Ewigkeit: Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre [10. Tsd., Reprint 2021 ed.] 9783112441060, 9783112441053

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Ewigkeit: Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre [10. Tsd., Reprint 2021 ed.]
 9783112441060, 9783112441053

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Ewigkeit

„Die Natur schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war

«och nie; was da war, kommt nicht wieder.

Alles ist neu, und

doch immer das Alte.

„5k scheint Alles auf Individualität angelegt zu daben, und

macht sich Nichts aus den Individuen.

5k baut immer, und

zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. „Ls ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr;

und doch ruckt sie nicht weiter. ft kein Moment 5tillstehn in ihr.

5k verwandelt sich ewig und 5k ist fest; ihr Tritt ist ge­

messen, ihre Gesetze unwandelbar.

„Alles ift immerdar in ihr,

kennt sie nicht.

Vergangenheit und Zukunft

Gegenwart ist ihre Ewigkeit." (Goethe, Die Natur, 1780.)

Ewigkeit Wellkriegsgedanken über Leben und Tod,

Religion und Entwicklungslehre

von Ernst Haeckel.

)0. Tausend

Berlin und Leipzig Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter L Co. tocmak G. 3. GSschen'sche Verlagshandlung - I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Kail 3« Trübner - Veit L Lomp.

)9)9

en Reinertrag dieser Schrift bestimmt der Ver­ fasser für die Unterstützung der Hinterbliebenen der deutschen Krieger, welche Zarniliengliick

der

Rettung

ihr Leben und ihr

des Vaterlandes und

der Erhaltung des Völkerrechtes geopfert haben.

Inhalt. Erstes Kapitel: Weltkrieg und Naturgesetz. Seite

A. Wert der Aatnrgesetze . ...............................................................................11 Einheit des Weltalls....................................................................................12 B. Ewigkeit und LubstaiqgHetz.................... , . . . ............................... 13 Ewigkeit der Materie...............................................................................14 Ewigkeit der Energie.............................. *................................................ 15 Ewigkeit des Psgchoms.............................................................................. 17 Ewigkeit der Menschenseele....................................................................18 Ewigkeit des Geistes................................................................................... 19 Ewigkeit und Vergänglichkeit. ...................................................................21 Anfang und Ende der Welt.....................................................................22 c. Weltgesetz und Zufall........................................................................................ L3

Zufall Zufall Zufall Zufall Zufall

im im im im im

persönlichen Leben.................................................................... 24 Weltkriege....................................................................................26 organischen Leben................................................................t 27 anorgischen Leben.................................. 28 kosmischen Leben................................................................ .30

D. Weltkrieg und Vorsehung.................................................................... ..31

E. Wert des Menschenlebens .............................................................................. 33 Überschätzung des Menschenlebens...........................................................33 Unterschätzung des Menschenlebens...........................................................35 Sinn des Menschenlebens......................................................................... 36 F. Leben und Tod........................................................... 38 Freitod und Selbsterlösung ................ 39 Urzeugung (Archigonie). *................................................................ .40 Todesfurcht.................................................................................................. 42

Seite

Zweites Kapitel: Weltkrieg »ad Religwa. A. Wert der Religion........................................................................................ 44 B. Theoretische und praktische Religion (Weltanschauung und Lebens­ führung. — Kosmologie und Ethik)...................................................... 45

C. Monistische Religion........................

47

D. Dualistische Religion........................................................................................ 48 Allgott und Schulgott (Pantheos undOntheos).................................49 Weltkrieg und Wissenschaft.....................................................................51 Weltkrieg und Glaubenssätze..................................................................... 52

E. Religion und Konfession....................................................................................53 Weltkrieg und Ehristenglauben................................................................ 54 Weltkrieg und Ehristensitte.....................................................................36 Deutsches Ehristentum (Reformation)...................................................... 57 Englisches Ehristentum (Panbritismus)................................................. 58 Eolombanisches Ehristentum (Dollarismus)....................................... .59 F. Der heilige Krieg............................................................................................. 61 Monistische Sittenlehre...............................................................................62

Drittes Kapitel: Weltkrieg uud Kardiualfrage. A. Wert des Kardiualproblems

.......................................................................... 65

B. Urkunden der Primaten-Abstammung. . . . . .............................. 66 Anatomische Urkunden ................................................................. . 67 Histologische Urkunden ............................................................................... 69 Physiologische Urkunden. ...................................................................... 70 Embryologische Urkunden................................................................ . . 71 Paläontologische Urkunden. ................................................................ .73 Anthropologische Grundlage..................................................................... 75 C Zoologischer Unterbau............................................. '................................... 76 Einheit des Wirbeltierstammes . .'...................................................... 77 Klassen des Wirbeltierstammes................................................................ 79 Geschichte des Wirbeltierstammes...........................................................SO Stammesgeschichte der Primaten................................................................81 Wirbellose Ahnen des Menschen................................................................ 82 D. Naturmensch und Kulturmensch......................................................

