Ewigkeit: Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre [Reprint 2020 ed.] 9783112380666, 9783112380659

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Ewigkeit: Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre [Reprint 2020 ed.]
 9783112380666, 9783112380659

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Ewigkeit

„Die Natur schasst ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was da war, kommt nicht wieder. Alles ist neu, und doch immer das Alte. „Lie scheint Alles auf Individualität angelegt zu haben, und macht sich Nichts aus den Individuen. Lie baut immer, und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. „Ls ist ein ewiges Leden, Werden und Bewegen in ihr; und doch rückt sie nicht weiter. Lie verwandelt sich ewig und ist kein Ntoment Ltillstehn in ihr. Lie ist fest; ihr Lritt ist gemessen, ihre Gesetze unwandelbar.

„Alles ist immerdar in ihr, Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihre Ewigkeit." (Goethe, Die Natur, 1760.)

Ewigkeit Wettkriegsgedanken über Leben und Tod,

Religion und Entwicklungslehre von

Ernst Haeckel.

Berlin Verlag von Georg Reimer 1915

(T\en Reinertrag dieser Schrift bestimmt der 73er* AZ süsser für die Unterstützung der Hinterbliebenen der deutschen Krieger, welche ihr Leben und ihr Zamilienglück der Rettung des Vaterlandes und der Erhaltung des Völkerrechtes geopfert haben.

Druck von 5- S. Hermann in Berlin.

Inhalt. Erstes Kapitel: Weltkrieg und Naturgesetz. Seite A.

Wert der Aaturgelehe......................................................................................... 11

B.

Ewigkeit und Sabpaurgeseh................................................................................ 13

Lindert des Weltalls....................................................................................... * 12

Lwigkeit der Materie...................................................................................... 14 Ewigkeit der Energie........................................................................................... 15

Ewigkeit des Psgchoms......................................................................................17

Ewigkeit der Menschenseele...........................................................................18 Ewigkeit des Geistes........................................................................................... 19 Lwigkeit und Vergänglichkeit...........................................................................21 Anfang und Lnde der Welt........................................................................... 22

c. Weltgeseh und Zufall............................................................................................... 23

Zufall im persönlichen Leben.......................................................................... 24 Zufall im Weltkriege........................................................................................... 26 Zufall im organischen Leben........................................................................... 27 Zufall im anorgischen Leben.......................................................................... 28 Zufall im kosmischen Leben........................................................................... 30

D. Weltkrieg und Vorsehung..................................................................................... 31 E.

Wert des Menschenlebens.................................................................................... 33

Überschätzung des Menschenlebens................................................................ 33

Unterschätzung des Menschenlebens................................................................ 35 Sinn des Menschenlebens................................................................................ 36 F.

Leben und Lod.......................................................................................................... 38

Zreitod und Selbsterlösung................................................................................ 39 Urzeugung (Archigonie).

40

Todesfurcht..................................................................................................

42

©eite

Zweites Kapitel: Weltkrieg uud Religion. A.

Werl der Aellgloa............................................................................................. 44

B.

LheoreAche vud praktische Religio» (Weltanschauung und Lebenr-

fllhrung. — Kosmologie undEthik).............................................................45 C Mo»istyche ReUgio»................................................................................................ 47

D.

Duallfiische Religio»............................................................................................. 4S Allgott und Lchulgott(Pantheosund Ontheos).......................................... 49

Weltkrieg und Wissenschaft........................................................................... 51 Weltkrieg und Glaubenssätze........................................................................... 52

E.

Religio» vvd Ko»kelsioa........................................................................................ 55

Weltkrieg und Lhristenglauben......................................................................54

Weltkrieg und Lhristensitte........................................................................... 56 Deutsches Ehristentum (Reformation)........................................................... 57 Englisches Ehrislenlum (Panbritismus)..................................................... 58

Lolombanisches Ehristentum (Dollarismus)................................................59 F.

Der heillge 5krieg................................................................................................... 61

Wonistische Sittenlehre..................................................................................... 62

Drittes Kapitel: Weltkrieg und Kardiualfrage. A.

Wert des Kardiualproblems.............................................................................. 65

B.

Urkunde» der Primatev-Abftammnng.............................................................. 66 Anatomische Urkunden..................................................................................... 67

Histologische Urkunden..................................................................................... 69 Physiologische Urkunden......................................................................................70

C.

Lmbrgologische Urkunden......................................................................

71

Paläontologische Urkunden......................................................................

75

Anthropologische Grundlage.................................................................

75

Zoologischer Unterbau......................................................................................... 76

Einheit des Wirbeltierstammes............................................................

77

Klassen des Wirbeltierstammes............................................................

79

Geschichte des Wirbeltierstammes......................................................

80

Ltammesgeschichte der Primate i...........................................................

81

Wirbellose Ahnen des Alenschen..................................................................... 82

D.

Aaturmeusch uud Kulturmeusch...............................................................

84

E.

Meuscheurasse« im Weltkrieg.....................................................................

85

Seite

Viertes Kapitel: Weltkrieg unb Lutwicklungslehre. A.

Werl der LatVlckluugslehre............................................................................. 87

Entwicklungslehre und Schöpfungsglaube (Genetik und Kreatismus) 88 Stetige und sprungweise Entwicklung (Evolutio continuata et saltuata)....................................................................................... 89 Fortschritt und Rückschritt (Progressive und Regressive Entwicklung) 91 Entwicklung im Bölkerleben.................................................................92 B.

Blogenetlsches Grundgesetz................................................................................... 93

Lntwicklungsmechanik...............................................................................95 Universale Entwicklungslehre.................................................................96 Geschichte der Entwicklungslehre....................................................... 98 C Entwicklungslehre und Soziologie.........................................................................99

Gesellung und Gesittung (Assozion und Moral).............................. IOO Gravitation und Affinität (Massenanziehung und Wahlverwandt­ schaft) ...........................................................................................102 Zellular-Soziologie.................................................................................. 105 Zellulare und histonale Ethik............................................................... 104 Wirbeltiere und Gliedertiere............................................................... 106 Organisation und Militarismus........................................................... 108 D. Entwicklungslehre und Politik..........................................................................109

Deutschland und England.................................................................... 111 Die Blutschuld am Weltkriege........................................................ 112 Englands Weltherrschaft.................................................................... 113 Englands Eröhenwahn......................................................................... 115 Englands Seeräuberei........................................................................ 116 Englands Barbarei............................................................................. 117 E. Zukmstsblld hex Entwicklungslehre...................................................... 118 Friedenshoffnungen............................................................................. 120 Deutsches Neuland.................................................................................. 121 Deutsches Kolonialland......................................................................... 123 Seefreiheit................................................................................................ 124 Denkfreiheit........................................................................................... 125 Ernte des Weltkrieges........................................................................ 127

Vorbemerkung. Diejenigen früheren populären Lchristen des Verfasfers, auf welche in den vorliegenden „Wellkriegsgedanken" mehrfach hingewiesen ist, und in denen auch bezügliche weitere Literatur genannt ist, sind folgende:

l.

Generelle Morphologie der Organismen.

Berlin 1866.

(Neudruck

eines Teils: „Prinzipien" 1906.)

2.

Natürliche

Schöpfungsgeschichte.

über Entwicklungslehre. 3.

Anthropogeuie;

Gemeinverständliche

Berlin 1868.

(Elste Auflage.

Vorträge

1908.)

Entwickelungsgeschichte des Menschen.

I. Teil:

Keimesgeschichte. il. Teil: Stammesgeschichte. Leipzig 1874. (Sechste Auflage 1910.) 4.

Gemeinverständliche Borträge über Entwickelungslehre.

(Sweite

Auflage, Bonn 1902.)

5.

Die Weltratfel.

Monistische Philosophie.

Leipzig 1899.

(Volks­

ausgabe, 310. Tausend) 6.

Die Lebeuswuuder. Biologische Philosophie. Leipzig 1904.

(Volks­

ausgabe 1908.)

7.

Monistische Bausteine.

8.

Der Monismus als Band zwischen Neligion

(Brackwede 1914.)

Altenburg 1892, 15. Auflage.

9.

und

Wissenschast.

Leipzig 1912.

Das Meuscheuproblem und die Herrentiere

von LinnL.

Frank­

furt a. M. 1907. 10.

Gott^Natur.

Studien über Monistische Religion.

Leipzig 1914.

Vorwort. Seit fünfzehn Monaten erleben wir ein Trauerspiel von beispielloser Große und Furchtbarkeit. Der „Weltkrieg" oder „Völkerkrieg", welcher Anfang August 1914 ausbrach und zu­ nächst halb Europa in ein blutiges Schlachtfeld verwandelte, hat bald eine solche Ausdehnung über den ganzen Erdball erreicht, daß jedes Kulturvolk direkt oder indirekt in Mitleidenschaft ge­ zogen wurde. Millionen von Menschen sind diesem entsetzlichen Völkerschlachten bereits zum Opfer gefallen und Milliarden von Werten aller Art sind von ihm verschlungen worden. Alle Güter der höheren Kultur, welche die Menschheit in mühsamer Arbeit seit Icchrtausenden errungen hat, erscheinen gefährdet, und die entfesielten Leidenschaften der gegenseitig sich zerfleischenden Sta­ tionen drohen mit dem Rückfall in die Barbarei der Vorzeit. Die unerhörte Verwicklung aller sozialen Beziehungen und aller internationalen Verhältnisie, welche die notwendigen Folgen dieses „Großen Krieges" sind, überhäuft uns täglich mit neuen Sorgen und legt uns immer neue gewichtige Fragen vor. Keine von diesen kifft aber so tief und so unmittelbar unser Ge­ müt, wie der jähe Wechsel von Leben und Tod; muffen wir doch täglich in dm Zeitungen die lange Liste von hoffnungsvollen Jünglingen und von treuforgenden Familienvätern lesen, welche in der Blüte der Jahre ihr Leben dem Vaterlande zum Opfer gebracht haben. Da erheben sich tausmdfach die Fragm nach dem Wert und Sinn unseres menschlichen Lebens, nach der Ewig­ keit des Daseins und der Unsterblichkeit der Seele. Die Ant­ worten darauf werden von den einen in der Religion, von den

anderen in der Wissenschaft gesucht. Je nachdem man diese höchsten Gebiete unseres menschlichen Geisteslebens von mo­ nistischem oder von dualistischem Standpuntte aus beurteilt, lauten die Antworten schr verschieden. Als alter Lehrer der Naturwistenschast, der seit einem halben Jahrhundert sich gewohnt hat, alle Erscheinungen nach dem Maß­ stabe der modernen Entwicklungslchre zu beurteilen, habe ich ver­ sucht, auch den gegenwärtigen „Weltkrieg" — den gewaltigsten und gewaltsamsten aller bisher erlebten Kriege — nach den Ge­ setzen der natürlichen Entwicklung zu erklären. Als die wichtigste Folgerung derselben stcht obenan das Kardinalproblem, die Frage von der Primaten-Abstammung des Menschen. Vom Standpunkte meiner Fachwistenschast, der vergleichenden Zoologie aus, betrachte ich diese „Frage aller Fragen" als definitiv gelöst und finde darin zugleich den sicheren Weg zur monistischen Aufsasiung aller Naturgesetze, und zur richtigen Beurteilung der „Ewigkeit". Die unmittelbare Veranlassung zur Veröffentlichung dieser Anschauungen, die ich in früheren naturphilosophischen Schriften ausführlicher begründet habe, gaben mir sehr zahlreiche Briefe, welche im Laufe des letzten Jahres von vielen verschiedenen Sei­ ten an mich gelangt sind, besonders von früheren Schülern und von Gesinnungsgenossen, die noch täglich als aksive Soldaten die ungeheuren Schrecknisse des Weltkrieges persönlich erleben, oder die als Verwundete in den Lazaretten dessen grauenhafte Folgen zu tragen haben. Mögen sie in diesen „Weltkriegs-Gedanken" befttedigende Antwort auf ihre Fragen finden und jenen Trost, den unser vernunftgemäßer „Monismus als Band zwischm Re­ ligion und Wissenschaft" gewährt.

I e n a, am 20. Oftober 1915.

Ern st Haeckel.

Erstes Kapitel.

Weltkrieg und Naturgesetz. A. Werl der Naturgesetze. Die fundamentale Bedeutung, welche unsere moderne Kultur der Naturwissenschast zufchreibt, beruht darauf, daß diese die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in ihrem ein­ heitlichen Zusammenhang erkennt und auf bestimmte Naturgesetze zurückführt. Die Dckenntnis dieser Gesetze enthüllt uns die ll r s a ch e n der von uns wahrgenvmmenen Tatsachen. Das allgemeinste Gesetz ist demnach das der Kausalität, des allgülllgen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Diese „Ursächlichkeit" ist der formelle Ausdruck für das materielle „Substanzgesetz", das alles Geschehen und Sein km Weltall beherrscht. Die wahren Ursachen, welche allen Dingen zugrunde liegen, sind mechanische Werkursachen (Causae efficientes), nicht bewußte Zweckursachen (Causae finales); diese letzteren kommen nur in einem Teile des organischen Lebens zur Geltung und sind auf die ersteren zurückzuführen. Die all­ gemeinsten Naturgesetze (in der Physik z. B. Gravitation, in der Chemie Wahlverwandtschaft der Körper) sind absolut und gelten für das ganze Weltall. Die moderne Astronomie (be­ sonders Astwphysik, Spektralanalyse) hat uns überzeugt, daß diese universalen Weltgesetze ebenso in den weUesten Entfernun­ gen der Himmelskörper unbedingte Geltung besitzen, wie kn dem

beschränkten Planetenbereiche unserer Erbe. Wir müsien ihnen auch Ewigkeit zuschreiben; denn alle Vorgänge in der Ge­ schichte des Universums, in der Entwicklung der Himmelskörper ebenso wie in der der irdischen Organismen, sind durch dieselben Gesetze bedingt. Diese konstantm Naturgesetze sind also ganz verschieden von den veränderlichm Staatsgesetzen, welche in der menschlichm Gesellschaft den einzelnen Mitgliedern vorschreiben, wie sie handeln sollen (Sittengesetze, Religions­ gesetze, Sozialgesetze usw.). Diese letzteren werden von Gesetzgebern geschaffen, die ersteren nicht. Der hohe allgemeine Wert der richtig erkannten und verstandenen Naturgesche beruht auf der logischen Sicherheit, welche das „Kausalitätsbedürfnis" unserer menschlichen Vemunst befriedigt und somit die monistische Wisienschast wirklich begründet. Einhett des Westalls (Monismus des Kosmos). Allen Betrachtungen über das Weltall und die darin waltenden Naturgesetze mutz die klare Erkenntnis vorangehen, datz der Kosmos oder das Universum ein einziges allumfasiendes Ganzes ist, und datz dieser Begriff der „Welt" (— im weitesten Sinne! —) mit demjenigen der „Natur" oder „Physis" zusammenfällt. Wir gchen bei unseren nachstehenbm Betrach­ tungen von der monistischen Überzeugung aus, daß die Natur (— im weitesten Sinne! —) Alles umfaßt, was wir erfahrungsmätzig erkennen, und worüber wir uns mit unferer menschlichen Vernunft Gedanken machen können. Damit schlic­ hen wir von unserer wisienschaftllchen Betrachtung alles so­ genannte „übernatürliche" aus, insbesondere jede so­ genannte „Geisterwelt". Die zahlreichen und mannigfaltigen Sagen von Geistern, oder von „höheren über der Natm sichen­ den Mächten", die seit Jahrtausenden in den überlieferten Mythen und Religionen der Völker eine so große Rolle spielen, gehören sämtlich dem Phantasiereiche der Dichtung an. (Ebenso ist auch die jenseitige „Idealwelt", welche die dualistische Philosophie unserer diesseitigen „Realwelt" gegenüberstellt, ein

Produkt der metaphysischen Spekulation, welches sich dem ernsten wisienschastlichm Verständnis entzieht. Die Gegenüberstellung unseres wirklichen irdischen „Diesseits" und eines erdachten überirdischen „Jenseits" beruht auf uralten mystischen Vor­ stellungen, welchen keine einzige sichere Erfahrung zugrunde liegt.

B. Ewigkeit und Substanzgesetz. Als oberstes und allgemeinstes Natmgesetz, dem sich alle anderm unterordnen, bettachtet unsere monisllsche Naturphilo­ sophie das „S u b st a n z g e s e tz". Es hat unbedingte Geltung

in Raum und Zeit, und somit auch Anspruch auf Ewigkeit. Ich habe dieses allumfasiende „Kosmologische Grund­ gesetz" im zwölstm Kapitel der „Welttätsel" eingehend er­ läutert und besonders betont, daß darin zwei verschiedene Gesetze einheitlich zusammengefatzt werden: das allere Gesetz von der „Erhaltung des Stoffes" (— oder Konstanz der Materie" —), welches der französische Chemiker Lavoisier bereits 1789 begründet hatte, und das 53 Jahre jüngere Gesetz von der „Erhaltung der Kraft" (— oder „Konstanz der Energie" —), das 1842 der deutsche Arzt Robert Mayer in Heilbronn aufgestellt hatte. Nun sind jetzt zwar beide Gesetze in ihrer grundlegenden und universalen Bedeutung allgemein anerkannt, und in der Chemie gilt die „Erhaltung der Materie", m der Physik die „Erhaltung der Energie" als selbstverständlich. Indessen wird der notwendige Zusammenhang beider Gesche immer noch von namhaften Seiten bestritten. Das hängt davon ab, ob man überhaupt in monistischem Sinne Kraft unb Stoff für untrennbar hält und sie in dem einheitlichen Substanzd e g r i f f von Spinoza vereinigt; oder ob man nach bualisttschem Prinzip einen Teil bet Kräfte (bie „Geisteskräfte") für über­ natürlich unb vom Stoffe unabhängig erffärt. Diese Frage der Einheit von Materie und Energie (Grundprinzip der „Identttätsphilosophke") ist von fundamentaler Bedeutung;

sie wird von den konsequenten Monisten ebenso unbedingt bejaht, wie von den Dualistm verneint *). Ewigkett der Materie (Unzerstörbarkeit des Stoffes — Universa materia perpetua. — Grundgesetz der Chemie). Das materialistische Prinzip unseres Monismus, die allgemeine Konstanz der Materie, beruht auf der Überzeugung,, daß bei allen Erscheinungen (auch der so­ genannten „Geistestätigkeit") der den Raum erfüllende Stoff das unentbehrliche materielle Subskat bildet. Wesentlich für dlefe Auffassung ist eine klare Begriffsbestimmung der Materie und zwar dahin, daß ihr Hauptmerkmal die Ausdehnung (Extensio) bildet, und die damit verknüpfte vollkommene Raumerfüllung. Dabei können wir uns den universalen Raum oder Welkaum (das Ausgedehnte nach allen drei Dimensionen, nach Länge, Breite und Höhe) nur unbegrenzt denken, wenn wir auch nicht fähig find, uns diese „Unendlichkeit des Raumes" sinnlich klar vorzustellen. Schon vor 2400 Jahren hat in diesem Sinne der große Anaximander von Milet (einer der ältesten und weitschauendsten griechischen Raturphilvsophen) *) 1. Die Angriffe der dualistischen Philosophie gegen das Substanzgesetz habe ich in dem Aussätze über „Monismus und Naturgesetz" (1906) widerlegt, der im ersten Bande meiner „Monistischen Bausteine" abgedruckt ist (1914, S. 51 —105). In demselben Bande ist auch (S. 147 biS 157) die Erweiterung des Substanzbegriffs wiedergegeben, die ich 1912 in meiner Magdeburger Adresse vorgeschlagen hatte („Energetik und Sudstanzgesetz"). Llernach ist alS ein drittes allgemeines Attribut aller Substanz (— neben „Kraft und Stoff" —) die Empfindung zu be­ trachten. Das allgemeine „Erhaltungsgesetz" (oder Konstanz-Prinztp) ist dann dahin zu erweitern, daß die universale Erhaltung der Weltseele (— Konstanz des Psychom") neben die Erhaltung von „Stoff und Kraft"" tritt Eine einfache Übersicht über diese „Trinität der Sub­ stanz" gibt die m. Synoptische Tabelle meiner Schrift „Gott-Natur"" (1914, S. 66). In der gegenüberstehenden Tabelle find die „Drei Grundrichtungea der Substanzlehre" neben einander gesetzt (l. Weltstoff — Materie, IL Welttraft — Energie, in. Weltseele — Pshchom).

das Unbegrenzte (Apeiron) als den einheitlichen llrgmnd aller Dlnge angenommen und alle Erscheinungen daraus durch be­ ständigen Wechsel von zwei Zuständen abgeleitet. Früher nahmen die Physiker meistens an, daß der größte Teil des Weltraumes leer sei, und datz die sinnlich wahrnehmbaren und wägbaren Körper, in demselben schwebend, durch „Fernwirkung" aufeinander einwirkten. Diese Auffasiung ist jetzt größtenteils verlaßen, seit­ dem wir durch die neueren Fortschritte der Elektrik (— besonders seit den Forschungen von Heinrich Hertz 1888 —) die fundamen­ tale Bedeutung der Elekttizität und des Weltäthers als deren substanziellen Träger kennen gelernt haben. Seitdem nehmen die meisten Physiker an, daß der weitaus größte Teil des Welt­ raumes durch diesen Äther (- Lichtäther oder Weltäther) ausgefüllt, und daß dieser äußerst feine Stoff nicht wägbar (imponderabel) ist. Der übrige Teil des Raumes wird durch die schwere Masse erfüllt, die ponderable Materie. Diese ist aus diskreten kleinen Teilchen zusammengesetzt, den Molekülen, und diese wiederum aus kleinsten gleicharttgen (chemisch nicht weiter zerlegbaren) Partikelchen, den Atomen. Viele moderne Physiker nehmen auch für den imponderablen Äther ebenso eine atomisttsche Struttur an, wie für die ponderable Masie; andere glauben (mit mehr Wahrscheinlichkeit), daß der Weltäther kon­ tinuierlich, nicht aus Atomen zusammengesetzt ist, und daß er nicht nur den sogenannten „leeren Raum" (das Vakuum), sondern auch alle Zwischenräume zwischen den Atomen und Mole­ külen ausMt. über diese wichtigen Beziehungen des Weltächers zur Weltmasie, namentlich hinsichtlich des Verhallens beider llrmaterien zur Elekttizität (die Natur der „Elektronen" usw.), gehen die Ansichten der Physiker heute noch weit aus­ einander. (Vgl. Kap. 12 der „Welttätsel".) Ewlgkett der Energie. (Unzerstörbarkeit der Kraft — Universum perpetuum mobile. — Grundgesetz der Energetik.) Das dynamische oder energettsche Prinzip unseres Monismus, die allgemeine Konstanz der Energie, be-

gründet die Annahme, daß alle Erscheinungen im Weltall sich aus Wirkungen eines und desselben Substanz-Attributes zurücksühren lasten, einer allgemeinen Weltkrast(— Energie oder Dynamis, ftüher nach den alltäglichen Ersahrungen unserer eigenen Muskeltätigkeit schlechtweg als Kraft bezeichnet). Diese Energie tritt in zwei verschiedenen Urzuständen auf, die überall miteinander abwechseln: als Spannkraft in Ruhe, als Triebkraft in Bewegung. Die Spannkraft oder die „Energie der Lage" bedingt die Arbeitsfähigkeit aller Substanz und wird in der modernm Physik jetzt gewöhnlich als „Potentielle Energie" bezeichnet. Die Triebkraft hingegen oder die „Energie der Bewegung" bewirkt die Arbeits­ leistung jeder Substanz und wird jener potentiellen als „Aktuelle Energie" gegenübergestellt; sie wird auch in der Physik der Anorgane — ebenso wie in der Physiologie der Organismen — als lebendige Kraft bezeichnet (im Gegensatz zur „ruhen­ den Kraft"). Dieser Ausdruck ist deshalb von allgemeiner Be­ deutung, weil damit die prinzipielle Einheit der anorganischen und organischen Natur auch mit Bezug auf den universalen Be­ griff des „Leben s" anerkannt wird. Alle Körper, alle raum­ erfüllenden Dinge erscheinen „lebendig", wenn sie sich bewegen; dagegen „leblos" im Ruhezustand. Wenn aber im beständigen Wechsel beider Zustände der eine in den anderen übergeht, so bleibt trotzdem die Quantität der Energie im ganzen unverändert. Da nun das Weltall unendlich grob ist, so muß auch die ihm innewohnende Kraft als ewig fortwirkend gedacht werden. Die neuesten Fortschritte der Physik (namentlich der Elettrik und der Asttonomie) machen es sehr wahrscheinlich, daß das Universum als Ganzes niemals in absoluter Ruhe, sondern stets in relativer Bewegung ist. (Kreislaus der Gestirne, Molekularbewegung usw.) Während ein Teil der Substanz seine „Spannkraft" in Ruhe erhält, wirft der andere Teil als „Triebftast" auf feine Umgebung ein. Immer aber bleibt im ganzen bas llniversalgefetz von der „Ewigkeit der Energie" bestehen.

Ewigkeit des Psychoms. (Unzerstörbarkeit der Weltseele — Universa anhna perpetua. — Grund­ gesetz der Psychomatik.) Das psychistische Prinzip unseres Monismus, die allgemeine Konstanz der Weltseele, beruht auf der Annahme, daß alle Erscheinungen im Weltleben — ebenso in der anorganischen wie in der organischen Natur — mit einem gewissen inneren Gefühle oder einer Art Empfindung verknüpft sind, welche eine (unbewußte) Wahr» nchmung der Substanzteile für ihre Umgebung, für die „Außen­ welt" vermittelt. Diefe „Beseelung" aller Materie" offenbart sich uns am deutlichsten in dem Fundamentalgesetze der Chemie, das als „Wahlverwandtschaft oder Affinität" bezeichnet wird. Wenn zwei verschiedene Elemente A und B sich gegen­ seitig anziehen und verbinden, während sie sich gegen ein drittes U ganz gleichgültig verhalten, so ist diese Erscheinung nur durch eine Unterscheidung der verschiedenen Qualitäten von A, B und C zu erklären. Schon vor 2400 Jahren führte Empedokles von Agrigent die ganze Mannigfaltigkeit der Erscheinun­ gen auf „Liebe und Haß der Elemente" zurück, auf vielfältigste Mischung und Trennung der qualitativ verschiedenen llrstoffe. Die Empfindung oder Fühlung (Aschefis), welche bei der Be­ rührung von A und B ein Lustgefühl — Positiver Tro­ pismus — erzeugt, hingegen bei der Berührung von A und C ein llnlustgefühl — Negativer Tropismus —, bewirkt im ersteren Falle Anziehung ober Neigung (Attraktion), im letz­ teren Falle Widerstand oder Abstoßung (Repulsion). Die­ selbe Empfindung zeigt sich bei der Kristallisation, wenn die aus einer gesättigten Lösung sich ausscheidenden Kristalle nur an einen hineingestellten Kristall derselben Verbindung sich an­ setzen, nicht an andere. Wie der Körper bei der chemischen Affinität durch die Empfindung der Q u a l i t ä t der berührenden Maste angezogen wird, so geschieht dasselbe bei der Schwerkraft oder Gravitation anscheinend durch das Gefühl der O u a n t i t ä t der anziehenden Maste. Haeckel, Ewigkeit

2

Ewigkeit der Menschenseele. — (Unsterblichkeit der menschlichen Person.) „Ich glaube an den heiligen Geist, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben." Dieses in­ haltreiche Glaubensbekenntnis bekräftigt der Reformator Martin Luther im dritten Artikel seines Katechismus mit der feierlichen hebraifchen Schlutzformel: „A m e n" und erklärt es genauer mit folgenden Worten: „Ich glaube, daft am jüngsten Tage der heilige Geist mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird; das ist ge­ wißlich wahr." — Bekanntlich spielt dieser mystische Glaubens­ artikel heute noch wie seit fast zwei Jahrtausenden die größte Rolle im Vorstellungsleben der niederen und höheren Gesellschafts­ kreise. Gerade jetzt, wo in dem erbarmungslosen Weltkriege tag­ täglich Millionen von Menschen dem Todeslos ins Auge schauen müssen, drängt sich ihnen beständig die Frage auf: ob mit ihrem leiblichen Tode auch ihre persönliche Seele vernichtet wird — oder ob, wie die Kirche und die dualisllsche Philosophie behauptet, die „Seele" ein unsterbliches immaterielles Wesen ist, welches nach der Zerstörung des Leibes ewig fortlebt? Ich habe dieses weitverbreitete (oft als höchstes Gut des Christenglaubens be­ trachtete!) Dogma des „Athanismus" im 11. Kapitel der „Welträtsel" ausführlich kritisch beleuchtet und als die unzer­ störbare „Zitadelle des Aberglaubens" bezeichnet. Dort ist nachgewiesm, daß dasselbe ganz und gar dem uferlosen Gebiete der religiösen Dichtung angehört. Die moderne Wisienschast und deren sicherstes Fundament, die Entwicklungs­ lehre, kann die Wahrheit dieses mysteriösen Glaubensartikels nicht anerkennen. Die Physiologie, die das Leben selbst zum Gegen­ stände ihrer Erkenntnis hat, widerlegt den Unsterblichkeitsglauben ebenso bestimmt wie die vergleichende Psychologie des Menschen und der anderen Wirbeltiere; ebenso wie die Entwicklungs­ geschichte des Gehirns und seiner Funktionen. Die immaterielle Seele bleibt immer nur eine Funktion ihres Organs, die Arbeits­ leistung des materiellen Gehirns. Die reine Vernunft kann sich

eine ewige Fortdauer derselben unmöglich vorstellen. Wenn trotzdem der Glaube daran in weiten Kreisen noch heute fortbesteht, so erklärt sich das einerseits durch die Macht der Tra­ dition und des geheiligten Kirchenglaubens, anderseits durch den T r o st, den dieser athanistische Glaube dem bedrängten mensch­ lichen Gemüt wirklich gewähren kann — und ganz besonders durch die H o f f n u n g aus ein besseres „Leben nach dem Tode"; auf ein Wiedersehen der lieben Verwandten und Freunde, deren Gesellschast wir in diesem „irdischen Iammertale" genossen haben. Leider ist nur dieser hochgeschätzte llnsterblichkeitsglaube ein schöner Traum, ein leeres Versprechen, ohne jede Ga­ rantie seiner Erfüllung; noch niemals ist irgendein Ersahr u n g s - Beweis für den Athanismus geliefert worden. Ewigkeit des Geistes. Der Begriff des „Geistes" teilt mit vielen anderen allgemeinen Begriffen (Welt, Seele, Leben, Gott ufw.) das schlimme Schicksal der Vieldeutigkeit. Je nach dem herrschenden Sprachgebrauch, nach der geltenden Schulttadition und nach dem Bildungsgrade des Menschen ver­ knüpft er mit dem Begriffe Geist die verschiedensten Vorstellun­ gen. Im 14. Kapitel der „Lebenswunder" habe ich die wichtig­ sten Probleme des G e i st e s l e b e n s vom monistischen Stand­ punkte der modernen Physiologie und Entwicklungslehre aus be­ trachtet. Mit Beziehung auf unser Problem der Ewigkeit sind folgende Auffasiungen wohl zu unterscheiden: I. Als W e l tg e i st betrachtet, oder als oberstes einheitliches „geistiges Prin­ zip" aller Erscheinungen — oder auch „Geist in der Natur" ge­ nannt — fällt dieser Begriff zusammen mit dem Begriffe der Energie und des P s y ch o m s; er umfaßt diese beiden „Attri­ bute der Substanz" („die Welt als Wille und Vorstellung", Schopenhauer; — „die Welt als Entwicklung des Geistes", Noirä; — „die Welt als Gedanke Gottes", viele Mystiker). Wie die Substanz selbst, müffen wir auch deren Attribute, Energie und Psychom, als ewig bettachten. II. Der Gottesgeist, als ge­ meinsamer Urgrund der ganzen Welt bettachtet, erscheint in ver-

schiedenem Lichte je nach der philosophischen Vorstellung von „Gott" überhaupt. Der monistische Pantheismus, nach dem die Begriffe von Gott und Welt zusammenfallen (Spinoza, Giordano Bruno, Goethe), muß die Ewigkeit des göttlichen Geistes annchmen. Auch der Ontheismus, welcher an einen un­ abhängigen Personalgott über der von ihm geschaffenen und re­ gierten Wett glaubt, nimmt für diesen Schulgott die Ewigkeit in Anspruch, für die Welt dagegen nicht. III. Der sogenannte „Heilige Geist", der nach dem Dogma des christlichen Triplotheismus (der widerspruchsvollen „Dreigötterei") die dritte Person des „Dreieinigen Gottes" darstellt, wird von der Trinitätslchre gewöhnlich als ewig gedacht; dabei läßt es aber das Evangelium zweifelhaft, ob Christus (die zweite Person) vom heiligen Geist oder vom „Gott-Vater" (der ersten Person) aus der „unbefleckten Iungftau Maria" erzeugt worden ist. Gewöhnlich werden alle drei Personen als „ewig" vorgestellt, obwohl Jesus erst 1915 Jahre vor der Gegenwart durch unbefleckte Empfängnis feine individuelle Existenz erhalten haben soll. Die materielle Verkörperung des mysteriösen „Heiligen Geistes" (in Gestalt einer T a u b e, wie sie ost schon in alten christlichen Bildwerken austritt) erinnert nach der vergleichenden Mythologie an die analoge antik-griechische Sage von Leda mit dem Schwan. IV. Der Menschengei st ist nach der wisienschaftlichen Auffasiung des Monismus entweder gleichbedeutend mit mensch­ licher Seele, oder er wird vielmchr als ein besonderer, höherer Teil der Seelentätigkeit angesehen; in beiden Fällen ist er eine Funktion des P h r o n e m a, des Denkorgans in unserem Gehirn; also geht er bei besten Zerstörung im Tode zugrunde. V. Dagegen ist der menschliche Geist nach der mysti­ schen Ansicht des Dualismus und der Metaphysik ein besonderes übernatürliches Wesen, welches auch nach dem Tode des Menschen ewig fortlebt. (Wie? Wo?) Der Spirittsmus und Okkulttsmus, sowie die Geisterscherei (pathologische Phantasiegebilde) fasten die Ewigkeit der „Geister" fehr verschieden auf.

