Davon würden nicht nur die Betreffenden selbst, sondern vor allem deren Kinder profitieren. Wenn diese zur Einschulung nicht verstehen können, was ihnen im Unterricht vorgetragen wird, werden sie verstummen und ihre Entwicklungschancen werden verbaut.



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Was ist im Bereich der Sprachförderung zu tun? Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bis zur Einschulung sollten die ersten Orte sein, an denen die im familiären Sprachumfeld benachteiligten Kinder umfassend Deutsch lernen und sprechen können. Voraussetzung ist jedoch, dass entsprechende Kindertageseinrichtungen pädagogisches Personal rekrutieren können, das über die spezifischen Kompetenzen verfügt, die der Umgang mit sprachlich heterogenen Gruppen von Kindern erfordert, von denen eine zunehmende Zahl Deutsch als Zweitsprache lernt. Über Sprachstandsmessungen vor der Einschulung müssen die Kinder ermittelt werden, für die ein besonderer Förderbedarf für das Erlernen der deutschen Sprache besteht. Darüber hinaus müssen frühkindliche sprachliche Bildungsangebote für Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch ausgebaut werden, damit migrationsbedingte Deutschdefizite möglichst weitgehend vor der Einschulung ausgeglichen werden. Von großer Bedeutung im Rahmen frühkindlicher Sprachförderung sind die Einbeziehung der Eltern in den Sprachförderprozess und die Unterstützung ihrer Erziehungskompetenzen. Gute Erfahrungen hat man gemacht mit Einladungen an die Eltern zur Teilnahme an Kursen zum Erlernen der deutschen Sprache, zu Angeboten im Bereich der Bildungsberatung und zu Informationsveranstaltungen über das deutsche Schulsystem. Wünschenswert ist schließlich auch eine Kombination der Förderung der deutschen Sprachkompetenz mit einer Förderung der Herkunftssprache, indem Lerninhalte in beiden Sprachen behandelt werden. Sprachförderung von Migrantenkindern in öffentlich-privater Partnerschaft Die Zeit für die Realisierung der aufgeführten Fördermaßnahmen drängt. Sie dürfen nicht von den geschilderten demographischen Entwicklungen überholt werden. Die für das Bildungssystem zuständigen Länder stoßen jedoch angesichts der Haushaltssituationen vielfach bereits an die Grenze des Machbaren. Deshalb werden Maßnahmen in öffentlichprivater Partnerschaft immer unentbehrlicher.

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Beispielgebend hierfür ist eine bundesweite private Bildungsinitiative „Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund“, die von der Stiftung Mercator 2004 an 35 Standorten Deutschlands eingerichtet wurde und durch die Vermittlung von Fachund Sprachkenntnissen in Kleingruppen dieser Zielgruppe hilft, dem deutschsprachigen Unterricht in der Sekundarstufe I besser zu folgen, dadurch ihre schulischen Leistungen zu verbessern und entsprechende Schulabschlüsse zu erreichen. Dieses Förderprojekt wurde aufgrund seines Erfolgs 2009 auch auf die Sekundarstufe II ausgeweitet. Im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung des Förderunterrichts, konnten sich die Projektstandorte im Jahr 2009 auf einen Matching Fund bewerben. Um weiterhin von der Mercatorstiftung gefördert zu werden, ist es erforderlich, einen Träger zur Kofinanzierung in gleicher Höhe zu gewinnen. Zusätzlich wird den Projektstandorten abverlangt, ein individuelles, auf die regionalen Bedürfnisse angepasstes Konzept weiterzuentwickeln und eine qualitativ hochwertige und auf die praktischen Bedürfnisse angepasste Förderlehrerausbildung nachzuweisen. Ein weiteres Beispiel privater Initiative auf dem für die soziale und ökonomische Zukunft unseres Landes bedeutungsvollen Gebiet der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bietet ein Sprachförderprojekt „Sprache verbindet“. Es wird getragen von Rotary-Clubs in 14 Städten von NRW und ausschließlich aus privaten Spendenmitteln finanziert. Im Rahmen dieser Initiative helfen Oberstufenschülerinnen und -schüler als „Sprach-Scouts“ Kindergartenkindern und Grundschülern mit Migrationshintergrund spielerisch beim Erwerb der deutschen Sprache. Nur beim Antrittsbesuch der Scouts bei den Eltern ist ein erwachsener „Pate“ dabei, danach verbringen die Scouts wöchentlich zwei Stunden allein mit dem Kind in dessen Familie und sprechen nur Deutsch. Die Scouts haben weniger die Funktion eines Lehrers als die einer Freundin oder eines Freundes. Sie gehen mit den Migrantenkindern auch in den Zoo, in ein Museum oder in eine Bibliothek. Viele der Scouts besitzen selbst einen Migrationshintergrund. Das ist für das Projekt von besonderer Bedeutung, denn sie geben dadurch ein besonderes Vorbild, weil sie es mit einem vergleichbaren Hintergrund bis in die gymnasiale Oberstufe geschafft haben. Natürlich haben sie auch einen besseren Kontakt zu den Familien, in denen kein Deutsch gesprochen wird.



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Derzeit erfolgt zum Beispiel in Dortmund durch 177 Scouts die Sprachförderung von 220 Kindergarten- und Grundschulkindern vieler Nationen. Den größten Anteil stellen Kinder aus türkischen Familien. Jeder Scout erhält eine Aufwandsentschädigung von 8 Euro je Stunde, wovon die Rotary-Clubs und die Familien der Förderkinder je die Hälfte tragen. Das Projektangebot wird im Rahmen von Elternabenden vorgestellt, außerdem werden Erzieher und Schulleiter informiert. Derzeit ist eine Aussage über den Weg, den die Kinder nach dem Schulabschluss einschlagen, noch nicht möglich. Dafür läuft das Projekt noch nicht lange genug. Aber heute schon haben die meisten Kinder ihre Schulnoten deutlich verbessert und ihre Unterrichtsbeteiligung ist lebhafter geworden. Mit den guten Noten erhalten sie von den Lehrern auch Empfehlungen für den Übergang in Realschule oder Gymnasium. Zusammenfassung Menschen mit Migrationshintergrund werden für Deutschland zu einem immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor. Die ökonomische und soziale Entwicklung unseres Landes, vor dem Hintergrund tiefgreifender demographischer Veränderungen innerhalb der nächsten Jahrzehnte, verlangt eine nachhaltige Erschließung dieses wachsenden Humankapitals durch Qualifizierung und Integration. Die Fundamente hierfür sind durch eine effiziente Sprachförderung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu legen. Die Investitionen, die im Interesse der Beschleunigung einer solchen Entwicklung zu betreiben sind, werden immer wieder an die Grenzen der Bildungsbudgets der Bundesländer stoßen. Deshalb werden zunehmend Maßnahmen in öffentlich-privater Partnerschaft gefragt sein. Profitieren werden davon insbesondere auch die mittelständischen Unternehmen, weil sich die Auswirkungen der demographischen Veränderungen dadurch mildern lassen, dass mehr und mehr qualifizierte Fachkräfte, vom Facharbeiter bis zum Akademiker, aus dem wachsenden Anteil der Mitbürger und -bürgerinnen mit Migrationshintergrund rekrutiert werden können.  

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Literatur Demographischer Wandel in Deutschland; Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung im Bund und in den Ländern; Statistische Ämter des Bundes und der Länder; Heft 1, 2011. Bevölkerung Deutschlands bis 2060; 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung; Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. November 2009; Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. KMU-Definition; Institut für Mittelstandsforschung, Bonn. Mikrozensus 2008; Bevölkerung nach Migrationsstatus regional; Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2009. Mikrozensus 2010; Bevölkerung mit Migrationshintergrund; Fachserie 1, Reihe 2.2; Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2011. Bevölkerung mit Migrationshintergrund; Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 2011. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009, Kapitel 15, Studierende mit Migrationshintergrund; 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch HIS Hochschulinformationssystem. Stanat, P., Rauch, D. & Segeritz, M. (2010); Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. In E. Klieme, C. Artelt, J. Hartig, N. Jude, O. Köller, M. Prenzel, W. Schneider & P. Stanat (Hrsg.), PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt (S. 200–230). Münster: Waxmann. Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund; Stiftung Mercator, Essen; www.mercator-foerderunterricht.de www.sprache-verbindet.de  



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Prof. Dr. Günter Spur Innovationsfähiges Technologiemanagement Die mittelständische Produktionswirtschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert. Dieser Wandlungsprozess wurde entscheidend durch die Informationstechnik geprägt, verbunden mit einer stärkeren Aufgeschlossenheit für wettbewerbsfähiges Handeln. Dazu gehört auch der Mut zum Neuen. Technologische Kompetenz und Führungsfähigkeit sind genauso gefragt wie innovativer Gemeinschaftssinn. Das verfügbare Kreativitäts- und Bildungsniveau wird der Engpass für den Fortschritt sein. Innovation beginnt damit, Begabungen zu finden und zu fördern. Das erfordert eine nachhaltige Strategie für die Entwicklung und Nutzung aller geistigen Ressourcen. In kritischen Wirtschaftsphasen wird schnell deutlich, wie mangelhaft die Vorsorge ist. Deshalb muss die Förderung des Nachwuchses höchste Priorität erhalten. Jede Art von Bildungsinnovation ist gefragt, um das Können der Menschen zu verbessern. Die Gesellschaft erwartet von den politischen Verantwortlichen, dass sie das Bildungssystem diesen Anforderungen entsprechend entwickeln. Die Fähigkeit zur Gemeinschaftsarbeit erweist sich durch Aufgeschlossenheit zum Können des Anderen. Deshalb ist Kommunikationsfähigkeit genauso gefragt wie Verfügbarkeit über Wissen und Können. Der ökonomische Imperativ technologischer Innovationen fordert größten Nutzen bei möglichst geringem Aufwand. Die Maximierung der Leistungsintensität umfasst die gesamte Innovationskultur des Unternehmens. Innovationen sind unternehmensspezifisch und deshalb von den Wettbewerbern nur schwierig zu kopieren. Das Innovationsmanagement ist auf Objekte und Zustände gerichtet, die es noch nicht gibt. In der Innovationstypologie werden Produkt- und Prozessinnovationen unterschieden. Hinsichtlich ihres zeitlichen Verhaltens sind Sprung- und Stetiginnovationen zu beobachten. Neben systematisch geplanten Innovationen gibt es auch solche, die als Zufallsinnovationen Überraschungseffekte auslösen.

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Wichtig ist für den Erfolg von Innovationsprozessen, dass Risiken aus dem Umfeld möglichst schnell neutralisiert werden. Die Regulierbarkeit der Planungsparameter von Innovationsprozessen ist unverzichtbar. Dies erfordert gegebenenfalls konsequente Handlungsbereitschaft für Kurskorrekturen und Zielerneuerungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Zeithorizont für den Erfolg des Neuen immer kürzer wird. Von großer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung sind die Fortschritte in der Beherrschung der Komplexität technischer Systeme. Der Trend zielt auf Verfeinerung der Funktionen zu höherer Präzision und damit zu höherer Elementarqualität. Dies führt durch weitere Differenzierung zu höherem Vernetzungsgrad und zu höheren Anforderungen an die Qualitätssicherung. Die Vermehrung der Funktionen technischer Objekte führt auch zu neuen Herausforderungen des Komplexitätsmanagements. Die permanente Verbesserung der Funktionstüchtigkeit steigert sich schließlich zum Anspruch einer absoluten Fehlerlosigkeit. Der Zwang zur permanenten Innovatisierung produktionstechnischer Prozesse ist eine Herausforderung zur Entwicklung wandlungsfähiger Produktionsmittel. Es geht nicht nur um die Stabilisierung einer angestrebten Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch um eine permanente Optimierung der Innovationsressourcen. Planmäßigkeit allein ist nicht ausreichend. Entscheidend ist die qualifizierte Beherrschung aller Systemprozesse. Dies bedeutet auch, eine zielgerichtete volle Entfaltungsmöglichkeit für neues Wissen zu schaffen. Die Ansätze hierfür liegen sowohl in der permanenten Aktivierung des Innovationspotenzials der produktionstechnischen Unternehmen als auch in der Anpassung des erreichbaren Umfelds des weltwirtschaftlichen Wettbewerbs.



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Imperativ produktionstechnischer Innovationssysteme Nützlichkeit ist die Macht des Neuen Die Kritik der innovativen Vernunft gebietet Zuverlässigkeit Kriterien der Zuverlässigkeit

zeitgerecht

ortsgerecht

mengengerecht

artengerecht

kostengerecht

Abbildung 1: Zuverlässigkeit als Herausforderung.

Transparenz komplexer Produktionsprozesse Die zunehmende Vielgestaltigkeit von Produktionsprogrammen ist eine Herausforderung der Produktionssteuerung. Zu ihrer Beherrschung ist ein agiles Komplexitätsmanagement erforderlich. Es geht um die Optimierung aller Prozessparameter, die durch den Auftragsdruck schnell wachsender Produktprogramme das Steuerungssystem von Geschäftsprozessen in extremer Weise beanspruchen. Dies insbesondere deshalb, weil mit zunehmender Komplexität auch die Wahrscheinlichkeit von Störwirkungen im Prozessablauf zunimmt. Es kommt deshalb zunächst darauf an, die Komplexität von Produktionsprozessen zu analysieren und damit eine Transparenz zu schaffen, die eine zielgerichtete Überwachung, aber auch Korrekturen und Sondermaßnahmen ermöglicht. Mögliche Störfälle müssen in ihrer Kausalität aufbereitet sein und sofortige Gegenmaßnahmen auslösen. Insofern ist Komplexitätsmanagement, das eine systematische Prozessstabilisierung einschließt, immer auch durch reaktionsorientierte Handlungsfähigkeit bestimmt. Organisatorische Maßnahmen zur Verringerung der Komplexität sind immer nützlich, aber meist nicht ausreichend oder nicht möglich, weil die Vorzüge komplexer Systemeigenschaften nicht mehr gegeben wären. Deshalb müssen Lösungen gesucht werden, die die vorgegebene Komplexität als Aufgabe eines ganzheitlichen Komplexitätsmanagements

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verstehen. Komplexität wird durch Innovationen beeinflusst und muss deshalb schon in das strategische Management einbezogen werden. Es geht dabei um Strukturierung systemimmanenter Komplexitätsquanten mit dem Ziel ihrer Regulierbarkeit auf optimale Systemfunktionalität. Dies schließt auch eine Gewichtung der Wirksamkeit von Störparametern ein, die insgesamt das Profil der Störanfälligkeit bestimmen. Produktionssysteme der Zukunft führen in immer kürzerer Zeit schwierige Arbeitsoperationen mit hoher Zuverlässigkeit aus. Ihre große Flexibilität führt zur Vermehrung der Systemkomplexität (Abbildung 1).¹ Die Wettbewerbsstärke der Produktionstechnologie ist ihr Innovationspotenzial. Es reicht von arbeitsintensiven Kleinserienfertigungen über arbeitsteilig organisierte Serienproduktion bis zu hochautomatisierten Fertigungsanlagen, die sich sowohl durch hohe Flexibilität als auch durch hohe Produktivität auszeichnen. Die Innovationsstrategie sollte sorgfältig durchdachte und im Kreis der Unternehmensleitung abgestimmte Innovationsziele und Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele enthalten. Sie stellt eine Ausgestaltung von Teilelementen der übergeordneten Unternehmensstrategie dar, innerhalb der die generellen strategischen Zielsetzungen und Verhaltensweisen des Unternehmens beschrieben werden. Die Erarbeitung einer Innovationsstrategie ist unabhängig davon sinnvoll, ob sich das Unternehmen unter marktorientierten Gesichtspunkten für eine Strategie der Differenzierung, Segmentierung oder Kostenführerschaft entscheidet. Die Zielkriterien technologischer Innovationen liegen zunächst einmal im Grad der Erfüllung extremer Erwartungen: auf der einen Seite die überraschende Beeindruckung des Neuen, auf der anderen Seite die Erfüllung hoher technologischer Anforderungen. Was immer gilt, ist der Zwang zum wirtschaftlichen Erfolg. Wie jeder weiß, liegt hier das eigentliche Problem der Planung und Führung von Innovationsprozessen: Der Aufwand muss zurückfließen. Zur Absicherung des Risikos technologischer Innovationen sind die Risikopotenziale abzufangen. Präzision und Zuverlässigkeit sind gefragte Stellgrößen, aber dennoch verlangt jedes Risiko einen Ausweg. Der Fortschritt der Technik ist mehrläufig. Es kommt auf die Reserve an, auch im Potenzial verfügbarer Kreativität.²



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Nachhaltigkeit der Innovationsziele Technologische Innovationen sind die Triebkräfte des ökonomischen und ökologischen Systems unserer Gesellschaft. Als Orientierungsziel wird die technologische Nachhaltigkeit von der ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit begleitet (Abbildung 2).

Wissenschaft

Politik

Wirtschaft

Ethisch-soziale Ansprüche

Nachhaltigkeit der Innovationskutlur

Nominativ-rationale Ansprüche

Nachhaltigkeit von Innovationssystemen Technologisch

Ökonomisch

Ökologisch

Abbildung 2: Nachhaltigkeit als Zielorientierung der Innovationsplanung.

Nachhaltig wachsende Wirtschaftsstrukturen setzen allerdings eine kreative Entfaltung des gesamten sozialen Leistungspotenzials zur permanenten Innovation voraus. Wachstum ist auf Dauer nur dann möglich, wenn das Neue von der Gesellschaft gewollt wird. Innovationsideen bedürfen nicht nur einer spontanen Sinngebung, sie müssen auch nachhaltig Sinn haben und zu einer Verbesserung unseres Seins führen. Als Richtfeld innovativer Ideenpotenziale dient die Vernunft der Nachhaltigkeit. Sie ist das Normativ für das Planungsfeld neuer Technologien.

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Man könnte die Frage stellen, unter welchen Bedingungen sich nachhaltig orientierte Innovationen schneller und besser entwickeln können. Einsichtiges Bekennen zur Nachhaltigkeit reicht nicht aus, es geht um ihre Durchsetzung am Markt. Hilfreiche Treiber sind dabei staatlich gelenkte Eingriffe durch gesetzliche Maßnahmen, die allerdings gleichzeitig einen globalen Wettbewerb um Marktanteile berücksichtigen müssen. Die Planung zukünftiger Technologien zielt auf eine real wirkende Nachhaltigkeit mit dauerhafter Funktionalität unter Einschluss ökonomischer und ökologischer, aber auch sozialer Kriterien. Dabei ist der dauerhafte wirtschaftliche Erfolg am Markt ein unverzichtbares Zielkriterium. Das Vertrauen zu einer Planungspolitik der Nachhaltigkeit kann dauerhaft nur im Einklang mit der unternehmerischen Zielsetzung auf ökonomischen Erfolg, also durch Steigerung von Produktivität und Qualität, hergestellt werden. Das besondere Ziel einer nachhaltig orientierten Wirtschaftspolitik liegt in der harmonischen Verknüpfung arbeitsmindernder Produktionsinnovationen mit solchen, die durch ihre nachhaltigen Wirkungen arbeitsintensive Wertschöpfung hervorrufen. Wir brauchen in diesem Sinne eine technologische Innovationskultur, die das Neue mit nachhaltiger Wirkung produziert, um Arbeit zu schaffen. Nachhaltigkeit ist keine zufällige Beigabe, sondern eine integrative Zukunftsaufgabe für einen Markt, der immer wieder neue Nachhaltigkeit will. Nachhaltig orientierte Innovationen der Produktionstechnik stellen uns vor eine neue Dimension von Verantwortung. Es geht nicht nur um die Regulierung ökologischer Grenzwerte, auch nicht nur um die Erfüllung des ökonomischen Imperativs, sondern ganz entscheidend um die Anpassung unseres Gesellschaftssystems an die soziale Wettbewerbssituation des globalen Marktes. Innovationsfähige Kreativität Die Reform der Industriegesellschaft erfolgt durch technologiegetriebenen Innovationsdruck, der von theoretischem Wissen, praktischer Erfahrung, entscheidungsstarker Handlungsfähigkeit sowie von kreativer Einfühlung in die Probleme der Wirtschaft geprägt ist. Aus einem komplexen Innovationspotenzial lassen sich unterschiedliche Innovationsprozesse ableiten, die zu mehreren Wahrheiten führen und durchaus nebeneinander wettbewerbsfähig bestehen können. Es ist auch möglich, dass kreative Lösungswege durch Randbedingungen eingeschränkt, gehemmt oder verhindert werden. Die besondere Schwierigkeit bei der Umsetzung von Innovationen liegt in der Einschätzung des Risikos.



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Es wird allgemein vorausgesetzt, dass Innovationsprozesse erfolgreich ablaufen. Somit werden höchste Erwartungen an alle Leistungsträger gestellt. Der Erfolg basiert auf strategischer Aufarbeitung der Innovationsfähigkeit, gestützt auf Wissen und Können, immer reguliert durch kreative Vernunft und mit Verantwortung für das eigene Handeln verbunden. Innovationsfähige Kreativität ist eine Kunstfertigkeit zur Schaffung des Neuen, dadurch gekennzeichnet, dass sie Wissen mit Können, Handlungsfähigkeit mit Inspiration vereinigt und sich der innovativen Vernunft als Regulativ bedient. Das Ergebnis ist ein Gemeinschaftsprodukt, wirksam als Netzwerk individueller Kreativitätspotenziale mit spezialisiertem Wissen, das sich im gemeinsamen Können offenbart. Um das Neue zur Nutzung zu führen, muss es dem unternehmerischen Wirkfeld angeschlossen werden, wobei der Zeitpunkt für einen Innovationserfolg richtig gewählt sein will. Nicht immer ist das Neue erfolgreich. Der Sinn von Innovationen liegt in ihrem anschlussfähigen Nutzen. Dabei kann sich dieser sprunghaft oder allmählich entwickeln. Das Neue allein bewirkt noch keinen wirtschaftlichen Fortschritt, dieser ist erst mit der Durchdringung des Marktes erreicht. Innovationen sind dann nachhaltig, wenn der Erfolg von Dauer ist. Ein wichtiges Kriterium für den Erfolg von Innovationsprojekten ist eine Handlungsfähigkeit, die auch Durchsetzungsvermögen einschließt. Es kommt nicht nur darauf an, aus einer Vision ein Produkt zur gestalten, sondern letztlich auf die nutzbringende Realisierung einer Innovation. Dabei gilt es, technischen Sachverstand mit wirtschaftlichem Handeln zu verbinden. Der Zeitdruck auf Innovationsprozesse ist enorm gestiegen, wobei Planungssicherheit an Bedeutung zunimmt. Technisches Handeln muss von Zuverlässigkeit begleitet sein. Sie ist für den Erfolg unverzichtbar. Technologischer Fortschritt bedarf einer permanenten wissenschaftlichen Analyse durch eine innovationsorientierte Begleitforschung. Damit würde ein prozessorientiertes Wissenschaftssystem von Erkenntnissen und Methoden entstehen, das nicht nur der optimalen Gestaltung und Führung von technologischen Wirksystemen dient, sondern auch die kreative Entfaltung des verfügbaren Innovationspotenzials gezielt fördert.

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Die technologische Innovationskreativität zielt in unserer Gesellschaft nicht nur auf eine produktive Nutzung der Naturpotenziale. Sie ist auch Auslöser und Antrieb für einen Wandel unserer kulturellen Lebensqualität. Die technologische Kreativität wird nicht nur ökotechnisch und ökonomisch bewertet, sondern auch an ökosozialen und ökologischen Folgewirkungen gemessen (Abbildung 3).

Innovationswirtschaft

Gesellschaft Zeitgeist

Technologische Innovationskreativität

Wettbewerbswirtschaft

Anschlussfähigkeit der Innovationskultur

Technologischer Anschluss

Ökonomischer Anschluss

Ökologischer Anschluss

Ökosozialer Anschluss

Abbildung 3: Anschlussfähigkeit der Innovationskreativität.

Anschlussfähigkeit zum Wandel der Innovationskultur befähigt zum Wandel des Gegenwärtigen und macht den Fortschritt möglich. Damit stellt sich die Frage nach der Orientierung dieser stetigen Weiterentwicklung zum Neuen, nach den Kriterien zur Bewertung von Innovationszielen. Gefragt ist eine technologische Kreativität, die einen leistungsstarken Innovationsdruck in allen Bereichen technologischen Wirkens erzeugt.



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Wirtschaftswachstum

ist

vom

Kreativpotenzial

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des

technisch-wissenschaftlichen

Fortschritts abhängig. Nachhaltig davon abgeleitete Innovationsprozesse zielen auf eine dauerhafte Stabilisierung der Produktionswirtschaft. Deren technologische Basis beruht auf effizienter Nutzung kreativer Ressourcen, getrieben von Erfindungsreichtum im praktischen Gestalten und verknüpft mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung. Ihr Erfolg wird an realen Ergebnissen bewertet, ist aber nicht immer voraussehbar. Kreativität muss anschlussfähig zur Realität des jeweiligen Entwicklungsstands der Technik sein, um erfolgreich wirken zu können. Die Praxis der Technikforschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert. Dieser Wandlungsprozess wurde entscheidend durch die Informationstechnik geprägt, verbunden mit einer stärkeren Aufgeschlossenheit für wirtschaftliches Handeln. Dazu gehört auch die Übernahme von Verantwortung. Technologische Kompetenz und Führungsfähigkeit sind genauso gefragt wie innovativer Gemeinschaftssinn. Das verfügbare Kreativitäts- und Bildungswissen wird der Engpass für den Fortschritt sein.

1

Spur, G.: Kritik der logistischen Vernunft. ZWF 102 (2007) 5, S. 254–259.

2

Spur, G.; Eßer, G.: Innovation, Produktion und Management. Hanser Verlag, München, Wien 2008.

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Prof. Dr. Andreas Pinkwart Qualifizierte Zuwanderung – eine Chance für den Mittelstand Die Bundesrepublik Deutschland ist eine schrumpfende und alternde Gesellschaft. In den vergangenen Jahren sind die ersten Folgen des politischen und soziologischen Trendbegriffs „demographischer Wandel“ erstmals direkt und offen zu Tage getreten. Die Herausforderungen sind vielfältig: Beispielhaft seien die steigenden Belastungen für unsere Renten- und Pflegekassen, die notwendigen Anpassungen im Schulsystem aufgrund sinkender Schülerzahlen und das Schrumpfen der Wohnbevölkerung ganzer Städte und Regionen genannt. Für kleine und mittlere Unternehmen manifestiert sich in diesem Zusammenhang bereits jetzt eines der drängendsten Zukunftsprobleme: Der demographische Wandel bedingt auch einen Mangel an Fachkräften, den zuerst die KMUs in Deutschland zu spüren bekommen, während größere Arbeitgeber diesen Effekt erst verzögert wahrnehmen. Noch ist die Lage in den meisten Branchen relativ entspannt. Derzeit drängen besonders geburtenstarke Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt sowie an die Hochschulen und sorgen für hinreichende Bewerberzahlen und ein Arbeitskräftereservoir, das in der Regel auskömmlich ist. Auch die teilweise doppelten Abiturjahrgänge sowie die Aussetzung von Wehr- und Zivildienst mildern die Entwicklung als Einmaleffekt teilweise ab. Bei einigen spezialisierten Berufsbildern herrscht allerdings bereits jetzt schon ein Mangel an gut ausgebildeten jungen Bewerbern vor. Nicht alle offenen (Lehr-)Stellen können besetzt werden. Betroffen sind hier nicht mehr nur die ingenieur- und naturwissenschaftlichen Berufe. Auch im Handwerk, in den Gesundheits- und Pflegeberufen gibt es mehr offene Stellen als Bewerber. Bis zum Jahr 2030 scheiden in Deutschland rund 20 Millionen Menschen aus dem Erwerbsleben aus. Nur 16 Millionen junge Menschen rücken nach. Für eine Wissensgesellschaft wie Deutschland hätte diese Entwicklung in letzter Konsequenz verheerende Auswirkungen. Als Land ohne bedeutende Rohstoffvorkommen ist Deutschland im besonderen Maße auf Unternehmen angewiesen, die Produkte und Dienstleistungen hervorbringen, die sich durch Innovation, Qualität und Spezialisierung von der weltweiten Konkurrenz abheben. Ein Mangel an Fachkräften beschneidet die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft – von den KMUs bis zu den Dax-Unternehmen – auf erhebliche Art und Weise.



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Um diesem drohenden Fachkräftemangel angemessen zu begegnen, ist ein ganzes Bündel von koordinierten Maßnahmen notwendig. Die in diesem Aufsatz vorgestellten Positionen beziehen sich auf die im November 2011 präsentierten Ergebnisse der „Hochrangigen Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung“ unter Berücksichtigung der jüngsten Beschlusslage des Deutschen Bundestages aus dem April 2012 zur Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie. Begegnen kann man dem Fachkräftemangel in Deutschland selbstverständlich nicht nur durch einen verstärkten Zuzug von Hochqualifizierten. Auch für die bereits in Deutschland lebende Bevölkerung können die Bildungs- und Erwerbschancen im Sinne einer qualifizierten Teilhabe am Arbeitsmarkt verbessert werden. Notwendig bleiben weiterhin Investitionen in den Bildungsbereich: von der frühkindlichen Bildung über Schule und Hochschule bis zur Erwachsenenbildung im Sinne des lebenslangen Lernens. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf dem Elementarbereich, also der Bildung von Kindern unter sechs Jahren, liegen. In diesem Alter können mit einer gezielten Förderung der Sprachfähigkeit wichtige Grundsteine für gleiche Chancen am Schulstart und erfolgreiche Bildungskarrieren gelegt werden. Kinder, die in diesem frühen Alter bereits durch mangelndes Sprachverständnis benachteiligt sind, holen diesen Rückstand nur mit größten Mühen wieder auf. Ein weiterer Aspekt ist der Übergang von Schule und Hochschule in den Beruf. Arbeitgeber und Bildungseinrichtungen müssen noch viel enger miteinander kooperieren, um potenzielle Fachkräfte für die jeweiligen Berufsbilder zu begeistern. Neben der verstärkten Förderung junger Menschen sollte man auch in der Gruppe der Erwachsenen nach „stillen Fachkräftereserven“ suchen. Aus Berufstätigen in Branchen mit Arbeitskräfteüberhang oder Arbeitslosen können mit einer gezielten Qualifizierung neue Fachkräfte in Mangelberufen werden. Zu bedenken ist außerdem, dass mit individueller Förderung und flexiblen Arbeitsmodellen auch Menschen aus vermeintlich benachteiligten Gruppen wie Migranten, Arbeitnehmer über 55 und in Teilzeit arbeitende Frauen wertvolle Fachkräfte sein können. Es mag mehr Aufwand bedeuten, einen älteren Ingenieur oder eine Fachkraft nach längerer Familienphase in eine spezialisierte Aufgabe einzuweisen, als eine junge Fachkraft mit frischem Abschluss zu rekrutieren. Gleichzeitig gewinnt das Unternehmen durch den älteren Mitarbeiter jedoch an Erfahrung und breiterem Fachwissen durch Diversifikation.

