Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht

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Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht

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3 Friedrich Georg Jünger Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht

VERSUCHE 3

FRIEDRICH GEORG JÜNGER

Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht

ERNST KLETT VERLAG STUTTGART

Zweite, durchgesehene Auflage 1966 Alle Rechte Vorbehalten Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages © Emst Klett Verlag, Stuttgart 1952 * Printed in Germany Satz und Druck: Ernst Klett Stuttgart «■ /'

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INHALT

Einleitung..................................................................................

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Rhythmus und Sprache..............................................................

11

Unterschied zwischen Prosa und Dichtung................................ 11 Rhythmus und Metrum......................................................... 14 Rhythmus und Rhythmizomenon............................................... 18 Wiederkehr............................................................................. 23 Eintönigkeit der Wiederkehrund Periodizität .... 28 Gliederungen der Sprache und des metrischen Rhythmus

32

Metrische Zeichenschriften.......................................................... 32 Silben.............................................................................................. 34 Takte....................................................................................... 43 Kola.............................................................................................. 54 Tonlose Zeiten........................................................................ 56 Ethos der Rhythmen.............................................................. 60 Der Vers..................................................................................

65

Selbständigkeit des Verses................................................... 65 Vers und Satz ......................................................................... 66 Metrischer Rhythmus und Syntax...........................................69 Stabreim und Endreim......................................................... 78 Der Reimvers........................................................................ 83 Der Reim............................................................................. 94 Der deutsche Hexameter............................................................. 101 Strophen.......................................................................................112 Reimstrophen.............................................................................112 Oden............................................................................................120

Freie Rhythmen.............................................................................1 Deutscher Hexameter und freieRhythmen.............................. i Oden und freie Rhythmen................................................... ...... Nähere Bestimmung der freienRhythmen...........................i Anmerkungen..................................................................................j

EINLEITUNG

Wie ist — mit dieser Frage beginnen wir — Metrik als Wissenschaft denkbar? Wie ist denkbar, daß sie als Wissenschaft ein Verhältnis zur Dichtung gewinnt, und wie können wir dieses Verhältnis be­ zeichnen? Wie wird eine Wissenschaft des Gedichts möglich, wenn die Dichtung selbst sich der Wissenschaft entzieht? Und wie steht der Dichter zu der als Wissenschaft betriebenen Metrik? Die Erfah­ rung lehrt, daß ihr Einfluß auf die Dichtung gering ist. Ein Vor­ wurf ist daraus nicht herzuleiten, denn im Begriff ihrer Arbeit liegt, daß sie einer vorhandenen Dichtung folgt, nicht aber einer ent­ stehenden vorausgeht. Es ist nicht ihre Aufgabe, Anleitungen und Anweisungen zur Herstellung von Gedichten zu geben. Der Wis­ senschaftler bringt als solcher das Gedicht nicht frei hervor, viel­ mehr untersucht er das Hervorgebrachte und bringt es auf Regeln, folgt also dem Hervorbringen des Dichters *. Die wissenschaftliche Metrik ist keine Kunstlehre, und unbillig wäre, von ihr das Werkzeug zu verlangen, das zu neuen Hervor­ bringungen nötig und unerläßlich ist. Ein bloßes Feld der Sprach­ wissenschaft und Grammatik ist sie freilich auch nicht, denn indem sie sich mit der rhythmischen Ordnung des Gedichts befaßt, führt sie die Kunstregeln mit sich, darunter solche, die fortwirken. Doch bleibt sie Geschichtswissenschaft und hat die Aufgabe, die rhyth­ mischen Formen einer vorhandenen Dichtung zu untersuchen. So wie Geschichte erst darstellbar wird, wenn sie geschehen ist, so kann eine wissenschaftliche Metrik erst dort erfolgreich arbeiten, wo ihr genügend Muster vorliegen. Die alexandrinischen Metriker traten hervor, als die Muster der griechischen Dichtung da waren 7

und verglichen werden konnten. Sie gingen in die Schule des Homer, nicht um Ilias und Odyssee fortzusetzen, sondern um die rhythmische Gesetzmäßigkeit des homerischen Hexameters zu er­ gründen. Die Metrik, die nicht Kunstlehre, sondern Geschichts­ wissenschaft ist, sucht nach einem System, in dessen Fächern sie den Vers und seine Geschichte unterbringt. Sie ist wie jede andere Wissenschaft isolierend und muß es sein. Aber — das leuchtet ein — in dem hervorbringenden Dichter muß die Regel doch zugleich mit dem Hervorbringen vorhanden sein. Sie muß da sein, denn indem er sie handhabt, entsteht das Gedicht. Wie entsteht es? Der Rhythmus wird nicht aufgesucht, er kommt. Und wo er stark ist und anhält, dort bedarf es keiner äußeren Hilfs­ mittel, um ihm zu folgen. Es ist kein rarer Vorgang, daß ein Ge­ dicht ohne jedes Nachdenken über seine rhythmische Gesetzmäßig­ keit aufgezeichnet wird. Das, was bewußtlos gelingt, bedarf eines solchen Nachdenkens noch nicht. In diesem Nachdenken aber wird sich der Dichter wie jeder andere Künstler bewußt über die Regeln seines Hervorbringens. Für ihn, insofern er das Gedicht hervor­ bringt, ist die Metrik nicht Wissenschaft, sondern sein eigenes Handwerkszeug, ohne das kein Auskommen ist. Fehlt dieses Hand­ werkszeug, hat er ein mangelndes Bewußtsein über die Regel seines Hervorbringens, so wird dieser Mangel an seinen Versen wahr­ nehmbar sein. Das ist es, was Hölderlin im Sinn hat, wenn er in seinen Anmerkungen zum Ödipus bemerkt, daß man die Poesie auch bei uns »zur μηχανή der Alten« erheben müsse. Er sagt, daß es unserer Dichtung, verglichen mit der griechischen, an »Zuver­ lässigkeit«, an »gesetzlichem Kalkül und sonstiger Verfahrungsart« fehle. »Der modernen Poesie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrungsart be­ rechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederhohlt werden kann.« Der Dichter, sagt er, muß zuverlässig im gesetzlichen Kalkül seines Hervorbringens sein, denn durdt ihn erst gewinnt die Dichtung Festigkeit, Zusammen­ hang und Dauer. 8

Der Kalkül für das Gedicht umfaßt Rhythmus und Sprache. Dieser genaue Kalkül kann kein wissenschaftlicher sein. Insofern er das Entstehen der rhythmisch geordneten Sprühe schon voraussetzt, kann alles Metrische für den Dichter nicht Wissenschaft werden; es bleibt die Stütze seines eigenen Hervorbringens. Die Metrik wird für ihn nicht Kunstwissenschaft, sondern bleibt das von keiner Wissenschaft zu erfassende Werkzeug seines Hervorbringens. Werkzeug wird der Kalkül durch das Nachdenken über ihn. Dieses Nachdenken befestigt die sich wiederholende Tauglichkeit des Werkzeugs. Äußert sich also der Dichter über Regeln seines Hervorbringens, dann unterscheiden sich diese Äußerungen von denen des Wissen­ schaftlers. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir etwa die Unter­ suchungen von Opitz oder Klopstock über den Vers mit wissen­ schaftlichen Schriften vergleichen. Schriften wie die Klopstocks ent­ halten die geprüften Regeln seines eigenen Hervorbringens. Sein Anliegen war nicht die wissenschaftliche Untersuchung und Be­ schreibung metrischer Formen, sondern die Prüfung des eigenen Kalküls. Es bleibt aber das Gedicht als Hauptlehre, und die Unter­ suchungen darüber ebnen nur den Weg. Ein Gedicht kann Gegen­ stand der Wissenschaft werden, aber die Wissenschaft des Gegen­ standes ist nicht in ihm, und nicht ihretwegen ist es da. Von dieser Unterscheidung wollen wir ausgehen. Was als Regel wirksam ist, liegt nicht immer offen da. Die Kenntnis der rhyth­ mischen Regeln des Gedichts ist nicht weit verbreitet, fehlt oft auch denen, bei denen sie doch vorauszusetzen ist. Diese Schrift geht von einem Grundverhältnis des Gedichts aus, von dem Verhältnis zwischen Vers und Satz. Bei der Aufzeichnung tauchten vor allem zwei Fragen auf. Wenn der Reim, wofür manches spricht, an an­ ziehender Kraft für das Ohr verliert, was ist dann an seine Stelle zu setzen? Wenige machen sich ja deutlich, daß mit dem Fortfall des Reims auch der Reimvers wanken und fallen muß. Denn der Vers ist auf den Reim eingestellt, muß also, wenn der Reim ver­ schwindet, einen anderen Gang annehmen. Wir glauben zwar nicht, 9

daß der Reim erschöpft ist, doch behauptet sich das reimlose Ge­ dicht. Damit entsteht die zweite Frage: welche Regeln gelten für das Verhältnis von Vers und Satz im reimlosen Gedicht? Diese Frage, genauer gestellt, ist die Frage nach der Gesetzlichkeit der freien Rhythmen, unter deren Namen heute zu Recht und Unrecht ein Hauptteil der Verse läuft, deren Gesetzlichkeit vom Vers her sich nicht mehr begründen läßt. Hier wird also keine Geschichte des Verses gegeben. Vielmehr wird das Verhältnis von Vers und Satz nachgeprüft. Vielleicht ist eine solche Nachprüfung dringlicher als historische Untersuchungen. Sie trifft den Grundbau des Gedichts und sucht an ihm deutlich zu machen, was an wirklicher Regel vorhanden ist.

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RHYTHMUS UND SPRACHE

Unterschied zwischen Prosa und Dichtung Der Unterschied zwischen Prosa und Dichtung wird selten genau genug bestimmt. Er liegt vor allem darin, daß die Prosa nur mit dem Satz beschäftigt ist. Daher schon der Name Prosa, der vom lateinischen prorsa kommt. Prosa ist die Rede (oratio), die gerade­ aus geht. Sie geht deshalb geradeaus, weil sie auf den Vers keine Rücksicht nimmt. Sie ist ungebundene Rede, weil sie sich nicht an den Vers bindet. Sie ist ungebunden, nicht ungeordnet, denn sie folgt der Ordnung des Satzes. Auch fehlt ihr nicht ein gewisser, der Satzordnung verhafteter Rhythmus; Numerus, Mensuren, Ponderation, Kadenzen lassen sich aus ihr abhören. Dieses alles auf einen Nenner zu bringen, schien schon den Alten ein schwieriges Ge­ schäft, daher Quintilians Ausspruch: Ratio pedum in oratione est multo quam in versu difficilior. Weil die Prosa nur mit dem Satz beschäftigt ist, deshalb fehlt ihr der genaue Rhythmus, deshalb auch die genaue Wiederkehr. Der Satz ist das einzige continuum, auf das sie zu achten hat. Das Gedicht aber hat ein doppeltes conti­ nuum, denn es besteht nicht nur aus Sätzen, sondern auch aus Versen. Satz und Vers sind in ihm zusammen da und wollen zu­ sammen berücksichtigt werden. Mit dem doppelten continuum des Gedichts steht im Zusammen­ hang, daß die Inversion (Umkehrung) im Gedicht etwas Wichtiges und Eigentümliches ist. Inversionen finden wir schon in der Prosa, finden in ihr auch einen Streit, der über die Inversion entbrannt ist. Dazu ist folgendes zu sagen. Wenn die Logiker und Grammatiker allein über die Sprache verfügten und sie fortbildeten, dann würde 11

die Inversion schnell zurückgedrängt werden und verschwinden. Ihr Bestreben geht dahin, eine genaue Ordnung der Satzbestandteile im Satz zu stiften und die Folge der Satzbestandteile festzulegen. Sie drängen darauf, die Konstruktion des Satzes unveränderlich zu machen und seinen Teilen ein Gewicht zu geben, das rational be­ stimmbar ist. Wird die Sprache als logisches Werkzeug benutzt und zunächst auf die Tauglichkeit und Brauchbarkeit dieses Werkzeugs geachtet, dann wird an ihr auch auszulöschen versucht, was diesen Absichten nicht dient. Der Satz hat sich den Argumenten, Schlüs­ sen, Beweisen zu fügen, und das Argumentieren, Schließen und Beweisen bestimmt auch die Folge der Satzbestandteile. Bei einem Logiker wird die Sprache logisch, bei einem Kausalisten wird sie kausal. »Betrachtet«, sagt Herder, »eine Philosophische Sprache; wäre sie von einem Philosophen erdacht: so hübe sie alle Inversionen auf; käme eine allgemeine Sprache zustande: so wäre bei ihren Zeichen nothwendig jeder Platz und jede Ordnung so bestimmt, als in unserer Dekadik. Solange wir aber noch keine durchaus Philoso­ phische Sprache haben, die bloß für die Weltweisheit erfunden wäre: so nehmt die, die am meisten zur Weltweisheit gebraucht wird, die Lateinische, nehmt sie, wie sie in den Büchern der Welt­ weisheit ist, wenn sie Lehrsätze und trockene Beweise vorträgt: wie ist sie? ohne Inversionen meistentheils; oder wenigstens stehen diese ohne Wirkung da.« Mit anderen Worten, die Wissenschaft ist, weil sie die Sprache als Mittel und Werkzeug nimmt, spracharm; sie schränkt die Sprache ein, ohne sie zu bereichern. Was sie der Sprache an Folge, Übersicht, Genauigkeit gibt, das muß sie ihr zuvor an Leben, Bewegung, Ge­ schmeidigkeit und Kraft nehmen. Die Sprache ist nicht mehr Seuf­ zer und Hauch, sie drückt nicht mehr den abgebrochenen Ton der Leidenschaft aus, sie ist kein Bach und kein Fluß mehr, der seine Ufer selbst zieht, sondern geht nach der Konstruktion wie der Kanal, bemessen nach der Schnur, die der Wasserbaumeister zieht. 12

Wodurch entstehen Inversionen? In der Prosa zunächst durch den Wechsel der Betonung, die auf dem Satz liegt und ihn verändert. Und was ruft diese Veränderung hervor? Der Atem, mit dem der Satz gesprochen wird, die leidenschaftliche Bewegung, die in ihn eindringt. Untauglich wird für den Sprechenden jene Folge von logisch geordneten Satzbestandteilen, die der Grammatiker für den Satz annimmt. Denn der Sprechende argumentiert, schließt, beweist nicht nur; er findet sich sprechend einem ganz anderen Streit, ande­ ren Verhältnissen ausgesetzt. Deshalb ist die gesprochene Sprache reicher an Inversionen als die geschriebene. Wenn wir aber dieser die Inversionen nehmen würden, welche leere Deutlichkeit würde sich dann in den Sätzen ausbreiten, die sauber wie geschnittene Alleen und ebenso schattenlos sind. Wie ermüdend würde diese Folge von logischen Sätzen sein, die alle den gleichen Anlauf und Auslauf haben. Und das alles um der verständigen Deutlichkeit willen! Aber der Bau des Ohres widerspricht dem, denn das Ohr verlangt zwar Deutlichkeit, aber nicht sie allein; es ist ein zu kunst­ volles Organ, um nicht mehr zu verlangen: Rhythmus, Metrum, Harmonie, Melos. Was ist also die Prosa ohne Inversion, was das Gespräch, was gar das Gedicht? Im Gedicht hat die Inversion einen weiten Bereich, denn alle Ver­ änderungen der geraden Wortfolge des Satzes müssen wir Inver­ sionen nennen. Inversionen sind hier nicht nur die einzelnen Um­ kehren und Versetzungen der Wort- und Satzfolge; Inversion ist die gesamte Verteilung des Satzes durch den Vers und betrifft un­ mittelbar das Verhältnis von Vers und Satz. Wer sie untersuchen will, der löse den Gang der Verse in Prosa auf. Dann wird er er­ kennen, daß Inversion im Gedicht die metrische Umstellung (Trans­ position) ist, durch welche der Vers den Satz bestimmt, einem ge­ nauen Rhythmus zu folgen. Das einfache continuum des Satzes genügt dem Gedicht nicht, das einem doppelten folgt. Ohne Inver­ sionen keine Dichtung. Ohne die Fähigkeit, metrische Umstellungen vorzunehmen, kein Dichter. Wir sehen daher, daß in der Topik, der Lehre von der Wortfolge, 13

sich bei Prosa und Dichtung große Unterschiede zeigen. Die so­ genannte gemeine oder gerade Wortfolge, bei der die logische Form des Satzes und die grammatische übereinstimmen, kann nur inso­ fern fortbestehen, als sie metrisch brauchbar ist. Ist das nicht der Fall, dann kann und muß die Übereinstimmung aufgehoben wer­ den; das geschieht durch Umstellung und Versetzung der Wortund Satzfolge. Die Topik des Gedichts folgt dem metrischen Rhyth­ mus. Nicht nur Worte und Satzbestandteile werden metrisch um­ gestellt, sondern auch Satzfolgen und Satzzusammenhänge (Perio­ den). Perioden im Gedicht sind metrische Inversionen. Und die weitreichende Kraft der Inversionen im Gedicht müssen wir auf sein doppeltes continuum zurückführen.

Rhythmus und Metrum Indem wir den Unterschied zwischen Prosa und Dichtung bestim­ men, müssen wir auch das Verhältnis von Rhythmus und Metrum, über das Unklarheit besteht, genauer angeben. Rhythmus und Metrum sind im Gedicht eins. Wir müssen diese Begriffe gleich­ sinnig verwenden, obwohl sie ihrer Herkunft und Wortbedeutung nach sich unterscheiden. Im Gedicht gibt es keinen Rhythmus, das heißt keine in der Sprache wiederkehrende Bewegung, die nicht zu­ gleich metrisch wäre. Metrum ist die dem Gedicht eigentümliche, zeitlich und in Zeitintervallen wiederkehrende rhythmische Be­ wegung. Sehen wir vom Gedicht ab, dann zeigt sich, daß Rhythmus einen weiteren Bereich, Metrum einen engeren umfaßt. Jedes Metrum ist rhythmisch, nicht jeder Rhythmus aber ist metrisch. Innerhalb der Sprache schon zeigt sich dieser Unterschied im Unter­ schied von Dichtung und Prosa. Die Prosa, sagt Aristoteles, muß Rhythmus haben, nicht aber Metrum. Ihre rhythmische Gliederung ist keiner metrisch genauen Wiederkehr unterworfen. Außerhalb der Sprache finden wir überall rhythmische Bewegungen und müs­ sen sie dort finden, weil die Wiederkehr sich nicht auf die Sprache 14

beschränkt, sondern auch die sprachlosen Bewegungen beherrscht. Der metrische Rhythmus aber ist an das Gedicht gebunden und in ihm allein anzutreffen. Im Gedicht also sind Rhythmus und Metrum eins, und wir können sie nicht voneinander absondern. Die Behauptung, daß das Gedicht eine über alle metrische Bewegung hinausgehende rhythmische Be­ wegung hat, ist abzulehnen. Insofern aber der Bereich des Rhyth­ mus weiter ist und Bewegungen in der Sprache wie außerhalb der Sprache umfaßt, können wir das Metrum von ihm abheben. Wir können als Rhythmus jede wiederkehrende Bewegung bezeichnen, die eine uns wahrnehmbare Gliederung besitzt, als Metrum aber die dem Gedicht eigentümliche Wiederkehr, das in der Sprache des Gedichts ausgemessene Wiederkehren. Die Wissenschaft, die sich mit den rhythmischen Formen des Ge­ dichts beschäftigt, wird von den Griechen Metrik genannt (μετρική επιστήμη). Das zu dieser Wissenschaft Gehörige wird von ihnen auf die Dichtung eingeschränkt, schließt also die Prosa und die rhythmischen Formen, die außerhalb der Sprache liegen, von der Untersuchung aus. Damit wird die Sprache zu dem Ort, der für alle Untersuchung des Rhythmus zunächst bestimmend wird. Daß diese Wissenschaft Metrik genannt wird, zeigt schon den Gang der Untersuchung an. Die rhythmischen Formen der Sprache werden zeitlich gemessen, das Maß ihrer zeitlichen Gemessenheit wird be­ stimmt. Dieses Verfahren setzt schon ein Verhältnis von Zeit und Rhythmus voraus, ein Verhältnis, durch dessen Vorliegen von vornherein die Untersuchung auf dem Gebiet der metrischen Rhyth­ mik begründet wird. Welcher Art dieses Verhältnis ist, ist hier nicht auszumachen, auch könnte eine Untersuchung, die sich mit dem Zeitbegriff als solchem beschäftigt, die Metrik nicht fördern. Die Frage, was die Zeit ist, ob Bewegungen an der Zeit oder die Zeit an Bewegungen gemessen wird, ob die Zeit ein Bewegendes oder Bewegtes ist, bedarf hier keiner Prüfung. Denn wir müssen davon ausgehen, daß Zeit und Rhythmus eins sind; wir werden dazu genötigt, weil die Zeit uns hier nur in ihrer Beziehung auf 15

die Sprache beschäftigt und weil jeder Versuch, sie von der Sprache abzusondern, in der Metrik Verwirrung schaffen muß. Hierzu aber ist folgendes zu bemerken: Die griechischen Metriker gingen stillschweigend davon aus, daß Zeit etwas dem Menschen Eingeborenes, Immanentes ist. Den Rhythmus bezeichneten sie aus­ drücklich als etwas dem Menschen Eingeborenes und Immanentes und setzten ihn der Sprache als etwas Nichtangeborenem entgegen. Auf die Frage, woher der Rhythmus komme, warum seine gesetz­ mäßige Bewegung zugleich eine freudige Bewegung sei, antworteten die Griechen, daß er von den Göttern stamme und eine göttliche Bewegung im Menschen sei. Sie sahen in ihm also ein Grundver­ hältnis der Bewegung, das keiner weiteren Zurückführungen fähig war. Damit erhebt sich zugleich die Frage, in welchem Verhältnis Rhythmus und Sprache zueinander stehen. Bevor wir auf sie eingehen, soll untersucht werden, in welchem Verhältnis der Rhythmus zu Melos und Symmetrie steht. Zunächst ist zu bemerken, daß der in der Sprache entstehende Rhythmus seine eigene Harmonie mit sich führt. Durch die Einigung von Rhythmus und Sprache, durch ihr Übereinstimmen entsteht die Harmonie schon. Sie geht aus der gesetzmäßigen Gliederung des Verses unmittelbar hervor. Eine eigene Harmonielehre oder Har­ monik, wie sie in der Musik gelehrt wird, braucht für das Gedicht nicht abgetrennt zu werden; sie ist in das Entstehen des metrischen Rhythmus eingeschlossen. Die rhythmische Bewegung als solche führt sie mit sich; sie entsteht in dieser Bewegung mit als eine sich bewegende. Dagegen müssen wir Rhythmus und Melos gesondert betrachten. Der Wohllaut als solcher ist nicht auf die Sprache beschränkt. Und die melodischen Formen der Sprache werden nicht durch die rhyth­ mische Bewegung, sondern durch die Tiefe und Höhe der Laute und Lautverbindungen hervorgerufen. Eine eigene Lehre vom Wohllaut der Sprache im Gedicht können wir der Rhythmik nicht entgegen­ stellen. Auch in der Musik ist die Melodielehre keine eigene Diszi­ plin; sie wird in der Harmonielehre und Kompositionslehre abge16

handelt. Uns beschäftigt nur der Wohllaut der Sprache, der durch Laute und Lautverbindungen entsteht. Im Gedicht können wir das Verhältnis von Rhythmus und Melos dahin bestimmen, daß dieses gegenüber dem Rhythmus nichts Selbständiges hat, sich ihm gegen­ über nicht selbständig machen kann. Die melodische Betonung ver­ läuft innerhalb des Rhythmus; sie ist dem metrischen Rhythmus untergeordnet. Das Verhältnis von Rhythmus und Symmetrie brauchen wir hier nur anzudeuten, da seine Ausführung in einen anderen Zusammen­ hang gehört. Wir trennen Rhythmus und Symmetrie, setzen sie wohl auch schroff einander entgegen, ein Unternehmen, das ebenso verfänglich ist wie die Entgegensetzung von Zeit und Raum. Rhyth­ mus ist zeitlich wieder-holende, Symmetrie räumlich wieder-holende Bewegung. Die Symmetrie bezeichnet zunächst ein Räumliches, und zwar sowohl ein sich selbst im Raume Wiederholendes wie ein räumliches Nebeneinander der Wiederholung. Der symmetrisch ge­ baute Kristall ist von einer Starrheit, die eben dadurch zustande kommt, daß alle zeitliche Bewegung im Zusammenschießen für immer ausgeschlossen wird. Er bewegt sich nicht mehr, er hat seine Bewegung in der Kristallisation festgelegt und kann nur noch be­ wegt werden. Er hat seine zeitliche Bewegung in der räumlichen ausgeformt. Nur von außen her kann Bewegung ihn noch erreichen, nur von außen kann sie auf ihn einwirken, im Schleifen, Zerreiben, Zerbröckeln, Verwittern. Je starrer die Symmetrie ist, je mehr sie mit dem Starren gekoppelt ist, desto ärmer an Bewegung ist sie. So ist sie im mineralischen Bereich am starrsten. Aber auch in ihrer starrsten Entgegensetzung gegen den Rhythmus zeigt sie, daß sie ein erstarrter Rhythmus ist. Der Vorgang der Kristallisation selbst, in dem alle Bewegung zum Stillstand kommt, ist ein rhythmischer. Wenn wir die Symmetrie in jenen Formen betrachten, wo ihre Koppelung an das Starre sich löst, wenn wir sie an der Pflanze, am Tier, am Menschen betrachten, der unter allen Wesen die größte vertikale Symmetrie besitzt, dann erkennen wir, daß der Rhythmus die Symmetrie steuert. Die Symmetrie ordnet sich dort, wo sie mit 17

rhythmischen Bewegungen verbunden ist, diesen Bewegungen unter. Sie ordnet sich so unter, daß bei immer freier werdender Bewegung der Rhythmus beherrschend wird. Denken wir an den Tanz, bei dem Rhythmus und Rhythmizomenon, welches hier der menschliche Körper selbst ist, eins sind und bei dem alle Symme­ trie des Körpers und der räumlichen Bewegung im Dienst des Rhythmus steht. Denken wir uns eine Gruppe von Menschen, die in solcher Ordnung aufgestellt sind, daß sie eine symmetrische Figur, einen Stern oder Würfel bilden. Wenn sie jetzt, ohne ihren Platz zu verlassen, sich rhythmisch zu bewegen beginnen, dann sind Rhythmus und Symmetrie eins, so eins, daß der Rhythmus die Symmetrie steuert. So wie in der Kristallisation die zeitliche Bewegung des Kristalls ausgeformt und damit zum Stillstand gebracht wird, so wird in die rhythmische Bewegung die Symmetrie einbezogen. Sie ist da, auch im Vers, im metrischen Rhythmus selbst, und wir brauchen sie nicht auf künstliche Weise aus dem Rhythmus herauszulösen.

Rhythmus und Rhythmizomenon Welches Verhältnis besteht zwischen Rhythmus und Sprache? Der Rhythmus, sagen die alexandrinischen Metriker, ist in der Sprache als solcher nicht ursprünglich vorhanden; sie erhält ihn erst durch die Tätigkeit des Dichters. Insofern die Sprache die Fähigkeit hat, sich rhythmisch gestalten zu lassen, wird sie von den Metrikern Rhythmizomenon genannt2. Sie ist rhythmisch gestaltbar, und der Dichter, der sie rhythmisch anordnet, ist der Schaffer des Rhythmus, der Rhythmopoios. Wenn wir diese Lehre bedenken, in der Rhyth­ mus (Vers) und Rhythmizomenon (Sprache, Satz) sich gegenüber­ stehen, in der die Gewißheit eines deutlichen und scharfen Unter­ schiedes zwischen ihnen besteht, dann erkennen wir, was sie für die Metrik als Wissenschaft leistet, spüren aber zugleich, daß etwas Schroffes, Einseitiges in ihr ausgesprochen ist. Ausgesprochen wird 18

sie, weil die alexandrinischen Metriker den Rhythmus vom Metrum her einsahen, nicht umgekehrt. Indem so die metrische Rhythmik von der Sprache scharf gesondert wird, erhebt sich zugleich die Frage, ob die Sprache vom Ursprung her etwas Arhythmisches ist. Zugleich bleibt dunkel, wie sie als Rhythmizomenon sich für den Rhythmus öffnet und ihn in sich einläßt. Welche Durchlässigkeit hat sie für den Rhythmus? Wie ist ihr Gefüge beschaffen, welche Fugen hat sie, damit der Rhythmus in sie eindringen und sie glie­ dern kann? Ist der Satz, von seiten des Verses her gesehen, nur ein Bewegbares? Macht er nicht eine eigene Kraft gegen den Vers geltend? Wir werden auf diesen Konflikt eingehen und sehen, daß das Gedicht mit seiner Lösung beschäftigt ist. Denken wir zunächst daran, daß der Satz, wo er außerhalb des Gedichts vorkommt, einen nichtmetrischen Rhythmus besitzt. Die Weise des Zusammen­ gehens von Vers und Satz ist keine erzwungene; sie ist sanft, so sanft, daß der Satz in keinem seiner Verhältnisse etwas Gepreßtes, Gedrücktes erhalten darf, keine vom Vers her erzwungene Härte. Der Vers darf den Satz nicht verletzen. Wir werden noch sehen, daß der Satz Aufgaben des Verses übernimmt. Wodurch also erhält das sprachliche Rhythmizomenon die Fähig­ keit, sich durch einen außerhalb seines Bereiches liegenden Rhyth­ mus rhythmisch gestalten zu lassen? Und warum ist dieses Rhyth­ mizomenon für den Dichter überall offen? Liegt nicht in der Tren­ nung von Rhythmus und Rhythmizomenon etwas künstlich Iso­ lierendes? Gibt es, so müssen wir fragen, überhaupt ein solches Rhythmizomenon, das unabhängig vom Rhythmus besteht? Wenn dem so wäre, bliebe die Frage bestehen, wie bei einer solchen Tren­ nung Sprache und Rhythmus eins zu werden vermögen. Wo ist das vorgehend Übergreifende, durch das eine solche Einheit entstehen kann? Keinesfalls ist der Vorgang so zu verstehen, daß die Sprache als ein vorhandenes Rhythmizomenon dem Dichter vorliegt und daß er dieses vorhandene Rhythmizomenon rhythmisiert; das ist eine falsche Vorstellung. Denn Rhythmus und Rhythmizomenon entstehen für den Dichter gleichzeitig; er trennt sie im Entstehen 19

nicht. Er arbeitet den Rhythmus nicht in den Bestand des Rhythmizomenon hinein; dieses mühsame Geschäft kann nicht Dichten genannt werden. Die Sprache wird für den Dichter erst dann zu einem bestehenden Rhythmizomenon, wenn ihn der Rhythmus ver­ läßt. Die Herstellung des Gedichts als die Einheit des Entstehens von Rhythmus und Rhythmizomenon ist zugleich seine Hinstellung; in der Herstellung des Gedichts ist die Einheit von Sprache und Rhythmus schon gegeben und da. Im Dichter sind Rhythmus und Sprache von je eines, und der Vorgang des Dichtens lehrt, daß erst dort, wo Rhythmus ist, Sprache entstehen kann, daß die entstehende Sprache sich im Entstehen der rhythmischen Bewegung bewegt. Die Sprache wird nicht dadurch Dichtung, daß ich in ihr rhythmenloses Gefüge den Rhythmus hineinbringe. Das Gedicht entsteht viel­ mehr dadurch, daß die Sprache immer schon Rhythmus ist. Wie aber geht das zu? Die Sprache ist Rhythmus, weil sie ein Wieder­ kehrendes ist, und ihr Gedicht ist, daß sie die Genauigkeit dieser Wiederkehr ausspricht. Der Dichter ist Dichter, weil er diese genaue Wiederkehr, die in Zeit, Rhythmus und Sprache entsteht, dar­ zustellen vermag. Das Gedicht ist wiederkehrend. Insofern die Sprache durch ihre Einheit mit dem Rhythmus ein genau Wieder­ kehrendes ist, erhebt sie sich in rhythmischen Ordnungen und er­ langt die Genauigkeit des metrischen Rhythmus. Sie begreift daher in sich nicht nur das passive Vermögen, sich als ein Rhythmizo­ menon rhythmisieren zu lassen, sie ist als rhythmische Gliederung immer schon vorhanden, und dieses Vorhandene spricht der Dich­ ter aus. Indem wir diese durch die Wiederkehr begründete Einheit immer voraussetzen, können wir die Trennung von Rhythmus und Rhythmizomenon als ein künstliches Werkzeug des Denkens über das Gedicht bestehen lassen und als solches verwenden. Die Frage bleibt, was die Sprache als Rhythmizomenon, getrennt vom metrischen Rhythmus, ist. Unter Sprache verstehen wir so­ wohl das Sprachvermögen wie das Sprechen. Auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache, die schon bei den antiken Grammatikern einen Streit hervorrief, brauchen wir hier nicht einzugehen. Wir 20

müssen vielmehr davon ausgehen, daß der Ursprung der Sprache etwas Mitgegebenes ist. Das heißt, als werdende hat sie ihren Ur­ sprung nicht hinter sich, sondern bei sich. Werdend löst sie sich von ihrem Ursprung nicht ab, sondern hält ihn bei sich. Sie ist nicht nur Bestand und hat Beständigkeit; sie schafft diese Beständigkeit als werdende zugleich in ihrem Entstehen. Dieses beständige Ent­ stehen der Sprache ist immer schon an die Wiederkehr geknüpft. Das Geschick der Sprache ist an den Rhythmus gebunden, in dem sie sich als etwas Wiederkehrendes erhält. Mit der Sprache als einem Nichtwiederkehrenden haben wir es nirgends zu schaffen. Wäre das Rhythmizomenon nur Bestand, ließe es sich als etwas Bestehendes durchaus fassen, dann wäre das Entstehen des Gedichts nicht zu denken. Die Sprache ist nicht nur Gebilde, sondern zu­ gleich ein sich Bildendes; als ein Sichbildendes, Entstehendes ist sie dem Dichter gegeben. Sie ist etwas Gemeinsames. Insofern die Sprache etwas Gemein­ sames ist, tritt sie rhythmisch hervor. Rhythmus ist das — bis in jede Vereinzelung vorausgesetzte — Gemeinsame. Die Sprache ist zwar jedem Einzelnen gegeben, aber sie ist ihm nur als ein Ge­ meinsames gegeben. Sie vereinzelt sich in ihm nur als ein Gemein­ sames. Verfällt der Rhythmus, dann ist das schon ein Kennzeichen dafür, daß die Sprache verfällt. Sie ist in ihrem Ursprung an die Wiederkehr gebunden. Was nicht in ihr wiederkehrt, das ist nicht in ihr vorhanden. Nur unter dieser Voraussetzung ist das künst­ liche Verhältnis von Rhythmus und Rhythmizomenon zu ver­ stehen. Die Bestimmung der Sprache ist, als ein Wiederkehrendes zu ent­ stehen. Erst durch dieses Entstehen wird Verstehen in ihr möglich, nicht aber ist das Sichverständigen die Bedingung ihres Entstehenss. In der Verständigkeit des Verstehens ist die Sprache in ihrem Ursprung nicht zu fassen. Als Mittel und Werkzeug, welches aus der Verständigkeit des Verstehens hervorgeht, ist die Sprache ursprünglich nicht gegeben. Wenn ich sie als Mittel und Werkzeug begreife, das die Verständigkeit des Entstehens ermöglicht, dann 21

vergesse ich, daß ihr Entstehen schon jede Möglichkeit des Ver­ stehens vorwegnimmt, daß also dieses Verstehen immer schon ein Abgeleitetes ist. Insofern die Sprache ein beständig Entstehendes ist, ist sie nie fertig, kann daher auch nicht als ein Fertiges begrif­ fen werden. Was heißt also das Sichverständigen in der Sprache? Es heißt zu­ nächst, daß die Sprache auf das Verstandlose angewiesen ist, wel­ ches nicht etwas Unverständiges ist, sondern ein zugleich mit der Sprache Vorhandenes und ihr Zugeordnetes. Das Nichtverstehen — zwischen Sprechenden etwa — hält sich in dieser Verstandlosigkeit, die ein Nichtsichverständigen ist. Die Sprache ist dann da als ein sich selbst Verstehendes, das sich nicht verständigt. Als ein solches sich selbst Verstehendes verharrt sie, ohne daß eine Verständigung zustande kommt. Ihre Fähigkeit zur Verständigung hängt mit der Wiederkehr von je eng zusammen. Das Sprechen entsteht aus einer vorhandenen Sprache so wenig, wie eine noch nicht vorhandene Sprache aus dem Sprechen entsteht. Das Sichverständigen scheint zwar als Mitteilung eines Vorhandenen selbst verständlich zu wer­ den, aber diese Mitteilung eines Vorhandenen sagt über das Ent­ stehen der Sprache, in dem alle Mitteilungen zunächst beheimatet sind, nichts aus. Die Sprache bedarf als solche schon eines Sprach­ losen, das mit ihr zugleich ist. Ohne dieses Sprachlose kann sie nicht Sprache werden. Rhythmus im weitesten Begriffe der Wiederkehr ist das Verstand­ lose und Sprachlose. Im Verhältnis des Rhythmus zur Sprache (Rhythmizomenon) erscheint diese als das Entstehen des Weges im Weglosen, der Bahn im Ungebahnten. Alles Verstehen ist an dieses Entstehen des Weges gebunden. Das Entstehen des Weges aber setzt die Weglosigkeit voraus; der beständig entstehenden Sprache ist das Weglose, wenn sie als Sprache bestehen soll, nicht zu neh­ men. Als Weg besteht sie nur in der Weglosigkeit. Indem sie sich diesen Weg schafft, ist ihr Gang das Sichbahnen im Ungebahnten. Die Weglosigkeit können wir Wildnis nennen.