VI. Die Geister der Toten, welche die dichtende Phantasie der Naturvölker seit alter Zeit in mannigfachster Form nach dem Tode fortleben läßt, werben ebenfalls meistens als „ewig" vor» gestellt; in vielen Sagen können sie aber später auch noch „zur ewigen Ruhe" eingchen, also verschwinden. Ewigkett und Vergänglichkett. In scheinbarem Widerspruch zur Allgeltung des Substanzgesetzes, zur Ewigkeit des Universum, steht das große Naturgesetz von der Vergänglichkeit aller Einzeldinge, von der beschränkten Zeitdauer alles Individuellen. Dieser Gegensatz beruht darauf, daß alle einzel­ nen Formen in der Zeit wie im Raume begrenzt und von der Außenwelt oder „Umwelt" abhängig sind. Das ganze Weltgefchehen ist ein ewiges „Werden und Vergehen". Jedes Individuum, jede einzelne Form der Substanz, nimmt nur einen Teil des unendlichen Welttaums ein und existiert nur einen Bruchteil der ewigen Zeit. Es war daher falsch, daß Pytha­ goras und die von ihm gestiftete Schule der Pythagoräer die F o r m als das Wesen aller Dinge und die Z a h l als die wahre Substanz bettachtete. Die ganze Entwicklung beruht aber auf einem beständigen Wechsel der Form, einer Metamorphose der Individuen. — Die Zahlenreihe ist endlos; mögen wir sie noch so weit ins „Unendliche" fortsetzen, immer können wir noch weitere Einheiten der „letzten Zahl" hknzusetzen. — Ebenso ist die Z e i t nur als grenzenlose Ewigkeit vorstellbar; wenn wir auch die Myriadenzahl der Iahrmilliarden noch so sehr ver­ größern, immer können wir ihnen noch weitere Jahre oder „Lkchtiahre" anreihen. — Gleicherweise ist auch der R a u m unendlich groß; mögen wir ihn noch so sehr nach allen drei Dimensionen ausdehnen, nirgends finden wir eine Grenze; immer fragen wir aufs neue: „Ist denn dahinter nicht auch ein „Raum"?" — gleich­ viel ob ein „leerer" oder ein mit Substanz gefüllter Raum. — Die Spekulationen der „höheren Mathematik" (der angeblich exaktesten Wisienschast!) habm uns freilich in neuester Zett be­ lehrt, daß die Zelt nur die v i e r t e D l m e n s l o n des Raumes

fei; indessen sträubt sich der naive „gesunde Menschenverstand*' gegen diese, aller Anschaulichkeit entbehrende Vorstellung ebenso, wie gegen die extremen Auswüchse der modernen, viel bewunder­ ten „Relasivitätstheorie", die von anderen (z. B. Leo Gilbert) als „die neueste Modenarrheit der Physik" bezeichnet wird. Relativ in gewissem Sinne sind gewiß alleVerhältnisie in dieser unendlichen Welt, in welcher nur der Substanzbegriff das Abfolute darstellt. Aber alle Einzeldinge, alle individuellen Erscheinungen sind nur vergängliche Teile der ewigen Substanz. Wenn viele neuere Physiker die Welt sich nur als ein „geschlosienes System" vorstellen können, so kommen wir zu der merk­ würdigen kugelrunden „Ballonwelt" des russischen Physikers Ehwolson; meine Ansicht darüber habe ich in dem zweiten Artikel meiner „Monistischen Bausteine" ausgesprochen (1914, „Monismus und Naturgesetz"). Anfang und Ende der Welt. Die uralte und immer wieder­ kehrende Frage nach dem rätselhaften „Anfang" und dem ge­ fürchteten „Ende" der Welt verlangt vor allem die Klarstellung des mchrdeusigen „Weltbegriffs". Das Weltall („Univer­ sum“ — „Kosmos“) ist nach unserer Überzeugung ewig im weitesten Sinne; es hat weder Anfang noch Ende, sondern be­ steht in einem unendlichen, immer wieder in sich zurückkehrenden Kreislauf von Formenwechfel, ein wirlliches („allumfasiendes") kosmisches „Perpetuum mobile Universum“. Dagegen wird von vielen Physikern bas schwierige Gesetz der Entropie und der damit verbundenen „Dissipation der Energie" geltend ge­ macht. Danach würde der ganze Kosmos nach einem endlichen Entwicklungslauf mit einem totalen Stillstände durch Wärmet o d enden. Dieser sogenannte „zweite Haupffatz der mechanischen Wärmetheon'e" von Elausius steht in Widerspruch mit dem ersten Hauptsatze, dem „E n e r g i e - Prinzip" (gleich dem Substanz­ gesetze). Während nach dem ersten „die Energie des Weltalls konstant" ist, strebt dagegen nach dem zweiten Haupffatz „die Entropie des Weltalls einem Maximum zu", dem „Wärmetod".

Wenn das richtig wäre, so müßte diesem angenommenen „Ende der Welt" auch ein Anfang derselben, mit einem „Minimum der Entropie" entsprechen. Dann müßte ein übernatürlicher „Schöpfe r" die Welt „im Anfang" a u s N i ch t s geschaffen haben. Die abfurdm Folgerungen, die aus diefer Vorstellung sich ergeben, haben neuerdings den Widerspruch vieler Philo­ sophen gegen jene Annahme der universalen Entropie verstärkt; insbesondere wurde geltend gemacht, daß der „SKahlungsdruck" und andere (zum Teil noch nicht näher bekannte) kosmische Be­ ziehungen der Himmelskörper die nachteiligen Folgen der En­ tropie wieder aufheben. Dagegen ist dieselbe sicher wirksam in dem Energiewechfel einzelner Teile des Kosmos. So nimmt man auch für unsere Erde (wie für andere Weltkörper) ein schließ­ liches Ende durch Wärmetod mit Recht an. Diese Hypothese ist ebenso wahrscheinlich, wie diejenige einer Entstehung der ein­ zelnen Weltkörper durch mechanische Ursachen. Wir kennen aber zurzeit die verwickelten Verhältnisie des ganzen Weltbaues und des Formenwechsels seiner individuellen Teile (ttotz der erstaun­ lichen Fortschritte der Astrophysik und Kosmogonie) noch viel zu wenig, um sichere Anschauungen darüber zu gewinnen. Die wahr­ scheinlichste Hypothese nimmt einen „ewigen Kreislauf d e s W e l t a l l s" an, mit einem periodischen Wechsel des Wer­ dens und Vergehens der Millionen von einzelnen Sternen, wie ihn noch kürzlich Zehnder eingehend geschildert hat. Ähnliche Vor­ stellungen hatten schon vor mehr als 2000 Jahren die bewunde­ rungswürdigen Ionischen Naturphilosophen (Anaximander und Anaximenes). (Vgl. Näheres im 13. Kapitel der „Westrätsel".)

C. Weltgesetz und Zufall. Die alte Frage nach der Bedeutung des Zufalls wird uns durch die buntwechfelnden Ereignisie des jetzigen Weltkrieges tag­ täglich nahegelegt; bei nüchterner, objettiver Betrachtung aller Verhältnisie wird sie für denjenigen, der sich von mystischen Vor-

stellungm und anerzogenen Vorurteilen frei gemacht hat, in dem Sinne beantwortet, daß der Zufall die gröhle Rolle spielt. Wir verstehen dabei den Begriff des Zufalls in dem Sinne, den ich am Schlusie des 14. Kapitels der „Welttätsel" erläutert habe; jede einzelne Erscheinung hat nach dem allgemeinen Kausalgesetz ihre mechanische Ursache; aber das Zusammentreffen von zwei oder mehreren Erscheinungen, die unter sich in keinem ursächlichen Zusammenhang standen, bewirkt neue Ereignisie, die wir nur als zufällig bezeichnen können. Schon im gewöhn­ lichen Alltagslebm kann sich jeder unbefangene Beobachter täg­ lich von der Macht des Zufalls überzeugen, die wir im guten Falle als „Glück", im fchlimmen Falle als „Unglück" be­ zeichnen. Viel augenfälliger und drastischer tritt uns das jetzt fortwährend im Völkerkriege entgegen. Täglich fliegen Millionen von Schüflen aus Kanonen und Mörsern, Flinten und Maschinen­ gewehren durch die Lust und vernichten Tausende von jungen, blühenden Menschenleben; täglich leiden Tausende von Verwun­ deten in den Lazaretten und von Gesangenen in den Gefangenen­ lagern unter den schweren Geschicken des blinden Zufalls; täglich geben Tausende von Menschen physisch oder moralisch an den zufälligen aber unvermeidlichen Folgen des gegenseitigen Völkermordens zugrunde. Wie kann man da noch glauben, bah ein liebender Allvater, eine weise Vorsehung, die Geschicke jedes ein­ zelnen Menschen in jedem Augenblick leitet? Zufall im persönlichen Leben. Die Schicksale jedes einzelnen Menschen unterliegen ebenso wie die Geschicke jedes anderen Tieres dem blinden Zufall von Anfang bis zu Ende, von der Wiege bis zum Grabe; überall sehen wir, dah die Abhängigkeit von tausend äußeren Ursachen, die Wechselbeziehung zu unzäh­ ligen Objetten der Außenwelt, die individuelle Entwicklung des Menschen bestimmen. Der blinde Zufall beginnt sein tolles Spiel schon in dem Augenblick, in welchem jede Person ihr indi­ viduelles Leben anfängt, in dem Momente der sexuellen „Emp­ fängnis"; da umschwärmen die Eizelle der Mutter, die aus

dem Eierstock ausgetreten und zur Befruchtung reif ist, Millionen winziger Spermazellen, welche in einem Tröpfchen Sperma des Vaters sich lebhaft umherbewegen. Nur einer einzigen von diesen Samenzellen gelingt es, in den Körper der kugeligen (dem unbe­ waffneten Auge kaum als Pünktchen sichtbaren) Eizelle einzu­ dringen. Die individuellen Unterschiede der Person sind aber schon durch Vererbung in der chemischen Zusammensetzung des Plasma der beiden kopulierenden Geschlechtszellen gegeben, welche die weitere Entwicklung des neu erzeugten Kindes bestim­ men. Nun ist allgemein bekannt, wie verschieden die körperlichen und seelischen Anlagen sind, welche alle von einem und demselben Elternpaar erzeugten Kinder besitzen (trotz gewisser gemeinsamer, von Eltern und Großeltern geerbter Familienzuge!). Unter zwölf Kindern eines und desselben Paares können zwei hervorragend begabt, drei ober vier mißraten und die anderen sieben obei sechs von mittleren Anlagen sein; bas hangt allein von dem Zu­ fall ab, welche von den Millionen Spermazellen zuerst in die Eizelle eingedrungen ist, und welche von den tausend Eizellen des Eierstocks zuerst zur Beftuchtung gelangt ist. Weiterhin weiß jeder denkende Mensch, wie seine körperliche und geistige Entwicklung schon von ftühester Kindheit an beeinflußt wird durch die zufälli­ gen Bedingungen seines Familienlebens und Schulunterrichts, feines Verkehrs mit Geschwistern und Bekannten. Die bedeu­ tungsvolle, für das ganze weitere Leben enffcheidende Wahl bes Berufes — später die Wahl des Ehegatten —, die unzähligen Be­ ziehungen zu anderen Menschen, mit denen er in engere oder weitere Berührung tritt, setzen durch Tausende von Zufällen den Gang des persönlichen Lebens zusammen, welcher bei den moderneu Kulturmenschen so unendlich verwickelt erscheint. Wenn trotz­ dem die dualistischen Anhänger einer idealen Weltanschauung von einer „höheren Leitung unserer Schicksale durch eine weise Vor­ sehung" reden, oder von einer „gütigen Führung bes liebenden Allvaters" usw., so können wir diese schönen Phantasiegebilde der Dichtung sehr erbaulich und angenehm finden; wir fragen aber

vergeblich, wie wir sie vernünftigerweise mit der rauhen Wahrh e i t des realen Menschenschicksals in Einsiang setzen sollen? Der tröstliche Hinweis auf ein späteres „Ewiges Leben" versagt völlig. Zufall im Weltkriege. Eindringlicher als je zuvor macht sich die Herrschaft des blinden Zufalls für jeden denkenden Menschen in dem gigantischen Trauerspiel des jetzigen Weltkrieges sühlbar und sichtbar. Tag für Tag bedroht feit 15 Monaten der Zufall das Leben von Tausenden blühenden kräftigen Männern, die im Schlachtengewühl dem Tode jeden Augenblick ausgesetzt sind. Die Schrecknisse des blusigen Kampfes in den Schützengräben, bei der Erstürmung von Festungen, in offener Feldschlacht — oder in den neuen Formen des Seekrieges, der Panzerflotten, der Unter­ seeboote — oder in den unerhörten Formen des Luftkrieges, der Zeppeline, der Fliegerboote, der Wasserflugzeuge usw. treten uns tagtäglich in den Zeitungsberichten und den offiziellen Mitteilun ­ gen der Heeresleitungen vor Augen. Tausende von Bildern, von Photogrammen, von Skizzen aus den Kriegslagern illustrieren die gedruckten Berichte lebendig. Ein einziger gut gezielter ober durch blinden Zufall geglückter Treffer einer Granate oder Bombe oder eines der modernen Riesengefchütze kann in einer Sekunde Dutzende von Menschenleben grausam vernichten. Anderseits wieder kann eine glückliche Bewegung oder eine vorteilhafte Stellung und Deckung einzelne Soldaten mitten im Kugelregen retten, während ihre Kameraden unmittelbar daneben fallen. Die Berichte unserer Militärärzte, besonders unserer Chirurgenkongresse, sind voll von erstaunlichen Mitteilungen über die seltsamen, oft unglaublichen Verletzungen der Verwundeten; Krieger, denen Kugeln in die edelsten Organe, Gehirn, Herz, Eingeweide einge­ drungen sind, denen Arme und Beine zerschmettert sind, kommen gut davon und werden nach längerer und kürzerer Zeit geheilt; andere, die nur leicht verwundet sind, sterben infolge von zufälli­ ger Blutvergiftung oder unzweckmäßiger Bchandlung. Ein­ zelne Soldaten, die im heftigsten Kugelregen fielen, weisen mehr als hundert Wunden an ihrem zerrissenen Körper auf. Und wie

verschieden spielt der blinde Zufall in den weiteren Schicksalen der Verwundeten, und besonders der Gefangenen! Welche Rolle spielt die zufällige Art des Transports, der Bchandlung in den Lazaretten, in den Gefangenenlagern usw.! Und wieviel tausend Zusälle spielen sich jetzt alltäglich in den Millionen von trauern­ den Familien, von sorgenden Müttern, Frauen und Kindern ab, deren Kinder, Männer und Väter draußen im Felde liegen, und von denen sie oft durch Wochen und Monate keine Nachricht er­ halten! Niemals, so lange die leidende Menschheit auf diesem „verpfuschten Planeten" existtert, ist das M a s s e n e l e n d d e s Krieges und die verhängnisvolle Herrschaft des blinden Z u f a l l s in solchem Grade und in so grauenhaften Formen uns vor Augen getreten, wie in diesem entsetzlichen Weltkriege, der allein durch dm Geschäftsneid und den b r u t a l e n E g o i s m u s des christlichm Musterstaates E n g l a n d uns aufgezwun­ gen worden ist. Zufall im organischen Leben. Dieselbe besttmmende Rolle wie im persönlichen Leben des einzelnen Menschen spielt der blinde, unbewußte Zufall auch im Leben jedes anderen Organis­ mus. Das gilt ebenso von der Entwicklung jedes einzelnen In­ dividuums (Ontogenie), wie von derjenigen seiner histori­ schen Ahnenreihe (P h y l o g e n i e); — es gilt ebenso vom Leben der einzelligen Protisten oder „Zellinge" (Protophyten und Protozoen), wie von demjenigen der vielzelligen und gewebebil­ denden Histonen oder „Webinge" (Metaphyten und Metazoen). Das ganze wunderbare Bild der Stammes­ st e s ch ich t e der Organismen, wie ich es in meiner „Systemati­ schen Phylogenie" (1866—1896) zu entwerfen versucht habe, be­ ruht auf der absichtslosen Durchflechtung von M y r i a d e n z u fälliger Begebenheiten, von denen jede einzelne be­ dingt ist einerseits durch die unzähligen Beziehungen zur Außen­ welt („Anpassung"), anderseits durch die angeborenen, von der Ahnenreihe übertragenen Charaktere („Vererbung"). Die historische Entwicklung der vielen tausend Arten von Pflanzen

und Tieren, die sich im Laufe von mchr als hundert Iahrmlllionen auf unserem Erdball gesondert haben, und die doch alle nur von wenigen einsachstm Stammformen abstammen (die ältesten von einer einfachen Urzelle!), enthalt ein endloses Wechselspiel von historischen Ereignisien, von denen jedes einzelne wieder das mechanische absichtslose Produtt von unzähligen Zufällen ist. Dieser Erkenntnis gegenüber erscheint der andere Zweig der Biogenie, die K e i m e s g e s ch i ch t e der Organismen, zunächst vielleicht anderer Natur, da die Entwicklung jedes Einzelwesens aus der Stammzelle (der „beftuchteten Eizelle") schon von Anfang an auf ein bestimmtes Ziel, auf die volle Ausbildung der Artform gerichtet ist; allein diese Determination der individuellen Entwick­ lung ist nach unserem „Biogenetischen Grundgesetze" nur die ab­ gekürzte, durch Vererbung bedingte Wiederholung jener langen Stammesgeschichte (Palingenese); und auch sie ist in ihrem weiteren Verlaufe (bis zum Tode!) immer wieder durch zufällige Veränderungen bedingt, die unter den Begriff der A n p a s s u n g im weiteren Sinne fallen (Zaenogenese). Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit des organischen Erdenlebens ist dadurch bedingt, daß in dem überall und jederzeit wirkenden „Kampfe ums Dafein" tausende von Beziehungen zufällig mechanisch zu­ sammenwirken. Eine bewußte Zielsttebigkeit (Entelechke) oder ein beabsichtigter Lebenszweck, wie ihn die dualisllsche Teleologie voraussetzt, ist dabei ebensowenig nachzuweisen wie bei dem Existenzkämpfe der Nationen im Weltkriege. Zufall im anorglschen Leben. Viel klarer und unzweideu­ tiger als im organischen Leben unserer Planeten tritt uns die bestimmende Macht des Zufalls in den Gebieten der anorgischen Natur entgegen, welche der Geologie und Geogenle, der Mine­ ralogie und Kristallographie, der Hydrographie und Meteorologie angehören. Früher wurden alle diese Objette der Anorgik als „leblose Naturkörper" angesehen. Indesien hat uns die genauere, im letzten halben Jahrhundert erworbene Kenntnis ihres Wesens und ihrer Entwicklung zu der Überzeugung geführt, daß auch diesen

Anorganen ein wirkliches Leben im weiteren Sinne zuge­ sprochen werden muß. Schon vor 50 Jahren hatte ich im zweiten Buche der „Generellen Morphologie" (Bd. I, S. 109—238) eingehende „Allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Entstehung der Organismen und ihr Verhältnis zu den Anorganen" angestellt. Seitdem haben viele neuere Entdeckungen die von mir damals schon behauptete innige Beziehung beider Hauptgruppen von Naturlörpern, die Wesenseinheit ihrer Substanz und ihrer Entwicklung, klarer und offen­ kundiger bewiesen. Einerseits bilden die Moneren (nament­ lich Chromaceen und Bakterien) eine niederste Gruppe von „O r ° ganismen ohne Organe", deren höchst einfache morpho­ logische und physiologische Beschaffenheit sie von den übrigen Orga­ nismen entfernt und den Anorganen nähert. Anderseits haben wir in den merkwürdigen, von Lehmann neuerdings entdeckten „F l ü s s i g e n K r i st a l l e n" Naturkörper kennen gelernt, die in mehrfacher Beziehung den Übergang zu einfachsten Organismen bilden. Das „L e b e n d e r K r i st a l l e", ihr Wachstum, ihre Re­ generation, ihre gesetzmäßige Gestaltung und Struktur, besonders aber ihre unbewußte „Empfindung" sind „Lebenserscheinungen", welche denjenigen niederer Protisten sich eng anschließen. Diese gesetzmäßige Entwicklung der Kristalle schließt aber nicht aus, baß auch sie durch die Beziehung zur Umwelt vielfach modifiziert werden und dabei dem blinden Zufall unterliegen. Ganz offenkundig und höchst lehrreich offenbart sich besten Einfluß kn der Geologie und Meteorologie. Die großartigen Veränderun­ gen der Erdoberfläche, die noch heute wie fett vielen Iahrmillionen ununterbrochen vor sich gehen, sind bedingt durch das zufällige Zusammenwirken von unzähligen Heinen Vorgängen rein mechanischer Natur, welche lediglich auf physikalischen und chemischen Ursachen berußen. Ganz dasselbe gilt auch von der Meteorologie, der Witterungskunde. Vom Wetter weiß jeder­ mann, daß es von Tag zu Tag sich ändern kann und daß kein Wetterprophet imstande ist, heute mit Sicherheit vorauszufagen,

was morgen geschehen wird. Ein einziger Sonnentag nach langem Regenwetter, ein einziger Windstoß im Gebirge, eine einzige De­ pression des Luftdrucks auf dem Meere genügt, um auf weite Strecken hin das Wetter zu ändern und wichtige Störungen her­ vorzurufen; und doch sind die ersten Anstöße zu diesen Ereignissen, obwohl jeder einzelne Faktor mechanisch durch physikalische Ge­ setze bedingt ist, meist reines Spiel eines unberechenbaren Zufalls. Zufall im kosmischen Leben. Das Weltall im ganzen — als „Universum oder Kosmos" — ist mit seinen unzähligen ein­ zelnen Teilen oft mit einem riesigen Organismus verglichen wor­ den. Dieser Vergleich ist richtig, insofern er sich auf die materielle Einheit des ganzen Kosmos und auf die damit verknüpfte energetische Einheit aller Naturkräste, sowie auf die pfychomatifche Einheit der allumfastenden „Wellseele" gründet. Der Vergleich ist aber falsch, wenn damit eine zweckmäßige Organisation des ganzen Weltgebäudes, eine Zielfttebigkeit in dualisttsch-teleologischem Sinne verstanden wird. Vielmehr haben uns die erstaun­ lichen Fortschritte der Astronomie, insbesondere der Astro­ physik, der Spektralanalyse und Himmelsphotographie, in den letzten 30—40 Jahren zu folgenden sicheren Ergebnissen geführt: I. Die vielen Millionen von Sternen, welche im weiten Himmelsraum regellos zerstreut sind (mit völlig ungleichen Abständen und Lausbahnen!), folgen zwar alle in ihrer ewigen Bewegung dem großen Grundgesetze der Gravitation; ihre un­ gleiche Verteilung und Anordnung zu kleineren Gruppen und größeren Systemen läßt aber keine Spur von Zweckmäßigkeit im Weltenbau erkennen. II. Die kreisförmigen oder elliptischen oder parabolischen Bahnen, in denen sich die Himmelskörper umein­ ander oder um gemeinsame Zentralsonnen bewegen, sind nicht, wie man ftüher annahm, beständig und ewig (von einem tunstreichen Himmelsarchitekten planvoll geordnet!), sondern sie sind veränderlich und durch zusälligen Wechsel der gegenseitigen Beziehungen bestimmt. III. Das plötzliche Austauchen neuer Sterne, von vorher nie gesehenen Himmelskörpern, die nach

kürzerer oder längerer Zeit wieder verschwinden, ist nur durch große Weltkatastrophen zu erklären, durch den zufälligen Zusammenstoß von früher weit getrennten Sternen. IV. Die zahlreichen kleinen, dabei durch Zersplitterung oder Zerstäubung entstandenen neuen Himmelskörper betteten wieder neue Bahnen und können durch zufälliges Zusammenballen neue Nebel­ fl e ck e und weiterhin neue rotterende Sterne bilden. V. Auch die wechfelvollen Erscheinungen, die wir in unserer Sonne beob­ achten, die Protuberanzen, die Korona usw., beweisen ein „a n o r g i s ch e s L e b e n" in diesem großen Zentralkörper; und besten Erscheinungen sind ebenso wie im anorgischen Leben unseres Erdballs selbst von tausend Zufällen abhängig, keinem vorbedachten Zwecke oder Ziele zugewandt. So geht denn auch in dem großen Gebiete der Kosmologie — ebenso wie in dem beschränkten Teile der Geologie — der ganze Entwicklungslauf des anorgifchen Lebens rein mechanisch vonstatten, ohne vorbedachten „weisen Plan" oder „Weltzweck".

D. Weltkrieg und Vorsehung. 3m Gegensatze zu diesen allbekannten Tatsachen, die jeder­ mann mit offenen Augen schen kann, behaupten noch zahlreiche Gebildete, daß die Schicksale der Völker ebenso wie jedes ein­ zelnen Menschen nicht durch mechanische Gesetze und den dabei beständig miffpielenden Zufall geleitet werden, son­ dern durch die übergeordnete Leitung eines zielbewußten Gottes, der als Vorsehung über dem ungeheuren Wechsel­ spiel der Kräfte wacht und sie zusammen nach einem bestimmten Ziele leitet. Bekanntlich ist diese anthropistische Austastung, bei welcher der „liebe Gott" bald mehr nach dem Vorbilde eines treu sorgenden „Allvaters" verehrt, bald mehr nach dem Urbilde eines allmächtigen und richtenden orientalischen Monarchen ge­ fürchtet wird, noch heute in weitverbreiteter Geltung bei den Theologen und den mit ihnen verbündeten dualisttfchen Philo-

sophen. Dabei ist es im Prinzip gleich, ob dieser „allweise" und „allwissende" Schulgott in gröberer Form als ein i d e a l i s i e r ter Mensch angebetet wird (z. B. Christus als „mensch­ gewordener Gott"), oder in feinerer Form als ein im­ materieller Geist, der unsichtbar in allen Schicksalen der Menschen wirkt und sie als „Vorsehung" absichtsvoll leitet. Wir verkennen nicht den Wert des Trostes und der Hoffnung auf besseres Geschick, welcher durch diesen „Glauben an die gütige Vorsehung" dem leidenden Menschen gespendet wird. Wer schon in gewöhnlicher Friedenszeit haben sich freidenkende und klarsehende Männer oft nicht entschlichen können, diesen schönen Verheihungen Glauben zu schenken. Die ganze Natur­ geschichte und Kulturgeschichte der Menschheit lchrt tausendfach das Gegenteil. Man denke nur an die unendlichen Leiden der Menschen in den Zuständen der Sklaverei und Barbarei; oder an das namenlose Elend in den Krankenhäusern und Hospitälern, in den Gefängnissen, in den modernen Großstädten; oder an die bitteren Qualen, denen Millionen von Menschen von jeher in den Zeiten der Not, der großen Epidemien und Kriege aus­ gesetzt waren. Vollends der jetzige Weltkrieg, in dem das Mastenelend und die Leiden der Einzelnen unerhörte Dimen­ sionen angenommen haben, muß allen Glauben an eine liebevolle Vorsehung zerstören. Dasselbe gilt von dem damit verknüpften Glauben an eine „sittliche W e l t ordnung", welche den anthropistisch gedachten Weltregenten mit moralischen Tugenden ausstattet. Alle diese nebelhaften Phantasiegebilde des dualistischen Glaubens erweisen sich im Lichte der reinen Vernunft als Erzeugniste der unkritischen Leichtgläubigkeit oder des tiefgewurzelten mysllfchen Aberglaubens. Schon ein altes Sprichwort lehrt: „Hilf dir selbst, so Hilst dir Gott." (Nähere Begründung dieser monisllschen Überzeugung enthält das 14. und 15. Kapitel der „Welträtsel".)

E. Wert des Menschenlebens. über wenige Gegenstände des Denkens gehen die Ansichten der Menfchm so weit auseinander und stchm sich die Über­ zeugungen, sowohl in theoretischer wie in praktischer Beziehung, so schroff gegenüber, wie in betreff des Wertes des menschlichen Lebens, zunächst des einzelnen Individuums, der Person. Einer­ seits beweist uns die monistische Wissenschast — auf Grund der reinen Vernunft und der grobartigen Fortschritte der Biologie im letzten halben Jahrhundert —, daß das Leben des Menschen, wie jedes anderen Tieres, ein physikalisches Phäno­ men ist, und datz sowohl die körperlichen als die geistigen Eigen­ schaften denselben allgemeinen Naturgesetzen unterworfen sind, wie alle anderen Naturerscheinungen. Andrerseits bchauptet die dualistische Metaphysik (— und mit ihr in Übereinstimmung der größte Teil der Theologie —), daß das Menschenleben eine übernatürliche, von den gewöhnlichen Naturgesetzen un­ abhängige Erscheinung sei; dabei stützt sie sich besonders auf feine seelifchen Eigentümlichkeiten; auf die irrtümlich angenom­ mene Unsterblichkeit seiner Seele (— oder des „Geistes" —) und auf die moralischen Bedürfniffe der prattischen Vernunft. Dazu kommt das Schwergewicht der geheiligten Tradition, des natürlichen Egoismus und vieler Vorurteile verschiedenster Art. Aus die zahlreichen einzelnen Widersprüche dieser Vor­ stellungskreise können wir hier nicht eingehen; wir begnügen uns damit, auf den offenkundigen Gegensatz hinzuweisen, welchen einerseits die allzu hohe Überschätzung, andrerseits die allzu tiefe Unterschätzung des persönlichen Menschenlebens noch auf dem heutigen Kulturstandpunkte des 20. Jahrhunderts zeigt. Überschätzung des Menschenlebens. Da jeder Mensch sich selbst der Nächste und dem Selbsterhaltungstriebe ebenso wie jeder andere Organismus unterworfen ist, sucht er vor allem sein persönliches Leben zu erhalten und die bemsell>en drohenden GeK

QatM, Swtgkrtr.

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fahren zu meiden. In der menschlichen Gesellschaft hat sich daher von Anfang an ein natürliches Bedürfnis gegenseitiger Hilfe geltend gemacht, und sind bestimmte Gesetze zum Schutze des persönlichen Lebens entstandm, sowie zur Abwehr der Ge­ fahren, die ihm von Angriffen anderer drohen. Die darauf ge­ gründete Rechtsordnung hat sich naturgemätz mit fortschreitender Kultur immer weiter entwickett und zu einer immer höher stei­ genden Bewertung des individuellen Lebens geführt. Dabei gerät oft die subtile Dialektik der Juristen in Gegensatz zu dem natürlichen „gesunden Menschenverstände", der sich auf die biologischen Erkenntniffe der monistischen Anthropologie stützt. So begegnet man heute vielfach den seltsamsten Bemühungen zur „Abschaffung der Todesstrafe". Rach der Ansicht vieler wahrer Philanthropen (die ich teile) ist diefelbe nicht nur die gerechte Vergeltung für Mörder, die anderen Menschen das Leben nchmen, sondern sollte auch noch auf andere unverbesierliche Verbrecher angewmdet werden. Die Strafe des lebens­ länglichen Zuchthaufes, die dafür empfohlen wird, erscheint bei näherer vorurteilsloser Betrachtung viel schlimmer und grau­ samer als die Todessttafe. — Noch seltsamer und geradezu wider­ sinnig ist die weiwerbreitete Ansicht, daß der Arzt verpflichtet sei, um jeden Preis das Leben des Kranken zu e r h a l t e n. Welchen Nutzen haben davon die unzähligen unheilbaren Kran­ ken, welchen ihre schmerzensreiche Existenz eine beständige Qual, ihren Angehörigen eine schwere Last ist? Welchen ver­ nünftigen Zweck hat es, die unheilbar an Geisteskrankheit, an Krebs oder Aussatz Leibenden, die selbst ihre Erlösung wünschen, lange Jahre in ihrer bejammemswerten Verfasiung zu erhalten, oder gar besondere isolierte Hospitäler zur künstlichen Verlängerung ihrer Qualen zu unterhalten? Welchen Sinn kann es ferner haben, neugeborene Kinder mit Defekten, welche eine künftige glückliche Entwicklung von vornherein unmöglich machen, Mißgeburten, die von Anfang an das arme Geschöpf zu einem elenden, jammervollen und nutzlosen Dasein verurteilen,

künstlich am Leben zu erhalten? Eine kleine Dosis Morphium oder Cyankalium würde nicht nur diese bedauernswerten Geschöpse selbst, sondern auch ihre Angehörigen von der Last eines langjährigen, wertlosen und qualvollen Daseins befreien, über den offenkundigen Nutzen der „Spartanischen Selek­ tion", welche schon vor mehr als 2000 Jahren krüppelhafte Neugeborene zu töten empfahl, habe ich bereits 1868 (im 7. Vor­ trage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte") und 1904 (im 5. Kapitel der „Lebenswunder") meine persönliche Überzeugung ausgespwchen. — Mitleidige Ärzte, welche diese C r l ö s u n g den hoffnungslosen und schwer leidenden Kranken auf ihren eigenen Wunfch gewähren, erfüllen damit ein Gebot „christlicher Nächstenliebe"; aber nach unseren heutigen unlogischen Gesetzbüchern (— die überhaupt noch reich an überlebten Be­ stimmungen des Mittelalters sind! —) würden sie strafbar sein! Unterschätzung des Menschenlebens. In schroffem Gegenfatze zu dieser sinnlosen Überschätzung des persönlichen Lebens stehen die Anforderungen, welche die menschliche Gesellschaft im Kriege an jeden Einzelnen in ihrem Gesamtinteresie stellt. Nie­ mals ist uns das so unmittelbar zum Bewußtsein gekommen, wie in dem jetzigen gigantischen Weltkriege, der alle anderen bisher erlebten Kriege an Größe der Menschenopfer, der sittlichen und materiellen Verluste weitaus übertrifft. Täglich müssen wir in den Zeitungen den Heldentod zahlreicher hoffnungsvoller Jüng­ linge lesen, die kaum über das dienstpflichtige Alter hinaus sind; den Verlust von tüchtigen, gesunden Männern, die ihre Familien in der Hekmat vaterlos zurücklassen mußten. Uns Deuffche treffen diese schmerzlichen Verluste ganz besonders hart; denn bei uns wie bei unseren österreichischen Bundesgenossen ist die geissige Bildungshöhe und damit der persönliche Lebenswert im Durchschnitt weit größer als bei unseren Gegnern, welche ihr Niesenheer zum größten Teil aus ungebildeten Menschen nie­ derer Klassen zusammensehen, aus gekauften Söldnern und aus farbigen Angehörigen wilder und halbwilder Rassm, die sie aus

allen Erdteilen zusammengeworben haben! Ein einziger fein­ gebildeter. deutscher Krieger, wie sie leider jetzt massenweis fallen, hat einen höheren intellektuellen und moralischen Lebenswert als Hunderte von den rohen Naturmenschen, welche England und Frankreich, Rutzland und Italien ihnen gegenüberstellen. Nun ist es ja richtig, datz unser teures Vaterland diesen ungeheuren Existenzkampf nur dann siegreich durchführen kann, wenn wir alle einmütig und mit Begeisterung jene Opfer bringen. Das geschieht auch mit einem Heldenmute und einem Erfolge, der in der Staatengeschichte diesen Befreiungskrieg zu einem Ehrendenkmal ersten Ranges für uns erhebt. Aber nichtsdesto­ weniger mutz uns täglich dieser Gedanke schmerzen, datz hier Millionen wertvoller Menschenleben einem barbarischen Vernichtungskriege geopfert werden müsien, welcher bei hinreichen­ der V e r n u n f t, bei richtiger Politik und kluger diplomatischer Vertretung auf unserer Seite, ebenso aber auch bei internationaler Toleranz, bei gerechter Beurteilung unserer Anspräche auf deutsche Wellstellung von selten unserer Gegner, hätte vermieden werden können. Tief betrübend ist es für jeden Menschenfreund, und besonders für jeden Pazifisten, zu sehen, wie tief die Schätzung des individuellen Lebens in diesem Völker­ kriege gesunken ist und welche schweren Wunden der menschlichen Kultur und Gesittung dadurch auf lange Zeit geschlagen werden. Sinn des Menschenlebens. Nicht weniger verschieden als die widersprechenden Ansichten über den Wert des menschlichen Lebens sind die ost damit verknüpften Anschauungen über seinen eigentlichen Sinn, seine allgemeine und besondere Bedeutung. Bei der Beantwortung dieser wichtigen Frage scheiden sich sofort die beiden Wege der monistischen und der dualissischen LebensPhilosophie. Unsere monistisch e oder naturalistische Überzeugung, welche sich fest auf die wisienschaftliche Erkenntnis der modernen Biologie und speziell der Anthropologie gründet, beurteilt das ganze individuelle Leben des Menschen nach denselben Grundsätzen wie das der übrigen Wirbeltiere, und

insbesondere der nächstverwandten Herrentiere, von denen er direkt abstammt. Wir werden unten, im dritten Kapitel, sehen, wie die definitive Lösung des Kapitalproblems diese großen Fragen, zugleich mit denen der Unsterblichkeit und Ewigkeit, klar beantwortet. Das Menschengeschlecht ist ein spätes Produkt des Wirbeltierstammes, erst in neuester Terfiärzeit aus der Familie der Menschenaffen, als der höchststehenden Primaten, hervorgegangen. Das gilt ebenso für feine gesamte körperliche Organisation, wie für das höhere Leben feiner Seele oder seines Geistes. Für die Annahme einer Unsterblichkeit dieses letzteren, einer ewigen Fortdauer nach dem Tode, liegt keine einzige Spur eines Beweises vor; sie ist ein Phantasieprodukt der Dichtung. Da es ein „Jenseit s" nicht gibt, da ein zweites, überirdisches Leben ausgeschlvsien ist, kann der Mensch nur die Aufgabe haben, sein irdisches Leben im „Diesseits" so gut und glücklich wie möglich zu gestalten. Diese Aufgabe wird aber bei den hoch­ entwickelten Kulturmenschen nicht durch bloßen Sinnengenuß ge­ löst, svndem durch das Bewußtsein erfolgreicher Arbeit, fruchtbarer Beteiligung an der fortschreitendm Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts. Der wahre Sinn des Lebens liegt in der richtigen Anwendung der praktischen Vernunft auf dasselbe. — Ganz anders urteilt natürlich die d u a l i st i s ch e oder metaphysische Philosophie, welche in übereinsfimmung mit dm herrschenden Religionslehren unser irdisches Leben nur als eine Vorstufe zu einem zweiten höheren Leben ansieht, als eine Vorbereitung zu einem überirdischen Leben in einem unbekannten „Jenseits". Es ist ganz begreiflich, daß dieses zweite übernatürliche und ideale Leben, ausgestattet mit allen Rei­ zen eines phantafttschen Märchens, höher geschätzt wird als unser wirkliches Leben im „Diesseits", das immer mit allerlei Mängeln und Hinderniflen zu kämpfen hat, wie das Leben aller anderen Organismen auch; daher die „Naturverachtung" des Christen­ tums und die törichte Askese und Selbstpeinigung in den christ­ lichen Klöstern. Für den monistisch denkenden und naturalisttsch

gebildeten Menschen der Zukunst wird der Sinn des Lebens in der vemünstigen und naturgemäßen Lebensführung selbst liegen.