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Allein mit inländischen Arbeitskräften kann dem Fachkräftemangel in Deutschland jedoch nicht vollständig begegnet werden. Notwendig ist eine gezielte und gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus der Europäischen Union und aus Drittstaaten. Vergleichsweise einfach gestaltet sich dabei die Rekrutierung in anderen EU-Staaten. Durch die europaweit geltende Freizügigkeit sind die politischen Rahmenbedingungen für Zuwanderung von Menschen jeden Alters bereits gut ausgestaltet. Obwohl insbesondere in Zeiten der europäischen Schuldenkrise das Interesse am prosperierenden deutschen Arbeitsmarkt bereits hoch ist, sollte die Werbung für den Standort Deutschland innerhalb der EU noch verstärkt werden. Neben Sprachkursen für potenzielle Bewerber empfiehlt sich, das Dienstleistungsnetz des European Employment Service (EURES) weiter auszubauen, um Stellensuche und -besetzung transparenter zu gestalten. Informations- und Werbekampagnen in Kooperation mit Partnern wie den Auslandshandelskammern sind ebenso sinnvoll wie Ausbildungsplatzstipendien für Jugendliche, die eine Ausbildung in den Berufen beginnen, die in Deutschland nur schwach nachgefragt werden. Neben der Rekrutierung von Arbeitskräften aus dem EU-Ausland wird es auch notwendig sein, den deutschen Arbeitsmarkt für die Zuwanderung von qualifizierten Bewerbern aus Drittstaaten zu öffnen. Dazu ist es unabdingbar, ausländische Abschlüsse so anzuerkennen, dass Bewerber ihre Fähigkeiten auch entsprechend ihrem bisherigen Niveau oder mit geringen Nachqualifizierungen einbringen können. Für Studenten muss es einfacher werden, während des Studiums einer Tätigkeit nachzugehen oder sich nach dem Studium in Deutschland niederzulassen, um die in Deutschland erworbenen Kenntnisse auch in Deutschland anwenden zu können. Um ein attraktives Zuwanderungsland zu werden, muss Deutschland auch durch veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen an seinem Image arbeiten. Die bisherigen Regelungen für Zuwanderung aus Drittstaaten wirkten oft kompliziert und abschreckend. Ein modernes Zuwanderungsrecht sollte den Charakter einer Einladung haben. Weniger Bürokratie, erleichterte Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften sowie eine unkomplizierte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sind notwendige Elemente einer solchen Reform des Zuwanderungsrechts.



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Auch der Mittelstand würde von einem vereinfachten und entbürokratisierten Einstellungsverfahren für ausländische Fachkräfte profitieren. Darüber hinaus könnten staatliche Institutionen wie die Bundesagentur für Arbeit, Gewerkschaften und Unternehmensverbände eine gemeinsame Plattform zur Vermittlung arbeitsuchender qualifizierter Zuwanderer schaffen. Die Bundesagentur sollte außerdem durch spezielle Servicestellen das Informations- und Vermittlungsangebot bei der Personalgewinnung ausländischer Arbeitskräfte für den Mittelstand verbessern. Einen Teil der Forderungen der „Hochrangigen Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung“ hat die Politik bereits erfüllen können: Im April 2012 hat der Deutsche Bundestag die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie abschließend diskutiert. Die Zuwanderung von Fachkräften – insbesondere von Studenten nach ihrem Abschluss – ist damit deutlich erleichtert worden, was einen klaren Paradigmenwechsel in der Zuwanderungssteuerung der Bundesrepublik Deutschland bedeutet. Bislang hatte die Einkommensgrenze für zuwanderungswillige Fachkräfte bei 66.000 Euro gelegen. Diese Hürde war insbesondere bei Berufseinsteigern und bei kleineren Arbeitgebern viel zu hoch. Die nun verabschiedete Reform sieht eine Anpassung auf 48.000 Euro Jahresgehalt vor und kommt damit der Realität auf dem Arbeitsmarkt deutlich näher. In bestimmten Mangelberufen sind die Barrieren mit einer Grenze von 33.000 Euro noch deutlicher abgebaut worden, so dass das Einstiegsgehalt keine unüberwindbare Hürde für gut ausgebildete Berufseinsteiger mehr darstellt. Über die Anpassung der Einkommensgrenzen hinaus hat der Deutsche Bundestag die bisher notwendigen Vorrangprüfungen für Bewerber aus dem Ausland ausgesetzt, den Zuzug für qualifizierte ausländische Studenten erleichtert und ein spezielles Arbeitssuchvisum eingeführt.

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Es bleibt künftig jedoch noch einiges mehr zu tun, zumal sich die meisten Wohlfahrtsstaaten der Welt von vergleichbaren demographischen Problemen konfrontiert sehen und ihrerseits erhebliche Anstrengungen zur Anwerbung von Fachkräften unternehmen. So wäre es darüber hinaus wünschenswert, wenn in Deutschland endlich auch ein transparentes Punktesystem Einzug halten würde, wie es sich in Kanada längst erfolgreich bewährt hat. Zudem kann und darf die Bewältigung des Fachkräftemangels durch Zuwanderung kein rein politisches Projekt sein. Flankiert und verankert werden müssen die oben vorgestellten Maßnahmen des Gesetzgebers durch eine ausgeprägte Willkommenskultur in Wirtschaft und Gesellschaft. Nur wenn wir Bürger und Unternehmen Zuwanderung als Chance verstehen, erzeugen wir in Deutschland ein Klima, das attraktiv auf qualifizierte Zuwanderer wirkt. Unbürokratische Regelungen und ein klares Ja der Tarifparteien, Kollegen und des sozialen Umfelds für qualifizierte Zuwanderung müssen Hand in Hand gehen, um die notwendigen Klebeeffekte zu erzeugen und der Herausforderung des Fachkräftemangels in Deutschland nachhaltig wirksam zu begegnen.  



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Dr. Eberhard Heinke Aktive Zuwanderungspolitik als Lösung des Fachkräftemangels? Die Staatsschulden- und Eurokrise sowie die nach der Katastrophe von Fukushima ausgerufene Energiewende und deren Folgen dominieren derzeit die öffentliche und politische Diskussion in Deutschland. Auch wenn die Lösung dieser Probleme für die Zukunft des Landes von zentraler Bedeutung ist, lassen diese kurz- und mittelfristigen Probleme – wie bereits die Wiedervereinigung oder die globalen Folgen des Terroranschlags im September 2001 – eine wichtige Herausforderung in den Hintergrund treten, die für den langfristigen Erhalt des in Deutschland erreichten Wohlstandsniveaus eine herausragende Rolle spielt: den demographischen Wandel. InfoIge der seit langem niedrigen Geburtenraten und einer nicht zuletzt durch den medizinisch-technischen Fortschritt ermöglichten längeren Lebenserwartung wird die Bevölkerung hierzulande in den kommenden Jahrzehnten deutlich schrumpfen und gleichzeitig altern. Unzweifelhaft stellt dies die Gesellschaft und Wirtschaft Deutschlands vor große Herausforderungen. Viel diskutiert werden bereits die Folgen des demographischen Wandels für die Sozialversicherungssysteme, insbesondere die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Aber erst seit kurzem haben der damit einhergehende Mangel an Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt und die so entstehenden Probleme für die Wirtschaft die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Politik erlangt. Und die Folgen dieses Wandels für die Vermögens- und Gütermärkte, das Wachstum des Produktionspotenzials oder die öffentlichen Haushalte werden bisher nahezu ausschließlich in Expertenkreisen diskutiert (siehe hierzu bspw. SVR 2011). Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen die Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Arbeitsmarkt, wobei insbesondere die spezifischen Probleme für den Mittelstand diskutiert werden. Hierzu werden in einem ersten Schritt in aller gebotenen Kürze die Folgen des demographischen Wandels auf die Anzahl der Erwerbstätigen in den kommenden Jahrzehnten dargestellt. Anschließend werden mögliche Lösungsstrategien vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf die Frage gelegt wird, inwieweit eine aktive Zuwanderungspolitik zur Lösung der mit dem demographischen Wandel einhergehenden Probleme beitragen kann.

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Der demographische Wandel Die Bevölkerungsentwicklung wird von zwei Faktoren bestimmt: der sogenannten „natürlichen“ Bevölkerungsbewegung und der (Netto-)Zuwanderung. Die natürlichen Bevölkerungsbewegungen hängen wiederum von drei Größen ab: der Bevölkerung im Ausgangszustand, der Geburtenziffer und der Lebenserwartung. Dabei werden üblicherweise Annahmen über die Geburtenziffer und die Lebenserwartung getroffen, um die im Ausgangszeitpunkt vorherrschende Bevölkerungsstruktur in die Zukunft fortzuschreiben. Über die künftigen Verläufe der Geburtenziffer und der Lebenserwartung bestehen naturgemäß Unsicherheiten. Um diese zu berücksichtigen, werden bei der Projektion der zukünftigen Bevölkerungsstruktur unterschiedliche Szenarien berechnet, bei denen die Entwicklung dieser beiden zentralen Parameter variiert wird. Die Geburtenziffer hat sich seit Anfang der 90er Jahre stabil auf dem sehr niedrigen Niveau zwischen 1,2 und 1,4 Kindern je Frau im Alter zwischen 15 und 50 Jahren bewegt. Dies führt nicht nur dazu, dass jede neue Generation um etwa ein Drittel kleiner ausfällt als die ihrer Eltern (BlB 2009), sondern auch zu einem „exponentiellen Rückgang“ der Bevölkerung. Aus den bereits ausgedünnten Kindergenerationen werden nämlich typischerweise jeweils kleinere Elterngenerationen, die wiederum genauso niedrige Geburtenziffern aufweisen (Kröhnert et al. 2008). Während das sogenannte Basisszenario der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Destatis 2009) davon ausgeht, dass die Geburtenziffer zukünftig weiterhin konstant bei 1,4 Geburten je Frau liegen wird, werden dort auch Varianten mit Geburtenziffern von 1,2 und 1,6 Kindern durchgespielt. Die künftige Lebenserwartung hängt in erster Linie vom medizinischen Fortschritt ab. Die vorliegenden Vorausberechnungen gehen von einer weiterhin stetig steigenden Lebenserwartung aus. Das Basisszenario für das Jahr 2060 sieht gegenüber den Jahren 2006 bis 2008 einen Zuwachs der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt für Mädchen und Jungen um knapp sieben beziehungsweise etwa acht Jahre. Damit würde sie dann 89 respektive 85 Jahre betragen. Die Lebenserwartung der dann 65-jährigen Frauen und Männer wird im Jahr 2060 voraussichtlich bei 90 beziehungsweise 87 Jahren liegen.



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Der zweite Aspekt, der die künftige Bevölkerungsgröße und ihre Altersstruktur maßgeblich bestimmt, ist die Netto-Zuwanderung. Die Einschätzung des künftigen Wanderungssaldos stellt sich allerdings als höchst unsicher dar. So bestehen ganz erhebliche Unwägbarkeiten allein schon über die Anzahl der einwanderungswilligen Personen im Ausland. Zugleich unterliegt die Zuwanderung nach Deutschland vielfältigen institutionellen Regelungen, die darüber entscheiden, wie sehr sich dieses Zuwanderungspotenzial auf den tatsächlichen Wanderungssaldo auswirkt. Bei den genannten Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes stehen zwei Szenarien gleichberechtigt nebeneinander, die von einem jährlichen Wanderungssaldo von 100.000 beziehungsweise 200.000 Personen ausgehen. Bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte ein merklicher Rückgang der Einwohnerzahl eingesetzt. Bis zum Jahr 2009 nahm sie gegenüber dem Jahr 2003 bereits um mehr als 700.000 Personen ab. Dieser Trend wird sich in allen Varianten der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts (Destatis 2009) fortsetzen und zunehmend verstärken. Unter den Annahmen der Basisszenarios, die eine konstante Geburtenziffer von 1,4 Kindern je Frau und eine jährliche Netto-Zuwanderung von 100 000 Personen ab dem Jahr 2014 unterstellen, werden im Jahr 2060 mit etwa 65 Millionen Menschen immerhin rund 17 Millionen weniger in Deutschland leben als heute. Dies entspricht einer Abnahme gegenüber dem Jahr 2010 um rund 21 Prozent (Schmidt 2012). Gleichzeitig kommt es zu einer drastischen Alterung der Bevölkerung. So erhöht sich der Altenquotient, das heißt das Verhältnis der über 64-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen, von 33,8 Prozent im Jahr 2010 auf 61,9 Prozent im Jahr 2040 und 67,4 Prozent im Jahr 2060. Der starke Anstieg bis zum Jahr 2040 ist insbesondere damit zu erklären, dass in den kommenden Jahren die Baby-BoomKohorte in den Ruhestand eintreten wird. Der Arbeitsmarkt spielt bei allen Fragen zum demographischen Wandel eine herausgehobene Rolle. Nicht zuletzt die Analyse des Sachverständigenrats (SVR 2011) zeigt, dass der demographische Wandel die Erwerbsbevölkerung verstärkt beeinflusst, wobei insbesondere das zwischen den Jahren 2015 und 2030 anstehende Ausscheiden der in den späten 50er und den 60er Jahren geborenen Baby-Boom-Generation aus dem Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung sein wird. In diesem Zeitraum dürfte die Anzahl der Erwerbspersonen erstmals in der Nachkriegsgeschichte deutlich zurückgehen. So nimmt im Basisszenario des Statistischen Bundesamts das Arbeitsangebot trotz einer jährlichen Netto-Zuwanderung von 100.000 Personen zwischen den Jahren 2010 und 2060 um rund 28 Prozent auf etwas über 31

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Millionen Erwerbspersonen ab. Der stärkste Rückgang wird sich bis zum Jahr 2030 ergeben, wenn die Baby-Boomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sein wird. Zugleich findet eine Alterung der Erwerbspersonen statt, das heißt, die Belegschaft wird älter, und es wird immer schwieriger werden, junge Nachwuchskräfte zu gewinnen (siehe SVR 2011). Diese Entwicklung der Erwerbsbevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten zu einem verstärkten Wettbewerb der Unternehmen um Arbeitskräfte führen, insbesondere um junge und qualifizierte Arbeitskräfte. Mittelständische Unternehmen sind dabei aus verschiedenen Gründen im Vergleich zu Großunternehmen benachteiligt. Zu nennen ist hier insbesondere die im Mittelstand vergleichsweise geringe Institutionalisierung im Personalwesen (Kay und Richter 2010). Dieser geringe Institutionalisierungsgrad des Personalwesens führt zu einer vergleichsweise weniger detaillierten Personalplanung, geringeren Angeboten im Bereich der Personalentwicklung sowie einem Fokus der PersonaIrekrutierung auf den lokaIen Arbeitsmarkt. Darüber hinaus haben kleinere und mittlere Unternehmen in Gegensatz zu großen Betrieben häufig weder die Mittel noch die notwendige Flexibilität im Personaleinsatz, um ihren Mitarbeitern ein umfangreiches Weiterbildungsangebot, flexible Arbeitszeitmodelle und verschiedene Angebote zur verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten zu können. Da Großunternehmen derartige Angebote verstärkt einsetzen, um ihre jeweilige Attraktivität als Arbeitgeber zu verbessern, ist der Mittelstand auch in dieser Hinsicht im zukünftigen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte benachteiligt. Diese Nachteile kleiner und mittlerer Unternehmen kann man bereits heute sehen: Viele Universitätsabsolventen streben bevorzugt eine Arbeitsstelle in einem großen Unternehmen an, die ihren Mitarbeitern umfangreiche Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten, detaillierte Personalentwicklungspläne, flexible Arbeitszeitmodelle, bestenfalls sogar einen Betriebskindergarten und professionelle Ferienbetreuung anbieten.



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Rekrutierung ausländischer Fachkräfte als Lösungsstrategie? Um dem absehbaren zukünftigen Fachkräftemangel zu begegnen, werden verschiedene Strategien diskutiert. Zu diesen Strategien gehören die Forderungen nach einer Aus- und Weiterbildungsoffensive, nach einer Erhöhung des Arbeitsvolumens (bspw. über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit) sowie nach einer Erhöhung der Erwerbsquote, insbesondere von Frauen, wobei letztere über Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erreicht werden sollen. Seit einigen Jahren wird jedoch sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik darüber diskutiert, dem absehbar eintretenden Fachkräftemangel über eine verstärkte Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte entgegenzutreten. Die in diesem Umfeld vorgeschlagenen Maßnahmen reichen von den Forderungen einzelner Branchen, temporär spezifische Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren (wie bspw. bei der IT Green Card), bis hin zu der Forderung, nach kanadischem und australischem Vorbild ein Punktesystem für die permanente Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte einzuführen. Es wäre jedoch unrealistisch anzunehmen, dass die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte die mit dem demographischen Wandel verbundenen Probleme alleine lösen kann. So wurde bereits vor zehn Jahren etwa von Zimmermann et al. (2002) geschätzt, dass bis 2020 ein jährlicher Wanderungsüberschuss von 200.000 bis 300.000 Personen notwendig wäre, um die Bevölkerung in Deutschland konstant zu halten. Die Netto-Zuwanderung lag jedoch seit 2004 beständig unter 100.000 Personen, mit einem stark abnehmenden Trend. In den Jahren 2008 und 2009 war die Auswanderung sogar größer als die Zuwanderung. Erst im Jahr 2010 wurde im Umfeld der Wirtschaftskrise in den südeuropäischen Ländern wieder eine Netto-Zuwanderung von 127.000 Personen realisiert (Destatis 2012). Angesichts dieser Entwicklung ist davon auszugehen, dass sich der Zuwanderungsbedarf sogar noch erhöht hat. Eine derart hohe Netto-Zuwanderung dürfte jedoch politisch nur sehr schwer durchzusetzen sein. Doch selbst, wenn man einen politischen Konsens bezüglich einer dramatisch erhöhten Zuwanderung erreichen könnte, ist fraglich, ob wirklich so viele Personen nach Deutschland kommen möchten. Die Diskussion hierzulande unterstellt zumeist, dass ausreichend viele Arbeitskräfte mit dem in Deutschland nachgefragten Qualifikationsniveau existieren, die bereit wären, nach Deutschland zu wandern. Selbst wenn diese Qualifikationsanforderungen erfüllt wären, bleibt festzuhalten, dass sich der internationale Wettbewerb um

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wanderungswillige qualifizierte Arbeitskräfte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verstärkt. Sowohl die traditionellen Einwanderungsländer (USA, Kanada und Australien) als auch die europäischen Nachbarn Deutschlands haben die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte in den vergangenen Jahren erleichtert. Während Deutschland die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach der EU-Ost-Erweiterung einschränkte, hat das Vereinigte Königreich beispielsweise die sofortige Freizügigkeit akzeptiert. Inzwischen haben sich dort starke Migrationsnetzwerke ausgebildet. Diese Netzwerke machen es für Deutschland wiederum schwerer, qualifizierte Arbeitskräfte aus Osteuropa anzuwerben. Hinzu kommt, dass Deutschland in mehrerer Hinsicht gegenüber den traditionellen Einwanderungsländern benachteiligt ist. Diese Länder haben nicht nur eine Willkommenskultur für Migranten entwickelt, sie können auch auf ausgeprägte Migrationsnetzwerke und langjährige Erfahrungen mit einer aktiven Migrationspolitik zurückgreifen. Nicht zu unterschätzen ist, dass Deutschland auch hinsichtlich der Sprache gegenüber den traditionellen Einwanderungsländern benachteiligt ist. Während Englisch in nahezu allen Ländern in der Schule gelehrt wird, war Deutsch nur in einigen wenigen osteuropäischen Ländern Gegenstand der Schulausbildung. Und auch in diesen Ländern ist Deutsch als Schulfach zumeist aus dem Curriculum der allgemeinen Schulausbildung verschwunden. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass Deutschland für qualifizierte ausländische Arbeitskräfte weniger attraktiv ist, als weithin angenommen wird. Für diese Arbeitskräfte sind Länder wie die USA, Kanada oder Australien vergleichsweise interessanter. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der gestiegenen Auswanderung qualifizierter deutscher Arbeitskräfte in diese Länder. Der verstärkte internationale Wettbewerb um qualifizierte Migranten erfordert auch Anpassungen in der deutschen Zuwanderungspolitik. Diese sollte dahingehend ausgerichtet werden, Deutschland als Zuwanderungsland attraktiver zu machen. Dies bedeutet insbesondere, dass man gegenüber einer permanenten Zuwanderung aufgeschlossener sein sollte. Gerade für qualifizierte Migranten ist ein nur temporärer Aufenthalt im Zielland angesichts der mit der Wanderung verbundenen Kosten wenig attraktiv, gerade wenn andere potenzielle Zielländer eine permanente Zuwanderung ermöglichen. Darüber hinaus sollte eine derartige permanente Zuwanderung mit dem Recht verbunden werden, dass auch die direkten Familienangehörigen einwandern dürfen.



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Kosten der Anwerbung ausländischer Fachkräfte Es darf bei aller Notwendigkeit jedoch nicht übersehen werden, dass die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte im Vergleich zu einer Politik der Aktivierung inländischer Arbeitskräfte mit höheren Kosten verbunden ist. Zum einen dürften aus den bereits oben genannten Gründen häufig Ausgaben für Sprachkurse notwendig sein. Darüber hinaus werden in Abhängigkeit von der Ausbildung und dem technologischen Stand im Anwerbeland Kosten für Weiterbildungsmaßnahmen anfallen. Zudem dürfte es notwendig sein, die angeworbenen Migranten gerade zu Beginn ihres Aufenthalts zum Beispiel bei der Wohnungssuche, beim Umgang mit Behörden oder bei der Suche nach einer geeigneten Schule für deren Kinder zu unterstützen. Der für diese Serviceleistungen notwendige Personaleinsatz könnte jedoch gerade für kleinere Unternehmen wiederum ein Problem darstellen. Neben diesen Problemen stehen diejenigen der Rekrutierung geeigneter ausländischer Fachkräfte. International orientierte Unternehmen können dabei auf die im Ausland existierenden Netzwerke zurückgreifen. Dem kleinen, regional agierenden Handwerksbetrieb stehen diese Möglichkeiten jedoch nicht offen. In Zeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologie könnte man zwar eine internetbasierte Vermittlungsplattform schaffen, auf der sowohl inländische Arbeitgeber Gesuche platzieren, als auch interessierte ausländische Fachkräfte sich vorstellen können. Im Umfeld der IT-Green Card wurde eine derartige, von der Bundesagentur für Arbeit eingerichtete Plattform bereits erfolgreich getestet. Doch selbst mit einer solchen Plattform dürften insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen ohne internationale Erfahrungen die Qualifikation und Eignung der ausländischen Bewerber anhand der von diesen bereitgestellten Informationen nur sehr schwer einschätzen können. Die Probleme der Anerkennung ausländischer Abschlüsse von bereits in Deutschland lebenden Zuwanderern liefern hier ein deutliches Beispiel der vielfältigen Schwierigkeiten, die dabei auftreten können. Hier wird für den Mittelstand die Unterstützung durch zentrale Institutionen wie der IHK oder der Bundesagentur für Arbeit eine wichtige Rolle spielen.

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Fazit Der demographische Wandel wird in den kommenden Jahrzehnten unweigerlich zu einer dramatischen Abnahme und einer Alterung der Erwerbsbevölkerung führen. Gerade für kleinere und mittlere Unternehmen kann sich aus dieser Entwicklung ein Fachkräftemangel mit erheblichen Auswirkungen auf deren Wettbewerbsfähigkeit ergeben. Um den aus dem demographischen Wandel resultierenden Arbeitsmarktproblemen entgegenzutreten, bedarf es einer Mischung verschiedener Politikmaßnahmen, die neben einer Erhöhung des Arbeitsvolumens, etwa durch eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit, sowie der Aktivierung inländischer Arbeitsreserven, beispielsweise über eine Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit über Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit vom Familie und Beruf, auch eine aktive, insbesondere auf qualifizierte ausländische Arbeitskräfte ausgerichtete Zuwanderungspolitik verfolgt. Im Umfeld derartiger Politikmaßnahmen sollte der Mittelstand neue und verbesserte Kooperationsmodelle anstreben. Kleine und mittlere Unternehmen werden in Zukunft aufgrund des sich verschärfenden Wettbewerbs um qualifizierte Arbeitskräfte zunehmend Probleme bekommen, im Wettbewerb mit den großen Unternehmen erfolgreich zu konkurrieren. Um dies bewerkstelligen zu können, müssen kleinere und mittlere Unternehmen ihre Personalplanung, -weiterentwicklung und -rekrutierung professionalisieren. Da viele kleine und mittlere Unternehmen diese Aufgabe entweder aus Budgetgründen oder aus personellen Gründen nicht werden leisten können, werden sie verstärkt auf Kooperationen zurückgreifen müssen. Derartige Kooperationen könnten sich zum Beispiel in einer gemeinsamen Kinderbetreuungseinrichtung mehrerer Handwerksbetriebe oder gemeinsamen Weiterbildungsaktivitäten manifestieren.



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Die obige Diskussion hat gezeigt, dass eine aktive Anwerbung ausländischer Fachkräfte die aus dem demographischen Wandel entstehenden Probleme zwar abschwächen, realistisch gesehen jedoch nicht lösen kann. Zum einen ist der Zuwanderungsbedarf zu hoch, um eine echte politische Option darzustellen. Zum zweiten muss festgestellt werden, dass Deutschland im Vergleich zu anderen potenziellen Zielländern wanderungswilliger qualifizierter Arbeitskräfte, wie etwa den USA, wenig attraktiv erscheint. Daher ist zu bezweifeln, dass die für eine Bestandserhaltung notwendige Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte überhaupt erreicht werden kann. Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte mit vergleichsweise hohen Kosten verbunden ist, die insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen ein nicht zu unterschätzendes Problem darstellen können. Hier wird der Rückgriff auf neue Kooperationsformen und Angebote übergeordneter Institutionen, etwa der IHKs oder der Bundesagentur für Arbeit, notwendig sein.

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Literatur BIB – Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.) (2009), 35 Jahre bevölkerungswissenschaftliche Forschung am BIB – Ein öffentlicher Tätigkeitsbericht. Wiesbaden. Destatis – Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2009), Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. November 2009 in Berlin. Wiesbaden. Kay, R. und M. Richter (2010), Fachkräftemangel im Mittelstand: Was getan werden muss. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Kröhnert, S., I. Hoßmann und R. KlinghoIz (2008), Die demographische Zukunft von Europa: Wie sich Regionen verändern. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Schmidt, Ch. M. (2012), Die demographische Herausforderung – ein aktueller Überblick. Erscheint demnächst. SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011). Herausforderungen des demographischen Wandels. Expertise im Auftrag der Bundesregierung, Wiesbaden. Zimmermann, K. F., Th. K. Bauer, H. Bonin, R. Fhr und H. Hinte (2002), Arbeitskräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit: Ein ökonomisches Zuwanderungskonzept für Deutschland. Berlin, Heidelberg: Springer.  



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III. Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration aus Sicht der Wirtschaft 

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Michael Sommer Migrantinnen und Migranten als Fachleute heranbilden – Chance für die Sicherung der Fachleutebasis der Zukunft Fachleuteengpässe heute sind hausgemacht Die deutsche Wirtschaft befindet sich nach der Krise im Aufschwung, die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Beschäftigung zieht an. Und schon wird von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft, munitioniert von der ihnen nahestehenden Wissenschaft, das Schreckgespenst des Fachkräftemangels mit dramatischen negativen Auswirkungen für den Standort Deutschland an die Wand gemalt. Doch einen flächendeckenden Fachleutemangel gibt es derzeit nicht. Allenfalls in einzelnen Berufen und Regionen wird über Engpässe geklagt. Dazu gehören unter anderem Gesundheits- und Pflegeberufe, Metall- und Elektroindustrie in Ostdeutschland und das Handwerk. Gesundheits- und Pflegeberufe Bezahlung und Arbeitsbedingungen entsprechen vielfach nicht den Anforderungen an gute Arbeit. Mehr als 100.000 Stellen wurden in der Vergangenheit abgebaut, davon rund die Hälfte in der Pflege. Ganze Bereiche wurden in Leiharbeit ausgelagert. Ständige Arbeitsverdichtung führte zu erhöhter Arbeitsbelastung. Weiterbildungsmaßnahmen wurden reduziert. Es wurde nichts unternommen, um die Ausbildung attraktiver und bundeseinheitlich zu gestalten. Für die Ausbildungsgänge wird noch immer Schulgeld erhoben. Auszubildende wurden bis vor zwei Jahren größtenteils nicht übernommen, sondern ihnen nach der Ausbildung vielfach Teilzeit- oder befristete Stellen angeboten. In diesen Feldern besteht also wesentlich ein Mangel an attraktiven Arbeitsplätzen.



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Metall- und Elektroindustrie in Ostdeutschland Nach der Wende wurden in den neuen Ländern massenhaft Stellen abgebaut, nur wenige Beschäftigte gingen in Rente und es gab einen massiven Nachwuchsüberschuss. Rund ein Drittel aller Schulabgänger der geburtenstarken Jahrgänge konnte im Berufsleben nicht perspektivenreich Fuß fassen. Inzwischen sinkt seit mehreren Jahren die Zahl der Schulabgänger, gleichzeitig steigt die Zahl der Erwerbstätigen, die in Rente ausscheiden. Auch wenn in Ostdeutschland die Arbeitslosigkeit insgesamt immer noch hoch ist, entsteht jetzt in Teilbereichen ein größerer Arbeitskräftebedarf. Dem steht allerdings vor dem Hintergrund der langjährigen Billiglohnstrategie in den neuen Ländern kein ausreichendes Angebot mehr gegenüber. Handwerk Rund ein Viertel der deutschen Handwerksbetriebe will nach eigenen Aussagen Fachleute einstellen. Knapp drei Viertel halten dabei die fehlende Qualifikation der Bewerber für ein zentrales Problem bei der Stellenbesetzung. Die Ausbildungszahlen im Handwerk gingen in den vergangenen 15 Jahren allerdings um die Hälfte zurück, von 70.000 auf 35.000, in Ostdeutschland sogar von ehemals 21.000 auf 4.000. Die Tariflandschaft im Handwerk ist erodiert. So unterlagen beispielsweise im Juli 2011 von 9.526 Kfz-Handwerksbetrieben in Bayern nur 500 einer Tarifbindung. Die Ausbildungsvergütungen liegen im Handwerk am Ende der Skala. Mehr als ein Drittel der Auszubildenden im Handwerk jobbt deshalb noch nebenher. Auch die Einkommen im Handwerk liegen tendenziell eher unter dem Durchschnitt. Auch großangelegte Imagekampagnen werden nichts daran ändern, dass das Handwerk unter den bestehenden Bedingungen als Beruf nicht attraktiv ist. Dass einzelne Branchen und Regionen arbeitskräftemäßig schlechter dastehen als andere, ist also hausgemacht. Fachleute machen sich – sofern sich ihnen berufliche Alternativen bieten – überall dort rar, wo es an guter Arbeit fehlt, wo Ausbildung, Einkommen und Arbeitsbedingungen schlecht sind. Nur noch 22,5 Prozent der deutschen Betriebe bilden überhaupt noch aus. Wer jetzt Fachkräftemangel schreit, sollte sich an die eigene Nase fassen: Wer nicht ausbildet, braucht sich auch nicht zu wundern, wenn er später bei der Suche nach Fachkräften das Nachsehen hat.