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Wiederkehr

Die Innigkeit der Wiederkehr ist Erinnerung. Das Gedicht er-innert die Wiederkehr. Das Gesetz seiner Bewegung ist, daß es fortgehend zurückkehrt. Sein Entstehen ist zugleich die wieder-holende, rück­ holende Bewegung; der Rhythmus ist die erinnerte Wiederkehr. Daher die Genauigkeit, die Treue, mit der der Satz sich an ihn bindet und binden muß, da jede Störung, jede Verletzung des Rhythmus zugleich Störung und Verletzung der Wiederkehr und ihrer erinnerten Innigkeit ist. Wiederkehr ist weder räumliche Wiederholung noch fortlaufende Wiederholung eines gleichen, die uns in der Zeit wahrnehmbar wird; sie ist zugleich das Rückholen dieses Fortlaufens in die Erinnerung. Das, was wiederkehrend er­ innert wird, ist immer schon da und kann nur als ImmerDaseiendes wiederholt werden. Die Wiederkehr als solche setzt ein Immer-Daseiendes voraus. Insofern sie Erinnerung ist, holt sie es aus seiner Vergessenheit, die Vergessenheit ist, weil sie nicht erinnert. Nicht in der Fertigkeit des verstehenden Wiederholens hält sich das Gedicht; es hält sich im Entstehen des Wieder-Holens, in dem alle fortgehende Bewegung an das Rückholen gebunden ist. Die Erinnerung ist das Entstehen selbst. Was ist die Wiederkehr im Gedicht, und worauf ist sie abgestellt? Sie ist Wiederkehr des gleichen und ist abgestellt auf die Eintönig­ keit. Der metrisch geordnete Vers wiederholt sich; er wiederholt unermüdlich das gleiche. Die Wiederkehr ist das nächste, das innigste Anliegen des Verses; zu ihr hält er den Satz durch die stete Erinnerung an. Er hält ihn an, das heißt, er gestattet ihm keine eigene Bewegung, keine Bewegung, die von der Bewegung im Vers unabhängig ist. Nicht der Satz als solcher, sondern der durch den Vers in die Wiederkehr einbezogene Satz soll sich bewegen. Das ist der Streit, der nicht endet, der im Gedicht ausgetragen wird, der gelingen muß, denn von seinem Gelingen hängt das Gelingen des Gedichts ab. Gelingt der Streit, dann kommt die Bewegung zu ihrer Ruhe. Aus der Zwietracht geht eine Eintracht hervor, die 23

mehr ist als das Vorhandene. Der Vers liegt dem Satz an; sein An­ liegen an den Satz ist, daß er sich der Wiederkehr füge. Ohne Wiederkehr ist kein Gedicht. Verfällt also die Wiederkehr, dann verfällt das Gedicht selbst. Verfällt die Wiederkehr, dann drängt sich der Satz eigenmächtig als solcher hervor. Er zeigt, daß er sich als Satz und ohne Rücksicht auf den Vers aussprechen will. Aber der Satz, der den Vers so verdrängt und sich an seine Stelle setzt, beendet den Streit eigenmächtig. Er erreicht durch diese Eigenmacht nur, daß sich seine eigene Ohnmacht zeigt. Der Satz als solcher ist im Gedicht ohnmächtig, und alles, was er erreichen kann, ist, daß das Gedicht als Gedicht verschwindet. Das Dichte des Gedichts liegt zunächst darin, daß es sich im metrischen Rhyth­ mus an die Wiederkehr bindet. In Sätzen allein spricht nicht das Gedicht sich aus, sondern die Prosa. Der Streit, der die Bewegung im Gedicht hervorruft, ist ein wechselseitiger und deshalb ein gemeinsamer. Weder kann der Satz den Vers verdrängen, noch der Vers den Satz. Der Vers hat gegen­ über dem Satz keine Selbständigkeit. Daraus geht schon hervor, daß ein bloßes Versifizieren nicht hinreicht. Versifizieren nennen wir den Vorgang, durch den der Satz in Verse gebracht wird. Dieses Geschäft der Versifikation wird überall dort verdächtig, wo es auf den Satz keine Rücksicht mehr nimmt. In der Rücksichts­ losigkeit des Verses gegenüber dem Satz erlangt der Vers eine eigene Fertigkeit, Glätte und Gewandtheit. Er erlangt sie, weil er nicht mehr auf den Satz, sondern auf seine eigene Bewegung achtet. Er schneidet den Satz jetzt auf eine von vornherein fertige Weise zu. Aber in dieser Fertigkeit kommt zum Vorschein, daß er auf den Streit gar nicht mehr eingeht, ihn von vornherein beiseite schiebt. Der Satz ist da für den Vers, vom Vers her gesehen, nur noch Stoff der Bewegung. Dort, wo das Sprachlose Sprache wird, dort ist der Brunnen der Worte. Er ist verborgen; wir haben keinen Zugang zu ihm. Das Sagbare aber ist vom Rhythmus her einzusehen, denn nur das in der Sprache, was wiederkehrt, kann Wort werden. Wort ist schon 24

ein Wiederkehrendes. Das wörtlich Wiederkehrende scheint ein Vereinzeltes zu sein, ein Anschein, der, von der Sprache her gesehen, verfliegt, da diese sich nur als ein Gemeinsames zu ver­ einzeln vermag. Die Sprache ist schon in ihrem Ursprung Rhyth­ mus. Das Trennende wird in sie hineingearbeitet. Jeder ist, so dürfen wir sagen, seiner Bestimmung nach Dichter, obwohl als Dichter nur hervortritt, wer die Innigkeit der Wiederkehr zu erinnern vermag. Die dichterische Begeisterung ist die Rückholung der fortgehend erinnerten Bewegung; sie ist die Flut der Wiederkehr. Die Sprache ist ihrem Ursprung nach prophetisch, erhebt sich in der Flut der Wiederkehr prophetisch. Ohne ein rhythmisch Wiederkeh­ rendes der Sprache gibt es keine Prophezeiungen. Das Prophetische ist durch die Sprache vorhanden. Es wird Sprache. Das Vorausschau­ bare der Sprache entsteht eben dort, wo ihre fortgehende Bewegung rückholend an die Wiederkehr gebunden ist, in der zyklischen Be­ sinnung. In ihr ist das Wort ein Adler, der Umschau hält. Wir können das Wirken der Wiederkehr im Gedicht nachprüfen. Mit dem Entstehen des Rhythmus in der entstehenden Sprache ent­ steht das Gedicht. Bemerkt wurde schon, daß der metrische Rhyth­ mus nicht aufgesucht wird, sondern kommt. In seinem Kommen ist das Gedicht da. Dieses Kommen hängt mit der Bewegung der Zeit zusammen. Der Rhythmus ist nicht nur ein Abbild der Zeit; die Zeit entsteht in ihm, entsteht sprachmessend. In Hinsicht auf dieses erste Messen ist alles Messen im vollendeten Gedicht ein Nach­ messen. Wissenschaftliche Metrik ist für das Nachmessen da. Der Vorgang, durch den das Gedicht entsteht, ist also nicht so auf­ zufassen, als ob der Dichter sich einen vorhandenen, vorliegenden Rhythmus aussuchte und mit Hilfe dieses vorhandenen Rhythmus die Sprache rhythmisierte. Er mißt den Rhythmus nicht nachträg­ lich in ein vorhandenes Rhythmizomenon hinein. Das sprachliche Rhythmizomenon liegt hier nicht hinter ihm und nicht vor ihm, denn Rhythmus und Sprache entstehen zugleich, durch den gleichen Vorgang. Der Rhythmus wird nicht erzwungen, nicht in die Sprache hineingezwungen. Auch dort, wo der Dichter nicht der 25

Erfinder neuer Rhythmen ist, wo er in einem erfundenen Rhyth­ mus fortgeht, entsteht dieser mit der entstehenden Sprache zu­ gleich. Alles andere Geschäft ist Mühsal, in der Vers und Satz nicht zueinander hinfinden. Das Gedicht wird nicht vom Wort, vom Satz als solchem gewonnen. Es entsteht schon durch eine Bewegung, in der Vers und Satz sich vereinigen. Es entsteht durch die Erinnerung der Wiederkehr. Im Augenblick seines Entstehens drängt sich schon eine rhythmische Reihe herzu, eine Folge von Takten, deren Wiederkehr den Gang und Fortgang des Gedichts bestimmt. Die metrische Bewegung des Gedichts wird durch ihr Beginnen festgelegt, doch braucht dieses Beginnen keineswegs der Anfang des Gedichts zu sein. Was An­ fang des Gedichts, was sein Ende ist, weiß der Dichter im Beginnen nicht. Wohin ihn die beginnende Bewegung führt, vermag er nicht zu sagen, denn er muß sich ihr überlassen, er kann ihr den Gang nicht vorschreiben. Überläßt er sich ihr, dann kann er von ihr nicht mehr willkürlich abweichen; er bewegt sich in der Bahn der Wiederkehr. Der Vorgang des Entstehens bleibt inmitten der ent­ stehenden Helle dunkel; das Gelingen erhellt nicht das Entstehen, sondern den Fortgang der rückholenden Bewegung. Wo, an welcher Stelle des Gedichts das Beginnen einsetzt, ist im Vorhinein nicht auszumachen, ist gleich-gültig, denn das Entstehen kann überall beginnen. Dieses überall entstehende Beginnen ist das Kennzeichen der Wiederkehr. Die Bewegung des Verses ist keine lineare. Der Rhythmus wird nicht linear gesetzt, sein Entstehen ist von keinem linearen Entstehen der Bewegung abhängig. Er ent­ steht nicht durch logische Bewegungen, denn diese ordnet er sich schon durch sein Entstehen unter. Ist die Bewegung des rhythmischen Entstehens stark, dann kann sie so geschwind sein, daß bei ihrem Festhalten durch die Aufzeich­ nung die wiederkehrende Bewegung dem Aufzeichnen voranläuft. Wir sehen dann, etwa im Aufzeichnen strophischer Gedichte Höl­ derlins, daß der Dichter die einzelne Strophe nicht ausführt, daß er nur einen Vers oder Halbvers in ihr vollendet und sogleich zu 26

einer anderen Strophe übergeht, weil ihn der entstehende Rhyth­ mus in seinem Auftauchen bedrängt, so nämlich, daß er gezwungen wird, das Geschäft der Ausführung und Ausarbeitung selbst zu überspringen und den Fortgang des entstehenden Rhythmus für das Gedächtnis vorzumerken. Er faßt also die wiederkehrende Bewegung fast zugleich an verschiedenen Stellen ihres Verlaufs und verfehlt sie nicht, weil er sicher sein darf, die Wiederkehr an jeder Stelle ihrer Bewegung wieder anzutreffen. Er läßt alles andere zunächst liegen, alles nämlich, was durch die Ausarbeitung, zu der die Abänderungen wie das Nachmessen des Gedichts gehören, vollendet werden kann. Die Festhaltung des in der Sprache entstehenden Rhythmus ist sein nächstes und wichtigstes Anliegen. In diesem hastigen Festhalten des entstehenden Rhyth­ mus liegt eine Vorsorge, die nicht müßig ist, denn wie der Rhyth­ mus nicht aufgesucht wird, sondern kommt, so ist er auch nicht durch Zwang zu halten, sondern geht. Auf sein Bleiben kann der Dichter nicht zählen. Die Bewegung ist auch dort, wo sie stark ist, zart und flüchtig, so flüchtig wie die Anmut selbst, die in den ver­ gänglichsten Bewegungen am merkbarsten hervortritt. Das Erkalten des Rhythmus zeigt sich in dem Verweilen des Dich­ ters über der entstehenden rhythmischen Bewegung, deren hin­ reißende Kraft einem wachsenden Widerstand begegnet. Indem der Rhythmus als entstehender endet, endet zugleich die rhythmisch entstehende Sprache. Das ist die Zeit der Ausarbeitung des Gedichts. Jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem der Dichter sich das Gesetz der Wiederkehr bezeichnet und über den Rhythmus nach­ zudenken beginnt. Er zeichnet sich das Schema der Wiederkehr auf. In der Folge seiner ersten Aufzeichnung wird er nur in seltenen Fällen das vollendete Gedicht vor sich haben. Er versetzt Verse und Strophen, denn erst jetzt wird ihm der Zusammenhang des ganzen Gedichts deutlich. Anfang, Mitte und Ende der wieder­ kehrenden Bewegung werden erst in der Besinnung der Ausarbei­ tung festgelegt. Im Beginnen des in der Sprache entstehenden Rhythmus liegen alle diese Verhältnisse noch im Dunkel, und die 27

Bewegung geht über die ihr unbekannten Grenzen und damit über ihr Ziel leicht hinaus. Sich selbst unbewußt über den Gang, den sie vor sich hat, scheint sie ihr Bewußtsein erst in der Besinnung des Rückblicks zu erhalten.

Eintönigkeit der Wiederkehr und Periodizität Rhythmus ist gleichförmig wiederkehrende Bewegung. Er ist ein­ tönig. Dagegen ist die Sprache vieltönig. Die deutsche Sprache ist nicht mehr so tonreich, so vieltönig, wie sie ehemals war. Das tut hier nichts zur Sache, denn gegen die Eintönigkeit des Rhythmus gehalten, bleibt sie vieltönig. Die Eintönigkeit des Rhythmus setzt die vieltönige Sprache voraus. Rhythmus und Sprache in ihrer Ver­ einigung wiederum setzen die Tonlosigkeit, die Wiederkehr tonloser Zeiten im Gedicht voraus. Über diese wird bei den Pausen im Ge­ dicht zu sprechen sein. Untersuchen wir die Eintönigkeit in ihrem weitesten, über die Sprache hinausgehenden Begriff, dann erkennen wir einen Unter­ schied in ihren Wirkungen. Wir wissen, daß sie uns ermüden und einschläfern kann. Aber wir wissen auch, daß sie andere, belebende, bis zum Gewaltsamen, zum Exzeß gehende Wirkungen haben kann. Worauf gründet sich diese Verschiedenheit der Wirkungen? Jedermann kennt die ermüdende und einschläfernde Wirkung der Eintönigkeit (Monotonie). Der Regen, der vor dem Fenster nieder­ geht, das eintönige Rauschen der Quelle, an der wir liegen, der Wind, der gleichmäßig das Laub bewegt, schläfern uns ein. Diese Bewegungen, deren Geräusch wir vernehmen, haben keine dem Ohr wahrnehmbare Gliederung. Sie sind unteilbar für das Ohr, denn das Rinnen, Rauschen und Wehen ist unablässig. Weil es in sich nicht gegliedert ist, deshalb teilt es sich dem Ohr und damit dem Gedächtnis und der Erinnerung nicht stets von neuem mit. Hier ist zwar eine Wiederkehr, aber eine in sich beständige und fugenlose, die ebenso beständig und fugenlos das Ohr beschäftigt. 28

Schon der Tropfenfall aber kann einem reizbaren Menschen lästig werden. Seine Eintönigkeit ist anderer Art. Das Wasser, das von einem Wasserhahn gleichmäßig niedertropft, erzeugt einen Nieder­ schlag, der in Pausen wiederkehrt und vom Ohr wahrgenommen wird. Das wiederkehrende Thema, das immer von neuem auf­ genommen wird, erobert nach und nach in seiner ganzen Stärke das Ohr; es bezwingt die Zerstreutheit des Lauschers und weist ihn an, seine Aufmerksamkeit zu verdichten. Wir werden zur Wachsam­ keit selbst dort angehalten, wo sie uns lästig ist, auch gegen unse­ ren Willen. Die Wiederkehr verstärkt fortwährend das Thema und kann das Ohr bis zum Unerträglichen mit ihm füllen; sie wird stärker als bloßer Lärm, der pausenlos dauert. Die Eintönigkeit, die sich nicht artikulieren läßt, und die Eintönigkeit, die der Arti­ kulation fähig ist, tun eine verschiedene Wirkung. In beiden Fällen hat die Zeit einen Anteil an dieser Wirkung. Wodurch aber be­ stimmt sie sich? Es ist die Periodizität, welche über die Wirkungen der Eintönigkeit entscheidet. Periodizität ist selbst nichts anderes als Wiederkehr, aber eine solche, welche zugleich die eintönige Wiederkehr be­ herrscht. In ihr tritt das Zyklische der Bewegung, ihr Kreislauf hervor. Periodizität im Gedicht ist die zeitliche Bewegung, in deren Eintönigkeit der Rhythmus die Sprache gliedert. In der periodischen Eintönigkeit naht das gleiche immer von neuem, das Thema kehrt wieder und verstärkt sich in der Wiederkehr für das Ohr. Darin liegt begründet, daß wir einen Ton, der in seinem Umfang mit der gleichen Stärke wiederkehrt, deutlicher und lauter hören. Das Ohr wird nicht getäuscht, es wird gestimmt und zu einer verstärkten Aufmerksamkeit aufgefordert. Was geschieht dadurch? In das Verhältnis gleicher Monotonien dringt von Anfang an eine Ungleichheit ein, der wir uns nicht entziehen können. Die Folge, in der sie auftreten, gewinnt etwas Bestimmendes, denn wir wer­ den durch das Ohr angewiesen, sie aufeinander zu beziehen; es wird uns unmöglich, sie so auseinanderzuhalten, daß jede für sich und ohne Zusammenhang mit der anderen besteht. Ihre Periodizität 29

zwingt sich unserem Ohr auf; wir achten nicht mehr auf sie selbst, sondern auf den periodus, in dem sie erscheinen. Dieser, nicht die Bewegungen, die ihn bilden, wird die Figur, die unsere Aufmerk­ samkeit beschäftigt. Hieran ist etwas des Nachdenkens Würdiges, denn wir rühren an den Zusammenhang, in dem Zeit und Form stehen, und erkennen, daß sie auf etwas Gemeinsames zurück­ gehen. Ihre Gemeinsamkeit wird uns am Rhythmus deutlich. Wir erkennen auch, daß ein mechanischer Zeitbegriff nur mit einem mechanisch bestimmbaren Rhythmus in Beziehung treten kann. Sein Kennzeichen ist die Störung der lebendigen Einheit von Zeit und Form. Er hat keine Periodizität. Die Eintönigkeit dürfen wir das stärkste aller Kunstmittel nennen. Nicht als pausenlose Eintönigkeit, denn die Sprache untersteht der Artikulation. Je mehr die Sprache Erinnerung der Wiederkehr wird, sich zur Kunst erhebt, desto kunstvoller wird in ihr der periodus der Eintönigkeit. Rhythmus ist periodisch wiederkehrende Eintönigkeit, die Rhythmik das Verfahren, durch welches die Bewegung der Sprache mit Hilfe der Eintönigkeit periodisch geord­ net wird. In der Wiederkehr des Gleichen spricht sich zugleich die Herrschaft des Ganzen über seine Teile aus. Eine Koordination der Teile, die räumlich bleibt, gibt es hier nicht mehr. Die Be­ wegung wird von einer räumlich geordneten zur zeitlich geordne­ ten. Das räumlich Mannigfaltige fügt sich der Einheit der Form, die aus der zeitlichen Bewegung hervorgeht. Diese Bewegung ist die Quelle der Heiterkeit. Das variatio delectat hat eingeschränkte Gültigkeit. Die Abwechslung ergötzt uns nicht als solche, und pure Abwechslung wird unerträglich. Was uns ergötzt, ist die Dauer im Wechsel. Ein Wechsel in den Formen des metrischen Rhythmus würde uns abstoßen, wir würden ihn rasch unleidlich finden. Durch diesen Wechsel würde die Eintönigkeit und Periodizität des Rhyth­ mus angegriffen werden. Damit würde der Rhythmus von einem Bewegenden zum Bewegten werden und würde sich auflösen. Be­ wegt wird nicht der Rhythmus, sondern die Sprache. Bewegt wird der Satz, und diese Bewegung geschieht vom Vers her. Vers und 30

Satz liegen in der Einheit des Widerstreits von Bewegendem und Bewegtem. Der Vers ist von monotoner Beständigkeit; der Satz verändert sich, indem das Rhythmizomenon wechselt. Das Gedicht bewegt sich in der Ordnung der periodisch wieder­ kehrenden Eintönigkeit. Der Vers ist — wir wiederholen es — keine linea recta; seine Aufgabe ist, den Satz zum Kreis zu biegen. An der Strophe wird das besonders deutlich. Die Verse laufen nicht in einem räumlichen Nebeneinander und ordnen sich nicht wie parallel ziehende Geraden an. Fortschreitend kehrt das Gedicht stets zurück; es kommt nur voran, wenn es dieses Zurück zur Wieder­ kehr vollzieht. Nur in dieser Bewegung wiegt es sich vollkommen aus. Das Gedicht beschreibt die Kreisform, und jede Störung des Rhythmus ist zugleich deren Störung. Jeder periodus beschreibt einen Kreis, alle Periodizität ist kreisförmig. Was der Rhythmus seinem Wesen nach ist, haben die Dichter immer gewußt. Sie wuß­ ten, daß er nicht im Kopf des Menschen produziert wird und nicht nur die Füße bewegt. Auf das Gedicht lassen sich die Verse Klopstocks im Messias anwenden: Mitten in der Versammlung der Sonnen strahlet der Himmel, Rund, unermeßlich, des Weltgebäus Urbild, die Fülle Jeder sichtbaren Schönheit, die sich, gleich flüchtigen Bächen, Ringsum durch den unendlichen Raum nachahmend ergießet. Nachahmend — ja. Denn der Rhythmus ahmt nach, er vollzieht in der Nachahmung einer Bewegung der Erde, die ein Stern ist, zu­ gleich eine Stembewegung. Daher spricht Goethe über Hafis etwas Wahrhaftiges aus: Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und daß du nie beginnst, das ist dein Los. Dein Lied ist drehend wie das Stemgewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, Und was die Mitte bringt, ist offenbar Das, was zu Ende bleibt und anfangs war. 31

GLIEDERUNGEN DER SPRACHE UND DES METRISCHEN RHYTHMUS

Metrische Zeichenschriften Bevor wir die Gliederungen der Sprache und des metrischen Rhyth­ mus untersuchen, ist auf die Mittel hinzuweisen, durch welche diese Gliederungen für das Auge festgehalten werden. Die metrischen Zeichenschriften sind Hilfsmittel, und alle haben ihre Mängel. Der Vorschlag, sie samt und sonders durch die Notenschrift der Musik zu ersetzen, hat daher zunächst etwas Einleuchtendes. Aber diese Notenschrift hat eine andere Bestimmung und dient anderen Zwekken, wie denn durch sie Verhältnisse dargestellt werden, die sowohl hinter der Sprache Zurückbleiben wie über sie hinausgehen. Der Vorschlag ist daher niemals durchgedrungen4. Zunächst sei bemerkt, daß die wissenschaftliche Metrik auf ein Zeichensystem hindrängt, durch welches sie die zeitliche Bewegung des Rhythmus festhält, auf die Abbildung des Rhythmus durch ein System wiederkehrender Zeichen. Das Zeichensystem muß, wenn es brauchbar sein soll, starr sein. Das heißt, es muß die rhythmische Bewegung der Sprache isolieren, indem es isolierte Be­ wegungen im Verse festhält. Wie geschieht das? Am häufigsten finden wir in den metrischen Zeichenschriften die Zeichen - und w verwendet. Das sind Silben­ zeichen, welche die Stärke und Schwäche der Silben angeben. Ge­ nauer sind sie, wenn die Haupthebungen durch einen Akut -, die Nebenhebungen durch einen Gravis i angegeben werden. Solche Bezeichnungen sind auf das Metrum, nicht auf die sprachlichen Eigenschaften der Silben abgestellt. Durch sie wird, welcher Irrtum wegen des Langstriches und des kurzen Bogens immer naheliegt, 32

nichts über die Zeit (Länge, Kürze) der Silben ausgesagt, nichts auch über ihr Gewicht. Eine Silbe, die mit dem Zeichen - bezeich­ net ist, kann sowohl lang wie kurz sein. Die Zeitverhältnisse sind außer acht gelassen. Und so verhält es sich mit allen anderen Zei­ chen, die nur den Einklang von Wortbetonung und Hebung wieder­ geben. Wenn ich also einen Vers so bezeichne: w | Zw| Zw | Zw | Zw

dann habe ich die Stärkeverhältnisse mit ihren Hebungen an­ gegeben. Dazu habe ich durch Taktstriche den Auftakt von den ganzen Takten und die ganzen Takte voneinander abgeteilt. Mehr habe ich nicht getan. Über die sprachlichen Eigenschaften der Silben habe ich nichts ausgesagt. Ich habe die Stärke der Wortsilben und die Hebungen der Verssilben bezeichnet. Im Begriff jeder metrischen Zeichenschrift liegt, daß sie nicht Silben, sondern Silbenzeichen wiedergibt; sie bleibt ein Hilfsmittel. Die Umsetzung des Rhythmus in Zeichen ist ein Geschäft, das not­ wendig unvollkommen bleibt, denn zum Leben gelangt der Rhyth­ mus erst durch die Sprache. Will ich auch die Zeitverhältnisse der Silben mit einiger Genauigkeit angeben, dann muß ich eigene Zeit­ zeichen verwenden. Ich lasse mich dabei auf ein Unternehmen ein, das nicht genau sein kann, weil wir — darauf kommen wir zurück — keine feste, bestimmte Silbendauer haben, also auch ein Ganzes und seine Bruchteile die Zeitverhältnisse nie genau treffen. Will man, wie Heusler das in seiner Versgeschichte getan hat, die Zeitzeichen von den Zeichen Vier Viertel bis Ein Sechzehntel an­ geben, dazu zeitlich unbestimmte Silben, pausierte Viertel und längere Pausen, sodann Iktenzeichen, Taktbegrenzungen, Versgrenzen, Zäsuren, dann entsteht ein kompliziertes System. Die Silben sind nichts zeitlich Selbständiges, für sich zu Betrachtendes, denn sie hängen von Vers und Satz ab, wie diese von der Emp­ findung, welche die Artikulation schafft. Es gibt keinen status absolutus für die Verssilbe, weil die Verssilbe im Verssatz liegt 33

wie die Welle in der Flut, ohne die sie nicht vorhanden wäre. Eine metrische Zeichenschrift läßt sich nicht ablesen wie eine Partitur; darin liegt keinerlei Genuß, wie ihn der Leser einer Partitur zu empfinden vermag. Eine Notenschrift, die mit dem Auge gelesen wird, kann unmittelbar transponiert werden, so daß sie mit dem Ohr gehört wird. Ein metrisches Zeichensystem ist dessen nicht fähig. Es ist nicht ablösbar von dem Vers, dem es beigegeben ist. Es sagt über alles Verbindende nichts aus. Und nur in Verbindung mit dem Text wird es lesbar und hörbar. Auch ist zu bemerken, daß eine Zeichenschrift nicht für das ur­ sprüngliche Messen des in der entstehenden Sprache entstehenden Rhythmus, sondern für das Nachmessen des ursprünglichen Mes­ sens bestimmt ist. Je genauer eine Zeichenschrift ist, desto untaug­ licher wird sie für den Dichter. So wie die Glieder eines Menschen in starre Schienen gelegt werden, so legt sie den Vers in Schienen. Der Dichter, wenn er seiner Erinnerung zu Hilfe kommt, bezeichnet sich auf die einfachste Weise den Rhythmus, indem er für den Vers Hebungen und Senkungen angibt. Das reicht für die schwierigsten metrischen Gefüge hin und ist dort nicht notwendig, wo ihn das Ohr allein leitet. Die Erfindung genauer Zeichenschriften ist ein wissenschaftliches Unternehmen und stiftet Nutzen nur für die wissenschaftliche Untersuchung des Verses.

Silben Wir gehen, indem wir Satz (Rhythmizomenon) und Vers (Rhyth­ mus) bald auf künstliche Weise trennen, bald in ihrer Einheit be­ trachten, von den Silben aus. Silben sind in der Prosa die klein­ sten rhythmischen, in der Dichtung die kleinsten metrisch rhyth­ mischen Einheiten. Laute sind weder metrische Einheiten, noch be­ gründen sie eine Sprache. Tierstimmen lauten, ohne zu Silben­ verbindungen, die einen sprachlichen Zusammenhang haben, über­ zugehen. Der Papagei, der einen Satz »nachspricht«, spricht nicht 34

in Silben, sondern ahmt Lautverbindungen nach. Unsere Sprache zerbricht, wenn sie Laut wird, im Übermaß der Leidenschaft, im Schmerz wie in der Freude. Interjektionen liegen daher an der Grenze der Sprache, denn in ihnen geht das Wort in den Laut über. Unsere Wörter bestehen aus Einzelsilben oder Silbenverbindungen, die wir insgesamt zunächst Wortsilben nennen wollen. Wenn wir ein einzelnes, aus mehreren Silben bestehendes Wort betrachten, erkennen wir, daß unter diesen Silben eine ist, die stärker betont wird als die anderen. Sie ist durch die Betonung ausgezeichnet gegenüber den anderen, schwächeren Silben, weshalb wir sie eine starke Silbe nennen. Diese Stärke hat als solche nichts mit der Zeit (Dauer, Länge) der Silbe zu schaffen. Wir haben sowohl stark­ betonte kurze wie starkbetonte lange Silben. Zittern, fallen, lachen haben starkbetonte kurze Anfangssilben, ziehen, weinen, rufen starkbetonte lange. Der starke Ton liegt bei uns in der Regel auf den Stamm- oder Wurzelsilben, der schwache Ton auf den Nebensilben. Wir sehen hier von sprachgeschichtlichen Veränderungen ab und halten uns an den gegenwärtigen Stand unserer Sprache. Wenn wir sagen, daß der starke Ton der Silbe und die Silbenzeit nichts miteinander zu tun haben, daß also der Ton (Akzent) auf langen oder kurzen Silben ruhen kann, so heißt das nicht, daß die Silben als solche sich gegen Zeitverhältnisse gleichgültig verhalten. Die Zeit (Dauer, Länge) der Silben ist verschieden, und wir können sie nicht unbeachtet lassen. Wir haben also lange und kurze Silben, und zwar in einem Verhältnis, das durch mannigfache Abstufun­ gen geht. Endlich finden wir an den Silben ein drittes Merkmal, das wir Gewicht (Schwere, Umfang) nennen können. Das Gewicht einer Silbe wird durch Betonung und Zeit noch nicht ganz bestimmt, ob­ wohl nicht zu verkennen ist, daß Gewicht und Betonung, Gewicht und Zeit in einem Verhältnis stehen, das Rücksicht verdient. Ge­ wichtig wird eine Silbe in dem Maße, in dem wir Mühe haben, sie 35

hervorzubringen und von anderen Silben abzusetzen. Diese ihr eigene Schwere beruht auf der Stellung von Selbstlautern und Mit­ läufern. Die Silben in Wörtern wie Traummeer, Schwermut, Mum­ menschanz machen uns, teils durch sich, teils durch ihre Verbin­ dung, mehr Mühe als leichte Silben. Wir sehen also, daß wir bei den Wortsilben Stärke, Zeit und Gewicht unterscheiden müssen. Insofern die Silben im Satz liegen, nennen wir sie nicht mehr Wortsilben, sondern Satzsilben. Die Silben bewegen sich jetzt im Satz, sie gehen in den Satz ein, und auf eine gewisse Weise wird ihre Stärke, ihre Zeit und ihr Gewicht durch den Satz bestimmt. Der Satz selbst hat Stärke, Zeit, Gewicht; er hat, steigend oder fallend, einen Gipfel, den seine Silben zu beachten haben. Die Betonung (Akzent) des Satzes steuert die Satz­ silben, nicht so, daß er ihren Ton, ihre Zeit, ihr Gewicht umkehrte, aber doch so, daß sie sich nicht vereinzeln, sondern seiner Be­ wegung folgen. Die Satzsilben unterliegen einer Rhythmisierung, die vom Satz her bestimmt wird. Durch die Vereinigung von Satz und Vers im Gedicht erhalten wir Verssilben. Diese sind die kleinsten metrischen Einheiten des Ge­ dichts. Die Trennung von Wortsilben, Satzsilben und Verssilben ist zwar künstlich, aber nicht überflüssig. Sie geht auf die künstliche Scheidung von Vers (Rhythmus) und Satz (Rhythmizomenon) zurück und sagt nichts anderes, als daß die Silben des Wortes als solchen und die in Satz und Vers liegenden Silben aus Gründen der Deutlichkeit gesondert aufgefaßt werden. Mit Hilfe dieser Trennung können wir uns das folgende Verhältnis von Wort, Satz und Vers deutlich machen. Das Wort, als solches und selbständig genommen, ist keine rhythmische oder metrisch rhythmische Ein­ heit und wird es auch dadurch nicht, daß seine Silben oft für einen selbständigen Takt verwendet werden. Denn das ist zufällig. Seine rhythmische Unselbständigkeit zeigt sich daran, daß metrisch rhythmische Einheiten (Takte) ebensooft auf das Wort keine Rücksicht nehmen und es ohne Rücksicht auf seinen Wort­ zusammenhang für ihre Zwecke verwenden. Von den Wortsilben 36

über die Satzsilben zu den Verssilben geht ein steigender Zug rhythmischer Zusammengehörigkeit. Der metrische Rhythmus des Gedichts begründet eine neue, metrische Zusammengehörigkeit der Silben. Er schafft Verssilben, schafft aus den Wort- und Satzsilben­ verbindungen neue Verssilbenverbindungen. Verssilben, so sagten wir, sind die kleinsten metrischen Einheiten. Und wir fügen hinzu, daß es außerhalb der Verssilben keinen metrischen Rhythmus gibt, sondern nur noch ein aus ihnen herausgezogenes Schema, das durch Klopfen, Abzählen und Nachrechnen keine sinnliche Kraft gewinnt, sondern ohnmächtig bleibt. In dieser innigen Verbindung zeigt sich zunächst die Einheit von Sprache und Rhythmus. Die Verssilben wollen wir jetzt genauer betrachten. Das, was von den Wortsilben gesagt wurde, gilt auch für sie. Wir können sie nach Betonung, Zeit und Gewicht unterscheiden. Wir tun gut, wenn wir die Bezeichnungen Betonung und Akzent den Sprachsilben Vor­ behalten, in diesen Bezeichnungen also etwas der Sprache Angehö­ riges erblicken. Das wird uns vor der Verwirrung bewahren, die entsteht, wenn wir diese Bezeichnungen für metrisch rhythmische Verhältnisse verwenden würden, sie also etwa mit Hebungen (Ikten) verwechseln würden. Betonung, starke oder schwache, haben alle Silben; Hebung (Iktus) bezeichnet den starken Ton (Stärke) der Silbe innerhalb des metrischen Rhythmus. Die auf Stamm- oder Wurzelsilben liegende Betonung der Wort- und Satzsilben wird von den Verssilben übernommen, aber diese Betonung macht noch nicht den metrischen Rhythmus aus. Das Verhältnis starkbetonter zu schwachbetonten und unbetonten Silben ist schon ein Kennzeichen des Satzes (der Prosa). Der metrische Rhythmus entsteht noch nicht durch die Stärke der Betonung, die im Satz, so etwa in der Er­ regung, noch stärker werden kann. Dabei gilt für die Verssilben, was für die Satzsilben gilt, denn wie deren wirkliche Stärke nicht an sich selbst, sondern aus ihrer Stellung im Satz abgehört wird, so wird die wirkliche Stärke der Verssilben aus dem Vers abgehört, der sich mit dem Satz vereinigt hat. Wie stark die Verssilben in ihrem Verhältnis zueinander sind, ist durch kein genaues Schema 37

auszumachen, denn die wirkliche Silbenstärke ist kein status abso­ lutus, sondern wird vom Vers her bestimmt. Wenn wir daher starke, weniger starke und schwache Verssilben unterscheiden, so reicht das nur im Groben aus. Der Wechsel der Stärke ist gleitend. Wir wiederholen noch einmal, daß wir unterscheiden müssen zwi­ schen Betonung (Akzent) und Hebung (Iktus). Für ihr Verhältnis gilt zunächst und von vornherein, daß sie zueinander hinstreben. Die sprachliche Betonung geht in den metrischen Rhythmus ein; beide wirken zusammen, mit vereinter Kraft. Das heißt, Satz (Rhythmizomenon) und Vers (Rhythmus) sind so aufeinander an­ gelegt, daß der Rhythmus und die kleinen Teile des Rhythmizo­ menon sich ineinander fügen, der Akzent auf Wortsilben liegt und die Wortsilben sich von ihm ordnen lassen. Versiktus und Wort­ silbenbetonung stehen im Einklang, so daß ein Abweichen von diesem Einklang begründet sein muß. Kümmert sich der metrische Rhythmus nicht um die sprachliche Betonung und umgekehrt, dann entstehen Unstimmigkeiten, welche die Vereinigung von Vers und Satz in Mitleidenschaft ziehen. Als Unstimmigkeiten, als Störungen zwischen Akzent und Iktus werden sie vom Ohr wahrgenommen, als Verletzung der Hauptregel der deutschen Prosodie, welche den Einklang von Betonung und Hebung fordert. Wir müssen darin genauer sein als etwa die Franzosen mit ihrem schwebenden Akzent. Wird der metrische Rhythmus verletzt, dann betrifft die Unstimmigkeit den Vers unmittelbar. Die Beugung der sprachlichen Betonung nennen wir Tonbeugung, die des metrischen Rhythmus Versbeugung. Tonbeugung und Versbeugung fallen begrifflich nicht zusammen. Die Tonbeugung finden wir dort, wo zugunsten eines bestimmten metrischen Rhythmus von der sprachlichen Betonung abgewichen wird, Iktus und Akzent also in Streit miteinander treten. Die Versbeugung ist die Ver­ letzung des metrischen Rhythmus vom Satz her. Wenn wir von Tonbeugung sprechen, gehen wir dabei vom gegenwärtigen Stand unserer Sprache und ihrer Betonung aus. 38

Zu beachten dabei ist, daß die betonten Silben (Akzentsilben) und die Hebungssilben (Iktenträger) im Vers nicht immer zusammen­ fallen. Daß sie nicht zusammenfallen, bildet keine Ausnahme von der Regel. Denn unsere betonten und unbetonten Silben liegen als Hebungssilben und Senkungssilben nicht unveränderlich fest, wenig­ stens nicht alle. Wenn es Silben gibt, welche die Hebung oder Sen­ kung verlangen, so gibt es andere, die einer Wahl unterliegen, welche sich durch ihre Stellung im Vers entscheidet. Wenn wir das Wort »gellend« betrachten, erkennen wir, daß seine erste Silbe nie in die Senkung, seine zweite nie in die Hebung kommen kann. Bei dem Wort »gellende« ist die dritte Silbe Senkungssilbe und sehr schwach, doch kann sie im Vers zu einer Hebung gelangen, wenn eine ebenso schwache Silbe folgt. »Gelinde« hat in der ersten Silbe eine unveränderliche Senkung, in der zweiten eine unveränderliche Hebung, die dritte Senkungssilbe aber kann trotz ihrer Schwäche in eine Hebung kommen. Ein oft vorkommender Fall ist, daß bei einem Vers, der sprachlich schwachbetonte Silben häuft, die schwachbetonten Silben als He­ bungssilben herangezogen werden. Der metrische Rhythmus hat hier einen Spielraum, in dem er sich bewegen kann. Dem Dichter steht die Auswahl unbetonter Silben, die hebungsfähig sind, für die Hebung frei. Fehlerhaft wird die Wahl erst, wenn festliegende sprachliche Silbenbetonungen zu Senkungen, festliegende schwachbetonte Silben zu Hebungen verwendet werden. Eine Wahl findet auch dann statt, wenn von betonten Silben, die einander im Verse unmittelbar folgen, die eine willkürlich als Hebung, die andere als Senkung behandelt wird. Folgt einer stark betonten Auftaktsilbe eine stark betonte andere Silbe, dann gerät die Auftaktsilbe in die Senkung. Wir sehen daran die größere Frei­ heit, mit der Versanfang und Auftakte behandelt werden. Diese und andere Fälle einer Verschiebung (Verhaltung) des Tons sind statthaft. Das Ohr widerstrebt ihnen nicht, doch kann die Willkür bei Häufung solcher Wahlhebungen und Wahlsenkungen spürbar werden. 39

Allgemein läßt sich folgendes sagen. Wenn wir eine natürliche Aus­ sprache annehmen, das heißt eine Aussprache, bei der der in Sätzen (Prosa) Sprechende die Stärkeverhältnisse der Silben, so wie sie in unserer Sprache Vorkommen, aditet, so gilt diese natürliche Aus­ sprache auch für den Vers und wird durch seine Takthaitigkeit nur insofern verändert, als die Silben ohne Tonbeugung dem metrischen Rhythmus zu folgen vermögen. Folgende Regeln sind also zu beachten: 1. Tonbeugungen, das heißt Beugungen der sprachlichen Be­ tonung, um den metrischen Rhythmus zu erzielen, sind unstatt­ haft. Das Verhältnis der Silbenstärken darf nicht mißachtet wer­ den. Festliegende Stärken und Schwächen dürfen nicht verändert werden. 2. Tonverschiebungen (Tonverhaltungen) sind statthaft. Unser Ohr wird dadurch nicht verletzt, denn es erkennt, daß den Silben einiges zugemutet werden darf. Die Fülle unserer vorgeneigten (enklitischen) und rückgeneigten (proklitischen) Silben, unserer Präfixe und Suffixe läßt einen keineswegs engen Spielraum. Indem wir von der Stärke der Verssilben zu ihrer Zeit und Zeit­ messung übergehen, bemerken wir zunächst, daß im Gedicht die Zeit, in welcher rhythmische Bewegungen verlaufen, an die Sprache gebunden ist. Die Silbenzeit ist der Maßstab der Zeitmessung im Vers. Das, was in der rhythmisch geordneten Sprache zeitlich wiederkehrt, können wir messen; wir können den metrischen Rhythmus an der Sprache ausmessen. Dort, wo die Sprache hörbar wird, ist sie schon an Automatismen des lebenden Körpers ge­ bunden. Dieses Gebundensein sagt über ihr Entstehen als Sprache nichts aus. Sie folgt diesem Automatismus weder, noch ist sie als ein bewegbarer Mechanismus denkbar. Ein solcher wird sie auch nicht durch den Druck oder die Aufnahme von gesprochenen Wor­ ten auf eine Platte, denn hier wird das Wort starr und unveränder­ lich festgehalten, in stummen Zeichen oder tönenden Kopien, nicht aber durch den Mechanismus hervorgebracht. Ein mechanischer Zeitbegriff ist in der Sprache nicht vorhanden. In seinem Bereich 40

finden wir einen mechanischen Rhythmus, den wir mit dem Ohr sogleich heraushören; sein Kennzeichen ist die genaue Wiederkehr mechanischer Zeitteilchen. Da diese in der Sprache nicht vorhanden sind, da sie, wie man gesagt hat, keinem rationalen, sondern einem irrationalen Rhythmus folgt, kann sie nicht durch einen mechanisch bestimmbar gewordenen Zeitbegriff gemessen werden. Die Bezeich­ nung »irrationaler Rhythmus« ist zweideutig. Wir sagen genauer, daß in der Sprache überall ein Unteilbares ist, das sich nicht weiter gliedern und zergliedern läßt, weil die Sprache sonst aufhört, weil sie als Sprache zerstört wird und verschwindet. Dieses Unteilbare der Laute, Silben, Wörter, Sätze führt uns nicht auf mechanisch oder mathematisch gleiche Teile. Das Gesetz der Wiederkehr in der Sprache ist kein Gesetz der Wiederkehr solcher Teile, zwischen denen ein rational bestimmbares Verhältnis statthat. Für den Wissenschaftler bleibt die Sprache daher ein unvollkommenes Werkzeug. Die Vorwürfe, die er gegen sie erhebt, lassen sich samt und sonders darauf zurückführen, daß sie seinem mechanisch exakten Zeitbegriff nicht gehorcht, also auch nicht zu exakter Zu­ verlässigkeit gebracht werden kann. Aber die Sprache hat nicht die Bestimmung eines Werkzeugs innerhalb einer universalen Mechanik. Genauigkeit, wie sie von einem Dichter gefordert wird, ist nicht wissenschaftliche Genauigkeit. Der in der Sprache ent­ stehende Rhythmus ist bewegend, nicht bewegbar. Sprachliche und mechanische Genauigkeit sind inkommensurabel; die erste ist un­ vergleichlich genauer, weil sie lebendiger ist. Zeitmessung, das heißt vergleichende Messung der Zeiten, in wel­ chen die rhythmischen Gliederungen des Gedichts verlaufen, ge­ schieht teils unbewußt, teils bewußt durch das Ohr, welches unser eigentliches Zeitorgan ist. Die lange betonte Verssilbe erfordert mehr Zeit als die kurze betonte. Daraus ergeben sich für das Ohr keine festen Unterschiede, die auf den metrischen Rhythmus gesetz­ mäßig einwirken. Wir gleichen diese Unterschiede durch den Vers selbst aus. Einen Zeitunterschied zwischen langen betonten und kurzen unbetonten Silben können wir, obwohl dieser Unterschied 41

da ist, nicht festlegen, denn das hieße griechische Silben zusammen­ suchen 5. Wir brauchen die Silbenzeit nicht genau zu errechnen, denn sie entsteht beim Hören und Lesen von selbst. Unter Länge der Silben verstehen wir nicht ihre Lautzahl, sondern ihre Zeit. Fehlerhaft wäre, ihre Stärke darunter zu verstehen, darum wiederholen wir noch einmal, daß eine lange Silbe nicht stärker als eine kurze zu sein braucht. Wir haben kurze betonte Silben, die an Stärke den langen betonten nicht nachstehen. Woran liegt es aber, daß es eine starre, bestimmte Dauer der Silben nicht gibt, daß ihre Zeit, die Zeit nämlich, in der sie gesprochen werden, wechselt? Es liegt daran, daß schon die Betonung sich die Zeit unterordnet, die Ikten sie regeln, die Takte über die Dauer ent­ scheiden, der Vers über die Zeit bestimmt. Der metrische Rhythmus wird nicht durch starre Silbenzeiten festgelegt; er weist den Silben ihre Zeit und Zeitverhältnisse an. Die Silbenzeit bestimmt nicht die Zeit der Takte, die Taktzeit nicht den Vers, und nicht durch die kleineren metrischen Einheiten werden die größeren festgelegt, son­ dern die größeren verfügen über die kleineren. Die Stelle, an der die einzelne Silbe steht, wird nicht durch sie selbst festgelegt. Ich kann aus der Folge des gleichen metrischen Rhythmus oft verschie­ dene Silben- und Taktfolgen heraushören. Allerdings, je eindeuti­ ger und zwingender der Vers den Satz bestimmt, desto mehr ver­ weist er die Silben und ihre Zeit an einen festen Ort, so daß wiederum aus den Silbenfolgen eindeutig der metrische Rhythmus abzuhören ist. Aber auch hier bestimmt nicht die Silbe über den Vers, sondern der Vers über die Silbe. Leicht erkennbar ist, daß die Fragen der Zeitmessung in der Dich­ tung der verschiedenen Völker verschieden liegen, weil sie nicht unabhängig von der Sprache (Rhythmizomenon) behandelt werden können. In der griechischen Dichtung liegen sie anders als in der deutschen. Iktus und Wortsilbenbetonung stehen bei den Griechen nicht in unserem Einklang. Daß der Daktylus bei uns dreizeitig und nicht vierzeitig wie bei den Griechen gemessen wird, hängt mit unseren Akzentgesetzen zusammen, welche sich die Zeitmessung 42

unterordnen. Der Unterschied zwischen rationalen und irrationalen Füßen hat bei uns nichts mehr zu sagen. Irrationale Trochäen und irrationale Jamben, bei denen die Thesis zweizeitig, die Arsis ein­ einhalbzeitig ist, brauchen wir nicht zu unterscheiden. Einen grie­ chischen Spondeus gibt es bei uns nicht. Wir können den metrischen Rhythmus der Griechen in unserem Gedicht nachbilden, nicht aber ihre Silben, ihre Sprache, ihr Rhythmizomenon. Auf die langen und kurzen Silben und die Fragen ihrer Zeitmessung brauchen wir nicht die Strenge und die Sorgfalt der Griechen zu verwenden. Für unsere Dichtung sind diese Fragen nicht von gleicher Wichtigkeit, und oft ist zuviel Zeit und Mühe auf sie verschwendet worden. Gewicht (Schwere, Umfang) der Verssilben sind verschieden. Eine kurze betonte Silbe hat weniger Gewicht als eine lange betonte. Dieser Unterschied hat für den Vers etwas zu sagen. Je gewichtiger eine Silbe ist, desto mehr drängt sie darauf, in der Sprache den Akzent, im Vers den Iktus zu erhalten. Je gewichtiger sie ist, desto mehr Zeit verlangt sie für sich, desto länger wird sie. So wie die Folgen leichter Silben auf den Vers einwirken, so auch die dichte Aufeinanderfolge gewichtiger (schwerer, umfangreicher) Silben.