F. Leben und Tod. Unsere Anschauungen von den Erscheinungen und dem Wesen des Todes haben sich im Laufe des letzten halben Jahr­ hunderts völlig geändert. Die moderne Physiologie, in Ein­ klang mit den Ersahrungen der Physik und Chemie einerseits, der Biogenie und Kristallographie andrerseits, haben die früher an­ genommene scharfe Grenze zwischm Organismen und Anorganen, zwischen „belebter und lebloser" Natur völlig verwischt. Das Wachstum und die Regeneration der mineralischen Kristalle ist ebenso ein „Lebensprozeß", wie diejenige der einfachsten Or­ ganismen. Die niedersten Formen der letzteren, die M o n e r e n (Chromaceen und Bakterien), entbehren noch ganz der „Organi­ sation", der zweckmäßigen Zusammensetzung ihres homogenen, kernlosen Plasmakörpers aus verschiedenen Werkzeugen; sie sind in Wahrheit noch „Organismen ohne Organe". Der individuelle Kristall hat die gleiche morphologische Individualität wie die einfachsten Formen der Moneren. Die flüssigen Kristalle (von Lehmann entdeckt) führen spontane Bewegungen gleich den letzteren aus. Die einfachste Form des organischen Lebens bei diesen letzteren ist ein rein physikalischer Vorgang, die „Kata­ lyse kolloidaler Substanz". Wenn die wachsenden Kristalle in einer übersättigten (metastabilen) Flüssigkeit eine ge­ reifte Wachstumsgrenze überschreiten, vermehren sie sich ebenso (durch Ansatz neuer Kristallindividuen), wie die homogenen und strukturlosen Plasmakugeln der einfachsten Moneren (durch ein­ fache Selbstteilung). Wenn aber ein organisches Individuum durch Teilung in zwei zersällt, so ist damit seine Indivi­ dualität vernichtet; diese ist „tot", obgleich seine lebendige Substanz in den Teilprodustm weiterlebt. Man darf daher nicht von einer „Unsterblichkeit der Einzelligen" (Prottsten) sprechen; denn auch bei den Vielzelligen (Histonen)

lebt das Plasma in den Kindern — in abgelösten Keimzellen — fort, nachdem die Elternindividuen gestorben sind *). Frettod und Selbsterlösung. Die beispiellosen Trauerfälle und Notzustände, welche der ungeheme, durch Englands brutalen Egoismus hervorgerufene Weltkrieg zur Folge gchabt hat — „das größte Verbrechen der ganzen Weltgeschichte!" —, haben vielen laufend schwer leidenden Menschen den Wunsch nahegelegt, ihren Leidm dmch fteiwilligen Tod ein schnelles Ende zu bereiten. Dieser natürliche Wunsch erscheint, vom vernünftigen Standpuntte unseres Monismus ge­ würdigt, vollberechtigt und moralisch einwandftei. Man denke nur an die entsetzlichen Qualen der armen, tödlich verwundeten Soldaten, welche hilflos im Getümmel des Völkermordes liegen bleiben, an unsere edlen, feingebildeten, deutschen Freiwilligen, welche von den „Hyänen des Schlachtfeldes", von barbarischen *) Die ganz irrliimlichen und logisch unhaltbaren Vorstellungen, welche der verdienstvolle Zoologe August WeiSmann (1882) in seinen Arbeiten „Über die Dauer de- Leben-", sowie über „Leben und Tod" er­

folgreich in die Biologie eingeführt hat, habe ich bereit-1904 im 5. Kapitel meiner „Leben-wunder" eingehend widerlegt. Dort sind a«ch die VerHLltnisse de- individuellen Tode», die Abnutzung de- Pla-ma und die Rekrobiose, sowie die wichtigen damit zusammenhängenden Tode-fragen ausführlich erörtert; im 2. und 8. Kapitel besonder- die wichtige Vergleichung der Zellen und Kristalle. Die unbefangene Betrachtung dieser Tatsachen, sowie die Vergleichung de- Lode» bei den höheren und niederen Organismen hat unsere moderne Auffassung vom Wesen, den Bedingungen und Folgen deS individuellen Todes wesentlich ge­ läutert. Beim Menschen, wie bei den meisten höheren Wirbeltieren, erlischt daS Leben de» ganzen vielzelligen Organismus augenblicklich, sobald das geordnete Zusammenwirken aller Organe in seiner verwickelten Maschinerie durch Vernichtung der Zentralorgane gestört wird. Bei niederen Tieren und Pflanzen hingegen kann daS ganze Individuum noch fortleben, wenn auch viele einzelne Teile flch ablösen; diese können oft noch selbständig weiterleben und sich durch Regeneration wieder zu einem selbständigen neuen Individuum ergänzen. Man kann dann einen totalen und einen partiellen Tod de» OrganiSmu» unterscheiden (Dergl. Kap. 2 und 7 der LebenSwunder".)

Indern und grausamen Senegalnegern (— den Kampfgenossen der englischen und französischen „Gentlemen"! —) in unmensch­ licher Weise gequält und verstümmelt werden! — Man denke an den namenlosen Jammer der Mütter, die ihren einzigen Sohn, der Frauen, die ihren geliebten Gatten, der Kinder, die ihren treusorgenden Vater verloren haben! — Man denke an die Tau­ sende von mittellosen Armen, denen durch die mitleidlosen Feinde ihre ganze Habe genommen und der Hungertod in sichere Aus­ sicht gestellt ist — oder an die armen Krüppel, die ihre Augen, ihre Arme und Beine verloren haben und deren Lebensrest aus lange Jahre nur Elend und Schmerzen verspricht! — Welcher mitfühlende Mensch kann es diesen bedauernswerten Armen ver­ denken, wenn sie ihren hoffnungslosen Qualm durch einen Pistolenschuß oder durch ein Morphiumpulver ein schnelles und schmerzloses Ende bereiten? Diese „Selbsterlösung" (Autolyse) als „Selbstmor d" zu bezeichnen und moralisch zu verurteilen, ist völlig sinnlos, wie ich schon im 5. Kapitel der „Lebenswunder" gezeigt habe. Die traditionelle Verurteilung dieses „Freiwilligen Todes" ist um so verkehrter, als derselbe Freitod als Heldentat verherrlicht wird, wenn er im Interesie Anderer oder der Gesellschaft geschieht; — Aufopferung für be­ drängte Mittämpfer, Opfertod für dm Staat. Hier wie in vie­ len anderen Fällen gilt dieselbe Handlung für höchst moralisch, wenn sie im Interesie der Gesellschast, sür höchst verwerflich, wenn sie zum Besten der einzelnen Person geschieht. Und doch sind die alttuistischm Werte des Staates mit den egoisttschen Interesien der einzelnen Staatsbürger untrennbar verknüpft! Urzeugung (Archigonie). Durch die erwähnten Fort­ schritte der modemm Physiologie ist nicht nur die früher festge« haltme scharfe Grenze zwischen der anorgischm und organischen Natur aufgehoben, fondem auch die schwierige Frage gelöst, wie der erste Anfang des organischen Lebens auf un­ serem Erdball zu denken ist. Wir bettachten jetzt das Lebm aller Organismen (— also auch des Menschen —) als einen rein physi-

kalisch-chemischen Prozeß, besten wesenüichster Akt die Kata­ lyse einer kolloidalen Substanz, des Plasma, ist. Dieser wahre „Lebensstoff", eine stickstoffhaltige Kohlenst o s s - Verbindung aus der Gruppe der Eiweißkörper (— oder nach anderer Ansicht ein Gemenge verschiedener Albumine —) bildet die materielle Grundlage aller „Lebendigen Substanz" und vermittelt allein die mannigfaltigen Formen der Energie und des Psychoms, die wir als die meist charakteristischen Funktionen des organischen Lebens betrachten; von den einsachsten, noch kern­ losen Moneren hinauf zu den einzelligen kernhalsigen Prosisten, und von den niederen wirbellosen Tieren bis hinauf zu den Wir­ beltieren, an ihrer Spitze den Menschen. Wie die erste Ent­ stehung von P l a s m a aus anorgischen Verbindungen zu denken ist, habe ich in meiner Hypothese der Archigonie, — d. h. der „Urzeugung" in einem ganz bestimmten Sinne! — im 14. Ka­ pitel der „Welträtsel", ausführlicher im 2., 6. und 15. Kapitel der „Lebenswunder" dargelegt. Dort ist auch die alte Irrlehre von einer besonderen, zweckmäßig tätigen „Lebenskraft" widerlegt (Vis vitalis). Zwar war der alte Vitalismus fchon vor 60 Jahren durch die Fortfchritte der physikalifchen und chemische Physiologie im Grunde beseitigt. Allein dieser mystische Palavitalismus ist neuerdings wieder aufgelebt in der neuen Form des Neovitalismus, der einerseits durch Ignorierung aller modernen Ergebniste der Entwicklungslehre, andererseits durch unverständliche Phrasen einer sophistischen Dialektik sich auszeichnet. Die dualistische und teleologische Naturbetrachtung, welche darin zutage tritt, ist durch unsere monistische und mechanische Naturphilosophie längst gründlich widerlegt. Wir finden mallem Geschehen, ebenso in der Bio­ logie wie in der Anorgik (— oder Abiotik —) ausschließlich die Herrschaft ewiger und unverbrüchlicher Naturgesetze. Das ist deshalb ganz besonders zu betonen, weil durch die irreführenden Lehren des Vitalismus die natürliche Einheit der Weltentwicklung aufgchoben wird.

Todesfurcht. Ein Gedanke, der in dem Massenmorde des jetzigen Weltkrieges täglich an Millionen von Kämpfern heran­ tritt, ist die Frage nach den Umständen und Folgen des drohenden Todes; sie wird, je nach der persönlichen Schätzung des Lebens­ wertes und den festgewurzelten Vorstellungen der Überlieferung, sehr verschieden beantwortet. Der hochgebildete Kulturmensch der Gegenwart, der biologische Kenntniste besitzt und namentlich von der Wahrheit der Entwicklungslehre überzeugt ist, bettachtet feinen persönlichen Tod mit vernünftiger Resignatton als eine Naturnotwendigkeit, die auf alle Fälle früher oder später einttitt. Wenn er sich die Grundsätze der monisttschen Philosophie sowohl in bezug auf theorettsche Weltanschauung als auf prakttsche Lebensführung angeeignet hat, ist er von der beschränkten Zeit­ dauer seiner persönlichen Existenz ebenso fest wie von der 93ergänglichkeit alles Individuellen überzeugt. Er sucht daher sein irdisches Leben in fruchtbarer Tättgkeit und erquickendem Naturgenutz so gut und glücklich als möglich zu gestalten und überlätzt im übrigen die Entscheidung seines Schicksals dem blinden Zufall, der in Ermangelung einer weisen Vorsehung die ganze Welt regiert. Wenn seine ethische Kultur bis zur Erlangung des richtigen Gleichgewichts von Egoismus und Alttuismus sich erhoben hat, wird er auch seiner sozialen Pflicht gegen den Staat eingedenk sein und der Erhaltung des Vaterlandes sein Beben gern zum Opfer bringen. Wir sehen ja jetzt im Völkerkriege alle Tage, wie Tausende von deutschen Kriegern mit Begeisterung in die Schlacht gehen und selbst chr Familienglück dem höheren Interefle des Vaterlandes opfern. So hat auch feit Jahrtausenden die Tapferkeit der kämpfenden Helden mit Recht als eine hohe Tu­ gend gegolten, wobei die Todesfurcht ganz zurückgedrängt wurde. Das sollte nun folgerichügerweise auch für die überwiegende Mchrheit der Athanisten gelten, welche an die persönliche Un­ sterblichkeit ihrer Seele glauben und meistens ein besseres „Leben nach dem Tode" im Jenseits erwarten. Indessen ist bas bekannt­ lich nicht der Fall. Vielmehr überwiegt bei den meisten Men-

scheu der natürliche egoistische Trieb der Selbsterhaltung. Auch wird bei sehr vielen die Todesfurcht durch zahlreiche abergläu­ bische Vorstellungen und gcheiligte Traditionen genährt, wie z. B. die Angst vor dem „Fegefeuer" in der katholischen Kirche, oder dem Grauen vor der eingebildeten „Unterwelt" oder Hölle, die in den Dichtungen der meisten Völker eine große Rolle spielt. Das klassische Alter­ tum stellte in der Blütezeit Griechenlands den natürlichen Tod als den Bruder des Schlafes dar, in plastischen Kunstwerken als einen schönen Jüngling. In dieser Auffassung sollte auch der moderne Kulturmensch, nachdem er sein Leben in befriedigender Tätigkeit und Pflichttreue verbracht, den sanften Tod als einen naturgemäßen glücklichen Abschluß ansehen und jede törichte Todesfurcht verscheuchen. Wie wir am Abende eines schönen Wandertages, nach erhebendem Genuß der herrlichm Natur und gelungener Überwindung ermüdender Anstren­ gungen, uns auf die erquickende Nachtruhe freuen, so dürfen wir auch nach glücüich vollendeter Lebenswanderung, im Hinblick auf tteu erfüllte Pflicht und in intereflanter Erinnerung an wech­ selnde Schicksale, den unvermeidlichen Tod als „Ewigen Schlaf" mit ruhiger Ergebung begrüßen.

Zweites Kapitel.

Weltkrieg und Religion. A. Werl der Religion. Als eine bedeutungsvolle Erscheinung des Weltkrieges wird feit mehr als einem Jahre fchr häufig die Vertiefung des Men­ schen in religiöse Gedanken und Betrachtungen hervorgchvben. Insbesondere wird betont, baß die schreÄichen Ereignisse des ungeheuren Völkermordens die Menschen zur bewußten Einkehr in sich selbst veranlasien, die Umkehr aus dem gewohnten niede­ ren Alltagsleben zu dem höheren Geistesleben der Religion her­ beiführen. Tatsächlich sehen wir, daß vielfach im bürgerlichen Leben die vernachlässigten äußeren Religionsübungen wieder ausgenommen werdm. Das bedrängte Gemüt des Menschen, der von tausend Gefahren bedroht ist, der täglich die persönlichen und materiellen Verluste des Schlachtengewühls kostet, sucht Schutz und Hilfe bei den „höheren Mächten", gleichviel ob diese als „Persönlicher Gott" oder als „Allgewaltiges Schicksal" aufgefaßt werden. Auch in den kämpfenden Heeren selbst — nicht minder als in den daheimgebliebenen Fa­ milien der Krieger — macht sich dieses starke „Wiedererwachen des religiösen Triebes" geltend. In feierlichen Feldgottesdiensten und Kirchenpredigten, in öffentlichen Gebeten und SakramentsHandlungen wird der „Schutz des Allmächtigen" angerufen. Heerführer und Fürsten, die ihre Armeen zur blutigen Schlacht fiihren, erbeten die Hilfe Gottes und vertrauen darauf, daß der Sieg ihrer „guten Sache" zuteil werden muffe. Dabei kommt es

oft vor, daß in jedem der beiden feindlichen Heere, die sich gegen­ seitig zu vemichten suchen, derselbe „liebe Gott" angebetet und feine unparteiische Gerechtigkeit in Anspruch genommen wird. Wir werden dieses starke Anwachsen der religiösen Triebe und der damit meistens verknüpften Gottesverchrung leicht verstehen, wenn wir auf die verschiedenen Urquellen der Religion zurück­ gehen. Die Furcht vor drohenden Gefahren, die dunkle Angst vor unbekannten Naturgewalten, die Trauer über schmerzliche Verluste, das Bedürfnis des höheren Schutzes bewirken die Zu­ flucht zum „Allmächtigen Gott", in welchem die meisten Reli­ gionen ihr persönliches Oberhaupt suchen. Aber gerade die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, welche sich die verschiedenen Völker und Nattonen, Rasten und Klasten der Menschheit über diese höchsten Objette ihres Denkens, und Empfindens bilden, nötigt uns vor allem, den wahren Inhalt und Wert der Religion näher ins Auge zu fasten. Dabei müssen wir die t h e o r e t i f ch e und die p r a k t i f ch e Bedeutung der Religion wohl unterschei­ den. Wir brauchen jedoch hier nicht das weite und interessante Gebiet der vergleichenden Religionsgefchichte zu betreten, auch nicht im einzelnen die Hauptftagen der Religionsphilvfophie zu erörtern; vielmehr genügt es, wenn wir nur Kar ben Unterschied der beiden Hauptrichtungen der religiösen Gedankenwelt ins Auge fassen, der monistischen und der dualistischen Religion.

B. Theoretische und praktische Religion. Weltanschauung und Lebensführung. — Kosmologie und Ethik. Jede wirkliche Religion, gleichviel, ob sie der monistischen oher der dualistischen Richtung angehört, hat für den denkenden Menschen eine zweifache Bedeutung: erstens dient fie t h e o r e tisch als feste Grundlage für die Bildung einer vernünftigen Weltanschauung, sie bestimmt die Grenzen und den Inhalt einer umfassenden Kosmologie; zweitens wirkt sie praktisch

für die Gestaltung einer befriedigenden Lebensführung, sie liefert als Tthik oder Sittenlchre — oder als „Pragmatismus" — be­ stimmte Normen für das praktische Lebm. Beide Gebiete des religiösen Lebens sollten eigentlich stets in Harmonie und Wech­ selwirkung bleiben, sich gegenseitig bestimmend. Indesten ist das bekanntlich sehr oft nicht ber Fall. Sehrhäufig finden wir eine streng religiöse Weltanschauung gepaart mit einer stark unsitt­ lichen Lebensführung; umgekehrt wird eine freie, von religiösen Dogmen ganz unabhängige Kosmologie verbunden mit einem durchaus moralischen und frommen Lebenswandel. Dieser Zwie­ spalt zwischen theoretischer Gesinnung und praküscher Handlungs­ weise gilt ebenso für die Philosophie wie für die Reli­ gion. Ursprünglich hängen ja diese beiden Gebiete des höheren Geisteslebens eng zusammen. Freilich gestaltete sich später das Verhältnis meistens so, daß man die Hauptaufgabe der Philo­ sophie mehr im Gewinne eines flöten theoretischen Weltbildes suchte, diejenige der Religion dagegen mehr in dem tätigen moralichen Verhalten des praktischen Lebens. In der christlichen Re­ ligion z. B. stehen die Dogmen der Weltschöpfung, wie sie aus der mosaischen Glaubenslehre des alten Testaments herübergenom­ men sind, durchaus in Widerspruch mit den klaren Erkenntnisten der modernen Wistenschast; hingegen sind die sozialen Gebote der christlichen Moral, wie wir sie aus den Sittenlehren des Neuen Testaments schöpfen, großenteils sehr wertvoll für die ge­ läuterte Ethik des modernen Kulturlebens. Wenn man daher die Religionen der verschiedenen Völker und Kulturstufen vergleichend betrachtet, sollte man bei ber Beurteilung immer zunächst unter­ scheiden den theoretischen Wahrheitsgehalt ihrer Weltanschauung und den praktischen Wert ihrer moralischen Lebensgestaltung. Wir beschäftigen uns hier zunächst mit der ersteren und stellen da die beiden Hauptgruppen der monistischen und der dualistischen Weltanschauung klar gegenüber.

C. Monistische Religion. Das wesentliche Grundprinzip des modernen Monismus, wie ich es bereits vor 50 Jahren in der „Generellen Morphologie" aufgestellt und später in verschiedenen Schristm weiter ausgeführt habe, besteht in der Annahme eines einzigen naturgemäßen Grundprinzips für sämtliche uns erkennbare Erscheinungen. Eine einheitliche, gemeinsame Ursache für alle die mannigfaltigen Phä­ nomene des Daseins wurde schon im sechsten Jahrhundert vor Christus von den alten griechischen Naturphilosophen mit aller Be­ stimmtheit behauptet; unter den weitschauenden Ionischen Physio­ logen nahm Thales von Milet als gemeinsamen Urgrund aller Dinge das Wasser an, Anaximander von Milet und sein Schüler Anaximenes des Unbegrenzten Raum (Apeiron) oder die Lust (einem „Weltäther" entsprechend, mit periodischer Weltbildung und Weltzerstörung); Herastit von Ephesus einen „Feueräther", mit ewiger Veränderung aller Dinge. Dieser „h y l o z o l st i s ch e Monismus" wurde verdrängt, als im fünften und vierten Jahrhundert v. Chr. Sokrates und sein Schüler Platon die ent­ gegengesetzte dualistische Idealphilosophie zur Geltung brachten; da deren Lehren von zwei getrennten Welten, der materiellen Körperwelt und der ideellen Geisterwelt, mit den bald sich aus­ breitenden Lchren des Christentums in Einklang standen, blieben dieselben im ganzen Mittelalter herrschend. Erst im 16. Jahr­ hundert n. Chr., im Zeitalter der Reformation und Renaissance, gewann der Monismus wieder einen neuen Auffchwung durch den großen Dominikanermönch Giordano Bruno, und im 17. durch Benediktus Spinoza. Ihre Lehre von der Einheit Gottes und der Natur („Deus sive Natura“) bereitete den Boden für die spätere „Identttätsphilosophie", welche mit Bezug auf die Religion zum Pantheismus wurde. „Gottes Geist lebt und wirkt in allen Dingen." In neuerer Zeit Haden sich verschiedene Arten von Monismus entwickelt, von denen die einen mehr materialistisch gefärbt finb, bie anderen mehr

spiritualistisch, energetisch oder psychomatisch. Gemeinsam bleibt allen Formen der monistischen Religion, die sich daraus entwickel­ ten, der Grundgedanke, daß Natur und Gott zusammen ein einziges, einheitlichesWeltprinzip bilden. Die­ sen pantheistischen Vorstellungen hat namentlich Goeche in seinen unvergleichlichen Dichtungen (Faust, Pwmecheus, Gott und Welt usw.) den schönsten Ausdruck gegeben. Insosern dabei ein persönlicher Gott — unabhängig von der Well — ausgeschlossen wird, ist dieser monistische Pantheismus zugleich Atheismus. Eine solche „Religion ohne Gott" ist aber selbständig schon ftüher in verschiedenen Ländem ausgetteten, so namentlich im indischen Buddhismus und in der chinesischen Religion von Konfutse, in den weitest verbreiteten Religionen von Asien (500 Jahre vor Christus).

D. Dualistische Religion. Während unsere monisttsche Religion die Einheit der Sub­ stanz in allen Dingen behauptet, nchmen dagegen alle dualisti­ schen Religionen zwei verschiedene Grundprin­ zipien des Weltgeschehens und Daseins an. Gott als immaterieller, unsichtbarer „Geist" lebt ausierhalb der sinnlich erkennbaren Welt und steht dieser als „Schöpfer und Erhalter" gegenüber. Die höheren und jetzt noch herrschenden Formen die­ ses Theismus, insbesondere die drei großen Mediterran-Religionen: Mosaismus, Christentum und Isiam, schen diesen „per­ sönlichen G o t t" als ein selbständiges Wesen an (O n); sie schreiben ihm die Eigenschaften eines allgewalllgen orientalischen Monarchen zu. Wenn dieser S ch u l g o t t (Ontheos) für sich allein die ganze Welt regiert und erhält, nimmt die Religion die Form des reinen Monotheismus an. Wenn dagegen zwei verschiedene „höchste Wesen" nebeneinander bestchen und sich be­ kämpfen, das „gute und böfe Prinzip" — Gott und Teufel —, tritt an die Stelle jener Eingötterei die Zweigötterei, der

Amphitheismus. Zu diesen beiden persönlichen Gott­ heiten" tritt in der Dreigötterei, dem Triplotheismus, noch eine dritte Person, so in der altindischen, altchaldäischen und altchristlichen „Dreieinigkeitslehre". Ich habe in den beiden ersten „Synoptischen Tabellen" meiner letzten Schrift „Gott-Natur" (S. 64,65) eine kurze Übersicht über diese verschiedenen „Hauptfor­ men des O n t h e i s m u s" gegeben. Gemeinsam ist den meisten dualistischen Religionen der anthropistische Charafter ihrer Gottesvorstellung. Der persönliche Gott dentt und spn'cht, sieht und handelt wie ein Mensch, nur in vollkommenerer Form. Da­ bei wird er meistens als unsichtbarer „G e i st" gedacht. Da die unflarcn Bilder von solchen „Geistern" ursprünglich von dem Vergleiche der menschlichen Seele mit dem Lusthauche oder Winde herrühren, wird diese lustartige oder gasförmige Beschaffenheit auch auf den unsichtbaren „Geist Gottes" überttagen. So ge­ langt man zu der paradoxen Vorstellung eines „gasförmigen Wirbeltieres", über deren vielfach mißverstandene Bedeutung ich in der Schrift über „Gott-Natur" (S. 40) einiges Nähere gesagt habe. Dort sind auch die vielfachen Widersprüche erwähnt, in welche sich die Gottesidee einerseits in der Anorgik (der Wisienschast von der anorganischen Natur), andererseits in der Biologie (der organischen Naturkunde) notwendig verwickeln muß. Daher ist auch neuerdings der „persönliche Gottesglaube" aus der ersteren ganz verschwunden, während er sich in der vitalistischen und teleologischen Richtung der letzteren — aller reinen Vernunft zum Trotze! — noch fortdauernd erhält. Mgott und Schulgott (Pantheos und Ontheos). Bei der Unsicherheit und Unklarheit, welche über diese verschiedenen Re­ ligions-Vorstellungen noch heute in weiten Kreisen herrscht, ist es wichsig, sich die wesentlichen Gegensätze ihrer beiden Hauptrich­ tungen, des Pantheismus und Ontheismus, vollständig klar zu machen. Man kann als gemeinsame Grundlage aller geläuterten Religionsformen die Vorstellung eines letzten und höchsten Ur­ grundes aller Erscheinungen, einer ersten „Welturfache" Haeckel, Owigteit.

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annehmen; diese kann man — hier wie dort — als „G o t t" (Theos) bewundern und anbeten. Dann bleibt zuletzt, trotz aller gleichartigen Richtung des religiösen Bedürfnisses, der wesentliche Unterschied beider Richtungen darin bestchen, daß der Allgott (Pantheos) in der materiellen Welt selbst, als bewußtlose „Urtroft", seinen Sitz hat; der Schulgott hin­ gegen (Ontheos) menschenähnliches Bewußtsein besitzt und als „allmächtiges" Subjekt von außen her die Objekte der realen Welt schafft und regiert. Der Allgott (Deus intramundanus) ist als kosmischer „Urgrund der Welt" der allumfasiende Universalgott und regiert das Universum nach den unveränderlichen Naturgesetzen, bewußtlos, ohne „sittliche Welt­ ordnung". Der Schulgott hingegen (Deus extramundanus) ist als anthropistischer „Urgrund der Welt" ein in­ dividueller Personalgott; er schafft und regiert das Weltall mit Bewußtsein und gibt selbst in voller Freiheit die Gesetze der „sitt­ lichen Weltordnung", nach denen er alles mit „Weisheit und Verstand" zweckmäßig ordnet. Der Allgott des Pantheis­ mus ist das beständige Naturgesetz selbst und kann dasselbe nicht willkürlich ändern, also auch keine Wunder tun. Hingegen besitzt der Schulgott des Ontheismus volle persönliche Freiheit, kann die von ihm gegebenen Naturgesetze stets abändern und alle denkbaren Wunder tun. Je weiter man über diesen Gegensatz des Pantheismus und Ontheismus nachdenkt, desto mehr überzeugt man sich, daß der Schulgvtt des letzteren nur ein idealisierter Mensch ist. Alle seine Eigenschaften sind anthropomorph, nach Menschenart gedacht; daher ist auch die ganze theistische, dar­ auf gegründete Weltordnung anthropozentrisch; der Mensch als „Gottes Ebenbild" ist das höchste Ziel und der Mittel­ punkt der Welt, um den sich alles dreht. Daher stammt auch die idealistische Menschenvergötterung oder „A n t h r o p o l a t r i e", in der sich der eitle Mensch — ein spät entstandenes höheres Säugetier! — ganz besonders gefällt. Wir fasten diese drei Be­ griffe, die anthropomorphe, anthropozenttische und anthropola-

Irische Idee, unter dem Begriffe des Anthropismus zu­ sammen; wir werden sehen, welche folgenschweren Irrtümer aus dieser menschlichen Selbstvergötterung entstchen. Welttrieg und Wissenschaft. Die unvergleichliche Bedeutung, welche die W i s f e n s ch a f t als höchstes Ergebnis aller mensch­ lichen Kulturarbeit besitzt, ist uns noch niemals so zum Bewußtsein gekommen, wie in dem jetzigen ungeheuren Völkerkrieg. In praktischer Beziehung leuchtet ja das sofort jedermann ein, wenn er die Bedingungen und Anforderungen der heutigen Kriegswisienfchaft in Betracht zieht und sie mit denjenigen aller früheren Kriege vergleicht. Die erstaunlichen Fortschritte aller wirklichen, auf Erfahrung gegründeten Wisienschasten im letzten halben Jahrhundert, besonders in Physik und Chemie, weiterhin in Geographie und Ethnographie, haben nicht bloß cheorettsch unsere Kenntnis der Erde und ihrer Bevölkerung außerordentlich er­ weitert, sondern auch in praktischer Beziehung eine solche Vervoll­ kommnung der Technik herbeigeführt, daß tatsächlich eine An­ zahl von ganz neuen Hilfsmitteln der Kriegführung ent­ standen ist. Es genügt, hier kurz an die bewunderungs­ würdige Ausbildung unserer Verkehrsmittel zu erinnern: Eisen­ bahnen und Dampfschiffe, elekttische Bahnen und Luftschiffe, Telegraphen und Telephone, Angriffswaffen und Schutzwaffen der raffiniertesten Art. Alle diese Erfindungen und Produtte der modernen Technik beruhen auf theorefischen Fortschritten der Naturwissenschaft, welche im Laufe der vergangenen 80 Jahre, und besonders der letzten 40 Fahre, eine früher nicht geahnte Höhe der Ausbildung erreicht hat. Wir verdanken die­ selben der fortgesetzten Schärfung unserer Sinnesorgane, als der ersten Erkenntnisquellen, ferner der Vervollkommnung ihrer technischen Hilfsmittel (Mittofkope, Teleskope, Spektroskope usw.) — vor allem aber der höheren Ausbildung des „Phronema", des Denkorgans in unserm Großhirn, Niemals so wie heute ist uns der unvergleichliche Wert der mensch­ lichen Vernunft zum Bewußtsein gekommen, jenes Organs

der Kaulalität oder llrfachenertenntnis, welches den modernen Kulturmenschen so hoch über den rohm Naturmenschen erhebt, und über die Ahnenreihe der Herrentiere, aus denen er hervorgegangen ist. In gleichem Matze aber wie Vernunft und Wissenschaft („des Menschen allerhöchste Kraft"!) sich gehoben und uns zu einer höheren Stufe der Weltanschauung aufwärts geführt haben, in gleichem Matze ist der Werl jener alten „Glaubenssätze" gesun­ ken, welche in ftüheren Perioden der Kulturgeschichte deren Grundlage bildeten. Weltkrieg und Glaubenssätze. Indem ich hier den alten Stteit zwischen „W i s s e n und Glauben", zwischen Vernunft und Einbildungskraft kurz berühre, muh ich zunächst an jene allgemeinen Betrachtungen über „monistische und dua­ listische Erkenntnislehre" erinnern, welche ich in meiner Schrift über „Gott-Natur" (1914) der Klarstellung des Verhältnisies von „Religion und Philosophie" vorausgeschickt habe. Die Erkenntnis der Wahrheit kann nur auf dem Wege der voraus­ setzungslosen und kritischen Wissenschaft gefunden werden, durch natürliche Erfahrung, Beobachtung und Experiment, durch un­ befangene Vergleichung und kausale Analyse der Erscheinungen; und dazu ist nur die reine Vernunft fähig, der Intellekt. Irreführend und wahrheitsfeindlich sind dagegen die Wege soge­ nannter Offenbarung, gleichviel, ob sie im Sinne der kirchlichen Glaubenslehre als göttliche, übernatürliche „Revela­ tion" (— Apvkalypsis) angesehen werden, oder im Sinne der dualistischen Philosophie als „höhere Intuition" oder innere Erkenntnis, frei von aller Erfahrung. Diese „höhere Offen­ barung" oder „Inspiration" ist immer ein Phantasiegebilde der D i ch t u n g; sie stützt sich vielfach auf die Ansprüche des Gemütes; dieses hat aber mit der Erkenntnis und Wahrheit gar nichts zu tun. Vielmehr führt es uns auf den verschlungenen Irrwegen der Mystik und Theosophie zu jenen phantastt'schen Vorstellungen, welche in der bunten Mythologie des Altertums wie in den Wundergeschichten des Christentums und anderer Glaubens-

Dichtungen die mannigfaltigste Ausbildung erfahren haben. Wohl zu unterscheiden find von allen diesen transzendenten und übernatürlichen Glaubenssätzen die H y p o t h e s e n der Wissenschaft, jene vernunstgemätzen Annahmen, welche die Lücken unseres be­ schränkten Wisiens auf natürlichem Wege durch Erkenntnis der wahren Ursachen auszufüllen versuchen. Gegenüber den un­ geheuren Ereignillen, welche der Weltkrieg uns tagtäglich un­ mittelbar vor Augen führt, wird der klar denkende Vernunftmensch überall nach unbefangener Erkenntnis der wahren natür­ lichen Ursachen der Erlebnifte streben. Aber die Macht der Tra­ dition und des gcheiligten Kirchenglaubens ist so groß, daß trotz­ dem viele noch an „Wunder", an übernatürliche Ursachen glauben. Eine große Rolle spielen dabei die Macht der Gewohnheit, die Wünsche des Gemütes und die Autorität der Schule.