84

E. Menschenrasse« im Weltkrieg.......................................................................... 85

beite

Viertes Kapitel: Weltkrieg und Entwicklungslehre. A. Wert der Entwicklungslehre......................................................................... 87 Entwicklungslehre und Lchöpfungsglaube (Genetik und Kreatismus) SS Stetige und sprungweise Entwicklung (Evolutio continuata et saltuata).................................................................................................. 89 Zortschritt und Rückschritt (Progressive und Regressive Entwicklung) 91 Entwicklung im Völkerleben . . . ..................................................... 92

93 Lntwicklungsmechanik.................................................................................... 95 Universale Entwicklungslehre............................................ 96 Geschichte der Entwicklungslehre...................................................... .98

B. Biogenetisches Grundgesetz..................................

C. Entwicklungslehre und Soziologie...................................................................99 Gesellung und Gesittung (Assozionund Moral)................................... 100 Gravitation und Affinität (Massenanziehung und Wahlverwandt­ schaft) ..................................................................... 102 Zellular-Loziologie.......................................................................................103 Zellulare und histonale Ethik................................................................... 104 Wirbeltiere und Gliedertlere................................................................... 106 Organisation und Militarismus...............................................................108

D. Entwicklungslehre und Politik................................................................... 109 Deutschland und England . .............................. 111 Die Blutschuld am Weltkriege...............................................................112 Englands Weltherrschaft........................................................................ 113 Englands Größenwahn............................................. :...........................115 Englands Seeräuberei............................................................................. 116 Englands Barbarei .................................................................................. 117 .............................. . . . . . 118 Zriedenshoffnungen ...................................................................................120 Deutsches Reuland............................. 121 Deutsches Kolonialland ..............................................................................123 Leefreiheit. ................................................................................................. 124 Denkfreiheit...................................................... 125 Ernte des Weltkrieges............................................................................. 127

E. Zukunftsbild der Entwicklungslehre

Vorbemerkung. Diejenigen früheren populären Schriften des Verfassers, auf welche hi

de» vorliegenden „Weltkriegsgedanken" mehrfach hingewiesen ist, und in denen auch bezügliche weitere Literatur genannt ist, sind folgende:

L Generelle Morphologie der Organismen.

Berlin 1866.

(Neudruck

eines Teils: „Prinzipien" 1906.)

2. Natürliche

Schöpfungsgeschichte.

über Entwicklungslehre.

3. Authropogeuie;

Gemeinverständliche

Berlin 1868.

(Elfte Auflage.

Vorträge

1908.)

Entwickelungsgeschichte des Menschen.

I. Tell:

Keimesgeschichte. II. Teil: Stammesgeschichte. Leipzig 1874. (Sechste

Auflage 1910.) 4. Gemeinverständliche Vorträge über Entwickelungslehre.

(Zweite

Auflage, Bonn 1902.)

5. Die Wellrätsel.

Monistische Philosophie.

Leipzig 1899.

(Volks­

ausgabe, 310. Taüsend.)

6 Die Lebeuswunder. Biologische Philosophie. Leipzig 1904. (Volks­ ausgabe 1908.)

7. Monistische Bausteine.

(Brackwede 1914.)

8. Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Altenburg 1892, 15. Auflage.

9

Leipzig 1912.

Das Meuscheuproblem und die Herrentiere von Linn6.

Zrank--

furt a. M. 1907.

10. Gott-Aatur.

Studien über Monistische Religion.

Leipzig 1914.