Takte Wir sahen bei den Silben, daß sie sich nach Stärke, Zeit und Ge­ wicht unterscheiden. Für die Takte gilt dasselbe, und der Unter­ schied wird merklicher, weil sie umfangreicher sind, der Unterschied also kräftiger hervortreten muß als bei den Silben. Durchgehende Takthaitigkeit (Taktfolge) ist das sichere Kennzeichen des Verses gegenüber der Prosa; daraus schon ergibt sich, daß dem Takt wich­ tige Aufgaben im Vers zukommen. Wir können die Takte im Vers, um sie uns zu Gesicht zu bringen, durch Taktstriche absetzen, und wir tun das so, daß wir den Strich vor die Hebung des ersten ganzen Taktes setzen und vor der nächsten Hebung enden lassen. Wo wir die Haupthebungen und Nebenhebungen unterscheiden, 43

schließen wir die Nebenhebungen in den Takt ein. Die Stärke der Takte hängt zunächst von der Stärke und Zahl ihrer Hebungen ab. Die Zeit der Takte wird an den Taktteilen abgehört. Dabei gehen wir von dem lateinischen Begriff der Mora (Verzögerung) aus, mit dem in der Prosodie die Zeitdauer der Aussprache einer kurzen Silbe bezeichnet wird. Die Mora ist ein Zeitteil und Taktteil des Taktes. Indem wir sie als Grundmaß nehmen, kommen wir zu sehr verschiedenen Silbenzeiten, zu verschiedenen Zeiten für die Takt­ teile. Sie reichen von dem Viertel einer Mora bis zu ihrem Vier­ fachen. Eine solche Einteilung der Silbenzeiten ist, wie schon be­ merkt wurde, weder genau, noch kann sie genau sein. Wir müssen zwar daran festhalten, daß der metrische Rhythmus abgehört wird an der Stellung der Silben im Vers und an der Zeit der Zeitteile, zugleich aber erkennen wir, daß die feste Seite dieses Gerüsts der Einklang von Wort-, Satz- und Versbetonung mit den Hebungen ist, die Zeitverhältnisse aber etwas Wechselndes und Flüchtiges haben und der Macht dieses Einklangs sich unterordnen. Die Pausen im Vers (tonlose Zeiten) vermehren das Schwanken der Silben­ zeiten. Takte sind metrisch rhythmische Einheiten innerhalb des Verses, die den Silben übergeordnet sind. Der Takt ordnet sich die Verssilben unter, und zwar so, daß er einer von ihnen den Vorrang und die Führung gibt, andere zum Folgen anweist. Er wählt sich die Stamm- oder Wurzelsilben als Hebungen aus und gruppiert um sie die Nebensilben als Senkungen. Er schafft, indem er sich auf die Wortbetonung der Prosa stützt, etwas Neues, eine metrische Silben­ verbindung, schafft zugleich, indem er sich zu anderen Takten in Verbindung setzt, einen lückenlosen metrischen Zusammenhang. Zeitlich und räumlich gesehen, übernimmt er die Führung der Sil­ ben. Der zeitlich unbestimmten Silbendauer der Verssilben wird durch Takt und Taktfolge ein festeres Verhältnis angewiesen. Über das Schneller und Langsamer entscheidet der Takt mit, sein Ver­ mögen nämlich, Silben von verschiedener Zahl und Schwere um sich zu gruppieren. 44

Takte bestehen aus Silben und ordnen sich die Silben auf eine dem Ohr vernehmliche Weise zu. Diese Zuordnung ist elementar; sie zwingt sich dem Ohr auf. Der Satz der Prosa ist nicht takthaltig wie der mit dem Vers vereinigte Satz, das heißt, er hat keinen metrisch geordneten Rhythmus. Die Ordnung des Verses ist derart, daß jede Silbe in ihm einem Takt zugeordnet werden kann und zu­ geordnet werden muß, weil sonst innerhalb des metrischen Rhyth­ mus Unterbrechungen, Lücken, Störungen auftreten. Der Vers bin­ det die Folge der Takte. Weil der Vers über den Takt mitverfügt, können wir die Ordnung der Takte in ein und demselben Vers manchmal verschieden vor­ nehmen. Wir können die Takte, ohne den metrischen Rhythmus zu verletzen, verschieden anordnen. Das Schema der Takte kann ein­ deutig sein und festliegen. Ein unbedingtes Erfordernis ist das, wie wir insbesondere bei den freien Rhythmen sehen werden, nicht. Bei dem Vers: Wenn er laut schallende Trommeln schlägt das heißt, wenn er laut die Trommeln schlägt, können die Takte so genommen werden, daß die drei ersten Silben einen Takt mit zwei Hebungen bilden, die vierte bis sechste einen dreisilbigen, die siebente bis achte einen zweisilbigen, die neunte einen einsilbigen Takt. Wir können die Takte aber auch so nehmen, daß die beiden ersten Silben einen zweisilbigen Takt, die dritte einen einsilbigen, die vierte bis sechste einen dreisilbigen und auch die siebente bis neunte einen dreisilbigen Takt bildet. Damit sind die Möglichkeiten der Taktverteilung nicht erschöpft. — Lautet der Vers: Wenn er lautschallende Trommeln schlägt das heißt Trommeln, die laut schallen, dann ändert sich die Takt­ verteilung, denn jetzt kann ich die beiden ersten Silben als zwei­ silbigen Takt, die dritte bis sechste als Takt mit einer Hebung und drei Senkungen, die siebente bis neunte als dreisilbigen Takt nehmen. 45

Da die Takte meist aus mehreren Silben bestehen, der ganze Takt in diesem Falle aus mindestens einer Hebungssilbe und den ihr zu­ geordneten Senkungssilben, können wir ganze Takte und Taktteile unterscheiden. Die Teile des Takts sind an den Takt gebunden und werden von ihm nicht freigegeben, es sei denn, daß der Vers eine solche Freigabe gestattet. Den Auftakt des Versanfangs können wir als einen Taktteil be­ trachten, dem eine gewisse Selbständigkeit eingeräumt ist. Wir unterscheiden Verse mit und ohne Auftakt. Auch können wir Verse, die den Auftakt oder die Silbenzahl des Auftakts freistellen, von solchen unterscheiden, die das nicht tun. Die vorgeschriebene (ge­ bundene) Stellung der Auftakte und das Fehlen der Auftakte ist keine metrisch rhythmische Grundregel des Verses, sondern eine angenommene Regel. Der Name Auftakt sagt schon, daß er gesondert von der Taktreihe betrachtet wird. Das ist ein Kunstgriff, durch den wir mehr Über­ sicht in den Vers bringen. Am I Brunnen vor dem Tore ... In den I Wäldern des Harzes blühen ... Da der Auftakt nicht als ganzer Takt, sondern als ein vor der ersten Hebung des Verses liegender Taktteil aufgefaßt wird (Auf­ takt des Versanfangs), besteht er entweder aus unbetonten Silben oder aus betonten Silben, die ihre Hebung gegenüber der Hebungs­ silbe des folgenden ganzen Textes einbüßen, geschwächt werden. Die Zahl der Auftaktsilben kann festliegen oder wechseln. Die silbenreichen Auftakte des Stabreims, die sich aus dem Verhältnis des Satzes gegenüber dem Vers erklären, haben wir nicht mehr. Der Schwund der freien, ungebundenen Auftaktsilben bezeichnet die Geschichte unseres Verses und wird um so merklicher, je regulärer das Schema wird, nach dem man den Vers behandelt. Mit Klopstock und Goethe setzt eine freiere Behandlung des Auf­ takts wieder ein. Einsilbiger Auftakt kommt am häufigsten vor. Und über den dreisilbigen gehen wenige Verse hinaus. 46

Die übersichtlichste Einteilung der Takte ist die nach ihrer Silben­ zahl; sie verhindert zugleich eine zu starre Auffassung der Takte. Wir unterscheiden zunächst einsilbige und mehrsilbige Takte. In­ dem wir einsilbige Takte als ganze Takte anerkennen, bemerken wir zugleich, daß ein Vers nicht aus einsilbigen Takten bestehen kann, daß also die einsilbigen Takte durch die mehrsilbigen ermög­ licht werden. Dieses Verhältnis weist uns darauf hin, daß bei der Wahl einsilbiger Takte und bei ihrer Stellung im Vers ihr Verhält­ nis zu den mehrsilbigen beachtet werden muß. Zugleich erhebt sich die Frage, wie wir die einsilbigen Takte mit Begriffen verbinden können, die sich in der Metrik eingebürgert haben, mit dem Begriff der Katalexis und mit dem anderen der Synkope der Senkung. Katalexis (Aufhören) ist ein Begriff, den wir von den griechischen Metrikern übernommen haben. Katalexis ist das Abbrechen des Verses vor Beendigung der rhythmischen Reihe, das heißt, dem katalektischen Vers fehlen im Gegensatz zum akatalektischen Takt­ silben, so dem elegischen Distichon in der geraden Zeile die Sen­ kungssilben des dritten und sechsten Taktes, wodurch das Distichon im Verhältnis zum akatalektischen Hexameter einen eigenen rhyth­ mischen Verhalt bekommt. Aber die Sonne des Geists, die schönere Welt, ist hinunter Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur. (Hölderlin, Diotima) Synkope, ein Begriff, der in der Grammatik und Musik einen festen Ort hat, nennen wir den Wegfall der Senkungssilben eines Taktes, woraus hervorgeht, daß wir den Begriff der Synkope unter den der Katalexis bringen können oder umgekehrt. In Hinsicht auf die ein­ silbigen Takte entsteht die Frage, ob wir nicht beide Begriffe streichen können. Können wir also jede Katalexis, jede Synkope als einen einsilbigen Takt auffassen? Wir können das bejahen, obwohl wir erkennen, daß diese Begriffe nicht das gleiche ausdrücken. Denn wir nehmen den einsilbigen Takt als guten, vollständigen Takt, bei dem wir nicht an einen Wegfall von Silben denken, während bei 47

der Katalexis und der Synkope dieser Wegfall bemerkt wird, hier also nicht ganze Takte, sondern Taktteile wahrgenommen werden. Dieses Schwanken der Begriffe, wenn wir es so nennen dürfen, hängt damit zusammen, daß die Aufteilung der Takte vom Vers her verschieden vorgenommen werden kann. Über die Strophe: Willkommen, o silberner Mond, Schöner, stiller Gefährt der Nacht! Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund! Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin. über diese, von ihm erfundene Strophe, hat Klopstock die folgen­ den Zeichen gesetzt, die wir der Deutlichkeit halber durch Takt­ striche abteilen: | —w | —w—,

—v|—|—, uv- l-u- |-w|-w— UV — | UV — | — W—. Daraus geht hervor, daß er für diese Strophe weder an einsilbige Takte noch an Katalexis oder Synkope der Senkung gedacht hat. Er verwendet in ihr nur mehrsilbige Takte, darunter den vier­ silbigen, mit zwei Hebungen, den er Choriambus nennt. Wir wür­ den diese Strophe in ihrem metrischen Rhythmus nicht verändern, wenn wir sie mit den klopstockschen Zeichen so schreiben würden: V | — uv | -UV | -u|-vv|-v|uu|_, |_uu|-v|-v|— UV | -UV | - | -UV |

Der Unterschied ist, daß wir einsilbige Takte angenommen haben. Das ist ein Unterschied in der Abteilung, und wir könnten auch andere Abteilungen der Takte vornehmen. An eine Katalexis oder Synkope der Senkung würden wir bei dieser Strophe so wenig den48

ken, wie Klopstock an sie gedacht hat. Wir denken an sie nur, wenn wir uns der griechischen Begriffe erinnern und bei der Nachbildung griechischer Rhythmen an sie gemahnt werden. Wir reichen mit dem Begriff einsilbiger Takte aus, und indem wir sie annehmen, schaffen wir Widersprüche fort. Die Hebungssilbe, die bei mehr­ silbigen Takten als guter Teil des Taktes bezeichnet wird, kann durch ihre Stellung im Vers zum einsilbigen Takt werden. Unter den mehrsilbigen Takten wollen wir zunächst die betrachten, die aus zwei Silben, einer Hebungssilbe und einer Senkungssilbe bestehen. Geht die Senkung der Hebung voraus, dann haben wir den Takt, den wir mit dem griechischen Namen Jambus nennen (W-J. Geht die Hebung der Senkung voraus, dann haben wir den Trochäus (-“). Wenn wir von einem jambisch geordneten Vers die erste Senkungssilbe abtrennen, dann haben wir einen trochäischen Vers mit Auftakt. Er I kommt vom Wald her in die weiten Felder Unter den dreisilbigen Takten ist der Daktylus (-^u) der wich­ tigste. Der Hebung folgen zwei Senkungen. Kehren wir das Ver­ hältnis um und lassen die Senkungen der Hebung vorausgehen, dann haben wir einen Anapäst (wu~). Trennen wir vom Anapäst die beiden Senkungssilben des Versanfangs als Auftakt ab, dann haben wir einen daktylischen Vers mit zweisilbigem Auftakt:

Würden wir den dreisilbigen Takt so annehmen, daß er die Zeichen erhielte, dann würden wir einen Takt erhalten, der nach Ana­ logie der Griechen Amphibrachys genannt wird. Es steht nichts im Wege, einen solchen Takt anzunehmen, wenn die metrische Ord­ nung des Verses ihn fordert. Die Erfahrung lehrt aber, daß ein solcher Takt sich oft anders ordnen läßt. Wenn wir den Vers: Gelinde Gesänge erschallen im Haine so abteilen: 49

Gelinde I Gesänge I erschallen I im Haine dann könnten wir allerdings einen amphibrachyschen Vers in ihm erkennen. Wir sind aber nicht dazu gezwungen und können so abteilen: Ge I linde Ge I sänge er I schallen I im^Haine Dann haben wir einen daktylischen Vers mit Auftakt, dessen letzter Takt ein Trochäus ist. Ein Takt wie der Amphibrachys hat also die Neigung oder Fähigkeit, in andere Takte zu zerfallen, weshalb wir ihn in unserer Dichtung einen künstlich angenommenen Takt nen­ nen können. Ebenso künstlich angenommen ist der dreisilbige Takt, der Kretikus genannt wird Denn den Vers: Wenn er scharf wehend kommt, wenn er hell können wir so abteilen: Wenn er scharf I wehend kommt, I wenn er hell und haben dann dreimal den Kretikus vor uns. Wir sind aber dazu nicht gezwungen und können etwa so abteilen: Wenn er I scharf I wehend I kommt, wenn er I hell Dann folgt dem ersten Trochäus ein einsilbiger Takt, dem zweiten Trochäus ein Daktylus und ein einsilbiger Schlußtakt. Nehmen wir den Daktylus aus, dann gilt für die dreisilbigen und viersilbigen Takte, deren rhythmische Form wir von den Griechen übernommen haben, insgesamt das, was vom Amphibrachys gesagt wurde. Sie werden als Takte leicht mehrdeutig. Ihre rhythmische Form haben wir übernommen, nicht aber die zu ihnen gehörenden griechischen Silben und Zeitmessungen. Unsere Silben fügen sich leichter in andere Takte. Doch sind diese Dreisilber und Viersilber nicht drakonisch zu verbannen. Gegen viersilbige Takte ist nichts einzuwenden, also auch nichts gegen den Choriambus (-^w-) uncJ andere Viersilber. Sie sind uns nicht so vertraut wie etwa ein vier­ silbiger Takt, der aus einer Anfangshebung und drei Senkungen 50

besteht. Wir können sie oft in zweisilbige und dreisilbige auflösen, helfen uns auch mit der Annahme einsilbiger Takte aus. Darin können wir weit gehen, ohne daß Verwirrung gestiftet wird. Vergraben ist in ewige Nacht Der Erfinder großer Name zu oft. Was ihr Geist grübelnd entdeckt, nutzen wir; Aber belohnt Ehre sie auch? (Klopstock, Der Eislauf) Über dieses Gedicht hat Klopstock folgendes Schema gesetzt:

— v — ο o —. — «uv---v* v —. Er wollte es also so gelesen haben: Ver I graben I ist in I ewige Nacht Der Er I finder I großer 1 Name zu oft. Was ihr Geist I grübelnd entdeckt, I nutzen wir; Aber belohnt I Ehre sie auch? Der Takt, den er als Choriambus im deutschen Gedicht bezeichnet kehrt hier am Ende des ersten und zweiten Verses, in der Mitte des dritten und zweimal im vierten Verse wieder, der also aus zwei Choriamben besteht. Klopstock hat diese Silbenverbin­ dung vor allen anderen geliebt, und nicht zu leugnen ist, daß sie im Ohr eine eigene Erinnerung hinterläßt. Sie hat, so wie er sie ver­ wendet, etwas Wuchtiges, Aufbäumendes, Quadrupedisches. Wer von Choriamben, Didymäen und Jonikern nichts wissen will, der könnte an einer solchen und anderen Strophen die kunstvolle Set­ zung einsilbiger Takte bewundern. Und er könnte sie ohne Anstoß so abteilen: 51

I | | |«-»w | —| —v | —wv» | —, -wu|-|-uw|_ Daran ist nichts auszusetzen. Die zweisilbigen und dreisilbigen Takte — Jamben, Trochäen, Dak­ tylen — beherrschen unsern Vers. Die Hebungssilbe ist zu den Senkungssilben in ein festes Verhältnis getreten. Das Ohr ist daran gewöhnt worden, zu einer Hebungssilbe eine oder zwei Senkungs­ silben hinzuzuhören und wird leicht unsicher, wenn es dieses zur Regel gewordene Verhältnis nicht vorfindet. Ein solches Hinhören, vor allem auf die zweisilbigen Takte, das nichts anderes als eine Gewöhnung an den alternierenden Vers ist, bei dem ein genauer Wechsel von Hebungssilben und Senkungssilben stattfindet, hat in der Geschichte unseres Verses vom Stabreim bis zum Knittel keine wirkliche Stütze. Weder brauchen die Takte eines Verses gleich viele Silben zu enthalten, noch ist notwendig, daß sie auf zwei­ silbige und dreisilbige Takte beschränkt bleiben. Nichts spricht gegen die Zulassung viersilbiger Takte, wie wir sie soeben erwähnten. Insofern diese zwei Hebungen haben, gewinnen sie für das Ohr leicht etwas Zusammengesetztes, das andere Auf­ teilungen ermöglicht. Takte, deren einer Hebungssilbe drei oder vier Senkungssilben zu­ geordnet sind, müssen wir zulassen. Was in den Ge I fiedern für I Goldfedern er [ glänzen. Es I fügen sich die I Blumen zu I rotgoldenen I Kränzen, Und in den I Auen des I Himmels, im I Blauen, Sind I silberne Ge I wölke zu I schauen. Wer dem widerspricht, wer in unserem Vers nur Takte mit einer oder zwei Senkungssilben zulassen will, der geht, ob er es weiß oder nicht, von der Erwägung aus, daß der Vers den Satz bis in seine kleinsten Einheiten nicht nur aufzugliedern, sondern auch 52

festzulegen hat. Der Vers, den er dabei als Muster zugrunde legt, wird ein alternierender Reimvers sein. Daß diese Vorherrschaft des Verses über den Satz ein Hauptthema der Geschichte unseres Verses ausmacht, daß die opitzsche Regel ihr bündigster Ausdruck ist, werden wir an einer späteren Stelle sehen. Über das Verhältnis von Vers und Satz werden wir bald Näheres erfahren. Ein zu enger Begriff der Takte schadet ihrer freien Aufgliederung und Verteilung über den Vers. Die Takte sind keine starren oder erstarrten Gebilde, die gleich Mosaiksteinen eingesetzt werden; sie sind in Bewegung, und sie brauchen für diese Bewegung einen Spielraum, um sich frei regen zu können. Ein Vers kann aus gleich­ artigen oder verschiedenartigen Takten bestehen. Die Zahl der Takte kann festliegen oder wechseln. Für die Anzahl der Takte im Vers gibt es nur angenommene Regeln. Ein Takt — in seiner Wiederkehr — ist zu wenig; mehr als sechs Takte können zuviel werden. Die Grenzen zeigen sich dort, wo der Vers wegen seiner Länge in Halbversen angeordnet wird. Einem Verse können nicht beliebig viele Takte zugewiesen werden, weil das Ohr dann dem Verse nicht mehr zu folgen vermag, weil er vom Ohr nicht mehr als ein wiederkehrender Abschnitt aufgefaßt wird. Die Mannigfaltigkeit der taktgleichen und im Takt wechselnden Verse ist groß. Die Typen wollen wir nicht aufzählen, denn darin liegt kein Gewinn. Wir können unterscheiden: Verse mit gleichartigen Takten mit ungleichartigen Takten mit gleicher Taktzahl mit ungleicher Taktzahl mit gleicher Taktzahl und gleichartigen Takten mit gleicher Taktzahl und ungleichartigen Takten mit ungleicher Taktzahl und gleichartigen Takten mit ungleicher Taktzahl und ungleichartigen Takten. Als regelrecht wird von den meisten ein Vers empfunden, der gleiche Taktzahl mit gleichartigen Takten vereinigt. Den Grund 53

haben wir angegeben. Als regelrecht werden solche Verse nicht aus einem unmittelbaren Gefühl für den Rhythmus betrachtet, sondern aus Erwägungen, die mit der Symmetrie des Versbaues Zusammen­ hängen. Rhythmisch gehören sie nicht zu den stärksten. Ein Gedicht ist um so regelmäßiger (symmetrischer) gebildet, je gleichförmiger seine metrischen Bestandteile nach Zahl, Art und Stellung sind. Je regelmäßiger es gebildet ist — wir wiederholen es —, desto mehr nimmt die Herrschaft des Verses über den Satz zu, desto genauer wird der Satz dem wiederkehrenden Gang des Verses unterworfen. Dagegen wird dort, wo Silbengleichheit, Taktgleichheit, Versgleichheit fallen, wo also zuletzt der Vers durch ein ihm abhörbares Gesetz nicht mehr zu bestimmen ist, der Satz den Vers beschränken. Auf diesem Wege kann weit fortgegangen werden, doch nicht so weit, daß das doppelte continuum des Gedichts aufgehoben wird. Das Nähere darüber werden wir bei den freien Rhythmen bringen.

Kola Kolon (Glied, Absatz) ist ein Begriff, der in der Grammatik, der Baukunst und an anderen Orten verwendet wird, der auch in die Metrik eingeführt worden ist. Nach den Silben und Takten zeigt sich das Kolon als eine eigene, dem Ohr vernehmliche Einheit im Vers. Kola gibt es im Satz der Prosa wie in dem mit dem Satz ver­ einigten Verse; wir müssen also die Satzkola von den Verskola unterscheiden. Verskola stehen im Einklang mit Silben und Takten. Takthaltige Verskola unterscheiden das Gedicht von den Satz­ kola e. Auf das Kolon wurde Klopstock aufmerksam, und zwar bei seiner Beschäftigung mit dem deutschen Hexameter. Nicht von ungefähr, denn in den Pausen lagen die Kolagrenzen vor ihm; der Vers war lang genug, sie herauszuheben. Er nannte das Kolon »Wortfuß«, ein Name, der sich nicht empfiehlt, weil Wörter keine metrisch rhythmischen Einheiten sind. Er zerlegte seine Hexameter in Wort54

füße, ein Unternehmen, das uns sogleich seine Absicht, den Satz zu stärken, zeigt. Das war einer der Wege, die er vom Hexameter zu den freien Rhythmen beschritt, ein Weg, auf dem sich die Identität von deutschen Hexametern und freien Rhythmen herausstellte. Seinen Wortfuß zeigte Klopstock an dem Hexameter: Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschaar den er in die vier Wortfüße: Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschaar zerlegte. An diesem Beispiel wird das Verhältnis von Kola und Takten deutlich. Innerhalb des Verses können wir das Kolon als Satz­ glied, den Takt als Versglied auffassen. Klopstock schied seine Kola (»Wortfüße«) von den Takten (»künstlichen Füßen«). Aber die Takte begründen den metrischen Rhythmus und sind durch das Kolon unverletzbar. Klopstocks Formulierung, daß sein Hexameter nicht aus sechs Versfüßen wie der griechische, sondern aus einer schwankenden Zahl von Wortfüßen bestehe, ist daher ungenau, denn die Kola stützen sich im Vers auf die Takte, sie folgen der Takthaltigkeit des Verses. Sie zerbrechen das Verhältnis von Vers und Satz nicht. Zugleich ist das Kolon den Takten übergeordnet, ihm ist die Fähigkeit gegeben, in einer für das Ohr vernehmlichen Weise die Takte zu ordnen und Taktsilben an sich zu ziehen. Ver­ nehmlich wird es, weil seine Grenzen die tonlosen Zeiten sind, die im Vers liegen. In der Strophe von Trakls Gedicht Der Spaziergang sind die Takte so abzuteilen: Die I Zeit ver I rinnt. Ο I süßer I Heli I os! Ο I Bild im I Kröten I tümpel I süß und I klar; 55

Im I Sand ver I sinkt ein I Eden I wunder I bar. Gold I ammern I wiegt ein I Busch in I seinem I Schoß. Ihre Kola, durch die gleichen Taktstriche angegeben, sind: Die Zeit verrinnt. I O süßer Helios! O Bild im I Krötentümpel I süß und klar; Im Sand versinkt I ein Eden I wunderbar. Goldammern I wiegt ein Busch I in seinem Schoß. Ein Kolon kann bis zu sechs Silben an sich ziehen. Es kann sich mit einsilbigen oder mehrsilbigen Takten decken. Es kann Silben ver­ schiedener Takte zu einer Gruppe vereinigen. Je länger der Vers ist, desto mehr Kola wird er enthalten, wobei Zahl und Art der Takte auf die Kola einwirken. Einen starken Unterschied für das Ohr macht es, ob die Kola kurz, dicht beieinander und gleich lang sich folgen oder ob sie weiträumig und ungleich stehen. Vom Vers her merken wir ein Bestreben, auch auf die Kola so einzuwirken, daß sie gleichartig wiederkehren. Von dem mit dem Vers ver­ einigten Satz wirkt das andere Bestreben, die Kola ungleichartig anzuordnen. Würden die Kola immer mit den Takten zusammen­ fallen, dann würden wir zugleich reguläre und eigentümlich starre Verse erhalten. Zu den Aufgaben der Kola gehört, daß sie in die Gleichheit der Taktfolge eine Ungleichheit einführen. An den un­ gleichen Kola wird deutlich, wie sich der metrische Rhythmus einer linearen Bewegung von gleichbleibendem Niveau widersetzt. Gleiche Kola führen in den Vers leicht etwas Mechanisches ein.

Tonlose Zeiten Tonlose Zeiten sind alle Zeiten im Gedicht, in denen nicht ge­ sprochen wird. Wir können sagen, daß das Gedicht als Ganzes von einer ungemessenen und ungeteilten tonlosen Zeit umgeben ist. Nicht von dieser außerhalb, sondern von den innerhalb des metri56

sehen Rhythmus liegenden tonlosen Zeiten sprechen wir. Sie liegen wiederkehrend in der Wiederkehr des Rhythmus; ihre Unhörbar­ keit steht in Verbindung mit allem Hörbaren. In ihnen atmet das Gedicht, leise oder heftig, wie es die Leidenschaft befiehlt. Ihrem Begriff nach sind sie Zeiten des Schweigens, und ohne sie gäbe es keine geordnete Sprache. Je mehr sie tun, desto kräftiger treten die Sprachformen für das Ohr hervor, desto deutlicher und runder werden sie. Die Deutlichkeit, der Körper des Gedichts, hängt von der Verteilung der tonlosen Zeiten in ihm ab. Das, was die Inter­ kolumnen für die Säulenordnung tun, tun sie für die Sprache. Denn das, was wortlos, tonlos, stumm im Gedicht ist, liegt in den Pausen des Sprechens. Das Gedicht entsteht an den Grenzen der Sprache. Und sein entstehender Rhythmus stützt sich auf die Wort­ losigkeit der Bewegung. Die Wiederholbarkeit des Sprechens setzt ein Sprachloses schon voraus. Die Sprache muß, um Sprache zu bleiben, immer wieder verstummen. Darum entsteht das Wortlose im Gedicht mit dem Wort zugleich. Innerhalb des metrischen Rhythmus, in dem das Gedicht fortgeht, müssen wir rechtschaffen atmen können. Vers und Satz dürfen den Atem nicht pressen, das heißt, sie müssen unserem Einatmen und Ausatmen folgen, müssen mit ihm im Zusammenhang stehen. Da aber unser Atem­ holen nicht mechanisch gleichförmig ist, wechseln die tonlosen Zeiten im Gedicht. Um genau zu sein, gehen wir von der Artikulation aus, also von den Silben. Die Sprache, so wie wir sie sprechen, ist artikuliert; indem wir sprechen, artikulieren wir sie. Die Artikulation der Silben macht ihre Bildung deutlich und schafft Raum für das Ver­ ständnis, denn der Sprechende wird um so unverständlicher, je schneller und unartikulierter er spricht. In das einzelne Wort dringt durch die Artikulation Zeit ein, und mit ihr Licht und Luft; das Wort gliedert sich. Über die Silben haben wir schon gesprochen. Wir fügen hinzu, daß sie mit dem Anlaut beginnen und mit dem Auslaut enden. Der Silbenvokal ist — die tönenden Konsonanten lassen wir beiseite — 57

der Träger des Akzents und des Iktus. Die Silben, die den Selbst­ laut wie eine Kapsel einschließen, sind die geschlossensten, ge­ schlossener als die, die mit einem Selbstlaut beginnen oder enden. Offen sind die Silben, die nur aus einenn Selbstlaut bestehen. Die Bildung der Silben und ihre Artikulation steht im Zusammenhang. Wir unterscheiden Wortsilben und Verssilben. Der metrische Rhythmus greift schon in den Bau der Wörter ein und bildet aus den Wortsilben und Satzsilben Verssilben. Würden die Takte immer aus grammatisch und logisch selbständigen Wörtern zusammen­ gesetzt sein, dann würden Verse entstehen, in denen es keine selb­ ständige metrische Silbenzusammengehörigkeit gäbe. Das ist nicht der Fall, deshalb läßt sich sagen, daß die rhythmische Ordnung des Gedichts auf einem Streit ruht, der schon die Silbenordnung be­ trifft. Dieser Streit setzt sich in dem Verhältnis von Vers und Satz fort. Die syntaktischen Abschnitte des Satzes werden durch den Vers nicht beseitigt; ihre Stellung aber unterliegt einer metrischen An­ ordnung. Der Vers, sagten wir, weist den Satz an, der Wiederkehr zu folgen, und dieser Anweisung fügt sich auch das syntaktische Gefüge des Satzes. Wenn die Grammatiker als Regel angeben, daß die Satzbestandteile im Verhältnis ihres logischen Wertes betont werden, so gilt das nicht fürs Gedicht, in dem Wortbetonung und Satzbetonung zwar bestehen, aber in einen anderen Einklang ge­ setzt sind. Die logische Ordnung des Satzes wird der rhythmischen untergeordnet. Und das ist der Grund, warum metrische und syn­ taktische Abschnitte nicht zusammenzufallen brauchen. Versrhythmus und Satzrhythmus streiten miteinander. Das wird deutlich bei den metrischen Zäsuren und ihrer Stellung im Vers, die auf die syntaktischen Abschnitte keine Rücksicht zu nehmen braucht. Ihrem Begriff nach ist die Zäsur ein Einschnitt innerhalb des Verses, ein Einschnitt, der innerhalb des Taktes oder am Schluß eines Innentaktes liegt. Die Zäsur ist männlich, wenn sie nach der Hebungssilbe, weiblich, wenn sie nach der Senkungssilbe des Taktes liegt. Haupt- und Nebenzäsuren sind zu unterscheiden. 58

Je länger ein Vers ist, desto mehr tun die Zäsuren in ihm, deshalb ist der Hexameter der Vers, an dem sich ihre Wirkungen am besten .abhören lassen. Wechselnde und festliegende (festgelegte) Zäsuren machen einen großen Unterschied im Vers. Würde man alle Zäsuren im Vers festlegen und wiederkehren lassen, dann würde der Gang solcher Verse etwas Mechanisches bekommen. Die Vorherrschaft des Verses über den Satz würde zu einem Zwang werden, bei dem der Satz seine freie Bewegung verliert. Versgrenzen liegen am Ende metrischer Reihen, am Ende von Versen und Halbversen. Sie sind, strenggenommen, keine Zäsuren, denn deren Kennzeichen ist, daß sie in eine metrische Reihe ein­ schneiden, nicht sie begrenzen und schließen. Beim Alexandriner sprechen wir daher besser von einer Versgrenze. Sie liegt der Regel nach am Ende seines ersten Halbverses und folgt nach der sechsten Silbe, Wenn also der Vers zwölf Silben und männlichen Reim hat, teilt sie ihn genau in der Mitte. Hat er weiblichen Reim und drei­ zehn Silben, dann teilt sie ihn in Halbverse von sechs und sieben Silben. Eine solche, stets an der gleichen Stelle wiederkehrende Pause hat Kraft genug, um die Bildung des Verses wie ein Schnürleib zu bestimmen. Je genauer ihre teilende Kraft ist, desto schärfer sind die Verse gegeneinander ausgewogen. Sie erlangen dadurch eine Genauigkeit, die wie das Klappern einer Mühle auf das Ohr einwirken kann. Eine solche Abteilung entspricht mehr rationalen Erwägungen als metrischen Bedürfnissen. Der Vers schneidet den Satz nach einem immer wiederkehrenden Muster zu; wir erhalten ohne Mühe ein Schema, das alle Sätze über den gleichen Leisten schlägt. Darauf lief die lange Vorherrschaft des Alexandriners hinaus. Wir haben ihn zunächst von den Franzosen, dann von den Holländern übernommen. Opitz, der den holländischen Alexandri­ ner einführte, behandelte ihn nach seiner alternierenden Regel und gab ihm einen jambischen Verhalt. Der Alexandriner wurde zu einem errechenbaren und erlernbaren Schema, um Verse zu bilden. Er gab das Mittel ab, um jeden Text zu versifizieren. Es wäre ungerecht, das Verdienst dieses Verses zu verkennen, der viel für 59

die Sprache getan hat. Wo er aber Herrschaft über sie erlangt, dort stutzt er sie wie eine Schere. Es kommt daher der Augenblick, in dem man seines Zwanges müde wird. Denn der accent fixe, wie ihn die Franzosen nennen, ermüdet, und der accent mobile kommt gegen ihn nicht auf. So sind denn auch die Franzosen seiner müde geworden, und Gide bemerkt in seiner Anthologie: »L'alexandrin ne nous interesse plus. Il a vecu; ayant ipuise ses ressources laten­ tes. Notre curiosite s'en retire; nous cherchons notre plaisance ailleurs, et ne sentons plus que ce que l'accoutumance ä son rhythme, ä ses lois, avait de factice et de convenu, de consenti. Nous ne trouvons dans Hugo (il ne nous offre) qu'une tres habile, mais monotone et vaine, amplification; il ne sait cacher que du vide sous sa trompeuse enormite.« Woran liegt es, daß die innere Versgrenze des Nibelungenverses nicht ebenso ermüdet? Am freieren Bau und der höheren rhyth­ mischen Kraft des Verses, der nicht wie der Alexandriner, wenn er auf den Endreim zueilt, leicht etwas Fortplätscherndes gewinnt. Wie steht es mit der Versgrenze im elegischen Vers? Sie kehrt in jedem geraden Vers wieder. Aber der Hexameter behält die Freiheit, wechselnde Zäsuren zu bilden. Die Kolagrenzen sind keine metrischen Zäsuren, sondern Grenzen des mit dem Vers vereinigten Satzes. Daß sie sich mit den metri­ schen Zäsuren decken können, ist zufällig. Nicht zufällig ist, daß sie sich mit ihnen schneiden. Als Satzgliederungen haben die Kola­ grenzen keine unmittelbaren metrischen Aufgaben, wie sie den Zä­ suren zufallen. In ihnen atmet der vom Vers wohlgeformte Satz.