E. Religion und Konfession. Seitdem die Türkei im Weltkn'ege eine entscheidende Stellung eingenommen und dem verbündeten Deutschland und Ssterreich ein höchst willkommener Bundesgenoste geworden ist, hat auch die Beziehung der Religion zum Welttriege sich wesent­ lich verändert. Denn in diesem hoffnungsvollen „neuenDreibund" kämpfen nun als tteue Mitkämpfer nebeneinander die vorwiegend evangelischen Deutschen, die überwiegend katholi­ schen Österreicher und die größtenteils mohammedanischen Tür­ ken; dazu treten noch viele tausend israelitische Juden und eine sehr große Zahl von monisttschen Dissidenten. Diese letzteren, die jeden Aberglauben aufgegeben haben und ihre Weltanschau­ ung ausschließlich auf die Vernunftschlüsie der Wisienschast gründen, gehören größtenteils den höheren, feiner gebildeten Kreisen der Gesellschaft an — und zwar in allen drei Ländern des neuen Dreibunds —. Ihre Zahl und ihr Einfluß ist viel größer, als es zunächst scheinen könnte; denn sehr viele fteidenkende Dissidenten fügen sich aus praftischen Rücksichten äußerlich

noch den traditionellen Gebräuchen der herrschenden Kirchen, ob­ wohl sie innerlich den Glauben an ihre Wahrheit längst verloren haben. Es ist aber bemerkenswert und im Sinne des Kulturfortschritts freudig zu begruben, daß die spezielle Bekenntnisform der verschiedenen Gläubigen in den gemischten Lagern des Welt­ krieges sehr zurückttitt, und datz die Konfessionsunterschiede in der treuen Kameradschaft der Kriegsgenosien keine bedeutende Rolle spielen. Das ist ein erfteulicher Fortschritt der geläuterten Re­ ligion, wie sie in Lessings „Nathan der Weise" als Grundlage wahrer Sittlichkeit verherrlicht wird. Immer mehr bricht sich die Überzeugung Bahn, datz der Wert der wahren Religion im praktischen Leben und in der Sittenlehre unabhängig ist von den besonderen theoretischen Glaubenssätzen einer jeden besonderen Konfession. Die vergleichende Religionswisienschast über­ zeugt uns ohnehin davon, daß der größte Teil dieser hochgehalte­ nen „ehrwürdigen" Glaubenssätze nichts weiter sind als Phanta­ siebildungen der Dichtung; bald mehr uralte Traditionen des Aberglaubens, bald mehr vielgestaltige Lehrsätze der dualistischen Spekulation. Der Austausch der verschiedenen Meinungen und Urteile, welche in den ungeheuren Ereignisien des Völkerkrieges alltäglich sich den Mitkämpfern verschiedener Konfession aufdrän­ gen, trägt viel dazu bei, die wünschenswerte Aufklärung über die wichtigsten Lebensfragen zu fördern, und zugleich die Toleranz gegen Andersgläubige. Als gemeinsames Ziel Aller tritt immer mehr die Förderung der H u m a n i t ä t hervor, jener höheren Kultur, deren monistische Religion sich auf Ver­ nunft und Wissenschaft gründet. Weltkrieg und Christenglauben. Die große Mehrzahl der Kulturvölker, welche im jetzigen Weltkriege sich gegenseitig zu ver­ nichten streben, bekennt den Glauben an die christliche Religion. Die hohe praktische Bedeutung des Christentums, sein wirk­ licher Wert für höhere Ethik und veredelte Lebensführung steht historisch außer Zweisel. Anders steht es aber mit seinem theo­ retischen Wert, mit dem philosophischen Inhalt de» christlichen

Glaubens, insofern er Anspruch auf wissenschaftliche Geltung er­ heben kann. Da ich bereits im 17. Kapitel der „Welträtsel" die wichtigen Beziehungen von Wisienschast und Christentum, den un­ versöhnlichen Gegensatz zwischen der monistischen wissenschaftlichen Erfahrung und der dualistifchen christlichen Offenbarung klar her­ vorgehoben habe, genügt es, hier darauf hinzuweisen, datz alle Versuche einer künstlichen Versöhnung zwischen beiden völlig ver­ geblich geblieben sind. Die dogmatischen Sätze des A p o st o l i schenGlaubensbekenntnisses, welches die wichllgsten Grundgedanken der katholischen Weltanschauung in bindender Form zusammenfatzt, widersprechen vollständig den sicheren Er­ fahrungssätzen der modernen Wisienschast. Dasselbe gilt von den drei Glaubensartikeln des evangelischen Katechis­ mus, wie er noch heute in der von Luther gegebenen Fassung und Erklärung an den meisten Schulen als wichtigste religiöse Grundlage der Bildung gelchrt wird. Im ersten Artikel wird der Glaube an die übernatürliche „Schöpfung des Himmels und der Erde" durch den allmächtigen Gott-Vater behauptet; — im zweiten Artikel der Glaube an seinen „eingeborenen Sohn Jesus Christus", an dessen Parthenogenesis aus der Iungstau Maria, seine Höllen- und Himmelfahrt; — im dritten Artikel der Glaube an den rätselhaften „Heiligen Geist", die Auferstehung des Flei­ sches und ein ewiges Leben. Wenn man diese Glaubensartikel in ihrem wahren Wesen als religiöse Dichtungen bettachtet, so können sie denselben poetischen, ästhetischen und ethischen Wert in Anspruch nehmen, wie ähnliche Phantasiegebilde anderer Reli­ gionen. Wenn man ihnen aber die matzgebende Bedeutung un­ umstößlicher Wahrheiten zuschreibt und auf deren Glauben die ganze Bildung unserer Fugend festlegen will, so kann nicht scharf genug betont werden, daß sie von Anfang bis zu Ende falsch sind und den sicheren Erkenntnissen der Vernunft und der durch sie errungenen Wissenschaft widersprechen. Ganz besonders gilt dies von dem Glauben an die unmögliche „Auf­ erstehung des Fleisches und ein ewiges Leben". Diese mystische

Dichtung wird durch die empirische Lösung der anthropologischen ,^ardinalfrage" aus das besümmteste widerlegt. Weltkrieg und Christensitteu. Der wichtigste Grundsatz der christlichen Religion (im besten Sinne!) ist die allgemeine Menschenliebe; — alle Menschen,gleichviel welcher Nation und welchem Stande angehörig, sind Minder Gottes", sind gleich­ berechtigte Ebenbilder des „Allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erde". Das echte Christentum predigt den reinen Altruis­ mus und verwirft den einseitigen Egoismus; „Liebe deinen Nächsten als dich selbst"! Lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun! „Wenn dir jemand den Rock nimmt, gib ihm dazu noch den Man­ tel"! „Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen"! Mit diesen Grundsätzen der Nächstenliebe ist naturgemäß der prinzipielle P az i f i s m u s der christlichen Sittenlehre verknüpft; nicht nur wird der Krieg im allgemeinen verworfen, sondern auch alle die ein­ zelnen rohen Gewalttaten und die wilden Grausamkeiten, die wir in dem jetzigen Weltkriege täglich tausendweis erleben müßen. Wenn nun schon jeder Krieg — auch die Selbstverteidigung als Notwehr gegen unverschuldeten Angriff — im Sinne des reinen Christentums verwerflich ist, so muß das doch ganz besonders jetzt von dem größten aller Kriege gelten, über­ trifft doch der gegenwärtige, alle Kulturkreise des Erdballs be­ rührende Völkerkrieg sowohl in quantitativer als in qualitativer Beziehung bei weitem alles, was die leidende Menschheit bisher erlebt, ja alles, was sie für möglich gehalten hat! Und dabei sollen wir noch an die Güte des „lieben Gottes" glauben, an die weisen Ratschlüße seiner „Vorsehung", an die Gerechtigkeit seiner „sitt­ lichen Weltordnung"! In Wahrheit bedeutet die reale Praxis unseres Völkerkrieges den totalen Zusammenbruch der christlichen Sittenlehre — ebenso wie seit 60 oder 80 Jahren die unge­ ahnten Erkenntniße der Naturwißenschast den totalen Bankerott der theoretischen christlichen Glaubenslehre herbeiführen mußten. Siegreich muß sich auf den Trümmern und Aschen­ haufen dieser christlichen „Weltteliglon" und ihres Aberglaubens

die neue Vernunftreligion unseres Monismus er­ heben, die einzig und allein auf die Erkenntnis der realen Natur­ gesetze sich gründet und die in dem richtigen Gleichgewicht von Egoismus und Altruismus das „goldene Sittengesetz" zur höchsten Norm unseres Lebens erhebt. Deutsches Christentum (Nesormatton). Unter allen Kultur­ ländern steht Deutschland in der vernünftigen Fortbildung der christlichen Religion voran. Erstens hat die deutsche Theo­ logie vor 400 Jahren durch die Reformation einen so be­ deutenden Fortschritt der höheren Geisteskultur herbeigeführt, daß die Kulturgeschichte mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts einen neuen Hauptabschnitt der sogenannten „Weltgeschichte" anfängt. Allerdings hatte schon im 15. Jahrhundert mit der „Renaissance" der Kunst, mit der Entdeckung von Amerika (1492), mit der Ersindung der Buchdruckerkunst (1450) und gleichzeitig mit der Wiedergeburt selbständiger Natursorschung neues Geistesleben der finsteren Nacht des Mittelalters ein Ende bereitet. Aber es war doch eine weltgeschichtliche Tat, als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlotzkirche zu Wittenberg nagelte, den entscheidenden Kampf gegen den Papismus begann und damit die Wiedergeburt der gefestelten Vernunft einleitete. Noch bedeutungsvoller für den Fortschritt der Weltanschauung aber war es, datz 26 Jahre später ein anderer deutscher Theologe, der Domherr von Thorn, Nikolaus Kopernikus, sein neues, helio­ zentrisches Weltsystem an die Stelle des alten ptolemäischen Sternsystems setzte und damit die herrschende geozentrische Welt­ anschauung zerstörte. Die Erde verlor damit ihre beherrschende Stellung im Mittelpunkt der Welt; damit wurde aber auch die zenttale Weltstellung der christlichen Mythologie zerstört, deren ganze Geschichte sich in der kurzm Zeitspanne von 1543 Jahren bis dahin abgespielt hatte. — Zweitens hat 300 Jahre später die deutsche Theologie den bedeutendsten Einfluß auf die Neugestal­ tung der Philosophie dadmch gewonnen, datz ihre angesehensten Vertreter den traditionellen mystischen Onlheismus in einen

rationellen, wissenschaftlich begründeten Pantheismus ver­ wandelten; Schleiermacher in seinen Reden über Religion, Ludwig Feuerbach in seinem „Wesen des Christentums", David Strauß in seinem „Leben Jesu" und der neueren Schrift „Alter und neuer Glaube" bereiteten hier im Verein mit vielen anderen fteidenkenden deutschen Theologen den fruchtbaren Boden vor, auf welchem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unser Monismus, gestützt auf die wunderbaren Fortschritte der modernen Ratmerkenntnis, den festen Grund zu einer neuen naturgemäßen monisttschen Religion legen konnte. Damit wurde das „Schein­ christ e n t u m" des 19. Jahrhunderts reformiert, dessen Bedeu­ tung ich im 17. Kapitel der „Welträtsel" erörtert habe, zugleich mit krittschen Bettachtungen über die historische Entwicklung desChristentums. Englisches Christentum (P a m b r i t i s m u s). Als wichtig­ stes Ziel seiner Weltherrschaft versolgt England angeblich die Aus­ breitung der höheren Kullur durch Erzichung zum christlichen Glauben. Kein anderes Kulturvolk entfaltet in dieser Richtung eine so eifrige und ausgedehnte Tätigkeit wie Großbritannien. Englische Missionare durchziehen alle Länder; englische Bibel­ gesellschaften verbreiten die Heilige Schrift alljährlich in Millionen von Exemplaren; die englische „Heilsarmee" predigt das Evangelium in den niederen und höheren Volksklassen. In vielen Hotels in Indien und Ägypten — aber auch in der Schweiz und in anderen von englischen Touristen bevorzugten Ländern — fin­ det der Reisende in den Lesesalons und in den Schlafzimmern das Reue Testament ausgelegt. In unzähligen Kirchen und Kapellen der Englisch sprechenden Welt werden von glaubenseifrigen Pre­ digern die christlichen Glaubenslehren unermüdlich verbreitet. In vielen englischen Häusern, besonders der höheren Stände, gilt der äußere Kultus der christlichen Zeremonien, das Tischgebet, der fromme Gruß, die kirchliche Unterhaltung als ein wesentlicher Bestandteil der feineren Bildung. Gewiß ist ein großer Teil dieses britannischen Christentums ernst gemeint und dient auch

wirklich zur Verfeinerung der Lebensart und Sitte. Aber der weit­ aus gröbere Teil dieser frommen Religionsübungen wird nur gewohnheitsmätzig mitgemacht, oder er wird äutzerlich vollzogen, ohne warmen, inneren Anteil, oder er dient ganz anderen welt­ lichen Zwecken. Ein sehr großer Teil derselben beruht aber auf bewußter Heuchelei. Der äußere Schein frommer Rede und Handlungsweise steht in schroffem Gegensatz zu der egoistischen Gesinnung, der inneren Fäulnis des Charakters. Und wie ver­ hält sich dieses erhabene und viel gepriesene „englische C h r i st e n t u m" zu den namenlosen Gräueln des Weltkrieges, dessen Schuld allein auf den frommen Inselstaat fällt? Stehen nicht alle die blutigen Ereignifle, deren Augenzeugen wir seit 15 Monaten sind, alle die Menschenverluste und feindseligen Handlungen, unter denen täglich Millionen leiden, in schroffstem Gegensatze zu den Geboten der christlichen Liebe, von denen der Mund Großbritanniens beständig überfließt? Und wie hat die englische Preffe seit Ausbruch des Weltkrieges alle ihre Gegner — das Deutsche Volk voran — in der maßlosesten Weise ver­ leumdet und beschimpft? Niemals, seit es menschliche Kultur gibt, ist ein solches übermaßvonLügeundVerleumdung, von Betrug und Heuchelei entwickelt worden, wie seit fünf Vierteljahren von dem „gottseligen" England im Ramen des dreieinigen Christengottes geschehen ist. Und diese schamlose Heuchelei muß um so widerwärtiger erscheinen, als jeder Sach­ kenner weiß, daß dieser britische Christengott in Wahrheit die B a n k v o n E n g l a n d ist, das heilige „G o l d e n e K a l b", besten abgöttische Kultur das Hauptziel des Pambritismus ist, der Herrschaft Englands über alle anderen Völker. Colombanisches Christentum (D o l l a r i s m u s). Wir können an dem unerfteulichen Hinweis auf die bodenlose englische Heuchelei nicht vorübergchen, ohne zugleich derselben Hypvkrisie in Nordamerika zu gedenken. Die „Vereinigten Staaten von Nordamerika" spielen ja leider in diesem Völkerkriege eine so ver­ hängnisvolle Rolle, daß unser Hauptfeind Großbritannien diesem

angeblich neutralen Lande zum größten Dani verpflichtet ist. Zum Verständnis dieser bedauerlichen Tatsache muß man die Ent­ wicklungsgeschichte der „United States" im Auge befreiten, die ja erst vor 150 Jahren durch bas Verdienst von George Washington von dem Joche des englischen Mutterlandes sich befreit haben. Da seitdem zahllose Einwanderer aus Europa und aus anderen Welt­ teilen sich in den Vereinigten Staaten niedergelasien und in man­ nigfachster Weise vermischt haben, fehlt es diesem großen Lande an jenem einheitlichen Nationalcharakter, der die meisten Staaten­ gebilde der Alten Welt mehr oder minder scharf kennzeichnet. Diese Eigenart spricht sich schon in dem Umstande aus, daß eine allgemein anerkannte Nativnalbezeichnung für die gesamten poli­ tisch vereinigten Bewohner der „United States" nicht in Gebrauch ist; der Name „Dankees" wird meistens nur für die „Neu­ engländer" verwandt; mit Beziehung auf den Entdecker der Neuen Welt, Christoforo Colombo, werden sie bester als Colom­ bo n e r bezeichnet. Wenn wir entsprechend hier die herrschende Religion derselben als colombisches oder colombanisches Christentum bezeichnen, so geschieht dies mit dem ausdrück­ lichen Vorbehalt, daß diese Religionsform sich in mehr als 150 verschiedenen Sekten unabhängig vom Staat entwickelt hat. Es gibt keine „alleinseligmachende colombanische Staats­ kirche". Die wünschenswerte Trennung von Staat und Kirche, eine erste Vorbedingung freier geistiger Entwicklung, ist also in Colombanien, ebenso wie in Holland und neuerdings in Frank­ reich, praktisch durchgeführt, ohne daß die religiösen Bedürfniste des Volkes dadurch Schaden gelitten hätten. Im allgemeinen wird von den Colombanern, trotz ihres starken Geschäftssinns, der Kirchenglaube hoch gehalten — wenigstens in bezug auf die äuße­ ren Formen des „Gottesdienstes" —; das hindert aber nicht, daß die Bankees im praktischen Leben auf die christlichen Sittengesetze sehr wenig Rücksicht nehmen. Der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten, Profestor Wilson, bekennt sich nicht nur im Prinzip zu deren Neuttalität, sondern ordnet als eifriger Frie-

densfreund besondere Bettage und Gottesdienste zur baldigen Be­ endigung des Welttrieges an. Gleichzeittg tut er in Wirklichkeit alles mögliche, um den Weltkrieg zu verlängern; er gestattet, baß die norbamerikanifchen Munitionsfabriken unseren Feinden unbe­ grenzte Mengen von Waffen und Munition liefern, er begünstigt den infamen Plan Englands, durch Abschneiden aller Zufuhr Deutschland auszuhungern, er versteigt sich in seinen „Friedens­ reden" zu einem Grade der polisischen und religiösen Heuche­ lei, der demjenigen des englischen „Millionenmörders" Grey nichts nachgibt. Das sind die schönen Früchte des christlichen Dollarismus, der goldgierigen Gewinnsucht, die leider in Colombanien zum höchsten Prinzip der „chrisllichen Nächstenliebe" geworden ist.

F. Der heilige Krieg. Nachdem der Sultan in Konstantinopel, als geistliches Ober­ haupt des ganzen Isiam, den Eintritt der mohammedanischen Welt in den großen Völkerkn'eg verkündet hatte, wurde vielfach befürchtet, daß der damit prollamierte „Heilige Krieg" aufs neue in einen fanatischen „Religionskrieg" ausarten werde, in eine der schlimmsten und zugleich törichtsten Formen der Krieg­ führung. Manche äußerten schon die Sorge, daß die Türken und die mit ihnen verbündeten Mohammedaner Asiens und Afrikas die ganze christliche Kultur bedrohen und das Kreuz durch den Halbmond vernichten würden. Daß diese Befürchtungen sich nicht erfüllt haben und nicht erfüllen werden, ist verständlich für die­ jenigen, welche die Kulturfortschritte des 19. Jahrhunderts, und besonders in besten letzter Hälfte, in allen Weltteilen vergleichend verfolgt haben. Die weit vorgefchrittene Bildung in allen Kreisen, der Austausch der geistigen und materiellen Güter durch den inter­ nationalen Weltverkehr, sowie die damit zunehmende Toleranz der verschiedenen Konsessivnen, haben die früheren Ansichten über deren Wert gründlich verändert. 8n einer vortrrMchen Schrift

von Dr. Galli (früher deutscher Generalkonsul in Algier und Smyrna, ein gründlicher Kenner des Orients) ist der „Dschihad", der heilige Krieg des Istam und seine Bedeutung im Weltkriege, unter besonderer Berücksichtigung der Interesien Deutschlands einem klaren Verständnis nähergebracht worden. Es handelt sich in dem jetzigen „Heiligen Kriege" nicht wie in den früheren um einen Glaubenskampf zwischen den Konfessionen der drei groben „Mediterran-Religionen": der israelisischen, christlichen und mohammedanischen Glaubensformen. Vielmehr ist unser gemein­ sames Ziel bei diesem heiligen Freiheitskriege vor allem die Freiheit des Ozeans, die Befteiung von der uner­ träglichen Tyrannei Großbritanniens, welches die absolute Herr­ schaft über das ganze Wellmeer, fast zwei Drittel der Erdober­ fläche, für sich allein in Anspruch nimmt. Außerdem haben die mohammedanischen Völker in Asien und Afrika unter dem Joche der englischen Sklaverei den wahren sittlichen Wert des englischen Scheinchristentums gründlich kennen gelernt; man denke nur an die Hungersnöte und die grausam unterdrückten Aufftände in Indien, an den Opiumhandel in China, an den Burenkrieg in Südaftika. Jetzt ist nun auch durch die barbarische, aller „christlichen Liebe" spottende Art der Kriegsührung Englands, durch dieses beispiellose Gewebe von Lüge, Heuchelei und Roheit, auch den anderen Völkern klar geworden, was sie weiterhin von dieser Gewaltherrschaft der englischen „Brüder in Christo" zu erwarten haben. Somit ist wirklich der „Kampf bis aufs Mesier", welchen Großbritannien in feinem Größenwahn uns aufgezwungen hat, auch für den neuen Dreibund ein wahrhaft „H e i l i g e r K r i e g" geworden, ein Kampf für Wahrheit und Recht, für Sitte und Menschlichkeit. Monistische SMenlehre. Die neue geläuterte Religion des 20. Jahrhunderts, welche sich hoffentlich als segenbringender Phönix aus dem riesigen, blutgeträntten Aschenberg des jetzigen Weltkrieges erheben wird, kann nur den modernen Monismus als unerschütterliche Grundlage feschallen. Denn nur dieser

naturalistische oder pantheistische Monismus kann ein befriedi­ gendes und dauerhaftes Band zwischen Religion und Wissenschaft Herstellen, wie ich es 1892 in meinem Alten­ burger VorKage als wünschenswertestes Kulturziel hinge­ stellt habe. Einerseits ist in theoretischer Beziehung fest­ zuhalten, daß unsere monisllsche Weltanschauung sich einzig und allein auf den Boden der vernunstgemätzen Wissen­ schaft stellen darf. Da der gewaltige Fortschritt der Natur­ erkenntnis im letzten halben Jahrhundert durch die Entwicklungs­ lehre auch alle Gebiete der sogenannten „Geisteswissen­ schaft" der Herrschaft der Naturgesetze unterworfen hat, werden von jetzt an überall nur die Gesetze der Naturwissenschaft maßgebend sein, an ihrer Spitze die definitive Losung der großen Kardinalftage. Nur die fichergestellten Erkenntnisse der Er­ fahrung, durch finnliche Beobachtung und vernunftgemäße Verknüpfung im Denkorgan unseres Gehirns, im Phronema, dür­ fen uns als wirlliche Wahrheit gelten. Dagegen bleiben streng ausgefchlosien alle sogenannten „Offenbarungen", alle Phantafiegebilde der „Intuition" ober „Inneren Erleuchtung". — Andererseits wird unsere monisllsche Religion in prak­ tischer Beziehung jene vernunftgemäßen Grundsätze der ge­ reinigten S i t t e n l e h r e festhallen müssen, welche Christus kn dem einfachen Satze ausfprach: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Indessen ist dieses „goldene Sitteng e s e tz", unser höchstes „ethisches Grundgesetz" (oft auch schlecht­ hin als „goldene Regel" bezeichnet), nicht erst durch Christus zur Richtschnur unseres fittlichen Denkens und Handelns erhoben wor­ den, sondern bereits 600 Jahre vor ihm von verschiedenen Weisen und Religionsstistern der alten Welt im gleichen Sinne ausge­ sprochen; so von mehreren griechischen Naturphilosophen, von Thales und Pittakos, von An'stippus und dem großen chinefischen Religionssllster Konsusse. Ein Fchler der meisten christlichen Religionslehren bestand aber darin, daß sie die Nächstenliebe, den Alttuismus zum ausschließlichm Pn'nzip der mensch-

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egoilmui und llttultnut

lichen Lebensführung erhoben und die natürliche Eigenliebe, den Egoismus, gänzlich ausfchalten wollten. Nach unserer natur­ gemäßen Überzeugung sind aber diese beiden konkurrierenden Triebe der menschlichen Natur gleichberechsigt; es besteht eine notwendige Wechselwirkung, eine natürliche Äquivalenz des Egoismus und Altruismus; wir alle haben ebenso berechtigte Pflichten der individuellen Selbsterhaltung, wie soziale Pflichten gegen die Gemeinde und den Staat, dem wir als Glieder angehören. Die wichtigste Aufgabe unserer mo­ nistischen Ethik wird in der praktischen Lebensführung immer sein, das richtige Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus herzustellen. Wie im übrigen die Pflichtgebote oder „Imperative" unserer monistischen Sittenlchre auf Grund der Entwicklungslehre sich gestalten können, habe ich im 19. Kapitel der „Welträtsel" und im 17.—19. Kapitel der „Lebenswunder" weiter ausgeführt. Besonders zu beachten sind die dort ange­ führten Arbeiten von Bartholomäus Carneri, Friedrich Jodl und Ludwig Feuerbach. Zu den wichtigsten Pflichtgeboten gehört der „Energetische Imperativ" von Wilhelm Ostwald: „Vergeude keine Energie, sondern verwerte sie."

Drittes Kapitel.

Weltkrieg und Kardinalfrage. A. Wert des Kardmalproblems. Von allen taufend Fragen, die sich dem denkenden Menschm aufdrängen, ist weitaus die wichllgste diejenige nach seiner eigenen Natur, nach seinem Ursprung und seinen Beziehungen zur übrigen Welt. Daher hat Thomas Huxley, als er 1863 feine berühmten drei Vorlesungen über „Die Stellung des Menschen in der Natur" veröffentlichte, dieses Kardinalproblem mit Recht als „die Frage aller Fragen" bezeichnet. Sie ist feit 40 Jahren definitiv gelöst durch den sicheren Nachweis der PrimatenAbstammung des Menschen. Zwar behaupten auch heute noch viele angesehene Autoren, namentlich Theologen und dualissische Metaphysiker, daß dieser Nachweis nicht gelungen oder nur eine „unsichere Hypothese" sei. Allein jeder unbefangene Denker, der die betreffenden empirischen Urkunden kennt, muß sich überzeugen, daß die Abstammung des Menschen von einer Reihe ausgestorbener Säugetiere eine unzweifelhafte histori­ sche Tatfache ist. In meiner Anthropogenie habe ich 1874 alle betreffenden Dokumente kritisch zusammengestellt, im ersten Bande die Keimesgeschichte, im zweiten die entsprechende Stammesgeschichte des Menschen ausführlich geschildert und durch zahlreiche Abbildungen illustriert. In dem Vortrage über „Das Menschenproblem und die Herrentiere" von Linnä (1907) sind die betreffenden Beweise kurz zusammengefaßt. In der Fesffchrift über „ ll n s e r e A h n e n r e i h e ", die am 30. Juli Haeckel, Ewigkeit.

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1908 bei der Übergabe meines Phyletifchen Museums an die Universität Jena veröffentlicht wurde, sind diese „Kritischen Studien über phyletische Anthropologie" eingehender begründet. Die fundamentale Bedeutung, die ich dieser Progonotaxis des Menschen zuschreibe, beruht darauf, daß die Überzeugung von der Primaten-Abstammung des Menschen wirklich den Schlüssel zur Lösung aller Welträtsel enthält. Denn ebenso wie die gesamte körperliche Organisation des Men­ schen nur aus derjenigen der nächstverwandten Menschenaffen ab­ geleitet werden kann, so gilt ganz dasselbe auch für feine Seelen­ tätigkeit, für den „Menfch eng eist", als die physiologische Funktion seines höchst entwickelten Denkorgans, des Phronema im Großhirn. Wer das ganze weite Gebiet der be­ treffenden biologischen Wiffnschast kennt und ihre empirischen Tat­ sachen unbefangen vergleichend zu beurteilen imstande ist, wird anerkennen, daß die glückliche Lösung des Kardinalproblems wirk­ lich die definitive Beantwortung aller höchsten Fragen des den­ kenden Menschengeistes einschließt.