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Fachleutesicherung in der demographischen Entwicklung Und was die Zukunft betrifft: Die Fakten sind seit langem bekannt. Die demographische Entwicklung wird dazu führen, dass in Deutschland die Bevölkerungszahl aufgrund geringerer Geburtenzahlen zurückgeht, die Menschen länger leben und das Durchschnittsalter der Bevölkerung insgesamt steigt. Damit einhergehen wird ein Rückgang der Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Der Strukturwandel zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wird dazu führen, dass hochqualifizierte Tätigkeiten zunehmen werden. Ob aus der demographischen Entwicklung ein Fachleutemangel erwachsen wird, hängt von vielerlei – auch gestaltbaren – Faktoren ab, zu deren Langzeitprognose seriös keine hinlänglichen Modelle zur Verfügung gestellt werden können. Als sicher betrachtet werden kann jedoch: Die Zeiten werden vorbei sein, dass Betriebe sich vor dem Hintergrund eines Arbeitskräfteüberschusses kurzzeitig und auf die Schnelle billig zu einseitig diktierten Arbeits- und Einkommensbedingungen auch mit Fachleuten versorgen konnten. In der Zukunft werden sich in einer Reihe von Branchen und Regionen die Betriebe in einem Konkurrenzkampf um gut ausgebildete, leistungs- und lernfähige Beschäftigte befinden. Zuwanderung in der Zukunft ist kein Königsweg zur Sicherung der Fachleutebasis Wer an dieser Stelle lautstark nach Zuwanderung ruft und vor allem die Beseitigung von ausländerrechtlichen Hindernissen für die Arbeitsaufnahme in Deutschland vorantreiben will, hat vor allem eines im Sinn: Er will sicherstellen, dass, bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit in Deutschland, jederzeit ein williger und billiger Arbeitskräfteüberschuss zur Verfügung steht – wenn es sein muss, eben auch aus dem Ausland. Die internationalen Unternehmen tun sich hier leicht, doch der Mittelstand sollte nicht auf das falsche Pferd setzen: Allen politischen Initiativen zum Trotz ist Deutschland – vor allem was Fachleute angeht – faktisch ein Auswanderungsland. Auch wenn der negative Trend beim Wanderungssaldo im vergangenen Jahr gebrochen wurde und netto eine deutliche Zuwanderung verzeichnet werden konnte: Die Einwanderung nach Deutschland war in den vergangenen Jahrzehnten von externen Schocks bestimmt, zuletzt durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Eurokrise, die Hunderttausende aus Südeuropa nach Deutschland treibt. Perspektivisch werden allerdings auch diejenigen Staaten, aus denen wesentlich



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Einwanderer nach Deutschland kommen, selbst mit den Folgen der demographischen Entwicklung konfrontiert sein. Zuwanderung wird deshalb sicherlich einen entlastenden Beitrag zur Sicherung der Fachleutebasis leisten können, der Königsweg wird sie nicht sein. Als Steuerung der Zuwanderung sollte ein Punktesystem die bislang geschaffene Vielzahl von Regelungen für spezifische Gruppen beziehungsweise einzelne Tätigkeiten ablösen. Für Zuwanderer aus Drittländern sollte grundsätzlich gelten: Wer in Deutschland leben darf, sollte auch selbst seinen Lebensunterhalt bestreiten dürfen. Auch was Arbeitsmigration innerhalb der EU betrifft, gibt es noch erheblichen Regelungsbedarf, beispielsweise im Hinblick auf Lohn- und Sozialdumping in Leiharbeit und Entsendung sowie bei der grenzüberschreitenden Beschäftigung. Bei der Anerkennung beruflicher Abschlüsse von Einwanderern ist noch längst nicht alles in trockenen Tüchern. Insgesamt gilt: Zuwanderung kann ein Gewinn sein, für das Gastland und für die Zuwanderer. Doch die Zuwanderinnen und Zuwanderer müssen zu den gleichen Bedingungen arbeiten können wie die übrigen Beschäftigten, nicht nur was Equal Pay, sondern auch was die Arbeitsbedingungen betrifft. Dies muss auch kontrolliert werden. Inländer mit Migrationshintergrund werden immer noch diskriminiert Wer in Zukunft als Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt nicht das Nachsehen haben will, wird im eigenen Interesse nicht umhinkommen, sich auf diejenigen Menschen im Inland zu konzentrieren, die heute noch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen oder benachteiligt sind – sich in offener oder verdeckter Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung oder stiller Reserve befinden –, und ihnen Win-Win-Situationen anzubieten. Dabei geht es um: ◼◼

bisherige Bildungsverlierer,

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junge Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen konnten,

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Frauen, speziell Mütter,

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Menschen mit Behinderung,

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Ältere und

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Menschen mit Migrationshintergrund.

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Zu letzteren hier ausführlicher: In Deutschland leben heute 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das ist rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Von den 9,5 Millionen Jugendlichen, die in Deutschland leben, haben 2,3 Millionen, oder bereits knapp ein Viertel, einen Migrationshintergrund. Dabei handelt es sich größtenteils um Migrantinnen und Migranten mit türkischen Wurzeln und um Aussiedlerinnen und Aussiedler aus den GUS-Staaten. Sie machen einen wachsenden Anteil an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter aus. Migrantinnen und Migranten erleben im deutschen Bildungssystem jedoch immer noch vielfältige Diskriminierungen, mit den entsprechenden Konsequenzen für ihre Teilhabe an Ausbildung, Arbeit und Weiterbildung: Die Betreuungsquote von Kindern mit Migrationshintergrund in Kindertagesstätten ist signifikant niedriger. Kinder mit Migrationshintergrund sind bei gleichem sozioökonomischem Hintergrund mehr als doppelt so häufig an Hauptschulen zu finden wie deutsche Kinder. Sie verlassen rund dreimal so häufig wie Deutsche die Schule ohne Abschluss oder haben schlechtere Noten. Bei den ausländischen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss münden rund drei Viertel in das sogenannte Übergangssystem ein, bei den Hauptschülern rund die Hälfte. Besonders hoch ist für jugendliche Migrantinnen und Migranten die erste Schwelle: Bei gleichen Abschlüssen und Noten münden migrantische Jugendliche deutlich seltener in eine duale Ausbildung ein. Sie werden seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen und verfügen weniger über Netzwerke und Beziehungen, die bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz hilfreich sein können. Die Ausbildungsquote von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist nur halb so hoch wie die deutscher Jugendlicher, nur jeder Vierte macht eine duale Ausbildung.



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In der Metall- und Elektroindustrie hat die Zahl der ausländischen Auszubildenden seit den 90er Jahren überproportional abgenommen. Jugendliche Migrantinnen und Migranten sind seltener in Bereichen vertreten, die einen besseren und sicheren Verdienst versprechen, wie den kaufmännischen Berufen. Der Ausländeranteil liegt bei den Auszubildenden bei knapp elf Prozent, bei den kaufmännischen Azubis bei 0,2 Prozent. Die meisten kleinen Betriebe haben überhaupt keine ausländischen Auszubildenden. Selbst bei gleichem Bildungsstand haben Jugendliche mit Migrationshintergrund schlechtere Beschäftigungschancen. Nur rund ein Zehntel aller Studierenden hat einen Migrationshintergrund, die Hälfte davon beendet das Studium mit einem Abschluss. So kommt es, dass rund ein Drittel der berufstätigen Migrantinnen und Migranten über keinen Berufsabschluss verfügt. Der Anteil der Migrantinnen und Migranten an allen Beschäftigten beträgt 13 Prozent, bei den Angestellten 1,5 Prozent. Der Anteil von Migrantinnen und Migranten an prekären Arbeitsverhältnissen hingegen liegt bei knapp einem Drittel. So sind beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund besonders von Beschäftigung in Leiharbeit betroffen. Knapp ein Drittel der Leiharbeitnehmerinnen haben einen Migrationshintergrund, bei den Helfern sind es nach vorläufigen Schätzungen rund 70 Prozent. Die Beteiligung von Beschäftigten mit Migrationshintergrund ohne deutschen Pass an der betrieblichen Weiterbildung liegt bei nur mageren 13 Prozent. Die Beschäftigungsquoten von ausländischen Frauen und Älteren sind besonders niedrig. Die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Migranten ist doppelt so hoch wie die Deutscher. Zusammengefasst: Die wirtschaftliche und soziale Lage von Migrantinnen und Migranten ist im Schnitt immer noch schlechter als die der deutschen Bevölkerung, die Armutsgefährdung größer. Sie sind als schwächste Glieder in der Kette der prekär Beschäftigten die Verlierer der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Jede und jeder fünfte mit Migrationshintergrund ist von Hartz IV abhängig, bei den Jugendlichen ist es jede und jeder dritte, das heißt rund eine Dreiviertelmillion junger Menschen.

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Inländische Migrantinnen und Migranten für den Arbeitsmarkt gewinnen Migrantinnen und Migranten bilden bislang die Reservearmee des deregulierten deutschen Arbeitsmarktes. Wer jedoch nicht wie Sarrazin davon ausgeht, dass Talente von vornherein ungleich angelegt sind, wird nicht umhin können, zuzugeben, dass Migrantinnen und Migranten im Hinblick auf die demographische Entwicklung für den deutschen Arbeitsmarkt einen ungehobenen Schatz an Potenzialen bilden, einen Schatz, der bislang verschleudert wird. Wer diesen Schatz ans Tageslicht bringen und die Fachleutebasis durch Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt mit sichern will, hat keine Zeit mehr, sich im Fordern zu erschöpfen, sondern sollte schleunigst damit anfangen, Menschen mit Migrationshintergrund Chancen zu eröffnen. Nur mit einer sogenannten Willkommenskultur wird es dabei allein nicht getan sein. Es geht um harte Fakten: Aus- und Weiterbildung sowie gute Arbeits- und Lebensbedingungen. Hier sind Politik und Wirtschaft gefragt. Dazu sollen hier einige Anregungen gegeben werden. Jugendliche Migrantinnen und Migranten in das Bildungsund Ausbildungssystem integrieren Bildung ist der Schlüssel für gesellschaftliche und politische Teilhabe. Aus- und Weiterbildung eröffnen Wege in Erwerbstätigkeit und berufliche Zukunft. Wenn es um die Frage geht, wie Bildung für die Zukunft organisiert sein muss, ist alles längst gesagt, und zwar von allen. Deutschland hat kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Die Experten sind sich einig: Das deutsche Bildungssystem muss sich umstellen. Nötig sind möglichst frühe individuelle Förderung, hin zur systematischen Inklusion von Kindern aus sozial schwachen und/oder bildungsfernen Familien mit, aber auch ohne Migrationshintergrund. Frühkindliche Förderung, Schulen ohne frühe Selektion und mit Ganztagesbetrieb sind hierfür nötig. Sitzenbleiben, schlechte Schulabschlüsse und Schulabbrüche müssen der Vergangenheit angehören. Zentral ist dafür eine Kultur der Wertschätzung in den Schulen, wie sie in Finnland zwischen Lehrpersonal und Schülerschaft praktiziert wird. Auch in Deutschland gibt es dafür inzwischen herausragende Beispiele. Lehrer brauchen außerdem interkulturelle Kompetenz. Es gibt vielversprechende Pilotprojekte, die Inklusion in Bildung als umfassende Integrationsstrategie angehen. Damit diese Projekte umgesetzt werden können, braucht es pädagogische Begeisterung, aber es muss auch Geld in die Hand genommen werden. Die Länder werden deshalb nicht umhinkommen, zum Zweck der Integration flächendeckend



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mehr in Bildung zu investieren. Rechentricks, wie sie die Länder nach den Bildungsgipfeln praktizieren und mit denen die Höhen der Ausgaben geschönt werden, sind Augenwischerei und führen keinen Schritt weiter. Auch die Arbeitsagenturen müssen sich besser auf Menschen mit Migrationshintergrund einstellen. Die Marschrichtung muss hier lauten: Qualifizierung, Qualifizierung, Qualifizierung. Es war deshalb politisch falsch, die Mittel für die Eingliederung und Qualifizierung so massiv zu kürzen, wie die Bundesregierung es getan hat. Das gilt sowohl für die Arbeitslosenversicherung wie das Hartz-IV-System. Der Bund sollte sicherstellen, dass berufsvorbereitende Maßnahmen nicht zu Warteschleifen werden, sondern ausschließlich auf Jugendliche begrenzt werden, die eine zusätzliche Vorbereitung benötigen. Die Bundesregierung könnte auch gemeinsam mit den Tarifvertragsparteien prüfen, wie benachteiligten Jugendlichen mehr als bisher eine Unterstützung bis zur Berufsreife ermöglicht werden kann. Dabei könnte insbesondere die Verknüpfung mit Tarifverträgen geprüft werden. Dem Recht auf einen Schulabschluss muss das Recht auf eine Ausbildung folgen. Für die rund 1,5 Millionen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die in den vergangenen Jahren ohne Berufsabschluss geblieben sind, ist eine breitangelegte Nachqualifizierungsoffensive notwendig. Damit sie nicht endgültig als Fachkräfte verlorengehen, braucht es schleunigst den Aufbau einer flächendeckenden, berufsbegleitenden modularen Nachqualifizierung in einem anerkannten Beruf, die an deren bisherigen beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen anknüpft. Jugendliche, deren Familien Hartz IV benötigen, sollten bei der Suche nach einem Arbeitsplatz von den Agenturen für Arbeit betreut werden.

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Gerade was das mittlere Fachleuteniveau angeht, müssen die Betriebe nicht nach dem Staat rufen, sondern haben es mit dem dualen System selbst in der Hand, sich mit Nachwuchs zu versorgen. Bislang konnte sich die deutsche Wirtschaft bequem zurücklehnen, sich die besten, vom Niveau des Schulabschlusses her vielfach überqualifizierten Schulabgänger herauspicken und den Rest als nicht ausbildungsreif abschieben. Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Die nachwachsenden Jahrgänge von Schulabgängern werden unabwendbar zahlenmäßig kleiner. In Zukunft werden sich die Betriebe gut überlegen müssen, ob sie es sich noch leisten können, mangelnde Deutschkenntnisse, Entwicklungsrückstände, fehlende Schulabschlüsse oder Ausbildungsqualifikationen, die Jugendliche – auch aus sozial schwachen, bildungsfernen und/oder migrantischen Familien – immer wieder mitbringen, weiterhin pauschal als Ablehnungsgründe zu betrachten. Dazu können Betriebe von den Kammern verlangen, ihre Aufgabe ausreichend wahrzunehmen, Beratung und ausbildungsbegleitende Hilfen zur Verfügung zu stellen. Partnersuchende auf dem Heiratsmarkt müssen ihre Chancen realistisch einschätzen. Dasselbe gilt für Betriebe auf dem Ausbildungsmarkt: Können und müssen wirklich die Überfliegerin oder Mister Universum erwartet werden? Um den Fachleutebedarf der Zukunft zu decken, bieten die Qualifikationspotenziale junger Menschen mit Migrationshintergrund erhebliche Chancen, die müssen nur deutlich mehr genutzt werden als bisher. Die Betriebe werden nicht umhinkommen, im eigenen Interesse jugendliche Migrantinnen und Migranten massiv für die betriebliche Ausbildung zu gewinnen. Diejenigen, die sich dabei kompromissbereit zeigen, werden deutlich bessere Chancen bei der Sicherung des Fachleutenachwuchses haben.



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Dazu können die Rekrutierungsverfahren so gestaltet werden, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund explizit angesprochen werden. So kann der Text der Ausschreibung beispielsweise einen Hinweis enthalten, dass Bewerbungen dieser Zielgruppe besonders erwünscht oder dass interkulturelle Kompetenzen willkommen sind. Pilotversuche haben auch gezeigt, dass die Anonymisierung von Bewerbungsunterlagen (ohne Namen und Fotos), hilfreich sein können, den Einfluss der Herkunft in den Bewerbungsverfahren zu reduzieren. Kleine und mittlere Betriebe sollten sich deshalb an der Initiative der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, anonymisierte Bewerbungsverfahren in großen Unternehmen einzuführen, gerade auch im Hinblick auf die betriebliche Ausbildung, beteiligen. Die Wirtschaft sollte sich im Übrigen auch im eigenen Interesse dazu durchringen, Schluss zu machen mit Showveranstaltungen wie dem Ausbildungspakt. Die Ausbildungsstatistik schön zu rechnen mag in der Vergangenheit als Versuch verstanden worden sein, Imagepflege zu betreiben. Gegenüber den Herausforderungen der Zukunft laufen solche Aktivitäten auf bizarre Weise ins Leere. Weiterbildung von Migrantinnen und Migranten Gerade auch Geringqualifizierte verfügen oft über enormes praktisches Wissen, das sich mit Weiterbildung ausbauen ließe. Doch gering qualifizierte Beschäftigte mit Migrationshintergrund nehmen statistisch gesehen seltener an betrieblicher Weiterbildung teil. Denn Betriebe investieren oft zentral in Hochqualifizierte. Allerdings haben auch die migrantischen Beschäftigten Berührungsängste gegenüber der Weiterbildung. Sie sind meist lernentwöhnt und zögern, die Fortbildung auf Deutsch, für sie in einer Fremdsprache, zu absolvieren. In üblichen Kursen gehen sie oft unter. Einen Ausweg bietet ein Modell, das Fachqualifizierung mit Sprachförderung und einem Mentoringprogramm verbindet. Dabei wird das Wissen mit erwachsenengerechten Lernmethoden vermittelt. So kann auch für geringqualifizierte Migrantinnen und Migranten das Prinzip lebenslangen Lernens umgesetzt und die Aufwärtsmobilität gestärkt werden, um Fachkräfte heranzubilden.

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Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben Rund drei Viertel aller Mittelständler beklagen heute, dass es schwierig sei, qualifizierte Beschäftigte zu finden. Die Mehrheit erwartet auch für die Zukunft keine Entspannung, sondern befürchtet, dass sich der demographische Wandel zu einem Wachstumshemmnis entwickeln wird. Doch der Mittelstand ist dem demographischen Wandel nicht hilflos ausgeliefert. Er ist gestaltbar. Fachleutemangel ist kein unabwendbares Schicksal. Eine wichtige Strategie zur Bewältigung kann darin liegen, Migrantinnen und Migranten eine gute Ausbildung, gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen anzubieten. Doch in den Chefsesseln herrscht vielfach noch altes Denken vor. Vielen Betrieben fehlt trotz Zukunftsängsten eine Strategie zur Bewältigung des demographischen Wandels. Auch wenn ein Drittel aller Betriebe ahnt, dass die kulturelle Zusammensetzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich in Zukunft ändern wird: In rund der Hälfte der mittelständischen Betriebe ist man skeptisch gegenüber fremden Religionen und Kulturen. Knapp ein Viertel aller Klein- und Mittelbetriebe lassen Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund unbeantwortet, vor allem, wenn die Namen türkisch oder arabisch klingen. Nicht einmal jeder zehnte Betrieb hat sein Interesse bislang gezielt auf Beschäftigte mit Migrationshintergrund gerichtet. „Den“ Migranten oder „die“ Migrantin gibt es nicht, sondern Menschen mit vielfältigen Stärken und Schwächen. Sie zu gewinnen könnte für den Mittelstand bedeuten, Chancen zu ergreifen, statt sie zu vergeben. Stärkung der Tarifbindung, Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung und gute Arbeit heißen dazu die Zauberworte. Gute Ausbildung, gute Löhne und Arbeitsbedingungen sowie soziale Sicherheit sind die Grundvoraussetzungen. Die Zukunft der Sicherung der Fachleutebasis beginnt jetzt. Wer zu spät kommt, den bestraft, bekanntermaßen, das Leben.  



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Michael Vassiliadis Gesellschaftlicher Kurswechsel hin zu einer integrierenden Gesellschaft Die gute Nachricht zuerst: In einigen Teilen unseres Landes herrscht wieder Vollbeschäftigung. In weiten Teilen von Bayern, Baden-Württemberg, in manchen Gegenden in Hessen und am Rhein ist die Zeit der Massenarbeitslosigkeit vorbei. Auch an- und ungelernte Arbeiter finden Beschäftigung – das Märchen, dass unserer Gesellschaft die Arbeit ausginge, ist widerlegt. Selbst in Brandenburg haben wir die Erscheinung knapp werdender Fachkräfte. Aus Sicht der deutschen Gewerkschaften ist damit nicht alles gut. Zu viele Beschäftigte arbeiten in Beschäftigungsverhältnissen, die wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und der ungenügenden Bezahlung abzulehnen sind. Trotzdem gilt es festzustellen: 41 Millionen Beschäftigte gab es hierzulande noch nie. Deutschland ist mehr denn je eine Arbeitsgesellschaft. Die schlechte Nachricht jetzt: Wenn der Markt an Grenzen stößt, ist das nie gut. Eine Wirtschaft, die auf Expansion auf dem Weltmarkt aus ist, kann es sich gar nicht leisten, dass der für die Herstellung von Gütern und Bereitstellung von Diensten wichtigste Faktor ausgeht: der Mensch. Der Wohlstand unserer Zeit ist menschengemacht. Maschinen mögen den Faktor Mensch in der Produktion zurückdrängen. Aber Maschinen erfinden sich nicht selbst, chemische Substanzen ebenso wenig wie Nanotubes, moderner Stahl und speicherstarke Batterien. Maschinen sind keine Erzieher und Pfleger, sie vermögen nicht zu richten und vor allem: Sie haben keine Bedürfnisse. Allein der Mensch ist in der Lage, sich selbst zu erschaffen. Von dieser Möglichkeit haben seit Beginn der Industrialisierung die Menschen in der industriell entwickelten Gesellschaft immer weniger Gebrauch gemacht. Bei rasant sich entwickelnder Produktivität ließ sich das im Hinblick auf den allgemeinen Wohlstand verkraften. Aber andere Faktoren beschleunigten den Weg in die alternde Gesellschaft: Die Individualisierung des Menschen, der immer schnellere Wandel in der Arbeitswelt mit wachsenden Unsicherheiten gerade für junge Menschen, Millionenarbeitslosigkeit und zugleich immer stärkere Arbeitsverdichtung haben ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem Kinder einen immer geringeren Platz im Alltag fanden.

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Das Ergebnis ist eine Art der Vollbeschäftigung, die uns Sorgen bereiten muss. Und zwar auch deshalb, weil Deutschland nicht alleine damit steht. So geht es fast allen europäischen Völkern, aber auch manchen aufstrebenden Nationen wie China. In einer solchen Marktsituation spitzen sich die Auswirkungen von Machtungleichgewichten zu. Starke Player, große Konzerne und/oder Unternehmen, die mit angesagten Technologien antreten, haben keine Mühe, innovativen Nachwuchs und erfahrene Fachkräfte zu gewinnen. In den Top-Etagen der Wirtschaft wird von Recruiting gesprochen, planmäßig entwickeln Stäbe die wieder entdeckte Kreativ-Ressource der Wirtschaft: Belegschaften. Menschen. Der Mittelstand hat solche Instrumente häufig nicht zur Verfügung. Der Mittelstand ist auch nicht immer da zu Hause, wo junge Fachkräfte, die den Wettbewerb nicht (mehr) fürchten müssen, leben möchten. Wir haben in Deutschland dieser Knappheit schon gegengesteuert. Wo wir Branchen in unserem Organisationsbereich dafür gewinnen konnten, haben wir mit Blick auf den stetigen Alterungsprozess engagierte Ausbildungsziele vereinbart. In der chemischen Industrie kommen wir dem Auftrag des Grundgesetzes nach, dass die Wirtschaft selbst mit einem hohen Ausbildungsangebot die Freiheit der Berufswahl sicherstellt. Das ist seit mehr als zehn Jahren durch Tarifvertrag erfolgreich geregelt. Mit der chemischen Industrie beginnend, haben wir eine Tariflandschaft entwickelt, die die betriebswirtschaftliche Sicht auf alternde Belegschaften ebenso in die Rechnung aufnimmt, wie wir den alternden Menschen in Betrieben: Produktivität und Innovationskraft dürfen nicht an der Alterung der Belegschaften scheitern – das können wir uns nicht leisten. Aber die älter werdenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfen auch nicht in Produktion und Verwaltungen verheizt werden. Deswegen haben wir in unseren Demografie-Tarifverträgen realistische Vorgaben gemacht: Betriebsräte und Betriebe müssen analysieren, wie sich in den kommenden Jahren die Zusammensetzung ihrer Belegschaften entwickelt. Und zwar keineswegs nur nach dem Alter, sondern auch nach den Anteilen von Männern und Frauen in der Belegschaft oder der Bedeutung von den Qualifikationen beziehungsweise Anforderungen an die Berufsbilder.



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So haben wir zunächst die chemische Industrie, inzwischen aber auch die Reifen- und die Papierindustrie dazu gebracht, sich auf einen sich im Grundsatz verändernden Arbeitsmarkt einzustellen. Wir haben Angebote geschaffen für Betriebe, in denen die Belastung, der „Verschleiß“ menschlicher Arbeitskraft besonders hoch ist. So zum Beispiel entwickelten wir eine Berufsunfähigkeitsversicherung, bei der man nicht erst berufsunfähig ist, wenn man fast sprichwörtlich mit dem Kopf unter dem Arm erfolgreich einen Antrag auf Versicherungsleistung stellt. Wir haben deutlich gemacht, dass wird bald zehntausende Arbeitnehmer über 60 in der Schichtarbeit haben werden – bislang haben wir in den großen Betrieben dieses Phänomen fast gar nicht. Das reicht uns aber noch nicht: Damit nach Anhebung der gesetzlichen Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre und dem Wegfall der Förderung von Altersteilzeit durch die Bundesarbeitsagentur Menschen überhaupt diese Altersgrenze erreichen, müssen wir den gesamten Arbeitsprozess betrachten. Beispiel Arbeitszeit: Da die Arbeitszeit von Industriearbeitern de facto um fast zehn Jahre verlängert wurde, Beschäftigte aber heute schon über die Folgen einer großen Verdichtung von Arbeit Klage führen (aus unserer Sicht handelt es sich bei der Depressionsform burn out keineswegs um eine Modekrankheit, sondern um eine Erscheinung unserer Zeit), müssen wir über die Herstellung einer work-live-balance mehr als Sonntagsreden halten. In einem verdichteten, 40 oder 45 Jahre währenden Arbeitsleben brauchen die Menschen Phasen, in denen die Arbeitszeit zur Entlastung der Beschäftigten reduziert werden kann – bei einem halbwegs stetigen Einkommensverlauf. Damit tragen wir nicht nur der Arbeitsfähigkeit bis zum Erwerb einer auskömmlichen Rente Rechnung. Die aktiven Menschen werden in der Zukunft mehr noch als heute in der Zivilgesellschaft und der Familie gebraucht. Denn eine alternde Gesellschaft ist nicht nur für den Arbeitsmarkt eine Herausforderung, sondern auch für die Erziehung der Kinder, die Pflege der Alten, das Ehrenamt in Vereinen, Parteien oder Kirchen – von Gewerkschaften ganz abgesehen.

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Wir streben einen high-road Entwicklungspfad für Industrie und Dienstleistungen in Deutschland an. Die dazu notwendige hohe Produktivität muss durch lebensbegleitende Bildung gewährleistet werden (ohne dass Bildung zu einem nackten Produktivitätsfaktor verkommen darf). Auch dafür braucht es einen höheren Grad an Selbstbestimmung der Beschäftigten über ihre Arbeitszeit (in am besten durch die Tarifpartner gesetzten Grenzen). Beispiel Gesundheit: Wenn es uns gelingen soll, die Alterung der Gesellschaft auch über eine gewisse Alterung der Belegschaften aufzufangen, dann muss der Schutz der Gesundheit ein wesentlich höherer Stellenwert im Alltag eingeräumt werden, als das heute der Fall ist. Gesundheitsengagement ist auch im Unternehmen mehr als die Einhaltung diverser Arbeitsstättenverordnungen. Wir glauben in der IG BCE, dass ein umfassendes Gesundheitsmanagement in den Betrieben der Schlüssel zur Beschäftigungsfähigkeit ist. Das erfordert von den Betrieben eine sehr intensive Betrachtung der notwendigen Arbeit, ob diese altersund alternsgerecht gestaltet ist. Das erfordert eine sorgfältige Untersuchung der Ursachen auftretender psychischer wie physischer Erkrankungen. Das erfordert aber auch einen aufrichtigen Umgang der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihrer Gesundheit. Das eigene Gesundheitsverhalten, die Art zu essen, die Entscheidung zum Nichtrauchen, die sportliche Betätigung sind nur teilweise eine Sache, die nur den Einzelnen angeht. Es geht dann die Gesellschaft an, wenn Süchte oder falsche Ernährung Bestandteile von Kultur werden. Eine in ihrer Kultur ungesunde Gesellschaft hat auch ein Produktivitäts- sowie Innovations- und damit ein doppeltes Wohlstandsproblem. Dabei geht es uns nicht um Strafe und neue Pflichten, als vielmehr darum, Betriebsleitungen und Beschäftigte sensibel für ihr Leben zu machen. Und wo Krankheiten akut oder chronisch auftreten, darf es gar keine Frage sein, dass Heilung absoluten Vorrang hat. Wer wirklich krank ist, hat in der Regel am Arbeitsplatz nichts zu suchen. Aus welchen Gründen auch immer: Diese Einsicht ist nur unterentwickelt. Es gilt für Gewerkschaften, Betriebsräte und Betriebsleitungen, hier einen Kurswechsel anzugehen.