Ethos der Rhythmen Gesagt wurde, daß der metrische Rhythmus, so wie er im Gedicht entsteht, an die entstehende Sprache gebunden ist. Das wieder­ kehrende Sichgliedern des Rhythmus ist auf die Sprache angewie­ sen. Wenn ich also Rhythmus und Rhythmizomenon voneinander .1 60

trenne, wie das der Metriker bei seiner Untersuchung des Gedichts tut, wenn ich die Einheit von Rhythmus und Sprache auf künstliche Weise aufhebe, was erhalte ich dann? Auf der einen Seite einen metrischen Rhythmus ohne Rhythmizomenon, auf der anderen ein Rhythmizomenon ohne Rhythmus. Vers und Satz sind isoliert. Hier ist zu bemerken, daß das Wort Vers in doppelter Bedeutung genommen wird. Die überkommene, in den metrischen Unter­ suchungen gebräuchliche ist die, daß es den Satz einschließt. Die Einheit von Vers und Satz wird von den Metrikern Vers genannt, woraus hervorgeht, daß sie das Gedicht vom Vers her aufgliedern. Das stiftet keine Verwirrung, denn mit dem Satz als solchem, mit dem Satz als einfachem continuum, das unabhängig vom Vers be­ steht, hat der Metriker wenig zu schaffen. Und auch nicht mit dem Vers als solchem, mit einem Vers, der unabhängig vom Satz ein­ hergeht. So gedacht, würde der Vers nichts anderes festhalten als seine eigene taktierte Bewegung. Aber der Vers ordnet sich nicht selbst, er ordnet nicht seine eigene Bewegung, sondern die des Satzes. Der Satz empfängt seine Ordnung vom Vers her, wobei er als Satz besteht. Der Ursprung der Bewegung, durch die das Gedicht entsteht, liegt nicht im Vers und nicht im Satz; er liegt in der ursprünglichen Einheit, in der beide sich zu bewegen beginnen. Das ist zunächst zu bedenken, wenn die Frage erhoben wird, ob dem metrischen Rhythmus als solchem, das heißt einem Rhythmus ohne Rhythmizomenon, ein eigenes Ethos zukommt, wobei unter Ethos alles verstanden wird, was durch die Rhythmen in Empfin­ dung umgesetzt wird. Haften Empfindungen an bestimmten Rhyth­ men? Werden sie durch einen bestimmten Rhythmus schon hervor­ gebracht, von einem Rhythmus, der unabhängig von der Sprache ist? Läßt sich also sagen, daß durch solche Rhythmen Empfindungen entstehen, die wir als feurig, heiter, wild, schwermütig, klagend, übermütig, herzhaft, lieblich, männlich, gutmütig, scherzhaft be­ zeichnen können? Sind die Takte — die Jamben, Trochäen, Dak­ tylen' — als solche schon mit Empfindungen verbunden? Ist also schon in der taktmäßigen Anordnung ein Ethos, aus dem die leiden61

schaftliche Bewegung hervorgeht? So gestellt, müssen wir die Frage verneinen. Um Täuschungen zu vermeiden, sei folgendes be­ dacht. Die Zeitmaße und Zeitmessungen, als solche, sind leer. Die Takte, insofern sie abgesondert von der Sprache genommen werden, sind solche leeren Zeitmaße und Zeitmesser, die, in eine Folge ge­ bracht, nichts anderes aussagen, als daß Verhältnisse der Zeit wahr­ genommen werden. Ihre Bewegung entfaltet sich erst in Verbin­ dung mit der Sprache. Von ihnen können wir nicht einmal sagen, ob sie schnell oder langsam sind. Denn das Schnelle und Langsame des wiederkehrenden Taktes entsteht erst durch seine Verbindung mit den Silben. Der Takt, für sich genommen, ist weder schnell noch langsam. Wenn ich seinen Verhalt bezeichne, indem ich mit dem Finger auf den Tisch klopfe, kann ich ihn so schnell oder so langsam klopfen, wie ich will; sein Tempo hängt ganz von meinem Belieben ab. Das Tempo der Bewegung hat mit dem metrischen Rhythmus nichts zu schaffen, denn auch ein Gedicht kann ich schnell oder langsam lesen, ohne daß durch wechselndes Tempo der metrische Rhythmus verändert wird. Zudem sagt das Tempo der Bewegung noch nichts über ihren Gehalt und ihr Ziel aus. Eine schnelle Bewegung kann feurig, zärtlich, anmutig sein, aber auch angstvoll, schmerzlich, erschrocken. Eine langsame kann schwer­ mütig, nachdenklich, zögernd sein, aber auch entschlossen, ruhig, fest. Das Pathos einer Bewegung oder genauer die Bewegung dieses Pathos kann langsam oder schnell sein. Ein langsames Pathos ent­ faltet sich langsam, nimmt sich, ohne bedrängt zu werden, seine Zeit und wird dadurch ruhig, mächtig, majestätisch. Schnell aber wird es durch das Feuer der Bewegung, die keinen zeitlichen Verzug duldet. Nicht das Tempo bestimmt die Empfindung, sondern die Empfindung bestimmt das ihr gemäße Tempo. Die Takte, als solche, sind unvermögend, Empfindungen hervorzurufen. Ohne Sprache sprechen sie nicht und bleiben stumm. Sie tun nicht mehr, als sie bei einem Specht tun, der mit seinem Schnabel auf Holz klopft. Sie sind, isoliert von der Sprache, zugleich isoliert von deren Harmonie und Wohllaut. 62

Weil dem so ist, deshalb können in dem rhythmischen Verhalt, in dem der daktylische Hexameter erscheint, Epen geschrieben werden wie Ilias und Odyssee; in dem gleichen Vers kann aber auch ein Froschmäuseler geschrieben werden. Heldengedichte und Burlesken können ohne Schwierigkeit in den gleichen Versen entstehen. Läge die Erhabenheit eines Gedichts in seiner reinen Taktfolge, dann wäre die gleiche Taktfolge nicht für komische Gedichte brauchbar, dann müßten für jede herrschende Empfindung bestimmte Rhyth­ men angewendet werden. Das aber ist nicht der Fall. Die Erhaben­ heit des homerischen Hexameters ist abzuhören erst aus der Ver­ einigung von Vers und Satz. Hier ist sie, und wer Ohren hat, hört sie und vernimmt vielleicht, wie der Rhythmus ruhig, mit majestä­ tischer Monotonie den Satz wiegt und wiederkehrend, wie bei einer Meeresbewegung, die Verse verrollen. Wenn aber behauptet wird, daß der Jambus, weil er steigend ist, sich von den fallenden Trochäen durch sein Ethos unterscheidet, und zwar so, daß den Jamben wegen ihres Steigens etwas Heiteres zukomme, den Trochäen aber wegen ihres Fallens etwas Trauriges, so stimmt das nicht. Schon die Erfahrung lehrt, daß heitere Gedichte auch in Trochäen, traurige in Jamben geschrieben werden können. Diese steigende und fallende Bewegung ist, abgesondert von der Sprache, etwas Gleichgültiges, so gleichgültig wie das Steigen oder Fallen eines Balles. Spricht man aber von einer jambisch (trochäisch) geordneten deutschen Sprache oder von einem jambisch (trochäisch) geordneten deutschen Vers, so widerspricht dem schon die folgende Erwägung. Wir hören mit dem Ohr heraus, daß in den jambischen oder trochäischen Versen der ihnen eigentümliche Verhalt nicht immer durch den ganzen Vers hindurchgeht. Der Vers besteht nicht nur aus jambischen oder trochäischen Takten, sondern auch aus Kola, durch deren Sonderung die steigende oder fallende Bewegung nicht durchzu­ gehen braucht. Innerhalb des Verses hört das Ohr Einheiten heraus, durch die das Steigen zum Fallen, das Fallen zum Steigen werden kann. Das heißt: »die gehörhafte Gliederung des Jambenverses ist nicht rein-steigend, die der Trochäenverse nicht rein-fallend« (Heusler). 63

Wir sprechen hier schon von einem Takt, der nicht als solcher, sondern als Silbentakt sich geltend macht. In der Stärke, Zeit und im Gewicht sind Jamben und Trochäen nicht verschieden; sie unter­ scheiden sich nur durch die Stellung der Hebungssilbe. Der Dak­ tylus als dreisilbiger Takt macht einen größeren Unterschied als beide untereinander. Wiederholt sei noch einmal, daß unsere Silben keine bestimmte Zeitdauer haben. Wir hören einem Verse ab, mit welcher Bewegung er zu lesen ist. Hat er leichte Silben, dann werden wir ihn schneller sprechen, langsamer aber, wenn er viele gewichtige (umfangreiche) Silben hat, denn die Steuerung dieser Silben durch Akzent und Iktus geschieht langsamer. Ein Hexameter, der aus leichten Silben besteht, ist leichter zu sprechen als ein anderer mit gewichtigen Silben. Die Dauer des Verses hängt von dem ab, was man seine Füllung genannt hat. Dieser Begriff entspringt wie mancher andere der begrifflichen Trennung von Rhythmus und Rhythmizomenon und ist nicht glücklich gewählt, weil er die falsche Vorstellung erweckt, daß das Rhythmizomenon in den Rhythmus eingefüllt wird. Ein Vers ist keine Pastete. Die Bewegung im Vers bestimmt der Dichter zunächst dadurch, daß er den Takten bestimmte Silbenfolgen zuweist. Er regelt im Vers die Art und Zahl der Takte zugleich mit deren Zuordnung an be­ stimmte Silbenfolgen. Sein Spielraum dabei ist groß. Wir kommen also nicht weit, wenn wir das Ethos der Rhythmen schon dort zu bestimmen versuchen, wo es von der Sprache ab­ gesondert ist. Den Skeletten eines metrischen Zeichensystems ist wenig zu entnehmen, wenn wir den dazugehörigen Text verloren haben. Die Takte, für sich genommen, gleichen Schemen, die weder Freuden noch Leiden kennen. Solche Schemen haben wir, wenn wir mit dem Gedicht beschäftigt sind, nicht vor uns. Wenn wir die künstliche Trennung von Rhythmus und Rhythmizomenon fallen lassen, bemerken wir, daß der metrische Rhythmus des Gedichts nicht etwas außerhalb der Sprache Liegendes und von außen auf sie Zukommendes ist, sondern daß er in der entstehenden Sprache ent­ steht. Zugleich damit ist das Ethos der Verse. 64

DER VERS

Selbständigkeit des Verses Den Vers stellen wir nicht unter die Gliederungen des metrischen Rhythmus, denn er ist etwas Selbständiges. Seine Selbständigkeit steht mit der Genauigkeit der Wiederkehr im Zusammenhang. Diese bestimmt sich durch die Verbindung, die Vers und Satz im Gedicht eingehen. Der Vers ist keine Größe fürs Auge, sondern fürs Ohr. Daß er zeilenmäßig abgesetzt wird, begründet ihn nicht. Jeder Prosatext läßt sich in Augenverse absetzen. Um einen Vers zu erkennen, müssen wir sein Verhältnis zu Silben, Takten und Kola prüfen und an diesem Verhältnis zu seinen Gliederungen erst ausmachen, ob wir eine metrisch-rhythmische Einheit vor uns haben oder nicht. Das ist der Fall, wenn wir eine ununterbrochene Taktfolge ihm ab­ zuhören vermögen. Kenntnis des metrischen Rhythmus ist daher die Voraussetzung der Erkenntnis des Verses. Daß ein Vers nicht als Vers erkannt wird, also auch nicht als dieser Vers gehört oder gelesen wird, kommt oft vor. Uns beschäftigt am Verse nur das, was gehört wird. Den Vers also behandeln wir als etwas Selbständiges. Er ist nicht die höchste selbständige Einheit. Werden Verse in Strophen ab­ gesetzt, dann bestimmt die Strophe den Vers, und zwar um so mehr, je mehr sie zu einer eigenen Komposition wird, innerhalb deren die ihr angehörigen Verse wechselnd und mit Rücksicht auf die strophische Wiederkehr behandelt werden. Nicht der Vers, sondern die Strophe steuert dann das genaue Gesetz der Wieder­ kehr. Die höchste metrisch-rhythmische Einheit ist, wie sich ver65

steht, das Gedicht selbst. An ihm erst sind alle Gesetze der Kom­ position abzuhören. Bevor wir auf den Vers näher eingehen, wollen wir das Verhältnis von Vers und Satz im Gedicht prüfen.

Vers und Satz Was sind Vers und Satz in ihrem Verhältnis zueinander? Und wie können wir dieses Verhältnis im Gedicht bestimmen? Der Vers könnte ein Teiler genannt werden, insofern er den Satz teilt. Aber diese Erwägung führt nicht weit, denn das Teilen geschieht im Dienst eines Bindens und Vereinigens. Gewiß ist, daß der Vers den Satz und die Satzordnung auf eine durchgehende Weise bestimmt. Der Vers bewirkt eine Bewegung, welcher sich der Satz fügt. Daher läßt sich sagen, daß in dem Verhältnis von Vers und Satz etwas Männlich-Weibliches ist. Der Vers scheint sich gegen den Satz mit männlicher Kraft zu verhalten, das heißt zeugend. Der Satz aber scheint sich gegen den Vers weiblich zu verhalten, das heißt empfangend. Dieses Verhältnis drücken die griechischen Metriker aus, wenn sie der Sprache nur die Fähigkeit zuschreiben, sich rhyth­ misch gestalten zu lassen, dem Rhythmizomenon also · nur eine passive und empfangende Fähigkeit zugestehen. Wir gehen davon aus, daß der Satz über die Verse verteilt wird. Eine solche Verteilung ist schon deshalb nötig, weil der Vers in vielen Fällen kürzer ist als der Satz, so daß auch der längste Vers nur einen Satz von mäßigem Umfang in sich aufnehmen kann. Die Macht des Verses über den kurzen Satz ist geringer als die über den langen. Aber in einem langen Vers entfaltet der Satz sich mehr. Was heißt ein langer oder zu langer Vers? Darüber gibt es keine strenge Regel, doch entscheidet das Ohr, da es nur eine ge­ wisse Zahl von Silben als Vers erkennen kann. Die Langverse, die in Halbverse geteilt sind, deuten schon eine Grenze an. Sechs Takte mit siebzehn Silben sind eine stattliche Länge, die nicht leichthin 66

überschritten werden darf, denn Verse von dreißig bis vierzig Silben sind Ungetüme. Solche Verse sind Monstra, die das Gesetz der Wiederkehr nicht mehr beachten und dem Satz eine unschickliche Vorherrschaft einräumen, denn zuletzt machen sie ihn zum Ver­ teiler der Verse. Die Folge ist, daß eine Art von mehr oder weniger rhythmisierter Prosa entsteht, vielleicht noch durch Reime zu­ sammengeleimt, um für den fehlenden metrischen Rhythmus einen Halt einzuschieben. Wie geschieht die Verteilung des Satzes durch den Vers? Sie kann auf doppelte Weise geschehen. Zunächst nach einem Verfahren, bei dem die Abschnitte des Satzes, die in sich geschlossenen Satzteile, auf die Verse so verteilt werden, daß Sätze, Satzteile und Verse gemeinsam enden. Dieses Verfahren kann ein syntaktisches genannt werden. Wir können es auch ein grammatisches oder logisches nennen, womit nicht behauptet werden soll, daß die Syntax auf der Logik beruht. Die Regel ist hier, daß Vers, Satz und Gedanke nach einem gemeinsamen Auslauf streben. Satzende und Versende fallen zusammen. Fällt das Satzende in den Vers hinein, dann geht das Bestreben dahin, den syntaktischen und den rhythmischen Ab­ schnitt zur Deckung zu bringen. Lobt doch unsre stillen Feste, Unsre Gärten, unsre Zimmer, Das bequeme Hausgeräte, Unser Hab und Gut. Täglich kommen neue Gäste, Diese früh, die andern späte, Auf den weiten Herden immer Lodert neue Lebensglut. Tausend zierliche Gefäße, Einst betaut mit tausend Tränen, Goldne Ringe, Sporen, Schwerter, Sind in unserm Schatz: Viel Kleinodien und Juwelen 67

Wissen wir in dunklen Höhlen, Keiner kann den Reichtum zählen, Zählt' er auch ohn' Unterlaß. Kinder der Vergangenheiten, Helden aus den grauen Zeiten, Der Gestirne Riesengeister, Wunderlich gesellt, Holde Frauen, ernste Meister, Kinder und verlebte Greise Sitzen hier in einem Kreise, Wohnen in der alten Welt. (Novalis, Das Lied der Toten} Was ist die Folge einer solchen Anordnung, bei der Satzteile und Verse gemeinsam enden? Sie hat etwas Faßliches, erleichtert das Verständnis und wird vom Ohr schnell aufgenommen. Metrisch aber und nur von metrischen Erwägungen bestimmt ist das Verfahren, wenn ich den Satz über die Verse verteile, ohne auf seine syntaktischen Abschnitte Rücksicht zu nehmen. Der Satz wird hier in solchen Teilen den Versen zugewiesen, denen die gramma­ tische und logische Selbständigkeit genommen ist. Satzende und Versende fallen nicht zusammen. Der Satz läuft über das Versende hinaus und wird nicht als syntaktisch geschlossenes Ganzes, son­ dern als Teil einer rhythmischen Reihe behandelt. Die Regel ist, daß Vers, Satz und Gedanke nicht nach einem gemeinsamen Aus­ lauf streben. Hier ist also ein Streit, und der lyrische Dichter nimmt ihn zunächst wahr, weil im lyrischen Gedicht dieser Streit am ent­ schiedensten ausgetragen wird, denn in ihm wird der Satz metrisch am stärksten verändert. Der syntaktische Bau der Sprache erfährt durch den Dichter eine metrische Anordnung, und diese erfolgt nicht durch ein Verfahren, welches Syntax und Metrum in Über­ einstimmung bringt, sondern durch Transpositionen des Verses, welche in die Syntax einschneiden. 68

Am purpurnen Kirschbaum, oder wenn Von dir gesandt, im Weinberg mir Die jungen Pfirsiche grünen, Und die Schwalbe fernher kommt und vieleserzählend An meinen Wänden ihr Haus baut, in Den Tagen des Mais, auch unter den Sternen Gedenk ich, o Jonia, dein! Doch Menschen Ist Gegenwärtiges lieb. Drum bin ich Gekommen euch, ihr Inseln, zu sehn, und euch, Ihr Mündungen der Ströme, Hallen der Thetis, Ihr Wälder, euch, und euch, ihr Wolken des Ida! In solchen Versen wird das Einschneiden in syntaktische Abschnitte hörbar.

Metrischer Rhythmus und Syntax Wir wollen auf diese Verhältnisse näher eingehen. In der Dichtung der meisten Völker fallen die rhythmischen und syntaktischen Ab­ schnitte des Gedichts zusammen; es endet daher auch der Gedanke dort, wo der rhythmische Abschnitt aufhört. Aber bei den Griechen war es nicht so, ja sie wichen mit Vorsatz diesem Zusammenfall aus. Den metrischen Perioden ordnen sie die syntaktischen unter. Aristoxenos bemerkt, daß es notwendig sei, Geist und Sinn des Zuhörers so zu schulen und zu gewöhnen, daß er bei einem musischen Kunstwerk gleichzeitig der Melodie, dem Takte und dem dichterischen Text folgen könne. Ein solches Verständnis setzt, da rhythmische und syntaktische Abschnitte bei den Griechen nicht zusammenfallen, ein ungemein zartes, geschultes und biegsames Ohr voraus. Ein solches Ohr aber war, auch beim Volke, vor­ handen, da es dem Vortrag äschyleischer Chorverse oder den logaödischen Strophen des Simonides und Pindar folgen konnte. Manchen Metrikern ist dieser Widerspruch zwischen rhythmischen und syntaktischen Abschnitten ein Anlaß des Erstaunens, insbe69

sondere weil rhythmische und melische Abschlüsse übereinstimmen und an dieser Übereinstimmung festgehalten wird. Westfal bemerkt in seiner Griechischen Metrik: »Was unserem rhythmischen Gefühle wohl immer fremdartig bleiben wird, ist der sich bei Pindar findende Mangel von Übereinstimmung zwischen den Abschnitten des Rhythmus und des Gedankens. Wir nennen unsere modernen Gedichte nur dann fließend, wenn möglichst häufig an das Ende eines Verses ein Satzende fällt und wenn ein aus mehreren Reihen bestehender Vers, z. B. ein trochäischer Tetrameter, auch in der Grenzscheide der beiden Reihen außer der metrischen Cäsur gleich­ sam eine Cäsur des Gedankens zeigt. Die tragischen Strophen tra­ gen dieser unserer modernen Forschung ungleich mehr Rechnung als Pindar, dem die Responsion zwischen rhythmischen und Satz­ gliedern ganz und gar gleichgültig ist und der auch die Reihen ein und desselben Verses fast niemals durch eine beabsichtigte Cäsur voneinander sondert. Nicht einmal das Ende einer Strophe fällt bei Pindar mit dem Satzende zusammen. Auch dies ist dem Pindar nicht eigentümlich; die Fragmente von Alcäus' und Sappho's Dichtungen und ihre Nachbildungen bei den Römern zeigen vielfach die näm­ liche Erscheinung. Aber nichtsdestoweniger bleibt es uns unbegreif­ lich, weshalb gerade die griechischen Lyriker, wir können sagen allein unter den Dichtern aller Völker und aller Zeiten, die Congruenz zwischen rhythmischem und Gedankenschluß gestört haben.« Warum also gleichen die Griechen nicht auch das Metrum der Syn­ tax an? Warum bilden sie die metrischen Abschnitte nicht so, daß sie mit den grammatischen und logischen zusammenfallen? Es ist kein Zweifel, daß in diesem Falle die Verse fließender, flüssiger werden, daß sie sich leichter voneinander trennen und dem Ver­ ständnis behender entgegenkommen. Solche Vorteile aber müssen hoch veranschlagt werden. Warum verschmähen die Griechen die metra apertismena? Nicht etwa aus bloßer Achtlosigkeit gegen die Syntax, nicht deshalb, weil sie »ganz und gar gleichgültig« dagegen sind. Sondern deshalb, weil der metrische Rhythmus sich gegenüber t 7°

der syntaktischen, logischen, gedanklichen Bildung des Verses selb­ ständig behauptet und wegen dieser Selbständigkeit sich nicht anr gleicht und unterordnet. Mit dem Unterschied zwischen quantitierender und akzentuierender Dichtung hat dieser Streit nichts zu schaffen. Er fehlt auch der deutschen Dichtung nicht, und seit dem Auftreten Klopstocks haben wir gelernt, was er im Gedicht be­ wirkt 7. Klopstock gab die Einheit des metrischen und syntaktischen Ab­ schnittes im Gedicht unbekümmert preis. Der Messias liefert dafür die Beispiele: Itzo hatt' er sich schon bei den äußersten Weltgebäuden Stürmisch heruntergesenkt. Unermeßliche, dämmernde Räume Thaten vor ihm wie unendlich sich auf. Die nennt er den Anfang Weiterer Reiche, die Satan durchherrscht! Hier sah er von ferne Flüchtigen Schimmer, so weit die letzten Sterne der Schöpfung Noch das unendliche Leere mit sterbendem Strahle durchirrten. Doch hier sah er die Hölle noch nicht. Die hatte die Gottheit Weit hinunter in ewige Dunkelheit eingeschlossen. (Zweiter Gesang, Ausgabe von 1799) Hier erkennen wir sogleich das Bestreben, die syntaktischen Ab­ schnitte des Satzes in den Vers hineinzuverlegen, sie von den metrischen Abschnitten fernzuhalten. Satzende und Versende mei­ den sich. Selia sprach weiter: Der dort mit langsamen Schritten Unter den Cedern heraufgeht, wer ist der? Auf seinem Gesichte Glüht die edle Begierde nach Ruhm. Da geht er, wie einer Von den Unsterblichen, welche der Nachwelt ihre Geschäfte Heiligen, und von Enkel zu Enkel unsterblicher werden. (Dritter Gesang, Ausgabe von 1748) Die Verlagerung der syntaktischen Abschnitte vom Versende hin­ weg ist hier noch deutlicher. 71

In der Ode Die Sommernacht: Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt, und Gerüche Mit den Düften von der Linde In den Kühlungen wehn; So umschatten mich Gedanken an das Grab Der Geliebten, und ich seh' in dem Walde Nur es dämmern, und es weht mir Von der Blüthe nicht her. Das Versende weicht dem Satzende überall aus; beide vereinigen sich nur am Schluß der Strophen. Die folgenden Verse aus Mahomets Gesang von Goethe halten sich in der Mitte beider Verfahren, da der syntaktische und der rhythmische Abschnitt in ihnen bald zusammenfallen, bald ausein­ andergehen. Und nun schwillt er Herrlicher: ein ganz Geschlechte Trägt den Fürsten hoch empor! Und im rollenden Triumphe Gibt er Ländern Namen, Städte Werden unter seinem Fuß. Unaufhaltsam rauscht er weiter, Läßt der Türme Flammengipfel, Marmorhäuser, eine Schöpfung Seiner Fülle, hinter sich. Zedernhäuser trägt der Atlas Auf den Riesenschultem; sausend Wehen über seinem Haupte Tausend Flaggen durch die Lüfte, Zeugen seiner Herrlichkeit. Dagegen finden wir in den Gedichten Schillers eine genaue Über­ einstimmung metrischer und syntaktischer Abschnitte. Sie ist so ab- 4 72

gemessen, daß der Eindruck rationaler Genauigkeit entsteht. Die Jugendgedichte Hölderlins, die unter dem Einfluß Schillers stehen, zeigen etwas Ähnliches. So die spätere Form des Gedichts Diotima, mit dem diese Reihe von Gedichten abschließt. Wie dein Vater und der meine, Der in heitrer Majestät Über seinem Eichenhaine Dort in lichter Höhe geht, Wie er in die Meereswogen, Wo die kühle Tiefe blaut, Steigend von des Himmels Bogen, Klar und still herunterschaut: So will ich aus Götterhöhen, Neu geweiht in schönrem Glück, Froh zu singen und zu sehen Nun zu Sterblichen zurück. In diesen alternierenden, Silbenzählenden Versen fallen die Enden der Satzabschnitte auf das Versende, metrische und syntaktische Abschnitte vereinigen sich. Die Verse haben noch den gleichen rhe­ torischen Fluß, den die Verse Schillers haben, und die Bilder ent­ sprechen dem. Lessing hat die Allegorie eine fortgesetzte Metapher genannt, und Schillers Verse haben etwas fortlaufend Metapho­ risches und deshalb Allegorisches. Wir wollen hier, bei Betrachtung des Gedichts Diotima, die folgende Überlegung aussprechen. In dem Augenblick, in dem der Dichter eine vollkommene Fertigkeit im Vers erlangt, muß er, wenn er sich als Dichter erhalten will, diese Fertigkeit aufgeben. Tut er es nicht, dann wird sein Verdienst ein versifikatorisches. Es leuchtet ein, daß für Hölderlin keine Schwie­ rigkeit mehr darin lag, solche Verse zu wiederholen. Indem er aber diese Gewandtheit erreicht, gibt er sie auf, um nie wieder zu ihr zurückzukehren. Er wendet sich jetzt von Schiller wieder zu Klop­ stock und verzichtet auch auf den Reim. Seine Bemühung gilt jetzt ausschließlich dem Auswiegen des metrischen Rhythmus im Satz. 73

Die Gedichte An den Frühling, Die Eichbäume, An den Äther sind in Hexametern, Der Wanderer ist in elegischem Versmaß geschrie­ ben. Wir sehen an seinen Hexametern, daß auf die Einheit des metrischen und syntaktischen Abschnitts bei ihnen nichts mehr an­ kommt. Die Abschnitte können zusammenfallen, aber sie tun es sehr oft nicht, ja es wird ein Wert darauf gelegt, daß sie es nicht tun. Der Widerspruch, in den sie sich setzen, wird also als Kunst­ mittel aufgesucht und verwendet. So im Gedicht An den Äther: Über dem Haupte frohlocken sie mir und es sehnt sich auch mein Herz Wunderbar zu ihnen hinauf; wie die freundliche Heimat Winkt es von oben herab und auf die Gipfel der Alpen Möcht ich wandern und rufen von da dem eilenden Adler. Die Griechen, bei denen der daktylische Hexameter aus zwei tripodischen Reihen bestand, vermeiden die Zäsur, die zwischen den Reihen liegt. Sie setzten die Zäsur, um den Eindruck ihres gleich­ förmigen Liegens in der Mitte des ersten Verses zu vermeiden, hinter die erste Länge oder die erste Kürze des dritten Taktes. Sie vermieden also einen Vers, der allzu gleichförmig gebildet, zu ge­ nau in seinen Teilen ausgewogen war. Auch in der deutschen Sprache würde ein Hexameter, dessen Zäsur nach dem dritten Takt liegt, in seiner Wiederkehr rasch Überdruß erregen, insbesondere wenn der Satzabschnitt in die Zäsur fällt. In der Behandlung des Elegeion zeigt sich in unserer Sprache das folgende. In den ungeraden Versen finden wir oft das Auseinander­ gehen metrischer und syntaktischer Abschnitte. Dagegen bringt die einschneidende distichische Natur der geraden Verse leicht den Zu­ sammenfall mit sich. Indessen ist das keineswegs eine Regel. Dich nur, dich erhält dein Licht, o Heldin! im Lichte, Und dein Dulden erhält liebend, o Gütige, dich; Und nicht einmal bist du allein; Gespielen genug sind, Wo du blühest und ruhst unter den Rosen des Jahrs; 74

Und der Vater, er selbst, durch sanftumatmende Musen Sendet die zärtlichen Wiegengesänge dir zu. (Hölderlin, Menons Klagen um Diotima) Solche Verse haben Vorzüge, denn sie nehmen dem Elegeion die Härte, die es durch die beiden einsilbigen Takte leicht erhält. Die festliegende Versgrenze wird zugleich gemildert. Vergleichen wir das schon zitierte Gedicht Diotirrta mit dem Frag­ ment I des Gedichtes An Diotima der Hellingrathschen Ausgabe, dann wird uns das veränderte Verhältnis von Vers und Satz noch deutlicher. Die ersten Verse des Fragments lauten: Komm und siehe die Freude um uns; in kühlenden Lüften Fliegen die Zweige des Hains Wie die Loken im Tanz'; und wie auf tönender Leier Ein erfreulicher Geist Spielt mit Reegen und Sonnenschein auf der Erde der Himmel; Wie in liebendem Streit Über dem Saitenspiel' ein tausendfältig Gewimmel Flüchtiger Töne sich regt, Wandelt Schatten und Licht in süßmelodischem Wechsel Über die Berge dahin. Leicht einzusehen ist, daß die antiken Verse und Strophen, wo sie in unserer Sprache verwendet werden, sich dem Zusammenfall metrischer und syntaktischer Abschnitte widersetzen, weil sie durch diesen Zusammenfall eine dem Bau der Strophe widerstrebende Gleichförmigkeit erhalten würden. Man betrachte nur die sapphische oder alkäische Strophe, insbesondere den dritten Vers in der letzteren, der den syntaktischen Abschnitt am schwersten er­ trägt. Das Adonion, das ohne syntaktischen Abschnitt übergeleitet wird, macht die sapphische Strophe graziöser und gibt ihr einen Flügel mehr. Hölderlin achtete nicht einmal mehr darauf, daß die Strophen­ abschlüsse mit den syntaktischen zusammenfielen. Er vermeidet sie mit Bedacht. 75

Mir grünten sonst die Lauben; es leuchteten Die Blumen, wie die eigenen Augen, mir; Nicht ferne war das Angesicht der Meinen und leuchtete mir und droben Und um die Wälder sah ich die Fittige Des Himmels wandern, da ich ein Jüngling war; Nun sitz ich still allein, von einer Stunde zur anderen, und Gestalten Aus Lieb und Leid der helleren Tage schafft Zur eignen Freude nun mein Gedanke sich, Und ferne lausch ich hin, ob nicht ein Freundlicher Retter vielleicht mir komme. (Der blinde Sänger) Nahe liegt, daß das Zusammenfallen metrischer und syntaktischer Abschnitte und der Endreim, vor allem in seiner Koppelung mit der Silbenzählung, in einem Zusammenhang stehen. In der Tat ist das der Fall, und ein auffallendes Beispiel dafür Hölderlins Ge­ dicht An Landauer, das einzige Reimgedicht aus seiner reimlosen Zeit, in dem wir das Zusammenfallen beachtet finden. Eine Regel läßt sich daraus nicht herleiten. Unser Stabreim, der den Endreim nicht kennt, achtet auf den Zusammenfall. Der Reimvers, der ihn ablöst, achtet auch darauf; er tut es bei Otfried und Opitz und tut es noch heute. Er braucht es aber nicht zu tun. Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. 76

Hier ist eine deutliche Sonderung von Vers und Satz, und ebenso deutlich ist, daß sie aufgesucht wird, daß auf ihr die rhythmische f Wirkung des Gedichts beruht. Ebenso deutlich ist diese Wirkung in dem Gedicht Oberon von Wilhelm Lehmann: Durch den warmen Lehm geschnitten Zieht der Weg. Inmitten Wachsen Lolch und Bibemell. Oberon ist ihn geritten, Heuschreckschnell. Oberon ist längst die Sagenzeit hinabgeglitten. Nur ein Klirren Wie von goldnen Reitgeschirren Bleibt, Wenn der Wind die Haferkömer reibt. Trochäischer Vers, ungleich in der Silbenzahl, der Taktzahl und den Kola, regelmäßig nur durch die Art der Takte. Die Taktzahl bewegt sich zwischen eins und sieben. Der einsilbige Takt ist ge­ setzt, um den Reim auszuzeichnen, sehr glücklich, denn in diesem »bleibt« ruht das ganze Gedicht. Auf den gemeinsamen Abschluß von Vers und Satz wird kein Gewicht gelegt; er wird mit Bedacht vermieden. Es ist hörbar, daß in diesem Vermeiden, in dieser über­ greifenden Bewegung das Gedicht selbst sich bewegt. Es versteckt sich dem Ohr gleichsam durch diese Bewegung und verlegt sie auf eine heimliche Weise nach innen. Doch ist nicht zu bestreiten, daß unser Reimvers bisher auf einen Abschluß hindrängte, der dem Endreim Gewicht gibt. Der Reim drängt auf ein den Vers abschließendes Moment zu. Er strebt nach einer bedeutsamen Stelle, nach einer Verbindung des Gleichklangs mit Versgrenzen, nach einer Gleichförmigkeit syntaktischer und metrischer Abschnitte, die sich dem Ohr wahrnehmbar macht. Hier sollen zunächst Stabreim und Endreim in ihrem Verhältnis zuein­ ander, sodann Reimvers und Reim untersucht werden. 77

Stabreim und Endreim Die Geschichte des deutschen Reims und Endreimverses reicht von Otfried bis in die Gegenwart. Elfhundert Jahre wird der Endreim in unserer Dichtung angewandt. Otfried schrieb sein Liber Evangeliorum (um 868) in der Absicht, dem laicorum cantus obscoenus, das heißt der in Stabreimen gesetzten Volksdichtung, etwas ent­ gegenzusetzen. Er nahm seine Reimverse aus der lateinischen Kirchendichtung. Der Reim war etwas Geistliches und zugleich Ge­ lehrtes, von einem gelehrten Mönch für Ohren geschrieben, denen er fremd klang. Wenn wir dieses Unternehmen betrachten, müssen wir uns über folgendes klar werden. Otfried, wenn er wirklich der erste war, der ein großes deutsches Gedicht in Reimen schrieb, mußte seine Reime erst herbeischaffen. Das heißt, er mußte Wörter, die bisher in keiner Verbindung standen, in eine neue, ungewohnte Verbindung, in eine Reimverbindung bringen. Das war kein leich­ tes Unternehmen. Wir müssen bis zum Anfang zurückgehen, um die durchlaufene Bahn zu erkennen. Stabreim und Endreim sind gegensätzliche For­ men; es ist ein Sprung von der Dichtung des Stabreims zu der des Endreims. Hier ist ein Riß entstanden, der nie ganz verheilte, doch um ihn wahrzunehmen, bedarf es eines Verstehens für die rhyth­ mischen Möglichkeiten unserer Sprache. Der Stabreim ist unmittel­ bar rhythmisch. Indem er auf den Haupthebungen verweilt, die den starken Stammsilben der nomina und verba zugeteilt sind, geht er zugleich nach der Betonung und wird zu einem Vortrag akzen­ tuierter Sätze. Er ruht auf den Wurzeln der Wörter. Er ist an­ lautend, nicht auslautend, ist Lautreim, nicht Silbenreim. Gleichheit und Ungleichheit des Reims sind so verteilt, daß beim Stabreim die Gleichheit vor dem Selbstlaut liegt, beim Endreim die Selbstlauter sich gleichen. Der Spielraum dieses Verses ist groß. Was uns vom Stabreim erhalten ist, zeigt, daß er in uralter Übung steht. Wir rühren nur noch an das Ende dieser Zeit, an ihren Aus­ klang. Diese Verse besitzen Mark; ein Zug großer, dynamischer 4 78

Kraft ist in ihnen wirksam. Sie sind die Reste von den Denkmälern unserer heidnischen Jugend, den Runensteinen vergleichbar. Ge­ räumig und frei ist ihr Metrum; ihm ist anzumerken, daß an Zeit und Raum kein Mangel war. Aus solchen Versen können wir Schlüsse ziehen auf das Heldenzeitalter der Völker. Es ist eine andere Luft, eine andere Witterung um sie, ein anderes Gefühl des Lebens und der Freiheit. Nicht leicht ist der Stabreim aufgegeben worden, denn der Kampf, in dem er erlag, währte Jahrhunderte. Im achten Jahrhundert weicht er in Deutschland, im zehnten in England, im dreizehnten in Skandinavien, um überall dem Endreim Platz zu machen. Was diesen Wandel bewirkt, sind geschichtliche Bewegungen, ist vor allem die Christianisierung. Die lateinische Sprache rückt vor, und in dem Kirchenlatein dieser Zeit, in den Gesängen der Kirche, in den leoninischen Versen der Mönche ist der Reim vorgebildet. Ihn deswegen etwas wesensmäßig Christliches zu nennen, geht nicht an, denn weder das Urchristentum noch die Urkirche kennen ihn. Auch haben zu seiner Verbreitung nicht nur die Geistlichen, sondern auch die Araber beigetragen, die den Reim längst besaßen. Daß er durch ihre Vermittlung ausgebreitet wird, zeigt die Reimdichtung, die überall aufblüht, wo die Araber angrenzen, in Sizilien, Kastilien, Portugal, vor allem bei den Provenzalen, deren Dichtung vorbildlich wurde. Das Romanzenwesen hat in den Kämpfen zwischen Islam und Christentum seinen Ursprung. Es ist Reiter- und Ritter­ dichtung, und mit Rittern und ritterlichen Sängern zieht es überall hin, verfeinert sich, wird höfisch und bekommt Regeln, die für die weltliche Dichtung gültig werden. Als Otfried sein Liber Evangeliorum schrieb, war von dieser Ver­ feinerung noch nichts zu merken, und sein erstes, mühsames Ge­ schäft war, eine genügende Anzahl von Reimen für seine Verse zu finden. Es kommt vor, daß er keine findet und in den Stabreim verfällt. Doch ist das selten. Er geht von seinen lateinischen Reim­ regeln aus. Welchen Eindruck seine deutschen Reime auf das im Gleichklang ungeübte und ungeschulte Ohr machten, wissen wir 79

nicht. Diese Einübung ging langsam vor sich, denn das Aufblühen der Reimdichtung, die entschiedene Fortbildung des Reims und Reimverses beginnt erst mit Heinrich von Veldeke. Drei Jahr­ hunderte wurde der Reim fast nur für gesungene geistliche Dich­ tungen gebraucht. Rime und Reim kommt von Rhythmus. Carmen rhythmicum im Unterschied zum carmen metricum nannte man ein Reimgedicht. Aber mit dem Rhythmus unmittelbar hat der Reim nichts zu schaf­ fen; unmittelbar vom Rhythmus her ist kein Weg zu ihm. Deutlich aber ist, daß der Reim auf den Rhythmus einwirkt und zurück­ wirkt, daß durch die Reimstellung Versgrenzen und Satzgrenzen bestimmt werden, daß das Gewicht des Verses sich nach dem Reim­ ende hinzieht. Das hat weitreichende Folgen für den Vers wie den Satz. Otfried sah sich also, als er seine Endreimverse schrieb, einer zwei­ ten Schwierigkeit gegenüber; er mußte nicht nur Reime, sondern auch Reimverse finden. Denn Vers und Satz des Stabreims waren für das Endreimen nicht zu gebrauchen; er mußte auf die latei­ nischen Hymnenverse und ihren Rhythmus zurückgreifen. Das ging auf Kosten des Satzes und des Satzrhythmus; der Endreim zeigt schon von Anfang an seine Neigung, den Satz abzustumpfen. Der Reimvers wirkt auf den Reimsatz so ein, daß er ihn in andere, planere Silbenreihen aufgliedert. Nicht nur der Vers, auch der Satz ordnet sich auf den Reim zu. Das klang damals fremdartig, so fremdartig, daß Otfried selbst seinem Gedicht eine Anleitung über den Vortrag und den Bau solcher Verse beigeben mußte. So fremd­ artig aber auch diese Verse waren, sie mußten sich doch an die alt­ germanische Versregel halten, das heißt die Einheit der Betonung von Wort, Satz und Vers wahren. Otfried glich sie der alten Regel auch darin an, daß er keine Regel der Silbenzählung aufstellte. Das alles ist für uns nur noch von wissenschaftlicher, gelehrter Be­ deutung. Der Ursprung des Reims selbst bleibt dunkel. Die Reime in lateinischer Sprache, die im dritten Jahrhundert aufkommen und rhythmi genannt werden, entstanden vielleicht zu dem Zwecke, 80

durch den Gleichklang ihrer Endungen das Gedächtnis zu unter­ stützen. Darauf deutet das inhaerere memoriae Augustins hin. Sie r deshalb aus dem Gleichklang der Endsilben, den homoioteleuta der antiken Rhetorik herzuleiten, geht nicht an. Der Reim kann erst dort um sich greifen, wo er als Wohllaut empfunden wird und nicht mehr als Mißklang wie bei den Griechen und Germanen. Er muß als Wohllaut empfunden werden, der zwar aus der rhyth­ mischen Bewegung der Sprachen nicht unmittelbar hervorgeht, der aber als Erinnerung sich mitteilt. Daß der Gleichklang als Wohllaut vernommen wird, ist die Voraussetzung der langen Herrschaft des Reims. Das Ohr muß sich in diesem Wohllaut zunächst einüben, ehe ?s ihn wirklich faßt. Es muß auf diesen Wohllaut lauschen, in der Erwartung auf ihn vorbereitet sein. Wie es eine Abänderung des Satzes durch metrische Umstellung gibt, so gibt es auch eine Umstellung dem Melos nach. Nimmt man den Endreim als herr­ schend im Verse an, gibt man die Stäbe preis, dann verschiebt sich das Gewicht des Verses, und zwar in einer Weise, welche die Satz­ betonung mindern, den Schlußreim stärken muß. Denn auf diesen lauscht jetzt das Ohr, auf ihn ist die Aufmerksamkeit gerichtet. Müßig ist es, eine solche Entwicklung zu bedauern und darüber nachzusinnen, was aus dem Stabreim geworden wäre, wenn er sich im ununterbrochenen Fluß der eigenen Überlieferung erhalten hätte. Der Widerspruch, der sich gegen den Endreim erhoben hat, der Kampf also gegen die Reformen von Otfried und Opitz, ist ein Versuch, unterbrochene Überlieferungen herzustellen. Das geschieht aber nicht dadurch, daß Stabreime neu gebildet werden, sei es falsch oder nach alten Mustern. Der Stabreim in seinen alten For­ men ist für uns schon deshalb unwiederholbar, weil unsere Sprache • oligoton geworden ist, weil ihre Vokalität schwächer, ihr Klang weniger reich wurde. Die Fortbildung der Sprache geschieht nur dort, wo wir sie als Sprache wirklich finden, wo wir ihrer inne werden, so wie sie ist. Klopstock hat durch sein Gedicht für die Sprache mehr getan als die Vorgänger, wenn wir Luther aus­ nehmen. Insgesamt zielt das klopstocksche Gedicht auf eine Stär81

kung des Satzes und Satzrhythmus, die dem Vers, auch dem Reim­ vers zugute kam, denn man muß sagen, daß die Dichter, die nicht durch diese große Bewegung der Sprache und des metrischen Rhyth­ mus hindurchgingen, unwirksam blieben. Klopstock hat auch, was zu wenig beachtet wird, den Satz der Prosa gestärkt. Mit dem Reim und dem Reimvers, wie er in seiner Jugend gehandhabt wurde, mußte er in Gegensatz kommen. Die spätem Sprachen haben des Klangs noch wohl; Doch auch des Silbenmaßes? Statt dessen ist In sie ein böser Geist, mit plumpem Wörtergepolter, der Reim, gefahren. (An Johann Heinrich Voß) Daß dem Reim und dem Reimvers versagt ist, Sätze und Perioden von großer rhythmischer Kraft zu bilden, ist nicht zu bestreiten. Der Widerwille Klopstocks gegen den Reim ist der eines metrisch sich bewegenden Dichters gegen den Reimtechniker, unter dessen Händen die kühnen, metrisch geordneten Perioden der Sprache zu einem wohllautenden Geklingel von Endsilben werden. Es ist, um eine lessingsche Formulierung zu gebrauchen, der Widerwille des Dichters gegen den Versifikateur. Klopstock ist in diesem Unmut zu weit gegangen. Was ihn verdroß, war die Erkenntnis, daß im Reim und Reimvers eine Versuchung liegt, den Rhythmus zu­ gunsten des Melos zurückzudrängen, eine Neigung, die er nicht billigen konnte, weil die Sprache in ihren unmittelbaren rhyth­ mischen Gliederungen die höchste Kraft erreicht. Sein Angriff richtet sich schon gegen die altdeutsche Metrik, im ganzen gegen den Zeitraum von Otfried bis Opitz, die das Endreimgedicht zu aus­ schließender Geltung erhebt. Unmittelbar trifft sein Angriff die große Schule von Opitz, das heißt den alternierenden, silbenzählenden Reimvers in seinen jambischen und trochäischen Fügungen.