B. Urkunden der Primaten-Abstammung. Angesichts dieser universalen Bedeutung des Kardinal­ problems, welche von keiner anderen Aufgabe der Wisienfchaft an Wert übertroffen werden kann, ist es geboten, alleempirifchen Urkunden, welche wir darüber besitzen, streng auf ihre Beweiskraft zu prüfen. Dabei müsien wir uns aller jener reichen Hilfsmittel bedienen, welche uns die glänzenden Fortfchritte der Naturerkenntnis während des letzten Jahrhunderts in die Hand gegeben haben. Es werden also die speziellen Ergebnisie der exakten Naturforschung sowohl als der histori­ schen Untersuchungen im einzelnen zusammenzustellen, bann aber vor allem ihre allgemeinen Resultate im Zusammenhang zu über­ blicken sein. Die induktiven Erkenntniffe der ersteren werden uns dann, richtig beurteilt und verwertet, zu den wichtigsten

deduktiven Schlüssen führen. Immer muffen wir jedoch dabei im Auge behalten, daß die gesamte Stammesgefchichte der Organismen nicht zu den exalten, sondern zu den historischen Naturwissenschaften gchört, ebenso wie ihre anorganische Schwester, die Geologie. Es werden also zulünstige Forschungen unsere Phylogenie int einzelnen noch vielfach berichtigen und ergänzen können; aber die grosten allgemeinen Ergebnisse — auf die es in diesen Betrachtungen vor allem ankommt — wer­ den im ganzen für immer dieselben bleiben. Der Prüfung der einzelnen biologischen Urkunden lasten wir dann noch eine besondere Betrachtung des Wirbeltier st ammes folgen, für welche die vergleichende Zoologie einen sicheren Unterbau liefert. Anatomische Urkunden. Als vor beinahe 200 Jahren der große schwedische Naturforscher Carl von LinnS sein grund­ legendes „Systema naturae" schuf, stellte er an die Spihe des Tierreichs die Klaste der Säugetiere und nannte deren erste Ord­ nung „Anthropomorpha, Tiere von Menschengestalt". Als drei Gattungen derselben, die er später „Primates oder Herrentiere" taufte, unterschied er den Menschen (Homo), den Assen (Simia) und den Halbaffen (Lemur). Die verwandt­ schaftlichen anatomischen Beziehungen dieser drei Gattungen, die später zum Range eigener Familien oder Ordnungen erhoben wur­ den, haben zwar im einzelnen verschiedene Deutungen erfahren, sind aber im ganzen anerkannt dieselben geblieben. Als wichtigste Resultate der betreffenden zoologischen Untersuchungen ergaben sich folgende Sätze: I. Die Primaten oder Herrentiere bilden eine selbständige, aus einer gemeinsamen Wurzel ent­ sprungene Legion der Säugetiere, die zwar alle wesentlichen Eigen­ schaften der übrigen Mammalien teilt, aber doch durch besondere anatomische Merkmale sich von ihnen unterscheidet; II. die nie­ derste von den drei Ordnungen, die sich unmittelbar an die älteren Insektenfrester (Igel, Maulwurf usw.) anschlletzt, sind die H a l b affen (Prosimien oder Lemuren); III. diesen am nächsten

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Unsere primattn-ltbftammung.

stehen unter den geschwänzten echten Assen (Simien oder Pitheken) die Westaffen der Neuen Welt (Platyrrhinen); dann folgen die höher stehenden Ostaffen der Alten Welt (Catarrhinen), und zwar zunächst die Hundsaffen (Cynopitheca); IV. den Übergang von diesen letzteren zum Menschen bilden die schwanz­ losen Menschenaffen (Anthropoides), von denen heute noch vier verschiedene Gattungen in den Tropen der Alten Welt leben: Gibbon und Orang im füdlichen Asien, Schimpanse und Gorilla im zentralen Afrika; V. Für die richtige Beurteilung der viel befprochenen nahen Verwandtfchaft diefer Menschenaffen mit dem Menschen gilt vor allem der bedeutungsvolle „Pithekometrasatz" von Huxley (1863): „Alle anatomischen Unter­ schiede (gleichviel welches Organ man vergleicht) sind zwischen dem Menschen und den Menschenaffen geringer, als zwischen diesen letzteren und den niederen Affen"; VI. Die vielumstrittene „Abstammung des Menschen vom Affen" mutz demnach als eine gesicherte phyletische Hypothese gelten, gleichviel von welchem Zweige der Primaten-Legion man die ältesten Ur­ menschen ableiten will; denn die anatomische und embryologische Einheit dieser „Herrenliergruppe" bleibt auf alle Fälle bestehen; VII. Selbst wenn man diese monophyletische Primatendeszendenz bestreiten und den Ursprung des Menschengeschlechts von einer anderen (unbekannten!) Gruppe der Säugetiere ableiten wollte, wurde der einheitliche Ursprung der ganzen Klasie unzweifelhaft bleiben; und immer würde man eine hypothetische Gruppe von ausgestorbenen Menschenaffen zwischen den Menschen und seine alleren (insektensresienden!) Vorfahren einschieben muffen. Die nahe morphologische Verwandtschaft des Menschen mit den An­ thropoiden fällt jedem unbefangenen Beobachter sofort in die Augen, wenn er in dem Phyletischen Museum zu Jena (oder in einer anderen größeren anatomischen Sammlung) die Skelette des Menschen und des Gorilla, des Schimpansen und Drang, nebeneinanderstehend vergleicht, sowohl im ganzen als in den ein­ zelnen Teilen. Die Zusammensetzung des Knochengerüstes aus

200 einzelnen Knochen, deren Anordnung und Verbindung, ist überall dieselbe. Die wirtlich vorhandenen Unterschiede sind nur durch Verschiedenheiten im Wachstum und demzufolge auch der Größe und Form der einzelnen Knochen bedingt. Histologische Urkunden. Ebenso wie die gröbere Zusammen­ setzung und der charakterisllsche Bau der einzelnen Organe im Körper des Menschen und der Menschenaffen im wesentlichen gleich ist, so gilt das auch (und zwar noch in höherem Grade!) von chrem feineren mikrofkopifchen Bau, ihrer Gewebestruktur und deren Zusammenfetzung aus Milliarden von Zellen. Mögen wir bei starker Vergrößerung die einzelnen Fasern der Nerven oder der Muskeln, die skelettbildenden Zellen der Knochen oder der Knorpel, die Drüsengebilde der Leber oder der Nieren unter­ suchen, überall begegnen wir denselben Bildern beim Menschen und bei den höheren Säugetieren. Besonders charakterisüsch ist die Tatsache, daß bei allen Säugetteren die roten Blutzellen ihren Kem verloren haben, während er bei allen übrigen Wirbel­ tieren erhalten bleibt. Auch die Sttuktur und Entwicklung der Haare, der eigenartigen Hautbedeckung der Säugetiere, ist im wesentlichm bei allen Mammalien dieselbe, und verschieden von dm ähnlichen Homgebilden, welche bei den Vögeln als Federn, bei den Reptilien als Schuppen die Haut bedecken. Allerdings haben sich gerade bei diesen oberflächlichen, der Anpassung am meisten ausgesetzten Zellenbildungen des Körpers — ebenso auch bei einigen anderen Zellenformen, z. B. im männlichen Samen — mannigfache Formunterschiede in einzelnen Gruppen der Säuge­ tiere entwickelt. Allein diese sind von untergeordneter Bedeutung gegenüber der Tatsache, baß der gesamte Gewebebau unseres menschlichen Körpers im wesentlichen dem der übrigen Säugetiere, und ganz besonders dem der Herrentiere gleich ist. Diese feinere histologische Übereinstimmung bezeugt, ebenso wie die gröbere vrganologische, die Wstammung aller Mammalien, mit Inbegriff des Menschen, von einer gemeinsamen Stammform, einem Promamuale (oder Architherium) der Triaszeit.

Physiologische Urkunden. Alle Lebenserscheinungen, die wir von unserem menschlichen Organismus kennen, sind ebenso wie bei allen anderen Säugetieren durch die anatomische und histologische Struktur seiner Organe, wie durch die chemische Zusammensetzung seiner Zellen und deren physikalische Beschaffenheit bedingt. Alle Tätigkeiten dieser Milliarden von Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe erfolgen nach den Gesetzen der Physik und Chemie, wie bei allen übrigen Organismen. Die moderne „Zellular-Physiologie" (Max Verworn) bettachtet demnach das Leben des Menschen, gleich dem aller anderen Lebe­ wesen, als ein rein physikalisches Phänomen im weitesten Sinne. Wir dürfen also beim Menschen ebensowenig wie bei den anderen Wirbeltieren als letzte Lebensursache eine besondere „Lebenskraft" annehmen, wie sie der Vitalismus behauptet. Die vergleichende Physiologie lehrt uns ferner, datz die Säugetiere, als die höchst entwickelte Klasie des Wirbeltierstammes, sich von besten übrigen Klasten durch mehrere besondere Eigentümlichkeiten auszeichnen. Dahin gehört namentlich die besondere Form des Blutkreislaufs und der Atmung. Nur bei den Säugetieren tritt das arterielle Blut aus der linken Herzkammer durch den linken Aortenbogen in den Körper, bei den Vögeln hingegen durch den rechten; in den älteren Reptilien (von denen beide Klasten abstammen) haben noch beide Aorten­ bögen (linker und rechter) ihre ursprüngliche Funktion behalten. Nur bei den Mammalien wird die Atembewegung hauptsächlich durch das Zwerchfell vermittelt, weil nur allein in dieser Klaste dasselbe eine vollständige Scheidewand zwischen Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Von ganz besonderer Bedeutung aber ist für alle Säugetiere die Absonderung von M i l ch in der Brustdrüse (Mamma) und die Ernährung der Jungen durch das Säugegeschäft. Diese Form der Brutpflege, der die Klaste ihren Namen verdankt, ist deshalb von hervorragender Wichtigkeit, weil die Ernährung des Kindes durch die Milch der Mutter nicht nur die innigste Wechselbeziehung zwischen beiden bewirkt, sondern auch

andere Lebensfunktionen vielfach beeinflußt. Der Instinkt der Mutterliebe, die mit Recht als eine der werwollsten Familien-Bezichungen gefeiert wird, und deren edelste Form im Bilde der Madonna mit dem Christuskinde Millionen von schönen Kunstwerken hervorgerufen hat, ist bei den Affen bekanntlich nicht weniger entwickelt als beim Menschen. Die besondere Anlage und Entwicklung der milchliefernden Brustdrüsen und ihrer Saug­ warzen ist beim Menschen genau dieselbe wie bei den Affen. Embryologifche Urkunden. Die Tatsachen, welche uns die Keimesgefchichte (Embryologie oder Ontogenie) des Menschen offenbart, die EntwiÄungsgefchichte jedes einzelnen menschlichen Wesens vom Beginne seiner Existenz an, gehören zu den wichtigsten Antworten auf die Kardinalfrage der PrimatenDefzendenz. Wenn diese erstaunlichen, seit 50 Jahren genau er­ forschten Tatfachen allgemein bekannt wären, und wenn sie nament­ lich von feiten der dualisllschen Fachphilosophie die gebührende Beachtung fänden, würde die vielbestrittene „Wstammung des Menschen vom Affen" längst allgemein anerkannt fein. Da ich dieselben im ersten Bande meiner Anthropogenie (1874) aus­ führlich dargestellt und durch zahlreiche Abbildungen illustriert, sie auch in anderen Schnsten vielfach verwertet habe, begnüge ich mich hier damit, die zwölf Gruppen von embryologischen Erschei­ nungen namhaft zu machen, welche von höchster allgemeiner Be­ deutung sind: 1. Jeder Mensch entsteht, wie jedes andere höhere Tier, aus einer einfachen kugeligen Zelle, der Stamm zelle (Cytula), einer kernhaltigen Plasmakugel von ungefähr 0,2 mm Durchmesser, mit bloßem Auge eben als feines Pünktchen sicht­ bar. 2. Diese Stammzelle — die sogenannte „befruchtete Eizelle" oder „erste Furchungskugel" — entsteht in dem Augenblick, in welchem die weibliche Eizelle der Mutter mit der männlichen Spermazelle des Vaters zusammenttifst und völlig verschmilzt. 3. Dieses Moment der „Befruchtung" (ge­ nauer bestimmt die Verschmelzung der Kerne beider kopulieren­ der Geschlechtszellen) bezeichnet haarscharf den Zeitpunkt, in

welchem die Existenz des neu erzeugten Individuums beginnt. 4. Die Vererbung der persönlichen „angeborenen Eigen­ schaften" jedes Menschm beruht darauf, daß durch den Kern der weiblichen Eizelle die individuellen Eharaktere der Mutter und deren beider Eltern, hingegen durch den Kern der männlichen Spermazelle die persönlichen Eharakterzüge des Vaters und dessen beider Eltern, auf die neue Stammzelle übertragen werden. 5. Nach vollzogener Befruchtung (Kopulation der beiden Eltern­ zellen) erfolgt alsbald eine vielfach wiederholte Teilung dersel­ ben; die so entstandenen „Furchungszellen" bleiben zu einem kugeligen Keimkörper (Morula) vereinigt, der sodann dem wich­ tigen Prozeß der Gastrulation unterliegt. 6. Die bedeu­ tungsvolle Keimsorm, die daraus hervorgcht, die Gastrula oder der „Becherkeim", bestcht aus zwei verschiedenen Zellen­ lagen, den beiden „primären Keimblättern", und enthält die An­ lage des ersten „Primitivorgans": Urbarm mit Urmund. 7. Aus dieser Gastrula entwickelt sich weiterhin die charatteristische Keimform der Chordalarve oder Chordula, deren Körper bereits aus vier sekundären Keimblättern und aus sechs „Primitivorganen" besteht; diese Keimform hat beim Menschen im wesentlichen dieselbe Zusammensetzung wie bei allen übrigen Wirbeltieren. 8. Im weiteren Verlaufe der Keimesentwick­ lung entsteht aus der Chordula die charakteristische, einer Sandale oder Schuhsohle ähnliche Keimform des Sand al io n; sie ist allen Amnioten gemeinsam, den drei höheren Wirbeltierklassen. 9. Der menschliche Embryo, welcher sich weiterhin aus dem Sandalion entwickelt, ist auch noch später, nachdem bereits Kopf und Sinnesorgane, fowie die Anlagen beider Eliedmatzenpaare ausgebildet find, dem Embryo anderer höherer Säugetiere (be­ sonders Asten, Halbaffen, Hunden) so ähnlich, daß man sie nicht unterscheiden kann. 10. Die äutzere Ähnlichkeit und die wesentliche Übereinstimmung im inneren Körperbau be­ steht beim Menschen und den Menschenaffen auch später noch auf der Bildungsstufe fort, auf welcher die

Unterschiede von anderen Säugetier-Embryonm längst aus­ geprägt sind. 11. Mehrere auffallende Eigentümlichkeiten, durch welche sich die embryonale Entwicklung des Menschen aus­ zeichnet, besonders in der Bildung der K e i m h ü l l e n und der Keimes-Anhänge (Nabelstrang und Mutterkuchen), teilt der Mensch nur noch mit den Menschenaffen, während dieselben bei den niederen Affen und den übrigen Säugetieren verschieden sind. 12. Der gesamte Verlaus der Keimesgeschichte, sowohl in den feineren wie in den gröberen Verhältnisien der Organbildung und Gewebesonderung, ist beim Menschen im wesentlichen der­ selbe wie bei den Menschenaffen, so daß auch durch die embryologische Vergleichung die nahe VerwaMschast beider Primatengruppen ebenso klar bezeugt wird, wie durch die mor­ phologische, histologische und physiologische Vergleichung *). Paläontologische Urkunden. Die Versteinerungen oder Petrefakten, welche wir in den sedimentären, aus dem Master ab­ gesetzten Schichten unserer Erdrinde mastenweis finden, find die unzerstörbaren Überreste von Tieren und Pflanzen, welche in ftüheren Perioden der Erdgeschichte gelebt haben. Als h a n d greifliche, historische Urkunden geben fie uns allein un­ mittelbar Auskunft über die frühere Existenz und Organi­ sation von längst ausgestorbenen Organismen, die während * Die Embryologie deS Menschen, in weiteren BildungSkreisen noch viel zu wenig bekannt, offenbart unS die bedeutungs­ vollsten Tatsachen, deren hoher Mert für-die Lösung deS „Menschen­ problems" nicht überschätzt werden kann. Ich habe sie in meiner „Keimes­ geschichte des Menschen" (im ersten Bande der Anthropogenie) ausführ­ lich dargestellt und durch zahlreiche Abbildungen illustriert. Vergl. auch die unten angeführten kleineren Schriften, namentlich „Sandalton, eine offene Antwort auf die FälschungSanNagen der Jesuiten" (1910, Frank­ furt a. M). Lier ist auch die jüngste, bisher beobachtete Keimform deS Menschen, 12 Tage alt. einer Schuhsohle oder Sandale ähnlich, abge­ bildet. — Ihre volle Erklärung finden diese «mbryologischen Erscheinungen erst durch da- Biogenetische Grundgesetz (Generelle Morphologie, Bd. H, 1866).

vieler Millionen Jahre die Oberfläche unseres Planeten be­ völkert haben. Ihre hohe Bedeutung für die Schöpfungs­ geschichte wurde aber erst schr spät erkannt. Die Geologen, welche bei der Untersuchung der Sedimentgebirge zuerst mit den darin eingeschlosienen Skelettresten und Abdrücken fossiler Or­ ganismen bekannt wurden, erblickten in diesen „Leitfossilien" wertvolle Anhaltspunkte für die relative Allersbestimmung und historische Ordnung der übereinandergeschichteten Gesteinslager. Die darauf gegründete „Versteinerungskunde" oder „Petref a k t o l o g i e" wurde daher mit der Mineralogie und Geologie verknüpft und zu den „anorganischen Naturwisienschaften" ge­ rechnet. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem Dar­ win durch seine Reform der Deszendenztheorie uns den Schlüsiel zum Verständnis der Stammesgeschichte in die Hand gegeben hatte, erkannten die Biologen den autzerordentlichen Wert, welchen die Überreste der fossilen Tiere und Pflanzen, in ihren unmittelbaren Beziehungen zu der heute noch lebenden Be­ völkerung besitzen. Nun erst entwickelte sich aus der beschreibenden „Pettefaktenkunde" die wirkliche erklärende „Paläonto­ logie", die verständnisvolle Erkenntnis der wirklichen Ver­ wandtschafts-Beziehungen, welche die alten fossilen Organismen teils als direkte Vorfahren der heute noch lebenden modernen Erdbewohner, teils als nahe Verwandte oder als Seitenlinien des Stammbaums besitzen. In kurzer Zeit hat sich diese neue biologische Wisienschaft, bereichert durch eine erstaunliche Fülle überraschender Entdeckungen während des letzten halben Jahr­ hunderts, zu einem selbständigen Zweige der Entwicklungslehre ausgebildet. Allerdings ist leider das empirische Material der­ selben sehr unvollständig. Aus Gründen, welche ich im 16. Vor­ träge meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" ausführlich dargelegt habe, geben uns diese wertvollen Versteinerungen, als wahre „Denkmünzen der Schöpfung", nur eine un­ vollkommene Vorstellung von der ganzen Gestaltung und Or­ ganisation der Lebewesen, als deren Bruchstücke oder teilweise

Abdrücke ihre Reste uns erhalten sind. Aber trotzdem besitzen sie als unmittelbare Zeugen einer großartigen Vergangenheit der Erdbevöllerung die höchstehistorischeBedeutung und gewähren uns besonders für die Stammesgeschichte der Wirbel­ tiere die werwollsten Anhaltspunkte. Anchwpologifche Grundlagen. Alles was wir wisien und glauben, unsere ganze Weltanschauung, Philosophie und Re­ ligion, ist in erster Linie bedingt durch die Natur des Menschen selbst, durch die Beschaffenheit feiner Erkenntnisorgane, der Sinne und des Gehirns. Insofern ist die wahre Anthropologie (im weitesten Sinne!) die Vorbedingung für alle anderen Wissen­ schaften. Schon der alte griechische Sophist Pwtagoras von Adders sprach 440 Jahre vor Christus den berühmten Satz aus: „Der Mensch ist das Matz aller Dinge"; er war gleich seinem Vorgänger Heraklit von der Überzeugung beseelt, datz die Welt in ewigem Flusie begriffen und daher alles Wisien von ihr nur relativ ist; der Grundgedanke der modernen Relativitäts-Theorie ist hier (im weitesten Sinne!) vor­ ausgenommen. Unter den neueren Denkem hat vor allen der große monissische Philosoph Ludwig Feuerbach (1840) diesen pantheistischen Grundgedanken in seinem „Anthropologis­ mus" ausgebildet; er zeigte, daß die drei großen Ideale des Dualismus: „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nur vom Stand­ punkte der Anthropologie aus" richtig beurteilt werden können (1866). Neuerdings wird der Begriff der Anthropologie vielfach in engerem Sinne gebraucht, indem man als ihre eigent­ liche Aufgabe bald die somatische Menschenkunde (Anatomie und Physiologie), bald die menschliche Seelenkunde (Psychologie und Soziologie) einseisig betont. Vielfach wird sogar von einer so­ genannten „exakten Anthropologie" nur die genaueste Beschrei­ bung und Mesiung aller menschlichen Körperteile, ihrer Rassenllnterschiede usw. als die wichtigste Aufgabe angesehen und dabei der Gesichtskreis höchst beschränkt. Man sollte aber vernünftiger­ weise den Begriff der monissischen Anthropologie nur lm w e i -

testen Sinne fasten, als die Gesamtwissenfchaft vom menschlichen Organismus, seinem Leben und seiner Entwicklung. 3n diesem Sinne — mit besonderer Beziehung auf die Primaten-Abstammung des Menschen — habe ich in meiner gene­ rellen Morphologie schon 1866 „DieAnthropologieals Teil der Zoologie" bezeichnet. Wenn wir uns nun er­ innern, welchen hohen Wert die vergleichende und gene­ tische Forschungsmethode für alle Untersuchungen über orga­ nische Wesen besitzt, werden wir uns leicht überzeugen, batz die anthropologische Grundlage unserer ganzen monistischen Philosophie nur auf dem festen Unterbau der vergleichenden Zoologie dauernd ruhen kann.

C. Zoologischer Unterbau. Keine andere Wissenschaft hat im Laufe des letzten halben Jahrhunderts so gewaltige Fortschritte gemacht und ihren ur­ sprünglichen Wirkungskreis so erstaunlich erweitert wie die moderne Tierkunde, die Zoologie im weitesten Sinne. Allerdings hatte schon vor mehr als zweitausend Jahren der große Aristoteles, der „Vater der Naturgeschichte", seine umfastende Aufgabe in dem Sinne erfaßt, daß die „Geschichte der Tiere" auch die anatomische Kenntnis von ihren Körperteilen und deren Entwicklung umfassen müste. Allein diese ftuchtbare Bahn der Forschung wurde von keinem seiner Nachfolger fortgeführt, und als im sechzehnten Jahrhundert die großen geographischen Entdeckungen eine Menge neuer, bis dahin unbekannter Tier- und Pflanzen-Formen nach Europa brachten, waren die Vertreter der Naturgeschichte vor­ wiegend mit der Beschreibung unzähliger einzelner Arten beschäf­ tigt. Unabhängig davon erschienen erst im 18. Jahrhundert eingehende Untersuchungen über den inneren Körperbau und die Entwicklung der Tiere. Aber erst im 19. Jahrhundert drangen wir tiefer in die großen Geheimnisse des organischen Lebens ein. Der Versuch von Jean Lamarck in seiner „Zoologischen

Philosophie" (1809), dieselben einheitlich zusammenzu­ fassen und mittels der Abstammungslehre die natürliche Entstehung der unzähligen Tier- und Pflanzen-Arten zu erNären, fand Beifall und Verständnis weder bei den empirischen Zoologen und Botani­ kern, noch bei den spekulativen Philosophen. Erst nachdem Eharles Darwin 50 Jahre später sein Werk über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859) veröffentlicht und alle Erscheinungen des organischen Lebens unter einem einheitlichen großen Gesichtspunkte vereinigt hatte, gelangte die organische Ent­ wicklungslehre zur Anerkennung. Nun wurde es möglich, eine „Natürliche Schöpfungsgeschichte" an die Stelle der traditionellen „übernatürlichen Schöpfungs ­ dichtungen" zu setzen (1868), und alle verschiedenen Zweige der Zoologie und Botanik, der Morphologie und Physiologie durch den gemeinsamen Entwicklungsgedanken zu einer umfasienden monistischen Biologie zu verbinden *). Einheit des Wirbeltierstammes. Im Beginne des 19. Jahr­ hunderts unterschied zuerst der große Lamarck, der Begründer der Abstammungslehre, unter den sechs Tierklaffen des alten Linnöschen Systems (1735) zwei natürliche Hauptgruppen; seine Wirbeltiere (Vertebrata) umfaßten die vier höheren, seine Wirbellosen (Invertebrata) die zwei niederen Klasien von Linnä. Alle folgenden Zoologen haben diese wichtige Unterschei­ dung anerkannt; insbesondere hat Euvier schon 1802 aus Grund der vergleichenden Anatomie, Baer (1828) in der Bahn seiner •) In der Rede „Über Entwicklungsgang und Aufgabe der Zoologie", welche ich 1869 beim Eintritt in die philosophische Fakultät zu Jena hielt, habe ich versucht, eine umfassende Übersicht über die Lauptgruppen der biologischen Wissenschaften zu geben, welche nunmehr sowohl in der Zoologie wie in der Botanik das Lauptziel einer Gesamterkenntnis deS organischen LebenS - an der Land unserer neuen Entwicklungslehre! — zu erstreben haben. Nur durch vergleichendes Studium dieses großen ganzen „Bios" und durch seine Verknüpfung mit den Prinzipien der monisti­ schen Philosophie ist eS möglich, die Anthropologie fest zu begründen und zur Lösung der Kardinalfrage zu verwenden.

vergleichenden Entwicklungsgeschichte, Iohannes Müller (1833) mit Hilfe der vergleichenden Physiologie die natürliche Einheit der Wirbeltiergruppe nach allen Richtungen hin bestätigt. Als dann 1859 durch Darwin die Deszendenztheorie zur Geltung kam und die Bedeutung des „natürlichen Systems der Tiere und Pflanzen als Ausdruck ihres hypothetischen Stammbaums" er­ kannt wurde, habe ich in meiner „Generellen Morphologie" (1866) den ersten Versuch unternommen, die ganze zoologische und botani­ sche Systematik auf Grund der Stammesgeschichte umzugestalten und den S t a m m b e r W i r b e l t i e r e in diesem phyletischen Sinne als eine geschlossene Einheit dargestellt, deren Ursprung aus einer Gruppe der Wirbellosen damals noch zweifel­ haft erschien. In der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868) habe ich diese monophyletische Auffaflung des Vertebratenstammes und die Stammverwandtschast seiner verschiedenen Klaffen in populären Grundzügen dargestellt, und in dem dritten Bande meiner „Systematischen Phylogenie" (1895) eine eingehende wissenschaftliche Begründung dieses neuen Phyletischen Systems der Vertebraten gegeben. Die Grundzüge desselben sind seitdem von den meisten Zoologen anerkannt und insbesondere die phylogenetische Einheit des ganzen Wirbeltierstammes, von den niedersten Schädellosen und Fischen bis zu den Affen und Menschen hinauf, fast allgemein zugegeben worden. Gerade diese Deduktion ist aber für die monistische Be­ antwortung unserer Kardinalftage von ganz entscheiden­ der Bedeutung. Gleichviel wie man im einzelnen die genealogischen Linien des Vertebraten-Phylema deutet oder die Verwandtschafts-Beziehungen kleinerer Gruppen verschieden aus­ legt, immer bleibt der Mensch — in allen Beziehungen mit den übrigen Gliedern des Stammes verglichen — ein echtes Wirbel­ tier; und immer bleibt er (auf dem Gipfel des Stammes) ein un­ zweifelhaftes Säugetier, welches in den Herrentieren (Primaten), und an deren Spitze den Menschenaffen seine nächsten Verwandten besitzt. Da aber die Grundzüge des Vertebraten-Stammbaums

durch die paläontologische Reihenfolge feiner Hauptgruppen defi­ nitiv festgelegt find, ist dadurch allein schon bas Kardinalproblem für alle Zeit definitiv gelöst. Klassen des Wirbellierstammes. Die vier Hauptgruppen der höheren Tiere, die bereits LinnS (1735) als Klassen unterschied, und die sodann zuerst Lamarck (1801) unter dem Begriffe der Vertebraten zusammengefaßt hatte, waren die Fische, Amphibien, Vögel und Säugetiere. Die Klaffe der Amphibien wurde später in zwei Klaffen geschieden, nachdem Baer gezeigt hatte, baff die echten kiemenatmenden Amphibien (Salamander und Frösche) näher den Fischen, hingegen die kiemenlosen Repttlien (Eidechsen, Krokodile usw.) näher den Vögeln verwandt seien. Die Fünfzahl der Wirbeltierklaffen muffte dann von mir (1866) auf acht erhöht werden, indem ich zeigte, baff die alte Klaffe der Fische in drei verschiedene Gruppen aufzulösen sei; die beiden niedersten Abteilungen derselben, die schon Iohannes Müller in seinem reformierten System der Fische als selbständige Ordnungen abgetrennt hatte, unterscheiden fich von den echten Fischen viel mehr als diese von den übrigen Wirbelfieren; sie gehören als selbständige Klaffen einer viel tieferen und älteren Bildungsstufe an. Die Schädellofen (Acrania), durch die Gruppe der Lanzettiere (Amphioxida) vertreten, haben bis heute das älteste Urbild unseres Stammes in wenig veränderter Form erhalten. Ich habe in meiner Anthropogenie (16. und 17. Vortrag) eingehend gezeigt, wie bedeutungsvoll die genaueste Kenntnis des Amphioxus als des ältesten und niedersten Verte­ braten ist; denn er läßt uns den Ursprung des Stammes aus wirbellosen Chordatieren erraten. Die zweite Klaffe der kiefer­ losen Wirbeltiere, die Rundmäuler (Cyclostoma) — noch heute durch die Pricken oder Lampreten (Petromyzontes) ver­ treten — vermitteln den Übergang von jenen Schädellosen zu den echten Fischen (den Urfischen, Schmelzsischen und Knochen­ fischen). Aber auch die Lungenfische (Dipneusta), welche als Lungenatmer den Übergang zu den Amphibien bilden, können

jenen als selbständige Klasse gegenübergestellt werden. Alle diese nieberen Wirbeltiere entbehren noch der vollkommeneren Aus­ bildung des Gehirns, dmch welche sich die drei höheren Klassen auszeichnen, die Reptilien, Vögel und Säugetiere. Diese haben die ursprüngliche Kiemenatmung der ersteren gänzlich ausgegebm und dafür besondere Schutzhüllen sür ihren Embryo erworben, die Wasserhaut (Amnion) und die Zottenhaut (Chorion). Der einheitliche Stamm dieser Amniontiere (Amniota) beginnt mit niedersten Reptilien und hat einerseits den Vögeln, ander­ seits den Säugetieren den Ursprung gegeben. Das enge Verwandtschastsverhältnis der acht Vertebratenklassen, die wir dem­ gemäß in unserm phyletischen System unterscheiden können, ist heute allgemein anerkannt. Geschichte des Wirbeltierstammes. Die Entwicklungsgeschichte unserer Wirbeltierahnen, soweit sie sich unmittelbar aus Grund der fossilen Vertebratenreste zeitlich rückwärts verfolgen läßt, ergibt eine Anzahl phylogenettscher Tatsachen von höchster Bedeutung. Die geologische Sukzession der VertebratenG r u p p e n, d. h. die empirisch festgestellte Reihenfolge, in welcher die einzelnen Klassen und Ordnungen der Wirbeltiere im langen Laufe der organischen Erdgeschichte nacheinander auftteten, ist nicht allein für die klare Beantwortung unseres Kardinalproblems bedeutungsvoll, sondern auch für die großen allgemeinen Fragen der Naturphilosophie, die sich damit verknüpfen, von größter Wichtigkeit. Da ich dieselben in der Anthrvpogenie (1874) und in der Festschrift über „Unsere Ahnenreihe" (1908) eingehend be­ handelt habe, kann ich mich hier daraus beschränken, folgende Er­ gebnisse besonders hervvrzuheben: I. Die ältesten fossilen Über­ reste von Wirbeltteren, die wir kennen, sind in den obersten und jüngsten Schichten des silurischen Systems gefunden worden; sie gehören echten Fischen an, aus den beiden Unterklassen der Selachier und Ganoiden. II. Auch in der folgenden Devonischen Periode, die sicher mehrere Millionen Jahre gedauert hat, ist unser Stamm ausschließlich durch echte Fische vertreten (llrfische

und Schmelzfische), ihnen schließen sich als erste Lustatmer die Lungenfische an (Dipneusta), übergangsformen zu den Amphibien. III. Die ältesten Amphibien, die Panzermvlche (Stegocephala), treten zuerst in der Steinkohlenperiode auf; kleine, unseren Salamandern ähnliche Lurche, mit Schuppenpanzer und zwei Paar kurzen, fünfzehigen Beinen, die ältesten land­ bewohnenden Vertebraten. IV. Ihnen folgen in der Permischen Periode die ersten Reptilien, ähnlich kleinen Eidechsen, nächswerwandt der Hatteria von Neuseeland. Die Zeitdauer der angeMrten vier geologischen Perioden, welche bas paläo­ zoische Zeitalter zusammensetzen, wird auf mindestens 30 bis 40 Millionen Jahre geschätzt. Während dieses ungeheuren Zeit­ raums exisllerten noch keineSäugetiere. V. Diese höchst­ stehende Klaffe tritt erst in dem folgenden (etwa 10 bis 12 Mil­ lionen Jahre umfaffenden) mesozoischen Zeitalter auf, in welchem die Klaffe der Reptilien ihre mächtige Herrschaft ent­ faltete und die drei Schichtensysteme der Trias, Iura und Kreide abgelagert wurden. VI. Die ältesten fossilen Mammalienreste die sich in diesen Sekundärschichten spärlich vorfinden, gehören alle kleinen, niedrig organisierten Säugetieren an: Gabeltiere (Monotremen), Beuteltiere (Marsupialien) und llrzottentiere (Mallotherien). VII. Die letzteren, am nächsten den heutigen Insekten­ fressern verwandt, enthalten in der Kreidezeit die Stammformm der höheren Säugetiere, der Zottentiere (Placentalien). VIII. Die reiche und mannigfaltige Entwicklung dieser letzten llnterklaffe fand erst in dem nachfolgenden Zaenozoischen oder Tertiären Zeitalter statt, deffen Zeitdauer auf mindestens 3—4 Millionen Jahre geschätzt wird; erst jetzt erschei­ nen (in der Eozänperiode) die ältesten Herrentiere, ver­ treten durch niedere Halbaffen (Lemuren). Stammesgeschichte der Primaten. Die Phylogenie der Herrentiere, die für unser Kardinalproblem naturgemäß bas höchste Intereffe hat, wird durch die Paläontologie nicht in dem Maße durch einen Schatz von handgreiflichen fossilen Urkunden Haeckel, öwlateli.