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Beispiel Arbeitsorganisation: In der Industrie und vielen Dienstleistungsbranchen hat es in den vergangenen zehn Jahren eine erhebliche Verdichtung der Arbeit gegeben. Hierarchien verschwanden, einstige für höhere Ebenen vorbehaltene Entscheidungsbefugnisse sind in den flacher gewordenen Hierarchien tiefer in die Belegschaften gerutscht – ohne dass den Ermächtigten das Rüstzeug gegeben worden wäre, mit den neuen Aufgaben zurechtzukommen. Der davon ausgehende Druck ist nach unserer auch empirisch belegten Sicht eine der Ursachen der zunehmenden psychischen Erkrankungen, die mit der Arbeit verbunden werden. Hinzu kommen Produktionserwartungen, die zunehmend von der ja aus guten Gründen tariflich vereinbarten Arbeitszeit abheben. Immer öfter stellen Beschäftigte fest, dass die von ihnen verlangte Arbeitsleistung in der tariflichen Arbeitszeit nicht zu erbringen ist. Eine Mischung aus Druck, Produzentenstolz und Sorglosigkeit führen dazu, dass die Arbeit (auch dank moderner Technologien) immer tiefer in das Privatleben hineinwächst. Handy, Computer und allseits erreichbare Netze ermöglichen den Betrieb einer Anlage, auch wenn der nach der letzten Rationalisierungswelle alleine an der Maschine zurückgebliebene Ingenieur in Urlaub ist. Ihm wird Bereitschaft abverlangt, dafür Handy und Dienstwagen bezahlt. So ist die Maschinenbesatzung leicht zu verringern – und die Zeiten der Erholung leiden schon unter dem Gefühl, nie ganz abschalten zu können. In einer hochkonzentrierten Arbeitswelt aber wäre gerade das notwendiger denn je. Um es zusammenzufassen: Gerade weil die politischen Mehrheiten wollen, dass die Altersversorgung auch über längere Lebensarbeitszeiten geregelt wird, werden wir gemeinsam noch stärker auf Erholung und Gesundheit achten müssen. Daran wollen wir gemeinsam mit unseren Tarifpartnern in unseren Branchen arbeiten. Ich will aber aus dem oben Beschriebenen eine Reihe von Ableitungen treffen, die aufkommende Diskussionen betreffen. Ich meine damit jene Vorschläge, die scheinbar einfache und praktikable Lösungen für das komplexe Phänomen der alternden Gesellschaft anbieten.

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Zu einfach macht es sich, wer nun schnelle Zuwanderung fordert, um das Angebot an Arbeitskräften wieder über das regionale und sektorale Vollbeschäftigungsniveau zu bringen. Es ist richtig, dass Einwanderung einen ganz entscheidenden Beitrag leisten kann, um Produktivität und Kreativität der deutschen Wirtschaft auf einem high-road-level zu halten. Wir bilden in Deutschland nicht alle Wissenschaften und Sichtweisen aus, die eine Volkswirtschaft braucht, um in einer vielfältigen Welt erfolgreich zu sein. Auf der anderen Seite zeichnet sich unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten durch einen abnehmenden Grad an Integrationsleistung aus. Ich meine damit nicht nur die Integration von Einwanderern und ihren Nachkommen. Unsere Gesellschaft zerfällt in immer mehr Fraktale. Nun soll ein jeder Mensch nach seiner Fasson glücklich werden. Ich kann mir also kein Zurück in die zum Glück überwundene formierte Gesellschaft vorstellen. Jedoch braucht gerade eine in ihren Lebenseinstellungen sich ausdifferenzierende Gesellschaft eine Mitte, zu der sich die Menschen hingezogen fühlen. Eine Arbeitsgesellschaft aber, in der mehr Menschen einem Job unter dem Existenzminimum nachgehen als gut bezahlter Arbeit in der Industrie, zeichnet sich durch eine tiefe Spaltung aus. Wenn Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen sowie Selbstbestimmung am Arbeitsplatz immer mehr zur gelobten Ausnahme wird, wenn kollektive Verhandlungen immer weiter schrumpfende Teile der Arbeitswelt erfassen, dann geht uns die Mitte verloren. Der Traum nach Aufstieg, privater Wohlfahrt und die Selbstverständlichkeit, ein gutes und gelingendes Leben führen zu können, leidet Not. Welches Angebot hat die deutsche Gesellschaft einem Ingenieur aus Indien zu machen? Es herrscht nicht nur ein gewisser Mangel an Integration schon derer, die in Deutschland leben. Der Mann oder die Frau aus Indien darf nur einer befristeten Arbeit nachgehen und sie oder er muss mindestens Gutverdiener sein. Und die Familie mag bleiben, wo der sprichwörtliche Pfeffer wächst. Ein Kurswechsel, ein Kulturwechsel ist erforderlich, damit wir im positiven Sinne eine bunte Republik Deutschland werden können. Nur dann können wir die integrieren, die unser Land dringend braucht. Andererseits hat sich unsere Gesellschaft mit dem ungeheuren Unglück abgefunden, dass wir Jahr um Jahr die Fähigkeit von zehntausenden jungen Menschen nicht ausreichend entwickeln. Ich meine die jungen Menschen, die ohne einen Schulabschluss direkt zu Empfängern von öffentlichen Hilfen werden und einen wachsenden informellen Sektor von Arbeit begründen. Wer aber schon in der Schule verlorengegangen ist, der verdient eine zweite Chance – auf Schulabschluss und Berufsbildung. Wenn die Allgemeinheit



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Wert darauf legt, dass jeder Mensch seine Fähigkeiten und unterschiedlichen Talente voll entfalten können muss, dann folgt daraus auch eine gewisse Pflicht, das erworbene Wissen und Können wiederum in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen. Eine Gesellschaft wie die unsere, die 1,5 Millionen jungen Menschen unter 25 nachweislich diese Chancen nicht gibt, hat ein Problem mit sich selbst. Und bei sich einstellenden Knappheiten am Arbeitsmarkt auch die Pflicht, die Schätze, die da verdrängt werden, zu heben. Was leisten wir uns seit Jahrzehnten schon für eine gewaltige Verschwendung? Auch dieses Beispiel zeigt, dass wir keine Willkommensgesellschaft sind, dass wir also weit davon entfernt sind, zu integrieren. Ich habe die Mörder der NSU und die Schläger der NPD nicht in den Vordergrund geschoben, auch wenn sie das Deutschlandbild in anderen Ländern mitbestimmen. Nicht minder schlimm ist, dass in weiten Teilen unserer Gesellschaft fremdenfeindliche Thesen einem Common Sense zuzuordnen sind. In einem solchen Umfeld wächst die Neigung, an Verschwörungen zu glauben und irrational zu handeln. Wir müssen – gerade weil wir Fachkräfte in aller Welt für unser industrielles Netz gewinnen wollen – verhindern, dass Geheimnis und Gewalt sich ausbreiten. Dazu müssen Gewerkschaften mit Arbeitgebern und Regierungen eine große gemeinsame Anstrengung vollbringen. Die erfolgreichen sektoralen Bemühungen, mit denen es etwa in der chemischen Industrie gelingt, junge Menschen ohne Schulabschluss für die Ausbildung als Chemikant zu qualifizieren, sind ein ganz wichtiger Baustein im Kampf für eine aufgeklärte Zukunft. Dem guten Beispiel könnten viele andere Branchen folgen – tun sie aber zu unserem Erstaunen nicht. Ein anderes Beispiel, wo es sich manche Ratgeber zu leicht mit Vorschlägen gegen den aufkommenden Fachkräftemangel machen, betrifft die Arbeitszeit. Es gibt in manchen Kreisen der Wirtschaft den schlichten Ansatz, analog zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit nun auch die wöchentliche oder tägliche Arbeitszeit anzuheben. Das ist allerdings das Gegenteil jener Arbeitszeitpolitik, die auf die verlängerte Lebensarbeitszeit mit dem oben beschriebenen Ansatz differenziert reagiert. Wer will, dass die Menschen sich nicht kaputt schaffen, der kann gar nicht umhinkommen, Zeiten der Entlastung in die Ordnung unserer Arbeit einzubauen. Nur wo der Ausgleich zu hochkonzentrierter Arbeit gegeben ist, wo arbeitende Menschen sich für ihr Gemeinwesen engagieren können, wird die Bereitschaft zu Innovation und Leistung im Betrieb wachsen.

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Eine Verlängerung der Arbeitszeit – womöglich ohne Lohnausgleich – wäre eine grobe Missachtung des Leistungsprinzips. Weil Beschäftigte in der Industrie und in vielen Zweigen der Dienste heute deutlich mehr zu leisten in der Lage sind als vor zehn oder zwanzig Jahren, werden sie mit längerer Arbeitszeit bestraft. Wir glauben eher, dass der Ausgleich an Interessen in unserer Gesellschaft wieder gelingen muss. Die IG BCE ist fest davon überzeugt, dass es einer balancierten wechselseitigen Anerkennung auch im Wirtschaftsprozess bedarf, um eine produktive Wirtschaft zu begründen. Aus Sicht des Mittelstandes, und um diesen soll es ja in diesem Aufsatz im Besonderen gehen, hört sich das alles hinreichend abstrakt an. Ist es aber nicht. Was Tarifparteien unternehmen können, habe ich beschrieben. Auch kleine und mittlere Betriebe können sich Arbeitgeberverbänden anschließen und bekommen dann ausreichend Tools und Beratung, um in einer sich wandelnden Welt mit den Veränderungen Schritt halten zu können. Das ist freilich nur ein, wenn auch ein ganz wichtiger Teil der Lösung, zu der auch gehört, dass es uns gelingt, für Beschäftigte im Mittelstand interessant zu werden. Wirklich profitieren würden kleine und mittlere Unternehmen von einem gesellschaftlichen Kurswechsel hin zu einer integrierenden Gesellschaft. Das ist zwar etwas mühsam, Loyalität zum Standort Deutschland lässt sich in ausreichendem Maße aber eben nicht durch Wunsch oder Beschlusslage herstellen. Das Entwickeln neuer, innovativer Arbeitsmodelle zum Gegensteuern der zunehmenden Ressourcenknappheit „Mensch“ ist ein mühsamer, aber lohnender Prozess, in dem eine jede und ein jeder zwangsläufig steckt. Denn auch, wer draußen vor der Tür steht und wartet, dass andere tätig werden, trifft eine Entscheidung. Wir bevorzugen es, uns zu engagieren.  



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Andrea Kocsis Dimensionen des deutschen Fachkräftemangels und Gegenstrategien aus gewerkschaftlicher Sicht Einleitung In der öffentlichen Diskussion wird häufig undifferenziert von einem allgemeinen branchenübergreifenden Fachkräftemangel gesprochen. Die Ursachen dafür werden in erster Linie in der demographischen Entwicklung der Bevölkerung gesehen. Damit wird der Blickwinkel des Betrachters auf scheinbar unabänderliche, zumindest aber schwerlich beeinflussbare Entwicklungen gelenkt, die am ehesten durch eine erleichterte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte aufgefangen werden könnten, da alle anderen Parameter der Entwicklung nur mittel- bis langfristig – wenn überhaupt – zu beeinflussen sind. Der scheinbar unwidersprochene Befund eines umfassenden Fachkräftemangels in der deutschen Wirtschaft hält jedoch einer kritischen Überprüfung der aktuellen Situation am Arbeitsmarkt nicht stand. Unstrittig dürfte jedoch sein, dass die demographische Entwicklung der Bevölkerung erhebliche Auswirkungen auf Umfang, Struktur und Qualifikation der erwerbsfähigen Bevölkerung in der Zukunft haben wird. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rechnet bis zum Jahr 2020 mit einem Minus von 1,8 Millionen Menschen. Unstrittig ist auch, dass es bereits heute in einzelnen Wirtschaftszweigen und Berufen und auf regionalen Arbeitsmärkten zum Teil erhebliche Fachkräfteengpässe und -lücken gibt (z. B. fehlende Ingenieure und Techniker, Pädagogen und Pflegepersonal, um nur die gängigsten Beispiele zu nennen). Dem sektoralen und regionalen Fachkräftemangel liegen mehrere Ursachen zugrunde, er lässt sich daher auch nicht mit eindimensionalen Rezepten beheben. Strategien gegen den Fachkräftemangel müssen deswegen zum einen die einzelnen Dimensionen kritisch analysieren und zum anderen ein geeignetes Bündel von Gegenmaßnahmen beschreiben und entsprechend umsetzen.

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Dimensionen des Fachkräftemangels und Ansätze zu dessen Behebung Wenn man das Problem nicht erst am Ende der Ursachenkette, das heißt bei dem manifesten Mangel an Fachkräften in den Betrieben und Einrichtungen, angehen will, muss man zunächst das deutsche Schulsystem und dessen Defizite und dann die Institutionen und Probleme der Berufsausbildung betrachten. Das deutsche Schulsystem Das deutsche Schulsystem ist nach Einschätzung ausländischer Experten nach wie vor ein System, das auf Auslese ausgerichtet ist und deshalb Hürden aufbaut, die durch individuelle Lernanstrengungen überwunden werden müssen, und nicht auf die Förderung aller Schüler, um einen möglichst hohen Bildungsabschluss und damit auch erst die Voraussetzungen für eine qualifizierte Berufsausübung zu erlangen. Immer noch bestimmen sich durch die Herkunft aus einer sozialen Schicht, dem Qualifikationsniveau im Elternhaus und durch den Migrationshintergrund die Chancen, einen höheren Schulabschluss, die Hochschulreife beziehungsweise einen Hochschulabschluss zu erreichen. Ein systematischer Ausgleich von Bildungsdefiziten findet innerhalb des Bildungssystems nicht statt. Daran ändern alle lobenswerten Bemühungen von Initiativen auf den unterschiedlichen Ebenen nichts Wesentliches. Die vorliegenden Daten über Jugendliche ohne Schulabschluss und ohne abgeschlossene Berufsausbildung, aber auch über den Anteil von Hochschulabschlüssen im internationalen Vergleich, sind für ein Land, das sich selbst als Bildungsrepublik bezeichnet und in dem Bildung und Wissenschaft als die wesentliche Humanressource der ökonomischen Entwicklung gepriesen wird, eher beschämend. Im Jahr 2010 verließen mehr als sechs Prozent der Schüler die Schule ohne Abschluss. Der DGB hat festgestellt, dass 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Besonders betroffen sind Jugendliche mit Migrationshintergrund. Nur 42 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund erhielten einen Ausbildungsplatz; während immerhin 62 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund einen Ausbildungsplatz erhielten. An dieser Situation hat sich in der Folge nicht viel geändert. Rund 60 Prozent der Jugendlichen, die keinen Berufsabschluss haben, kommen aus Familien, in denen zumindest ein Elternteil ebenfalls keine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung hat. Auch der Anteil der Menschen mit einem



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Hochschulabschluss in der Altersklasse zwischen 30 bis 34 Jahren liegt mit 29,4 Prozent erheblich unter dem Durchschnitt in der EU (32,3 Prozent); im Vergleich mit Dänemark (48,1 Prozent) und Frankreich (43,3 Prozent) rangiert Deutschland sogar auf einem abgeschlagenen Platz. Allein die Ausstattung mit Kindertagesstätten ist nach wie vor völlig unzureichend – insbesondere in den westlichen Bundesländern. Es existiert ein deutlicher Mangel an qualifiziertem Fachpersonal, das in der Lage wäre, den notwendigen Bildungsauftrag der Kindertagesstätten zu gewährleisten. Nach vorsichtigen Schätzungen des Deutschen Jugendinstituts fehlen allein 30.000 Stellen für pädagogische Fachkräfte. Und die demographische Entwicklung macht auch um die Kindertagesstätten keinen Bogen. 2010 waren 7.000 Fachkräfte über 60 Jahre alt, weitere 37.000 zwischen 55 und 60 Jahren. Selbst unter der Annahme, dass diese Fachkräfte bis zum gesetzlichen Rentenalter ihre Tätigkeit weiter ausüben würden, entstünde ein Bedarf von 44.000 Fachkräften. Eine Verbesserung der Qualifikationsstandards, wie die Europäische Kommission vorschlägt, würde einem weiteren Personalbedarf von rund 80.000 Stellen entsprechen. Wenn es richtig ist, dass die Kindertagesstätten der erste Ort sein könnten, durch soziale Herkunft bedingte Bildungsdefizite auszugleichen und die Chancen für die Wahrnehmung von Bildungschancen zu verbessern, muss hier ein deutlicher Ausbau sowohl des quantitativen Angebotes als auch des pädagogischen Auftrages erfolgen. Der Kindergarten oder der Kinderhort ist eben kein Ort mehr, in dem Kindern aufbewahrt werden, weil die Eltern den Lebensunterhalt für die Familie verdienen müssen, sondern ein Ort, in dem frühzeitig eine gezielte Bildungsförderung einsetzen sollte. Die gezahlten Entgelte entsprechen in keiner Weise den abgeforderten Qualifikationen und werden auch nicht den in der Zukunft weiter ansteigenden Anforderungen gerecht. Hinter der unzureichenden Vergütung verbirgt sich eine mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung, die dieser Arbeit entgegengebracht wird. Die Beschäftigten selbst beginnen aber zunehmend selbstbewusster ihre Interessen zu vertreten, die Anforderungen und Belastungen, die mit ihrer Tätigkeit verbunden sind, auch in der Öffentlichkeit darzustellen. Sie scheuen sich auch nicht, ihre Interessen in Tarifauseinandersetzungen kämpferisch zu vertreten. Wegen dieser Entwicklung wird zukünftig über die Wertigkeit von Erziehungsarbeit auch im Verhältnis zur industriellen Produktionsarbeit neu nachzudenken sein.

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Auch das Schulsystem insgesamt ist durchlässiger zu gestalten und dahin gehend anzulegen, dass vorhandene Defizite durch soziale Herkunft – auch in Verbindung mit Migrationsmilieu – ausgeglichen werden können. Dazu bedarf es sowohl in den Kindertagesstätten als auch in den Schulen einer deutlichen Verbesserung der Ausstattung mit Lehrkräften, aber auch mit Sozialarbeitern, die gezielt Schüler aus bildungsfernen sozialen Schichten fördern und Bildungshemmnisse abbauen. Insofern gilt es, das Potenzial, das hier brachliegt, zu aktivieren. Dies ist nicht nur ein Gebot der ökonomischen Vernunft in Bezug auf die Entwicklung eines Teils des „Humankapitals“, sondern auch unabdingbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration von Migrantinnen und Migranten. Und es ist ein Gebot zur Gewährleistung von Chancengleichheit. Das bildungspolitische Minimalziel muss sein, die Schulabbrecherquoten deutlich zu senken. Berufsausbildung Bislang gilt das duale Ausbildungssystem immer noch als wesentlicher Garant für die ausgeprägte Facharbeiterkultur, die dafür sorgt, dass die Qualität deutscher Industrieprodukte im internationalen Maßstab einen deutlichen Technikvorsprung gegenüber anderen Industrienationen verzeichnet. Andere Industrieländer beneiden Deutschland in der Tat nach wie vor um das System der dualen Berufsausbildung in seiner großen Bandbreite von Berufen. Können wir uns deshalb beruhigt zurücklehnen und Entwarnung geben? Oder ist zu befürchten, dass wir mittel- und längerfristig diese Vorteile verspielen, wenn wir nicht beginnen, die erkannten Defizite zu beheben? Vieles deutet darauf hin, dass Letzteres der Fall sein wird. Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt scheint sich langsam zugunsten der Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, zu wenden. Allerdings gibt es immer noch einen erheblichen Anteil von sogenannten Altfällen, die in diversen Praktika, berufsvorbereitenden Maßnahmen und Einstiegsqualifikationsmaßnahmen stecken. Allein im Jahr 2008 waren 400.000 Jugendliche in den unterschiedlichsten Maßnahmen des oben genannten Übergangssystems – in der Regel ohne Perspektive auf eine qualifizierte Ausbildung.



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Schon in den vergangenen Jahren hatten Ausbildungsbetriebe darüber geklagt, dass viele Jugendliche, die sich auf einen Ausbildungsplatz bewarben, nicht über die von den Betrieben als notwendig erachtete „Ausbildungsreife“ verfügten und deshalb als nicht geeignet abgewiesen werden mussten. Das Problem wurde durch entsprechende Auswahl- und Ausleseverfahren zugunsten der Betriebe gelöst, da ja die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen das Angebot deutlich überstieg. Dies ist nun nicht mehr so ohne weiteres möglich, weil die Folge unbesetzte Ausbildungsplätze sind. Da hilft es wenig, der Vorstufe der Qualifikationskette die Defizite anzulasten und die Anforderungen zu stellen, dass die schulische Ausbildung eben besser werden müsse und die Bewerber passgenauer auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und des Handwerkes auszurichten seien. Zwar ist ein Teil dieser Kritik durchaus berechtigt, sofern sie die Defizite des schulischen Systems beschreibt. Die Glaubwürdigkeit der Kritik stößt aber an ihre Grenzen, wenn sich die Kritiker gleichzeitig steuerpolitisch verweigern, und zwar immer dann, wenn es um das Zurverfügungstellen der Mittel für den notwendigen Ausbau der Kindertagesstätten und der Schulen geht. Allerdings scheint es hier mittlerweile Anhaltspunkte für einen Sinneswandel zu geben, da auch Arbeitgeberverbände die negativen ökonomischen Folgen für die Wirtschaft durch die Vernachlässigung der Kindertagesstätten erkannt zu haben scheinen. Weiterhin bleiben jedoch einzelne Schlussfolgerungen eindimensional und im hohen Maße kurzsichtig. Kritisiert wird unter anderem auch die ausschließliche Orientierung, einen möglichst hohen schulischen Bildungsabschluss zu machen oder gar ein Hochschulstudium als notwendiges allgemeines Bildungsziel auszugeben. Daran sei schuld, dass nicht mehr ausreichend Jugendliche einen Ausbildungsberuf in der Gastronomie, im Handwerk oder im Handel anstreben würden, sondern Jugendliche fehlorientiert und nur noch das Fachabitur und ein Fachhochschulstudium anstreben würden. Auch seien nicht alle Jugendliche geeignet, eine dreijährige qualifizierte Berufsausbildung zu absolvieren. Deshalb müssten zweijährige Ausbildungsgänge weiter ausgebaut werden.

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Diese Wege führen meines Erachtens nicht zu einer Behebung der Probleme, sondern eher zu einer Verfestigung und Verschärfung der Situation. Statt über die unzureichende Ausbildungseignung der Bewerber zu klagen, sollten die Ausbildungsbetriebe gezielte Unterstützungsmaßnahmen anbieten, um die erkannten Defizite auszugleichen. Dies müssen noch nicht einmal immer ausgefeilte Programme sein, sondern gezielte Maßnahmen des Defizitausgleichs. Dabei haben kleine und mittlere Betriebe gegenüber Großbetrieben, die über Ausbildungswerkstätten und einen Stamm von hauptberuflichen Ausbildern verfügen, Nachteile. Diese wären aber durch die Kooperation der Klein- und Mittelbetriebe untereinander und durch Einbeziehung der Berufsschulen zu einem erheblichen Teil kompensierbar. Es geht also darum, auf den unterschiedlichen Ebenen die vorhandenen Potenziale zu heben und die Anforderungen nicht auf die jeweils vorherige Ebene zu verschieben. Eine derartige Problembewältigungsstrategie wird allein deshalb nicht funktionieren, weil die anderen Ebenen genau so reagieren werden und die jeweiligen Gestaltungsbedingungen in den Gliedern der Qualifizierungskette jeweils nicht von „außen“ zu beeinflussen sind. Letztlich muss jeder „vor seiner Haustür kehren“ und versuchen, die Bedingungen dort zu verbessern. Der zweite Aspekt, die Lösung immer nur in der Änderung von Strukturen zu suchen, die nur mittelfristig und längerfristig zu Erfolgen führen, hilft nicht, die aktuellen Probleme zu bewältigen. Das Ziel der Ausbildung auch in Klein- und Mittelbetrieben muss es sein, möglichst keinen Auszubildenden ohne Abschluss der Berufsausbildung zu lassen und diese Zielsetzung konsequent zu verfolgen. Insbesondere die Klein- und Mittelbetriebe müssen sich klar darüber werden, dass die für sie ökonomisch rentabelste Möglichkeit der Rekrutierung von qualifizierten Fachkräften in der eigenen Ausbildung besteht. Kapitalkräftige Großunternehmen können ihre Ausbildungsdefizite wettmachen, indem sie ausgebildete Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt einkaufen und die gesparten Ausbildungskosten in Einwerbeprämien und höhere Entgelte investieren. Bei einem derartigen Bieterwettbewerb werden kleinere und mittlere Betriebe in der Regel nicht mithalten können. Eine gute Ausbildung und die Eröffnung von Aufstiegschancen werden Fachkräfte in Klein- und Mittelbetrieben hingegen in der Regel durch eine hohe Betriebsbindung belohnen.



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Aber auch insgesamt müssen die Angebotsbedingungen für eine Berufsausbildung besser werden. Die Betriebe als Teil des dualen Systems der Berufsausbildung müssen sich als Ausbildungsbetriebe und künftige Arbeitgeber gegenüber den Jugendlichen stärker profilieren. So seltsam dies zunächst einmal klingen mag – andersherum haben sich die Betriebe in der Vergangenheit auch nicht gescheut, den Wettbewerb unter den einen Ausbildungsplatz nachfragenden Jugendlichen zu nutzen, die in ihrem Sinne am besten geeignetsten mit den besten Voraussetzungen einzustellen. Nun haben zunehmend Auszubildende die Möglichkeit einer echten Auswahl ihres Ausbildungsplatzes. Warum sollten sie diese Wahlmöglichkeiten nicht auch nutzen? Der Mechanismus von Angebot und Nachfrage ist eben keine Einbahnstraße. Zu den notwendigen Verbesserungen der Angebotsbedingungen gehört auch, dass Auszubildenden nach einer erfolgreichen Ausbildung in der Regel die Übernahme auf einen unbefristeten Arbeitsplatz angeboten wird, und zwar auf eine Vollzeitstelle. Auch die Frage der Höhe der Ausbildungsvergütung muss wieder eine stärkere Rolle spielen. Auszubildende sind in der Regel heute älter und haben den berechtigten Anspruch, bereits während der Ausbildung eine existenzsichernde Ausbildungsvergütung zu erhalten. Besondere Bedeutung haben auch zukünftige Verdienstperspektiven. Warum sollten Jugendliche eigentlich eine Berufsausbildung beginnen, wenn sie bereits zu Beginn der Ausbildung wissen, dass sie auch nach der Ausbildung nur ein Entgelt erzielen werden, das nicht ausreicht, ihren Lebensunterhalt damit zu bestreiten. Besonders wichtig ist aber die Qualität der Berufsausbildung selbst, da sie wesentlich mit darüber entscheidet, ob die hier gelegten Grundlagen über die Anforderungen des Ausbildungsbetriebes hinausreichen und sie eine solide Basis für die berufliche Weiterentwicklung und Weiterbildung bietet.

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Weiterbildung Das Angebot von Weiterbildungsmöglichkeiten im Betrieb dient ebenso dem Ansatz, zunächst die vorhandenen Potenziale zu nutzen, ehe man nach anderen Lösungen sucht. Die vorhandenen Beschäftigten im Betrieb haben nämlich den großen Vorteil gegenüber Externen, dass sie die Abläufe und Notwendigkeiten kennen und nicht erst erlernen müssen. Die Aufwendungen für Weiterbildung sind also lohnende Investitionen in die Zukunftsfähigkeit des Betriebes, ebenso wie die Anschaffung einer neuen Maschine. Das Potenzial von beruflicher Weiterbildung wird aber immer noch unter Wert betrachtet. Der Zuwachs an Kompetenz, an Handlungs- und Verfahrenswissen verbessert nicht nur die Qualität der Produkte, er leistet auch einen Beitrag zum Anstieg der Arbeitszufriedenheit und durch die Ausdehnung von Handlungskompetenzen gleichzeitig einen Beitrag zum Belastungsausgleich und damit auch zur Reduzierung von arbeitsbedingten Erkrankungen und zur Stressprävention. Das betriebliche Weiterbildungsangebot darf jedoch nicht als Selektionsmechanismus missbraucht werden, sondern muss, je nach Voraussetzungen, möglichst allen Beschäftigten zugänglich sein. Die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten hat sich bei der Entwicklung und der Durchführung von Weiterbildungsangeboten vielfach bewährt und ist dort, wo es funktioniert, ein wichtiger Erfolgsfaktor der Unternehmen. In diesem Zusammenhang ist es völlig unverständlich, warum sich Arbeitgeberverbände und Betriebe nach wie vor scheuen, rechtlich verbindliche Weiterbildungsansprüche von Beschäftigten tarifvertraglich zu verankern, um damit bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Bislang ist es in Tarifverträgen nur gelungen, Verfahrensweisen, Informationsrechte über die Feststellung von Weiterbildungsbedarfen und die Organisation von Weiterbildung zu vereinbaren. Echte Ansprüche des einzelnen Arbeitnehmers auf Weiterbildung finden sich bislang nicht. Auch hier scheint es ein deutliches Defizit zwischen der allgemeinen Feststellung, dass berufliche Weiterbildung ein wesentlicher Schlüssel zur Bewältigung des demographischen Wandels ist und deshalb alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um lebenslanges Lernen zu ermöglichen, und der betrieblichen Realität zu geben.



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Sicherlich wäre es auch ein Trugschluss zu glauben, dass eine Akademisierung der Ausbildung der neue Königsweg ist. Vielmehr ist es notwendig, die Pfade der beruflichen Qualifizierung in den Betrieben und Weiterbildung, auch unter Einbeziehung der Hochschulen, zu vernetzen. Die Förderung der Durchlässigkeit der Bildungswege wäre eine wichtige Orientierung. Die staatliche Förderung von Aus- und Weiterbildung ist dabei grundsätzlich neu zu justieren. Die Entwicklung neuer Technologien und Verfahren wird staatlich in vielfältiger Weise unterstützt. Wie wäre es denn, wenn man dem angeblich wichtigsten Rohstoff der Wissensgesellschaft, der Qualifikation der Beschäftigten, die gleiche Bedeutung zukommen lassen würde? Hier gäbe es vielfältige Ansätze, Betriebe bei den Weiterbildungsangeboten und Beschäftigte, die sich beruflich weiterqualifizieren wollen, die einen Schulabschluss nachholen, um ihr persönliches Fundament für Weiterbildung zu verbessern, so zu unterstützen, dass dadurch echte Anreize entstehen, Weiterbildungsangebote auch anzubieten, anstatt immer nur Teile der Aufwendungen zu kompensieren beziehungsweise nur Teillohnersatzleistungen zu gewähren. Dazu wäre aber ein grundlegender Betrachtungswechsel notwendig. Attraktivität als Arbeitgeber Die Bindung von Fachkräften an den Betrieb beziehungsweise die Rekrutierung von Fachkräften erfordert auch verstärkte Anstrengungen, gute Arbeitsbedingungen zu bieten. Auch hier gilt die Devise, dass die selbst unternommenen Anstrengungen und getätigten Aufwendungen effektiver und zielgenauer sind als die Rekrutierung von Fachkräften von außen. Eine wesentliche Stärke von kleinen und mittleren Betrieben könnte dabei ihre Verwurzelung in der Region sein. Auch flachere Hierarchien könnten möglicherweise bessere Beteiligungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten für die Beschäftigten bieten. Leichtere Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten sind ebenfalls keine zu unterschätzenden positiven Aspekte.