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Der Reimvers r Nicht auf die Geschichte des deutschen Reims und Reimverses soll hier eingegangen werden, denn das ist die Aufgabe besonderer Untersuchungen. Gezeigt werden soll aber, wie der Reim auf den Reimvers einwirkt und welche Folgen daraus für das Gedicht ent­ stehen. Wir gehen davon aus, daß der Streit zwischen Vers und Satz und die aus ihm hervorgehende Einigung auf eine doppelte Weise entschieden werden kann. Die Lösung des Konfliktes kann durch den Vers oder durch den Satz bewirkt werden. Der Reim strebt darauf zu, die Lösung des Konflikts dem Vers zu übertragen. Die immer regelrechtere Durchbildung des Verses hat zum Ziel, den Satz ganz in die Versordnung einzubeziehen, ihn ihr zu unter­ stellen. Die Versregel entscheidet über den Satz; ihm wird die dienende Aufgabe zugewiesen. Wenn auf diesem Wege fortgegan­ gen wird, leuchtet bald ein, daß eine immer regelrechtere Ordnung des Verses wünschenswert ist. Denn je regulärer der Vers gebildet wird, desto größer wird die Macht, die er rechtmäßig dem Satz gegenüber behaupten kann; er ordnet ihn immer zuverlässiger in sich ein. Dieses Unternehmen hat etwas Sicheres und Gegründetes; es entfaltet sich von den Anfängen her zu immer wahrnehmbarerer Vollkommenheit, es muß endlich zu Gebilden führen, die durchaus regulär sind. Die Regeln des Verses werden immer tiefer und durch­ dachter wahrgenommen; nicht nur die Harmonie des Verses, auch seine Symmetrie wird gemehrt. Der Vers wird im Verlauf dieses Unternehmens nicht nur harmonischer, sondern auch symmetrischer, wobei zugleich sein Melos sich erhöht. Wir kommen also durch ein solches Verfahren zu herrlichen, klangvollen Gedichten, und diese Vollkommenheit wird schon früh erreicht, zu einer Zeit schon, in der der reguläre Vers noch nicht an das letzte Ziel seiner Vormacht gekommen ist. Die erste Blüte des Reimverses haben wir in den Minnesängern. So sicher dieses Verfahren seines Erfolges sein kann, wenn es die Regeln wirklich erkennt, nach welchen der Vers zu bilden ist, so gewiß hat es seine Grenzen. Innerhalb dieser Gren83

zen, in denen der Vers den Satz ordnet, erhebt sich das Reim­ gedicht zu hoher Vollkommenheit. Die Grenzen liegen dort, wo das Verhältnis von Vers und Satz infolge der Vorherrschaft des Verses zu einem zwangvollen und eigenmächtigen wird. Die Versregel kann für den Satz drückend werden, und sie wird es. Im Stabreim war der Satz in seinem Ver­ hältnis zum Vers sehr frei. Dort waren dem Satz Aufgaben über­ tragen worden, Lasten und auch Rechte, die ihm der Reimvers nicht einräumte. Der Satz übernahm Aufgaben, die der Reimvers jetzt an sich zog, die er in einer tausendjährigen Geschichte immer als verszugehörig betrachtete. Doch innerhalb des doppelten continuum des Gedichts strebt der Satz immer wieder darauf hin, selbständiger zu werden. Wenn diesem Streben Rechenschaft getragen wird, dann kommen wir zu anderen Gedichten als zu denen, die sich durch die Vorherrschaft des Verses bilden. Der Satzrhythmus stärkt sich dann gegenüber dem Versrhythmus. Der Umschlag wird durch Klopstock bezeichnet. Bemerkt wurde schon, daß die Wortfüße, die Klopstock entdeckte, nicht vom Versrhythmus, sondern vom Satz­ rhythmus her gedacht sind. Von ihnen aus erreichen wir satz­ rhythmische Gebilde, die nicht weniger streng sind als die versrhythmischen. Wir kommen zum deutschen Hexameter und den Oden in antiken und eigenen Strophen. Von diesen aus gelangen wir, wie wir sehen werden, zu freien Rhythmen. Gehen wir noch einmal bis zu Otfried zurück. Wir wissen, daß er seine Reime und Reimverse den lateinischen Reimgedichten seiner Zeit entnahm, den geistlichen Hymnen. Er griff, wie man gesagt hat, auf eine vulgäre Formgebung zurück, denn Reime und Reim­ verse dieser Hymnen hatten, am ausgebildeten Stabreim abgemes­ sen, etwas Plebejisches. Für sie stand nicht, wie für den Stabreim, eine lange durchdachte und ausgearbeitete metrische Theorie zur Verfügung. So roh aber die Materialien waren, die Otfried ver­ arbeitete, so wenig uns überhaupt sein Gedicht durch musische Gaben anzieht, in diesen rohen Materialien und Formen lag etwas Zukunftsträchtiges. Er selbst konnte das nicht überblicken; er war, > 84

als er theodisce zu schreiben begann, mit einer Sprache beschäf­ tigt, die er, im Verhältnis zum Lateinischen, als barbarisch empfand. .f Er war mehr ein Kleriker und Humanist als ein Dichter, aber er stand, welches immer seine Gaben waren, am Anfang einer sich entfaltenden neuen Dichtung, er stand an einem geschichtlichen Wendepunkt, und das zieht uns heute noch an seinem Gedicht an. Der Reimvers Otfrieds verbindet zwei Halbverse zu einer Lang­ zeile. Er ist nicht stichisch, sondern in Strophen gesetzt. Die Zahl der Takte im Vers ist nicht genau festgelegt, die Silbenzahl wechselt. Auftaktsilben können fehlen oder vorhanden sein; mehrsilbige Senkungen kommen vor, die Senkungssilbe kann fehlen. Die Reime können männlich oder weiblich sein. Weder für den Reim noch für den Reimvers ist die Regel genau oder gar peinlich. Wir kommen also, um ein Beispiel zu geben, von dem Merseburger Zauberspruch: Phol ende Wuodan I vuorun zi holza. du wart demo balderes volon 1 sin vuoz birenkit. du biguolen Sinthgunt I Sunna era suister, du biguolen Friia I Volla era suister, du biguolen Wuodan I so he wola conda. zu der folgenden, von Otfried mehrfach als Refrain verwandten Strophe: so was er io mit imo sar I mit imo woraht er iz thar so was ses io gidatun I sie iz allaz saman rietun Darin liegt der Übergang von einer satzrhythmischen zur versrhythmischen Bewegung. Was solche Verse zunächst und unver­ kennbar für das Ohr unterscheidet, ist der Verhalt und das Ziel ihrer Bewegung. Wenn wir den althochdeutschen, in Strophen gesetzten und gesun­ genen Reimvers mit mittelhochdeutschen Reimversen und Strophen 85

vergleichen, fällt zunächst die genauere und reinere Behandlung des Reims auf, verbunden mit dem Reichtum an Reimen und Reim­ stellungen. Wir sehen daran sowohl die hohe Bewertung des Reims wie die Durchbildung des Reimverses. Der Reim beginnt stärker auf den Reimvers einzuwirken, wozu das Kreuzen und Paaren der Reime, die Reimstellung also, beiträgt. Die mehrsilbigen Auftakte, die einsilbigen Takte, die mehrsilbigen Senkungen wer­ den gemindert. In den lyrischen, gesungenen Strophen sind die Regeln wahrnehmbarer als in den epischen, für den Vortrag be­ stimmten. Denn die lyrische Strophe, die an die Wiederkehr der Melodie gebunden ist, hat ein genaueres Schema als die epische. Die bekannteste der epischen Strophen ist die Nibelungenstrophe: Der stein der was gevallen I wol zwelef kläfter dan: den wurf brach mit Sprunge I diu maget wol getan, dar gie der herre Sxfrit I da der stein gelac: Günther in do wegete, I der held in werfennes pflac. Sifrit was küene, I vil kreftec unde lang, den stein den warf er verrer, I dar zuo er witer spranc. von sinen schoenen listen I er hete kraft genuoc daz er mit dem Sprunge I den künic Gunthere truoc. Der sprunc der was ergangen, I der stein der was gelegen, do sach man ander niemen I wan Günther den degen. Prünhilt diu schoene I wart in zorne rot: Sifrit het geverret I des künic Guntheres tot. Ein solcher Vers hat nicht die dynamische Bewegung des Stabreims, aber er ist geräumig und bewegt sich in einem reich zugemessenen Spielraum. Der Reim tritt an das Ende der Langzeilen und ist überwiegend männlich, am Ende des ersten Halbverses überwiegend weiblich. Die ersten Halbverse haben in der Regel vier Hebungen, aber auch drei, welches Verhältnis sich in den zweiten Halbversen umkehrt. Die Handschriften zeigen, daß auch der achte Halbvers / 86

der Strophe schon auf drei Hebungen gekürzt wird. Hin und wieder findet sich schon der Reim am Ende des ersten Halbverses. Die , Fortbildung des Verses und der Strophe zeigt zugleich, in welcher Richtung sie fortgebildet wird. Sie wird so entwickelt, daß der Reim der inneren Versgrenze durchgebildet wird und der achte Halbvers durch drei Hebungen den anderen angeglichen wird. Der Reim wirkt stärker auf die Strophe ein, und wir erhalten die Hilde­ brandstrophe oder den Hildebrandston. Trennen wir nun die ge­ reimten Halbverse, dann erhalten wir acht kürzere Verse, die jeder drei Hebungen haben und durch gekreuzten Reim verbunden sind. Verfolgen wir diese Entwicklung weiter, so kommen wir zu Ge­ dichten wie ln einem kühlen Grunde oder Am Brunnen vor dem Tore. Wir wiederholen, daß der Reim stark auf den Vers einwirkt und zurückwirkt. Indem der Reim ausschließlich Geltung erlangt, drängt er den Vers auf einen bestimmten Verhalt zu. Dieser ist mannig­ faltig, aber in seiner Mannigfaltigkeit durch das Streben gekenn­ zeichnet, Vers und Satz in ein immer regelmäßigeres Verhältnis zu bringen. Indem der Endreim auf seinen Reimvers einwirkt, er­ höht er die Symmetrie der Bewegung auf Kosten des Rhythmus. Dazu dienen verschiedene Mittel. Werden die Silben gezählt, wird gleiche Silbenzahl und gleiche Taktzahl im Vers vereinbart, wird ein fester Wechsel von Hebungssilben und Senkungssilben be­ stimmt, der Silbe um Silbe wahrgenommen wird, also alterniert, werden endlich die Kola gleichförmig gebildet, vielleicht gar im Zusammenfall mit Takten, dann muß der Vers an Symmetrie ge­ winnen, was er an rhythmischer Bewegung verliert. Wenn dieses Verfahren sich den Grenzen des Erreichbaren nähert, wenn es sich dann gesetzmäßig befestigt und, alles andere ausschließend, sich als die gesetzmäßige Theorie erklärt, dann erreicht es seinen Gipfel, und dieser Gipfel ist in unserer Dichtung die opitzsche Versform. Als Muster, an dem alle diese Regeln abzulesen sind, haben wir dann das folgende opitzsche Gedicht vor uns:

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Ode • Ich empfinde fast ein Grawen Daß ich I Plato I fuer und fuer Bin gesessen über dir; Es ist Zeit hinaus zu schawen I Und sich bei den frischen Quellen In dem gruenen zu ergehn I Wo die schoenen Blumen stehn I Und die Fischer Netze stellen. Worzu dienet das studieren Als zu lauter Ungemach? Unter dessen laufft die Bach I Unsers Lebens das wir fuehren I Ehe wir es inne werden I Auff ihr letztes Ende hin Dann koempt ohne Geist und Sinn Dieses alles in die Erden. Hola I Junger I geh' und frage Wo der beste Trunck mag seyn I Nimb den Krug I und fuelle Wein. Alles Trawren I Leid und Klage Wie wir Menschen taeglich haben Eh uns Clotho fort gerafft Will ich in den sueßen Safft Den die Traube giebt vergraben. Kaufte gleichfalls auch Melonen I Und vergieß des Zuckers nicht; Schawe nur daß nichts gebricht. Jener mag den Heller schonen I Der bey seinem Gold und Schaetzen Tolle sich zu krencken pflegt I 88

Und nicht satt zu Bette legt; Ich wil weil ich kann mich letzen. Bitte meine guten Brueder Auf die Music und ein Glaß: Nichts schickt I duenckt mich I nicht sich baß I Als gut Tranck und gute Lieder. Laß' ich gleich nicht viel zu erben I Ey so hab' ich edlen Wein; Wil mit andern lustig seyn. Muß ich gleich alleine sterben. Das ist, vom Vers her gesehen, ein Silbe für Silbe durchgeführtes trochäisches Alternieren. Und damit verbindet sich, daß die Silben, Takte, Kola durch den Vers gleichförmig behandelt werden, daß alle rhythmischen Gliederungen sich angleichen. Opitz zeigte seine Regel mit vollkommener Bestimmtheit, indem er das Regelrechte am Vers auf einen Nenner brachte. Carmen fit vel Iambicum vel Trochaicum war schon ein Satz von Clajus gewesen. Aber die Vor­ gänger von Opitz waren über die Regeln des deutschen Verses im unklaren; ihre Theorie selbst war dunkel. Was Opitz über seine Vorgänger hebt, ist zunächst seine Einsicht, daß wir mit den Silben­ quantitäten der Griechen und Lateiner nichts zu schaffen haben, daß wir vielmehr, wie er in seinem Buch von der deutschen Poeterey schreibt, »aus den accenten und dem thone erkennen, welche sylbe hoch und welche niedrig gesetzt soll werden«. Indem er nun den Verhalt der Jamben und Trochäen angibt und zeigt, welche Silben bei ihnen hoch und niedrig sind, rückt er die in Ver­ fall geratene Einheit der Prosodie in Dichtung und Prosa zurecht. Nach seiner Regel ließen sich regelrechte Verse bilden, und das erklärt die Begeisterung, die sein Auftreten hervorrief. Er war nicht der unsterbliche Boberschwan, nicht Teutonici carminis princeps, aber er war der Reformator des deutschen Reimverses, und als solcher Magnus Opitius. Er bleibt es, auch wenn man ihm vor­ wirft, daß er nichts Neues schuf und den romanischen Vers zur 89

Geltung brachte. Daß seine Regel einen sehr engen Bereich des deutschen Verses umfaßte, machte sie nur wirksamer; sie drang sofort siegreich durch, und ihr entzog sich nichts, nicht die geist­ liche, nicht die weltliche Dichtung. Sie herrschte bis Gottsched fast unumschränkt, und sie hat bis in unsere Tage ihren Bereich be­ halten. Wir schreiten auf und ab im reichen flitter Des buchenganges beinah bis zum tore Und sehen außen in dem feld vom gitter Den mandelbaum zum zweitenmal im flore. Wir suchen nach den schattenfreien bänken Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten. In träumen unsre arme sich verschränken. Wir laben uns am langen milden leuchten Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen Von Wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen Und blicken nur und horchen wenn in pausen Die reifen früchte an den boden klopfen. (Stefan George, Nach der Lese) Der alternierende jambische Vers, der von den Silben bis in die Kola hinein nach Gleichförmigkeit, nach Versgleichheit strebt. In solchen Gedichten ist Stefan George der genaueste Schüler und Nachfolger von Opitz. Ein solcher regulärer Vers hat eben wegen des Maßes an Symmetrie, das er erreicht, keine starke metrische Bewegung. Das zeigt sich insbesondere in dem parallelen Auslauf von Vers und Satz, durch welchen Auslauf die Verschränkung, das Überschreiten (Enjambement) vermieden wird. Wir wollen hier daran erinnern, daß das Enjambement früher in der französischen Poetik streng verpönt war, daß sie also den Abschluß des Satzes und Gedankens am Ende des Verses forderte und in der Mitte ver­ bot. Daß Verse wie die von George nicht aus einer unmittelbar rhythmischen Bewegung hervorgehen, daß sie eine durch die Be- x 90

trachtung, die Reflexion hindurchgegangene wiedergeben, hängt weniger mit dem fehlenden Enjambement zusammen als mit der f Gleichförmigkeit aller metrischen Gliederungen. Der gleiche alternierende Fünftakter: In Büschen, die wie große Feuer brennen, Im Mittagswinde der verlassenen Heiden, Liegen sie lauschend mit den offnen Leiden, Ob nicht der Sturm in ihre Ohren renne, Der dort die Wälder jagt und dort die stummen Felder macht brausen und die Vögel schreien; Doch ihrer Ohren Tor ist zu und bleien Und unten nur ein Fluten dumpf und Summen. Und ihre Seelen wollen sich empören, Es steigt in ihrem Blut wie große Meere, Darüber weißen Gänsen gleich ins Leere Die Schiffe jagen, die die Stürme hören. (Georg Heym, Die Tauben) Der gleiche Vers, doch ist ein Unterschied da. Der Vers erreicht weder die Regularität des vorigen Beispiels, noch erstrebt er sie. Takte und Kola sind anders behandelt, ungleicher. Der jambische Gang des Verses wird zweimal in den Versanfängen unterbrochen. Das fehlende Enjambement ist kein Gesetz mehr. »Bleien« statt »bleiern«, um den Reim zu gewinnen, ist falsch. Der Vers ist in Bewegung. Hier sei angemerkt, daß wir einen Silbenzählenden Vers als solchen nicht kennen. Nicht die Silbenzahl, sondern der Einklang von Akzent und Iktus in seiner Wiederkehr bestimmt unsern Vers. Doch versteht sich der Unterschied, den frei wechselnde oder festliegende Silbenzahl macht. Liegt sie fest, wie bei vielen alternierenden Ge­ dichten, aber auch bei den Strophen in antiken Metren, dann ist das Gesetz des Verses aus ihm selbst abhörbar. Dann kehren silben91

gleiche Verse in unmittelbarer Folge oder an einer festliegenden Stelle der Strophe wieder. Wir müssen Silbengleichheit und Versgleichheit unterscheiden. Silbengleichheit besagt, daß die Silben­ zahl eines Verses denen anderer Verse gleich ist. Versgleichheit heißt, daß ein Vers anderen sowohl in der Zahl der Silben wie in der Zahl und Stellung der Takte gleich ist. Versgleichheit schließt also die Silbengleichheit ein. Gleichheit heißt in allen Fällen metrisch-rhythmische Gleichheit, nicht Wortgleichheit, wie sie bei einem Refrain vorkommt. Erstreckt sich die Gleichheit auf Silben, Takte und Kola, dann vermag der Vers ein Äußerstes an Gleichheit zu erreichen. Darauf strebt das opitzsche Gedicht hin. Daß die Regel eng war, daß sie lästig und drückend wurde, liegt in ihrer Ausschließlichkeit, in dem Anspruch auf uneingeschränkte Geltung, den sie erhob. Das mußte bald zu Angriffen führen. Zunächst mußte auffallen, daß in diese jambisch-trochäischen Silbenfolgen viele deutsche Wörter sich nur widerwillig oder gar nicht fügen wollten, daß sie also von den Dichtern vermieden und vom Vers ausgeschlossen wurden. Damit waren zugleich alle Verse ausgeschlossen, in die solche Wörter mühelos eingingen. Opitz selbst hatte sich darüber schon Gedanken gemacht. Die Gefahr war, daß die Sprache viele ihrer kräftigsten Wörter verlor und dabei verarmte. Die meisten An­ griffe kommen aus dieser Richtung. Schon Weckherlin schrieb, daß die alternierenden Reimverse den Engländern und Holländern bequemer seien. Er billigte zwar die opitzsche Regel, wünschte aber vom Dichter, daß er dadurch die Sprache nicht schwer und unan­ genehm mache, »viel weniger auch viel schöne und insonderheit die vielsyllabige und zusammen vereinigte Wort von einander abschaide oder jämmerlich zusamen quetsche oder gar verbanne«. Büchner, der auf das Volkslied und die Knittel achtete, ließ die Daktylen wieder zu und brach damit schon zu Lebzeiten von Opitz in dessen Regel ein. Die Angriffe mehrten sich und mußten endlich durchdringen, weil sie durch die Sprache begründet wurden. Ihnen gegenüber verfing nicht, daß man die neue Versregel als voll92

kommenen Abbruch gegen die alten deutschen Versiegeln ansah und die jambischen und trochäischen Verse als genus summum, als die Krone aller Verse anpries. Wir hören Weckherlins Bedenken noch aus dem Munde Platens, wenn er sagt: »Nicht die Form der Nibelungen ist roh, sondern unsre deutsche Metrik ist es, da wir, an das monotone Geklapper von Jamben und Trochäen gewöhnt, beinahe den Sinn für eigentlichen Rhythmus verloren haben. Hier­ durch ist es so weit gekommen, daß wir, was den Reim betrifft, alle unsere spondäischen und antibacchischen Reime, die in den Nibelungen oft von der schönsten Wirkung sind, d. h. fast ein Drittel unsres Sprachschatzes, vom Reim selbst ausgeschlossen haben, und daß wir, was die Prosodie anlangt, für unsre anapästischen, daktylischen, spondäischen und antibacchischen Worte und Wortzusammensetzungen beinahe gar keinen Platz mehr haben, da sich unsere ganze Metrik in einem beständigen Lang-Kurz oder Kurz-Lang fortbewegt.« Sehen wir von den falschen Formeln ab, in die sich dieser Vorwurf kleidet, so haben wir wieder den Haupt­ einwand gegen den opitzschen Vers, und zwar vorgebracht lange nach Klopstock, erkennen also, wie drückend auch damals noch die opitzsche Regel war. Sie schloß nicht nur Silbenfolgen und damit Wörter aus, die sich dem Jambus und Trochäus nicht fügen, son­ dern jeden metrischen Rhythmus, der nicht in die jambischtrochäische Gliederung einging. Opitz ist in unserer Dichtung ein mächtiger Mann. Wenn heute jemand, unberührt von aller Theorie des Verses und in Unkenntnis aller Regeln, ein Gedicht aufzeichnet, dann wird dieses Gedicht nicht in Stabreimen, Nibelungenversen oder Knitteln geschrieben sein, sondern in Reimversen opitzscher Prägung, das heißt der Dichter wird seine Silben und Takte in acht nehmen und versuchen, einen möglichst regelrechten alternierenden Vers zu bilden. Er hat zwar weder den Aristarchus noch das Buch von der deutschen Poeterey gelesen, aber er folgt wie von selbst ihren Anweisungen. So dauern die versus Opitiani, ungeachtet aller Angriffe, bis in die Gegenwart siegreich fort. Wer vermöchte zu leugnen, daß nach diesen An93

Weisungen treffliche Gedichte geschrieben worden sind, nicht nur gelehrte, sondern auch solche, die überall gesprochen und gesungen werden. Das spricht für sie. Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß mit Hilfe dieser Regel eine Unzahl glatter und fertiger Verse entstanden sind und noch entstehen. Das spricht nicht gegen sie, sondern gegen die Verfertiger dieser Verse. Die Gegner von Opitz, die gleich ihm am Reimvers festhielten, übersahen, daß die opitzsche Regel ein Äußerstes ist, auf das der Reimvers zustrebt. Durch diese Regel wird ein Verhältnis von Vers und Satz ge­ schaffen, bei dem der Vers den Satz ganz und gar bestimmt. Der Versrhythmus tritt so stark hervor, daß der Satzrhythmus weichen muß. Das oft beklagte Sieben der Silbenfolgen, Wörter und Wort­ verbindungen entspringt schon ganz unbewußt dem Streben, den Versrhythmus immer regelrechter zu machen. Über alle diese Ver­ hältnisse aber war erst Klarheit zu schaffen, als der Reim preis­ gegeben wurde und Gedichte entstanden, die den Satzrhythmus begünstigten. Der Reim

Auch der Reim folgt der Wiederkehr. Nicht einer unmittelbar rhythmischen, harmonischen, sondern einer melodischen. Denn der Gleichklang kehrt wieder, ein beschränkter Gleichklang, der sich um den Silbenvokal gruppiert und den Mitlaut des Silbenanfangs wechseln läßt. Wenn wir den Reim von Otfried über Heinrich von Veldeke bis zu Opitz und von Opitz bis in die Gegenwart verfolgen, dann können wir folgendes feststellen. Die Anforderungen, die an den Reim gestellt werden, wachsen, das heißt sie werden enger gestellt. Die Schwierigkeiten für Otfried lagen noch im Finden der Reime. Der Reim ist weder rein noch genau; das Reimen von End­ silben macht dem Ohr keine Unlust. Mit Heinrich von Veldeke kommt der Endsilbenreim in Wegfall; auf unbetonte Endsilben wird nicht mehr gereimt. An die Stelle der Reimarmut tritt ein Reimreichtum. Opitz fordert vollkommene Reinheit und Genauig94

keit des Reims, und diese Forderungen beschränken den Reim. Häufung der Regeln für den Reim beschränkt die Zahl der mög­ lichen Reime und häuft zugleich die abgenutzten. Das Ohr wird empfindlicher und mißtrauischer gegen gewisse Reimarten und Reimstellungen. Das Vergnügen, welches das Ohr am Reim hat, auf der anderen Seite die Schwierigkeit, eine genügende Zahl guter Reime zu finden, haben dem Reim oft eine sehr milde Kritik verschafft. So in den Versen von Butler im Hudibras: But those that write in rhyme still make The one verse for the other's sake; For one for sense and one for rhyme I think sufficient for a time. Von Butler ist auch der folgende Vers über den Reim: For rhyme the rudder is of verses, With which, like ships they steer their courses. Das sind mäßige Anforderungen, mit denen niemand sich mehr zufrieden gibt. Klopstocks Unternehmen, den Reim aus der deutschen Dichtung hinauszuwerfen, mißlang; die Leidenschaft, mit der er ihn angriff, blieb aber nicht ohne Folgen. Den Franzosen kam ein solches Unter­ nehmen noch nicht ernstlich in den Sinn. Sie fanden heraus, daß reimlose Verse in ihrer Sprache sich von der Prosa nicht oder nicht genug unterschieden und daß mit dem Fortfall des Reims auch der Vers in Verwirrung geriet. Ρέηείοη war dieser Ansicht. Der Reim befriedigte ihnen auch ein logisches Bedürfnis; man erkennt das an dem Ausspruch von Voltaire: »Les Italiens et les Anglais peuvent se passer de rime, parce que leur langue a des inversions et leur poesie mille libertes qui nous manquent. Chaque langue a son genie; le genie de notre langue est la clarte et l'äldgance: nous ne permettons nulle licence ä notre po£sie, qui doit marcher comme 95

notre prose dans 1'ordre precis de nos idees. Nous n'avons donc un besoin essentiel du retour des memes sons pour que notre poesie ne soit pas confondu avec la Prose.« Voltaire war der Ansicht von Fenelon und erklärte den Reim als notwendig für den französischen Vers: »Nos syllabes ne peuvent produire une harmonie sensible par leurs mesures Iongues ou breves; la rime est donc necessaire aux vers fran^ois.« Der franzö­ sische Vers gehorcht der Einheit von Betonung und Hebung nicht in der gleichen Weise wie der deutsche; das begründet schon einen Unterschied in der Bewertung des Reims. Der Mangel der Silben an harmonie sensible, der Mangel der französischen Sprache an Inver­ sionen, den Voltaire vermerkt, muß dem Reim zugute kommen, denn ihre Sätze fügen sich schwerer der metrischen Umstellung. Wo der Reim herrscht, dort dringt er auf die logische Gliederung von Vers und Satz. Die Forderungen von Fenelon und Voltaire sind verständlich; auch hängt mit ihnen zusammen, was Gide in der Vorrede seiner Anthologie der französischen Dichtung vorwirft: »La deficience du vrai lyrisme et son remplacement par la rhetorique oratoire.« Dennoch haben Fenelon und Voltaire recht. Denn selbst die langen Reimverse von Claudel, die gar kein Ende nehmen und überfüllten Schachteln gleichen, sind den Versuchen vorzu­ ziehen, in denen die französischen Dichter den Reim preisgeben. Sie erhöhen damit nicht die Kraft ihrer Sprache, sondern nähern den Vers der Prosa an, womit nichts gewonnen ist. Von der Fremdartigkeit des Reims bis zur vollkommenen Ver­ trautheit des Ohrs mit ihm ist, wie schon bemerkt wurde, ein langer Weg. Diese Vertrautheit haben wir erworben, denn für viele ist ein Gedicht ohne Reime gar kein Gedicht. Viele vermögen gar keinen Unterschied zwischen Reim und Vers zu machen, das heißt der Reim ist ihnen das Gedicht selbst. In dieser Vertrautheit aber ist unser Ohr zugleich zart, empfindlich und verletzlich geworden, und diese Empfindlichkeit bringt mit sich, daß der Reim einer steigenden Zahl von einschränkenden Regeln unterliegt. Unser Ohr ist emp­ findlich gegen 96

Endsilbenreime unreine Reime rührende Reime reiche Reime abgenutzte Reime an den Haaren herbeigezogene Reime Reimspiele Reimhäufungen Zwischenreime Schlagreime übergehende Reime Kettenreime Anfangsreime Binnenreime gebrochene Reime erweiterte Reime gegen jede spürbare Reimtechnik. Dieses Verzeichnis ist nicht vollständig. Wir dürfen zunächst als Regel bei allen Reimen annehmen, daß sie sich nicht suchen, sondern finden sollen. Das heißt, dem Reim darf nicht anzumerken sein, daß er um des Reims willen, um seiner selbst willen da ist. Diese Bedingung ist merkwürdig, und mit ihr hängt zusammen, daß alles, was mühsam, erzwungen, an den Haaren herbeigezogen ist, an den Reimen Unlust erweckt. Man darf zu einem Reim nicht sagen: reim dich oder ich freß dich. Der Reim beginnt Unlust zu erwecken, wenn er zu künstlich gebildet ist, wenn auf seine Bildung zuviel Nachdenken, Fleiß und Aufmerksamkeit verwendet wird. Zu den Reimworten, die etwas Gesuchtes haben, gehören alle, an deren Bildung und Stellung erkenntlich ist, daß sie allein dem Reim ihre Anwendung verdanken, so die fremdartigen, ungebräuchlichen und sehr seltenen. Wiederum schreckt das Ohr vor der Anwendung der abgenutzten und abgeschliffenen Reimpaare zurück; es hört den Partner immer schon im voraus herbeieilen und findet sich alles 97

Vergnügens am Unvorhergesehenen und an der Überraschung beraubt. Der Augenblick der Überraschung gibt dem Reim einen Reiz mehr. Gleichklang ist die Bestimmung des Reims. Das heißt, er wieder­ holt das Gleiche im Ungleichen, er folgt dem Gesetz der Wiederkehr. Das Ohr soll erinnert werden. Gute Reime gleichen den Glocken und füllen mit ihrem Klang nicht nur ihre Stelle, sondern das ganze Gedicht. Die Selbstlaute kehren wieder, denn auf sie wird gereimt. Zwei Forderungen muß der Reim erfüllen, die an der Wiederkehr haften und doch über den einzelnen Gleichklang hinausgehen: Homophonie und Vokalität. Das Ohr lauscht auf die Homopho­ nien und verwirft schon deshalb die unreinen Reime, welche den homophonen Klang stören. Warum aber hört es nicht gern die rührenden, identischen Reime, bei denen die Homophonie voll­ kommen ist? Weil diese einem Liebenden gleichen, der nicht die Geliebte, sondern sich selbst umarmt. Sich zu finden, sich zu binden und zu kreuzen, ist die Aufgabe der Reime; ihr Gang zueinander setzt aber eine Trennung, eine Abwesenheit und Verschiedenheit voraus, die überwunden werden muß. Die Reimpaare, die Kreu­ zungen und Bindungen geben den Weg an, die Länge des Weges und die Hindernisse, die überwunden werden müssen. Warum aber trägt der Endreim den Sieg über die Mittelreime und Binnenreime davon? Weil er allein das volle Gefühl der wirklichen, gelungenen Vereinigung gibt. Wird der Reim als Gelenk aufgefaßt, dann läßt sich seine Aufgabe danach abmessen, wie er das Gedicht gliedert. Er steht in einem Verhältnis zu der Last, die er zu tragen hat. Er darf nicht starr und auch nicht zu leicht und zu dünn werden. Gut ist immer, wenn er auf Silben von Bedeutung, auf Wörtern von Bedeutung ruht, denn das kräftigt ihn selbst. Liegt er auf Partikeln, auf geringen Wortarten, dann wird ihm Kraft entzogen. Der Endreim reicht für sich allein nicht hin, dem Vers Wohllaut zu geben. Wörter sind keine Zeichen, und indem wir sie gebrauchen, nehmen wir sie so, daß die Benennung und das Benannte eins sind. 98

Die Sprache ist ein beständiges Namengeben. Sie ist für das Ohr; daher die Homophonie, daher das Gleichklingende in den Namen, daher die erinnerte Wiederkehr der Bewegung, die das Vertraute wieder herbeiruft. So wird die mannigfaltige Bewegung des Wassers in der Sprache eingefangen, die homophone Bewegung ruft die Wasserbewegung im Ohre wieder wach, bringt sie in Erinnerung. Die onomatopoetische Erinnerung verbindet Klang und Bewegung. Das Rieseln, Rinnen, Rauschen und Säuseln ist den Wassern und den Winden abgelauscht. Hier ist überall eine Nachahmung, die mit Mitteln der Sprache unternommen wird. Was einer solchen Nachahmung wert ist, muß untersucht werden8. Vor der rohen Nachahmung, welche die Sprache nur mit Lärm und mit Mißklängen anfüllt, muß der Dichter sich hüten. Schiller hatte in seiner Kritik an Bürgers Gedichten recht, wenn er dessen Hopp hopp hopp und Huhu unleidlich fand. Die Sprache ist nicht dazu da, um mecha­ nische Geräusche oder Tierstimmen nachzubilden, sei es auch das süßeste Gezwitscher der Nachtigall. Mit den Interjektionen muß sparsam umgegangen werden. Die allzu getreue Nachahmung hat etwas Widriges, Geistloses. Das Ohr muß auf andere Weise an­ gerufen werden, die Erinnerung muß geistiger wiederkehren. Wir verbitten uns auch Symphonien, die den Lärm menschlicher Arbeit erhöhen und ganze Sägewerke oder Schmiedeessen kopieren. Wir müssen die Gesetze der Homophonie tiefer fassen. Dort, wo sie nicht ist, weil das Ding stumm ist, das benannt wird, schafft das Ohr etwas Entsprechendes. Die Wiedergabe von Klang und Be­ wegung durch ein nachahmendes Wort ist etwas Vereinzeltes. Das Gedicht vermag phonetische Sätze und Figuren zu schaffen, eine geistige Wiederkehr. Nicht nur Laut, Silbe und Wort, auch der Satz und die Satzfolge, die sich mit dem Vers vereinigt, vermögen Homophonien wiederzugeben. Würden sie fehlen, dann wäre der Sprache Abbruch getan. In ihnen beginnt die Sprache zu tönen und zu klingen wie ein Instrument, und wie mit Glockenschlägen wird unsere Erinnerung immer wieder bestürmt und angerufen. Das Kalte, Klanglose, Unzusammenhängende der Reime kommt oft vom 99

Fehlen der Homophonien. Das Gesetz der Wiederkehr zeigt sich in ihnen, denn wo nichts wiederkehrt, da haftet auch nichts. Die Be­ wegung der Vokale, welche die melodische Bewegung ist, muß dem folgen. Worauf beruht die Schönheit der folgenden Strophe? Wie still ists nicht an jener grauen Mauer, Wo drüber her ein Baum mit Früchten hängt; Mit schwarzen tauigen, und Laub voll Trauer, Die Früchte aber sind sehr schön gedrängt. (Hölderlin, Der Kirchhof) Der Endreim allein schafft diesen Wohllaut nicht, der durch homo­ phone Bezeichnungen, durch melodische Vokalfolge und Vokal­ wiederkehr gestiftet wird. Die konsonantische Bewegung ist der Vokalität untergeordnet, und das ist, weil der vokalische Wohl­ laut ruht, ein Verhältnis, bei dem Schweigen und Frieden zu­ nehmen. Die Bilder bekommen etwas Ruhendes. Ein gleiches läßt sich von der folgenden Strophe, besonders von ihrer zweiten Hälfte sagen: Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiße Nebel wunderbar. (Claudius, Abendlied) Und von dieser: Weihrauch duftet süß und Birne Und es dämmern Glas und Truh. Langsam beugt die heiße Stirne Sich den weißen Sternen zu. (Trakl, ln einem verlassenen Zimmer) Solche Verse, die durch ihren Wohllaut haften, werden nicht allein durch den Endreim geschaffen, sondern durch eine besondere Acht100

samkeit gegenüber dem Vers. Hier ist ein Gleichklang der mit dem Vers vereinigten Sätze, der die gesamte Vokalfolge und Vokal­ wiederkehr umfaßt. Auch in solchen Versen herrscht die rhyth­ mische Bewegung vor, aber ihre Linie verbindet sich auf sanfte Weise mit der melodischen Bewegung.