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unterstützt, wie es bei anderen formenreichen Gruppen der höheren Säugetiere, namentlich bei Raubtieren und Huftieren der Fall ist. Die versteinerten Überreste von Herrentieren sind verhältnismätzig selten und meistens schr unvollständig. Das liegt hauptsächlich an der arboralen Lebensweise derselben; die meisten Affen und Halb­ affen bringen ihr Leben Netternd auf Bäumen zu und geraten beim Tode fetten in eine Lage, welche für die gute Erhaltung ihres zarten Knochengerüstes, oder auch nur einzelner Teile desselben, günstig ist. Trotzdem besitzen die zahlreichen Schädel- und Skelettfragmente, die man besonders in neuerer Zeit versteinert in den Tertiärgesteinen gefunden hat (die ältesten Halbaffen im Eozän), ein hohes Interesie für die hypothetische Konstruktion des Primaten-Stammbaums. Mit ganz besonderem Eifer hat man sich bemüht, unmittelbare fofsile Zwischenformen zwischen Menschen und Menschenaffen zu finden, und die angebliche Lücke zwischen beiden durch Entdeckung eines „fehlenden Gliedes" auszuMen. Insbesondere hat hier die Entdeckung des fossilen Pithecanthropus erectus in Java (1894), der wirklich als ein solches unmittel­ bares Bindeglied in der Kette der Primatenahnen betrachtet wer­ den kann, zu umfangreichen Erörterungen Veranlasiung gegeben; ich habe darüber in den oben angeführten Schriften näheres mit­ geteilt. Rach meiner persönlichen Überzeugung besitzen diese ein­ zelnen, neuerdings zahlreicher gefundenen fossilen Urkunden für die Primaten-Phylogenie nicht die hohe, ihnen gewöhnlich zugefchriebene Bedeutung. Für denjenigen Naturforscher, welcher die vergleichende Anatomie und Physiologie, Ontogenie und Psycho­ logie der Herrentiere gründlich kennt, und der imstande ist, sie vorurteilsfrei phylogenetisch zu beurteilen, ergibt sich die Abstam­ mung des Menschen von einer Reihe ausgestorbener Affen (und ftüher Halbaffen) aus diesen indireften „Schöpfungsurkunben" mit voller Sicherheit, ganz abgesehen davon, ob jene Pettefakten dieselben dirett bestättgen oder nicht. Wirbellose Ahnen des Menschen. Die fossilen Dokumente der Stammesgeschichte, welche uns die Paläontologie für die Er-

kenntnis unserer Ahnenreihe liefert, haben nur Geltung für die zweite Hälfte der Progonotaxis, von der Silurzeit an aufwärts. Denn die filmischen Fische (zuerst haisischähnliche Selachier) sind die ältesten Wirbeltiere, welche harte, der Versteinerung fähige Sleletteile besaßen. Ihre älteren Vorfahren, die beiden niedersten Vertebraten-Klasien (Acranien und Cyclostomen), hatten einen weichen Körper, ohne feste Sleletteile; und dasselbe gilt für die lange Reihe unserer Invertebraten-Ahnen, jener längst ausgestorbenen wirbellosen Tiere, welche die erste und ältere Hälfte der Progonotaxis (vor der Silurzeit) hypothetisch zu­ sammensetzen. Für deren Erkenntnis sind wir ausschließlich auf die Urkunden der Vergleichenden Anatomie und O n t o g e n i e angewiesen; die wertvollsten und sichersten Dienste leistet uns dabei das biogenetische Grundgesetz, über die einzelnen Klasien der Wirbellosen, die für diese hypothetische ältere, präsilurische Ahnenreihe in Betracht kommen können, sind sehr verschiedene Vermutungen aufgestellt worden. Sicher er­ scheint nur, daß die nächsten wirbellosen Verwandten der ältesten Wirbeltiere die Manteltiere (Tunicata) sind; denn nur bei ihnen entwickelt sich aus dem Ei die charakterisüsche Larvenform der C h o r d u l a, mit ihren sechs Primitivorganen. Wir haben daher auch die beiden Stämme der Manteltiere und Wirbeltiere unter dem Begriff der Chordatiere (Chordonia) zusammen­ gefaßt und sie den anderen Wirbellosen gegenübergestellt, die einen ganz andern Weg der Ontogenese einschlagen. Sicher er­ scheint ferner, daß die älteren Vorfahren aller dieser Gewebtiere aus dem Stamme der Wurmtiere (Vermalia) hervor­ gegangen sind, und daß die gemeinsame Ahnenform sämtlicher Metazoen in der hypothetischen Stammform der G a st r a e a zu suchen ist; ihr getreues Abbild hat sich überall bis heute in der gemeinsamen Keimform der zweiblättrigen G a st r u l a erhalten. Wie diese wiederum aus einer Reihe von niedersten einzelligen Lebensformen, von Protisten abgeleitet werden kann, habe ich in meinen „Studien zur Gastraeotheorie" gezeigt (1872 bis

1876). Auf jeden Fall muffen alle vielzelligen Tiere und Pflan­ zen, alle „H i st o n e n" (Metazoen und Metaphyten) ursprünglich aus P r o t i st e n, aus einzelligen Stammformen hervorgegangen fein. Der Beweis für diese phyletifche Hypothese liegt in der fundamentalen Tatsache, baff bei allen bie Ontogenese, bie indivibuelle Entwicklung aus bem Ei, mit ber einfachen Eizelle be­ ginnt. Die ältesten Protisten, also bie tiefsten Wurzeln unseres Stammbaums, waren plasmobome llrpflanzen (Protophyten); aus ihnen finb erst später bie primitivsten Urtiere (Protozoen) hervorgegangen.

D. Naturmensch und Kulturmensch. Die dewunberungswürbigen Fortschritte, welche bie soge­ nannte „Vorgeschichte ober Urgeschichte" bes Menschen in ben letztverflosfenen 80 Jahren gemacht hat, ihre Verknüpfung mit ber Primaten-Abstammung einerseits, mit ber Ethnographie unb Völkergeschichte anderseits, — vor allem bie Erkenntnis, baff die AnthropologieeinTeilberZoologieist, — haben unsere Kenntnis vom Wesen unb ber Entwicklung bes Menschen­ geschlechts in ungeahnter Weise vertieft unb vervollkommnet. Wir wissen jetzt positiv, baff der Mensch durch aufsteigendeEntWicklung und stufenweise Vervollkommnung aus einer langen Reihe von Mammalienahnen im Laufe vieler Iahrmillionen her­ vorgegangen ist; — wir wissen ebenso positiv, baff ber Mensch nicht burch übernatürliche „Schöpfung" aus ber Hand eines gött­ lichen Schöpfers entstanden ist unb durch einen mysteriösen „Sündenfall" aus einem ursprünglich vollkommenen (gottähn­ lichen!) Zustande herabgesunken ist. Der ganze historische Entwicklungsgang der Menschheit folgt somit (wie der der organi­ schen Erdbevölkerung überhaupt!) im großen und ganzen dem Gesetze bes Fortschritts, nicht des Rückschritts; — daran wird nichts geändert burch bie bebauerliche Tatsache, baff bie nützliche und gute progressive Entwicklung ber Kultur immer wieder

zeitweise durch schädliche und schlimme regressive Perioden unterbrochen wird. Nun ist aber gerade die genaue Kenntnis und richtige Beurteilung der älteren und niederen Entwicklungs­ stufen der menschlichen Kultur von höchster Bedeutung für die richtige Wertschätzung des Menschenwesens und für die Aner­ kennung der darauf gegründeten „Monistifchen Anthro­ pologie". Es war und bleibt bis heute einer der grötzten Fehler der herrschenden (von den Dogmen der verbündeten ontheistischen Religion geblendeten!) „D u a l i st i s ch e n Philosophie", datz sie jene Tatsachen ignoriert und bei ihren Reflexionen über die menschliche Psychologie (insbesondere die sogenannte „Erkenntnistheorie" und die „Geisteswisienschaft") von der höchst entwickelten Psyche des modernen „Kultur­ menschen" ausgeht, und daß sie die verwickelten, hier beob­ achteten Erscheinungen ohne weiteres auf den Menschen über­ haupt überträgt. Das wahre Verständnis derselben kann aber nur durch die eingehende und kritische Vergleichung mit dem rohen Naturmenschen gefunden werden. Die besonderen G e i st e s - Vorzüge, durch welche sich der Mensch als solcher vom Tier, speziell vom nächstverwandten Säugetier, unterscheiden soll, sind Produkte tausendjähriger Kultur; sie sind bei den niedersten Naturmenschen überhaupt noch nicht entwickelt.

E. Menschenrassen im Weltkrieg. Zu den vielen neuen und unerhörten Ereignisien, mit denen der gigantische Weltkrieg die Menschheit des 20. Jahrhunderts überrascht hat, gehört auch die folgenschwere Tatsache, daß unser Todfeind England alle verschiedenen Menschenrassen zur Ver­ nichtung des deutschen Brudervolkes mobil gemacht hat. Das stolze Großbritannien dünkt sich in seinem Größenwahn über alle anderen Völker erhaben, sieht auf die nächstverwandten Germanen mit tiefer Verachtung herab, und da es sich selbst zur Ausrottung dieser „Barbaren" zu schwach fühlt, ruft es als Verbündete

die niederen farbigen Menschenrassen aus allen Erdteilen zu­ sammen: vorab die gelben, schlitzäugigen Japaner, die perfiden Seeräuber des Ostens!, dann die Mongolen aus Hinterindien und die braunen Malayen aus dem benachbarten Malakka und Singapore; die schwarzbraunen Australneger und Papuas aus Ozeanien, die Kaffem aus Südafrika und die Senegalneger aus den nordaftikanischen Kolonien — und damit kein Farbenton der tief verachteten „Niederen Menschenrafien" fehlt, und das buntfcheckige Heer des stolzen Albion auch in ethnographischer Zusam­ mensetzung die „ewige Weltherrschaft" des anglosächsischen Inselvolks demonstriert, werden auch noch die Reste der Rothäute aus Amerika auf die blutdampfenden Schlachtfelder von Europa herübergeschleppt! Mit welchem Stolze mästen die briti­ schen Millionenmörder, die Herren Grey und Churchill, ihren ftanzösischen und russischen Alliierten ihr „herrliches Kriegs­ herr" in Parade vorführen, das sich aus den heterogensten Musterstücken aller Völker zusammensetzt! Mit Recht ist dieses schamlose Verhalten der „allerchristlichsten" englischen Nation als ein niederträchtiger Verrat an der weißen Rasse, als ein Meuchelmord der höheren menschlichen Kultur gebrandmarkt worden. Völkerkundige Ethnographen und weiterschauende Welt­ politiker haben sorgenvoll auf die schweren Folgen hingewiesen, welche diese „Verbrüderung aller Menschenrasten" im bunt­ scheckigen Heer Großbritanniens für besten eigenen Bestand, wie für die Autorität der weißen Menschenraste überhaupt in Zukunft haben muß. Denn der kulturelle und psychologische Abstand zwischen den höchstentwickelten europäischen Völkern und den niedrigst stehenden Wilden ist größer, als derjenige zwischen diesen letzteren und den Menschenaffen. Aber was kümmern diese Sorgen das auserwählte Volk Englands, welches alle anderen Nationen als „Menschen zweiter und dritter Klaste" verachtet; wenn sie nur seinem brutalen Nativnal-Egoismus dienen, der geträumten Auftechterhaltung der pambritischen Weltherrschaft („für alle Ewigkelt!").

Viertes Kapitel.

Weltkrieg und Entwicklungslehre. A. Werl der Entwicklungslehre. Unter den gewaltigen Fortschritten der Welterlenntnis, welche dem 19. Jahrhundert den stolzen Namen des „Jahrhunderts der Naturwissenschaften" verliehen haben, stehen obenan die beiden allgemeinen Gesetze der W e l t e w i g k e i t (Substanzgesetz) und der Weltentwicklung (Genetik). Während das Substanzgesetz die Ewigkeit und Konstanz von Materie, Energie und Psychom, die Unzerstörbarleit des Weltganzen bchauptet, zeigt uns die Entwicklungslehre umgekehrt die Vergänglichkeit aller Einzeldinge, ein ewiges „Werden und Vergchen" alles Individuellen, in beständigem Wechsel der Form. Beide große Gesetze sind erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich zur Anerkennung gelangt, nachdem die bewunderungswürdigen Fortschritte der Physik und Ehemie, der Biologie und Geologie, ihnen eine feste empirische Grundlage gegeben hatten. Beide Grundgesetze der modernen Naturphilosophie finden ihre all­ gemeinste Verwertung im Monismus, als derjenigen ein­ heitlichen Weltanschauung, welche sich lediglich auf die logischen Schlüsse der „reinen Vernunft" und der wisienschastlich geprüften Erfahrung gründet, frei von allem Mystizismus und Wunder­ glauben. Es war daher vollkommen berechtigt, daß Wilhelm Ostwald, der Präsident des Monistenbundes, auf besten festlicher Versammlung in Hamburg (1911) unsere Gegenwart als das MonistischeIahrhundert bezeichnete. Wir können sie

aber auch das Genetische Jahrhundert nennen, weil erst jetzt, nach langen und harten Kämpfen, unsere Grundsätze der natürlichen Entwicklung oder Genesis allmählich zu allge­ meiner Anerkennung in den unbefangenen, nicht vom über­ lieferten Glauben geblendeten Bildungskreisen gelangt sind. Der wahre Wert dieser modernen Genetik oder „Evolutions­ doktrin" kann gar nicht überschätzt werden; denn „natürliche Entwicklung" ist in Wirklichkeit das „Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder doch auf den Weg ihrer Lösung gelangen können". Zunächst ist das in den wichtigsten Gebieten der Naturwissenschaften (insbeson­ dere der Biologie und Anthropologie) allgemein anerkannt; es gilt aber ebenso auch für alle sogenannten Geisteswissen­ schaften; diese sind ja nach unserer Überzeugung von den erste­ ren gar nicht zu trennen und durch die Erkenntnisse der Anthro­ ss v g e n i e untrennbar mit ihnen verknüpft. Entwicklungslehre und Schöpfungsglaube (Genetik und K r e a t i s m u s). Die hohe allgemeine Bedeutung unserer monistischen Entwicklungslehre für die gesamte Wistenschast, und namentlich die Philosophie, gipfelt in ihrem Siege über den tra­ ditionellen Schöpfungsglauben. Die meisten älteren Versuche des denkenden Menschen (seit mehr als drei Jahrtausenden!), die Ent­ stehung und Geschichte der Welt zu begreifen, gingen von der irrtümlichen Voraussetzung aus, datz ein vernünftiger Schöpfer (Creator) das Universum, die Erde und ihre lebendigen „Ge­ schöpfe" mit Bewutztsein und Verstand nach einem zielbewußten Plane erschaffen habe. Dabei wurden diesem persönlichen Schöpfer, dem Schulgotte (Ontheos) dieselben technischen Eigenschaften und Fähigkeiten beigelegt, wie dem zweckvoll tätigen Menschen bei der Schaffung eines Kunstwerks. Obgleich der be­ schränkte Anthropismus dieses Schöpsungsmythus mit allen seinen irreführenden Folgerungen auf der Hand lag, fand trotz­ dem der übernatürliche Kreatismus weiteste Verbreitung und Gel­ tung. Er erhielt in der dualistischen Philosophie die stärkste Stütze

durch die Ideenlehre von Platon, in der christlichen Religion durch die fortgesetzte Geltung der Schöpfungsgeschichte von Moses, auf Grund des Alten Testaments. Als solche wird sie noch heute in den meisten Kirchen und Schulen der modernen Kulturwelt gelehrt. Erst im Laufe des letztverflosfenen Jahrhunderts wurden ihre morschen Grundlagen durch die Fortschritte der natürlichen Genetik allmählich gelockert und zuletzt ganz zerstört. Es wurde jetzt endlich sonnenklar, datz der angenommene Personalgott gar nicht existiert, und datz der ganze Kosmos unbewußt ewigen der Substanz innewohnenden Naturgesetzen zusolge, sich s e l b st entwickelt. Der monistische Begrisf der „G o t 1 - N a t u r" (Theophysis), wie ihn zuerst Giordano Bruno und Spinoza, später vor allem Goethe klar und erhebend gefaßt hatten, ersetzte nunmehr die mystische und dualistische Vorstellung des „W eltb a u m e i st e r s" (Demiurgos), wie sie Platon 400 Jahre vor Christus erfolgreich in die Kosmogenie eingeführt hatte. Daß dieser anthropistische Mythus, samt der ganzen damit zusammen­ hängenden Mythologie, in den Kirchenlehren und in der Poesie noch weiter erhalten und als Dichtung fortgeführt wird, ist natürlich und sowohl aus ästhetischen wie kulturhistorischen Grün­ den berechtigt. Wir müssen aber verlangen, daß sie in der Schule der Zukunft nicht ferner als Wahrheit gelehrt und als bin­ dende K o n f e f f i o n der Vernunft der sich entwickelnden Kinder­ seele aufgebürdet wird. Die naturgemäße Genetik muß an die Stelle des transzendenten Kreatismus treten; sie wird als „Natürliche Schöpfungsgeschichte" in weit höherem Grade er­ leuchtend und veredelnd auf die Bildung des Menschen einwirken, als die Mythologie des „übernatürlichen Schöpfungsglaubens". Der erhabene Gegenstand der echten Andacht und Gottesverehrung muß für uns der universale A l l g o t t (Pantheos) bleiben. . Stetige und sprungweise Entwicklung (Evolutio continuata et saltuata). Alle Entwicklung in der Welt ist im Grunde stetig oder kontinuat; denn jede Erscheinung hat ihre natürliche Ursache und ist die Folge von vorhergehenden Erscheinungen. Das ist ein

Grundgesetz der Entwicklung, das schon der alte Satz lchrt: „Natura non facit saltua“ — die Natur macht keine Sprünge! — 3m Grunde erscheint dieser Satz als selbstverständliche Folge des allgemeinen Kausalgesetzes oder — konkret gefaßt — unseres „Substanzgesetzes". Das ganze Wellgeschehen, als „Ewige MetamorphosederSub stanz" aufgesatzt, ist stetig, un­ unterbrochen. Wenn demgegenüber viele einzelne Erscheinungen plötzlich, neu und unvermittelt aufzutreten fcheinen, fo liegt das entweder an einer auffallenden Befchleunigung eines Entwick­ lungsaktes, oder an unferer Unkenntnis der bewirkenden Ursachen. Eine sogenannte „sprungweise E n t w i ck l u n g" ist immer nur scheinbar, niemals eine ursachlose oder übernatürliche Erscheinung, ein „Wunder". Solche unerklärlichen Wunder spielten stüher nicht nur in den Dichtungen der Mythologie eine große Rolle, sondern auch oft in der Wissenschaft. 3n der Geo­ logie herrschten sie noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, nachdem Euvier seine Katastrophentheorie eingeführt hatte, die Lehre vom wiederholten plötzlichen Untergänge der organischen Erdbevölkerung und nachfolgender wunderbarer Neufchöpfung derfelben. Diese wurde erst 1822 durch Karl von Hoff (Gotha) und eingehender 1830 durch Charles Lyell widerlegt; beide Geologen zeigten, daß die angenommenen plötzlichen „Revo­ lutionen des Erdballs" keine Unterbrechung, sondern nur eine zeitweilige Beschleunigung seiner Entwicklung bedeuteten. Nach­ dem dann Charles Darwin (1859) mit Hilfe seiner Selek­ tionstheorie bewiesen hatte, daß auch die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreiche nicht auf eine wunderbare Neufchöpfung, sondern auf eine allmähliche Umbildung, der Spezies zurückzuführen sei, mußte auch hier die Kontinuität der Entwicklung als erwiesen gelten. Allerdings wurden auch wieder verschiedene Versuche gemacht, die stetige Entwicklung hurch eine sprungweise zu ersetzen; plötzlich auftretende Umbildun­ gen sollten als „Mutationen" gegen die kontinuierliche Formentwicklung der Spezies sprechen. 3ndessen beruhen auch

hier, wie bei plötzlichen Katastrophen im kosmischen Gebiet (z. B. beim Aufketen neuer Sterne), die Veränderungen auf mechani­ schen Ursachen, die uns nur teilweise oder ganz unbekannt sind. Immer bewährt sich das Wort von Goethe: „Die Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge ge­ langen; sie macht keine Sprünge." Mit andern Worten: „Die Genesis der Substanz ist immer und überall eine k o n t i n u a t e Metamorphose, niemals eine unvermittelt saltuate." Fortschritt und Rückschritt (Progressive und RegressiveEntwicklung). Eine unbefangene Übersicht über den Gang der Stammesgeschichte überzeugt uns leicht, daß deren Verlauf im großen und ganzen dem Gesetze des F o r t s ch r i t t s (Progressus) folgt. Die Paläontologie zeigt uns auf Grund der fossilen Dokumente handgreiflich, daß im Laufe der langen orga­ nischen Erdgeschichte eine langsame Vervollkommnung (Teleosis) in der Organisation der Pflanzen und Tiere stattgefttnden hat, deren versteinerte Überreste in den übereinander abgelagerten Schichten der Erdrinde begraben sind. Der Zeit­ raum, der während der Sedimentbildung dieser neptunischen Eebirgsmasien verfloß, beträgt sicher mchr als hundert Iahrmillionen; er gewährte dem bildungsfähigen Plasma Zeit genug, in stetig zunehmender Zahl und Mannigfaltigkeit die Wundergebilde des organischen Lebens hervorzubringen. In jeder kleineren und größeren Gruppe der Tier- und Pflanzenwelt erscheinen zuerst nur wenige, niedere und kleine Formen; ihre Größe und Voll­ kommenheit wächst zugleich mit der Vielgestaltigkeit, bis zuletzt ein Höhepunkt erreicht ist, der nicht überschritten wird; dann stirbt die Formenreihe gewöhnlich aus und eine andere tritt an ihre Stelle. Indesien wird dieser allgemeine Fortschritt in der Entwicklung des organischen Lebens auch vielfach durch einzelne Rückschritte unterbrochen, in Anpasiung an ungünstigere Lebensbedingungen oder an besondere Wechselbeziehungen der Organismen, so z. B. parasitische und sedentäre Lebensweise. Ge­ wöhnlich sind diese progressiven und regressiven Metamorphosen

mit den bedeutungsvollen Erscheinungen der Sonderung oder Differenzierung der Formen verknüpft, welche in der Phylogenie die größte Rolle spielen: als physiologische Ar­ beitsteilung (Ergonomie) und entsprechende morphologische Formspaltung (Polymorphismus). Im 12. Vortrage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" habe ich gezeigt, wie diese Divergenz des Charakters sowohl in der Entstehung neuer Arten, wie in der Disferenzierung der Gewebe und Organe, eine notwendige mechanische Folge des von Darwin entdeckten Selektionsprozesies ist. Cs bedarf zu ihrer Erklärung keiner metaphysischen Entelechie, keines zweckmäßig schaffenden „Schöpfungsplanes", wie ihn die dualistische Teleologie annimmt. Ohnehin wird diese letztere widerlegt durchdiebedeutungsvollen „Rudi­ mentären Organe", jene zwecklosen Körperteile, welche durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung entstanden sind. Die lehrreiche Wisienschaft von diesen unnützen Organen, welche keine Funktionen mehr ausüben, die llnzweckmäßigkeitsle'hre (Dysteleologie) liefert eine starke Stütze für unsere mechanische Biologie und monistische Philosophie. Entwicklung im Völkerleben. Durch die wunderbare Erwei­ terung unseres Gesichtskreises und die damit verknüpfte Vervoll­ kommnung unserer Weltanschauung, welche wir der Entwicklungs­ lehre des 19. Jahrhunderts verdanken, sind wir überzeugt worden, daß dieselben Naturgesetze in der Kulturgeschichte und im Leben der Völker, wie in der Naturgeschichte und im Leben aller Organismen walten. Die Geschichte der menschlichen Kultur und Staatenentwicklung ist eine direkte Fortsetzung der Stammesgeschichte der Wirbeltiere, aus denen wir erst in später Tertiärzeit hervorgegangen sind. Wie nun in der phyletischen Entwicklung der ganzen organischen Welt lange Perioden allmäh­ lichen Fortschritts von plötzlichen Wendepunkten beschleunigter Umwälzung unterbrochen werden, so ist es auch inderVölkerg e s ch i ch t e der Fall, die man seit langer Zeit in anthropistischer Überhebung die „W e l t g e s ch i ch t e" zu nennen pflegt. In der

Phylogenie der Wirbeltiere sind solche bedeutenden Fortschritte zu erkennen in der Steinkohlenzeit, wo aus den wasserbewohnenden, mittels Flossen schwimmenden Fischen sich zuerst vierbeinige, landbewohnende Amphibien entwickelten; in der Triasperiode, wo die ersten warmblütigen Säugetiere aus kaltblütigen Reptilien hervorgingen; in der Tertiärzeit, wo die Mammalienklasse sich rasch zu hoher Blüte entwickelte und als bedeutendsten Zweig chres Stammes die Herrentiere hervorbrachte. In der Völkergeschichte treten solche Wendepunkte hervor im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus, wo die klassische Blüte Griechenlands sich zu entwickeln begann; im Beginn unserer Zeittechnung, wo das Christentum das ganze Kulturleben umgestaltete; im 15. und 16. Jahrhundert, wo die Renaisiance und Reformation die dunkle Periode des Mittelalters abschlotz; endlich im 19. Jahrhundert, wo der Ent­ wicklungsgedanke auf allen Gebieten des Geisteslebens Wurzel fasite und die von der französischen Revolution begonnene Um­ gestaltung aller sozialen und politischen Verhältnisie neue Ziele des gesamten Völkerlebens zur Geltung brachte.

B. Biogenetisches Grundgesetz. Unter allen Erscheinungen der organischen Entwicklung sind die auffälligsten und der Beobachtung unmittelbar zugänglichen diejenigen, welche wir bei der Entstehung des Wirbeltierkörpers aus dem befruchteten Ei wahrnehmen. Insbefondere hat die Ent­ wicklung des Vogelkörpers aus dem Hühnerei (die sich innerhalb drei Wochen vollzieht), ferner diejenige der Fische und Frösche schon seit alter Zeit das Intereffe erregt. Bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden hat Aristoteles, der große „Vater der Natur­ geschichte", viele Beobachtungen darüber mitgeteilt. Seine Schrift „Von der Zeugung und Entwicklung der Tiere" blieb fast die einzige Quelle über dieses Objett bis zum Anfänge des 17. Jahr­ hunderts. Aber genauere Beobachtungen darüber und theore­ tische Deutungsversuche verdanken wir erst zwei deutschen Embryo-

logen: Caspar Friedrich Wolff (1759) und Karl Ernst von Baer (1828). Eine wirkliche Erklärung dieser wunderbaren Vorgänge wurde erst möglich, nachdem Charles Darwin (1859) die natür­ liche Entstehung der Arten aufgedeckt hatte. Darauf gestützt, zeigte der ausgezeichnete deutsche Naturforscher Fritz Müller (Desterro 1864) an dem klassischen Beispiele der Krustazeen, wie die Über­ einstimmung in der embryonalen Entwicklung aller verschiedenen Formen dieser Krebstiere stch nur durch die Annahme ihrer ge­ meinsamen Abstammung von einer Stammform erklären laste. Ich selbst habe sodann in meiner Generellen Morphologie (1866) diesem bedeutungsvollen Parallelismus der individuellen und der phyletischen Entwicklung allgemeine Geltung zugeschrieben und daraufhin das „B i o g e n e t i s ch e G r u n d g e s e tz" aufgestellt, besten kürzeste Fastung lautet: „Die Ontogenie oder Keimes­ geschichte ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenie oder Stammesgeschichte". In der Anthropogenie (1874) habe ich dieses „Grundgesetz der organischen Entwicklung" an dem Bei­ spiele der menschlichen Organbildung im einzelnen durchgeführt. Endlich habe ich in meinen Studien zur Gasttäatheorie (1872 bis 1876) zu zeigen gesucht, daß die gemeinsame Abstammung aller Metazoen von der hypothetischen Stammform der Gasttäa sich aus der Übereinstimmung ihrer gleichen Keimform, der Gastrula folgern laste. In diesen und anderen Arbeiten, welche dort zitiert sind, teilweise auch in den „Monistischen Bausteinen" (1914) sind die Gründe ausführlich dargelegt, welche uns berechtigen, diese viel diskutierte „Rekapitulations-Theorie" wirk­ lich als allgemeines Grundgesetz aller organischen Entwick­ lungsvorgänge aufzufasten; die Stammesgeschichte'ist die mechanische Ursache der Keimesgeschichte; ohne die erstere würde die letztere gar nicht existieren. Beide Hauptzweige der B i o g e n i e (der organischen Entwicklungs­ geschichte im weitesten Sinne!) stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhang, in direttem Kausalnexus; daher halte ich auch alle Einwände für hinfällig, welche bis heute von verschiede-

nen Gegnern, namentlich Anhängern einer falschen „Entwick­ lungsmechanik", dagegen erhoben worden sind. Wenn einige von ihnen das allgültige „Grundgesetz" blotz als eine „biogene­ tische Regel", als „zufälliges Vorkommen" ohne tiefere Be­ deutung gelten lasten wollen, so erklärt sich das wohl meistens aus ungenügender Berücksichtigung der paläontologischen Dokumente und des wichtigen Unterschiedes zwischen Palingenese und Zaenogenese (vgl. Dr. Heinrich Schmidt: „Haeckels biogene­ tisches Grundgesetz und seine Gegner", Odenkirchen, 1902). Entwicklungsmechanik. In allen Gebieten der A n o r g i k, kn der gesamten anorganischen Physik (die Chemie mit inbegriffen) gilt seit vier Jahrhunderten die mechanische Erklärung der Erscheinungen, d. h. die Zurückführung auf unbewußte WerkUrsachen (Causae efficientes) als allein berechtigt. Anders verhielt sich das bis vor 50 Jahren in der Biologie, da ein Teil der organischen Lebenserscheinungen, besonders die der Seesentätigkeit und der Entwicklung, einer rein mechanischen Erffärung unzugänglich erschienen. Hier glaubte man, im Sinne des Vitalismus, zur Annahme bewußter Zweckursachen (Causae finales), einer bewußt wirkenden, übernatürlichen „Lebenskraft", gezwungen zu sein. Für die Philosophie ergab sich daraus das Dilemma, in der ganzen Anorgik monksttsch, da­ gegen in der Biologie (die zeitlich und räumlich betrachtet nur einen winzigen Bruchteil des Universum behandelt) dualissisch denken zu müsten. Dieser offenkundige Zwiespalt wurde erst be­ seitigt, seitdem wir durch die moderne Entwicklungslehre in den Stand gesetzt wurden, auch die schwierigsten und verwickeltsten Vorgänge in der Biogenie und Psychologie rein physikalisch zu erffären und auf mechanische Ursachen zurückzuMren. Den ersten Versuch dazu habe ich vor 50 Jahren in meiner „Ge­ nerellen Morphologie der Organismen" gemacht, deren Aufgabe auf dem Titelblatt bezeichnet ist als: „Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwistenschaft, mechanisch begründet durch die Deszendenztheorie". Indem bas biogenetische Grundgesetz

den überall gültigen Kausalzusammenhang zwischen individueller und phyletischer Entwicklung nachwies und die erstere als einen gedrängten Auszug aus der letzteren erklärte, löste es das schwie­ rige Problem der „Entwicklungsmechanik" im eigent­ lichsten Sinne. Zehn Jahre später wurde diese Aufgabe in ganz anderer Weise zu lösen versucht, indem man die höchst verwickelten Erscheinungen der Ontogenese aus sich selbst — ohne Beziehung zur Phylogenese — erklären wollte (Wilhelm His u. a.). Ein­ fachste physikalische Vorgänge sollten die kompliziertesten Prozesie der Formbildung in der Keimesgeschichte bewirken, während der Stammesgeschichte alle Geltung abgesprochen wurde. Dabei wurde besonderes Gewicht auf die experimentelle Be­ gründung dieser irreMrenden „T e k t o g e n e t i k" gelegt. Ich habe im 16. Kapitel der „Lebenswunder" die Wertlosigkeit herselben dargetan und in meiner Schrift über „Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte" (1875) ausführlich ihre prinzi­ piellen Irrtümer beleuchtet. Embryologische Experimente können sehr wertvolle Beiträge zur Physiologie und Pathologie des Embryo liefern, aber niemals die historischen Vorgänge der Phylogenesis erklären, welche in der Ontogenesis kurz rekapituliert werden, und welche nur mit Hilfe der Paläontologie und der vergleichenden Anatomie zu verstehen sind. llniverfale Entwicklungslehre. Eine umfasiende und gründ­ liche Darstellung der allgemeinen Entwicklungslehre — eine wirkliche llniverfal-Genetik —, die Anwendung des monistischen Entwicklungsgedankens auf alle Gebiete der menschlichen Wisienschaft, existiert bisher noch nicht. Dieser Übel­ stand erklärt sich einerseits aus dem eigentümlichen Entwicklungs­ gang der Genetik oder des „Evolutismus" selbst, anderseits aus dem ganz verschiedenen Anteil, welchen die verschiedenen daran beteiligten Gebiete der gesamten Wissenschaft bisher daran genommen haben. Hier tritt uns besonders der verhängnisvolle und oft beklagte Zwiespalt zwischen Naturwisienschast und Geisteswisienschaft, zwischen realer Empirie und idealer Philo-

sophie entgegen. Trotzdem wir seit einem halben Jahrhundert eifrig bemüht sind, diese unnatürliche, beiden Teilen gleich schäd­ liche Kluft zu überbrücken und in einer streng monistischen Naturphilosophie das erskebenswerte Bündnis zwischen beiden herzustellen, sind wir noch weit von der wünschenswerten naturgemätzm Harmonie entfernt. Einerseits verliert sich die empirische Natursorschung, als exakte Wisienschast, immer mehr in einseitigem Spezialismus, in genauester Beschreibung der unzähligen einzelnen Tatsachen, welche das unermetzlich erweiterte Gebiet der Beobachtung ihr darbietet; dabei entgcht ihr der Blick aus das Ganze und zugleich die Fähigkeit zur Erkenntnis allge­ meiner Gesetze. Anderseits hat die spekulative Philo­ sophie, als umfassende Weltanschauungslehre, keine Neigung, sich mit den Ergebnissen jener Spezialforschungen bekannt zu machen und verliert mit ihrem luftigen Wolkenfluge den festen Boden unter den Füßen. Ganz besonders gilt das vom Verhältnis der abstrakten Metaphysik (namentlich der deutschen Idealphilosophie), gegenüber den großartigen Erkenntnissen unserer modernen Ent­ wicklungslehre. Indem sie dieselbe ignoriert oder beiseiteschiebt, indem sie ausdrücklich ihren größten Triumph, die gelungene Lö­ sung des Kardinalproblems, nicht anerkennt, beraubt sie sich selbst des wertvollsten Mittels zur Erkenntnis der höchsten Naturgesetze. So kommt es, daß auf unseren Universitäten ost ein und dasselbe Wissensgebiet, vor allem Psychologie und Entwicklungsgeschichte, von den monistischen Natursorfchern und den dualistischen Philo­ sophen in völlig entgegengesetztem Sinne gelehrt wird. Vor 70 Jahren hatte der geniale Alexander von Humboldt den großen Plan, in seinem „Kosmos" einen umfassenden „Entwurf einer phyfifchenWeltbeschreibung"zu geben. Allein es fehlten damals noch alle die kostbaren Schätze der Evolulionslehre, welche größtenteils erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts zutage gefördert wurden. Cs wird eine der lohnendsten — freilich auch schwierigsten — Aufgaben der neuen monistischen Naturphilosophie fein, in gleichem Sinne und in gleich vollendeter Haeckel, Swlgkeit.