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Arbeitgeber werden sich in der Zukunft viel stärker darauf einstellen müssen, dass insbesondere auch jüngere Beschäftigte, Männer wie Frauen, besonderen Wert auf eine Balance zwischen Beruf und Familie und das Leben mit Kindern legen werden. Hier attraktive Angebote zu machen kann für Betriebe ein wichtiger Pluspunkt sein. Dabei geht es nicht nur darum, das Potenzial gut ausgebildeter Frauen, denen bislang vielfach nur die Alternative Kinder und Familie und ein sie unterfordernder Teilzeitjob als Notlösung blieb, für die Betriebe zu gewinnen. Eine für die Beschäftigten lebbare und ohne zusätzlichen Stress zu organisierende Verbindung von Beruf und Familie hätte vielfache positive Rückwirkungen auch auf die berufliche Tätigkeit. Betriebe, die dies frühzeitig erkennen, werden in Zukunft einen Vorsprung bei der Bindung und bei der Gewinnung von qualifizierten Fachkräften haben. Der Fachkräftemangel in der Pflege als Beispiel eines strukturellen und gesellschaftlichen Defizits Eine Folge des demographischen Wandels wird sein, dass immer mehr Menschen auf eine Pflege im Alter in ganz unterschiedlichen Formen, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen, angewiesen sein werden. Die Pflegenotwendigkeiten zu individualisieren und sie den jeweiligen Familienzusammenhängen zu überlassen, ist dabei keine Alternative. Damit sind eine ganze Reihe von Nebenwirkungen vorprogrammiert, die mit den Bewältigungsstrategien des demographischen Wandels in den Betrieben und Verwaltungen nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind. Die Rede ist hier also von der Anforderung an qualifizierte und professionelle Pflege durch entsprechend ausgebildetes Personal. Diese Entwicklung war vorhersehbar. 1999 hat die Enquete-Kommission des Bundestages „Demographischer Wandel“ Prognosen benannt, nach denen die Zahl der Pflegebedürftigen von 1,93 Millionen im Jahr 1999 auf 2,38 Millionen 2010 steigen könnte. Die Ausbildung in den schulischen Bildungseinrichtungen der Altenpflege hat auf diese Entwicklung völlig unzureichend reagiert. Auch die Förderung der Ausbildung entspricht nicht den Notwendigkeiten. Die Ausbildungskapazitäten sind bis Mitte des vergangenen Jahrzehntes sogar zurückgegangen.



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Am Beispiel dieses Fachkräftemangels lassen sich sowohl die Versäumnisse als auch unzureichende Bewältigungsstrategien zur Behebung des Mangels exemplarisch zeigen. Auch hier wird die Lösung in der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte gesucht. Auch hier wird versucht, durch Ausgliederungsstrategien und Dequalifizierung, den Notstand zu „bepflastern“. Die Pflegetätigkeit genießt zwar gesellschaftliches Ansehen, die psychischen und physischen Belastungen, die damit verbunden sind, werden aber nicht entgolten und spiegeln sich im Entgeltniveau nicht wider. Vielmehr wird Pflegetätigkeit, zumal wenn sie von sogenannten Pflegehelferinnen ausgeübt wird, fast als „Jedefrautätigkeit“ angesehen, die ähnlich wie Familienarbeit (Hausfrauentätigkeit) keiner besonderen Qualifikation bedarf. Eine bessere Bezahlung der Tätigkeiten ist deshalb unter zwei Aspekten notwendig. Zum einen würde dadurch der Anreiz verstärkt, im Pflegebereich zu arbeiten. Der im Sommer vereinbarte Branchenmindestlohn verhindert zwar die Lohnunterbietungskonkurrenz, beschreibt aber nur die Lohnuntergrenze. Eine angemessene und attraktive Bezahlung ist er aber noch lange nicht. Ein Stundenlohn von 8,75 Euro im Westen und 7,75 Euro im Osten als Mindestlohn stellt keine adäquate und leistungs- und belastungsgerechte Bezahlung dar. Zum anderen würde durch ein höheres Entgeltniveau eine stärkere gesellschaftliche Wertschätzung der Pflegetätigkeiten signalisiert. Die Defizite in der Erstausbildung wurden durch Umschulungsmaßnahmen auszugleichen versucht. Die Umschulungsprogramme der Arbeitsagenturen waren lange Zeit dadurch geprägt, dass häufig ohne Prüfung der Voraussetzungen und Eignungen, Arbeitslose zu Pflegerinnen und Pflegern beziehungsweise Helfern umgeschult wurden. So war es keine Seltenheit, dass Kraftfahrer mit Bandscheibenproblemen zu Pflegern umgeschult wurden, ohne zu reflektieren, dass Rücken- und Bandscheibenprobleme zu den häufigsten Erkrankungen im Pflegebereich gehören.

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Die hohe Fluktuation in den Pflegeberufen macht deutlich, dass die psychischen und physischen Belastungen für viele Beschäftigte so hoch sind, dass sie frühzeitig ihren Beruf aufgeben. Durch gute Arbeitsbedingungen, einen besseren Gesundheitsschutz und durch mehr Personal könnte dem Fachkräftemangel im diesem Sektor also wirkungsvoll begegnet werden. Solange die Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal und auch deren Entlohnung in anderen europäischen Ländern deutlich besser sind, ist auch die Anwerbestrategie ausländischer Pflegekräfte keine nachhaltig wirkende Strategie, zumal auch deutsche Pflegekräfte verstärkt in Nachbarländer wechseln. Auch dies spricht dafür, dass die nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Entlohnungsbedingungen der bessere Weg wäre. Das Plädoyer aus gewerkschaftlicher Sicht lautet daher, die brachliegenden Potenziale, die nach wie vor auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungssystems vorhanden sind, zu heben. Der Zuwanderung kommt daher eine ergänzende Funktion zu. Beschäftigte aus anderen Ländern, die in Deutschland arbeiten möchten, sind den Gewerkschaften als Kolleginnen und Kollegen willkommen. Darin eine alleinige Strategie zur Behebung des Fachkräftemangels zu sehen, löst jedoch nicht die Probleme. Es ist also deutlich, dass es zur Behebung des Fachkräftemangels darauf ankommt, an den jeweiligen Hemmnissen und Defiziten anzusetzen und kurzfristig mögliche Aktivitäten mit mittel- und langfristigen Strukturveränderungen zu verbinden. Veränderungen im Bildungssystem werden nicht von heute auf morgen Früchte tragen, aber wenn wir nicht heute mit dem Umsteuern beginnen, werden die negativen Folgen in der Zukunft nicht zu kompensieren sein.  



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Bruno W. Köbele Handlungsfelder zur Verminderung des Fachkräftemangels im Mittelstand Fachkräftemangel als Folge der demographischen Entwicklung, der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und des Fehlens einer zahlenmäßig „ausreichenden“ jungen Generation ist seit einigen Jahren im Fokus der öffentlichen und teilweise auch der politischen Debatte – obwohl das eigentliche Problem seit 15 Jahren bekannt ist. Wir wissen seitdem auch, dass diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist und nicht umgekehrt werden kann. Dies hat mit der Lebensweise und der „Produktivität“ (Geburtenrate, aber auch Geburtenquote von Kindern, die wieder selbst Mütter/Väter werden) zu tun und ist eine Entwicklung, die in allen europäischen Ländern zu beobachten ist, allerdings mit unterschiedlicher Intensität. In allen Ländern setzt diese Entwicklung immer dann ein, wenn der Lebensstandard höher wird und die Individualisierung der Lebenslagen sich verstärkt. Daran ändert übrigens auch die Tatsache nichts, dass die Geburtenrate sich beispielsweise in Leipzig in den vergangenen Jahren verdoppelt hat und dass sie generell wieder leicht ansteigt; dies ist natürlich auch einer positiven Kinder- und Familienpolitik in den vergangenen Jahren geschuldet. Aus diesen Erkenntnissen wurden bisher unterschiedliche Schlüsse gezogen. Allerdings wurde (zumindest bei uns) eher darüber diskutiert, teilweise auch geklagt, als dass tatsächlich seitens der Politik ernsthaft etwas getan worden wäre, um mit dem Problem konstruktiv umzugehen. Beim Thema „Fachkräftemangel“ ließe sich im Frühsommer 2012 nahtlos an den Kuratoriumsband 2010 „Herausforderungen des Mittelstandes“ anschließen. Dort habe ich seinerzeit geschrieben:

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„Die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot (an Fachkräften) wird sich weiter vergrößern und insbesondere mittelständische Unternehmen werden gegenüber Großunternehmen Schwierigkeiten haben, entsprechendes Personal zu rekrutieren. Großunternehmen haben in materieller und reputativer Hinsicht immer noch deutliche Wettbewerbsvorteile in der Gewinnung geeigneten Personals, weswegen bei diesen Unternehmen die Trendwende auf dem Ausbildungsstellen- sowie Arbeitsmarkt wesentlich später zu spüren sein wird als bei mittelständischen Unternehmen. Deshalb muss der deutsche Mittelstand dringend zusätzliche Instrumente und Methoden zur gezielten Nachwuchsgewinnung (...) in seine Personalpolitik integrieren, um bei einem enger werdenden Arbeitsmarkt auf der Angebotsseite wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Zwischenzeitlich sind eine Reihe von Untersuchungen, Thesen und Prognosen zu diesem Thema erschienen. Die Bundesagentur für Arbeit hat in ihrer bemerkenswerten Broschüre „Perspektiven 2025: Fachkräfte für Deutschland“ vom Januar 2011 entsprechende Handlungsfelder identifiziert und Vorschläge unterbreitet. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat ein „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“ mit einer „Engpassanalyse: Fachkräfte sichern“ beauftragt; diese wurde im März 2012 herausgegeben. Auch der Kurzbericht 16/2011 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit dem Titel „Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050 – Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhalten“ kommt hier zu drastischen Schlussfolgerungen. Fachkräfte (nach Definition der Bundesagentur für Arbeit) sind Personen mit mindestens abgeschlossener Berufsausbildung oder vergleichbarem Sekundärabschluss. Das Problem fehlender Fachkräfte wird dadurch verschärft, dass die Zahl der Erwerbstätigen im vierten Quartal 2010 den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht hat. Denn das Erwerbspersonenpotenzial (die Gesamtzahl der Personen, die in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen) wird bis 2025 um 6,5 Millionen zurückgehen. Unter anderem wird prognostiziert, dass 2020 beispielsweise etwa 240.000 Ingenieure fehlen werden. Das Prognos-Institut (zitiert nach „Perspektiven ...“ der Bundesagentur) sieht bis 2030 eine Fachkräftelücke von 5,2 Millionen Personen, darunter 2,4 Millionen Akademiker und 600.000 Geringqualifizierte.



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Der Fachkräftemangel besteht nach der „Engpassanalyse“ (die mit Zahlen aus der Bundesagentur für Arbeit unterfüttert ist) keineswegs generell, in allen Branchen und bundesweit gleichermaßen. In bestimmten Branchen und bestimmten Berufsgruppen, und das in den entsprechenden Regionen, ist er besonders ausgeprägt, in anderen weniger. Insgesamt stellt das Wirtschaftsministerium allerdings fest, dass kleine und mittlere Unternehmen von den Engpässen ganz besonders stark betroffen sind. Bei den Berufen, in denen überwiegend akademisch qualifizierte Personen arbeiten, gibt es derzeit sieben Berufe beziehungsweise Berufsfelder, in denen das Wirtschaftsministerium einen Engpass feststellt, darunter vier aus dem Ingenieurbereich. Es handelt sich bei den sieben Berufsgruppen um Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure, Elektroingenieure, Ärzte, Wirtschaftsprüfer/Steuerberater, Sonstige Ingenieure, Hochschullehrer/Dozenten, Datenverarbeitungsfachleute und Architekten/Bauingenieure. Bei den beruflich Qualifizierten, also Fachkräften/Facharbeitern, werden bereits 46 Berufe identifiziert, in denen Engpässe auftreten, insbesondere im gewerblich-technischen Bereich. Es handelt sich um Qualifizierte in den sogenannten MINT-Berufen, aber es gibt auch bereits große Probleme, qualifizierte Elektroinstallateure und Elektromonteure zu finden. Auch in den „klassischen“ gewerblich-technischen Berufen (Fräser, Dreher, Werkzeugmacher, Schweißer und andere) besteht ein hoher Mangel an qualifizierten Fachkräften. An fünfter Stelle der „Top-Ten-Engpassberufe“ stehen Gesundheits- und Krankenpfleger und Hebammen. Im Gesundheitswesen besteht ja bekanntermaßen generell ein großes Problem.

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Handlungsfelder Von Seiten des Wirtschaftsministeriums wird den kleinen und mittleren Unternehmen empfohlen, die betriebliche Personalpolitik strategisch auf die Fachkräfteengpässe auszurichten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen beziehungsweise geeignete Rekrutierungsstrategien zu entwickeln. Als Handlungsfelder werden gesehen: ◼◼

Ein weiterer Ausbau der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (weiterer Krippenausbau, höheres Engagement der Unternehmen, neue Arbeitszeitmodelle)

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Die Verzahnung von dualer Berufsausbildung und Hochschule: Hier geht es unter anderem um den Ausbau dualer Studiengänge, um Fachkräfte in den Unternehmen selbst (weiter-) zu entwickeln.

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Die Auslandsrekrutierung, in der momentan erst wenige Unternehmen aktiv sind, die aber an Bedeutung zunimmt und mit einem großem Bedarf an Beratung der Unternehmen verbunden ist.

Die Bundesagentur für Arbeit identifiziert zehn Handlungsfelder, die seitens der Politik, insbesondere der Arbeitsmarkt- und der Bildungspolitik, angegangen werden müss(t)en: ◼◼

„Reduzierung der Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluss“: Seit dem sogenannten PISA-Schock ist hier in den vergangenen Jahren allerdings in der Bildungspolitik so wenig passiert, dass die Entwicklung dieses Handlungsfeldes eher pessimistisch zu sehen ist: Bereits 2008 (!) wurde die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen – mit dem Ziel, die Zahl der Schulabbrecher zu halbieren. Auch eine „Qualifizierungsinitiative“ wurde ausgerufen und vieles andere mehr. Allerdings ist hier die Entwicklung, nicht zuletzt durch Bildungsföderalismus und Kompetenzgerangel verursacht, sehr langsam und schwerfällig.



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„Ausbildungsabbrecher reduzieren“: Die Zahl der Ausbildungsabbrecher bewegt sich seit vielen Jahren immer im Durchschnitt um die 25 Prozent, wobei sie je nach Beruf sehr stark schwankt. Die Attraktivität des dualen Systems geht zurück; der DGB hat gerade eine Studie zum Thema „Ausbildungsreife der Betriebe“ herausgegeben. Hier haben die Unternehmen noch Optimierungspotenzial, um diese Quote zu reduzieren und die Ausbildung insgesamt attraktiver zu machen, sei es durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen, teilweise aber auch durch die Erhöhung der Ausbildungsvergütung.

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„Studienabbrecher reduzieren“: Es gibt keine auch nur annähernd verlässlichen Zahlen zu Studienabbrüchen, deren Quote weit über der der dualen Berufe liegen dürfte. Reformansätze in den Studiengängen selbst, aber auch eine bessere Beratung und Information am Beginn des Studiums müssten verstärkt werden.

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„Bei Menschen über 55 die Erwerbspartizipation erhöhen“: Vereinzelt wird schon mit der großen beruflichen Erfahrung dieser Personengruppe geworben; hier müsste noch wesentlich mehr geschehen. Die Zeit, in der in 50 Prozent der Unternehmen keine Mitarbeitenden über 50 Lebensjahren mehr beschäftigt waren, ist offensichtlich vorbei. Die Anstrengungen müssen aber auch deshalb verstärkt werden, weil ein Renteneintritt mit 67 Lebensjahren dies zwingend verlangt.

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„Die Erwerbspartizipation von Frauen erhöhen“: Hier ist das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie angesprochen, der Ausbau der Kinderbetreuungs-Infrastruktur, zum Beispiel auch die Zunahme von Betriebskindergärten. Das zurzeit heftig diskutierte Elterngeld dürfte in diesem Zusammenhang eine sehr kontraproduktive Maßnahme sein. Zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehören aber auch Konzepte zur Integration von Pflegezeiten in die Lebensarbeitszeit. Ein weiterer Aspekt ist auch eine mögliche Erhöhung der Arbeitszeit Teilzeitbeschäftigter, welche auch einen Beitrag zur Fachkräftesicherung bedeuten würde.

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„Die Zuwanderung von Fachkräften steuern“: Es ist ein teilweise heikles Thema bei herrschender Arbeitslosigkeit, allerdings ist dies eine absolut notwendige Maßnahme, die, wie das IAB in der erwähnten Studie feststellt, schon bei weitem nicht mehr ausreicht.

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„Die Arbeitszeit Vollzeitbeschäftigter steigern“: Je nach Branche ein ebenfalls heikles Thema, denn die Unternehmen müssen auf der anderen Seite ihre Attraktivität für die Beschäftigten steigern.

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„Ausbildung und Qualifizierung vorantreiben“: Ein sehr wichtiges Handlungsfeld, das allerdings leider nicht im notwendigen Maß bearbeitet wird. Bei immer noch rund 300.000 Jugendlichen, die ausgebildet werden könnten, aber keine Ausbildungsstelle finden, besteht hier großer Handlungsbedarf. Leider rechnen sich hier sowohl der Ausbildungspakt als auch die Bundesagentur die Zahlen schön. Und die Unternehmen, die Jugendliche einstellen, die schlechtere Startchancen haben, können dies ohne Unterstützung kaum bewältigen: Sie haben für die Begleitung solcher Jugendlicher nicht das pädagogische Know-how und die Ressourcen; dies ist ja auch nicht ihre Aufgabe. Meist können sie so etwas aufgrund der Konkurrenz- und Kostensituation auch nicht selbst finanzieren. Bildungsträger mit entsprechender Ausrichtung und Know-how, wie etwa der Internationale Bund, stehen für diese Aufgabe bereit, die allerdings auch finanziert werden muss. Hier sind Politik und öffentliche Verwaltung äußerst blauäugig, wenn geglaubt wird, Unternehmen würden sich jetzt verstärkt dieser Zielgruppe zuwenden und das Problem würde sich dadurch sozusagen von selbst lösen.

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„Arbeitsmarkttransparenz erhöhen“: Hier ist die Bundesagentur selber gefragt – und hier gibt es auch noch genügend Potenzial. Nicht nur Jobbörsen und Online-Portale sind wichtig und notwendig, sondern vor allem kundenorientierte Beratung und Flexibilität sind gefragt.

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„Steuern und Abgaben prüfen“. Hier geht es um mehr arbeitnehmerfreundliche Steuerregelungen, aber auch generell um die Höhe von Steuern und Abgaben.



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Was getan werden muss Jedes der genannten Handlungsfelder hat mehr oder weniger komplexe arbeitsmarktpolitische, bildungspolitische und wirtschaftspolitische Implikationen. Die Handlungsfelder, die bearbeitet werden müssen, sind bekannt. Ob sie aber auch mit dem notwendigen Engagement und der Konsequenz von Seiten der Politik angegangen werden, muss leider bezweifelt werden. Im Bereich der Nachwuchskräftegewinnung durch Ausbildung, ob dual oder schulisch, werden Förderprogramme für Jugendliche mit schlechteren Startchancen zurzeit leider drastisch zurückgefahren. Wir erleben in der Arbeitsmarktpolitik dramatische Einsparungen, die mit Haushaltskonsolidierung und Schuldenbremse begründet werden. Hier wird eindeutig am falschen Ende gespart: Diejenigen Jugendlichen, die zurzeit im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf sind, müssten eigentlich in Ausbildung sein. Wenn nicht alle Unternehmen diese Ausbildung leisten können, müssen überbetriebliche oder außerbetriebliche Lösungen gefunden werden. Seit Jahrzehnten leisten hier anerkannte Träger der beruflichen Bildung, wie der Internationale Bund, wertvolle Arbeit. Es mangelt nicht an Programmen oder bewährten Konzepten, es fehlt zunehmend deren Finanzierung durch die öffentliche Hand. Die Sparpolitik der Bundesregierung, die mit den insgesamt zurückgehenden Arbeitslosenzahlen erklärt wird, wird dem Bedarf der Wirtschaft an Nachwuchsfachkräften nicht gerecht. Gerade wegen der demographischen Entwicklung müssen hier verstärkt Investitionen in die Zukunft getätigt werden. Wir leisten uns zurzeit 1,9 Millionen junge Erwachsene bis 29 Jahren, die ohne jeden beruflichen Abschluss sind. Natürlich sind nicht alle diese Menschen arbeitslos. Sie sind aber meist in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder in Jobs, die bei Einsparungen als Erste wegfallen. Es gibt, in mehreren Modellversuchen entwickelt und erprobt, Konzepte der Nachqualifizierung und der Heranführung an die externe Facharbeiterprüfung. Damit könnten diese Menschen Qualifikation nachholen und hätten bessere Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt – es gibt viel zu wenige Fördermöglichkeiten für solche Nachqualifizierung.

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Im präventiven Bereich, also in den Schulen, werden Programme der Begleitung von Jugendlichen und der Kompetenzfeststellung durchgeführt. Noch werden zum Beispiel die sogenannten „Berufseinstiegsbegleiter“ durch die Bundesagentur für Arbeit (obwohl es eigentlich um schulische Aufgaben geht) finanziert. Nun sollen diese Aufgaben durch die Bundesländer finanziert werden – es fehlt aber das Einverständnis der Länder, so dass zu befürchten ist, dass solche Programme nicht weitergeführt werden. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, die bisher noch wesentlich weniger an dualer Ausbildung partizipieren als ihre deutschen Altersgenossen, müssten viel stärker gefördert werden, was Sprache und Bildung betrifft. Wenn alle Potenziale ausgeschöpft werden sollen, um später in ausreichendem Maße qualifizierte Fachkräfte zu haben, muss die Kindertagesbetreuung einen stärkeren Bildungsauftrag erhalten. Gerade in der Phase der Kindheit, in der Kindertagesstätten und Horte besucht werden, können grundlegende Fähigkeiten und Kompetenzen herausgebildet werden, die für die späteren Bildungsmöglichkeiten entscheidend sind – oder eben nicht. Sprach- und Abstraktionsvermögen werden in dieser Phase entscheidend ausgebildet. Was die älteren Beschäftigten betrifft, so sind zusätzliche Weiterbildungsmöglichkeiten zu schaffen und ein Klima und eine Atmosphäre zu fördern, die Weiterbildung nicht als manchmal notwendiges Übel, sondern als ganz normal zur Erwerbsbiographie zugehörig betrachtet. Lebenslanges Lernen hat immer noch nicht das Image und die Reputation, die ihm eigentlich zukommen. Die genannten Handlungsfelder müssen von Politik und Administration nun sehr schnell und sehr engagiert angegangen werden, sonst führt die nicht mehr umkehrbare Altersentwicklung auch zu einem nicht mehr umkehrbaren Rückgang an Produktivität und Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft und damit auch unseres Wohlstandes und unseres Lebensstandards.  



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Harald Schartau Mobilisierung der vorhandenen Ressourcen Zahlen und Prognosen Nach Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit wird das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial bis zum Jahr 2025 um rund 6,5 Millionen Personen sinken. Das sind mehr, als derzeit in ganz Baden-Württemberg beschäftigt sind. Der Deutsche Industrie und Handelskammertag DIHK geht davon aus, dass schon jetzt 400.000 Meister, Ingenieure und gut ausgebildete Facharbeiter fehlen. Die Zahl werde jährlich um etwa zehn Prozent steigen. Damit fehlen dieser Berechnung zufolge bis 2030 knapp 2,7 Millionen Fachkräfte. Nicht besetzte Arbeitsplätze in Deutschland haben allein im vergangenen Jahr zu einem Wertschöpfungsverlust von mehr als 18 Milliarden Euro geführt. Das berichtet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) auf Basis einer Befragung von rund 1.600 Unternehmen. Der Fachkräftebedarf ist schon jetzt regional- und branchenspezifisch unterschiedlich ausgeprägt. In unserer Unternehmensgruppe erweist sich beispielsweise im Südwesten der Republik, im Umfeld konkurrierender Automobilzulieferer, die Knappheit von Arbeitskräften als Wachstumsbremse. Eine besondere Seite des sich abzeichnenden Fachkräftemangels ist die Knappheit an Ingenieuren beziehungsweise praxisorientierten Naturwissenschaftlern. Erste Engpässe bei Mitarbeitern mit naturwissenschaftlich-technischen Kompetenzen sind bereits Realität und keine Herausforderung in ferner Zukunft.

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Aber es wird nicht bei einzelnen Engpässen bleiben. Langfristig sieht die Situation weitaus brisanter aus. Studien und Umfragen prognostizieren, dass es spätestens ab 2015 im Zuge der demographischen Entwicklung Deutschlands zu einem erhöhten Bedarf an Fachkräften und Hochqualifizierten in vielen Branchen und Regionen Deutschlands kommen wird. Im ersten Schritt werden sich Qualifikationslücken öffnen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge, die bis Ende der 1960er Jahre geboren wurden, den Arbeitsmarkt verlassen. Wer jetzt noch hofft, der demographische Wandel erweise sich als Irrtum der Statistik, liegt schief. Bundesweit ging die Zahl der jungen Leute, die sich um eine Lehrstelle bemühten, seit 2007 um mehr als ein Viertel zurück; in Ostdeutschland hat sich ihre Zahl sogar halbiert. Noch herrscht kein Notstand, aber die Besetzung von Lehrstellen und Arbeitsplätzen wird schwieriger. Der Wettlauf der Betriebe um qualifizierte Mitarbeiter hat, unabhängig von Zyklen der Konjunktur, längst begonnen. Beide Entwicklungen zeigen, wohin die Reise am Arbeitsmarkt geht. Man kann wie das Kaninchen auf die Schlange starren oder agieren. Mobilisierung der vorhandenen Ressourcen Prävention zur Vermeidung von Fachkräftemangel und langfristige Fachkräftesicherung sind für die Industrie entscheidend. Zentral ist die Mobilisierung der eigenen Ressourcen. Präventiv agiert haben die Unternehmen bereits während der Krise des Jahres 2009. In der Stahlindustrie wurden die Chancen genutzt, besser aus dem Tal herauszukommen, als man hinein gegangen ist. Es galt, die Fachkräfte von heute festzuhalten. Belegschaften wurden trotz Unterauslastung an Bord gehalten, eingespielte Teams blieben zusammen, das Know-how der Mitarbeiter wurde gesichert und erweitert. Das war Fachkräftesicherung im Konjunkturzyklus: Wir haben flexible Arbeitszeiten und Kurzarbeit genutzt, um Fachkräfte zu binden. Lehre daraus: Kurzarbeitsregelungen konjunkturadäquat verändern: das heißt verlängern, Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge nach sechs Monaten, Kombination von Kurzarbeit und Qualifizierung.



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Ausbildung und Weiterbildung Die Industrie und insbesondere der Mittelstand haben die Ausbildungsanstrengungen verstärkt. In unserer Unternehmensgruppe gilt die Leitlinie einer Quote von sieben Prozent im Durchschnitt. Die Zielvorgabe hat sich bewährt. Nach der Krise konnten wir auch deshalb schnell wieder durchstarten, weil Arbeitsplätze gesichert wurden und unser selbst ausgebildeter Nachwuchs zur Stelle war. Wenn wir auch in Zukunft frischen Wind durch unsere Betriebe wehen lassen wollen, wird intensiver die Werbetrommel zu rühren sein: Die Palette reicht von Kooperationen mit Schulen, Einladungen zu Tagen der offenen Tür für Schüler, Azubis werben in Schulen für Ausbildung, Angebot von Praktikumsstellen, Teilnahme an Ausbildungsbörsen bis hin zur Präsenz auf Messen. Es stellen sich zwei zentrale Aufgaben: 1.

Den Zugang für „Schwächere“ besser organisieren

2. Angebote für Abiturienten ausweiten Jahr für Jahr verlassen mehr als 60.000 Schüler die Schule ohne Abschluss. Mehr als 340.000 unversorgte Jugendliche drehen in Warteschleifen ihre Runden. Das liegt weniger an Verweigerungshaltung als in erster Linie an mangelnder Sprachförderung, fehlender frühkindlicher Bildung in Kindertagesstätten und einem zu geringen Angebot von Ganztagsschulen. Für die Lösung von Integrationsproblemen brauchen wir weitere konkrete Maßnahmen: Sprachkurse, Maßnahmen gegen Schulschwänzer und islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten Lehrern in deutscher Sprache. Etwa ein Zehntel der dualen Ausbildungsplätze werden als „außerbetriebliche“ geführt, das heißt, sie werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Im Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung sind die unterschiedlichen Maßnahmen und Bildungsgänge inzwischen kaum noch zu überblicken – und ob sie immer effizient sind, daran gibt es Zweifel. Nach Schätzungen von Fachleuten kostet das Übergangssystem jährlich über 4 Milliarden Euro.

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Diese Mittel wären besser angelegt, wenn sie den Ausgleich von Defiziten während oder begleitend zur dualen Berufsausbildung zum Ziel hätten. Das könnte zu einer deutlichen Erhöhung der Ausbildungsquote besonders in mittleren und kleinen Unternehmen führen. Flankierend können Kooperationen mit regionalen Bildungswerken eingegangen werden, die Auszubildende ohne zusätzliche Kosten für die Betriebe unterstützen. Bildungspolitisch wäre eine Anregung, Jugendlichen bereits an den Schulen in einem eigenständigen Fach eine berufliche Orientierung zu vermitteln. Zudem sollte für alle gefährdeten Jugendlichen eine individuelle Übergangsbegleitung von der Schule in die Ausbildung mit einer festen Vertrauensperson erfolgen. Das Angebot von Einstiegsqualifikationen, betrieblichen Nachhilfen, Kooperationen mit den Arbeitsagenturen und Kommunen und die Vergabe von Praktika, sind für jedes Unternehmen lohnende Investitionen in die Zukunft. Dazu gibt es hunderte von Initiativen in der deutschen Wirtschaft. Das Problem ist erkannt. Bewährt haben sich vor allem Einstiegsqualifizierungen, die für viele Teilnehmer in den Abschluss eines Ausbildungsvertrags münden. Doch auch im Rahmen der Ausbildung selbst unterstützen viele Betriebe den Nachwuchs zusätzlich: Mehr als ein Drittel der Unternehmen in Deutschland bietet Nachhilfe und betriebsinternen Stützunterricht für seine Auszubildenden an. Eine stärkere Verzahnung von Schule, Ausbildung, innerbetrieblicher Karriereentwicklung und Studium müssen darüber hinaus selbstverständlicher Bestandteil einer vorausschauenden Personalpolitik werden. Kooperation mit dem Hochschulbereich Extern stellt sich die Aufgabe, eine mobile, selbstbewusste Generation an den Universitäten anzusprechen. Für Unternehmen kommt es darauf an, eine authentische Arbeitgebermarke aufzubauen. Hier treffen wir auch eine ideale Zuwanderergruppe an: jung, gut qualifiziert, vertraut mit deutschen Institutionen und der Sprache – Studenten aus dem Ausland. Lediglich ein Viertel von ihnen bleibt nach dem Abschluss in Deutschland, andere Länder erreichen deutlich höhere Quoten. Aus der Sicht der Industrie sollten sie zwei Jahre Zeit bekommen, um in Deutschland einen Arbeitsplatz zu finden.