Der deutsche Hexameter Hier soll, als Muster eines Verses, der vom Reim und damit vom Reimvers weitab liegt, der deutsche Hexameter betrachtet werden. Von den mißlungenen frühen Versuchen sehen wir ab, wollen auch auf die gereimten leoninischen Hexameter nicht zurückgehen. Das Reimen der Hexameter ist ein Mißgriff. Hier hat der Reim nichts zu schaffen, denn im Hexameter ist nichts, was durch den Gleich­ klang eines Endreims zu binden wäre. Deshalb sind die gereimten Hexameter, in denen sich noch Gottsched versuchte, dem Ohr ver­ drießlich. Auch schläfern sie ein, weil das Ohr müde wird, den langen Vers auf den Reim, der ihn beendet, zu belauschen. Zu bedenken ist dabei, daß der Hexameter auf einen anderen Ausgang abgestellt ist als der Reimvers, denn er zielt auf den Anfang, nicht auf das Ende des folgenden Verses. Die Frage ist von Anfang an, wie man den griechischen Hexameter, der das Vorbild ist, von seinem griechischen Rhythmizomenon los­ löst und seinen metrischen Rhythmus mit der Betonung der deut­ schen Silben vereinigt. Darüber, über syllabarum quantitas, hat schon Geßner nachgedacht. Das Ergebnis war eine Vergewaltigung der deutschen Silbenbetonung. Alle Versuche, Gottsched einge­ schlossen, bleiben leblos, denn Leben hat erst Klopstock dem Hexameter eingeflößt, und auf ihn stützen sich die Nachfolger. Gottsched hat zwar, was die Prosodie anlangt, richtige Hexameter geschrieben, aber mit bloßer Richtigkeit ist nichts gewonnen, nichts über das Leben des metrischen Rhythmus ausgesagt. Seine Hexa­ meter sind Schulhexameter wie alle dieser Art. 101

Der Umweg über den griechischen Hexameter hat etwas Wunder­ liches. Er gleicht einem Tappen im Dunkel. Im Grunde sind die Schwierigkeiten, welche die Übernahme macht, prosodische. Die Frage ist, wie sich die griechischen Daktylen, Spondeen und Tro­ chäen in die deutsche Sprache hinübemehmen lassen, welche Silben­ folgen für sie einzusetzen sind. Das griechische Rhythmizomenon geistert fortwährend in den Ohren und bringt die Bemühungen, die auf prosodische Rechtschaffenheit zielen, in Verwirrung. Was über­ haupt ein griechischer Daktylus ist, welcher Bereich von Silben­ folgen an seine Stelle zu setzen ist, das schafft Streit. Daß Wörter wie: 1. wallende, blickende, hockende 2. weinende, weichende, suchende 3. Mutterschaft, Enkelkind, Beerenobst 4. rechtschaffen, ernsthafte, Lobpreisung 5. Schwarzwildpret, Rotweinglas als Daktylen eingesetzt werden, führt zu Auseinandersetzungen, und es bilden sich Schulen von Puristen, die als Daktylen nur be­ stimmte Silbenfolgen anerkennen. Der eine paßt dabei dem anderen auf, und, was schlimmer ist, es kommt zu prosodischen Quälereien, die den metrischen Rhythmus in Mitleidenschaft ziehen. Ver­ wirrung richteten vor allem Voß und Schlegel an, und wenn der vossische Kanon sich durchgesetzt hätte, dann wäre mit dem neuen Hexameter wenig gewonnen gewesen. Wir müssen bei den Dakty­ len Stärke und Gewicht in acht nehmen und uns durch Silbenzeiten nicht verwirren lassen. Ein deutscher Daktylus kann folgende Schemata aufweisen: 2

o



~

u

2

Das heißt, der Iktus steht auf der am stärksten betonten Anfangs­ silbe. Nebenhebungen können auf der zweiten wie auf der dritten Silbe stehen. Jede dieser Daktylenarten gibt dem Vers einen eigenen 102

Verhalt, insbesondere dann, wenn sie in Anzahl angewendet wird. Durch ihre Stellung im Vers wirken sie auf den metrischen Rhyth­ mus verschieden ein. Gesteuert wird der deutsche Hexameter nicht von den Trochäen, sondern von den Daktylen. Auch dort, wo die Trochäen in ihm zunehmen, wo also der dreiteilige Takt zurückgedrängt wird, wird der trochäische Takt noch durch den dak­ tylischen geleitet. Der Hexameter kann, von dem Endtrochäus des Verses abgesehen, aus lauter Daktylen bestehen, nicht aber fort­ gehend aus lauter Trochäen. In dem Verhältnis der Mischung von Daktylen und Trochäen bleibt ein weiter Spielraum. Die Daktylen schwer—leicht—leicht, die schnell fallen, geben dem Hexameter, wo sie häufig verwendet werden, Leichtigkeit und leichte Bewegung. Die schwer—leicht—schweren sind minder bewegt und leicht. Die schwer—schwer—leichten hemmen die Bewegung. Bei ihnen und den dreisilbigen schweren Ungetümen, von denen wir zwei zu 5. an­ führten, ist Vorsicht geboten. Indessen, je mehr Silbenfolgen aus dem Hexameter hinausgeworfen werden, desto mehr verarmt er. Hölzern, klappernd, mühsam, atemwidrig wird er nur dort, wo sein metrischer Rhythmus nicht erkannt ist oder der Rhythmus auf Kosten der Prosodie geht. Die griechischen Spondeen schufen eine gleiche Verwirrung. Daß wir mit ihnen gar nichts zu schaffen haben, daß es in unserer Sprache keine Spondeen gibt, also alle Versuche, der Silbenfolge lang—lang durch ein schwer—schwer beizukommen, von vornherein verfehlt sind, ist eine mühsam errungene Einsicht. Das Mißliche an dieser Auseinandersetzung über ein nicht vorhandenes griechi­ sches lang—lang ist, daß auch die Trochäen in Verwirrung gebracht wurden. Man bemühte sich nun, den Trochäus schwer—leicht auf künstliche Weise lang—lang zu machen. Man scheute vor dem ge­ ringen Gewicht der Senkungssilbe zurück, womit, wenn Ernst ge­ macht wird, die Masse der deutschen Trochäen ausgeschlossen wird. Hätte schon Klopstock sich über diese Aussonderung von Trochäen Gedanken gemacht, wäre es wohl nicht zum deutschen Hexameter gekommen. Das Hinhören auf griechische Spondeen führt zu fal103

sehen Betonungen, die sich Voß und seine Schüler zuschulden kom­ men ließen. Durch sie wird nicht nur der Akzent in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die Zäsur. Die zugleich gewichtigen und falsch gebildeten Trochäen geben dem Hexameter etwas Schwer­ fälliges. Je mehr solcher falscher Trochäen im Vers auftauchten, desto stärker wurde der Gegenzug, der den metrischen Rhythmus angriff. Und dazu die Zäsuren. Das zeigt sich dort, wo prosodisch mangelhafte Daktylen und Trochäen in die Zäsur fallen. Das leichte, mühelose Setzen der Zäsuren setzt vollkommene Beherr­ schung des metrischen Rhythmus voraus; die Zäsuren sind die Prüfstellen des Hexameters. Ein Vers von solchem Umfang ist in seinen Gelenken empfindlich. Zäsurlose Hexameter sind mißlich, weil der lange Vers den Atem stark anstrengt. Der Ortswechsel der Zäsuren im Hexameter ist etwas Wichtiges, denn Hexameter mit festgelegter Zäsur würden sehr starr werden. Auch ist ein freier Wechsel der Kola nötig. Sie dürfen im Vers weder zu häufig noch zu gering sein, dürfen auch nicht in genauem Umfang wiederkehren. Die Mannigfaltigkeit der Harmonie, die Klopstock dem Hexameter nachrühmt, beruht auf den mannigfachen, im Vers wechselnden Zäsuren und Kola ’. Die Hauptzäsuren unseres Hexa­ meters liegen im dritten oder vierten Takt, beide Male nach der Hebungs- oder ersten Senkungssilbe. Damit hängt zusammen, daß die Kolongrenze nach dem dritten Takt schlecht liegt. Eine Neben­ zäsur liegt in oder nach dem zweiten Takt. Eine andere, die Tmesis bucolica, liegt nach dem vierten Takt; sie war bei den Griechen nicht Zäsur des epischen, sondern des lyrischen Hexa­ meters. Wir haben von den Griechen nicht nur den Hexameter, sondern auch das Elegeion übernommen, bei dem in jedem zweiten oder geraden Vers der dritte und sechste Takt einsilbig sind. Die Kraft dieses doppelten Schlages und Abschlusses macht das Elegeion auch in unserer Sprache geeignet für das epigrammatische Distichon, für die Kürze des Gedankens, zu dessen entschiedener Fassung und Rundung es beiträgt. Gegen die ruhigere Fülle des Hexameters 104

sticht es durch seine Bewegung ab. Zugleich ist es einförmiger ge­ bildet, denn die Versgrenze legt den Vers fest. Es wird leicht hart. Diese Härte wird überwunden, indem man die Schläge mildert, die ungeraden Verse in die geraden hinüberzieht, die geraden Verse weicher beginnt und über den Zusammenhang der Verse sorgfältig wacht. Bei einer solchen Aufmerksamkeit ist das Elegeion auch für größere Gedichte verwendbar. — Was der Hexameter in unserer Sprache leistet, ist nur durch Beispiele deutlich zu machen. Wir sehen von den älteren Versuchen ab und beginnen bei Klopstock. Hier eine Stelle aus dem Ersten Gesang des Messias (Ausgabe von 1748): Unterdeß war der Seraph zur äußersten Grenze des Himmels Aufwärts gestiegen. Hier füllen nur Sonnen den heiligen Umkreis. Hell, gleich einem vom Lichte gewebten ätherischen Vorhang Zieht sich ihr Glanz um den Himmel herum. Kein dunkler Planete Naht sich des Himmels verderbendem Blick. Entfliehend und ferne Geht die bewölkte Natur vorüber; die Erden fliehn mit ihr Klein und unmerkbar dahin, wie unter dem Fuße des Wandrers Niedriger Staub, von Gewürmen bewohnt, aufwallet und hinsinkt. Dieses Stück ist für die ersten Gesänge des Messias bezeichnend, wo der Hexameter eine jugendliche, leichtere Bewegung hat als in den späteren Gesängen. Wir merken den eilenden, daktylischen Gang des Hexameters, der die Trochäen nur mitnimmt. Die Bewegung ist derart, daß sie die ruhenden Eindrücke auflöst, den plastischen Satz entkörpert und gleichsam im Fliehen Licht streut. Satzende und Versende meiden sich. Die Vokalität ist leicht, der Vers hat keinen starken Umriß. Zwei der Verse sind ohne Zäsuren, wie das bei Klopstock häufiger vorkommt. Obwohl der schlechte Trochäus im letzten Vers in die Zäsur fällt, behält der Vers, als Nachahmung einer Bewegung, einen gewissen Reiz. Der Begriff des Erhabenen, den wir durch solche Verse erhalten, ist ein unendlicher, ewiger; er entstammt nicht der Anschauung von Körpern, sondern dem Ge­ fühl für zeitlose, unermeßliche Räume. 105

Anders ist der Eindruck, den das folgende Bruchstück einer Über­ setzung von Virgil, Georg. B. 4, durch Klopstock hervorruft: Damals, da sein Haupt, von dem Marmorhalse gerissen, Mitten trug und wälzt' in dem Strom der öagrische Hebrus, Rufte die Stimme Eurydice! noch, und die starrende Zunge, Ach dein Jammer, Eurydice! noch, da sie Seele dahinfloh; Und Eurydice hallte zurück von des Flusses Gestaden. Das ist gedrängter und schwerer. Und man erkennt wohl, daß es langsam und mit starker Betonung zu lesen ist. Es ist langsamer, sowohl durch die Wahl der Trochäen, die den Hexameter anhalten, wie durch die sondernde Kraft der metrischen Gliederungen und Kola, die nach Selbständigkeit streben. Der Vers ist plastisch, die Vokalität stark, der Wohllaut hoch. Solche Verse finden sich bei Klopstock nicht im Messias, sondern dort, wo er antike Muster über­ setzt. Jetzt eine Stelle aus dem hölderlinschen Gedicht Der Archipelagus: Kreta steht und Salamis grünt, umdämmert von Lorbeern, Rings von Strahlen umblüht, erhebt zur Stunde des Aufgangs Delos ihr begeistertes Haupt, und Tenos und Chios Haben der purpurnen Früchte genug, von trunkenen Hügeln Quillt der Cypriertrank, und von Kalauria fallen Silberne Bäche, wie einst, in die alten Wasser des Vaters. Alle leben sie noch, die Heroenmütter, die Inseln, Blühend von Jahr zu Jahr, und wenn zu Zeiten, vom Abgrund Losgelassen, die Flamme der Nacht, das untre Gewitter, Eine der holden ergriff, und die Sterbende dir in den Schoß sank, Göttlicher! du, du dauertest aus, denn über den dunkeln Tiefen ist manches schon dir auf und untergegangen. Die Trochäen stauen die schnellere Bewegung der Daktylen und halten sie zurück. Die Bewegung ist langsam, gemessen feierlich und freudig. Der Vers ist plastisch gebildet. Die rhythmischen Glie­ derungen streben nach Selbständigkeit. Vokalität und Wohllaut 106

sind stark. Satzende und Versende fallen nur selten zusammen. Der Begriff des Erhabenen geht auf die endliche Form, auf den begrenz­ ten und erfüllten Körper. Und aus Brot und Wein: Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf, Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond, Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt, Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns, Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen, Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf. Langsam durch die Trochäen und von hohem melodischem Wohl­ laut, wie ihn das Elegeion nur selten gewinnt. Solche Verse wider­ legen die Bemerkung Herders, daß das Elegeion — oder der Penta­ meter, wie er sagt — ihm im Deutschen noch immer sehr hart und gezwungen vorkomme. Aus dem Gedicht An den Äther: Aber indes ich hinauf in die dämmernde Feme mich sehne, Wo du fremde Gestad umfängst mit der bläulichen Woge, Kömmst du säuselnd herab von des Fruchtbaums blühenden Wipfeln, Vater Äther! und sänftigest selbst das strebende Herz mir, Und ich lebe nun gern, wie zuvor, mit den Blumen der Erde. Daktylisch schneller. Ein einziger Satz von hohem Wohllaut und in seiner Vereinigung mit dem Vers ein Beispiel der ausgereiften und sanften Bewegung und Gegenbewegung der Perioden. Aus Schillers Gedicht Der Spaziergang: Jahre lang mag, Jahrhunderte lang die Mumie dauern, Mag das trügende Bild lebender Fülle bestehn, Bis die Natur erwacht, und mit schweren, ehernen Händen An das hohle Gebäu rühret die Not und die Zeit, Einer Tigerin gleich, die das eiserne Gitter durchbrochen 107

Und des numidischen Walds plötzlich und schrecklich gedenkt, Aufsteht mit des Verbrechens Wuth und des Elends die Menschheit, Und in der Asche der Stadt sucht die verlorne Natur. O, so öffnet euch, Mauern und gebt den Gefangenen ledig! Zu der verlassenen Flur kehr' er gerettet zurück. Sätze und Satzabschnitte treffen genau mit dem Versende zusam­ men. Der eilende daktylische Hexameter erweckt den Eindruck einer ideal-mechanischen Bildung. Dieser entsteht nicht allein aus der rationalen Verteilung der Sätze, Zäsuren, Kola, sondern auch aus der Gewichtsverteilung der Verse mit einsilbigen Takten. Sie sind scharf und gleichmäßig gegeneinander ausgewogen, allzu gleich­ förmig, denn der Wuchs der Verse gewinnt, wenn die Halbverse verschieden sind. Hier sei an Klopstocks Wort erinnert, »daß die deutsche Silbenzeit nicht mechanisch, sondern begriffsmäßig ist«. Das Schema der Verse mit einsilbigen Takten ist hier unver­ änderlich:

Im Zusammenhang damit steht, daß der Vers allegorisch wird, daß ihn die fortlaufende rhetorische Metapher beherrscht. Aus dem Gedicht Der Tanz: Sprich, wie geschieht's, daß rastlos erneut die Bildungen schwanken, Und die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt? Jeder ein Herrscher, frei, nur dem eigenen Herzen gehorchet, Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn? Willst du es wissen? Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit, Die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung, Die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel Lenkt die brausende Lust und die verwilderte zähmt. Satzende und Verse treffen genau zusammen. Das Gewicht der Halbverse ist, bis in die Takte und Silben hinein, genau gegen­ einander ausgemessen. Auch hier zeigt sich die ideal-mechanische Bildung des Elegeion. 108

Aus Goethes Rörriische Elegien: Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt; Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt. Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab? Dann versteh ich den Marmor erst recht; ich denk und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand. Die leichten Daktylen überwiegen, und verbunden mit leichten Tro­ chäen geben sie dem Vers seinen leichten und heiteren Gang. Der Vers hat etwas Lässiges und Mitteilsames; er atmet Heiterkeit. Nichts davon ist in der folgenden Stelle des Gedichtes Philemon und Baucis von Voß: Wanderer, fern wohl kamst du in Phrygien, daß du des Tempels Ruhm noch immer gehört und die heilige Wundergeschichte. Setze dich hier, denn du scheinst, kraftlos von der Hitze des Weges, Nicht viel weiter zu können, bevor einbreche der Abend, Hier auf schwellendes Moos und begnüge dich, daß dir ein Kuhhirt Von einfältigem Sinn es verkündige. Jeglichen Neumond Opfert der Priester im Hain und erzählt dem Volke das Wunder. Hier überwiegt der Daktylus, ohne daß durch ihn der stockende, leblose Gang des Verses in Bewegung geriete. Wörter und ganze Sätze machen den Eindruck des Eingeflickten und Eingeschachtelten; sie fügen sich nur widerwillig dem Metrum. Zwischen Vers und Satz klaffen unbereinigte Widersprüche. Die Wortbetonung ist fehlerhaft. Der spondeisch aufgefaßte Trochäus »scheinst kraft« ist ein Ungetüm. Auch die Wörter »einbreche« und »einfältigem« sind falsch betont. Der Vers hat etwas Zusammengeleimtes, und indem man ihn hört, wird spürbar, wie alles nur durch Zwang beiein­ andergehalten wird und auseinanderfallen möchte. Gleich fehlerhafte Bildungen in Platens Epigramm Gebrauch des Hexameters: 109

Weil der Hexameter episches Maß den Hellenen gewesen, Glaubst du, er sei deshalb Deutschen ein episches Maß? Nicht doch! Folge des Wissenden Rat! Zu geringen Gedichten Wend' ihn an! Klopstock irrte, wie viele, mit ihm. Ein Epigramm, das durch falsche Betonungen hölzern und klap­ pernd wird. Aus Platens Gedicht An Max von Gruber: Häufig bewundr' ich rings, ausruhend am Hügel die Landschaft, Wo den beweglichen Schirm Buche mir, Esche mir beut. Süße, doch seltene Tränen, wie liebende Jünglinge weinen, Seh' ich des Thals Frühtau hangen am Rosengebüsch. Wenn ich zurück von dem Wallfahrtsort, von der bunten Kapelle Kehre, dem heitersten Sitz, während die Sonne sich hebt; Zweifach lächelt mich dann dieß gartenumzingelte Dorf an, Bald am Wiesengestad, bald am geglätteten See; Oft auch freu' ich mich dann in dem Kahne des träufenden Ruders, Wenn auf flachem Kristall Zirkel an Zirkel sich reiht, öfter des seltenen Flors großblumiger Alpengewächse, Wenn ich bewaldeter Höhn ruhige Gipfel erstieg. Hier überwiegen die Daktylen, und ihre Auswahl ist derart, daß der Vers etwas zugleich Hüpfendes und Steifes erhält. Von den Trochäen wird ein schlechter Gebrauch gemacht, so in »rings aus«, »Thals früh«, »Flors groß«. Das Metrum ist mühsam gebildet, und der Satz folgt ihm nur stockend. Ähnliches läßt sich von allen Hexa­ metern Platens sagen. Zuletzt noch der Anfang von Hebels Gedicht Die Wiese: Wo der Dengle-Geist in mitternächtige Stunde uffeme silberne Gschirr si goldeni Sägese denglet, (Todtnau's Chnabe wüsse's wohl) am waldige Feldberg, wo mit liebligem Gsicht us tief verborgene Chlüfte d'Wiese luegt, und check go Todtnau aben ins Tal springt, schwebt mi muntere Blick, und schwebe mini Gidanke. 110

Feldbergs liebligi Tochter, o Wiese, bis mer Gottwilche! Los, i will di jez mit mine Liederen ehre, und mit Gsang bigleiten auf dine freudige Wege! Die Trochäen halten den Vers an. Da die leichten bevorzugt wer­ den, da auch die Daktylen leicht sind, hat der Vers nichts Schweres. Satz und Vers sind in gutem Einvernehmen. Satzende und Satz­ abschnitte liegen überwiegend am Versende. Verse ohne Zäsur kom­ men vor. Der metrische Rhythmus ist ungezwungen in allen seinen Gliederungen. Da Hebel sich nicht auf den leidigen Spondeen- und Trochäenstreit einläßt, wird das Ohr nicht durch falsche Betonungen verletzt. Hebels alemannischer Hexameter gehört zu den besten in unserer Dichtung 10.

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STROPHEN

Reimstrophen Die Verse von Gedichten können stichisch angeordnet sein, das heißt in einer Folge, die auf strophische Gruppierungen verzichtet, oder sie können in Strophen abgeteilt und geordnet sein. Sollen die mannigfachen Strophen unterschieden werden, so ist die angemes­ sene Unterscheidung die nach der Einwirkung, welche die Strophe auf die in ihr vereinigten Verse übt. Die Strophe versteht sich nicht aus dem Gedankenabschluß; sie ist ein eigenes metrisches Gebilde. Die Strophe ist um so einfacher gebildet, je gleichartiger ihre Verse sind. Sie wird kunstvoller in dem Maße, in dem sie ihre Verse bis in die Takte und Silben hinein wechselnd bestimmt, ihrer eigenen Kom­ position also die Verse unterwirft. Daraus ergibt sich, daß die Reim­ strophen ein einfacheres Gesetz befolgen als die Strophen ungereim­ ter Oden. Diese müssen, da ihnen der Reim fehlt, kunstvoller sein. Für die gereimten Strophen gelten zunächst alle Regeln des Reims und des Reimverses. Hinzu kommen die Regeln, welche die Strophe selbst bestimmen. Strophen sind Versverbindungen, die im Gedicht wiederkehren und sich gegeneinander durch ihre wiederkehrende Verbundenheit abheben. Strophengleichheit schließt Versgleichheit und Silbengleichheit ein. Gegen Strophen, deren metrischer Rhyth­ mus nicht genau wiederkehrt, ist nichts einzuwenden. Auch Ge­ dichte in freien Rhythmen, in denen Verse und Versverbindungen nicht genau wiederkehren, können strophisch abgesetzt werden. Ein solches Absetzen aber hat nichts Gesetzmäßiges, weil die wieder­ kehrende strophische Komposition fehlt. Gedankliche Absätze be­ gründen die Strophe nicht. Eine Strophe kann nicht aus beliebig 112

vielen Versen bestehen, weil das Ohr dann die Wiederkehr der Gruppen gar nicht mehr faßt. Die reimlosen Strophen der Griechen gingen aus einer Verbindung von Tanz, Musik und Sprache hervor. Auch bei uns hat das Zu­ sammenwirken von Musik und Dichtung für die Entstehung der Strophen einschneidende Bedeutung. Die Herrschaft der Strophe beginnt bei uns mit dem Sieg des Endreims. Die altgermanische Metrik kennt, mit Ausnahme der Skandinavier, nur stichische An­ ordnung der Verse. Es macht einen in den Bau der Strophe ein­ schneidenden Unterschied, ob sie für den Gesang oder den Vortrag bestimmt ist. Epische und lyrische Strophen unterscheiden sich. Beide unterstehen heute den gleichen Regeln, weil auch die lyrischen Strophen für den Vortrag ohne Musik bestimmt sind. Damit ist nicht gesagt, daß alle epischen Strophen für das lyrische Gedicht oder gar die lyrischen Strophen für das Epos brauchbar sind. Die Nibelungenstrophe ist von dem Kürenberger lyrisch verwendet worden. Doch ist ihr der epische Ton schwer zu nehmen, und er tritt in dem Maße hervor, in dem das Gedicht Umfang gewinnt. Das zeigt sich an der Form, in der Uhland sie benutzt hat. Das Balladenhafte steht in der Mitte zwischen epischem und lyrischem Gedicht, deshalb lassen sich für die Ballade epische und lyrische Strophen mit gleichem Glück verwenden. Das Epische erscheint in der Ballade gekürzt; die Ballade ist ein Epos en miniature, zu dem lyrische Mittel verwendet werden. Die englische Chevy-ChaseStrophe, die aus dem Septenar der lateinischen geistlichen Dichter Englands hervorgegangen ist, ist eine gute Balladenstrophe; sie eignet sich auch für das lyrische Gedicht u. In der ältesten Über­ lieferung des Chevy Chase lautet sie so: The Percy owt of Northombarlande, And a vowe to God mayd he, That he wolde hunte in the mountains off Cheviot within dayes ihre. Strophen, deren Verse festgelegte Versgrenzen oder Zäsuren haben, 113

sind für das lyrische Gedicht weniger verwendbar als solche ohne Versgrenzen oder mit wechselnden Zäsuren. Der Grund ist, daß wir von den lyrischen Strophen mehr verlangen; sie müssen kunst­ voller gebildet sein als die epischen. Je kunstvoller wiederum sie sind, desto weniger eignen sie sich für die Darstellung einer fort­ laufenden Erzählung, Handlung, Schilderung. Wodurch aber wird die lyrische Strophe kunstvoll? Durch ihre rhythmische Bewegung, durch zarte Modulation, den Wechsel von Zäsuren und Kola und ihren Wohllaut. Hier sei daran erinnert, daß auch der stichisch an­ geordnete griechische Hexameter episch und lyrisch verwendet wurde. Weil er sehr kunstvoll ist, ist er auch für das lyrische Ge­ dicht verwendbar. Aber sein epischer Ton muß zu einem lyrischen werden; Theokrit muß ihn anders behandeln als Homer. In den reimlosen antiken Strophen liegt ein strophenbildendes Gesetz, durch das Vers und Satz von vornherein für die Strophe ausgemessen werden. Im Reim liegt ein anderes strophenbildendes Gesetz, das durch die Reimstellung die Strophe gewinnt. Lassen sich alle Reimverse in Strophen anordnen? Warum nicht? Der Reim widersetzt sich auch einer stichischen Anordnung nicht, doch merkt man ihm an, daß er nach Versgruppierungen strebt und sich in ihnen zu entfalten sucht. Festliegende Versgrenzen und Zäsuren erleichtern die Strophenbildung. Vor allem wegen des Wechsels seiner Zäsuren verharrt der reimlose griechische Hexameter in der stichischen Anordnung und geht nicht zur Strophenbildung über. Abteilen können wir die Gedichte, die aus Strophen bestehen, auch so, daß wir unterscheiden zwischen Gedichten, deren Umfang nicht" fest bestimmt ist, bei denen also die Zahl der Strophen im Belieben des Dichters steht, und Gedichten mit fester Strophenzahl. Diese schränken den Dichter enger ein. Drei der Strophen, die wir von den Italienern übernommen haben, die Oktave (ottava rima), die sizilianische Stanze (siciliana) und die Terzine, können wir unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt betrachten. Sie gehen wie alle romanischen Strophen bei uns nach den opitzschen Versregeln. Platen bemerkt in seinem Epigramm 114

über die Oktave, daß der epische Ton, den sie in der italienischen Sprache besitzt, sich in der deutschen Sprache nicht erhalte, daß sie bei uns einen lyrischen Ton annehme. Der wogende Rhythmus, den ihr die italienische Sprache gebe, werde bei uns zur klappernden Monotonie. Daran ist etwas Wahres, und der Vorwurf trifft alle diese Strophen. Wird das Klappern vermieden, dann nehmen sie leicht eine fließende Glätte an. Der Eindruck der bloßen Fertigkeit wird um so größer, je mehr es gelingt, solche Formen zu meistern. Worauf beruht der Unterschied, wenn nicht auf dem verschiedenen Gang und Geist beider Sprachen? Können wir die Meisterschaft, mit der Dante, Ariost, Tasso solche Strophen behandeln, je er­ reichen? Und wenn es gelänge, was hätten wir erreicht? Die Fähig­ keit, eine angemessene Übersetzung italienischer Meisterwerke zu geben, oder mehr, neue Strophen für unser eigenes Hervorbringen zu gewinnen. Beides müßte uns anspornen, auf die Bildung solcher Strophen Kunst zu verwenden. Daran hat es nicht gefehlt. Es wäre falsch, die Schwierigkeiten auf den Reim zurückzuführen. Die Italiener haben allerdings mehr Reime als wir, insbesondere eine Fülle weiblicher Reime, die ihnen immer zur Hand sind. Deshalb haben wir in die Strophen männliche Reime eingeführt. Aber unsere Sprache unterscheidet sich von der italienischen durch den Satzbau und durch ein anderes Verhältnis von Satz und Vers im Gedicht. In den italienischen Strophen werden wir den Satz immer so verteilen, daß Vers, Satz und Gedanke nach gemeinsamem Aus­ gang streben. Die Art, in der das geschieht, bedingt einen Zuschnitt des Satzrhythmus. Unser Satz verliert dabei an Gewicht, und dieser Verlust wird noch nicht aufgehoben dadurch, daß der Vers leichter, faßlicher, flüssiger wird. Er wird rasch auch glatter. Hieran ist der Reim allerdings beteiligt, denn er hat eine vorgeschriebene und künstliche Stellung. Da der Dichter mit Recht danach strebt, den Reim bedeutend zu machen, so ist nicht zu vermeiden, daß die End­ reime alle Abschlüsse bestimmen, daß alles Gewicht sich auf sie verlagert. Ein solches Verfahren gestattet nur Sätze, die sich dem wiederkehrenden Vers genau unterordnen. Sie werden um so ver115

nehmlicher, je weiter der Dichter im Ton und Verhalt der Strophen fortschreitet. Wenn Platen der Oktave in der deutschen Sprache einen lyrischen Ton zuerkennt, dann heißt das noch nicht, daß sie für unser lyrisches Gedicht wichtig ist. Ihre gelungensten Nachbildungen in der deutschen Sprache sind allerdings lyrische Gedichte, und unter diesen sind sehr kostbare. Was für die italienischen Strophen gilt, gilt auch für die Spenserstanze, die aus der Oktave entwickelt wor­ den ist. Sie unterscheidet sich durch die Reimstellung und den Alexandriner, der als neunter Vers angehängt ist. Platen bemerkt auch, daß die italienischen Strophen und der fran­ zösische Alexandriner sich einer großen Mannigfaltigkeit erfreuen. »Vermöge unserer Prosodie hingegen werden sie eintönig und matt, wie es auch unser fünffüßiger Jambus ist, ein barbarischer und armseliger Vers, der hoffentlich bald aus der Sprache verschwinden wird«12. Eine Prüfung lehrt aber, daß der gereimte fünftaktige Jambus (vers commun und endecasyllabo) nicht so verächtlich ist, wie er hier geschildert wird. Die vers communs können durch ihre festgelegte Zäsur lästig werden; bei den Hendekasyllaben ist der Zäsur Freiheit eingeräumt, im Verse zu wandern. Gedichte mit vorbestimmter Strophenzahl kannten die antiken Dichter nicht. Wir haben sie aus der romanischen Dichtung über­ nommen. Hierher können auch die einstrophigen Gedichte gezogen werden, deren Verszahl bestimmt ist, Triolette und Madrigale. Ihr Kennzeichen ist, daß sich einzelne Verse identisch wiederholen. Nichts hindert den Dichter, eine beliebige Reihe von Trioletten oder Madrigalen aneinanderzureihen. Beim Rondel, das aus drei achtversigen Trioletten besteht, ist das der Fall. Wer sollte dem Dichter verbieten, ein fünf- oder sechsfaches Triolett zu bilden? Nur die Einsicht, die ihm sagt, daß ein solches Gebilde wegen der Vielzahl identischer Echos, die es ausschickt, für längere Ausführungen sich nicht eignet. Denn die stete Wiederkehr wortgleicher Verse schafft dem Ohr wenig Vergnügen, und der Hörer kann von vornherein den Ort bestimmen, an dem der Refrain wiederkehrt. Doch ist der 116

Refrain den kleinen Gedichten dieser Art eigentümlich, und ihre Wirkung beruht darauf, daß er geschickt und anmutig angebracht wird. Er gibt dem Gedicht Rundung und Abschluß. Was soll man aber zu der Sestine der Italiener sagen? Sie erinnert an Kreuzwort­ rätsel. Ein solches Verfahren treibt die Spielerei mit Reimen und Worten zum äußersten und übt einen Zwang aus, der nur erträglich scheint, wenn man bedenkt, mit welcher Lust und Leichtigkeit die italienische Sprache dergleichen hervorbringt. Die einzige Form eines Gedichtes mit vorbestimmter Strophenzahl, die sich bei uns eingebürgert hat, ist das Sonett. Es kommt aus Italien, ist aber über Frankreich und Holland zu uns gelangt. Vier­ zehn Verse, die strophisch so angeordnet sind, daß zwei Quartette am Anfang, zwei Terzette am Ende stehen; umarmende Reime in den Quartetten, kreuzende in den Terzetten kennzeichnen seinen Bau. Ein Hauptgedanke wird ausgeführt; die Quartette entfalten ihn, die Terzette bringen ihn zum Abschluß. Wie alle Gedichte mit vorbestimmter Strophenzahl erinnert auch das Sonett an das Bett des Prokrustes, das sich von anderen Betten dadurch unterscheidet, daß es nicht nach den Maßen des Körpers zugeschnitten ist, sondern sein eigenes Maß dem Körper aufzwingt. Man mag es daher bilden, wie man will, mit vers communs, Alex­ andrinern, alternierenden Jamben oder Trochäen, seine vorgeschrie­ bene Länge, sein fester Umfang müssen sich geltend machen. Das Sonett schreibt ein Schema des ganzen Gedichts vor; es ist etwas Fertiges und kommt der Fertigkeit entgegen, wie die ungezählten Sonette zeigen, die glatt und fertig sind. Wenig gewinnt der rhyth­ mische Bau der Sprache dadurch, daß man vierzehnversige Gedichte annimmt. Das künstlich Ausgesponnene, das kalt Durchdachte muß hervortreten. Das Sonett entfernt sich vom unmittelbar Lyrischen und nimmt eine Wendung auf das Lehrhafte und Rhetorische, auf den reflektierenden Gedanken überhaupt. Italiener und Franzosen zeigen bei seiner Behandlung mehr Feuer, Grazie, Leichtigkeit als die Deutschen. Die deutsche Sprache begünstigt das Sonett nicht, das Gelungene ist selten. Hier das Mustersonett A.W.v.Schlegels: 117

Zwei Reime heiß ich viermal kehren wieder, Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen, Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien Im Doppelchore schweben auf und nieder. Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder Sich freier wechselnd, jegliches von dreien. In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen Die zartesten und stolzesten der Lieder. Den werd ich nie mit meinen Zeilen kränzen, Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket Und Eigensinn die künstlichen Gesetze: Doch wem in mir geheimer Zauber winket, Dem leih ich Hoheit, Füll' in engen Grenzen Und reines Ebenmaß der Gegensätze. Dieses Mustersonett ist darin ein Muster, daß es das Gezierte, Gefeilte, mühsam Ausgearbeitete der Sonettform getreu abspiegelt. Alles in diesen Versen ist ausgeklügelt und kalt. Dergleichen Verse tragen, wo sie überhandnehmen, dazu bei, um einen gewissen Ekel vor der Poesie zu erwecken. Doch kann dieses Ausgedachte der Form ganz verschwinden und braucht das Ohr nicht mehr zu be­ schäftigen, wie das an dem folgenden Sonett von Georg Trakl hör­ bar wird. Er hat uns, wenn ich recht sehe, fünf Sonette hinterlassen. Verfall Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten, Folg ich der Vögel wundervollen Flügen, Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen, Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten. Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten Träum ich nach ihren helleren Geschicken 118

Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken. So folg ich über Wolken ihren Fahrten. Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern. Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen. Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern, Indes wie blasser Kinder Todesreigen Um dunkle Brunnenränder, die verwittern, Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen. Sonettenkränze (sonetti a corona) enthalten vierzehn Sonette. Sie sind so angeordnet, daß der Schlußvers des ersten Sonetts als Anfangsvers des zweiten wieder auftaucht, und so fort bis zum Ende, wo der Schlußvers des vierzehnten Sonetts den Anfangsvers des ersten wiederholt. Dazu kommt als fünfzehntes Sonett das Meister­ sonett, in dem die Anfangsverse aller vierzehn Sonette in ihrer Ordnung wiederholt werden. Es leuchtet ein, daß man gut tut, das Meistersonett zuerst auszuarbeiten und aus ihm die anderen vier­ zehn Sonette herauszuspinnen, denn jedes andere Verfahren hat große Schwierigkeiten. Vielleicht sollten wir uns des Sonetts bedienen, um komische Wir­ kungen zu erzielen, wie sie die Italiener durch ihre sonetti colla coda erhalten. Aber die Darstellung des Komischen gewinnt in unserer Sprache nicht allzuviel durch Formen, denen etwas Erzwun­ genes anhaftet. Der Reiz des Sonetts liegt in der Reimtechnik, der es unterworfen wird. Er liegt im Schema der Reime und in der Bewältigung der Schwierigkeiten, die durch dieses Schema ent­ stehen. Ein ungereimtes Sonett würde diesen Reiz verlieren. Die rhythmische Ordnung der Sprache, die dann zurückbliebe, würde nicht genügen, um unser Ohr hinreichend zu beschäftigen. Hier wie überall erhebt sich die Frage, woraufhin unser Vers zustrebt. Er ist in einer Bewegung begriffen, die mehr einschließend als aus­ schließend ist. Das will zunächst heißen, daß peinliche, den Vers einschränkende Regeln im Rückgang oder Verfall sind. Die Frei119

heit, die dem Verse eingeräumt wird, reicht weit, bis zu dem Be­ streben, ihn aufzulösen oder unkenntlich zu machen. Damit ist dem Gedicht nicht gedient, denn nicht durch Schwächungen des Rhyth­ mus oder Melos wird es entfaltet. Auch zeigt sich etwas Neues, das aller Dekomposition gewachsen ist. Unser Gedicht steht nicht still; es sucht nach der eigenen, der Zeit angemessenen rhythmischen Bewegung, es findet seinen eigenen metrischen Rhythmus. Der Anstoß dazu kann nur aus dem Verhältnis von Rhythmus und Sprache kommen, aus der Einheit von Satz und Vers. Verse, die unter der Herrschaft fester, angenommener Regeln stehen, werden weiter benutzt, aber wir können von ihnen sagen, daß sie nicht im Vortreffen der metrischen Bewegung stehen, diese also nicht kennzeichnen. Die Muster sind verbraucht, oder sie leuchten nicht mehr ein. Was von den Franzosen, Spaniern, Holländern und anderen Völkern in dieser Art kam, hat keinen eigenen metrischen Reiz mehr. Oktaven, Stanzen, Terzinen wollen nicht mehr ver­ fangen. Den Alexandriner haben die Franzosen selbst preisgegeben. Das Sonett hält sich, aber, wie die Sonette an Orpheus von Rilke zeigen, mit starken Umbildungen und Abwandlungen, die auf eine Lockerung seiner Form zielen. Der alternierende Vers besteht fort, aber nicht von ihm ist die Fortbildung des Verses zu erwarten; er wird vielmehr dieser Fortbildung neu eingefügt werden müssen. In den freien Rhythmen endlich haben wir Gebilde, die eine genauere Untersuchung und Würdigung erfahren müssen, als sie ihnen bis­ her zuteil wurde. In den Zuständen des Experimentierens erscheint manches haltbar, was nicht Stich hält. Und manches wird übersehen, was sich bewähren wird. Oden Mit den Oden machte erst Klopstock ernst. Das Reimen fiel weg, der metrische Rhythmus trat selbständig hervor. Seine Oden unter­ scheiden sich von denen der Vorgänger und lassen sich in zwei Gattungen teilen, Nachbildungen horazischer Strophen und eigene 120