Form den Entwurf einer physischen Weltentwicklung herzustellm. In meinem Versuche einer „Generellen Morpholo­ gie" (1866) und in späteren Schriften, besonders den „Welt­ rätseln" (1899), konnte ich nur die allgemeinen Richtlinien an­ deuten, nach welchen eine solche universale „Genes! s" auszu­ führen fein wird. Geschichte der Entwicklungslehre. Das größte Hindernis für die wünschenswerte Absasiung einer „llniversal-Genet i k" lag bisher darin, daß die einzelnen Zweige der Entwick­ lungslehre nach Alter und Art ihrer Entstehung bedeutende Verschiedenheit zeigen. Während die „Naturgeschichte des Himmels" (Kant-Laplace) schon 1755—1796 entworfen wurde und die „Historische Geologie" (Karl von Hoff, Charles Lyell) bereits 1822—1830 an das Licht trat, wurde die Entwicklungs­ geschichte der organischen Welt erst 1859 durch Darwins Reform der Deszendenzlehre von Lamarck (1809) möglich; und deren wich­ tigster Folgefchluß, die „Abstammung des Menschen von Pri­ maten", wurde bestimmt erst 1863 gezogen. Auch find die Fach­ kenntnisse und die Methoden zu deren Gewinnung in diesen vier Hauptgebieten der Genetik so verschieden, die weiten Gebiete der Astronomie und Geologie, der Biologie und Anthropologie sind so ausgedehnt und liegen so weit auseinander, daß die schöne Aufgabe, ihre allgemeinen Grundzüge in einem gemeinsamen Ge­ samtbilde zu vereinigen, nicht allein eine allgemeine Übersicht über das Ganze, sondern auch einen kritischen, philosophischen Scharfblick für ihre Verknüpfung erfordert. Die Aufgaben eines solchen „GenetischenRaturgemäldes" habe ich 1912 in einem Aufsatze „Zur Geschichte der Entwicklungslehre" näher erläutert, welcher km XII. Jahrgang der Frankfurter Halbmonats­ schrift „Das Freie Wort" (Nr. 18) erschien; er ist abgedruckt im ersten Hefte meiner „Monistischen Bausteine" (1914, S. 159). Als vier Hauptteile sind dort angeführt 1. Kosmogenie (- Astronomische Genetik oder Evolutismus des Weltgebäudes); II. G e o g e n i e (- Terrestrische Genetik ober Historische Geo-

logie); III. Biogenie (— Biologische Genetik oder Evolutismus der organischen Welt); I V. A n t h r o p o g e n i e (— Anthro­ pologische Genetik, Stammesgeschichte und Keimesgeschichte des Menschen). Diesen vier Hauptgebieten könnten ferner als beson­ ders wichtig noch angeschlosfen werden: V. Psychogenie (= Psychologische Genetik, Entwicklungslehre der Seelenkunde); VI. Theogenie (= Theologische Genetik, Vergleichende Re­ ligionsgeschichte, Genetische Theologie); VII. Glofsogenie (- Linguistische Genetik, Vergleichende Sprachwiffenschast, Ent­ wicklungsgeschichte der Sprachkunde); VIII. Sophogenie (— Philosophische Genetik, Genetische Philosophie, Geschichte der Weltanschauungen; insbesondere des modernen Kampses um den Entwicklungsgedanken. Die schöne Ausgabe, nach diesem Programm eine umfasiende „Allgemeine Geschichte der Entwick­ lungslehre" zu schreiben, hat ein dazu besonders geeigneter Schüler von mir übernommen, Dr. Heinrich Schmidt, Archivar des „Phylellschen Archivs" in Jena; da dieses Archiv eine sehr reiche, seit fünfzig Jahren von mir fortgeführte Sammlung von bezüglichem literarischen Material enthält, ist zu hoffen, daß diese wichtige Aufgabe beftiedigend gelöst werden wird.

C. Entwicklungslehre und Soziologie. Von hoher Bedeutung ist unsere monistische Genetik für die moderne Gesellschaftslehre oder Soziologie. 3m letzten halben Jahrhundert hat sich diese junge Sozialwistenschast, deren allgemeinste Aufgaben in einer neuen Sozialphilofophie ihre Löfung finden sollen, zu einem wichtigen Zweige der Kultur­ geschichte emporgeschwungen, besonders infolge ihrer vielfachen Beziehungen zu anderen Wistenschasten, zur theoretischen Psycho­ logie und Ethnologie einerseits, zur praktischen Ethik und Politik anderseits. Gewöhnlich wird die Soziologie in dualisüschem Sinne als eine höhere „G e i st e s w i s s e n s ch a f t" angesehen und an die metaphysische Psychologie angeschlosten. Rach unserer Ansicht

muß sie aber — gleich allen anderen sogenannten „Geisteswissen­ schaften", auch der Psychologie — als eine Naturwissens ch a f t, und zwar als ein Zweig der Physiologie behandelt wer­ den. Auch hier wieder müsien die Erscheinungen zunächst durch sorgsältige objektive Feststellung auf Erfahrung begründet, nach vergleichenden und genetischen Methoden untersucht, sodann aber nach monistischen Prinzipien erklärt werden. Da ergibt ftch für den unbefangenen Soziologen bald mit Sicherheit, daß die Gesellschaftsbildung keineswegs ein besonderes Produft der menschlichen Anpaftung (noch weniger eine höhere Einrich­ tung des Personalgottes) ist, auch nicht bloß auf die höheren Tierklasten beschränkt bleibt; sondern daß die niederen Stufen der Gefellung (Assozion oder Astoziation) eine allgemeine Lebensfunktion aller Organismen darstellen. Demnach mästen auch die sozialen Naturgesetze, denen ihre natür­ liche Entwicklung folgt, durch die ganze Stufenleiter der Lebens­ formen bis zu den niedersten Organismen hinab verfolgt werden. Da stellt sich dann heraus, datz die sozialen Triebe oder Instinkte schon bei den einzelligen Protisten vorhanden und auf die Sym­ pathie gleichartiger Zellen, auf gesellige Empfindungen und Bedürfniste von Elementarorganismen einer und derselben Art zu­ rückzuführen sind. Aus diesen haben sich erst allmählich die sozia­ len Neigungen und Verbindungen vollkommenerer Art entwickelt, die wir in den Herden- und Staaten-Bildungen höherer Tiere antteffen, und aus denen zuletzt die sittlichen Gesetze der menschlichen Ethik entsprungen sind. Gesellung und Gesittung (Assozionund Moral). Die wichtigen Vorteile, welche die Gesellschaftsbildung den sozial ver­ bundenen Individuen bietet — gegenseitige Hilfe, Schutz gegen Gefahren, gesicherte Ernährung —, sind auch die Ursachen, datz der egoistische individuelle Trieb der Selbsterhaltung in den altruistischen Trieb der Erhaltung der Gesellschaft übergeht. So­ mit können wir auch in der natürlichen Gesellung oder Astozion die tiefste Grundlage der Gesittung oder Moral

finden. Wenn wir das naturgemäße „Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus" als das wichtigste Prinzip unseres „Goldenen Sittengesetzes" ansehen, so ist damit zugleich die ursprüngliche Gleichberechtigung dieser beiden mächtigsten Statuttriebe erwiesen — im Gegensatze zur christlichen Moral, welche den Egoismus ganz verwirft und allein den Altruismus als Grund­ lage sittlicher Lebenssührung gelten lassen will. Nun zeigt uns aber die Entwicklungslehre — ebenso die ursprüngliche Phylogenie wie die sie rekapitulierende Onwgenie —, daß mit zunehmen­ dem Fortschritt der Organisation der Alttuismus (die Nächsten­ liebe) immer mehr das Übergewicht gewinnt über den Egoismus (die Eigenliebe). Die Aussöhnung dieses Konfliktes zwischen bei­ den konkurrierenden Naturtrieben wird dadurch herbeigeführt, daß der s o z i a l e C g o i s m u s, d. h. der Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft, als höheres ethisches Prinzip sich stärker erweist als der natürliche individuelle Egoismus. Schon im menschlichen Familienleben sehen wir das bei der aufopfernden Elternliebe, im Kulturstaat bei der Vaterlandsliebe. Wenn gegen­ wärtig in dem titanifchen Weltkriege Millionen tapferer Deut­ scher ihr Leben fteiwillig dem teuren Vaterland zum Opfer brin­ gen, so ist dieser rühmliche Patriotismus nicht bloß ein Beweis für die tiefer gewordene Einsicht in den hohen Wert des Nationalstaates, sondern auch für die höher entwickelte moralische Ge­ sinnung. Der Kulturmensch des 20. Jahrhunderts, dessen Gesichts­ kreis nach allen Richtungen erweitert ist, hat sich überzeugt, daß wahres Lebensglück, Wohlstand und Zuftiedenheit nicht in der Pflege des reinen Egoismus zu finden ist (wie ihn in extremer Weife Max Stirner und teilweise Friedrich Nietzsche predigten), sondern in gegenseitiger Hilfe und in friedlichem Zusammenleben mit nächststehenden Mitmenschen, in der Familie, in der Gemeinde, im Staate. Die großen Vorzüge des Altruismus treten um so mehr hervor, je zahlreicher und vielseitiger die Bedürfnisse des fozialen Kulturmenschen werden, und damit erhebt sich zugleich feine Sittlichkeit auf eine höhere Stufe.

Gravttaüon und AffinttA (Massenanziehung und Wahlverwandtschaft). Da nach unserer Überzeugung eine fcharse Grenze zwischen anorgischer und organischer Natur nicht existiert, vielmehr alle vitalen Erscheinungen im Bios ursprünglich auf physikalische Kräfte im Anorgon zurück­ zuführen sind, so werden wir ftagen, ob nicht auch für die SozialBildungen der Organismen analoge Verhältnisse bereits in der anorganischen Natur vorhanden sind. Die Antwort finden wir in unserer P s y ch o m a t i k, in der Überzeugung, dafi primifive Formen der Empfindung oder Fühlung (Ästhesis) allen Natur­ körpern gemeinsam zukommen, und daß dieses P s y ch o m (oder die „Weltseele" in physikalischem Sinne!) ein drittes allgemeines Attribut aller Substanz ist (neben Materie und Energie). Mit Bezug auf die Frage der E w i g k e i t ergibt sich daraus die oben bereits erläuterte Lehre von der Trinität der Substanz. Die Weltseele, die sich in den wechselnden Urzuständen der An­ ziehung (Attraktion) und des W i d e r st a n d e s (Nepulsion) äutzert — in positivem und negafivem Tropismus —, ist ebenso ewig und unzerstörbar wie Stoff und Kraft, die beide mit ihr unzerttennlich verbunden sind. Das große Gesetz der M a s s e nanziehung (Gravitation), das ebensowohl den ewigen Kreis­ lauf der Weltkörper, wie den Fall des Apfels vom Baum be­ stimmt, erklärt sich durch die Annahme, daß die M o l e k ü l e der Masie ihre relative Quantität gegenseitig empfinden und durch ein primitives Lustgefühl zur geselligen Verbindung getrieben werden. Ebenso wird das universale chemische Grundgesetz der Wahlverwandtschaft (Affinität) durch die Annahme verständlich, daß die A t o m e der Masie ihre verschiedene Qualität emp­ finden. Die Neigung zu der besonderen Substanz-Art, mit Lust­ gefühl niederster Art verbunden, treibt sie zur Verbindung mit derselben, während sie gegen andere Arten der Substanz sich gleich­ gültig verhalten. Die alte, bereits vor 2400 Jahren aufgestellte Lehre des Empedokles von „Liebe und Hatz der Ele­ mente" findet dadurch ihre Bestätigung. Anderseits wird

durch diesen „®cfcllungstrieb" der anorgifchen Körper die unmittelbare Brücke zu den niedersten sozialen Trieben der Organismen geschlagen. (Vgl. hierüber Kap. 13 der „Lebens­ wunder", 1904; und S. 36, 67 der „Gott-Natur", 1914.) Zellular-Soziologie. Als eine der wichtigsten und frucht­ barsten biologischen Lehren wird feit 77 Icchren allgemein die Zellentheorie betrachtet, welche 1838 von dem genialen Botaniker Schleiden in Jena begründet wurde. Er wies nach, daß bei der großen Mehrzahl der Pflanzen der vielgestalttge Leib aus mikroskopischen Bausteinen flch zusammensetzt, die ähnlich den „Zellen" einer Bienenwabe die Organe aufbauen. Nur die niedersten Pflanzen (Algen) sind einfach gebaut und haben den Wert einer einzigen Zelle. Bald wurde dieselbe Erkenntnis auch auf den Tierkörper ausgedehnt; durch Brücke wurde namentlich die physiologische Selbständigkeit dieser „Elementarorganismen" betont. Rudolf Virchow erkannte ihre hohe pathologische Bedeu­ tung und führte die Krankheiten auf abnorme Veränderungen der Zellen zurück. Siebold fand zuerst, daß auch die niedersten Tiere (Infusorien) nur den Wert einer einfachen Zelle besitzen, und nannte sie Urtiere (Protozoa). Ich selbst vereinigte darauf (1866) alle einzelligen Organismen, sowohl Urpflanzen (Protophyta) als Urtiere (Protozoa) in dem besonderen Reiche der Protista (— Zellinge) und stellte ihnen als Histones (— Webinge) alle vielzelligen und gewebebildenden Organismen gegenüber (Gewebpflanzen, Metaphyta, und Gewebtiere, Metazoa). Alle Protisten bilden keine Gewebe und bleiben auf der ersten und niedersten Stufe der organischen Individualität stehen, der ein­ fachen Zelle. Hingegen erheben sich alle Histonen auf die zweite und höhere Stufe, indem sie aus vielen sozial verbundenen Zellen Gewebe aufbauen und aus diesen mannigfaltige Organe zufammenfetzen. Aber im Beginne ihrer individuellen Existenz sind auch die Histonen (von den niedersten Metazoen bis zum Menschen hinauf) einzellig, im Zustande der befruchteten Eizelle, btt Cytufa. Erst wenn sich diese einfache Stammzelle wi?°

verholt teilt, entstehen daraus im Laufe der Ontogenese die zahl­ reichen Zellengenerationen, welche die Gewebe bildm — nach unserem biogenetischen Grundgesetze die palingenetische (durch Vererbung bedingte) Wiederholung des gleichen Vorgangs in der ursprünglichen Stammesgeschichte. Das allgemeine biologische Verhältnis der autonomen, aber subordinierten Zellen zu den Geweben und Organen der Hiswnen ist dasselbe, wie in den höheren Tierstaaten (z. B. Ameisen, Bienen, Termiten), in den Herden der Wirbeltiere und den Staaten der Menschen, das untergeordnete Ver­ halten der sozial verbundenen Individuen (Personen) zu der Ge­ meinschaft, der sie als Glieder angehören. Auch unser eigener menschlicher Organismus ist in Wahrheit ein Zellenstaat. Die relative physiologische Selbständigkeit der Zellen gilt auch in psychologischer Beziehung, wie ich in meinem Wiener ConcordiaVortrage (über „Zellseelen und Seelenzellen") bereits 1878 gezeigt habe. Die Erscheinungen der Asiozion und Arbeits­ teilung im Aufbau der Histonen sind nicht zu erklären ohne die Annahme, daß jede einzelne Zelle eine selbständige Z e l l s e e l e besitzt, eine individuelle Energie, die in ihren Bewegungen, und ein Psychom, welches in ihren Empfindungen sich kundgibt. Zellulare und histonale Ethik. Die vergleichende Biologie und die darauf gegründete monistische Entwicklungslehre führt uns zu der Erkenntnis, datz der historische Fort­ schritt der Organisation — ebenso im Tierreich wie im Pflanzenreich — hauptsächlich einerseits auf der Vermehrung, der Asiozion und zunehmenden Arbeitsteilung der konflltuierenden Individuen, anderseits auf der stärkeren Integration oder Zentralisation, auf der zunehmenden Macht einer Zentralgewalt, die das Ganze regiert (Nervensystem der höheren Tiere), beruht. Sehr wichtig ist für diese Auffasiung die Entstehung der Zell­ vereine (Coenobia). Solche „Zellengesellschaften" treten schon in den niederen Gruppen der Protisten auf, sowohl bei den P r o t ophyten (Volvocinen, Diatomeen) als bei den Protozoen

(Magosphaeren, Vorticelien). Ich habe die verschiedenen Hauptformen dieser Zellverbände im 7. Kapitel der „Lebens­ wunder" erwähnt, wo überhaupt die wichtige (von den meisten Biologen sehr vernachlässigte) Frage von der I n d i v i d u a l i tät der Organismen, von den verschiedenm Stufen der „L e b e n s e i n h e i t e n" eingehend behandelt ist. Diese Coenobien der Protisten leiten die Gewebebildung der Histonen ein. Da nun die G e s e l l u n g der Zellen bereits die ersten An­ fänge der Gesittung mit sich bringt, so können wir auch von einer elementaren Zellularethik der einzelligen Organis­ men sprechen, im Gegensatz zu der H i st o n a l e t h i k der viel­ zelligen und gewebebildenden Lebewesen. Es ist das besondere Verdienst von Wilhelm Kleinsorgen, diese wichtigen Fragen ein­ gehend behandelt zu haben, in seiner gedankenreichen Schrift: „Zellularethik als moderne Nachfolge Christi, Grundlinien eines neuen Lebensinhalts" (Leipzig 1912). Insbesondere ist hier die hohe Bedeutung der L i e b e für den Aufbau der Gesellschaft und die weitere Entwicklung ihrer Moral hervorzuheben. Eine be­ sonders interesiante Form der Zellvereine bilden die Sphaeral-Zoenobien, Hohlkugeln, deren dünne Wand aus einer einzigen, epithelartigen Lage von gleichartigen, eng ver­ bundenen Zellen besteht; solche finden sich unter den Protophyten bei Volvox und Halosphaera, unter den Proto­ zoen bei Magosphaera und Synura. Dieselbe Form kehrt aber als vorübergehende Embryonalstufe in der Blastula der Metazoen wieder, jener „Keimblas e", aus der durch Ein­ stülpung (Gastrulation) die bedeutungsvolle Keimform der Gastrula entsteht. Ihre einschichtige Zellwand ist die Keimhaut (Blastoderma); der Mutterboden, aus dem sich die Keimblätter, und aus diesen die Gewebe aller Metazoen entwickeln. Die stufenweise Ausbildung der Histonalethik bei diesen letz­ teren, ihre Entwicklung aus der Zellularethik der Proto­ zoen, wird als mechanischer Prozetz verständlich, sobald wir

das Psychom, die unbewußte Empfindung der Zellen, richtig ver­ standen und gebührend gewürdigt haben. Wirbelliere und Gliedertiere. Neben dem Stamm der Wirbeltiere (Vertebrata), aus dem unser eigenes Geschlecht entsprofien ist, erhebt sich aus der Fülle der niederen wirbellosen Tiere ein zweiter mächtiger Stamm, das Phylum der Gliedertiere (Articulata). Dieser weitaus artenreichste Stamm des ganzen Tierreichs ist für viele allgemeine Fragen, besonders aber für die Cntwicklungslchre, von solchem Interesse, daß wir hier wenigstens aus seine soziologische, und die damit verknüpfte psychologische Be­ deutung einen flüchtigen Seitenblick werfen wollen. Der Stamm der A r 1 i k u l a t e n, wie ihn zuerst Cuvier 1812 mit weitschau­ endem Scharfblick richtig erfaßte, enthält vier große Klafien; von diesen ist die älteste und niederste die der Ringelwürmer (Annelida); aus ihr sind nach zwei divergenten Richtungen die drei höheren Klasten hervorgegangen, die kiemenatmenden Krustentiere (Crustacea), die achtbeinigen lustrohratmen­ den Spinnentiere (Arachnida) und die geflügelten sechs­ beinigen Kerbtiere (Insecta). In jeder dieser drei formen­ reichen Klasten finden wir eine lange Stufenleiter von Familien, die fich von sehr einfachen und niederen Formen durch zahlreiche Zwischenstufen hindurch zu höchst vollkommenen und geistig hoch­ stehenden Verstandstieren erheben. Einerseits unter den Krusten­ tieren oder Krebstieren, anderseits unter den Spinnen und Insek­ ten gibt es eine große Anzahl von höchst intelligenten Glieder­ tieren, deren merkwürdige Sinnes- und Seelentätigkeit derjenigen der höheren Wirbeltiere nichts nachgibt. Dabei ist besonders zu betonen, daß diese beiden Stämme, die äußerlich gegliederten A r t i k u l a t e n und die innerlich gegliederten Vertebraten, in keinem direkten Verwandtschaftsverhältnis stehen, sondern un­ abhängig voneinander aus verschiedenen Stammgruppen der Wurmtiere (Vermalia) hervorgegangen sind. Auch das Gehirn, das Zentralorgan der Seelentätigkeit, ist in beiden Stämmen ganverschieden, bei den Gliedertieren mit einem Bauchmark, bei den

Wirbeltieren mit einem Rückenmark verbunden. Die vergleichende Psychologie ergibt aber in beiden Stämmen so viele Ähnlich­ keiten, und namentlich auf den höchsten Entwicklungsstufen so wunderbare geistige Leistungen, daß man vielfach die Intelligenz einzelner Artikulaten-Gruppen direkt mit der menschlichen Vernunsttätigkeit in Parallele gestellt hat. Ganz besonders gilt dies von denjenigen höheren Insekten, deren soziale Entwicklung zur Bildung wirklicher Tierstaaten geführt hat, dem monarchischen Bienenstaat, den demokratischen Staaten der Ameisen und Termiten. Durch weitgehende Arbeitsteilung einerseits, hohe Or­ ganisation und Integration anderseits haben sich hier soziale Ver­ bände entwickelt, die der Gliederung der menschlichen Gesellschaft nichts nachgeben: Arbeiter bauen kunstreiche Wohnungen und sammeln Nahrungsvorräte ein; Gärtner pflegen Gemüsebeete (Pilze); Viehzüchter halten Blattläuse, deren Honigsast sie als Milch verwerten; andere pflegen die junge Brut und sorgen für deren Erziehung; bevorzugte Weibchen (Königinnen) und Männ­ chen (Drohnen) von verschiedener Form besorgen die Fortpflan­ zung; Soldaten dienen als bewaffnete Krieger zur Verteidigung der Stöcke; verschiedene Ameisenarten bekämpfen sich in blutigem Kriege; einige haben sich sogar die Sklavenhalterei angewöhnt. Die dualistischen Psychologen, welche an die persönliche Unsterb­ lichkeit der menschlichen Seele glauben, müßten diese folgerichtiger­ weise auch bei den hochzivilisierten Ameisen annehmen. Nun pflegt man ja meistens diese merkwürdigen Seelenfunktionen bei den geistig höchst entwickelten Tieren als Instinkte zu be­ zeichnen, welche bei der Erschaffung jeder einzelnen Tierart für ihren besonderen Lebenszweck vom weisen Schöpfer eingepflanzt worden sind. Indeffen sind diese veralteten anthropistischen Vor­ stellungen, nebst dem ganzen Schöpfungsmythus, jetzt aufgegeben. Wir wissen jetzt, datz die sogenannten Instinkte wesentlich als Seelengewohnheiten aufzufassen sind, welche ursprünglich durch Anpassung erworben und bann durch Vererbung auf

viele Generationen übertragm und befestigt worden sind. (Vgl. Kap. 29 der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte".) Organisation und Militarismus. Unter den schweren AnNagen, die England zur Begründung seines Angriffs auf Deutsch­ land in der Welt verbreitet hat, spielt eine grobe Rolle unser „M i l i t a r i s m u s" und die angeblich damit verknüpfte „Sllaverei". Da diese Beschuldigungen nicht nur bei seinen Bundesgenosien, sondern auch bei den neutralen Nationen Glauben gefunden haben und erfolgreich zur Steigerung ihrer Abneigung gegen uns benutzt worden sind, mutz ich einige Worte der Aufilärung hier einfügen, um so mehr, als ich selbst ftüher bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die Auswüchse des Militarismus mich geäutzert habe. Vor allem ist hervorzuheben, daß dieses Schlagwort — gleich vielen anderen — in mehrfach verschiedenem Sinne gebraucht wird. Der berechtigte und gesunde Grundzug des Militarismus, dem wir im jetzigen Weltkilege,

gegenüber der kolosialen Übermacht unserer Feinde, die Rettung unseres Vaterlands verdanken, ist nichts anderes als die gut organisierte Wehrkraft. Jeder einzelne Organismus ebenso wie jeder Staat ist von Feinden und Neidern bedroht und mutz sich gegen deren Angriffe durch Schutzwaffen und mög­ lichst vollkommen hergerichtete Defensivmaßregeln schützen. In dieser Beziehung ist die vorzügliche Organisation des Preu­ ßischen Heeres als musterhaft anerkannt; und da gerade am heuti­ gen Tage, am 20. Oktober 1915, der Beginn der 500 jährigen Hohenzollernherrschaft in Brandenburg festlich begangen wird, dürfen wir nicht Unterlasten, den berühmten Häuptern dieses Fürstenhauses die verdiente Anerkennung für ihre unermüdliche Tätigkeit in der Herstellung eines starken Kriegsheeres zu zollen. Allen voran steht hier der große monistische Philosoph von Sanssouci, Friedrich II., der vor 150 Jahren den Kampf gegen eine „Welt von Feinden" siegreich durchführte. Aber auch der ehrwürdige Kaiser Wilhelm I., der mit Hilfe von Bismarcks unvergleichlicher Staatskunft vor 44 Jahren bas neue Deutsche

Reich begründete, verdient unseren Dank dafür, daß er die von seinem Vater in den Befreiungskriegen vor 100 Jahren einge­ führte allgemeine Wehrpflicht zeitgemäb durchführte. Diefe Maßregel, die ein zur Verteidigung des Vaterlands be­ stimmtes Volksheer im besten Sinne schuf, wurde von den meisten Kulturvölkern Europas neuerdings nachgeahmt. Nur die Engländer, die sie als Beschränkung der individuellen Freiheit verwarfen, wollten nichts davon wisien; jetzt, wo ihr jämmerliches Werbefystem versagt, beginnen sie deren Notwendigkeit einzu­ sehen. — Wohl zu unterscheiden von diesem vernunstgemätzen Militarismus sind die Auswüchse der Heeresausstattung, die man als teures und unvernünftiges Soldatenspiel mit Recht verurteilt: die kostspielige Ausschmückung zahlreicher verschiedener Regimentsarten mit bunten, glänzenden Uniformen, das Renom­ mieren mit dem „Herrlichen Kriegsheer" in unaufhörlichen Paraden, Fahnenweihen und Siegesfesten. Diese Prahlerei kostet dem Staate viele unnütze Ausgaben, macht die Soldaten eitel und prunksüchtig, und verletzt das Ehrgefühl der anderen Nationen. Die wirkliche Tüchügkeit und Wehrfähigkeit des Heeres, feine wertvolle innere Organisation wird da­ durch nicht gestärtt. Jetzt, wo vernünftigerweise Darwins Prinzip der „Schutzfärbung" praktisch eingesührt und die bunte, glänzende Uniform mit dem einfachen „Feldgrau" vertaufcht ist, wird jener „falsche Militarismus" bedeutungslos.

D. Entwicklungslehre und Politik. Wie der Staat nur eine höhere, rechtlich geordnete Form der Gesellschastsbildung, so ist auch die Staatslehre oder Politik nur ein besonderer Zweig der Soziologie in weiterem Sinne. Sie unterliegt also denselben allgemeinen Gesetzen der Entwicklungs­ lehre wie die letztere. Nur ist ihre Ausgabe insofern schwieriger, als die Politik zur richtigen Beurteilung aller Verhältnisie eine viel umfassendere Kenntnis aller Bedingungen und speziellen Be-

zlehungen verlangt; um so mchr, je größer der Umfang und se mannigfaltiger die Zusammensetzung der Staatsgebilde ist. Daher begegnen wir auch alltäglich der Erfahrung, daß sowohl in der chevretischen Staats wissen schäft, als in der praktischen Staatskunst die Ansichten und Wünsche der gebildeten Kulturmenschen weit auseinander gehen, ttotzdem jeder täglich seine Zeitung liest und durch seine Lebensbedürfnisie zur Be­ schäftigung mit politischen wie mit sozialen Verhältnißen gezwun­ gen ist. Dazu kommt noch der Umstand, daß jedermann schon von früher Jugend an durch seine nationale Erziehung mehr oder weniger einseitig die Einrichtungen seines Vaterlandes als die normalen anzusehen gewohnt ist, hingegen diejenigen anderer Länder als mangelhaft oder verfehlt. In besonders auffälligem Maße tritt uns dieser Übelstand im gegenwärtigen Weltkriege ent­ gegen, wo eine und dieselbe Tatsache und Aufgabe in den Augen der beteiligten Völker die verschiedenste Beurteilung findet. Der deutsche Gebildete hat sicher im allgemeinen einen unbefangeneren Blick und ein richtigeres Urteil, sowohl wegen der besteren allge­ meinen Bildung in den Schulen, als wegen seiner kosmopolitischen Interesten und internationalen Neigungen. Demgegenüber ist der Engländer durch seinen egoistischen Größenwahn, der Franzose durch seine überspannte Nationaleitelkeit („La grande nation!“), der Italiener durch seinen Ahnenstolz auf das weltbeherrschende alte Rom, der Rüste durch seine panslawistische Nationalsucht so verblendet, daß sie die meisten politischen Ereigniste von ihrem beschränkten Standpunkt aus sehr einseitig und oft ganz falsch be­ urteilen. Dadurch erklärt sich auch das bedauerliche Scheitern aller internationalen Verständigungsversuche und der damit verknüpf­ ten pazifistischen Bestrebungen. Da ich selbst seit vielen Jahren an diesen vernunftgemäßen internationalen Versöhnungsattkonen beteiligt war und sowohl in England, als in Frankreich und Italien Mitglied solcher „Rekonziliationsverbände" war, weiß ich aus eigener Erfahrung, welche großen praktischen Widerstände hier den bestgemeinten idealen Besttebungen entgegenstehen. Nach meiner

Überzeugung ist auch hier erst dann ein erfteulicher und bauernder Fortschntt zu erzielen, wenn die oben bargelegten Grundsätze der Entwicklungslehre, der genetischen Anchwpologie und Soziologie, und der darauf gegründeten monistischen Philosophie besseres Verständnis und allgemeinere Anerkennung finden. Deutschland und England. Unter allen Versuchen ftiedlicher Verständigung mit untern Nachbarn, die seit Jahrzehnten von vielm bedeutenden Staatsmännern und wohlmeinenden Politi­ kern unternommen wurden, waren sicher die wichtigsten und aus­ sichtsvollsten diejenigen mit England. Denn der gemeinsame Grundzug der Germanischen Kultur, der namentlich in den wisienfchastlichen und künstlerischen, technischen und humani­ tären Bestrebungen beider Nachbarländer sich niemals ganz ver­

leugnete, ließ besonders in den letzten vierzig Jahren, seit der Wiedergeburt des Deutschen Reiches und der Bezwingung des unversöhnlichen Frankreichs, die Hoffnung feschallen, daß die engere politische Verbindung der beiden germanischen Schwester­ nationen nicht nur ihrem beiderseitigen Nutzen und Wohlstände zum Vorteil gereichen, sondern auch eine dauernde Bürgschaft für den allerseits gewünschten Weltftieden sein würde. Deutsch­ lands Heer als die stärkste Landmacht, Englands Flotte als die größte Seemacht hätten vereint der ganzen Kulturwelt dauemden Frieden und humanitären Kulturfortschritt schenken können — besonders dann, wenn Kolombanien (die „Ver­ einigten Staaten von Nordamerika"), in denen deutsche und eng­ lische Elemente überwiegend gemischt sind, sich dieser grvtzen westösllichen Germanischen Allianz angeschlosien hätten. Dieser schöne Traum ist jetzt zerronnen, dank dem tiefgewurzel­ ten und brutalen nationalen Egoismus Eng­ land s; und leider ist keine Aussicht, daß er in absehbarer Zeit wieder aufleben wird. Denn die Folgen des von England ftevelhast heraufbeschworenen Völkerkrieges — „des größten VerbrechensderganzenWeltgefchichte!" — sind so entsetzlich und schlagen der Kulturmenschheit so tiefe Wunden,

daß an eine wirkliche Versöhnung des überfallenen Deutschlands mit dem falschen englischen Brudermörder vorläufig nicht zu denken ist. Wenigstens kann die jetzige Generation des kontinen­ talen Europa, die seit 15 Monaten täglich Zeuge der b a r b a r i sch.en und infamen Kriegsführung Grotzbritanniens ist — des beispiellosen Massenmordes, der schamlosen Verlogenheit und Heuchelei der englischen Politik, der niederträchtigen Behandlung der Gefangenen und Verwundeten! —, unmöglich wieder die Hand zur Versöhnung reichen. Erst mutz wieder eine neue Generation kommen, welche in dem neu erstandenen Europa wieder mensch­ liche Sitte und Toleranz, Privatrecht und Völkerrecht (beide von England und seinen Verbündeten mit Füßen getreten!) zur Gel­ tung gelangt sieht. Die Blullchuld am Weltkriege. In dm ersten Monaten nach dem überraschenden Ausbruch des Völkerkrieges, im August und September 1914, gingen die Ansichten über besten eigentliche Ursachen und über die Schuld feiner Anstifter noch sehr ausein­ ander. Weitblickende Politiker und Geschichtskenner, welche die verwickelten internationalen Beziehungen der europäischen Kulturstaaten in den letzten dreißig Jahren und besonders seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam verfolgt hatten, sprachm schon damals die Überzeugung aus, daß die tiefliegende Grundursache der N e i d und die E i f e r s u ch t unserer östlichen und westlichen Nachbarn auf das Gedeihen und Emporblühen des neu geeinigten Deutschen Reiches seit 44 Jahren sei. Während besten früherer Zerristenheit und politischen Ohnmacht halten sie sich daran ge­ wöhnt, die kontinentale Zentralmacht Europas als eine unter­ geordnete Macht zweiten Ranges zu betrachten, die jeder Nachbar nur zu seinem eigenen Nutzen ausbeuten könne. Daß Deutsch­ land sich als gleichberechtigte Großmacht neben die anderen Groß­ mächte stellen, daß es gleich ihnen Kolonien erwerben und am all­ gemeinen Welthandel seinen berechtigten Anteil haben wollte, das war das große Ärgernis, welches unsere Feinde in Ost und West nicht schlafen ließ, und das vor allem England — den stamm-

verwandten germanischen Bruderstaat — zu unserem grimmigsten Todfeinde machte. Besonders tragisch war dabei der Umstand, daß der König von England, Eduard VII. — ein Fürst deutschen Blutes und der Onkel unseres Kaisers Wilhelm II. —, sich zum Förderer dieses Bruderhasses machte und zehn Jahre hindurch in der feindlichen „Einkreisung Deutschlands" seine Hauptaufgabe sah. Ich habe diese Verhältnisse gleich nach Aus­ bruch des Krieges (am 12. August 1914) in einem kleinen Auf­ sätze über „die Blutschuld Englands am Wellkriege" klarzustellen gesucht, der eine weite Verbreitung gefunden hat (Eisenach, Jakobis Verlag). In einem zweiten Aufsätze (im Novemberheft der Monatsschrift „Nord und Süd") habe ich vom darwinistischen Standpunkte des Naturforschers aus „Weltkrieg und Naturgeschichte" behandelt, die doppelte Bedeutung des „Kampfes ums Dasein" (als stiedlichen „Konkurrenz­ kampf" und als feindlichen „Existenzkampf"). Daß England allein die Blutschuld an diesem „Größten Verbrechen der Weltgeschichte" trifft, und daß es seit mehr als 40 Jahren aus dieVernichtung des gefährlichen deutschen Konkurrenten sich vorbereitete, ist bekanntlich seitdem durch zahlreiche Tatsachen (vor allem durch die berühmten Enthüllungen der Belgischen Staats­ archive) sicher erwiesen, und im letzten Vierteljahr haben zum Überfluß die naiven Geständnisse der englischen Staatsmänner in der Regierung und im Parlament diese Schuldftage ganz offen zugegeben. Englands Welcherrschast. Im Verlaufe der ungeheuren und wechfelvollen Ereignisie, welche der von England angefachte Völkerkrieg feit 15 Monaten bereits herbeigeführt hat, ist es allmählich überall klargeworden, daß dieser mächtigste Seeräuber­ staat nicht allein feine unbeschränkte Herrschaft über alle Meere und feine überall angelegten Kolonien fest in der Hand behalten, sondern auch in Zusammenhang damit alle anderen Nationen rücksichtslos zu feinem Vorteil ausbeuten will. Wir können die Größe dieses brutalennationalenEgoismus ebenso Haeckel, Ewigkeit.