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Das demographische Potenzial schöpfen Genauso wichtig wie Nachwuchsprogramme sind Investitionen in die erfahrenen Mitarbeiter vor Ort. 2020 werden 40 Prozent aller Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, älter als 50 Jahre sein. Die Alterung der Belegschaften ist in vollem Gange. Aber ist das dramatisch? Die früher vorherrschende Defizittheorie des Alterns hat sich als unzutreffend herausgestellt. Physiologische Abbauprozesse lassen sich ausgleichen. „Mehr Licht“ hilft beispielsweise viel weiter. Betriebliche Personalpolitik kann sich die spezifischen Stärken von Älteren (Erfahrung, Verantwortungsbewusstsein, Urteilsvermögen etc.) wertschätzend zunutze machen. In Zusammenarbeit mit dem arbeitswissenschaftlich ausgewiesenen Institut BIT aus Bochum haben wir ein von großen Erwartungen begleitetes Vorhaben, genannt „ergo-stahl“, begonnen. Unterstützt durch Mittel des Bundesarbeitsministeriums wollen wir innerhalb von drei Jahren in Produktionsbereichen mit hohen körperlichen Belastungen die Arbeitsbedingungen umgestalten. Es geht darum, Beschäftigungsfähigkeit und Motivation über alle Altersstufen hinweg zu erhalten. Qualifizierungsprozesse werden in diesem Pilotvorhaben natürlich eine wesentliche Rolle spielen. Einmal erworbenes Wissen trägt nicht ein ganzes Leben. Es kommt darauf an, Wissenserwerb in der Arbeitsphase fortzusetzen, zu ergänzen oder, wo nötig, auch nachzuholen. Nicht ungeplant oder zufallsgesteuert, sondern auf der Grundlage von SollIst-Vergleichen, Mitarbeitergesprächen, einer systematischen Nachfolgeplanung und den daraus folgenden Bildungsbudgets.

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Beschäftigungsquote von Frauen erhöhen Der größte Bereich nicht genutzter Potenziale liegt bei den in der Regel gut qualifizierten Frauen. Um dieses Potenzial zu erschließen, müssen die Arbeitsbedingungen familienfreundlicher gestaltet werden. Jedes Unternehmen, ob groß oder klein, hat die Möglichkeit, sich den lokalen Bündnissen für Familie anzuschließen, sich regional zu vernetzen und gute Beispiele zu übernehmen. Auch das Unternehmensnetzwerk „Erfolgsfaktor Familie“ ist kein closed shop. Partner der Netzwerksarbeit sind die gemeinnützige Hertie-Stiftung sowie der DIHK. Handlungsfelder sind: ◼◼

Kombination von flexiblen Arbeitszeiten und mobilen Arbeitsplätzen (Home Office)

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die Gleichbehandlung bei Rekrutierung, Bezahlung und Karrierechancen

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die Unterstützung der Mitarbeiter bei der Herstellung einer gesundheitsfördernden Balance zwischen Familienleben und Erwerbsleben

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Events und Programme zur Gewinnung von Mädchen und jungen Frauen in technischen Berufen

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Hilfen bei der Organisation von Kinderbetreuungsplätzen

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die bessere Synchronisierung von Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kitas

Alleine 1,2 Millionen Frauen würden in das Erwerbsleben eintreten, wenn sich Beruf und Familie miteinander besser vereinbaren ließen, hat das Bundesarbeitsministerium ausgerechnet. Doch schon jetzt ist zweifelhaft, ob der geplante Krippenausbau ausreichend ist. Zufriedene Eltern in Unternehmen arbeiten besser, motivierter, produktiver und konzentrierter. Mütter und Väter erwerben in der Familie wichtige organisatorische und soziale Fähigkeiten auch für den Beruf. Durch Familienfreundlichkeit können gute Arbeitskräfte für Unternehmen gewonnen und in Unternehmen gehalten werden. Und noch nie gab es in der Industrie für Frauen so gute Karrierechancen wie heute. Aber: Frauen müssen sich auch trauen, diese Chancen zu ergreifen. Nur dann kann auch der Anteil junger Frauen in der gewerblich-technischen Ausbildung höher werden.



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Zuwanderung und Integration Im November 2011 wurde das Anwerbeabkommen mit der Türkei aus dem Jahre 1961 gefeiert. In den Jahren des Wirtschaftswunders und der Abriegelung der innerdeutschen Grenze konnte der Arbeitskräftebedarf in Westdeutschland nicht mehr aus den eigenen Ressourcen gedeckt werden. Fehlende Arbeitskräfte wurden im Ausland angeworben. Soweit die Parallele zu heute. Unsere Wohlstandsgesellschaft wäre ohne die Leistungen der ausländischen Mitbürger gar nicht denkbar. Die überwiegende Mehrheit ist in unserer Gesellschaft angekommen, hat individuelle Erfolgsgeschichten vorzuweisen und unser kulturelles Leben bereichert. Aber nicht alles lief glücklich in der Geschichte der Migration. Fehleinschätzungen auf beiden Seiten prägten die Situation. Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen, stellte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch fest. Der damals gängige Begriff „Gastarbeiter“ suggerierte: Eines Tages werden die Gerufenen wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, aber sie blieben. Wir waren ein Land, das lange Zeit kein Zuwanderungsland sein wollte, und demzufolge wurden Integrationsstrategien gar nicht erst entwickelt. Und ein Problem wurde lange verdrängt. Millionen Arbeitsmigranten waren geringqualifiziert. Als Maschinen ihre einfache Arbeit übernahmen und die erste Ölkrise das Ende des stetigen Wachstums einläutete, wurden viele arbeitslos. Nichts integriert aber mehr als ein sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplatz, von dem man auch leben kann. Integration ist in erster Linie eine soziale Frage. Das gilt für Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie für Deutsche. Ein Arbeitsplatz bedeutet Integration in das soziale Leben eines Betriebes, in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft. Aktuell sind Menschen mit ausländischer Herkunft im Alter von 25 bis 65 Jahren fast doppelt so häufig erwerbslos wie deutschstämmige. Das exkludiert und trägt nicht dazu bei, das Zuwanderungsthema in der deutschen Bevölkerung besonders vordringlich erscheinen zu lassen.

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Zuwanderung Zuwanderung ist keine Alternative zur Ausschöpfung interner Ressourcen, aber eine sinnvolle Ergänzung: Bei Hochqualifizierten, Mangelberufen und Stellen, die ansonsten nicht besetzt werden können. In keinem anderen Industrieland ist der Anteil der Hochqualifizierten an allen Einwanderern so gering wie bei uns. Die Debatte um die Zuwanderung von hochqualifizierten ausländischen Arbeitskräften wurde schon immer vom Konkurrenzgedanken zu den heimischen Kräften überschattet. Es bedarf noch erheblicher Aufklärungsarbeit, um klarzustellen, dass hochqualifizierte Zuwanderer den Deutschen keine Arbeitsplätze wegnehmen, sondern dazu beitragen, neue zu schaffen. Und es ist auch notwendig, klarzumachen, dass sie nicht gerufen werden, um hier das Lohnniveau zu drücken. Erst im Jahre 2005 trat das erste Zuwanderungsgesetz in Kraft. Der Vorschlag der Arbeitgeber, aktiv qualifizierte Zuwanderer nach einem bundeseinheitlichen Punktesystem auszuwählen, wurde darin allerdings nicht umgesetzt (Punkte für: Deutschkenntnisse, Qualifikation, Alter, Familienstand, Berufserfahrung, bisheriges Einkommen). Deutschland wird in Zukunft stärker auf Zuwanderer angewiesen sein. Circa 200.000 pro Jahr werden von Fachleuten für nötig gehalten. Nach wie vor fehlt eine Regelung, die es erlaubt, schlichtweg aus ökonomischen Motiven qualifizierte Arbeitskräfte systematisch anzuwerben. Das Aufenthaltsrecht ist so konstruiert, dass es eine gegebenenfalls vorhandene Rechtmäßigkeit der Zuwanderung prüft. Es gibt keine festgelegten Kontingente, die den Rahmen für eine ökonomisch motivierte Zuwanderungssteuerung setzen könnten. Der Teufel sitzt wie immer im Detail: mit genauen Bedarfsangaben tun sich viele Unternehmen schwer. Aber Einwanderung auf Basis gefühlter Einschätzungen kann nicht funktionieren. Die Lösung des demographischen Dilemmas, die Deckung des Fachkräftebedarfs und gesteuerte Zuwanderung, müssen mehr denn je als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden. In zuwanderungspolitischer Hinsicht wäre es sehr hilfreich, das Thema aus dem Parteiengezänk herauszuhalten. Ziel muss es sein, ein transparentes Steuerungsund Anerkennungsinstrumentarium für die Zuwanderung zu schaffen.  



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Otto Kentzler Finden, Fördern, Festhalten Einleitung „Was wäre die Welt ohne das Handwerk?“ Der TV-Spot der Imagekampagne, die das Handwerk vor gut zwei Jahren auf den Weg gebracht hat, zeigt es in deutlichen Bildern: Alles, was von Hand gemacht ist, zerfällt. Übrig bleibt eine Welt ohne Zivilisation. Anschaulich vermittelt der Film die Bedeutung des Handwerks für unser tägliches Leben. Er gibt aber auch Antwort auf eine andere Frage, die uns aktuell stark beschäftigt: „Was wäre das Handwerk ohne Fachkräfte?“ Fachkräfte sind die Lebensader des Handwerks, der sprichwörtliche goldene Boden. Seine Wertschöpfung beruht maßgeblich auf der Leistung seiner Arbeitskräfte. Das Handwerk hat diesen Boden stets gepflegt: mit einer in der Wirtschaft einmaligen Ausbildungsquote von über acht Prozent, mit Fort- und Weiterbildung, mit einer ständigen Modernisierung von Berufsbildern und Ausbildungskonzepten, mit über 500 Bildungs- und Kompetenzzentren, engagierten Ausbildern und umfassenden Beratungs- und Unterstützungsangeboten der Handwerksorganisationen. Handwerk im demographischen Wandel Über einen Bewerbermangel konnte sich das Handwerk bis vor wenigen Jahren nicht beklagen: Der Überhang an Ausbildungsbewerbern war groß und die Nachfrage nach Fachkräften aufgrund der schwachen Konjunktur insgesamt gering. Das hat sich grundlegend gewandelt. Die geburtenschwachen Jahrgänge sind in der Ausbildung angekommen. Die Konjunktur hat deutlich angezogen. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den vergangenen sechs Jahren fast halbiert. Es wird immer schwieriger, geeignetes Personal zu finden.

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Dabei gerät das Handwerk gleich von mehreren Seiten unter Druck: Der Rückgang der Erwerbsbevölkerung trifft das arbeitsintensive Handwerk unmittelbarer als andere Wirtschaftsbereiche. Unsere Stärke ist die Arbeit mit Kopf und Hand, das individuelle Produkt und die persönliche Dienstleistung. Rationalisierung und Automation sind – anders als in der Industrie – keine nennenswerte Option. Wir brauchen die Menschen – und wir brauchen sie gut ausgebildet. Insofern geht es an den Kern handwerklicher Zukunftsfähigkeit, wenn immer mehr Mitarbeiter in Rente gehen und gleichzeitig die Zahl der Schulabgänger kontinuierlich sinkt. Die mangelnde Ausbildungsreife vieler Schüler verschärft das Nachwuchsproblem. Mit einem Anteil von rund 56 Prozent der Ausbildungsanfänger, die beim Eintritt in die handwerkliche Lehre höchstens über einen Hauptschulabschluss verfügen, bilden unsere Betriebe eine große Zahl junger Menschen aus einer Schulform aus, deren Defizite bekannt sind und die zu einem erheblichen Anteil von Schulabgängern mit Schwächen in den Kernkompetenzen geführt haben. Gleichzeitig steigen die Ansprüche in der Ausbildung stetig. Handwerk ist heute ein hochmoderner Wirtschaftsbereich, der sich durch eine starke Innovationsdynamik, komplexe technologische Verfahren, breite Aufgabenfelder und hohe Anforderungen an die soziale Kompetenz auszeichnet. Man denke nur an den Bereich Energieeffizienz und Erneuerbare Energien, Gebäudeautomation, Anlagenmechanik oder die Gesundheitshandwerke – um nur einige zu nennen. Mit der rasanten technischen Entwicklung und Veränderung der Märkte hält die schulische Vorbildung nur sehr bedingt Schritt. Am anderen Ende des Leistungsspektrums, bei den guten Schülern, macht sich ein deutlicher Trend zur höheren Schulbildung bemerkbar. Immer mehr junge Menschen erwerben die Fach- oder Hochschulreife, während die Zahl der Haupt- und Realschulabgänger zurückgeht – und damit das klassische Bewerberpotenzial des Handwerks. Bis 2025 wird es sich laut Berufsbildungsbericht um 18 Prozent reduzieren.



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Zu den quantitativen und qualifikatorischen Problemen tritt eine nicht unerhebliche Diskrepanz zwischen angebotenen und nachgefragten Lehrstellen. 64,5 Prozent der Ausbildungsbewerber konzentrieren sich auf lediglich 10 von 130 Berufen. Während einige Branchen sich größter Beliebtheit erfreuen, gibt es in anderen kaum Bewerber. Hinzu kommen starke regionale Unterschiede – sei es zwischen alten und neuen Bundesländern oder zwischen Großstädten und ländlichen Regionen. Im Ergebnis haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass im vergangenen Jahr 10.000 Lehrstellen nicht besetzt werden konnten. Auch die Alterung der Belegschaften fordert das Handwerk heraus. Neben dem altersbedingten hohen Verlust an „Man-Power“ in den nächsten zehn Jahren ist es auch der Verlust an Erfahrungswissen, der einen so individuellen und auf Problemlösungskompetenz ausgerichteten Wirtschaftszweig besonders trifft. Fachkräftesituation im Handwerk Die Auswirkungen dieser gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen sind – beschleunigt durch die gute Konjunktur – in unseren Betrieben angekommen. Einer Untersuchung des ZDH zufolge hatte jeder vierte Handwerksunternehmer 2011 eine freie Stelle zu besetzen. Davon hatten 41 Prozent erhebliche Schwierigkeiten, qualifizierte Fachkräfte zu finden. Jeder vierte blieb erfolglos. Besonders betroffen waren Betriebe mit fünf bis neun Beschäftigten – also der klassische Handwerksbetrieb. Das ist erst der Anfang einer Entwicklung, die sich bis 2025 erheblich verschärft und mit dem Ausscheiden der sogenannten Baby-Boomer-Generation aus dem Arbeitsprozess ihren Höhepunkt erreichen wird. Gesamtwirtschaftlich werden dann 6,5 Millionen Erwerbstätige weniger zur Verfügung stehen. Die Konkurrenz um Fachkräfte wird dramatisch zunehmen. Das Handwerk muss alle Register ziehen, um so viele Menschen wie möglich für sich zu gewinnen, so umfassend wie möglich auszubilden und so eng wie möglich an sich zu binden. Wir bringen das auf einen kurzen Nenner: Finden, Fördern, Festhalten.

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Integration – alle Potenziale nutzen Ein besonderes Augenmerk richtet das Handwerk auf die ungenutzten Potenziale in unserem Land. Dazu gehören die vielen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland. Jeder fünfte Mitbürger hat heute eine Zuwanderungsgeschichte, jeder dritte Jugendliche unter 15 Jahren. In Ballungsräumen und Großstädten sind es zum Teil schon zwei von drei Schülern. Ihre Bildungsbeteiligung bleibt – trotz erster Fortschritte der neuen Integrationspolitik – deutlich hinter deutschstämmigen Jugendlichen zurück. Mit 12,8 Prozent verlassen sie die Schule mehr als doppelt so häufig ohne Abschluss wie ihre „deutschen“ Altersgenossen. In der Berufsausbildung sind sie stark unterrepräsentiert. Nur 33,5 Prozent der jungen Ausländer treten eine Lehre an. Bei den deutschstämmigen Schulabgängern sind es mit 65,4 Prozent doppelt so viele. Jeder dritte 25- bis 35-jährige Migrant verfügt über keinen oder keinen anerkannten Berufsabschluss. Entsprechend hoch ist der Anteil an An- und Ungelernten sowie Arbeitslosen. Das ist eine immense Verschwendung von Begabungen, Talenten und Lebensperspektiven und damit von Fachkräftepotenzial, das wir dringend brauchen und das ganz besondere Fähigkeiten mitbringt: Zweisprachigkeit, Kenntnis kulturell unterschiedlicher Wünsche und Bedürfnisse für die individuelle Ansprache einer immer internationaleren Kundschaft und eine Vielfalt an Mentalitäten und Ideen. Im Gegenzug eröffnen unsere Betriebe berufliche Karrierewege, die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Integration.



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Integration in Ausbildung Das Handwerk engagiert sich seit Jahren in einer Vielzahl von Projekten und Initiativen, um mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln für das Handwerk zu gewinnen. Immer mehr Mitarbeiter mit Migrationshintergrund werden in unseren Organisationen eingestellt, mehrsprachige Lehrstellenbörsen stellen sich auf die Bedürfnisse von Eltern und jugendlichen Zuwanderern ein, Mentoren begleiten junge Migranten durch die Ausbildung und stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Das ist Ausweis einer sehr bewussten „interkulturellen Öffnung“ des Handwerks, die wir auch mit der Botschaft unserer Imagekampagne unterstreichen: „Bei uns zählt nicht, wo man herkommt, sondern wo man hinwill.“ Der Erfolg bestärkt uns in unserem Engagement: In den vergangenen fünf Jahren konnten wir die Zahl der ausländischen Lehrlinge um 14 Prozent steigern. Diesen Weg werden wir konsequent fortsetzen. Dabei setzen wir auf die enge Zusammenarbeit mit den Migrantenorganisationen, den Schulen, den Eltern und der Politik. Neben der gesellschaftlichen Offenheit und dem persönlichen Engagement braucht Integration aber vor allem strukturelle Rahmenbedingungen, die es jedem Menschen ermöglichen, seine Talente und Begabungen bestmöglich zu entfalten. Seit langem fordert das Handwerk daher eine umfassende Verbesserung der Bildung. Mehr frühkindliche Bildung, gezielte Sprachförderung, individuelle Unterstützung, intensive Begleitung beim Übergang in weiterführende Schulen, enge Einbindung der Eltern und eine Stärkung der Berufsorientierung sind unsere wesentlichen Anforderungen an eine gute Bildungspolitik, die auf Prävention statt auf Reparatur setzt. Hier sind in erster Linie Familien, Schulen und Politik gefordert. Sie legen das Bildungsfundament, an das wir anknüpfen wollen. Dass dieser Anknüpfungspunkt heute viel früher gesucht werden muss, ist uns bewusst. Betriebsinhaber gehen daher in die Schulen, stellen ihre Berufe vor, bieten Praktika an und informieren auf Elternabenden über das duale System. Dabei berücksichtigen wir ganz bewusst diejenigen, denen unser Bildungssystem weniger vertraut ist. Viele Eltern mit Zuwanderungsgeschichte kennen das Lernen in Praxis und Theorie nicht aus eigenem Erleben. Manchen erscheint es gegenüber der schulischen Bildung „minderwertig“. Hier besteht ein nachvollziehbarer erhöhter Informationsbedarf, dem wir gerecht werden müssen. Elternarbeit muss daher künftig gerade im Hinblick auf Zuwanderungsfamilien einen noch höheren Stellenwert einnehmen.

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Das Handwerk hat gelernt, dass dafür eine sehr viel direktere und persönlichere Ansprache der Migranten nötig ist. Deshalb arbeiten unsere Organisationen eng mit Migrantenselbstorganisationen, ausländischen Medien, Vereinen und Integrationsinitiativen zusammen, um vorhandene Zugangsbarrieren zu unseren Beratungs- und Vermittlungsangeboten abzubauen und die Vielfalt unserer Berufe zu vermitteln. Wir erwarten im Gegenzug, dass die Eltern und Jugendlichen ihrer Bildungsverantwortung gerecht werden und die Angebote nutzen. Eine wichtige Hilfestellung sind in diesem Zusammenhang die vom Handwerk initiierten Bildungsketten der Bundesregierung. Sie reichen von einer frühen Potenzialanalyse in der siebten Klasse über Schnupperwochen in unseren Berufsbildungsstätten, Praktika in den Betrieben bis zur passgenauen Vermittlung und Begleitung junger Auszubildender. Das hilft nicht nur bei der Berufswahl, es schafft auch wichtige Kontakte zwischen Bildungsstätten, Betrieben, Schülern und ihren Eltern. Das ist gerade für Zuwanderungsfamilien wichtig, die oft nicht über entsprechende Netzwerke verfügen. Hier hat die Bundesregierung ein vorbildliches Instrument ganzheitlichen Übergangsmanagements geschaffen, das alle Bildungsverantwortlichen einbezieht und so oder ähnlich auf alle Schulformen ausgeweitet werden sollte. Berufsorientierung gehört nach der festen Überzeugung des Handwerks insbesondere auch in den Lehrplan und in die Lehrerausbildung. Wie wichtig und erfolgreich das praktische Kennenlernen des betrieblichen Alltags ist, zeigen auch unsere Einstiegsqualifikationen. Sie haben sich als hervorragende Türöffner in die Ausbildung erwiesen. 65 Prozent der Teilnehmer gelingt danach der Übergang in eine reguläre Ausbildung – und zwar Jugendlichen aus Zuwanderungsfamilien genauso wie deutschstämmigen Absolventen. Aus dieser Erfahrung heraus fordern wir die Politik auf, auch das berufsvorbereitende Übergangssystem stärker auf die berufliche Erstausbildung auszurichten. Das bedeutet, die individuelle Unterstützung im schulischen, sozialen oder sprachlichen Bereich stärker mit praktischen Anteilen in der Berufsvorbereitung zu verknüpfen und eine passende Berufswahl herbeizuführen. Eingehende Berufsorientierung ist ein wesentlicher Hebel zur Reduzierung der für alle Seiten frustrierenden Ausbildungsabbrüche und die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Lehrzeit und ein erfüllendes Berufsleben.



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Integration in Beschäftigung Wer mit seinen Integrationsbemühungen allein auf die Schulabgänger schaut, springt allerdings zu kurz. Wenn jeder dritte Zuwanderer zwischen 25 und 35 Jahren keinen Berufsabschluss hat und entsprechend häufiger arbeitslos ist, müssen wir uns dringend Gedanken machen, wie wir diejenigen, die die „erste Runde“ verpasst haben, auch später noch in eine reguläre Ausbildung integrieren können. Wir können es uns weder aus Gründen der Fachkräftesicherung noch im Hinblick auf unsere Sozialsysteme leisten, die restlichen 50 bis 60 Jahre ihres Lebens auf ihren umfassenden Beitrag für Wirtschaft und Gemeinschaft zu verzichten. Das erfordert zum einen ein Umdenken der Betriebsinhaber, auch ältere Bewerber in Erwägung zu ziehen. Es bedeutet aber zum anderen auch, „Fördern und Fordern“ neu auszutarieren und lebenslange Bildung als selbstverständliche Erwartung an die Eigenverantwortung jedes Bürgers zu verankern. In diesem Zusammenhang wollen wir auch die berufsbegleitende Nachqualifizierung von An- und Ungelernten stärker in den Blick nehmen, unter denen Migranten stark vertreten sind. Angesichts der technischen Entwicklung nimmt der Bedarf an Geringqualifizierten stetig ab. Die Beschäftigungschancen und die Arbeitsplatzsicherheit schwinden – trotz zunehmenden Fachkräftemangels. Es gilt daher, auf die praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten dieser Menschen aufzubauen und sie mit gezielten Angeboten zum Abschluss einer Externenprüfung zu führen. Das ist die beste Gewähr für umfassendes berufliches Wissen, die Basis für Weiterbildung und die Voraussetzung für sozialen Aufstieg. Für Zuwanderer sind die Hemmschwellen oft hoch. Viele haben in ihren Heimatländern die Schule besucht. Lernen ist für manchen lange her. Die sprachlichen Anforderungen machen Angst. Das deutsche Prüfungswesen ist wenig vertraut. Hier ist es auch an den Meistern und Gesellen, den Kollegen Mut zu machen und Freiräume zu schaffen. Schon heute gibt es in vielen Handwerksorganisationen sehr erfolgreiche Konzepte und Lehrgänge, die beispielgebend sind und die noch stärker wahrgenommen werden müssen.

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Eine wichtige Voraussetzung zur Arbeitsmarktintegration von qualifizierten Ausländern hat die Bundesregierung mit dem im Frühjahr in Kraft getretenen Anerkennungsgesetz geschaffen. Das Handwerk hat die Initiative von Anbeginn unterstützt. Gleichwertigkeitsprüfungen schaffen Transparenz über vorhandene Qualifikationen, ermöglichen eine adäquate Beschäftigung und zeigen bei Bedarf Wege zur Anpassungsqualifizierung auf. Die Handwerksorganisationen haben die Umsetzung des Gesetzes unmittelbar in Angriff genommen und gewährleisten eine umfassende und fachlich kompetente Prüfung und Beratung. Damit leisten sie nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Arbeitsmarktintegration, sondern auch zur Willkommenskultur in Deutschland. Deutschland ist ein Land der Vielfalt – an Menschen, Kulturen und Möglichkeiten. Das Handwerk bekennt sich zu den Chancen einer vielfältigen Gesellschaft und zur Teilhabe aller. Teilhaben heißt an einer gemeinsamen Zukunft mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen. In diesem Sinne setzen wir auf das engagierte Miteinander aller Menschen – wo immer sie herkommen.  



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Hildegard Müller Deutschland braucht mehr Migranten mit guter Qualifikation Die offizielle politische Definition einer Fachkraft bezeichnet Menschen, die eine Ausbildung abgeschlossen und sich über den Schulabschluss hinaus qualifiziert haben. In der öffentlichen Wahrnehmung jedoch werden Fachkräfte in der Regel mit Menschen assoziiert, die eine akademische Ausbildung absolviert und abgeschlossen haben, was suggeriert, die Erhöhung der Akademikerquote wäre bereits die Lösung des Problems. Dass dies nicht so ist, lässt sich bereits daraus ableiten, dass nach der offiziellen Definition in Deutschland 83 Prozent des derzeitigen Arbeitskräftepotenzials Fachkräfte, das heißt Menschen mit einer über den Schulabschluss hinausgehenden Qualifikation, sind. Der Fachkräftemangel ist somit ein Thema, das weit über die akademischen Bildungsgrade hinweg reicht. Der Mittelstand in Deutschland bezeichnet nach der Definition des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn (IfM¹) Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten und weniger als 50 Millionen Euro Umsatz. Damit umfasst der Mittelstand 99,7 Prozent der Unternehmen in Deutschland, wozu rund 1 Million Handwerksbetriebe ebenso gehören wie rund 2,5 Millionen weitere Unternehmen, die insgesamt 39,1 Prozent der Gesamtumsatzerlöse in Deutschland generieren und in denen mehr als 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Arbeit und Einkommen finden. Gleichzeitig bilden diese Unternehmen 1,35 Millionen junge Menschen aus, das sind 83,2 Prozent aller Ausbildungsverhältnisse in Deutschland (Stand 2010). Vor diesem Hintergrund ist der Fachkräftemangel in Deutschland insbesondere für den Mittelstand eine besondere Herausforderung, denn er gefährdet sowohl Bestand als auch das Entwicklungspotenzial der gemeinhin als Wachstumsmotor bezeichneten mittelständischen Wirtschaft.

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Fachkräftemangel im deutschen Mittelstand und Integration

In zahllosen Dokumentationen, Analysen und politischen Statements wird der für die nächsten Jahre erwartete Fachkräftemangel als Wachstumsbremse und Gefahr für den Wohlstand in Deutschland thematisiert. Das damit einhergehende Wachstumsdefizit, das heißt das nicht realisierbare Wirtschaftswachstum in Deutschland, beziffert Prognos² bis zum Jahr 2030 auf 4.600 Milliarden Euro. McKinsey³ stellt hierzu vier Thesen auf: 1.

Fachkräftemangel ist ein reale Herausforderung

2. Unternehmen müssen und können gegensteuern 3.

Fachkräftemangel ist abwendbar – wenn alle mitmachen

4. Personal wird zur zentralen strategischen Ressource Alle Prognosen weisen bei unterschiedlichen Annahmen und Zeithorizonten gemeinsam einen erheblichen nicht gedeckten Bedarf an Fachkräften aus. McKinsey beziffert für das Jahr 2020 den nicht gedeckten Bedarf an Fachkräften auf 2 Millionen Erwerbspersonen. Prognos hat für das Jahr 2030 einen Fachkräftefehlbedarf von 5,2 Millionen und die Bundesagentur für Arbeit⁴ bis zum Jahr 2025 einen Fehlbedarf von 6,2 Millionen Erwerbspersonen, davon 5,4 Millionen Fachkräfte, prognostiziert. Als Ursachen des Fachkräftemangels sind verschiedene Faktoren identifizierbar: ◼◼

Demographische Entwicklung

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Defizite im Bildungssystem

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Defizite im Beschäftigungssystem



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Da die demographische Entwicklung höchstens langfristig beeinflussbar sein dürfte, lassen sich nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit zehn Handlungsfelder identifizieren, die sich für die Erhöhung der Zahl qualifizierter Erwerbspersonen innerhalb Deutschland eignen. I.