Strophen. Er ging aus von der Nachbildung antiker Strophen, unter denen er der alkäischen den Vorzug gab. Auch die sapphische Strophe, zwei der asklepiadeischen und andere Strophen bildete er nach. An den Strophen brachte er kleine Veränderungen an. Von diesen Strophen läßt sich insgesamt sagen, daß sie, weil ihnen der Reim fehlt, im metrischen Rhythmus kunstvoller sein müssen als die Reimstrophen. Die Folge ist, daß das Gesetz der Strophe gegen­ über den in ihr vereinigten Versen sich strenger und genauer gel­ tend macht. In dem Maße, in dem die Strophe kunstvoll wird, zeigt sich in ihr ein genauer, umfassender Kalkül. Die alkäische Strophe ist mit hoher Kunst gebildet. Die beiden ersten Verse sind steigend-fallend, und zwar derart, daß das Gewicht des Verses sich auf das Versende verlegt. Der dritte Vers ist ruhig steigend und ausgeglichen, ein Übergang zum vierten, der von Anfang an schnell fällt und wie ein Bach niedergeht. Den beiden elfsilbigen Anfangsversen folgen ein neunsilbiger und ein zehnsilbiger Vers. Die Gewichtsverteilung ist kunstvoll; man achte darauf, wie die beiden Daktylen am Schluß der beiden ersten Verse und die beiden am Anfang des vierten sich auswiegen. Der dritte Vers ist der langsamste; er tut viel, um den schnellen Fall des vierten vorzubereiten. So ist hier alles aufeinander bezogen, alles in Zusammenwirkung und Verbindung. Es ist nicht vorteilhaft, Vers, Satz und Gedanken zusammen auslaufen zu lassen. Die Fügung der Strophe widersetzt sich dem, sie muß durch eine einzige Bewegung hervorgebracht werden. Überhaupt verrät diese Strophe, daß ihr Erfinder ein Kopf voll Feuer und Leben ist. Klopstock ist der erste, der die Alkäen so behandelt, wie sie es fordern, und sogleich weist er ihnen den Rang an, der ihnen ge­ bührt. O du, der Traube Sohn, der im Golde blinkt, Den Freund, sonst Niemand, lad' in die Kühlung ein. Wir drey sind unser werth, und jener Deutscheren Zeit, da du, edler Alter, 121

Noch ungekeltert, aber schon feuriger Dem Rheine zuhingst, der dich mit auferzog, Und deiner heißen Berge Füße Sorgsam mit grünlicher Woge kühlte. (Der Rheinwein) Belebende Kraft der Anrufung, die als ein Nachlaß des Orpheus den Dichtern geblieben ist. Der Anfang hat etwas Rollendes; es ist, als ob der Wein in seinem Glase aufstiege und flutete. Die Kraft des Beginnens ist erhöht durch die schöne Zäsur, die im ersten Verse mit Entschiedenheit eingreift, nicht weiblich und nach der fünften Silbe wie bei den Griechen, sondern männlich und nach der sechsten. Hölderlin hat nicht wie Klopstock auf die Erfindung neuer Strophen Aufmerksamkeit verwendet, aber er hat die Alkäen fortgebildet und ihnen einen neuen Verhalt gegeben. Wohin? wohin? ich höre dich da und dort, Du Herrlicher! und rings um die Erde tönts. Wo endest du? und was, was ist es Über den Wolken und o wie wird mir? Tag! Tag! du über stürzenden Wolken! sei Willkommen mir! es blühet mein Auge dir. O Jugendlicht! o Glück! das alte Wieder! doch geistiger rinnst du nieder. (Der blinde Sänger) Ein Ausdruck heftiger Bewegung des Gemüts und daher fragend, ausrufend bis zum Abgerissenen, dem der Zusammenhang der Strophe noch eben folgt. Wo bist du, Nachdenkliches? das immer muß Zur Seite gehn, zu Zeiten, wo bist du, Licht? Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich Hemmt die erstaunende Nacht nun immer. 122

Sonst nämlich folgt ich Kräutern des Walds und lauscht Ein weiches Wild am Hügel; und nie umsonst. Nie täuschten, auch nicht einmal deine Vögel; denn allzubereit fast kamst du, So Füllen oder Garten dir labend ward, Ratschlagend, Herzens wegen; wo bis du, Licht? Das Herz ist wieder wach, doch herzlos Zieht die gewaltige Nacht mich immer. (Chiron)

Träumerisch bewußtlos und fragend. Auch liegt Müßiges darin wie bei einem Menschen, der von seinem eigentlichen Beruf entfernt wird und ihm nachsinnt in dem Schmerz einer Verwundung. Das tiefe, nicht zu bewältigende Leiden spricht sich so aus. Daher das immer erneute Abbrechen des Satzes und die Einschiebungen in ihn, die wie Augenblicke einer genaueren Besinnung wirken. In der rhythmischen und melodischen Kraft solcher Strophen liegt zugleich die Heilung und Versöhnung des Schmerzes. Mit Staunen folgt man ihrem Gang. Spürbar ist schon die Anspannung der Saiten, in der alles zerreißt, und groß die Milde, mit der der Geist in die Nacht taucht. Von den beiden sapphischen Strophen ist die kleine bei uns immer die beliebtere gewesen. Sie ist einförmiger gebildet als die alkäische Strophe, denn ihre drei ersten Verse sind metrisch gleichförmig, während der vierte um mehr als die Hälfte kürzer ist und schnell fällt. Der gleichförmigere Bau der Strophe verlangt eine andere Anordnung von Vers und Satz. Mit ihr lassen sich nicht so starke Perioden bilden wie mit der alkäischen, auch erreicht sie nicht deren eilendes Feuer. Die Regel ist, daß der Daktylus in den drei ersten Versen in der Mitte steht. Klopstock ließ ihn vorrücken, eine Ver­ änderung, durch welche er die Einförmigkeit des Verses mindern wollte. Hölderlin folgt ihm darin. Aber der feststehende Daktylus hat seine Vorzüge. Klopstock bringt die Strophe so: 123

Cidli, du weinest, und ich schlummre sicher, Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht; Auch wenn stille Nacht ihn umschattend decket, Schlummr' ich ihn sicher. Wo er sich endet, wo ein Strom das Meer wird, Gleit' ich über den Strom, der sanfter aufschwillt: Denn, der mich begleitet, der Gott gebots ihm! Weine nicht, Cidli! (Furcht der Geliebten) Auch Lenau übernimmt die klopstocksche Veränderung: Hölty! dein Freund, der Frühling, ist gekommen! Klagend irrt er im Haine, dich zu finden; Doch umsonst! sein klagender Ruf verhallt in Einsamen Schatten! Nimmer entgegen tönen ihm die Lieder Deiner zärtlichen, schönen Seele, nimmer Freust des ersten Veilchens du dich; des ersten Taubengegurres! Ach, an den Hügel sinkt er deines Grabes Und umarmet ihn sehnsuchtsvoll: »Mein Sänger Todt!« So klagt sein flüsternder Hauch dahin durch Säuselnde Blumen. (Am Grabe Höltys) Diese Strophen treffen sehr rein den Ton der sapphischen Strophe in unserer Sprache. Auf die Schwierigkeiten, welche die adonische Klausel verursacht, hat Klopstock hingewiesen. Der Adonius verlangt wegen seiner Kürze eine besondere Rücksichtnahme. Wenn Vers, Satz, Gedanke in der Strophe so kurz schließen, wird das vom Ohr in der Wieder­ kehr leicht als zu hart empfunden. Mit Vorteil wird daher der 124

Adonius hin und wieder zum Gelenk gemacht, das die Strophen verbindet. Klopstock hat nicht nur die sapphische Strophe verändert, er hat auch bei der zweiten asklepiadeischen den längeren Vers vor den kürzeren gestellt. Die fünf asklepiadeischen Strophen unterscheiden sich nach der Wiederkehr ihrer Verse. Die dritte lautet bei Klop­ stock so: Welchen König der Gott über die Könige Mit einweihendem Blick, als er geboren ward, Sah vom hohen Olymp, dieser wird Menschenfreund Seyn, und Vater des Vaterlands. Viel zu theuer durchs Blut blühender Jünglinge, Und der Mutter und Braut nächtliche Thrän' erkauft, Lockt mit Silbergetön ihn die Unsterblichkeit In das eiserne Feld umsonst. (Friedrich der Fünfte) Man hört, was die festliegenden einsilbigen Takte leisten. Es ist etwas Schroffes in dieser Strophe, und ihre Härte ist schwer zu vermeiden. Die vierte asklepiadeische Strophe ist der dritten in den beiden Anfangsversen gleich, der dritte Vers aber ist kürzer, und durch ihn gewinnt die Strophe einen anderen Verhalt. Sie wird biegsamer und ist weniger einförmig. Bei Klopstock nimmt sie sich so aus: Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt. Von des schimmernden Sees Traubengestaden her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf, Komm' in röthendem Strahle Auf dem Flügel der Abendluft. (Der Zürchersee) 125

Alle Vorzüge dieser großen Ode finden sich gleich an ihrem Anfang. Man sieht, was die Kürzung des dritten Verses bewirkt, welchen minder harten Gang die Strophe durch ihn erhält. Noch sanfter wird sie bei Hölderlin, wenn er andere Daktylen an das Versende setzt. Denn, wie still am Gestad, oder in silberner Femhintönender Flut, oder auf schweigenden Wassertiefen der leichte Schwimmer wandelt, so sind auch wir, Wir, die Dichter des Volks, gerne, wo Lebendes Um uns atmet und wallt, freudig, und jedem hold, Jedem trauend; wie sängen Sonst wir jedem den eignen Gott? (Dichtermut) Ein einziger Satz, auf zwei Strophen verteilt und mit großer metrischer Kunst transponiert. Ein Vers zieht den anderen sanft und mühelos herbei und verbindet sich mit ihm. Der Geist und Gang solcher Perioden gehört zum höchsten in unserer Sprache. Sie atmen und wiegen sich mit einem unfehlbaren Wissen für das Ver­ hältnis von Vers und Satz, für das Verhältnis jedes Teils zum Ganzen, melodisch wie das Wasser. Von Strophen wie diesen läßt sich sagen, was der Dichter selbst zur Geliebten sagt: Staunend seh ich dich an, Stimmen und süßen Sang, Wie aus voriger Zeit, hör ich und Saitenspiel, Und die Lilie duftet Golden über dem Bach uns auf. (Der Abschied) Wir sehen, daß die Zahl der Strophen, welche die griechischen Lyriker hervorbrachten und welche als musterhaft anerkannt wur­ den, sehr begrenzt ist. Darin liegt kein Mangel an Erfindung, son­ dern die Einsicht, daß die Zahl der vollkommenen Lösungen klein ist. Dem Erfinden liegt nichts im Wege, und erfindbar ist eine un126

übersehbare Zahl von Strophen. Aber nur wenige sind darunter, die das Ohr vollkommen befriedigen und eine fortgesetzte Nach­ bildung verdienen. Diese sind sehr kunstvoll, denn Vers und Satz sind in ihnen mit der größten Innigkeit vereinigt. Sie drängen von vornherein auf neue Verbindungen von Vers und Satz. Klopstock fand nicht alle antiken Strophen tauglich für die Nach­ bildung in der deutschen Sprache. Auch genügten ihm die vorhan­ denen Formen nicht; er erfand eigene Strophen. Sie bleiben zu­ nächst, was die Nachbildungen sind, gemischte, aber in der Silben­ zahl festgelegte Metra. Ihr Verhältnis zu den antiken Strophen wurde an anderer Stelle so gekennzeichnet: »Wo Klopstock die antiken Strophen verwendet, dort ist der Bau der Ode leichter, klarer, durchsichtiger. Die Verhältnisse sind faßlicher, der Wuchs übersehbarer, weil alle Proportionen hier deutlicher abgemessen sind. Man kann sagen, daß hier in die Ode mehr Licht eindringt, ein helleres Feuer gleichsam, das jugendlicher anmutet. Der Wuchs ist schlanker. Wo er eigene Silbenmaße verwendet, dort tut er es meist — nicht immer —, um das Gewicht der Ode zu erhöhen. Vers und Strophe zeigen an, daß eine größere Last auf ihnen ruht. Der Satz wird feierlicher und zugleich dunkler. Alle seine Teile gewin­ nen an Bedeutung und Selbständigkeit; sie beginnen nun, ihre Kraft aneinander zu üben, sich abzusondern. Man hat das Empfin­ den, daß gerade Säulen und Pilaster sich unter dem Druck, der auf ihnen ruht, zu winden und zu schrauben beginnen wie bei einer barocken Konstruktion. Das ganze Gebäude der Ode verwandelt sich. Herder sah einen Bogen klopstockscher Silbenmaße, bei denen hinter Vers und Strophe das Verhältnis der Silben angemerkt, also, wie er sagt, die Harmonie ausgezählt war. Er vermißt an den in eigenen Silbenmaßen geschriebenen Oden nicht den lebendigen Ausdruck, aber er bemerkt bei dem Übergang von Oden in eigenen Silbenmaßen zu denen in antiken: >Ists nicht, als ob man aus einem allerdings erhabenen, aber zu künstlichen, dunklen und ungeheuren gothischen Gewölbe in einen freien griechischen Tempel käme, und da in einer Melodie, als in einem schönen regelmäßigen Säulen127

gange wandelte?< Und er warnt mit Recht vor der Nachahmung dieser Strophen durch geringere Dichter.« Zu diesen Oden in eigenen Strophen gehören aber einige seiner schönsten Gedichte, darunter Die frühen Gräber. Sie überschreiten nicht den Begriff der Ode als einer genau wiederkehrenden Strophenart mit gleicher Silbenzahl und festgelegten, aber wech­ selnden Takten. In anderen aber rüttelt er spürbar an der festen Form der Ode, und er durchbricht sie, indem er mit der Silbenzahl und der Taktzahl wechselt. Beispiele sind die zweiversig gesetzten Gedichte Der Kamin und Das Gehör. Auch zeigen Gedichte wie Die Gestirne und Die Zukunft, daß er sich an den Grenzen der Ode bewegt. Der Welten erschuf, dort den Leun! Heißer ergießt Sich sein Herz! Widder, und dich Kapricom, Pleionen, Skorpion, und den Krebs. Steigender wägt sie dort Den Begleiter. Mit dem Pfeil zielet, und blitzt Der Schütze! Wie tönt, dreht er sich, Köcher und Pfeil! Wie vereint leuchtet ihr, Zwilling' herab! Sie heben Im Triumphe des Gangs freudig den Strahlenfuß! Und der Fisch spielet, und bläst Ströme der Glut. (Die Gestirne) Und: Himmlischer Ohr hört das Getön der bewegten Sterne; den Gang, den Seleno und Pleione Donnern, kennt es, und freut hinhörend Sich des geflügelten Halls, Wenn der Planet fliehend sich wälzt, und im Kreislauf Eilet, und wenn, die im Glanze sich verbergen, Um sich selber sich drehn. Sturmwinde Rauschen, und Meere dann her. (Die Zukunft) 128

Eine solche Ballung und Zusammendrängung der Sprache im Vers und zugleich ein solches Streben der rhythmischen Gliederungen nach Selbständigkeit liegt an der Grenze dessen, was der Vers über­ haupt halten und fassen kann. Auch ist dergleichen weder vorher noch nachher versucht worden. Der metrische Rhythmus solcher Gedichte ist fast unnachahmbar; er entzieht sich selbst für den Dichter, der ihn gefunden hat, der Nachbildung.

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FREIE RHYTHMEN

Deutscher Hexameter und freie Rhythmen Was Klopstods in Gang brachte, richtete sich zunächst gegen die Schule von Opitz, gegen den Silbenzählenden, alternierenden Reim­ vers, gegen die ausschließliche Herrschaft der Jamben und Trochäen. Die Sprache war Durch unseren Jambus halb in die Acht erklärt. Klopstock war des Glaubens, daß er mit dem deutschen Hexameter etwas Neues geschaffen habe, wie er mit seinen Oden und freien Rhythmen etwas Neues schuf. Zugleich überzeugte er sich davon, daß der Vers, so wie er im deutschen Hexameter erschien, immer schon in der deutschen Dichtung bestanden hatte. Er suchte selbst in der alten deutschen Dichtung nach Hexametern und glaubte sie gefunden zu haben. Die Frage wäre also zu stellen, ob wir auch dann zu einem deutschen Hexameter gekommen wären, wenn wir den griechischen nicht gekannt hätten. So gefaßt ist die Frage zu verneinen. Richtig ist aber, daß die Silbenfolgen der deutschen Sprache, wenn sie in der freien Mischung von Daktylen und Trochäen erscheinen, den Hexameter zwanglos ergeben können. Er kann wie von selbst aus der Sprache hervorbrechen. In Luthers Bibelübersetzung finden sich regelrechte Hexameter, so in den Psalmen, obwohl diese, als Ganzes genommen, einen anderen Ver­ halt haben. Denn der Anfang des 42. Psalms: Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele ist ein Hexameter. Und der Anfang des 48.: 130

Groß ist der Herr und hochberühmt in der Stadt unsers Gottes ist auch einer. Es ist kein Mangel an ihnen, denn: Zücke den Spieß und schütze mich wider meine Verfolger (35. Psalm) Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort auf (18. Psalm) Ach, daß die Hilfe aus Zion über Israel käme (11. Psalm) sind Hexameter, und wer nach ihnen sucht, wird noch mehr finden. So nähert sich auch das Hohelied in der Übersetzung immer wieder dem Hexameter und bildet ihn regelrecht. Unsrer Häuser Balken sind Zedern, unser Getäfel ... Siehe mein Freund, du bist schön und lieblich. Unser Bett grünt ... Wie eine Rose unter den Domen, so ist meine Freundin ... Das ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und ... Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith! kehre ... Doch genug damit. Wir fänden weit mehr davon, wenn nicht die Vorliebe Luthers für einsilbige Takte, an deren Kraft und Zu­ sammenprall er ein Wohlgefallen hat, oft die regelrechte Bildung verhinderte. Auch wirkt ihnen der Parallelismus membrorum der hebräischen Dichtung, der bald synonym, bald antithetisch, synthe­ tisch und in Stufen fortgeht, ohne wiederkehrende Folgen von Verssilben zu bilden, stark entgegen. In Luthers Übersetzung ist der Hexameter oft von großer Kraft. Eine andere Erwägung ist wichtiger. Es scheint, daß dieser Vers Geheimnisse in sich birgt, die noch unberührt sind. Er ist unersdiöpft und scheint ein Tor und Ausgang zu neuen Versen zu sein. Auch hierauf wandte Klopstock zuerst seine Aufmerksamkeit. Indem er den griechischen Hexameter mit dem deutschen verglich, 131

kam er zu der Überzeugung, daß in diesem neue, unerkannte Be­ stimmungen schlummerten. »Man kann«, sagt er, »unter anderm auch deswegen mit dem deutschen Hexameter zufrieden seyn, weil er oft lyrische Verse der Alten, als Theile, aufnimt. Denn was diesen, als ein Ganzes, schön vorkam, dürfte, als Theil, doch wohl nicht verwerflich seyn. Man könnte sogar sagen, das das, als Theil, Aufgenommene, durch Vergleichung mit dem andern (schließenden) Theile, noch gewönne.« Er bemerkt hierzu noch, daß dem sap­ phischen Verse nur der Ausgang zum deutschen Hexameter fehle, daß man aus Pindars Versen Hexameter zusammensetzen könne. Das trifft zu, auch ist der Gedanke, der solche Überlegungen leitete, ein richtiger. Zunächst ist schon der griechische Hexameter ein Muster, aus dem neue metrische Formen hergeleitet werden, so das Elegeion, so die daktylischen Strophen des Archilochos. Und auch die äolischen Daktylen, die daktylischen Chorlieder des Alkman, Stesichoros und Ibykos führen auf den Hexameter zurück. Daß die sich entfaltende Lyrik, daß die daktylische Chorlyrik bei den Tra­ gikern nicht ohne Zusammenhang mit dem Hexameter gedacht werden können, bedarf keiner Ausführung, wie denn auch ein­ leuchtet, daß der epische Vers für die Bedürfnisse der Lyrik und der Tragödie verändert und gekürzt werden muß, denn diese sind leidenschaftlicher. Klopstock prüfte also das Verhältnis des Hexameters zur Ode. Auch setzte er aus alten deutschen Versen Hexameter zusammen. Warum tat er das? Weil er sich gegen die Angriffe seiner Gegner versichern wollte, daß er auf dem rechten Wege war. Sie warfen ihm vor, daß er regellos verfahre und die Überlieferung abbreche. Aber welche Überlieferung war das? Seinen Überlegungen in dieser Richtung liegt noch eine andere Erwägung zugrunde. Wenn der deutsche Hexameter gleich dem griechischen wie in einer Hülle lyrische Verse enthält, wenn sie als Einschlüsse in ihm verborgen sind, dann lassen sich diese Verse auch hervorholen. Wenn sie das Ohr im geheimen beschäftigen, in ihm anklingen, läßt sich viel­ leicht ein Verfahren finden, sie noch hörbarer zu machen. Hier also 132

begann Klopstock zu erwägen, ob sein Vers für andere Bestimmun­ gen tauglich war. Er entdeckte in ihm neue Möglichkeiten einer Verteilung von Vers und Satz. Ein Mittel dazu wurden ihm jene im Vers sich hervorhebenden rhythmischen Einheiten, die er Wort­ füße nannte, die Kola also. Daß er sie fand, hängt mit dem Bau seines Hexameters zusammen. Erwähnt wurde schon, daß sie nur in einem Vers von solchem Umfang und solcher Mannigfaltigkeit deutlich genug hervortreten. Er ging noch weiter. Die Ode Das Wort der Deutschen war von ihm zunächst in Hexametern geschrieben. Ihr Anfang lautete da: Haue mir Marmor, Künstler, und grab in den Marmor mit Goldschrift! Höre genau, und verfehle der Laute keinen; denn edel Ist die That! und sie geht nie durch die Vergessenheit unter: Sieger sind meine Deutschen; und doch ist ihnen der Lorber Abscheu, Blut und Tod ist Greuel den siegenden Deutschen! Aber als er diese Ode 1798 herausgab, lautete der Anfang so: Haue mir Marmor, Künstler, Und grab in den Marmor mit Goldschrift! Höre genau, und verfehle der Laute keinen; Denn edel ist die That! Und sie geht nie durch die Vergessenheit unter: Sieger sind meine Deutschen; Und doch ist ihnen der Lorber Abscheu, Blut und Tod ist Greuel den siegenden Deutschen! Was bewog ihn dazu, den Hexameter in dieser Weise abzusetzen? Er löst ihn auf, indem er etwas anderes aus ihm herauslöst. Man hat dieses Verfahren sowohl gerühmt wie als Spielerei abgetan, als bloße Veränderung der Schreibweise. Das ist ein kurzer Gesichts­ punkt oder gar keiner, denn die Folgen müssen beachtet werden. Klopstock ordnet nicht mehr nach sechs Takten, sondern nach den 133

Taktgruppen der Verskola. Diese sind nicht ohne Regel, denn ihr Umfang bestimmt sich nach der rhythmischen Kraft, mit der eine Haupthebung Nebenhebungen und Senkungen an sich zu ziehen vermag. An die Stelle des Hexameters, der aus sechs daktylischen und trochäischen Takten besteht, tritt ein Vers, der in Auftakt, Anfang, Folge und Ende frei gebildet ist. Dieser Vers, der weder alterniert noch feste Silbenzahl und Taktzahl hat, ist aus einem Versgesetz heraus nicht mehr zu bestimmen. Der Vers beschränkt sich darauf, den metrischen Rhythmus des mit ihm vereinigten Satzes freizulegen. Der Satz als rhythmisierte Reihe, die Periode als rhythmisierte Satzfolge tritt hervor. Eine Regel für die Abtei­ lung gibt der Vers selbst nicht mehr. Diese Regel ist in der Verbin­ dung von Vers und Satz zu suchen; der Vers räumt dem Satz die Entscheidung darüber ein, was er im Vers zu halten vermag und was nicht. Die Frage ist, ob unser Hexameter, wo er frei und mit Kraft gehandhabt wird, auf diese Lösung zustrebt, ob er also der Ausgang ist, von dem her sich freie Rhythmen bilden lassen. Wir können sagen, daß er dort auf eine solche Lösung zustrebt, wo ihn der Lyriker seinen Absichten gemäß findet, um neue Formen daraus herzuleiten. Was Klopstock tat, blieb weder verborgen noch un­ genutzt. Herder rühmte diese neu gewonnenen Verse. Folgenreicher war, daß die Schüler Klopstocks auf diesem Gebiet der Versbehandlung, daß Goethe und Hölderlin die freien Rhythmen annahmen und fortbildeten. Es leuchtet ein, daß der klopstocksche Wortfuß und auch sein Verfahren der Versabteilung nicht das letzte Wort ist, das in dieser Sache gesprochen werden kann. Wie das Verfahren zu entwickeln ist, das erkennen wir, wenn wir die Anordnung des Hymnenverses und Hymnensatzes betrachten, wie ihn Goethe und Hölderlin verwenden. Halten wir zunächst daran fest, daß ein Ausgang der freien Rhyth­ men im Hexameter liegt. Wir können das nachprüfen und das Ver­ fahren Klopstocks, aus Versen Hexameter zusammenzusetzen, auf die freien Rhythmen seiner Nachfolger anwenden. 134

So aus Goethes Harzreise im Winter: Ach, wer heilet die Schmerzen Des, dem Balsam zu Gift ward? Oder: Winterströme stürzen vom Felsen In seine Psalmen Aus dem Gedicht-Gesang der Geister über den Wassern: Wind ist der Welle Lieblicher Buhler; Wind mischt vom Grund aus Oder: Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen Aus Hölderlins Hymme Der Rhein: Jetzt aber, drinn im Gebirg, Tief unter den silbernen Gipfeln Und: Drum ist ein Jauchzen sein Wort. Nicht liebt er, wie andere Kinder Alle diese Verse sind in der Zusammensetzung Hexameter, und nicht zufällig, denn ohne Übung des Ohrs am Hexameter wären sie nicht da. Im Hinhören auf ihn sind sie ausgewogen. Das ge­ schieht auf zweierlei Weise. Einmal läßt sich der Hexameter nach dem klopstockschen Verfahren rein aufteilen, so daß er ebenso rein wieder herstellbar ist. So im Anfang von Hölderlins Patmos: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler 135

was zwei Hexameter ausmacht. Dann aber läßt sich der Hexameter freier abwandeln, wofür als Beispiel eine Stelle aus Hölderlins Hymne Die Wanderung dienen mag. Ich aber will dem Kaukasos zu! Denn sagen hört ich Noch heut in den Lüften: Frei sei'n, wie Schwalben, die Dichter. Auch hat mir ohnedies In jüngeren Tagen Eines vertraut, Es seien vor alter Zeit Die Eltern einst, das deutsche Geschlecht, Still fortgezogen von Wellen der Donau, Am Sommertage, da diese Sich Schatten suchten, zusammen Mit Kindern der Sonn Am schwarzen Meere gekommen; Und nicht umsonst sei dies Das gastfreundliche genennet. Auch das sind unverkennbare Hexameter. Noch einmal sei bemerkt, daß die epische Länge des Hexameters für die Bewegung des Lyrikers zu lang ist, denn seine Bewegung ist leidenschaftlicher, und der Wechsel der Empfindung drängt auf kürzere Verse hin, auf einen wechselnden Abbruch des Verses und auf eine neue Vertei­ lung des Gewichts. So kommt es zur Aufteilung und freien Ver­ änderung des Hexameters. Die Frage nun, warum die freien Rhythmen sich an den Hexameter anlehnen und sich auf seine metrische Ordnung bald genauer, bald von fernher stützen, ist so zu beantworten. Er ist unter den reimlosen Versen derjenige, der Strenge und Geräumigkeit vereinigt. Er gibt, als Vorgänger der freien Rhythmen, diesen einen Halt, der ihnen zustatten kommt. Sie bedürfen eines Halts, weil sie fortreißend sind und sich der Begeisterung anvertrauen. In ihrer fortreißenden Bewegung ge136

fährden sie die Wiederkehr. Sie dürfen sich der Prosa nicht nähern, denn das ist nicht ihre Aufgabe und Bestimmung. Im Ohr des Dich­ ters klingt der Hexameter fort, und von seinem Zeitfall ausgehend, kann er freie Rhythmen bilden. Was an den Versen der Wanderung auffällt, ist der Abbruch, den sie zeigen. Die Abmessungen des Verses haben etwas Angenom­ menes; der Vers ist für das Ohr auch auf andere Weise teilbar. Metrisch begreifbar ist nicht der einzelne Vers, sondern die Ver­ einigung von Versen und Sätzen. Auf die Abmessungen des ein­ zelnen Verses kommt es nicht so sehr an. Vers und Satz ver­ einigen sich so, daß metrische und syntaktische Abschnitte nicht zusammenfallen. Der Satz wird rhythmisch gestärkt. Es ist ein Gegensatz zwischen der Leidenschaft, die alles in Bewegung bringt, und der Langsamkeit, mit der diese Bewegung sich vollzieht. Durch ein Verfahren, das den Satz nur nach prosodischen Regeln be­ handelt und nach Belieben abteilt, sind solche Gedichte nicht zu gewinnen.

Oden und freie Rhythmen Nicht nur vom Hexameter, sondern auch von den Oden her drängt Klopstock auf freie Rhythmen zu. Wir sahen, wie er die Ode in ihrem ganzen Umfang prüfte und dabei die Grenzen ihres Begriffes erreicht und überschreitet. Indem er die einsilbigen und vielsilbigen Takte mehrt, die Hebungen aufeinander prallen läßt und vielsilbige Senkungen bringt, durchstößt er rücksichtslos die jambischen und trochäischen Gefüge. Er wechselt im gleichen Gedicht mit den Auftaktsilben, mit Silbenzahl und Taktzahl. Dadurch erreicht er noch keine freien Rhythmen, doch wird spürbar, daß er auch von der Ode her einen Ausgang zu ihnen sucht. Er gewinnt ihn schon vor den Oden in eigenen Strophen. Das erste Gedicht, in dem er freie Rhythmen verwendet, ist Die Genesung. Dann folgen die sechs Hymnen, die im Nordischen Aufseher erschienen. Das Kenn!37

Zeichen dieser Gedichte war für Klopstock das »Dithyrambische«; er bestimmte es als das Kennzeichen einer Ode, welche »in jeder Strophe das Silbenmaß verändert«. Hier sind also Oden, welche eigentlich keine mehr sind. Klopstock legte aber einen Wert darauf, daß sie als solche erschienen, was sich vor allem darin zeigt, daß er sie im Jahre in Strophen von vier Versen umsetzte. Denn vor­ her waren sie ohne diese Absetzung erschienen. Der strophische Bau war ihnen also zunächst nicht wesentlich. Wahrscheinlich be­ wog ihn ein musikalisches Empfinden, im Satzbild diese Verände­ rung vorzunehmen. Das Kennzeichen der reimlosen Hymnen ist, daß jeder Vers freien Auftakt, freie Silben- und Taktzahl und wechselnde, nicht fest­ gelegte Metra beanspruchen kann. Der Dichter wird durch kein Schema gebunden und kann über jeden Vers frei bestimmen. Das schafft einen weiten, ja unübersehbaren Spielraum. Die Frage ist zunächst, welche Stütze das Ohr hat, wenn es diesem freien metrischen Rhythmus lauscht. Eine Stütze hat es zunächst in der Prosodie, und von hier aus ist zu erwägen, wie der metrische Rhyth­ mus alles Prosodische steuert. Wir haben hier eine durchaus freie Verbindung von Takten. Sie ist keineswegs Prosa, denn freie Ver­ bindung von Takten ist keine Bestimmung für Prosa. Auch ist diese freie Verbindung für das Gedicht nicht entscheidend, denn da es dem doppelten continuum von Vers und Satz folgt, haben wir vor allem zu prüfen, ob die Folge und der Zusammenhang der Takte lückenlos ist, so lückenlos, daß der metrische Rhythmus in ihnen nicht gebrochen und unterbrochen wird. Das Gesetz der Wiederkehr im Gedicht wird nicht durch die freie Verbindung ge­ stört, sondern durch Unterbrechung des doppelten continuum. Wo dieses aufgehoben wird, wo das einfache continuum des Satzes erscheint, dort erst stoßen wir auf Prosa. Daß die Hymnen weit von aller Prosa entfernt sind, wird aber jedem Ohr sofort deutlich. So im dem Gedicht Die Frühlingsfeier, dessen erste sieben Strophen wir hier bringen.

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Nicht in den Ozean der Welten alle Will ich mich stürzen! schweben nicht, Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts, Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn! Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten! Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen auch. Da der Hand des Allmächtigen Die größeren Erden entquollen! Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden, Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! Da ein Strom des Lichts rauscht', und unsre Sonne wurde! Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen Die Wolk' herab, und den Orion gürtete, Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! Wer sind die tausendmal tausend, wer die Myriaden alle, Welche den Tropfen bewohnen, und bewohnten? und wer bin ich? Halleluja dem Schaffenden! mehr wie die Erden, die quollen! Mehr, wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten! Aber du Frühlingswürmchen, Das grünlichgolden neben mir spielt, Du lebst; und bist vielleicht Ach nicht unsterblich! Ich bin heraus gegangen anzubeten, Und ich weine? Vergieb, vergieb Auch diese Thräne dem Endlichen, O du, der seyn wird. Dem Hörer und Leser fällt an solchen Versen vielleicht zunächst auf, daß ihm beim Sprechen Zweifel darüber entstehen, wie der 139

Dichter sie gesprochen haben will. Sein Ohr hat nicht mehr die Stütze, welche es in dem wiederkehrenden Schema des Odenverses findet. Über die Zuordnung der Silben zu den Takten, über die Taktzahl selbst kann er ins Schwanken geraten. Hier scheint die fortgehende Bestimmung so schwierig zu werden wie bei den poly­ schematischen Versen der Griechen, bei den gemischten Reihen, in die trotz Heliodor, Hephästion und Aristides keine rechte Klarheit kommen will. Klopstock selbst bemerkt schon, daß der Leser nicht wissen kann, »wie der Redner oder Dichter die Sylbe der un­ bestimmten Dauer ausgesprochen haben wollen«. Das trifft zu und heißt zugleich, daß es dem Leser überlassen bleibt, die Aussprache zu bestimmen. An ihn wird also gleichsam die Anforderung gestellt, am metrischen Rhythmus selbst mitzuarbeiten. Wo der Verhalt des Verses nicht eindeutig hinreicht, um ihm Sicherheit zu geben, hat er mehrere Möglichkeiten. Eine solche Möglichkeit aber — das begrenzt den Zweifel — muß vorhanden sein. Denn wo sie nicht vorhanden ist, dort muß eine Störung der Taktfolge vorliegen, dort muß ein Riß liegen, der das doppelte continuum von Vers und Satz stört. Und wo dieses zerbricht, hört das metrisch Faßbare und Begreifbare auf. Längere und zugleich kürzere Verse hat Klopstock nirgends an­ gewandt als hier. Der Umfang des Verses geht über den Hexameter hinaus und erreicht die Kürze der adonischen Klausel. Wenn wir die Verse der Frühlingsfeier und anderer Hymnen betrachten, fin­ den wir unter ihnen regelrechte Hexameter, aber auch Verse, die den antiken Strophen entnommen sind oder ihnen nahekommen. Daran ist nichts Verwunderliches, denn die Silbenfolgen des Hexa­ meters und die zwar festgelegten, aber wechselnden der antiken Strophen können ohne weiteres für die freien Rhythmen verwendet werden. Daß sie verwendet werden, hat zwei Gründe. Einmal war Klopstock vollkommen vertraut mit ihnen und kam bewußt oder unbewußt auf sie zu, dann aber geben sie dem Gang der Hymnen eine Stütze, einen Halt, der nicht zu unterschätzen ist. So wie die aus dem Hexameter hervorgehenden freien Rhythmen sich auf ihn 140

stützen, so stützen sich die freien Rhythmen, die aus der Ode her­ vorgehen, auf diese. Klopstock war, während ihn die Hymnen beschäftigten, zugleich an seinen Oden tätig, und was er hier ge­ wann, war dort nicht verloren. Die Hymnen traten für ihn aber nicht an die Stelle der Ode im strengen Begriff, denn er setzte sie fort, er gab sie nicht auf. Bei den Hymnen erkennen wir, daß bei ihnen ebenso wie bei den auf den Hexameter gestützten Versen der Vers sich nicht selbst bestimmt. Der Vers tritt an den Satz Aufgaben ab. Falsch ist aber, wenn behauptet wird, daß der Vers hier nicht mehr der Wiederkehr gehorcht. Dieser gehorcht, wenn auch nicht in der genauen Weise, die das doppelte continuum kennzeichnet, schon die Sprache. Wo aber metrischer Rhythmus ist, da ist genaue Wiederkehr, denn beides ist immer zusammen da, und wo eines fällt, fällt auch das andere. Ein viel zu enger und starrer Begriff der Wiederkehr wäre, wenn wir sie an die Wiederkehr fester Silbenfolgen im Vers binden würden. Nähere Bestimmung der freien Rhythmen Der Name »freie Rhythmen« ist nicht glücklich gewählt. Metrischer Rhythmus ist schon durch die genaue Wiederkehr etwas Gebunde­ nes. Die Frage, was Freiheit ist, fordert zudem die Bestimmung der Grenzen, in denen sie besteht. Wenn ich dem Gedicht Freiheit nehme und keine gebe, wird es starr. Wenn ich ihm Freiheit gebe, ohne es anderweit zu binden, löst es sich auf. Der Spielraum ist da, aber er setzt schon die Regel voraus und verschwindet, wo ich ihn regellos überschreite. Das Gedicht verfällt dort, wo das doppelte continuum von Vers und Satz angegriffen wird. Das Entstehen des Gedichts schon ist an Regeln gebunden, sein Zustandekommen setzt sie voraus. Solche Regeln trennen das Gedicht von der Prosa. Andere machen, wenn sie verletzt werden, das Gedicht fehlerhaft. Wie aber können wir die Regeln unterscheiden? Worin bestehen sie? 141