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bewundern, wie den umfassenden Weltblick und die raffinierte Schlauheit, mit welcher Großbritannien feine reale Weltherrschaft seit Jahrhunderten befestigt und ausgebaut hat. Ich persönlich habe die großartigen Verdienste, welche sich das kleine britische Inselreich — dank den kostbaren Vorzügen seiner insularen Selek­ tion und seiner geographischen Verbindungen — um die mensch­ liche Kultur erworben hat, stets bereitwillig anerkannt. Außer­ dem bin ich dabei durch meine Arbeiten über den Darwinismus (seit 50 Jahren), durch den persönlichen freundschaftlichen Verkehr mit Darwin und Huxley, mit Lyell und John Murray, sowie mit zahlreichen anderen berühmten Naturforschern in England und Schottland in die angenehmsten und fruchtbarsten persönlichen Beziehungen getreten. Als ich 1866 in London zuerst die reichen dort aufgestapelten Schätze der Kunst und Wisienschaft kennen lernte, wurde ich von Bewunderung über die großen Züge der englischen Kulturarbeit und ihre musterhafte praktische Organi­ sation erfüllt. Als ich sodann zehn Jahre später in Glasgow und Edinburgh die wundervollen, das neue Forschungsgebiet der Tiefsee erschließenden Sammlungen der bahnbrechenden Challen­ ger-Expedition einsehen durfte, übernahm ich selbst auf Wunsch von deren Direktion die Bearbeitung eines großen Teiles der­ selben, welche mich zwölf Jahre lang beschäftigte. Die großen Monographien der Radiolarien und Spongien, Medusen und Siphonophoren, deren Ausstattung von mehreren hundert Tafeln mit größter Liberalität gewährt wurde, gehörten zu meinen dank­ barsten zoologischen Spezialarbeiten. Endlich lernte ich 1881 auf meiner ersten Tropenreise in Ceylon, sowie 1900 auf der zweiten in Singapore, die großartige Kolonialkunst der Engländer und ihre umfastende Geschicklichkeit in der Beherrschung des gewalti­ gen Indischen Kaiserreichs bewundern. Ost bin ich in Deutschland deshalb einer übertriebenen Hochschätzung britischen llnternehmungs- und Forschungsgeistes angeklagt worden. Um so tiefer muß ich es jetzt beklagen, daß der egoistische Neid und grenzen-

lose Größenwahn Englands uns gegenwärtig zu seinen bittersten Todfeinden gemacht hat. Englands Größenwahn. Der gewaltige Erfolg, dm das „Perfide Albion" bei Ausübung seiner Weltherrschaft seit Jahr­ hunderten erzielt hat, beruht auf denfelbm äußeren und inneren Verhältnißen, deren Bedeutung in dem jetzigen Welttriege klarer als je zuvor zutage getreten ist. In äußerer Beziehung bettachtet erscheint das kleine englische Inselreich als eine unangreifbare See­ festung, deren unüberwindliche Riesenflotte, in zahlreichen vorttefflichen Häfen sicheren Schutz findend, die dirette Invasion jedes äußeren Feindes unmöglich macht. Dazu kommt die schein­ bar unerschöpfliche Macht der Goldquellen, welche Großbritannien durch seine riesigen Kolonialgebiete und Dominien in allen Ecken der Welt besitzt. In bezug auf die inneren Ursachen seiner Macht­ stellung ist aber sprichwörtlich die Riederttächtigkeit seiner Realpolitik, die Falschheit seiner diplomatischen Ränke, die Nicht­ achtung der Rechte aller anderen Nationen. Die berüchttgte „Punica fides“ der alten Karthager wird von der Verlogenheit des „Perfiden Albion“ noch weit übertroffen. Gleich nach Beginn des Krieges eröffnete England jenen großartigen Lügenfeldzug gegen Deutschland, der durch schamlose Ver­ leumdung und spitzfindige Entstellung der Wahrheit uns in den Augen der übrigen Kulturwelt in ein völlig falsches Licht fetzte; um so mehr, als es durch Abschneidung unserer auswärttgen Ver­ bindungen uns monatelang verhinderte, der täglichen Verbreitung falscher Nachrichten in der Preffe gebührend entgegmzutteten. Als in der bekannten Erklärung von 93 namhaften deuffchen Ge­ lehrten die Fäden dieses Lügennetzes durchrisien und der wahre Sachverhalt der Kriegsentstehung dargelegt wurde, antworteten 120 englische Gelehrte mit einer Gegenerllärung, beren unglaub­ liche Entstellungen nur als Ausfluß des bekannten englischen Größenwahns zu erklären sind. Tatsächlich lebt ja der größte Teil der englischen Bevölkerung in der pathologischen Einbildung, daß sie allein die wahren Förderer der Kultur und Bildung sind;

dieser maßlose Nationalstolz wird gesteigert dmch ihre Unkenntnis der wirklichen Vorzüge anderer Nationen, überall erhebt der Engländer bekanntlich den Anspruch, daß seine Sprache und Sitte allein maßgebend ist; er lernt die Sprachen und die Individuali­ täten anderer Kulturnationen nur unvollkommen oder gar nicht kennen. Englands Seeräuberei. Unter allen Formen des Krieges und der damit verknüpften Gewalttaten und Raubanfälle ist keine so rücksichtslos als der Seekrieg, die Piraterie. Zugleich übt diese Seeräuberei einen eigentümlichen romantischen Reiz auf die Unternehmer aus, einerseits durch die damit verknüpften Gefahren und Glücksfälle, anderseits durch die Sicherheit oder selbst Unan­ greifbarkeit, welche eine isolierte Insel oder eine unnahbare Felsenküste mit verstecken Schlupfwinkeln und sicheren Häfen dem An­ greifer barbietet. Daher sehen wir seit Iahrtausenben kühne unb intelligente Küstenbewohner mit bem einträglichen unb abenteuer­ lichen Gewerbe bes Seeraubes beschäftigt; unb nicht selten haben Invasionen größeren Stils bie Piraten zu bebeutenben politischen Erwerbungen geführt. Auch bemächtigen sich seit alters her Dich­ ter unb Romanschreiber dieser dankbaren Stoffe. Wir brauchen bloß an Homer unb anbere Dichter bes klassischen Altertums zu erinnern; an bie 3Iiabe unb Odyssee, an bie Heldenfahrten ber griechischen unb phönizischen, karthagischen unb römischen See­ räuber. Im 8. bis 11. Iahrhunbert brandschatzten bie kühnen Normannen bie Küsten ber britischen Inseln unb bes westeuropäi­ schen Festlanbes. Während bes Mittelalters griffen viele türkische unb sarazenische Korsaren bie Küsten bes Mittelmeeres unb bes westlichen Europas an. In Italien unb Spanien, wie in anberen mebiterranen Küstenländern zeugen noch heute zahlreiche alte Warttürme von bem Schrecken, ben biefe plötzlichen SeeräuberAnfälle ben Einwohnern einflößten; nicht nur nahmen sie ihnen Hab unb Gut gewaltsam weg, saubern schleppten sie in Gefangen­ schaft unb benutzten sie als Sklaven. Im 16. unb 17. Iahrhunbert würben bie britischen unb französischen Bukkanier berühmt, welche

Westindien und die Ostküsten von Nordamerika brandschatzten, im 18. Jahrhundert die Flibustier des Nordatlantischen Ozeans. 1670 eroberte sogar ein englischer Bukkanier Panama; er führte den berühmten Namen Morgan, denselben, welchen jetzt der Tolombaner Morgan in New Hork besitzt, einer der Milliardäre, die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika den gewaltigen Stahltrust gründeten und durch Masienlieferung von Munition für England den Tod von vielen tausend deutschen Kriegern her­ beiführen. Damals plünderte auch ein verlumpter französischer Edelmann namens Gramont Mexico. Heute noch bildet die Piraterie im Osten ein einträgliches Geschäft für zahlreiche chine­ sische und japanische Schiffe. Indesien alles, was diese und andere Seeräuber seit zwei Jahrtausenden erreichten, tritt zusammen­ genommen zurück gegen die großartigen Erfolge, welche Groß­ britannien, der mächtigste und gewalttätigste von allenPiratenstaaten, in allen Erdteilen zustande gebracht hat. Ist doch der größte Teil seiner Weltmacht auf die rücksichtslose Gewalttätigkeit gegründet, mit der England andere Länder an­ gegriffen und ausgeplündert hat; dabei ging es meistens mit einer Kühnheit und diplomatischen Schlauheit vor, der man die Be­ wunderung kaum versagen kann. Wir bettachten es als ein be­ sonderes Verdienst unserer Unterseeboote, dieser Räuberbande wenigstens teilweise das Handwerk gelegt zu haben. Englands Barbarei. In dem großartigen Lügenfeldzug, den England gleich nach Beginn des Weltttieges gegen Deutschland in Szene gesetzt und mit Hilfe seiner Presie und seiner Börse in allen Weltteilen erfolgreich durchgeführt hat, wird uns besonders wirkungsvoll die „Barbarei" unserer Kriegführung zum schwersten Vorwurf gemacht. Wer den Charakter des deutschen und des englischen Volkes, sowohl in den höheren als in den niederen Klaffen gründlich kennt und unbefangen vergleichen kann, wird urteilen, daß dieser niederträchtige, durch verlogene Angaben und gefälschte Bilder gestützte Vorwurf auf England selbst zurückfällt. Im ganzen Verlauf des Weltttieges haben die Staatsmänner

wie die Soldaten und die Journalisten Großbritanniens unzählige Male bewiesen, daß ihnen alle Satzungen des Völkerrechts gleich­ gültig sind; ihr rücksichtsloser nationaler Egoismus hat sie gegen alle Rechte anderer Völker blind gemacht. Man braucht bloß die Geschichte der Kolonialkriege Englands in Indien und Afrika zu lesen, um zu erkennen, wie völlig unmenschlich diese „allerchrist­ lichste Nation" gegen ihre Feinde verfährt. Charakterissifch dargestellt ist diese kaltherzige Grausamkeit in dem berühmten indi­ schen Kriegsbilde des genialen russischen Malers Wereschtschagin: da sicht in Parade aufgepflanzt eine Batterie von englischen Ge­ schützen; vor die offene Mündung jeder Kanone ist ein lebendiger indischer Fürst oder Würdenttäger fest angebunden; die Kanoniere sichen kalt und ruhig daneben und erwarten geduldig den Augen­ blick, wo nach langem Warten der Befehl zum Losschießen erfolgt und die zerrissenen Leiber der schon halb zu Tode geängsügten Schlachtopfer in die Lust fliegen. Diese indischen Verbrecher haben nur ihre Pflicht erfüllt und ihr Vaterland gegen die britischen Seeräuber verteidigt. Dabei sind diese arischen Inder keine schwarzen Kastern und Senegalneger, wie sie der Vierverband jetzt gegen uns ins Feld führt; vielmehr sind sie ältere Sprossen derselben indogermanischen Rasse, der auch die Angelsachsen jen­ seits und die Teutvsachsen diesseits des Ärmelkanals entsprungen sind. Wenn Deutschland infolge eines unglücklich endenden Welt­ krieges nach Englands Wunsch zerteilt und vernichtet würde (wie es bereits hoffnungsstohe Zukunstskarten unserer Feinde bildlich darstellten!), dann würde das Schicksal der „Germanischen Domi­ nien" nicht besser sein als dasjenige der unterjochten Inder und Australier, Südafrikaner und Ägypter!

E. Zukunftsbild her Entwicklungslehre. Im Hinblick auf die großartigen Fortfchritte, welche der Ent­ wicklungsgedanke im Laufe des letzten halben Jahrhunderts für das Gesamtgebiet unserer menschlichen Wissenschaft herbeigeführt

hat, dürfen wir überzeugt fein, daß er auch aus dem Chaos des gegenwärtigen wahnsinnigen Weltkrieges die leidende Menschheit auf eine höhere Stufe der Kultur und des Lebensglückes hinauf­ führen wird. Hat uns doch im Laufe der letzten 50 Jahre die Erkenntnis der allgemeinen Weltgesetze (obenan des Sub­ stanzgesetzes) und die Begründung der monistischen Entwick­ lungslehre (obenan die Lösung des Kardinalproblems) zu einer Höhe der Weltanschauung geführt, welche zu erreichen noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts unmöglich schien. Hand in Hand mit dieser bewunderungswürdigen Ausbildung unserer theoretischen Gedankenarbeit, der vernunstgemätzen monistischen Philosophie, hat sich auch deren praktische An­ wendung auf unsere humane Lebensführung, die rationelle monisllsche Religion, zu einer früher kaum geahnten Höhe empor­ geschwungen. Freilich hat der erwünschte stetige Fortschritt der Kultur durch die unvermeidlichen Greuel des jetzigen Völker­ krieges tausendfach bedauerliche Unterbrechungen erfahren und zu schmerzlichen Rückschntten in Barbarei geführt. Allein im großen und ganzen überwiegt doch die segensreiche progressive Evolution die Schäden der verderblichen regressiven Entwicklung. Die Geschichte der Menschheit, ebenso wie die Stammesgeschichte der ganzen organischen Lebewelt, folgt durchschnittlich dem bekannten Bilde der Echternacher Springprozession: Drei Schritte vorwärts, zwei Schritte rückwärts; immer bleibt ein Schritt zugunsten des Fortschritts übrig. So sind auch vor 120 Jahren die Greuel der französischen Revolution gesühnt worden durch den gewaltigen Fortschritt, den die bürgerliche und politische Freiheit durch die Vernichtung des mittelalterlichen Feudal­ systems, des Absolutismus und der sozialen Standesvorurteile erfahren hat. Wir dürfen sicher hoffen, daß auch der gegen­ wärtige Völkerkrieg — eine viel gewaltigere Revolution der Kulturwelt — twtz der damit verknüpften Verletzung aller Be­ griffe von Menscheflliebe und Völkerrecht, — dennoch schließlich eine neue Ära des höheren Kulturforffchritts zm Folge haben

wird. Zunächst wird sich dieser fteilich mchr äußerlich kund­ geben, in einer großartigen Verschiebung der intemationalen Macht- und Besitzverhältnisie. Wichsiger aber werden in ihren bleibenden Folgen die i n n e r l i ch e n Reformen sein, welche aus der erweiterten Kenntnis der internasionalen Kultur und dem Verständnis der verschiedenen Volkscharaktere sich ergeben. Hier wird der berechsigte nationale Egoismus in Verbindung mit dem höheren internationalen Altruismus die Gebote des „Goldenen Sittengesetzes" mehr und mehr befolgen lernen. Friedenshoffnungen. Je länger der ensietzliche Völkerkrieg dauert, je größere Werte an Menschenleben, an Kulturerwerbun­ gen und materiellen Gütern dadurch alltäglich zerstört werden, desto dringender tritt auf allen Seiten der Wunsch nach baldigem Friedensschluß hervor, und zwar nach einem dauernden Frieden, welcher die Wiederkehr solcher unmenschlichen Greuel auf Jahrhunderte (wenn nicht für immer?) verbürgt. Schon Kant hat 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" gezeigt, daß die Herstellung eines solchen internasionalen Rechtszustandes das Ziel der höheren Kultur sein und den ständigen Kriegs­ zustand der rohen Naturvölker verdrängen solle. Zur Verwirk­ lichung dieser schönen Idee haben sich ja seit längerer Zeit ver­ schiedene Friedensgesellschasten gebildet; ein besonderer „Nobel­ preis" wird alljährlich an Schriftsteller, die dafür werben, ver­ teilt; sogar der russische Zar (der Ende Juli 1914 durch die Mobil­ machung seines Millionenheeres tatsächlich den ersten Schritt zum wirklichen Ausbruch des Weltkrieges tat!) hat im Haag den berühmten „F r i e d e n s p a l a st" enichtet. Seitdem hat der alte Streit, ob dauernder Friede zwischen den Nationen möglich sei oder nicht, wieder neue Kraft gewonnen. Ich selbst bin prin­ zipiell „P a z i f i st" und habe schon seit vielen Jahren mehreren Friedensgesellschasten in Deutschland und Österreich, Frankreich und England angehört, deren wohlgemeinte Agitation gegen den Krieg gerichtet ist. Unser Ziel ist, den unvermeidlichen, aber unblutigen „Konkurrenzkampf" nicht in den blutigen und

mörderischen „Existenzkampf" ausarten zu lasten. Die veredelten Kultuwölker sollen gegenseitig Toleranz üben und zu höherer gemeinsamer Kulturarbeit im Dienst wahrer Hu­ manität sich verbünden. Ich sehe nicht ein, warum nicht schließlich die Anwendung roher Gewalt zwischen den seindlichen, in Wettbewerb stehenden Nationen ebenso durch vernünftigen Ausgleich oder durch ein neutrales Schiedsgericht vermieden werden kann, wie es hinsichtlich des berüchttgten Faust rechts und der Blutrache schon vielfach geschehen ist. Haben wir doch auch die Beschränkung des persönlichen Duells (das nur vom abergläubischen Standpunft des „Gottesurteils" einen Sinn hat!) in weiten Volksfteisen erreicht, trotzdem die falschen mittel­ alterlichen Ehrbegriffe höherer Gesellschastsffasten, besonders beim Militär, bei einem Teile der Studentenverbindungen usw. diese verderbliche Unsitte zu erhalten bestrebt sind. Daher hoffe ich, daß ftüher oder später die Herstellung eines dauernden (wenn auch nicht „ewigen"!) Friedens zwischen den höher entwickelten Kulturnationen wirklich gelingen wird; notwendige Voraussetzung dafür bleibt fteilich, datz die fortgeschrittene praktische Ver­ nunft den stteitenden Völkern die Torheit und Verderbnis ihres gegenseitigen Mordens zur klaren Einsicht gebracht haben wird; und zweitens, daß es gelingen wird, dem neutralen Schieds­ gericht die moralische Autorität und die realen Machtmittel zur Geltendmachung seiner vernunftgemäßen Urteile zu verschaffen. Deuffches Neuland. Daß die Landkarte von Europa nach erfolgtem Friedensschluß gewaltige Veränderungen erleiden wird und die Grenzen der einzelnen Länder sich bedeutend verschieben werden, darüber herrscht allgemein kein Zweifel. Aber wie, wo und wann der Friedensschluß erfolgen, wie die beispiellos ver­ wickelten politischen Probleme dieses rätselvollen Weltkrieges ge­ löst werden sollen, vermag gegenwärtig noch kein Mensch zu ahnen. Nur der eine Wunsch besteht fast allgemein, und ist auch von den maßgebenden Stellen der Reichsregierung wieder­ holt ausgesprochen worden, daß wir (ohne salsche „Senttmen-

talität"!) unerschütterlich durchhalten bis zur Er­ reichung eines bleibenden Erfolges; der zu erhoffende Friede mutz dauerhaft fein und so ausgestaltet werden, daß unseren neidischen Nachbarn und gehässigen Feinden die Lust zu einem neuen Angriff gründlich gelegt wird. Wir können natürlich nicht daran denken, hier irgendwelche besonderen Vorschläge für die Friedensbedingungen zu machen. Wohl aber dürfen wir (wie es auch anderseitig schon vielsach geschehen ist) in all­ gemeinen Umrissen die wichtigsten Punkte berühren, auf welche beim Friedensschluß besonders zu achten sein wird. Wir halten jetzt bereits ansehnliche Länder (Belgien und Nvrdfrankreich im Westen, Polen und die baltischen Provinzen Rußlands im Osten) als wertvolles Faustpfand in fester Hand, und diese reichen Gebiete waren in früheren Zeiten deutscher Besitz. Ant­ werpen muß unser fester Stützpunkt in der Nordsee, Riga in der Ostsee bleiben. Höchst wertvoll ist für uns die in diesem Augen­ blick erreichte Verbindung mit dem Orient (Berlin, Kon­ stantinopel, Bagdadbahn usw.). Jedenfalls müsien wir beim Friedensschluß eine bedeutende Gebietserweite­ rung des Deutschen Reiches in Anspruch nehmen. Dabei sind wir weder von der Habsucht und Goldgier des weltbeherrschenden Englands geleitet, noch von dem eitlen National­ stolz des gloiresüchtigen Frankreichs; weder von dem kindischen Größenwahn des romtvllen Italiens, noch von dem unersättlichen Expansionstriebe des halbbarbarischen Rußlands. Vielmehr bedürfen wir bei der Übervölkerung des Deutschen Reiches drin­ gend einer Erweiterung und Stärkung seiner höchst ungünstigen Grenzen, erstens um uns gegen künftige Angriffe unserer stär­ keren Nachbarn sicherzustellen, und zweitens, um die große Zahl deuffchcr Volksgenvsien nicht zu verlieren, die alljährlich aus dem zu eng gewordenen Vaterlande auswandern und als „Kultur­ dünger" für andere Länder uns verloren gehen. Die neuen an­ gegliederten Gebiete sind energisch und rücksichtslos, aber mit Vorsicht und Verstand zu germanisieren oder wenigstens

deutscher Kultur, Bildung und Gesittung zugänglich zu machen. Diese wichtige Aufgabe ist ja in srüheren Jahrhunderten bereits in grober Ausdehnung uns gelungen. Deutsches Kolonialland. Zu den vielen wichtigen Erkennt­ nissen, zu welchen dieser weltumspannende Völkerkrieg als Lehr­ meister uns geführt hat, gehört besonders die wachsende Über­ zeugung, daß unser Deutsches Reich als Weltmacht ausgedehnter Kolonien bedarf. Diese politische Notwendigkeit hatte mit weitem Blick schon vor 250 Jahren der „Grobe Kurfürst" erkannt, und der geniale Gründer des neuen Deutschen Reiches, Fürst Otto von Bismarck, hat sie in unserer Zeit in die Tat umgesetzt, trotz des zähen Widerstandes vieler kurzsichtiger Politiker. Unter den verschiedenen Vorschlägen, welche neuer­ dings für die Erweiterung unseres bereits erworbenen Kolonial­ besitzes gemacht worden sind, dürfte am aussichtsreichsten die Gründüng eines groben deutschen Kolonialreiches in Mittelafrika fein. Mit dem Besitze von Belgien (und besten vortrefflichem Hafen Antwerpen!) fällt uns zugleich der ausgedehnte höchst wertvolle K o n g o st a a t zu. Indem wir diesen unseren jetzigen, mit Aufwand gewaltiger Mittel bereits zu hoher Blüte erhobenen Kolonien im östlichen und westlichen Teile von Mittel-Aftika angliedern, erhalten wir ein gewaltiges Gebiet, besten Ausbeutung durch den energischen Fleitz und die kenntnisreiche Umsicht deutscher Kolonisten uns für Jahrhunderte lohnendste Ausbeute verspricht. Englands großartiger Plan, durch direkte Verbindung feiner Macht „vom Kap nach Kairo und vom Niger bis zum Irawaddi" auch zu Lande ein allbeherrschendes Weltreich zu gründen, darf überhaupt nicht zur Ausführung gelangen. Ägypten, das die Engländer vor dreißig Jahren den Türken, feinen rechtmäßigen Besitzern, geraubt haben, muß diesen zurückgegeben werden, ebenso der Suezkanal, der international verwaltet werden muß. Aus Aftika muß Großbritannien überhaupt verschwinden. Das Kaplanb sollte, ebenso wie das herrliche Zeylon, wieder an Holland zurückfallen, dem es

ftüher gehörte. Mit Holland, wie mit der Schweiz und Skandinavien, als wohlwollenden neutralen Nachbarländern, stets auf dem besten freundschaftlichen Fufte zu bleiben, muß ein wichtiges Ziel des verjüngten und vergrößerten Deutschen Reiches bleiben. Auf die moderne Reform des Osmanenreiches, durch Einführung deutscher Kultur und Bildung, ist große Hoffnung zu setzen, um so mehr, als der frühere religiöse Fanatismus der Türken in den höheren Bil­ dungskreisen schon sehr geschwunden ist. Kleinasien, eines der herrlichsten Länder, schon vor 2500 Jahren mit der höchsten Blüte griechischer Kultur geschmückt, ferner die anstoßenden Euphratgebiete, und Syrien nebst Palästina, können in ber wiedergeborenen Türkei — in vereinter Kultur­ arbeit mit Deutschland! auch mit Griechenland — wieder zu fruchtbarstem Gedeihen sich emporschwingen. Seefteiheit. Als eines der wichtigsten Friedensziele, an welchem alle Kultur-Nationen des Erdballs gleichmäßig beteiligt sind, muffen wir die Herstellung der freien Schiffahrt auf dem Ozean und eines gesicherten Rechtszustandes zwischen den seefahrenden Nationen betrachten. Dieses Ziel ist aber nur dadurch zu erreichen, daß die großbritannische SeeHerrschaft zerstört oder unschädlich gemacht wird. Tatsächlich besteht diese maritime Tyrannei schon seit Jahrhunderten; ohne alle Rücksicht auf die berechtigten Ansprüche anderer Nationen hat England in seiner selbstsüchtigen Herrschsucht und Habgier die Seemacht aller anderen, mit ihm in Mitbewerb getretenen Staaten zu schwächen oder zu vernichten gesucht; es hat bie Flotten von Frankreich und Spanien, von Italien und Griechen­ land, von Holland und Dänemark, von allen Staaten, deren Handel ihm an den Küsten aller Weltteile gefährliche Konkurrenz bereitete, unbedenklich angegriffen und zerstört. In feinen mäch­ tigen Kolonien, die an Umfang und Wert diejenigen aller anderen Nationen übertreffen, hat es bie absolute Herrschaft über deren Küsten und Häfen, Inseln und Festungen, unbedingt für sich in

Anspruch genommen. Niemals ist uns bas so direkt fühlbar geworden, wie im jetzigen Völkerkriege, wo England von Anfang an dmch seine maritime Übermacht und seine sicheren Stützpunkte in allen Weltteilen Deutschland isoliert und durch Zerstörung aller Verbindungsdrähte von allen anderen Ländern abgeschnitten hat. Nur so ist die ungeheure Wirkung des beispiellosen Lügen-Feldzuges zu erklären, durch welchen unsere Feinde uns bei den neutralen Nationen verleumdet und verhaßt gemacht haben. Und doch sind diese Neukalen, gleicherweise wie Frank­ reich und Italien, und wie alle anderen mit England Verbün­ deten — ebenso wie wir selbst, durch Grotzbritanniens maritime Tyrannei bedroht. Ihnen allen wird der britische Piraten-Staat im gegebenen Falle ebenso wie uns den Mitbewerb im Welt­ handel untersagen und die freie Schiffahrt im Ozean unmöglich machen. Das weite Gebiet des Weltmeers, welches nahezu zwei Drittel der Erdoberfläche umfaßt, muß aber Gemeingut der ganzen Menschheit bleiben und darf niemals Privateigentum einer einzelnen seefahrenden Nation werden. Wenn die englischen Minister noch in den letzten Jahren den Anspruch auf dieses Monopol offen erhoben und zugleich in stolzer Zuversicht gedroht haben, daß Britannien für alle Zeitm die unumschränkte Be­ herrscherin der Meere bleiben werde, so haben sie damit nur einen neuen Beweis für die Blindheit des britischen Größen­ wahns geliefert. Denkfreiheit. Während die äußere Neugestaltung von Europa und die Beziehungen Deutschlands zu den übrigen Staaten noch vielfach im Nebel der Zukunst verborgen liegen, lasten sich dagegen die wichtigsten Ziele seiner inneren Reform schon klar im Lichte der Zukunst erkennen. Ganz im allgemeinen, von der hohen Warte der reinen Vernunft überschaut, können wir da den Wunsch aussprechen, daß die anerkannten Grund­ züge der geläuterten Moral, wie sie im engeren persönlichen Ver­ kehr der Kulturmenschen schon lange angeskebt werden, als Norm auch innerhalb des Staates zwischen den verschiedenen Ständen

und Gesellschaftsklassen, ebenso wie weiterhin international zwischen den einzelnen Staaten Geltung erhalten. Das wich­ tigste von allen diesen ethischen Prinzipien ist das malte „G o l» deneSittengesetz" oder die „Goldene Regel", über welche ich im 19. Kapitel der „Welträtsel" meine Gedanken mitgeteilt habe. Besonders möchte ich aus die dort geäußerten Wünsche über die notwendige Schul-Resorm und den „Kulturkamps" Hinweisen, sowie die wichtige Neugestaltung der gegen­ seitigen Bezichungen von Schule, Kirche und Staat. Von meinem fteidenkenden Standpunkte des Monismus aus halte ich die Trennung von Schule und Kirche, sowie von Staat und Kirche für höchst wünschenswert; sie ist in Holland und neuerdings auch in Frankreich, sowie in Kolombanien, zum Nutzen aller Beteilig­ ten längst durchgeführt. Damit ist nicht gemeint, daß der Reli­ gions-Unterricht überhaupt wegfallen soll; im Gegenteil wünschen wir, daß unsere Monistische Religion (in dem oben er­ läuterten Sinne) als naturgemäße Ethik für die moralische Er­ ziehung der Jugend ausgebildet werden soll, zumal sie in ihren wichtigsten Prinzipien (Menschenliebe, Toleranz) mit den wesent­ lichsten praktischen Sittenlehren des Christentums übereinftimmt. Nur die theoretischen Glaubenslehren des letz­ teren, die als mythologische Dichtungen den Ergebnissen der modernen Wistenschaft direkt widersprechen, dürfen unserer Jugend nicht mehr als „Göttliche Offenbarungen" aufgezwungen werden. Wohl aber können sie in der „Vergleichenden R e l i g i o n s g e s ch i ch t e", in Parallele mit der ähnlichen Mythologie anderer Religionen, dem Bildungskreise der Jugend einverleibt werden. — Keinesfalls sollte noch fernerhin der blinde Glaube an die Wundergeschichten des Alten und Neuen Testa­ ments in den deutschen Schulen obligatorisch gelehrt werben. Denn dieser biblische Aberglaube widerspricht nicht nur dirett der Vernunft, sondern führt auch zu jenem traurigen Kampf der Konfessionen, der gerade in dem gemüts­ tiefen Deuffchland so viel Unheil angerichtet hat und noch heute

anrichtet. „Gedankenfreiheit", wie sie der Marquis Pofa in Schillers „Don Carlos" forderte, und wie sie leider in vielen deutschen Staaten und in Österreich noch heute vermißt wird, sollte eines unserer ersten Grundrechte sein, nach dem be­ sonnten Grundsätze Friedrich II.: „3n meinen Staaten kann jeder nach seiner Fasion selig werden." Die volle Glaubensfrei­ heit im Geistesleben ist für bie Kulturmenschen des 20. Jahr­ hunderts ebenso wichtig und unentbehrlich, wie im politischen Leben und im Weltverkehr die S e e f r e i h e i t. Ernte des Weltkrieges. Am Schlusie unserer „WeltkriegsGedanken" angelangt, legen wir uns zuletzt noch die allgemeine Frage vor: „Welche Ergebnisie wird dieses beispiellose Völker­ ringen für die ganze Kulturwelt bringen?" Welche edlen Früchte werden aus dem grauenhaften, mit dem Blute von Millionen Menschen gedüngten Schlachtfeldern Europas hervorfprietzen? Welche dauernden Güter werden sich für das höhere Geistesleben der Menschheit aus diesem titanischen „Kampf ums Dasein" ent­ wickeln, in welchem seit 15 Monaten die mächtigsten Kultuwölker sich gegenseitig zu vernichten suchen?" — Bei unserer Antwort aus diese große Frage werden wir weder in pessimistischem Sinne den Untergang unserer mühsam erworbenen Kultur befürchten, noch in optimistischer Beleuchtung auf ein nahendes goldenes Zeit­ alter voll lauter Glück und Frieden hoffen. Vielmehr werben wir, vom realistischen Standpunkte unserer monistischen Natur­ philosophie ausgehend, in der jetzigen Weltkatastrophe einen jener großen Wendepunkte der menschlichen Geschichte erkennen, an welchem unter der vereinten Wucht gewaltiger Fortschritte und tief einschneidender Zufälle neue Gestaltungen des Völkerlebens aus dem Schutte der zusammenstürzenden „Guten alten Zeit" sich erheben. Die unvergleichlichen Fortschritte bet Wissenschaft, vor allem der tieferen Naturerkenntnis im letzten Jahr­ hundert, haben der blinden ober nur im Nebel tastenden Mensch­ heit die Augen geöffnet und ihr in klarem Sonnenlichte den wahren Wert des Erbenlebens gezeigt; sie haben die Verderblich-

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Lwiskeir unv Lntwicklung-iehre.

keit des geheiligten Aberglaubens und der dadurch gestützten Un­ vernunft nachgewiesen: sie haben uns überzeugt, datz nm dmch Vernunft und Wifsenfchast (— „des Menschen allerhöchste Kraft"! —) die Wahrheit erkannt und die höhere Kultm gesördert werden kann. Unter diesen segenbringenden Früchten der Wissenschaft sicht obenan das allbcherrfchende Substanz­ gesetz, die Erkenntnis von der Unzerstörbarkeit von Materie, Energie und Psychom; und mit ihm verknüpft sich unmittelbar das allgemeine Gesetz der beständigen Metamorphofedes Kosmos, die Erkenntnis von der Vergänglichkeit alles Indi­ viduellen. Das ganze Universum besteht in Ewigkeit; aber nicht in ewiger Ruhe, sondern in ewiger Bewegung, in ununter­ brochenem „Werden und Vergehen". „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen." Ein anderer Ausdruck dasür ist unser Satz: „Universum perpetuum mobile“ (1899). Eine unerschöpfliche Fundgrube edelsten Genusies bietet für den denkenden Kulturmenschen das Schauen und Erkennen der unzähligen Wunder dieses ewigen Lebensprozesies, und den sicheren Weg dazu findet er in unserer modernen Ent­ wicklungslehre.

Jena, am 20. Oktober 1915.