Handlungsfelder Bildungssystem 1. Schulabgänger ohne Abschluss reduzieren und Übergänge in den Beruf verbessern 2. Ausbildungsabbrecher reduzieren 3. Studienabbrecher reduzieren 4. Qualifizierung und Weiterbildung vorantreiben

II. Handlungsfelder Beschäftigungssystem 5. Erwerbspartizipation und Lebensarbeitszeit von Menschen über 55 erhöhen 6. Erwerbspartizipation und Arbeitszeitvolumen von Frauen steigern 7. Arbeitszeit von Beschäftigten in Vollzeit steigern 8. Arbeitsmarkttransparenz erhöhen III. Weitere Handlungsfelder 9. Zuwanderung von Fachkräften steuern 10. Flankierende Maßnahmen im Steuer- und Abgabenbereich prüfen Gerade die Handlungsfelder in Zusammenhang mit dem Bildungssystem sind unmittelbar mit Fragen der Integration von Migranten oder Personen mit Migrationshintergrund verbunden. Untersuchungen zeigen, dass in der Tendenz Zugewanderte im Durchschnitt schlechter gebildet, häufiger arbeitslos sind und weniger am öffentlichen Leben teilnehmen als Einheimische, auch wenn Millionen von Menschen in Deutschland mit sogenanntem Migrationshintergrund längst integriert sind und ihre Zukunft selbst gestalten. Wenn der derzeitige Aufschwung auch die Beschäftigungssituation von Migranten verbessert hat, so ist dennoch die Beschäftigungsquote erheblich geringer als im Rest der Bevölkerung. Nur wenn es gelingt, alle fähigen Menschen optimal auszubilden und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, kann ein wesentlicher Teil des Fachkräftemangels überwunden werden. In Deutschland haben im Jahr 2008 7,5 Prozent der Schulabgänger nicht mindestens einen Hauptschulabschluss erreicht. Zieht man die Abgänger der Förderschulen ab, verbleiben jährlich rund 30.000, die keinen Schulabschluss erreichen und damit kaum Chancen auf einen Ausbildungsplatz besitzen.

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2008 wurden 21,5 Prozent der Ausbildungsverhältnisse, das heißt 140.000, frühzeitig, ergo vor Abschluss der Ausbildung, aufgelöst. Davon haben etwa die Hälfte (70.000) keine neue Ausbildung begonnen. Für den Abbruch sind nach Untersuchungen der Bundesagentur für Arbeit in 70 Prozent der Fälle betriebliche Gründe und hierbei insbesondere (60 Prozent) Konflikte mit Ausbildern und anderen Vorgesetzten ausschlaggebend. Gelänge es, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss und die Ausbildungsabbrüche jeweils zu halbieren, würde mit einem zusätzlichen Angebot von bis zu 600.000 zusätzlichen Fachkräften bis 2025 zu rechnen sein. Die Förderung von Bildung im vorschulischen und schulischen Bereich sind hoheitliche Aufgaben, sie liegen im Verantwortungsbereich von Tagesstätten, Vorschulen und Schulen. Unternehmen werden jedoch ergänzend und noch mehr als bisher alle Kraft darauf verwenden müssen, das Potenzial der Schulabgänger/Auszubildenden zu heben. Die Orientierungsangebote in Schulen müssen verbessert und in Zusammenarbeit mit Kammern und anderen berufsständischen Einrichtungen muss der Weg in die berufliche Qualifikation erleichtert oder erst ermöglicht werden. In Deutschland wird die Zahl der Erwerbspersonen von heute 55 Millionen Personen bis 2050 auf 27 Millionen sinken. Bis 2025 reduziert sich die Zahl der Erwerbspersonen bereits auf 38 Millionen Personen, das heißt in 14 Jahren werden 7 Millionen Personen weniger erwerbstätig sein als heute. Diese Zahlen beziehen sich jeweils auf eine konstante Erwerbsquote und berücksichtigen keine Zuwanderung. Damit wird deutlich, dass Stellschrauben gegen Arbeitskräftemangel und Fachkräftemangel die Verbesserung der Qualifikation, die Erhöhung der Erwerbsquote in der Bevölkerung sowie die Anzahl der Zuwanderer sind. Prognos beziffert die Fachkräftelücke bis 2030 auf 5,2 Millionen Personen. Hiervon werden zwar 2,4 Millionen Akademiker erwartet, aber die Mehrzahl werden mit 2,8 Millionen Nichtakademiker sein.



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Insbesondere der Aspekt einer besseren Integration von Migranten bekommt in der Fachkräftemangeldiskussion ein besonderes Gewicht. Abgesehen von Migranten mit Flüchtlingshintergrund, deren Qualifikation für den hiesigen Arbeitsmarkt oft nicht ausreicht, wären Migranten mit guter Schul- oder Berufsausbildung oder gar Akademiker eine erwünschte Zielgruppe. Hindernisse können Arbeitsverbote – zum Beispiel bei Asylanten – darstellen. Bei zunehmendem Fachkräftemangel muss sich die Frage stellen, ob Arbeitsverbote für Asylanten, die ursprünglich Schutzmechanismus für erwerbstätige Einheimische waren, ihren Sinn erfüllen. Es muss die Frage erlaubt sein, ob gut ausgebildete Asylbewerber tatsächlich weiter auf Transferleistungen angewiesen sein sollten, oder ob die Integration in den Arbeitsmarkt, und damit in die Gesellschaft, die politisch und ökonomisch sinnvollere Lösung darstellt. Qualifizierte Zuwanderer – auch Asylanten – sind ein Arbeitskräftepotenzial, auf das wir künftig nicht verzichten können. In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, inwieweit die derzeitigen zum Teil diskriminierenden Vorschriften für die Anerkennung von Bildungsabschlüssen kontraproduktiv oder prohibitiv sind. In einer Informationsgesellschaft, die globalisiert und durch Internet und andere elektronische Medien informatorisch grenzenlos ist, sind Bildungsabschlüsse immer vergleichbar. Es ist unter Umständen mühsam, die Vergleichbarkeit herzustellen und eine Gleichwertigkeit zu prüfen; es ist eine Frage des Wollens. Das Zeitalter Taxi fahrender Akademiker, die wegen nicht anerkannter im Ausland abgelegter Studienabschlüsse keine adäquate Beschäftigung in Deutschland finden können, war gestern – im Zeitalter des Arbeitskräfteüberflusses – möglich. Im Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel wäre es eine sträfliche Verschwendung von Ressourcen. Auch die Anerkennung von Handwerksabschlüssen wird sich nicht anhand des Papiers, sondern anhand der handwerklichen Fertigkeiten eines Bewerbers ausreichend ermitteln lassen. Damit ist die Zeit des für die Unternehmen oder Arbeitgeber generell einfachen Weges, Qualifikationen nach eingereichten Papieren und nicht nach erprobten Fertigkeiten zu beurteilen, vermutlich Geschichte.

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Die Frage, ob Fachkräfte Fachkräfte sind, weil sie ihre Fertigkeiten durch ein inländisches Diplom nachweisen können, wird verdrängt werden durch das Herausfinden von Fertigkeiten durch die Arbeitgeber. Die wenigen Tätigkeitsbereiche, die darauf angewiesen sind, Kenntnisse und Fertigkeiten durch Diplome nachzuweisen, wie beispielweise Mediziner und Juristen, stehen hierzu nicht im Widerspruch. Die Identifizierung von Qualifikationen wird zur lohnenden Aufgabe für die Personal- und Fachabteilungen. Insbesondere der Mittelstand ist aufgrund seiner größeren Flexibilität besonders geeignet, Qualifikationen zu erproben, zu hinterfragen und eine der tatsächlichen Qualifikation entsprechende Beschäftigung anzubieten. Das wäre gelebte Integration, die zugegeben aufwendiger ist als bisherige Verfahrensweisen. Sie böte den Unternehmen jedoch in Zeiten des Mangels auch Gelegenheit, sich als modernen Arbeitgeber zu profilieren. Die Integration von Migranten, freiwilligen oder unfreiwilligen wie Asylbewerbern, wird am besten dadurch gelingen, dass diesen Menschen das Recht auf Arbeit und damit das Recht auf Selbstbestimmung nicht verweigert wird. In Deutschland beruht Wohlstand auf Bildung und Qualifikation. Die eigenen personellen Ressourcen reichen selbst mit den bereits jetzt ansässigen Migranten nicht mehr aus, diesen Wohlstand dauerhaft zu sichern. Integration ausländischer Mitbürger ist daher unverzichtbar, wenn das Wohlstandsniveau als erhaltenswert deklariert wird. Die knapper werdende Ressource „Fachkraft“ erfordert noch größere Anstrengungen als bisher, den Mangel zu beheben. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um EU-Bürger, deren Freizügigkeit in den Europäischen Verträgen garantiert ist, oder um Ausländer anderer Herkunft handelt. Angesichts der „Exotik“ der deutschen Sprache dürfte die Zahl deutschsprachiger Bewerber ohnehin gering sein. Integration ohne Kenntnis der Sprache ist nicht möglich. Das begründet zum einen die Forderung nach Spracherwerb an die Personen, die nach Deutschland einwandern wollen, das begründet zum anderen aber auch die Forderung nach Förderung des Spracherwerbs an Politik und Wirtschaft.



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Durch das Ausschöpfen aller Förderpotenziale im Unternehmen steigt seine Attraktivität als Arbeitgeber. Das Unternehmen kann sich so Wettbewerbsvorteile verschaffen. Hierzu wird Personalmanagement zur „Chefsache“ werden müssen. Die vereinzelt geäußerte Vermutung, der Mangel an Fachkräften könne die Unternehmen zur forcierten Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland veranlassen, ist nur auf den ersten Blick vielversprechend. Bei näherer Betrachtung wird die Verlagerungswilligkeit gerade bei mittelständischen Unternehmen davon abhängig sein, wie groß ihre regionale oder kommunale Verwurzelung ist und welche Aspekte gegebenenfalls die Verlagerungsentscheidung zusätzlich beeinflussen. Nach Untersuchungen des Fraunhofer Institutes⁵ nennen drei Viertel der verlagernden Unternehmen die Reduktion von Personalkosten als Motiv, während der Mangel an Fachkräften nur von acht Prozent als Verlagerungsgrund genannt wird. Gleichzeitig ist die Verlagerung von Produktionskapazitäten stark rückläufig. Nachdem 1999 in der Metall- und Elektroindustrie noch 27 Prozent der Unternehmen Produktionskapazitäten ins Ausland verlagerten, ist die Quote 2009 auf neun Prozent gesunken. Dabei ist festzustellen, dass mittlerweile auf drei Verlagerungen eine Rückverlagerung kommt – mit Tendenzen nach zwei zu eins. Als Begründung für die Rückverlagerung nennen fast 20 Prozent der Unternehmen die mangelnde Verfügbarkeit beziehungsweise die Fluktuation von qualifizierten Fachkräften. Damit wird deutlich, dass der Fachkräftemangel in Deutschland nicht durch Verlagerungen ins Ausland gelöst werden kann. Die Integration von Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund und deren Qualifizierung bieten einen vielversprechenderen Ansatz. „Deutschland braucht aufgrund seiner demographischen Entwicklung auch in Zukunft Migranten – und zwar in wachsender Zahl und mit möglichst guten Qualifikationen. Unser Land wird diese Personen nur bekommen, wenn sich die Lage der schon hier lebenden Migranten deutlich verbessert – wenn in Deutschland Menschen unabhängig von ihrer Herkunft die Zukunft des Landes mitbestimmen können und sollen.“⁶

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Deutschland befindet sich schon heute in starker Konkurrenz zu englischsprachigen Ländern (auch Schwellenländern) oder zu Ländern, in denen die Geschäftssprache Englisch ist. Plakativer formuliert: Warum sollte eine bereits Englisch sprechende, zur Emigration bereite Person ohne deutsche Sprachkenntnisse ausgerechnet nach Deutschland kommen wollen? Ein Land, dessen Sprache und Kultur sie nicht versteht, mit dessen Sprache sich außerhalb des Landes wenig anfangen lässt und das sich bisher (noch) nicht durch eine besondere Willkommenskultur ausgezeichnet hätte. Der mit dem Fachkräftemangel einhergehende Wohlfahrtsdruck wird zu einem Paradigmenwechsel nicht nur in den Unternehmen, sondern auch in Politik und Gesellschaft generell führen müssen. Wir werden nicht umhinkommen, Zuwanderungen zu steuern. Wir werden, wie andere Einwanderungsländer auch, bedarfsgerechte Zuwanderungen nicht nur erlauben, sondern auch forcieren müssen. Wir werden aber insbesondere unsere Einstellung zu Menschen fremder Herkunft radikal verändern müssen, weil wir diese Menschen zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstandes dringend brauchen. Bei der Integration der Menschen, die zu uns kommen wollen und dürfen, aber auch derer, die als Migranten bereits in Deutschland leben, kommt der mittelständischen Wirtschaft mit ihrem überragend hohen Anteil an beschäftigten Fachkräften eine besonders wichtige Rolle zu.  

1

Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, siehe www.berlin-institut.org.

2

Prognos AG „Arbeitslandschaft 2030“, Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009.

3

McKinsey Deutschland „Wettbewerbsfaktor Fachkräfte“, Strategien für deutsche Unternehmen Mai 2011.

4

Bundesagentur für Arbeit, „Perspektive 2025: Fachkräfte für Deutschland“ Januar 2011.

5

Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Steffen Kinkel und Spomenka Maloca, Modernisierung der Produktion, Mitteilungen aus der ISI-Erhebung, Dezember 2009, Ausgabe 52.

6

Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, „Ungenutzte Potenziale“. Zur Lage der Integration in Deutschland Januar 2009.



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Dr. Jochen Ruetz Lösung des Fachkräftemangels bei der GFT Technologies AG Ausgangslage Der Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte im Bereich der Informationstechnologie (IT) hat sich in den vergangenen Jahren zugespitzt. Die absehbare demographische Entwicklung in Deutschland deutet eine weitere Verschärfung der ohnehin schon angespannten Lage für die arbeitskräftesuchenden Unternehmen an. Der primäre Resourcenpool für Informatiker sind in Deutschland unverändert die Universitäts- und Ausbildungsabsolventen. Weiteres Potenzial für neue IT-Experten ergibt sich durch Zuwanderung nach Deutschland. Alternativ zur Gewinnung von Informatikern in Deutschland können die Unternehmen die Produktion von IT-Dienstleistungen auch in andere Länder verlagern und somit auf eine internationale Arbeitsteilung zurückgreifen. Für die mittelständischen Betriebe stellt diese Entwicklung eine besondere Herausforderung dar. Große internationale Konzerne bieten potenziellen Bewerbern ein hohes Maß an wirtschaftlicher Stärke und Sicherheit, können aber zugleich bereits heute nennenswerte internationale Produktionskapazitäten vorweisen. Kleinere deutsche Unternehmen differenzieren sich durch Flexibilität, eine überschaubare Organisationsgröße und schnelle Aufstiegsmöglichkeiten, haben aber bislang nur wenig Erfahrung mit ausländischen Produktionsstätten sammeln können. Insbesondere der Mittelstand wird kreative Lösungen finden müssen, um die eigene Versorgung mit Informatiker-Nachwuchs zu gewährleisten und somit im Markt für IT-Dienstleistungen zu bestehen. Stellvertretend für den Anpassungsprozess im Mittelstand kann die börsennotierte IT-Dienstleistungs-Gruppe GFT Technologies AG („GFT“) herangezogen werden. Die GFT ist ein im Jahr 1987 gegründetes IT-Services-Unternehmen mit Sitz in Stuttgart. Im Jahr 2011 war die GFT mit 13 Tochtergesellschaften an 19 Standorten in sieben Ländern aktiv. Der Umsatz im Jahr 2011 belief sich auf rund 270 Millionen Euro mit einem Auslandsanteil von rund 50 Prozent. Von den rund 1.350 Mitarbeitern werden knapp 80 Prozent im Ausland beschäftigt.

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Lösungsweg „Mehr Ausbildung“ Die zentrale Quelle für IT-Fachkräfte in Deutschland sind die Berufsakademien, Fachhochschulen und Hochschulen. Der IT-Ausbildung im Rahmen des dualen Ausbildungssystems kommt eine im Trend zunehmende, insgesamt jedoch noch immer untergeordnete Bedeutung zu, da Unternehmen wie auch Kunden den Fokus auf eine akademische Ausbildung legen. Die Anzahl der Erstsemester-Studenten im Studienbereich Informatik ist von 1987 bis zum Jahr 2000 deutlich von 10.000 Studenten auf nahezu 38.000 Studenten angestiegen (Quelle dieser und aller weiterer Kennzahlen ist der BITCOM Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.). Dieser Anstieg im Zuge der dynamischen Entwicklung der Nachfrage nach IT-Dienstleistungen in den 1990er Jahren ging mit einem Rückgang der klassischen Ingenieurstudiengänge (Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauwesen) einher. Der Trend zur Informationstechnologie wurde durch die hohe Medienpräsenz von Technologieunternehmen im Rahmen zahlreicher Börsengänge Ende der 1990er Jahre („Neuer Markt“) zusätzlich unterstützt. Nach einem ersten Höhepunkt mit dem Ende des „Neuen Marktes“ und der parallel einsetzenden Nachfragekrise nach IT-Dienstleistungen ab 2002 gingen die Studienzahlen im Studienbereich Informatik zurück und pendelten sich bei rund 30.000 Studenten im ersten Semester ein. Seit 2007 ist ein erneuter Anstieg der Erstsemester-Studentenzahlen im Bereich Informatik zu verzeichnen auf rund 40.000 neue Studenten im Jahr 2010. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist zu beachten, dass lediglich circa 50 Prozent der Erstsemester auch das Studium abschließen, so dass im Jahr 2011 rund 16.000 Hochschulabsolventen aus IT-Disziplinen auf den Arbeitsmarkt kamen. Die Zahl der neuen Auszubildenden in den IT-Berufen lag 2010 bei 13.700 und damit um zehn Prozent unter der Anzahl der seinerzeit ausgeschriebenen Lehrstellen.



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Von den jährlich rund 25.000 Informatik-Absolventen aus Fachhochschule, Hochschule und dualem Ausbildungssystem wurde zwischen 2007 und 2011 der größte Teil von Softwareund IT-Services-Unternehmen aufgenommen; dort legte die Anzahl der Erwerbstätigen in diesem Zeitraum um insgesamt 20.000 Beschäftigte pro Jahr zu. Die verbleibenden Informatiker verteilen sich auf alle anderen Industrie- und Dienstleistungszweige sowie den Staat mit zahlreichen eigenen IT-Bereichen. Nach einvernehmlicher Einschätzung der IT-Dienstleistungsunternehmen deckt das aktuelle Angebot an neuen Informatikern den tatsächlichen Bedarf nicht ab. Bedenkt man ferner, dass die Anzahl der Erstsemester-Studenten aufgrund der demographischen Entwicklung sukzessive abnehmen wird, verschärft sich der Wettbewerb um die Informatik-Mitarbeiter der Zukunft. In diesem Wettbewerb konkurrieren große globale Konzerne mit nationalen und internationalen Mittelständlern sowie spezialisierten Kleinunternehmen. Aus Sicht der IT-Industrie ist es sinnvoll, die Ausbildung und die Berufsperspektiven für Informatiker intensiver zu bewerben. So erscheint es denkbar, Interessenten von anderen Ingenieurausbildungen auf das Fach Informatik zu verlagern. Auch wäre es erstrebenswert, den Anteil von Frauen im ersten Semester deutlich zu erhöhen; die Frauenquote unter angehenden Informatikern liegt an den Hochschulen bei aktuell 20 Prozent und im dualen Ausbildungssystem unter zehn Prozent. Da jedoch sämtliche technischen Ausbildungs- und Studienfächer vor ähnlichen Herausforderungen stehen und voraussichtlich ähnliche Maßnahmen zur Steigerung ihrer Studienzahlen ergreifen, werden diese Aktivitäten mittelfristig den zugrundeliegenden demographischen Effekt nicht ausgleichen. Die sich abzeichnenden Gehaltssteigerungen in den technischen Berufen werden übergangsweise zu einer Abwanderung aus anderen Ausbildungsbereichen in die technischen Berufe, zu einer Verschiebung vom dualen Ausbildungssystem an die Hochschulen und zu einer höheren Frauenquote führen, bis auch dieses Optimierungspotenzial von der demographischen Entwicklung überlagert wird.

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Lösungsweg „Zuwanderung und Integration“ Die Greencard für IT-Experten wurde im Jahr 2000 mitten im IT-Boom ins Leben gerufen, um den erkennbaren Mangel an Informatikern abzumildern. In den Jahren 2000 bis 2010 wurden rund 36.000 Arbeitserlaubnisse erteilt, dies entspricht rund 3.300 internationalen IT-Experten pro Jahr oder rund zehn Prozent der heutigen jährlichen Informatik-Absolventen aus den beiden Bildungssystemen. Die Kriterien an eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis sind unverändert streng und werden von der IT-Branche als wesentliches Hemmnis für mehr Zuwanderung angesehen. Insbesondere das Vorliegen eines festen Arbeitsplatzes kombiniert mit der „Vorrangprüfung“ durch die Agentur für Arbeit, „ob die Tätigkeit nicht auch durch einen arbeitslosen Deutschen ausgeübt werden könnte“, sind bürokratische Hindernisse vor dem Hintergrund von 30.500 offenen Informatiker-Stellen und 6.050 arbeitslos gemeldeten Informatikern zu Beginn des Jahres 2012. Jedoch muss auch die IT-Dienstleistungsbranche attestieren, dass der Einsatz von ausländischen IT-Fachkräften in deutschen Organisationseinheiten häufig an der Sprachbarriere scheitert. Die Tätigkeit in IT-Projekten erfolgt in der Regel in vernetzten Teams, bei denen die teaminterne Kommunikation eine herausragende Stellung einnimmt. Sind Unternehmen nicht auf die Zusammenarbeit in der IT-Weltsprache Englisch ausgerichtet, so sind ausländische Fachkräfte ohne Deutschkenntnisse nur schwerlich in Projekte integrierbar. Für die effiziente Einbindung englischsprachiger IT-Experten müssen neben dem Projektteam auch die Fachanforderungen und die Dokumentationen auf Englisch zugänglich sein, was – abgesehen von wenigen globalen Konzernen – eher die Ausnahme darstellt. Somit erfordert die Einbindung einer größeren Anzahl an IT-Zuwanderern neben dem Abbau bürokratischer Hemmnisse vor allem der Ausrichtung von IT-Organisationen auf die Einbeziehung von nichtdeutschsprachigen Fachkräften.



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Eine Verbesserung könnte theoretisch auch dadurch erreicht werden, dass die Förderung von deutschem Sprachunterricht in Ländern mit erkennbarem IT-Fachkräfte-Überschuss ausgebaut wird. Solche Anstrengungen würden von diesen Ländern jedoch voraussichtlich nicht unterstützt, da die lokale Ausbildung von IT-Experten auch dem lokalen Markt zugutekommen soll. Auch die intensive Sprachschulung solcher IT-Experten im Rahmen ihres Aufenthalts in Deutschland erscheint vor dem Hintergrund des globalen Wettbewerbs um eben diese mobilen IT-Experten keine Lösung, denn genau diese IT-Experten können ihre Fachkenntnisse und ihre englischen Sprachkenntnisse ebenso gut in den ebenfalls nachfragenden angelsächsischen Märkten einbringen, ohne lästige Sprachkurse belegen zu müssen. Zusammenfassend ist zu befürchten, dass die Greencard und die Zuwanderung von IT-Experten den Fachkräftemangel im Bereich der Informatik nicht auflösen können. Erst mit einer umfänglichen Ausrichtung der IT-Projektorganisationen vor Ort in Deutschland auf die IT-Weltsprache Englisch wären höhere Zuwanderungserfolge bei hochqualifizierten IT-Experten in der Praxis denkbar. Lösungsweg „Internationale Arbeitsteilung“ Die internationale Arbeitsteilung im Segment der IT-Dienstleistung ist ein über drei Jahrzehnte kontinuierlich zunehmender Trend. Die Informatik ist für ein verlängertes Werkbankkonzept hervorragend geeignet, da die produzierten Güter über die weltweiten Datenleitungen nahezu ohne Transportkosten und Zeitverzug ausgeliefert werden können. Zunächst lagen die primären Beweggründe für die Inanspruchnahme einer verlängerten Werkbank für IT-Dienstleistungen in der Generierung von Kostenvorteilen. Unternehmen in Hochlohnländern begannen Ende der 1980er Jahre personalintensive IT-Projekte zur Reduktion der Aufwendungen an Standorten mit günstigen Personalkosten durchzuführen. Heute wickeln bereits zahlreiche deutsche Unternehmen IT-Projekte über hauseigene IT-Abteilungen oder Zulieferer in Ungarn, Tschechien oder die Ukraine ab, während die Firmen in den USA und Großbritannien in hohem Maße auf indische und andere asiatische Zulieferer zurückgreifen.

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Die GFT AG folgt diesem Trend seit dem Jahr 2002 und beschäftigt von ihren 1.350 festangestellten Mitarbeitern rund 800 Personen in Spanien und rund 200 Personen in Brasilien. Während der spanische Standort mit der einen Hälfte der Belegschaft für spanische Kunden tätig ist und mit der anderen Hälfte als verlängerte Werkbank für Kunden in Großbritannien und Deutschland fungiert, arbeiten die Mitarbeiter in Brasilien nahezu ausschließlich für Kunden im Ausland (v. a. USA und Großbritannien). Dabei ist der Standort Spanien kostenseitig mit Ungarn oder Tschechien vergleichbar, der Standort Brasilien liegt auf einem ähnlichen Personalkostenniveau wie die asiatischen Anbieter. Bis heute stehen bei der Internationalisierung des Einkaufs von IT-Dienstleistungen die Kostenvorteile im Vordergrund. Mit zunehmendem Fachkräftemangel in den Industrieländern werden sich die Beweggründe dahingehend verschieben, dass die Unternehmen zunehmend mangels verfügbarer lokaler Fachleute auf internationale Anbieter zurückgreifen müssen. Da nahezu alle großen Industrieländer – gegebenenfalls mit Ausnahme der USA – vor ähnlichen demographischen Verwerfungen stehen, kann und wird die internationale Arbeitsteilung einen maßgeblichen Beitrag zur Kompensation des Fachkräftemangels beitragen. Die Industrieländer stehen dann wieder in einem Wettbewerb um die besten IT-Fachkräfte, nur eben weltweit. Jedoch bieten insbesondere die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) sowie die aufstrebenden kleineren Länder in Asien und Lateinamerika noch deutliche Mengenpotenziale bei der Bereitstellung und Ausbildung der weltweit benötigten IT-Experten. In Anlehnung an Kapitel 2 gilt für die internationale Arbeitsteilung umso mehr, dass sich die deutschen Strukturen in den Unternehmen bei der Umsetzung von IT-Projekten auf die Weltsprache Englisch ausrichten müssen. Die IT-Experten in Spanien, Indien oder Brasilien werden nur in geringem Umfang über Deutschkenntnisse verfügen. Daher ist die Internationalisierung der deutschen IT-Strukturen in mittleren und großen Unternehmen aller Branchen eine zentrale Voraussetzung zur Sicherung der eigenen Fähigkeit, auch in den absehbaren Zeiten des lokalen Fachkräftemangels IT-Projekte umsetzen zu können. Dabei umfasst diese Vorbereitung nicht nur einen Sprachkurs für die IT-Abteilungen, vielmehr müssen alle Beteiligten an IT-Projekten (IT-Seite und Fachseite) sämtliche erforderliche Dokumentationen und Programmcodebeschreibungen in Englisch vorhalten; darüber hinaus muss die Organisation auf die Zusammenarbeit mit Menschen aus anderen (mitunter deutlich anderen) Kulturkreisen in anderen Zeitzonen ausgerichtet werden.



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Mit zunehmender Internationalisierung der IT-Projekte wird sich im Zeitablauf eine Spezialisierung der IT-Fachkräfte ergeben, die vereinfacht wie folgt strukturiert werden kann: Projekte, die einen permanenten persönlichen Austausch mit dem Kunden und dem Endkunden des Kunden erfordern, werden primär von lokalen Fachkräften bearbeitet. Projekte mit geringeren Kommunikationsanforderungen werden über die verlängerte Werkbank an einem internationalen Standort durch englischsprachige IT-Experten erarbeitet und ausgeliefert. Je geringer der Kommunikationsbedarf zwischen dem Kunden und den IT-Beratern ist, desto größer sind die Effizienzvorteile einer Internationalisierung des Projektteams. Ausblick In den nächsten Jahren haben die technischen Berufe einschließlich der Informatik noch gute Argumente (v. a. positive Nachfrage- und Gehaltsentwicklung), um Schulabsolventen für sich zu gewinnen. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist der Engpass beim Nachwuchs jedoch absehbar und damit nur eine Frage der Zeit. Langfristig orientierte Unternehmen müssen sich in absehbarer Zeit und in Abhängigkeit von der IT-Intensität der jeweiligen Branche mit der Sicherung der eigenen IT-Umsetzungskompetenz auseinandersetzen. Neben der Zuwanderung von IT-Fachleuten bietet die internationale Arbeitsteilung einen praktikablen und bereits bewährten Ausweg. Voraussetzung ist die Vorbereitung der eigenen (IT-)Organisation auf eine zunehmende Internationalisierung der IT-Projektteams und damit auf eine umfassende Einbindung von Menschen aus anderen Kulturkreisen in englischer Sprache. Der Lösungsweg der internationalen Arbeitsteilung beinhaltet den Nachteil, dass dieser Weg keine direkte Stärkung der deutschen Volkswirtschaft mit sich bringt. Produktionszentren in Indien oder Brasilien können zwar das unternehmerische Dilemma des Fachkräftemangels lösen, führen aber im Gegensatz zu regionalen Arbeitsplätzen nicht zu einer Ausweitung der Beschäftigtenzahlen in Deutschland. Dieser Umstand verliert jedoch im Szenario einer weitgehenden Vollbeschäftigung aller qualifizierten deutschen Arbeitskräfte an Bedeutung. Einzig eine stärkere reale Zuwanderung von IT-Experten nach Deutschland würde vor Ort zu höheren Steuerzahlungen und Sozialabgaben führen.

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Die GFT Technologies AG – als mittelständisches IT-Unternehmen – hat sich frühzeitig an die Notwendigkeit zur Internationalisierung der eigenen Organisation angepasst. In den vom Fachkräftemangel am meisten betroffenen Ländern Europas beschäftigt GFT primär hochqualifizierte IT-Experten, die in kundennahen und kommunikationsintensiven Projekten beim Kunden vor Ort eingesetzt werden. IT-Projekte mit geringeren Kommunikationsanforderungen werden bereits heute über die „verlängerte Werkbank“ in Spanien und Brasilien erbracht, wobei derzeit noch Kostenvorteile im Vordergrund stehen. Das zukünftige Mitarbeiterwachstum der GFT wird – unter anderem mit Blick auf den absehbaren Fachkräftemangel in den Industrieländern – in Brasilien und Asien stattfinden. Die wesentlichen Herausforderungen der Umsetzung einer solchen globalen Beschaffungsstrategie liegen im Management der Schnittstellen zwischen den involvierten Ländern und Kulturkreisen. GFT ist dieser Herausforderung mit Geduld, der Förderung teamfähiger und kulturoffener Mitarbeiter, dem Fokus auf die englische Sprache und einem internationalen Austausch von Führungskräften erfolgreich begegnet.  