Verletzt wird das Gedicht durch das Verswidrige und Satzwidrige. Verletzt wird es durch falschen Gebrauch der Prosodie. Verletzt wird eine Regel des Gedichts, wenn die prosodische Betonung des Worts falsch in den metrischen Rhythmus eingeht. Der Vers ver­ letzt den Satz. Wird der metrische Rhythmus in seiner Wiederkehr verletzt, dann verletzt der Satz den Vers. Gegen eine Regel wird dort verstoßen, wo unser Ohr merkt, daß es auf fehlerhafte Weise beschäftigt wird. Das sind Grundregeln, die für unsere gesamte Dichtung gelten und nirgends verletzt werden dürfen. Neben diesen Grundregeln, in deren Unverletzbarkeit das heile Gedicht ruht, gibt es eine große Zahl angenommener Regeln. Auch sie können verletzt werden, aber in ihrer Verletzung liegt kein Verstoß gegen Rhyth­ mus und Prosodie. Durch sie wird die Zahl und Stellung der Silben, Takte, Verse und Strophen, die Art, Zahl und Stellung der Reime vorgeschrieben. Angenommen sind diese Regeln, weil sie dem Gedicht fehlen können. Das Gedicht kann ohne sie bestehen. An­ genommen ist zum Beispiel eine Regel, die für das Gedicht eine bestimmte Zahl von Versen oder Strophen vorschreibt, denn diese Vorschrift ist von Vers und Satz her nicht unmittelbar zu be­ gründen. Unser Ohr entscheidet darüber, ob solche angenommenen Regeln das Gedicht fördern. Ihre Vielzahl macht den Vers noch nicht streng. Zunächst wird er eingeschränkt und kann durch die Einschränkungen sowohl gewinnen wie verlieren. Sonette sind in unserer Dichtung nicht etwa deshalb eine strenge Gattung, weil sie sich an eine Vielzahl solcher angenommenen Regeln binden. Ich kann noch weit künstlichere Regeln vorschreiben, Sonettenkränze oder Sestinen etwa, damit aber komme ich nicht zu strengen For­ men, sondern zu immer starreren Schablonen und binde den Vers an immer engere Grenzen. Was heißt überhaupt ein Begriff wie streng in unserer Dichtung? Streng kann sie doch nur insofern sein, als sie die Regeln des un­ unterbrochenen metrischen Rhythmus und der Sprache getreu und innig befolgt. Streng wird sie dadurch, daß sie dem Ohr nichts Vers- und Satzwidriges zumutet. Insofern ist unser Ohr ein stren142

ger Richter und Prüfer, insofern gibt es nicht nur in der Musik, sondern auch in der Sprache ein absolutes Gehör, das noch seltener ist als das musikalische. Wo ich eine Regel wegnehmen kann, ohne die Einheit von Vers und Satz zu verletzen, dort lag noch keine Strenge vor. Vielleicht aber nehme ich dem Gedicht dadurch den Wohllaut? Das geschieht — bei gereimten Blankversen etwa, wenn ich den Reim weglasse —, da sie einen metrischen Rhythmus haben, der für sich nicht hinreicht, um das Ohr angemessen zu beschäfti­ gen. Dort, wo der in der Sprache entstehende Rhythmus sich selbst genügt, dort ist die Regel streng genug, während ihr Fehlen sich oft im Zunehmen von angenommenen Regeln versteckt. Unter den Reimversen sind immer solche, die ohne Reim wenig oder nichts sind, woran sich zeigt, daß ihre rhythmische Schwäche ohne Reim unverhüllt hervortritt. Diese Erwägung aber geht zu weit, denn der Reimvers bedarf des Reims und ist seinetwegen da, ein Verhältnis, das auch in der Umkehr besteht. Nicht aber ist der Reim dazu da, um einen schadhaften Vers zu decken. Unsere Sprache hat ihren Zügel in sich; er braucht ihr nicht von außen aufgelegt zu werden. Insofern gibt Pegasos ein schlechtes Bild, auch zeigt er, daß er seinen Reiter abwirft. In den unverletz­ baren Regeln von Vers und Satz kann sich der Dichter frei be­ wegen. Was er an angenommenen und auferlegten Regeln an­ nimmt, was er an zugemessenen Rhythmen sich zumißt, unterliegt seiner freien Entscheidung. Die Sprache ist nicht regellos, und wer sie dazu macht, ist kein Dichter, denn dieser kennt ihre inneren Zügel, weiß daher, daß er sie nicht als angenommene nimmt, son­ dern sich ihnen als inneren anvertraut. Sprache und Rhythmus sind als Vereinzelung eines Gemeinsamen in ihm und leiten ihn so weit, wie er selbst Sprachgeist ist und den Sprachgeist rhythmisch zu führen vermag. Was sind also freie Rhythmen in unserer Sprache? Wer auf diese Frage antworten würde: vom Reim nicht gebundene und in ihrer Zeitdauer wechselnde Verse, der würde keine hinreichende Antwort geben. Frei durch ein Fehlendes sind sie nicht; sie sind frei durch 143

eine neue Bindung. Sie sind nicht frei, weil ihnen der Reim, die wiederkehrende Silben- und Taktzahl des Verses oder die wieder­ kehrende Folge der Strophe fehlt; frei sind sie, weil Vers und Satz in ihnen eine neue Verbindung eingehen, die sehr innig ist, in der also zugunsten dieser Bindung auf andere Bindungen verzichtet wird. Freie Rhythmen sind keine vers libres. Vers libres finden wir in den Fabeln von Lafontaine und bei Moliere; wir finden sie auch in der deutschen Dichtung. Sie sind Verse, die sich in verschiedener Silbenzahl folgen, ohne daß eine Regel dafür sichtbar würde. Die gereimten sind daher den reimlosen vorzuziehen, denn ihr lockeres Gefüge erhält durch den Reim eine Bindung mehr. In ihnen liegt nicht die Kraft, den Satz in starke rhythmische Reihen zu ver­ wandeln. Vers mesures dagegen nennen die Franzosen die Verse, die sie Griechen und Römern nachahmen. Sie sind für uns ohne Bedeutung und haben auch in Frankreich geringen Einfluß. Unsere freien Rhythmen sind sowohl libres wie mesures. Sie sind kein Übergang von der Dichtung zur Prosa, das heißt eine An­ näherung, bei der die Grenzen sich nicht genau bestimmen lassen. Sie sind weder rhythmisierte Prosa noch Verse, die, indem sie das Gesetz der genauen Wiederkehr preisgeben, sich der Prosa nähern. Es ist ein Kennzeichen der Prosa, die kunstvoll wird, daß sie den Satz hörbar zu rhythmisieren beginnt. Sie sinnt dann über dem Gesetz der Wiederkehr nach, ohne die genaue Wiederkehr des metrischen Rhythmus zu erreichen, denn wenn sie ihn erreichen würde, würde sie Gedicht werden. Sie strebt aber auf das Gedicht zu, und nicht ohne Grund, denn wenn dieses nicht vorhanden wäre, würde ihr eigener Rhythmus verfallen. Der Satz der Prosa — und damit sie selbst — lebt von der Dichtung und hat immer von ihr gelebt. Dieses Verhältnis wird heute übersehen und dem Prosasatz eine Selbständigkeit zuerkannt, die er gar nicht besitzt. Aber nicht nur die Geschichte lehrt uns, daß die Prosa aus der Dichtung her­ vorgeht, sich von ihr ablöst. Diese Ablösung vollzieht sich, indem der Satz als einfaches continuum Selbständigkeit gewinnt. Dabei muß er, um als Satz bestehen zu können, sich rhythmische Gesetz144

lichkeit bewahren; ohne sie würde der Satz verfallen. Das Geschick der Sprachen ist mit geschichtlicher Kraft an die Dichter geknüpft. Wo keine mehr sind, geht es mit den Sprachen rasch zum Ende. Wo die Sprachen enden, verschwinden die Dichter. Der Dichter, der sich den freien Rhythmen zuwendet, darf das nicht mit der Absicht tun, das doppelte continuum von Vers und Satz zu sprengen, denn durch dieses bestimmt sich die genaue Wiederkehr im Gedicht. An solchen Versuchen ist kein Mangel, und kenntlich werden sie sowohl durch die willkürliche Behandlung des Verses wie durch die mangelnde metrische Transposition des Satzes. Wir finden hier rein optische Verse, das heißt Verse, die durch die Schreibweise einen Vers Vortäuschen. Und wir finden die lahmen, keiner metrischen Inversion folgenden Sätze, die in der Prosa versanden. Das sind Versuche, die an ihrer metrisch rhyth­ mischen Ungenauigkeit erkannt werden. Freie Rhythmen sind keine Form, in der die Einheit von Vers und Satz sich zu lockern beginnt. Sie gehören, die Muster zeigen es, zum Kunstvollsten der Sprache. Dort, wo eine freie Verbindung der Takte und Verse statt­ hat, dort tritt der Satz als Träger des Rhythmus hervor. Die für unsere Dichtung geltende Einheit von Vers-, Wort- und Satzakzent mit der Folge der Hebungen ist nicht gemindert oder gar aufge­ hoben. Die Verse werden von dem mit ihnen vereinigten Satz ge­ steuert. Gewiß ist, daß unser Satz nicht silbenmäßig gesprochen wird, das heißt in einer Bewegung, die von Silbe zu Silbe gleich­ mäßig fortgeht. Weder die Sprache noch die Empfindungen des Sprechenden gestatten das, und ein solches Sprechen würde einen ganz mechanischen Eindruck hervorrufen. Wir hören vielmehr, daß der Sprechende rhythmische Einheiten zusammenfaßt, Einheiten, die verschieden an Ton und Umfang sind, so daß der Satz von seinen kleinsten gehörten Teilen her in ungleichartige Gruppen »zerfällt«. Aber er zerfällt nicht, er wird erst durch die Ungleichartigkeit der Teile wahrhaft zum Satz. Der Begriff jeder Gliederung setzt Un­ gleichartigkeit voraus. Der Satz ist nicht mechanisch teilbar, son­ dern — wie Klopstock sagen würde — nach Begriffen. Seine Teil145

barkeit wird begrenzt durch die Unteilbarkeit der Sprache. Er steuert seine ungleichartigen, unteilbaren Teile von sich aus durch den Fortgang seines Haupttons, steuert sie durch den Satzakzent, im Gedicht durch dessen Vereinigung mit der Vershebung. Irrig wäre, die freien Rhythmen danach zu beurteilen, daß der Dichter vom Vers einen freien Gebrauch macht, daß er die Verse in ihrem Umfang, ihrer Länge, ihrer Zeitdauer wechseln läßt. Der Vers allein gibt keinen Maßstab für die Beurteilung freier Rhyth­ men. Scheinbar nur leidet durch eine solche freie, wechselnde Be­ wegung das Gesetz der Wiederkehr. Wir sagen scheinbar, denn wenn es beseitigt würde, dann wäre von Versen keine Rede mehr. Die Taktfolge bleibt. Wenn der in seinem Umfang, seiner Länge und Zeitdauer feststehende und wiederkehrende Vers aufgegeben wird, dann geschieht das, weil diese freie Behandlung Strenge an einem anderen Ort voraussetzt. Der Vers ist nicht das einzige Mittel oder Glied, durch das sich die genaue Wiederkehr ausspricht. Denn nun gewinnt der Satz ein anderes Gewicht und muß mit großer Aufmerksamkeit behandelt werden. Wie aber geschieht das? Freie Rhythmen werden vom Satz her gewonnen. Wir sehen an ihnen, daß der Vers sich des Satzes wegen entäußert, und er tut das, weil er einen Ausgleich, ein Äquivalent erhält. Der Vers verzichtet auf sein Vorrecht, die genaue, wiederkehrende Ausmessung und Aus­ wiegung des Satzes von sich aus zu bestimmen. Er gibt aber von seiner Herrschaft nur das preis, was der Satz wirklich übernehmen kann. Daher ist das Gelungene der freien Rhythmen nicht vom Vers, sondern vom Satz her einzusehen. Der Satz muß darauf hin untersucht werden, ob er eine neue, höhere Selbständigkeit ge­ wonnen hat. Er zeigt dann den ihm eigenen reimlosen Wohllaut, der seine freiere Bewegung begleitet. Er gewinnt an Harmonie und wird melodischer. Er nimmt etwas Gerundetes an. Seine Bewegung wird figurierend. Diese figurierende Bewegung, die wir auch beim Tanz merken, in der Einheit seines Rhythmus und Rhythmizome­ non, ist den freien Rhythmen anzumerken.

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Wind ist der Welle Lieblicher Buhler; Wind mischt vom Grund aus Schäumende Wogen. Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind! (Goethe, Gesang der Geister über den Wassern) Wir sagten schon, daß darin der Hexameter sich verbirgt. Er allein hätte einen solchen Verhalt nicht hörbar machen können. Seine Harmonie wirkt an den Versen mit, aber ihr Ton und Verhalt ist etwas Neues, nie zuvor in unserer Dichtung gehört. Winterströme stürzen vom Felsen In seine Psalmen, Und Altar des lieblichsten Danks Wird ihm des gefürchteten Gipfels Schneebehangner Scheitel, Den mit Geisterreihen Kränzten ahnende Völker. (Goethe, Harzreise im Winter) Auch solche Verse bilden den Hexameter und grenzen an ihn an. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit vom Vers ab, der uns allein nicht hinreichend belehrt, dann erkennen wir hier und an anderen Beispielen, daß für unsere freien Rhythmen der Verhalt von frei gemischten Daktylen und Trochäen bestimmend ist. Fetter grüne, du Laub, Am Rebengeländer Hier mein Fenster herauf! Gedrängter quellet, Zwillingsbeeren, und reifet 147

Schneller und glänzend voller! Euch brütet der Mutter Sonne Scheideblick, euch umsäuselt Des holden Himmels Fruchtende Fülle. (Goethe, Herbstgefühl) Auch hier beherrscht den Gang des Gedichts die freie Mischung von Daktylen und Trochäen, die an den Hexameter angrenzen. Man könnte sagen, daß der Vers gegen den Jambus zu abbricht. Anders gesprochen, die Versanfänge sind so gesetzt, daß sie Auftakt ge­ winnen; auch wird ein Wert darauf gelegt, daß sich am Versende einsilbige Takte finden. Der daktylisch-trochäische Verhalt der Sätze wird so getrennt, daß freier Auftakt und einsilbiger Takt den Vers begrenzen, eine Einrichtung, welche dem freien Vers seinen Gang gibt und zugleich den Satz figuriert, daher in den freien Rhythmen immer wiederkehrt. Ähnliches findet sich bei Hölderlin. Hölderlin ging vom deutschen Hexameter und von den Oden in antiken Strophen aus. Während Goethe die Ode mied, beschränkte sich Hölderlin auf ihre Nach­ bildung und mied die Oden in eigenen Strophen. Er überschritt auch die Grenzen der Odenform nicht. Daher können wir sagen, daß er nicht einen doppelten Ausgang zu den freien Rhythmen hatte wie Klopstock. Hölderlin bringt die freien Rhythmen sowohl stichisch wie in Strophen. Mich erzog der Wohllaut Des säuselnden Hains Und lieben lernt ich Unter den Blumen. (Da ich ein Knabe war ...) Vom Hexameter her gedacht, dessen Harmonie in den Vers ein­ geht. Hölderlin mehrt schon in seinen Hexametern die Trochäen, zieht also eine langsamere Bewegung vor, in welcher zugleich alle 148

Gliederungen des Verses nach Selbständigkeit drängen. Das ist ein Verhältnis, welches in seinen freien Rhythmen wiederkehrt. Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. (Hälfte des Lebens) Man könnte sagen, daß in diese langsamere, träumerische Be­ wegung die Besinnung eintritt. Sie zeigt sich darin, daß der gerade Gang des Satzes bei ihm oft durch Einschiebungen gebrochen wird. Der Satz wird gewiegt und strebt danach, sich im metrischen Rhyth­ mus wechselnd auszuwiegen. Hier wie überall zeigt sich, daß für den Gang der freien Rhythmen die einsilbigen Takte am Versende unentbehrlich sind. Sie konturieren Vers und Satz. Im dunkeln Efeu saß ich, an der Pforte Des Waldes, eben, da der goldene Mittag, Den Quell besuchend, herunterkam Von Treppen des Alpengebirgs, Das mir die göttlichgebaute, Die Burg der Himmlischen heißt Nach alter Meinung, wo aber Geheim noch manches entschieden Zu Menschen gelanget; von da Vernahm ich ohne Vermuten Ein Schicksal, denn noch kaum War mir im warmen Schatten Sich manches beredend, die Seele Italia zu geschweift Und fernhin an die Küsten Moreas. (Der Rhein) 149

Auch das ist noch vom Hexameter her gedacht. Ein langer, sich langsam entfaltender Satz, der durch die beständigen Einschiebun­ gen noch langsamer wird. Die Verse sind so gesetzt, daß freier Auf­ takt und einsilbige Schlußtakte reichlich wiederkehren. Der Satz dominiert und bestimmt durch seinen ununterbrochenen rhyth­ mischen Verhalt, was den Versen zugeteilt wird. Am Feigenbaum ist mein Achilles mir gestorben, Und Ajax liegt An den Grotten, nahe der See, An Bächen, benachbart dem Skamandros. (Mnemosyne) Langsam und, was den Satz anlangt, sehr kunstvoll. Die Trochäen überwiegen. Dunkler Trompetenruf Durchfuhr der Ulmen Nasses Goldlaub, Eine zerfetzte Fahne Vom Blute rauchend. (Trakl, Dös Herz) Das grenzt an den Hexameter. Golden lodern die Feuer Der Völker rings. Über schwärzliche Klippen Stürzt todestrunken Die erglühende Windsbraut. (Trakl, Die Nacht) Das geht auf den Hexameter hin13. Vielleicht reichen diese Beispiele hin, um deutlich zu machen, daß die freien Rhythmen 1. weder Prosa sind noch sich der Prosa nähern, 2. daß sie vom Verse her nicht zu bestimmen sind, 150

3- daß sie vom Satz her in seiner Vereinigung mit dem Vers be­ trachtet werden müssen, 4. daß sie einen ununterbrochenen metrischen Rhythmus haben müssen. Nicht zu bestimmen also sind sie durch Regeln, wie sie ein genau wiederkehrender Vers hergibt. Eine solche Bestimmung muß miß­ lingen, und schon der Versuch enthält einen Widerspruch. Dort, wo genaue Versregeln sich anwenden lassen, sind keine freien Rhyth­ men mehr. Willkürlich abgeteilte Verse aber schaffen keine. Die rhythmische Beherrschung des Satzes setzt eine höhere Kraft vor­ aus. Das Fallen und Steigen der Sätze und die Wirkung, die sie im Fortgang aufeinander üben, ist durch Zeitmeßverfahren nicht zu errechnen. Auch ist der Gang großer Hymnen kein syntaktisch oder logisch fortarbeitender, sondern freier Wuchs des metrischen Rhythmus, der sich alle anderen Bestimmungen unterordnet. Ein erkennbarer, bestimmbarer, ununterbrochener Gang des metrischen Rhythmus ist es, den wir von den freien Rhythmen fordern müssen.

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ANMERKUNGEN

Die Ziffern beziehen sich auf die Anmerkungsziffern des Textes

i. Den Gegenstand, die Metrik als Wissenschaft, haben wir von den Griechen, also auch die Bezeichnungen (termini technici). Das Handwerkszeug finden wir bei den griechischen Dichtern, seine wissenschaftliche Bearbeitung bei den griechischen Ge­ lehrten. Die Bruchstücke eines Werkes über den Rhythmus von Aristoxenos, einem Tarentiner und Peripatetiker, sind mit das älteste, das wir zu Rate ziehen können. Die alexandrinischen Gelehrten haben System in den Gegenstand gebracht. Sie haben die griechische Metrik als Wissenschaft ausgearbeitet und damit jeder Sprache, in der Gedichte hervorgebracht werden, einen Schlüssel, das heißt einen Schatz von Begriffen hinterlassen, der das Vergleichen fördert. Über das Bedenkliche des Unterneh­ mens selbst, über das Verhältnis der gelehrten Untersuchung zum Hervorbringen des Dichters gab es lange keine Vermutung. Es ist kein leichtes Unternehmen, das von den Theorien der alexandrinischen Gelehrten abzusondern, was auf Mißverständ­ nissen, Verkennungen, Pedanterie beruht, kein leichtes Geschäft für die Römer, welche die Vermittler waren, und ein noch weniger leichtes für uns. Wir brauchen uns auf dieses Geschäft hier nicht einzulassen. Etwas anderes ist aber zu bedenken. Man bemächtigt sich eines Gegenstandes und kommt dadurch, daß man Macht über ihn gewinnt, zu deutlichen Begriffen. Das ist der eine Weg. Daß man die deutlichen Begriffe, die andere gewonnen haben, nimmt, um sich des Gegenstandes zu bemäch­ tigen, ist ein zweiter Weg. Er kann nicht so sicher sein, denn der 152

Gegenstand ist hier und da ein anderer. Griechische Sprache und deutsche Sprache sind so verschieden wie griechisches und deutsches Gedicht. Also konnten die metrischen Begriffe und Bezeichnungen, die wir von den Griechen übernahmen, nicht den gleichen Gegenstand decken. Die Mißverständnisse bei der Übernahme von Begriffen, deren Stellung man im fremden System nicht oder nicht richtig kannte, waren unvermeidlich. Daß sie übernommen wurden, war infolge des Mangels eines eigenen Systems unvermeidlich. In der griechischen Metrik lag ein festes, durchdachtes System vor, und die Erleichterung, die man empfand, als man zu ihm griff, wirkte lange nach. Sie ist heute noch spürbar, denn auch heute noch bedienen wir uns solcher griechischer Begriffe und Bezeichnungen, für die wir kein Äquivalent in unserer. Sprache gefunden haben. Die Ver­ wirrung war schwer zu vermeiden, und wir dürfen sagen, daß wir aus ihr gelernt haben. 2. Aristoxenos kennt drei Rhythmizomena: Sprache, Melos und orchestische Bewegung. 3. Logische Verhältnisse werden durch die Sprache geordnet, nicht aber ordnen sie die Sprache als solche oder gar ihr Entstehen. Jede Sprache ist eine bestimmte Sprache, ist als bestimmte Sprache etwas Allgemeines. Der Versuch, sie als etwas Allge­ meines festzuhalten und zugleich als bestimmte Sprache aufzu­ heben, ist der Versuch, an ihre Stelle eine Universalsprache zu setzen. Eine solche ist denkbar nur, insofern es schon Sprachen gibt; jedem Versuch einer solchen Erfindung ist daher der Bezug auf bestimmte Sprachen anzumerken. Die Untersuchung, warum solche Universalsprachen, die wir im Gegensatz zu den anderen Sprachen künstliche Sprachen nennen können, als Erfindungen untauglich sind, also ihren Zweck nicht erreichen, gehört nicht hierher. Wird der Versuch unternommen, anstelle der Sprache das Zeichensystem eines Logik-Kalkül zu setzen, dann wird die Sprache dadurch aufgehoben, daß sie auf logische Verhältnisse 153

beschränkt wird. Einen solchen Kalkül, der im Unterschied zur Sprache einen bestimmten Zweck verfolgt und sich an diesen Zweck bindet, können wir nicht mehr Sprache nennen. Er ist ein Schlüssel, welcher der Entschlüsselung dient und selbst ent­ schlüsselt werden muß. Das Allgemeine der Sprache, welches als solches ein Gemeinsames ist, ist hier nicht mehr vorhanden. Der Kalkül wird Wissenschaft, während Sprache als ein AllgemeinGemeinsames nicht Wissenschaft werden kann. An die Stelle der bestimmten Sprache werden durch den Kalkül Buchstabenund Wortkombinationen gesetzt; eine Zeichen- und Formel­ schrift für Eingeweihte. An die Stelle des Entstehens der Sprache tritt das Verstehen und Sachverständigen vermittelst logischer Formeln. Ein solcher Versuch wird selbst erst dadurch verständ­ lich, daß die entstehende Sprache in ihrem Ursprung sich jedem Zweck widersetzt und deshalb nicht als bloßes Mittel erscheinen kann. Der Versuch schränkt sie von vornherein auf Mittel und Zwecke ein, die der wissenschaftlichen Verständigung dienen. Hier wird etwas Richtiges vereinbart, und die Richtigkeit dieser Vereinbarung ist von vornherein eingeschränkt. Was richtig sein soll, wird vorweggenommen. Das Sicherschließen der Sprache ist nicht auf die Richtigkeit von Vereinbarungen eingeschränkt. Wir erwähnen die Versuche, aus der Sprache einen Logik-Kalkül herauszuziehen, ohne auf sie einzugehen. 4. Auf Zahlen, auf Zahlenverhältnisse kann ich das Gedicht, den Vers nicht zurückführen. Nicht deshalb allein, weil ich Zahlen nicht höre, weil sie keine Größe fürs Ohr sind. An einem Vers ist manches Auszählbare, Silben und Takte etwa, aber dieses Auszählbare, diese aus dem Vers herausgezogenen Zahlen und ZahlenVerhältnisse lassen mich über den Vers im Dunkel. Dieser ist Sprache, und Sprache ist nicht umsetzbar in Zahlen oder Zahlenschriften. Sie geht nicht in Reihen fort und ist nicht unendlich teilbar. 5. Im griechischen wie im deutschen Gedicht sind rhythmischer Iktus und Wortakzent ihrem Begriff nach etwas Verschiedenes. 154

Der rhythmische Iktus ist die Verstärkung, der Wortakzent die Erhöhung des Tons. Das Verhältnis von Iktus und Akzent ist also das von Vokalstärke zu Vokalhöhe. Im griechischen Gedicht nun trennen sich rhythmische Betonung und Wortbetonung, während sie im deutschen Gedicht Zusam­ mengehen. Das heißt, bei den Griechen fallen die Verstärkung des Tons und die Erhöhung des Tons nicht zusammen, bei uns tun sie es. Denn der Hochton, der bei uns gemeinhin auf den Wurzelsilben ruht, erhält den Iktus. Das erscheint uns so natürlich und eingeboren, daß wir selbst dann, wenn wir grie­ chische Verse lesen, die rhythmische Betonung und die Wort­ betonung ohne Rücksicht auf ihre Verschiedenheit lesen. Der griechische Dichter ist in der Setzung der rhythmischen Betonung frei. Diese allein aber schafft noch nicht den Rhyth­ mus, der, als ein in der Zeit wiederkehrender, an wieder­ kehrende Zeiten, an Zeitintervalle gebunden ist. Die rhyth­ mische Betonung macht diese Zeitintervalle dem Ohr hörbar und gliedert durch sie das Rhythmizomenon. Für die Zeit­ einteilung aber zieht der griechische Dichter die Unterschiede in der Quantität, die in der Sprache bestehen, zu Rate. Er gibt den kurzen Silben eine kürzere Zeit als den langen. Während im griechischen Gedicht die natürlichen Silbenlängen berücksichtigt werden und die Silben von bestimmter, gemessener Dauer sind, findet im deutschen Gedicht eine solche Berücksichtigung nicht statt. Die deutschen Verssilben sind von unbestimmter Dauer. Die Unterschiede bei einer solchen Behandlung des sprachlichen Rhythmizomenon sind unverkennbar. Wir dürfen sagen, daß der Unterschied zwischen Dichtung und Prosa in der griechischen Sprache strenger und zarter festgehalten wird, denn die Ver­ schiedenheit zwischen rhythmischer Betonung und Wort­ betonung trägt dazu bei. Zugleich behält, bei festgehaltenem Unterschied von rhythmischer Betonung und Wortbetonung, die Sprache etwas Statisches, während der Zusammenfall der Betonungen ihr einen dynamischen Zug gibt. Aus demselben 155

Grunde ist im griechischen Vers mehr Gleichordnung (er koordi­ niert seine metrischen Einheiten), während im deutschen Vers durch den Zusammenfall der Betonung mehr Unterordnung erreicht wird (er subordiniert seine metrischen Einheiten). Die griechische Sprache und Dichtung ist gegen Veränderungen in der Quantität immer empfindlich gewesen, hat an den Unter­ schieden der langen und kurzen Vokale festgehalten und sich den Verkürzungen der Endsilben widersetzt. Die deutsche Sprache und Dichtung zeigt uns eine Veränderung durch Ver­ kürzung der Endsilben und Verlängerung kurzer Wurzel­ silben. Hierzu ist zu bemerken, daß der Dichter die Prosodie nicht verändert — so wenig wie die Grammatik. Das hat nie zu seinen Aufgaben gehört. Er bestimmt über Quantität und Wort­ betonung nicht von sich aus; er folgt darin dem herrschenden Sprachgebrauch. Deshalb macht der griechische Dichter aus den Längen keine Kürzen und aus den Kürzen keine Längen, des­ halb verlegt der deutsche Dichter nicht die rhythmische Be­ tonung willkürlich auf schwach betonte Silben. 6. Wenn Heusler die Ansicht, daß die Kola den Vers machen, als irrig bezeichnet, so ist das richtig. Nicht richtig ist aber, wenn er hinzufügt, daß Kola das sind, was der Vers mit der Prosa gemein hat. Denn wir müssen die takthaltigen Verskola von den Satzkola der Prosa trennen. Heusler nennt die Kola »Atem­ gruppen«, Kauffmann (Deutsche Metrik) nennt sie »Sprech­ takte«. 7. Daß der Vers keine Rücksicht auf die syntaktischen Abschlüsse des Satzes nimmt, daß er diese Abschlüsse in sein Inneres ver­ legt, und zwar ohne Regel, ist ein Verfahren, welches die logische Identität von Vers und Satz aufhebt. Der Satz als solcher wird nicht verändert; er wird als metrische, nicht als syntaktische Reihe behandelt. Er wird rhythmisch gestärkt, syntaktisch geschwächt. Der Vers, der als solcher keine syntak­ tischen Aufgaben hat, hört auf, ein syntaktischer Mitläufer des 156

Satzes zu sein. Der Vers, der den Satz so abbricht, tut das nicht auf Kosten des Satzes. Die rhythmische Kraft des Satzes, der sich mit dem Vers vereinigt, liegt nicht in seiner syntaktischen Gliederung; sie erscheint in der metrischen Transposition. Wenn zwei Dichter wie Klopstock und Hölderlin, die das Verhältnis von Vers und Satz tiefer durchdacht haben als andere, zu die­ sem Verfahren übergehen, so ist das weder Zufall noch Nach­ ahmung und auch nichts Vorübergehendes. Das deutsche Ge­ dicht wird von diesem Verfahren nicht mehr abgehen, ohne zu verlieren. 8. Um dem Leser deutlich zu machen, wie der Vers der nach­ ahmenden Wiederkehr folgt, sei hier das folgende Gedicht als Beispiel gebracht. Es stammt von einem unbekannten Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Wachtelschlag Hört, wie die Wachtel im Grünen schön schlagt: »Lobet Gott, lobet Gott! Mir kommt kein Schauer«, sie sagt. Flieget von einem ins andre grün Feld Und uns den Wachstum der Früchte vermeldt; »Danke Gott, danke Gott! Der du mir geben die Zeit.« Morgens sie ruft, eh der Tag noch anbricht: »Guten Tag, guten Tag!« Wartet der Sonnen ihr Licht. Ist sie aufgangen, so jauchzt sie vor Freud, Schüttert die Federn und strecket den Leib, Wendet die Augen dem Himmel hinzu: »Dank sei Gott, dank sei Gott! Der du mir geben die Ruh.« Blinket der kühlende Tau auf der Heid: »Werd ich naß, werd ich naß!« 157

Zitternd sie balde ausschreit; Flieget der Sonn entgegen und bitt, Daß sie ihr teile die Wärme auch mit, Laufet zum Sande und scharret sich ein: »Hartes Bett, hartes Bett!« Sagt sie und legt sich darein. Kommt nun der Waidmann mit Hund und mit Blei: »Fürcht' mich nicht, fürcht' mich nicht! Liegend ich beide nicht scheu; Steht nur der Weizen und grünet das Laub, Ich meinen Feinden nicht werde zum Raub; Aber die Schnitter, die machen mich arm, Wehe mir, wehe mir! Daß sich der Himmel erbarm.« Kommen die Schnitter, so ruft sie ganz keck: »Tritt mich nicht, tritt mich nicht!« Liegend zur Erde gestreckt. Flieht von geschnittenen Feldern hindann, Weil sie sich nirgends verbergen mehr kann, Klaget: »Ich finde kein Körnlein darin, Ist mir leid, ist mir leid!« Flieht zu den Saaten dahin. Ist nun das Schneiden der Früchte vorbei: »Harte Zeit, harte Zeit!« Schon kommt der Winter herbei; Hebt sich zum Lande zu wandern nun fort Hin zu dem andern weit fröhlichem Ort; Wünschet indessen dem Lande noch an: »Hüt dich Gott, hüt dich Gott!« Flieget in Frieden bergan. Der Wachtelschlag wird wiederkehrend erinnert. Zu seiner Nachbildung eignet sich am besten ein Daktylus, und zwar ein 158

solcher, bei dem die erste Senkung die schwächste'ist, denn dieser trifft den Wachtelschlag und vermag ihn in unserm Ohr hervorzurufen. Durch die Wiederkehr wird die Erinne­ rung verstärkt. Die beiden kurzen Verse jeder Strophe er­ innern zwei Wachtelschläge. Da das Gedicht im ganzen einen daktylischen Gang hat, denn an Choriamben wird hier nie­ mand denken, wird der unermüdlich wiederholte Schlag durch alle Verse hindurchgeflochten. Das ganze Gedicht ist gleich­ sam eine Wachteluhr, deren Schlag unsere Erinnerung immer von neuem anruft und in den Frieden einer ländlichen Komgegend versetzt. Die Daktylen sind so angewendet, daß sie eine gewisse Härte und etwas Abgehacktes haben; das entspricht dem Vogelruf. 9. »Homers Vers«, sagt Klopstock, »ist vielleicht der vollkom­ menste, der erfunden werden kann. Ich verstehe unter Homers Versen nicht einen Hexameter allein, wiewohl jeder seine eigene Harmonie hat, die das Ohr unterhält, und füllt; ich meine damit das ganze Geheimnis des poetischen Perioden, wie er sich vor das stolze Urtheil eines griechischen Ohres wagen durfte, den Strom, das Feuer dieses Perioden, dem noch dazu eine Sprache zu Hülfe kam, die mehr Musik, als Sprache war. Homer blieb, auch in Betrachtung des Klangs, ein solcher Meister seiner Sprache, daß er die Griechen verführt zu haben scheint, ihre Verse mehr abzusingen, als herzusagen.« »Sein Hexameter hat die angemessenste Länge, das Ohr ganz zu füllen; und er überläßt es den Alcäen, so die vollkommen­ sten lyrischen Verse sind, es aus anderen Absichten, mit einem kürzem, fallenden Schlage zu erschüttern. Er hat den großen Vorzug der Mannigfaltigkeit. Da er aus sechs verschiedenen Stücken, oder Füßen, besteht; so kann er sich immer durch vier, bisweilen auch durch fünf Veränderungen, von dem vorher­ gehenden oder nachfolgenden Verse unterscheiden. Und da die Füße bald zwo, bald drey Sylben haben; so entsteht daher eine neue Abwechslung.« 159

Eine solche Stelle ist nicht vom Versrhythmus, sondern vom Satzrhythmus her gedacht. 10. Rilkes Duineser Elegien kommen vom Hexameter her. Bei ihrer Betrachtung sind die Vierte und Achte Elegie auszuschließen, denn diese sind in Blankversen gesetzt, einem Vers, den der Lyriker wegen seiner rhythmischen Fläche zu meiden pflegt. Schon Goethe bemerkt, daß er die Poesie der Prosa angleicht. Er ist reimlos; der männliche Schluß ist vorzuziehen. Kräftiger wird er dort, wo Vers, Satz und Gedanke nicht nach einem gemeinsamen Auslauf streben. Rilke gibt ihm diese Freiheit. Aber der Blankvers bleibt monologisch, gedanklich, rhythmisch schwach. Er setzt den Satz nicht rhythmisch um, sondern be­ dient sich einer schwachen Rhythmisierung, um Gedanken aus­ zusprechen. In der Ersten Elegie sind die Maße der Verse regelrechte Penta­ meter, das heißt Verse mit fünf mehrsilbigen Takten. Ein­ gestreut finden sich Verse mit vier mehrsilbigen Takten, regel­ rechte Hexameter und ein Vers mit sieben mehrsilbigen Takten. Das zeigt, daß die Verse vom Hexameter her gedacht sind und weist den Leser an, sie entsprechend, das heißt in daktylischtrochäischem Verhalt zu lesen. Der Vers wirkt wie ein verkürz­ ter, gleichsam beschnittener Hexameter. Die Elegie ist nicht in Strophen gesetzt. Wo sich Abschnitte finden, sind sie durch den Gedanken gegeben. Im Verlauf der Pentameter findet sich der eigentliche elegische Vers mit zwei einsilbigen Takten, einmal sogar doppelt. Dieser Vers ist manchmal falsch gesetzt, sei es, daß er den einsilbigen Takt nicht regelrecht bringt, sei es, daß ihm Takte fehlen oder andere Unregelmäßigkeiten sich zeigen. Die Schwäche des rhyth­ mischen Verhalts zeigt sich darin, daß aus dem regelrechten Pentameter in Verse mit freiem Auftakt, also von ganz ande­ rem Verhalt übergegangen wird. Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur 160

Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achtetens nicht: So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. In ähnlicher Weise verfährt die Zweite und Dritte Elegie. Und auch die Fünfte, doch ist der Abbruch der Verse unruhiger. Die Sechste beherrscht der Pentameter, gemischt mit Hexametern und wenigen Viertaktern. Der Vers mit zwei einsilbigen Tak­ ten unterbricht den anderen oft und ohne Regel; einmal steht er doppelt. Die Siebente mischt Pentameter und Hexameter und streut Verse mit einsilbigen Takten ein. Verse wie: alle die Sterne: denn wie, wie, wie sie vergessen und: sparen wir heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht sind rhythmisch mühsam und fehlerhaft. Auch die Neunte Elegie mischt fünftaktige und sechstaktige Verse. An zwei Stellen steht der Vers mit einsilbigen Takten dreimal hintereinander. Einmal wird er in zwei Verse geteilt. Die Verse sind oft nicht rhythmisch, sondern vom Gedanken her gedacht, so nämlich, daß der Satz den Vers in die Enge treibt. warum dann Menschliches müssen — und, Schicksal vermeidend, sich sehnen nach Schicksal? ... O, nicht, weil Glück ist, dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts. Oder in den folgenden Versen: Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands 161

nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, — Das fällt rhythmisch auseinander, Die Zehnte Elegie folgt den anderen darin. Die gedankliche Fügung, welche der Rhythmus nicht unmittelbar ausfüllt, zeigt sich auch hier, an Stellen, wo die Einheit von Vers und Satz auseinanderzubrechen droht. Für Erwachsene aber ist noch besonders zu sehn, wie das Geld sich vermehrt, anatomisch, nicht zur Belustigung nur: der Geschlechtsteil des Gelds, alles, das Ganze, der Vorgang —, das unterrichtet und macht fruchtbar ........ .... Oh aber gleich darüber hinaus, Das alles ist nachgeahmt worden. Sehen wir von den rhyth­ mischen Schwächen der Anwendung ab, so läßt sich noch folgen­ des sagen. So viel Harmonie der Bewegung der Hexameter hat, so wenig davon hat der regelrecht gebildete Pentameter, was noch mehr hervortritt, wenn er mit Hexametern gemischt wird, denn dann wirkt er oft wie beschnitten. Etwas Dissonierendes dringt in den Rhythmus ein, und dieser Eindruck wird durch eingestreute Verse mit zweisilbigen Takten nicht gemindert, sondern verstärkt. 11. Ben Johnson sagte, daß er das Chevy Chase lieber gemacht hätte als alle seine Werke. 12. Shakespeare fühlte diesen Mangel beim Blankvers, der aus fünf Jamben mit weiblicher Endung besteht oder aus vier mit ein­ silbigem Schlußtakt. Ein so kontrastloser Vers wie der Blank­ vers wird nüchtern und salzlos, wenn er in seinem Gang immer fortgeht. Dem ist nur abzuhelfen, wenn der Dichter darauf achtet, metrische Inversionen und Perioden zu bilden. Er muß 162

ein konstruktives Element in den Blankvers hineinbringen, das ihn vom syntaktischen Gang der Prosa abzieht. Shakespeare bemühte sich deshalb, diesen Vers, der zuerst vom Earl of Surrey in die englische Literatur eingeführt, dann von Sackville und Norton in ihrem Gorboduc gebraucht wurde, für das Ohr anziehender zu machen. Er tut das vor allem durch die metrische Transposition des Satzes. Er ersetzt die Jamben durch Trochäen und Daktylen, er bringt hyperkatalektische Verse und vierfüßige Jamben an (common octosyllabics), er verschleift die Silben und macht stumme Silben tönend. Endlich bedient er sich des Reims, um Schlüsse und bedeutende Stellen zu heben. 13. Bei Trakl sind der Siebengesang des Todes, Winternacht, Traum und Umnachtung, Offenbarung und Untergang ohne Absetzung von Versen aufgezeichnet. Sie erscheinen als Prosa, sind aber so stark rhythmisiert, daß sie sich einer ununterbrochenen Takt­ folge nähern. Im Psalm und anderen Gedichten ist der selb­ ständige Satz dem Vers übergeordnet. Die Sätze werden parallelisiert und verbindungslos nebeneinandergestellt; der Verszusammenhang wird aufgehoben. Die Bilder sind gereiht und verharren in sich. Das wiederkehrende »Es ist« und »Es sind« versachlicht die Bilder nicht, mehrt aber den Eindruck des Vagen und Entfernten. Eine Empfindung der Entfremdung, der Ein­ samkeit, der zeitlichen und räumlichen Beziehungslosigkeit steigt auf. So in dem schönen Psalm: Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen. Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. So auch in De Profundis, das mit dem gleichen »Es ist« be­ ginnt. 163

Trakls Gedicht geht vom Reim und Reimvers aus. Er ist im rhythmischen Verhalt des Gedichts nicht immer sicher und sinnt mehr dem Melos als dem Rhythmus nach. Sein Vers ist von vokalisch starkem, farbigem Wohllaut (Klang); dieser Wohllaut steht in gesetzmäßiger Beziehung zu den Farben. Das sind Zusammenhänge, die einer eigenen Untersuchung bedürfen.

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