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Dr. Peter M. Rudhart Der Beitrag des RKW zur Verminderung des Fachkräftemangels im Mittelstand Der Hintergrund Das aktuelle und zukünftige Ausmaß des Fachkräftemangels in Deutschland ist zwischen Experten nicht unumstritten. Es herrscht aber weitgehend Einigkeit darüber, dass bereits heute in bestimmten Bereichen punktuelle Engpässe bestehen, beispielsweise in den sogenannten MINT-Berufen – also in Berufen aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – oder in den Gesundheits- und Pflegeberufen.¹ Der deutsche Mittelstand beklagt zunehmend Probleme bei der Sicherung seines Fachkräftebedarfs. So gaben im DIHK-Mittelstandsreport zum Jahresbeginn 2012 34 Prozent der befragten kleinen und mittleren Unternehmen an, dass der Fachkräftemangel ihre Geschäftsaussichten beeinträchtigt – 2011 waren es noch 29 Prozent. Besonders ausgeprägt sind im Mittelstand die Personalsorgen bei den IT-Dienstleitern (46 Prozent), aber auch in nichtwissensintensiven Branchen wie dem Gastgewerbe (47 Prozent).² Auch die Zusammenarbeit des RKW mit kleinen und mittleren Unternehmen zeigt immer wieder, dass der Problemdruck aus Sicht des Mittelstands hoch ist und noch weiter zunehmen wird. Der demographische Wandel wird das Problem weiter verschärfen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht davon aus, dass das potenzielle Arbeitskräfteangebot, das der deutschen Wirtschaft insgesamt zur Verfügung steht, demographisch bedingt zwischen 2008 und 2025 um 6,5 Millionen Personen abnehmen wird.³ Bereits ab 2015 beginnt das altersbedingte Ausscheiden der geburtenstarken Generation der Baby-Boomer. Die nachrückenden Jahrgänge werden diese Abgänge unter den heutigen Bedingungen weder zahlen- noch qualifikationsmäßig kompensieren können. Dieser Trend ist nicht mehr aufzuhalten. Er kann allerdings abgeschwächt werden, insbesondere durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, eine höhere Erwerbsquote von Älteren sowie eine höhere jährliche Nettozuwanderung. Auch im Bildungssystem gibt es Potenziale, die noch besser genutzt werden können, beispielsweise durch eine Reduzierung der Zahl von Hauptschülern ohne Abschluss.

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Der demographische Wandel bewirkt nicht nur eine Schrumpfung, sondern auch eine zunehmende Alterung des Arbeitskräfteangebots. So rechnet das IAB damit, dass der Anteil der 50- bis 64-Jährigen am Erwerbspersonenpotenzial von 26,9 Prozent im Jahr 2010 bis 2020 auf 34,3 Prozent ansteigen wird. Dagegen wird der Anteil der 15- bis 29-Jährigen im selben Zeitraum von 21,7 auf 19,7 Prozent, der der 30- bis 49-Jährigen sogar von 49,5 auf 43,8 Prozent sinken.⁴ Sowohl die Schrumpfung als auch die Alterung des Arbeitskräfteangebots werden die Betriebe in Deutschland vor große Herausforderungen stellen – und tun es zum Teil bereits heute. Zugleich steigen, bedingt durch technologische Innovationen, den wachsenden Stellenwert von Wissen und Information im Arbeitsalltag sowie die Globalisierung, die Anforderungen der Unternehmen an die Qualifikation ihrer Beschäftigten. Betriebliche Strategien der Fachkräftesicherung Den Unternehmen in Deutschland stehen verschiedene betriebliche Strategien der Fachkräftesicherung zur Verfügung. Gerade für mittelständische Unternehmen, die gegenüber Großunternehmen bei externen Fachkräften oft weniger bekannt oder attraktiv sind, ist es entscheidend, ihre Attraktivität als Arbeitgeber auszubauen und gezielt nach außen zu kommunizieren. Viele Mittelständler bieten ihren Beschäftigten bereits sehr gute Arbeitsbedingungen, sprechen aber noch zu wenig darüber. Andere haben durchaus noch Nachholbedarf bei der Ausgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen. Attraktive Arbeitgeber haben im Wettbewerb um die zunehmend knappe Ressource „Fachkräfte“ Wettbewerbsvorteile, weil sie ihre vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser halten können und zugleich für externe Fachkräfte interessanter sind. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Arbeitgeberattraktivität zu verbessern, etwa durch flexible Arbeitszeitmodelle, interessante Weiterbildungsangebote oder eine besonders wertschätzende Unternehmenskultur. Auch dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf kommt eine stetig wachsende Bedeutung zu. Arbeitgeberattraktivität darf aber kein Lippenbekenntnis bleiben, sondern muss im Betrieb gelebt werden.



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Erfolgversprechend ist auch eine bessere Nutzung des Arbeitskräftepotenzials durch eine stärkere betriebliche Integration, insbesondere von Frauen, Älteren, Migranten und Menschen mit Behinderung. Dies gilt zum einen bei der Gewinnung von Fachkräften. Weil die Arbeitsmarktreserven innerhalb dieser Personengruppen regelmäßig überdurchschnittlich hoch sind, erhöht ihre gezielte Ansprache bei der Personalrekrutierung den Kreis potenzieller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beträchtlich. Allein die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Menschen über 55 Jahren birgt nach Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit⁵ zusammengenommen ein zusätzliches Erwerbspersonenpotenzial von bis zu 2,1 Millionen Fachkräften bis zum Jahr 2025. Zum anderen kann der Einsatz der genannten Personengruppen im Unternehmen durch individuelle Entwicklungsperspektiven und Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden. Generell lassen sich die im Unternehmen bereits vorhandenen Potenziale durch Maßnahmen in den Bereichen Qualifizierung, Gesundheitsförderung und Work-Life-Balance besser nutzen. Hier muss sich die Personalentwicklung und -betreuung der veränderten Arbeitssituation anpassen und sich fragen: Welche Maßnahmen können durchgeführt werden, um mit dem verfügbaren Personal den Geschäftserfolg zu sichern? Infrage kommen beispielsweise Qualifizierungsangebote für alle Alters- und Qualifikationsgruppen im Unternehmen, lernförderliche Tätigkeiten, betriebliche Gesundheitsförderungsmaßnahmen oder schon die Regelung, dass keine Meetings nach 16 Uhr durchgeführt werden und dass die telefonische oder elektronische Erreichbarkeit von Mitarbeitern außerhalb der Arbeitszeit vernünftig begrenzt wird.

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Schließlich bietet eine verstärkte Rekrutierung aus dem Ausland auch für mittelständische Unternehmen einen interessanten Ansatz zur Fachkräftesicherung, nicht zuletzt weil ihnen mit der Zentralen Auslandsvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit und den EURopean Employment Services (EURES) hilfreiche Anlaufstellen zur Verfügung stehen. Ausländische Fachkräfte können nicht nur dabei helfen, Vakanzen zu vermeiden, sondern sie können auch die Innovationsfähigkeit des Unternehmens erhöhen und eine erfolgreiche Gestaltung der Auslandsbeziehungen unterstützen. Attraktive Arbeitsbedingungen sind bei entsprechender Kommunikation über die Landesgrenzen hinaus ein großes Plus. Ein potenzieller Mitarbeiter beziehungsweise eine potenzielle Mitarbeiterin wird ein neues Anstellungsverhältnis in einem anderen Land aber nur dann annehmen, wenn er beziehungsweise sie sich dort willkommen fühlt. Daher ist die Gestaltung einer Willkommenskultur auf betrieblicher Ebene ein wichtiges, mit der Auslandsrekrutierung verbundenes Handlungsfeld. Auch sind sprachliche Hürden zu überwinden; hier kann und muss das Unternehmen seinen neu gewonnenen Fachkräften helfen. Unterstützende Angebote des RKW Trotz breiter öffentlicher Debatten fehlen in mittelständischen Unternehmen oft noch die Einsicht in die Dringlichkeit der Herausforderung Fachkräftesicherung und auch die personellen und finanziellen Ressourcen zur Bearbeitung des Themas. An dieser Stelle besteht großer Bedarf an Sensibilisierungs- und gezielten Unterstützungsmaßnahmen von Seiten der Politik, der Wirtschaft und des Bildungssystems. Sowohl das RKW Kompetenzzentrum als auch die RKW-Landesverbände bearbeiten das Thema Fachkräftesicherung schon seit über einem Jahrzehnt. Gemeinsam ist allen RKW-Angeboten eine tripartistische, also der Politik und den Sozialpartnern Rechnung tragende, Ausrichtung und damit hohe Konsensfähigkeit. Darüber hinaus legen das RKW Kompetenzzentrum wie auch die RKW-Landesverbände großen Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit vor allem kleinen und mittleren Betrieben, um deren Bedarfe in ihre Arbeit aufzunehmen und praxistaugliche Angebote zu entwickeln.



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Angebote des RKW Kompetenzzentrums Seit 2011 betreibt das RKW Kompetenzzentrum zusammen mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) das „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“. Es ist ein Beitrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi) zur Fachkräfteoffensive der Bundesregierung. Das „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“ bietet mittelständischen Unternehmen praxistaugliche, aktuelle Informationen rund um das Thema Fachkräftesicherung. Es beantwortet Anfragen von Unternehmen und Multiplikatoren, veröffentlicht neue Erkenntnisse und aktuelle Trends, beispielsweise zu ungenutzten Fachkräftepotenzialen, motiviert Unternehmen, strategische Personalarbeit im Unternehmen zu verankern, und bietet aktuelle und pragmatische Informationen für kleine und mittlere Unternehmen. Schwerpunkt des Ergebnistransfers ist die Website des „Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung“⁶ mit Studien zum Thema Fachkräftesicherung, umsetzbaren Handlungsempfehlungen (unter anderem zu den Themen Auslandsrekrutierung, Mitarbeitergespräche oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf) und interessanten Praxisbeispielen aus unterschiedlichen Branchen und Regionen. Hinzu kommen regionale Veranstaltungen zu verschiedenen Aspekten der Fachkräftesicherung, zum Beispiel zum Thema Arbeitgeberattraktivität. Das „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“ etabliert sich zunehmend als zentraler Ansprechpartner für mittelständische Unternehmen zum Thema Fachkräftesicherung. Darüber hinaus stellt das RKW Kompetenzzentrum weitere Unterstützungsangebote zum Thema Fachkräftesicherung im Internet bereit: beispielsweise einen Blog zum Thema Fachkräftesicherung⁷, praxisorientierte Instrumente in der Toolbox Fachkräftesicherung⁸ oder das Onlinekompendium Perso-net.⁹ Bei allen Angeboten steht die praktische Nutzbarkeit der Informationen im Vordergrund, die in der Regel über die gemeinsame Erarbeitung der Inhalte mit Unternehmen sichergestellt wird. Hinzu kommen verschiedene Publikationen zum Thema, wie der „Trendreport Fachkräftesicherung

2010/2011“¹⁰,

die

Praxismaterialien

„Arbeitgeberattraktivität“

sowie

„Mitarbeiterbindung und Leistungsfähigkeit“ , der Praxisleitfaden „2015: Personal im Großund Außenhandel“¹² oder eine Studie zur Eingliederung von Mitarbeitern mit psychischen Erkrankungen.¹³

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Selbstverständlich ist das RKW Kompetenzzentrum auch mit Vorträgen und Informationsständen auf Veranstaltungen zum Thema Fachkräftesicherung präsent. Schließlich führt das RKW Kompetenzzentrum seit Jahren verschiedene (Kooperations-) Projekte zu unterschiedlichen Aspekten der Fachkräftesicherung durch. Zu nennen sind etwa die Projekte „Praxisgemeinschaft Wissensmanagement“, „stradewari – Rationalisierungsstrategien im demographischen Wandel“, Leitfaden und Check „Guter Mittelstand – Erfolg ist kein Zufall“, Arbeitskreis „Gesundheit im Betrieb“ und „ArbeitsZeitGewinn in kleinen und mittleren Unternehmen“. Dabei werden auch unterschiedliche Branchenschwerpunkte gesetzt (Bauwirtschaft, Handel, Handwerk sowie der MINT-Bereich). Angebote der RKW-Landesverbände Auch die RKW-Landesverbände führen regelmäßig Projekte zum Thema Fachkräftesicherung durch, etwa das von der RKW Sachsen GmbH initiierte Pilotprojekt „ProfiSACHS“, mit dem kleine und mittlere Betriebe in Sachsen bei der Entwicklung eines strategischen Personalmanagements sowie beim Personal- und Branchenmarketing unterstützt wurden. Weitere Projekte, an denen die RKW-Landesverbände beteiligt sind, widmen sich spezifischen Aspekten der Fachkräftesicherung wie der Ausbildung („Ausbildungsinnovation Composite – AuCom“ – RKW Sachsen-Anhalt) oder dem Spannungsverhältnis zwischen Flexibilität und Stabilität („VITNESS – Flexibilität und Stabilität in Balance“ – RKW Niedersachsen, RKW Kompetenzzentrum und weitere Akteure). Des Weiteren engagieren sich die RKW-Landesverbände in der Demografie- und Arbeitszeitberatung. Weitere für die Fachkräftesicherung im Mittelstand relevante Beratungsfelder der RKW-Landesverbände sind Personalmanagement, Marketing, Arbeitsorganisation, Personalund Kompetenzentwicklung, Newplacement und viele mehr. Schließlich fördern die RKW-Landesverbände den Austausch zu den verschiedenen Aspekten des Themas Fachkräftesicherung durch Arbeitskreise.



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Fazit und Ausblick Der demographische Wandel verändert die Arbeitswelt grundlegend und stellt den deutschen Mittelstand vor große Herausforderungen. Es stehen heute schon viele betriebliche Lösungsansätze bereit, gerade mittelständischen Unternehmen fehlen aber oft die Einsicht in die Dringlichkeit der Herausforderung Fachkräftesicherung sowie die finanziellen und personellen Ressourcen zur Bearbeitung des Themas. Zudem sind viele Instrumente verstreut und daher für Unternehmen schwer aufzufinden. Etliche sind für KMU wenig geeignet und bedürfen daher einer entsprechenden „Übersetzung“. Diese Aufgaben des Bündelns und Aufbereitens erledigt unter anderem das „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“. Unbestritten bedarf es heute und auch in Zukunft der Sensibilisierung aller Beteiligten in den Unternehmen, bei den Sozialpartnern und in der Politik sowie der gezielten Unterstützung der (kleinen und mittelständischen) Unternehmen in Deutschland bei der Sicherung ihres Fachkräftebedarfs. An diesen Aufgaben will sich das RKW auch in Zukunft aktiv beteiligen.

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1

Bundesagentur für Arbeit (verschiedene Ausgaben): Analyse der gemeldeten Arbeitsstellen nach Berufen (Engpassanalyse). Online: http://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistische-Analysen/Analytikreports/Zentral/Monatliche-Analytikreports/Analyse-der-gemeldeten-Arbeitsstellen-nach-Berufen-Engpassanalyse-nav.html

2

Deutscher Industrie- und Handelskammertag e. V.(2012): Umfeld schwierig – Mittelstand robust, DIHK-Mittelstandsreport Jahresbeginn 2012. Online: www.dihk.de/presse/meldungen/2012-03-23-mittelstandsreport

3

Fuchs, J.; Söhnlein, D.; Weber, B. (2011): Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050: Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhalten, IAB-Kurzbericht 16/2011. Online: www.iab.de/194/section.aspx/Publikation/k110721n01

4

Fuchs, J.; Söhnlein, D.; Weber, B. (2011): Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050: Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhalten, IAB-Kurzbericht 16/2011. Online: www.iab.de/194/section.aspx/Publikation/k110721n01

5

Bundesagentur für Arbeit (2011): Perspektive 2025: Fachkräfte für Deutschland. Online: www.arbeitsagentur.de/ zentraler-Content/Veroeffentlichungen/Sonstiges/Perspektive-2025.pdf

6

www.kompetenzzentrum-fachkraeftesicherung.de

7

www.fachkraefte-blog.de

8

www.fachkraefte-toolbox.de

9

www.perso-net.de

10 www.rkw-kompetenzzentrum.de/fileadmin/media/Dokumente/Publikationen/2011_Studie_Trendreport-Fachkraefte.pdf 11

Erstellt gemeinsam mit dem RKW Hessen; www.rkw-kompetenzzentrum.de/fileadmin/media/Dokumente/Publikationen/2010_LF_Praxismaterialien-1.pdf und www.rkw-kompetenzzentrum.de/fileadmin/media/Dokumente/ Publikationen/2011_LF_Praxismaterialien-2.pdf

12

Erstellt gemeinsam mit dem Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e. V. (BGA) und dem Institut für Handelsforschung zu Köln (IfH); www.rkw-kompetenzzentrum.de/nc/publikationen/details/rkw/trennungsgespraeche-erfolgreich-fuehren-140/1/

13

www.rkw-kompetenzzentrum.de/fileadmin/media/Dokumente/Publikationen/2011_Studie_Eingliederung-Erkrankungen.pdf



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Anhang

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Veröffentlichungen des RKW-Kuratoriums In bisher 19 Bänden sind die Beiträge der Mitglieder des RKW-Kuratoriums aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaft zu den Jahressitzungen des Kuratoriums veröffentlicht worden. Der Aufbau der neuen Bundesländer Beiträge von: Werner Breitschwerdt, Leon Brittan, Joachim Dirschka, Wolfram Engels, Gerhard Fels, Roland Issen, Jürgen Jeske, Reimut Jochimsen, Bruno W. Köbele, ConradMichael Lehment, Werner Meißner, Angela Merkel, Heinz-Werner Meyer, Herbert Müller, Werner Münch, Klaus Murmann, Karl-Heinz Narjes, Friedhelm Ost, Matti Paasila, Johannes Rau, Günter Rexrodt, Günter Rinsche, Peter M. Schmidhuber, Lothar Späth, Günter Spur, Erich Staudt, Helga Steeg, Christa Thoben, Annette Winkler Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1993 Die neuen Bundesländer und ihre Partner im Osten Beiträge von: Joachim Dirschka, Roland Issen, Jürgen Jeske, Reimut Jochimsen, ConradMichael Lehment, Angela Merkel, Heinz-Werner Meyer, Herbert Müller, Klaus Murmann. Karl-Heinz Narjes, Matti Paasila, Johannes Rau, Günter Rexrodt, Peter M. Schmidhuber, Lothar Späth, Günter Spur, Helga Steeg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1994 Die neuen Bundesländer und Japan Beiträge von: Joachim Dirschka, Bernhard Dorn, Roland Issen, Jürgen Jeske, Angela MerkeI, Herbert Müller, Karl-Heinz Narjes, Friedhelm Ost, Johannes Rau, Günter Rexrodt, Günter Rinsche, Peter M. Schmidhuber, Günter Spur, Erich Staudt Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1995 Privatisierung öffentlicher Aufgaben Beiträge von: Joachim Dirschka, Rüdiger Frohn, Reimut Jochimsen, Angela Merkel, Friedhelm Ost, Günter Rexrodt, Erich Staudt Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1996



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Innovationen in Deutschland Beiträge von: Siegfried Bleicher, Joachim Dirschka, Bernhard Dorn, Gerhard Fels, Gerd Freund, Reimut Jochimsen, Angela MerkeI, Herbert Müller, Johannes Rau, Günter Rexrodt, Heide Simonis, Lothar Späth, Erich Staudt, Helga Steeg, Matthias Wissmann Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1997 Maßnahmen zur Verminderung der Arbeitslosigkeit Beiträge von: Bernhard Dorn, Gerhard Fels, Jürgen Großmann, Erhard Jauck, Reimut Jochimsen, Bruno W. Köbele, Tyll Necker, Johannes Rau, Günter Rexrodt, Peter M. Schmidhuber, Peter von Siemens, Günter Spur, Matthias Wissmann, Monika Wulf-Mathies Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1998 Globalisierung – Herausforderung und Chance für den deutschen Mittelstand Beiträge von: Joachim Dirschka, Bernhard Dorn, Gerhard Fels, Jürgen Großmann, Eberhard Heinke, Reimut Jochimsen, Bruno W. Köbele, Christiane Krajewski, Werner Meißner, Angela Merkel, Jürgen W. Möllemann, Herbert Müller, Friedhelm Ost, Johannes Rau, Günter Rexrodt, Lothar Späth, Günter Spur, Erich Staudt, Helga Steeg, Matthias Wissmann Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 1999 Aus- und Weiterbildung für den deutschen Mittelstand Beiträge von: Joachim Dirschka, Bernhard Dorn, Jürgen Großmann, Eberhard Heinke, Roland Issen, Jürgen Jeske, Bruno W. Köbele, Christiane Krajewski, Werner Meißner, Angela Merkel, Jürgen W. Möllemann, Herbert Müller, Werner Müller, Friedhelm Ost, Winfried Schlaffke, Erich Staudt, Helga Steeg, Heide Simonis, Matthias Wissmann Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2000 Der Generationenvertrag – Seine Bedeutung für den deutschen Mittelstand Beiträge von: Joachim Dirschka, Jürgen Großmann, Roland Issen, Werner Meißner, Friedrich Merz, Friedhelm Ost, Harald Schartau, Hubertus Schmoldt, Peter von Siemens, Heide Simonis, Günter Spur, Erich Staudt, Helga Steeg, Christa Thoben, Ludolf von Wartenberg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2001

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Zuwanderung, Arbeitsmarkt und der deutsche Mittelstand Beiträge von: Joachim Dirschka, Bernhard Dorn, Gerhard Fels, Jürgen Großmann, Eberhard Heinke, Reinhard Höppner, Carsten Kreklau, Angela Merkel, Jürgen W. Möllemann, Werner Müller, Friedhelm Ost, Johannes Rau, Bernd Rohwer, Manfred Schallmayer, Harald Schartau, Günter Spur, Erich Staudt, Helga Steeg, Matthias Wissmann Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2002 Chancen und Risiken der EU-Osterweiterung für den deutschen Mittelstand Beiträge von: Ludwig Baumgarten, Clemens Börsig, Wolfgang Clement, Joachim Dirschka, Gerhard Fels, Friedel Fleck, Jürgen Großmann, Hans-Christoph Noack, Friedhelm Ost, Matti Paasila, Matthias Platzeck, Günter Rinsche, Bernd Rohwer. Petra Roth, Harald Schartau, Günter Spur, Helga Steeg, Christa Thoben Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2003 Finanzierung des deutschen Mittelstands im Zeitalter der Globalisierung Beiträge von: Clemens Börsig, Wolfgang Clement, Joachim Dirschka, Friedrich Homann, Wolfgang Maßberg, Angela Merkel, Matthias Platzeck, Michael Sommer, Helga Steeg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2004 Qualifizierung im deutschen Mittelstand im Zeitalter der Globalisierung Beiträge von: Ann-Kristin Achleitner, Edelgard Bulmahn, Bernhard Dorn, Eckhard Franz, Eberhard Heinke, Bruno W. Köbele, Friedrich Merz, Friedhelm Ost, Matthias Platzeck, Petra Roth, Harald Schartau, Hubertus Schmoldt, Michael Sommer, Helga Steeg, Ludolf von Wartenberg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2005 Rationalisierung und Beschäftigung im deutschen Mittelstand im Zeitalter der Globalisierung Beiträge von: Ann-Kristin Achleitner, Joachim Dirschka, Reinhard Dombre, Bernhard Dorn, Eckhard Franz, Jürgen Großmann, Friedhelm Ost, Günter Rinsche, Petra Roth, Harald Schartau, Peter M. Schmidhuber, Helga Steeg, Christa Thoben, Ludolf von Wartenberg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2006



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Herausforderung der demographischen Entwicklung für den deutschen Mittelstand Beiträge von: Anton Börner, Hans-Jörg Bullinger, Joachim Dirschka, Bernhard Dorn, Michael Glos, Jürgen Großmann, Eberhard Heinke, Hans-Joachim Metternich, Angelika Niebler, Friedhelm Ost, Harald Schartau, Annette Schavan, Hubertus Schmoldt, Christa Thoben, Ludolf von Wartenberg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Eschborn 2007 Mittelstand – Schlüsselfaktor im deutschen Innovationssystem Beiträge von: Dieter Althaus, Ludwig Baumgarten, Clemens Börsig, Hans-Jörg Bullinger, Edelgard Bulmahn, Joachim Dirschka, Eberhard Heinke, Roland Issen, Silvana Koch-Mehrin, Wolfgang Maßberg, Werner Meißner, Angelika Niebler, Hans-Christoph Noack, Friedhelm Ost, Andreas Pinkwart, Matthias Platzeck, Günter Rinsche, Petr Roth, Harald Schartau, Annette Schavan, Christine Scheel, Michael Sommer, Helga Steeg, Günter Spur, Alexander Tesche, Ingrid Voigt, Ludolf von Wartenberg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Sternenfels 2008 Mittelstand und Osteuropa Beiträge von: Dieter Althaus, Ludwig Baumgarten, Anton F. Börner, Hans-Jörg Bullinger, Edelgard Bulmahn, Joachim Dirschka, Roland Issen, Silvana Koch-Mehrin, Bernd Kriegesmann, Klaus Murmann, Friedhelm Ost, Matthias Platzeck, Thorsten Posselt, Günter Rinsche, Petra Roth, Annette Schavan, Hubertus Schmoldt, Günter Spur, Helga Steeg, Ludolf von Wartenberg Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Sternenfels 2009 Die Zukunft des deutschen Mittelstands Beiträge von: Anton F. Börner, Hans-Jörg Bullinger, Edelgard Bulmahn, Joachim Dirschka, Otmar Franz, Eberhard Heinke, Roland Issen, Silvana Koch-Mehrin, Bruno W. Köbele, Bernd Kriegesmann, Angelika Niebler, Friedhelm Ost, Andreas Pinkwart, Matthias Platzeck, Petra Roth, Harald Schartau, Christine Scheel, Peter M. Schmidhuber, Günter Spur, Alexander Tesche Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Sternenfels 2010 Kultur- und Kreativwirtschaft im deutschen Mittelstand Beiträge von: Anton F. Börner, Hans-Jörg Bullinger, Otmar Franz, Michael Glos, Simone Kimpeler, Wolfgang Maßberg, Bernd Neumann, Friedhelm Ost, Eva Plankenhorn, Matthias Platzeck, Philipp Rösler, Christine Scheel, Michael Sommer, Günter Spur, Alexander Tesche, Michael Vassiliadis, Ingrid Voigt, Ludolf von Wartenberg, Harm Wurthmann Herausgegeben von Dr. Otmar Franz, Sternenfels 2011

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Mitglieder des RKW-Kuratoriums Dr. Ludwig Baumgarten ehem. Mitglied des Vorstands des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. Anton F. Börner Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. Prof. Dr. Clemens Börsig Mitglied des European Advisory Boards der Deutschen Bank AG Prof. Dr. Werner Breitschwerdt Daimler AG Rainer Brüderle MdB Vorsitzender der FPD-Fraktion im Deutschen Bundestag Prof. Dr.-Ing. habil. Hans-Jörg Bullinger Präsident der Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V. Edelgard Bulmahn MdB Bundesministerin für Bildung und Forschung a.D. Joachim Dirschka Ehrenpräsident der Handwerkskammer zu Leipzig Prof. Dr. Gerhard Fels ehem. Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft Dr. Otmar Franz Ehrenvorsitzender des Vorstands des RKW e.V., Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments Michael Glos MdB Bundesminister für Wirtschaft und Technologie a. D.



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Prof. Dr. Jürgen Gramke Vorstandsvorsitzender des Institute for European Affairs Dr. Jürgen Großmann Inhaber der Georgsmarienhütte Holding GmbH Dr. Ute Günther Vorstand Business Angels Netzwerk Deutschland e.V. (BAND) Dr. Eberhard Heinke Vorsitzender des Verwaltungsrats des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung Roland Issen ehem. Vorsitzender der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft Otto Kentzler Präsident des Zentralverband des Deutschen Handwerks e.V. Senator e.h. Bruno Köbele Präsident des Internationalen Bundes Andrea Kocsis Stellvertretende Vorsitzende ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Bundesvorstand Christiane Krajewski Ministerin und Senatorin a. D. Prof. Dr. Bernd Kriegesmann Präsident der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen Dr. Heinz Kriwet ehem. Vorsitzender des Aufsichtsrats der Thyssen Krupp AG

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Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Maßberg Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Werner Meißner Präsident der accadis Hochschule Bad Homburg RA Friedrich Merz Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V. Hildegard Müller Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. Dr. Werner Müller Bundesminister für Wirtschaft und Technologie a. D. Dr. Klaus Murmann Gründer der Sauer-Danfoss Inc. Bernd Neumann MdB Staatsminister für Kultur und Medien Dr. Angelika Niebler MdEP Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU im Europaparlament Friedhelm Ost Staatssekretär a. D. Prof. Dr. Andreas Pinkwart Rektor der HHL – Leipzig Graduate School of Management Matthias Platzeck MdL Ministerpräsident des Landes Brandenburg



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Prof. Dr. Günter Rinsche Mitglied des Vorstands der Konrad-Adenauer-Stiftung Dr. Gunnar Rogwalder Chairman of the Board Hansa Luftbild Arabia EC Dr. Philipp Rösler MdB Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Dr. Peter M. Rudhart Vorstandsvorsitzender RKW e.V., Honorary Vice President of the European Management Association Dr. Jochen Ruetz Finanzvorstand (CFO) der GFT Technologies AG Harald Schartau Arbeitsdirektor und Mitglied der Geschäftsführung der Georgsmarienhütte Holding GmbH Prof. Dr. Annette Schavan MdB Bundesministerin für Bildung und Forschung Christine Scheel ehem. Vorstand Nachhaltigkeit der HEAG Südhessische Energie AG (HSE) RA Peter M. Schmidhuber ehem. Mitglied der EU-Kommission Hubertus Schmoldt ehem. Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Günter Schwank Ehrenmitglied des RKW e.V.

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Michael Sommer Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Prof. Dr.-Ing. Günter Spur Technische Universität Berlin Prof. Dr. Joachim Starbatty Vorsitzender des Vorstands der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V. Dr. Helga Steeg ehem. Exekutivdirektorin der Internationalen Energie-Agentur IEA Dr. Alexander Tesche Mitglied des Vorstands der Ed. Züblin AG Christa Thoben Ministerin a. D. Michael Vassiliadis Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Dr. Ludolf von Wartenberg Präsident der Gesellschaft zur Förderung von Auslandsinvestitionen Dr. Annette Winkler Head of smart Daimler AG



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