Vorwort. Seit fünfzehn Monaten erleben wir ein Trauerspiel von beispielloser Größe und Furchtbarkeit. Der „Weltkrieg" oder „Völkerkrieg", welcher Anfang August 1914 ausbrach und zu­ nächst halb Europa in ein blutiges Schlachtfeld verwandelte, hat bald eine solche Ausdehnung über den ganzen Erdball erreicht, daß jedes Kulturvolk direkt oder indirekt in Mitleidenschaft ge­ zogen wurde. Millionen von Menschen sind diesem entsetzlichen Völkerschlachten bereits zum Opfer gefallen und Milliarden von Werten aller Art sind von ihm verschlungen worden. Alle Güter der höheren Kultur, welche die Menschheit in mühsamer Arbeit seit Jahrtausenden errungen hat, erscheinen gefährdet, und die entfesselten Leidenschaften der gegenseitig sich zerfleischenden Na­ tionen drohen mit dem Rückfall in die Barbarei der Vorzeit. Die unerhörte Verwicklung aller sozialen Beziehungen und aller internationalen Verhältniße, welche die notwendigen Folgen dieses „Großen Krieges" find, überhäuft uns täglich mit neuen Sorgen und legt uns immer neue gewichtige Fragen vor. Keine von diesen trifft aber fo tief und so unmittelbar unser Ge­ müt, wie der jähe Wechsel von Leben und Tod; müssen wir doch täglich in dm Zeitungen die lange Liste von hoffnungsvollen Jünglingen und von treusorgenden Familienvätern lesen, welche in der Blüte der Jahre ihr Leben dem Vaterlande zum Opfer gebracht haben. Da erheben sich tausendfach die Fragen nach dem Wert und Sinn unseres menschlichen Lebens, nach der Ewig­ keit des Daseins und der Unsterblichkeit der Seele. Die Ant­ worten darauf werden von den einen in der Religion, von den

anderen in der Wissenschaft gesucht. Je nachdem man diese höchsten Gebiete unseres f menschlichen Geisteslebens von mo­ nistischem oder von dualistischem Standpunkte aus beurteilt, lauten die Antworten sehr verschieden. Als alter Lehrer der Naturwissenschaft, der seit einem halben Jahrhundert sich gewöhnt hat, alle Erscheinungen nach dem Maßstabe der modernen Entwicklungslehre zu beurteilen, habe ich ver­ sucht, auch den gegenwärtigen „Weltkrieg" — den gewaltigsten und gewaltsamsten aller bisher erlebten Kriege — nach den Ge­ setzen der natürlichen Entwicklung zu erklären. Als die wichtigste Folgerung derselben steht obenan das Kardinalproblem, die Frage von der Primaten-Abstammung des Menschen. Vom Standpunkte meiner Fachwissenschaft, der vergleichenden Zoologie aus, betrachte ich diese „Frage aller Fragen" als definitiv gelöst und finde darin zugleich den sicheren Weg zur monistischen Auffasiung aller Naturgesetze, und zur richtigen Beurteilung der „Ewigkeit". Die unmittelbare Veranlastung zur Veröffentlichung dieser Anschauungen, die ich in früheren naturphilosophischen Schriften ausführlicher begründet habe, gaben mir sehr zahlreiche Briefe, welche im Laufe des letzten Jahres von vielen verschiedenen Sei­ ten an mich gelangt sind, besonders von früheren Schülern und von Gesinnungsgenossen, die noch täglich als aktive Soldaten die ungeheuren Schrecknisie des Weltkrieges persönlich erleben, oder die als Verwundete in den Lazaretten dessen grauenhafte Folgen zu tragen haben. Mögen sie in diesen „Weltkriegs-Gedanken" beftiedigende Antwort auf ihre Fragen finden und jenen Trost, den unser vernunftgemäßer „Monismus als Band zwischen Re­ ligion und Wissenschaft" gewährt.

I e n a, am 20. Oktober 1815. Ernst Haeckel.

Erstes Kapitel.

Weltkrieg und Naturgesetz. A. Wert der Naturgesetze. Die fundamentale Bedeutung, welche unsere moderne Kultur der Naturwissenschaft zuschreibt, beruht darauf, daß diese die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in ihrem ein­ heitlichen Zusammenhang erkennt und aus bestimmte Naturgesetze zurückführt. Die Erkenntnis dieser Gesetze enthüllt uns die llrsachen der von uns wahrgenommenen Tatsachen. Das allgemeinste Gesetz ist demnach das der Kausalität, des allgültigen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Diese „Ursächlichkeit" ist der formelle Ausdruck für das materielle „Substanzgesetz", das alles Geschehen und Sein im Weltall beherrscht. Die wahren Ursachen, welche allen Dingen zugrunde liegen, sind mechanische Werkursachen (Causae efficientes), nicht bewußte Zweckursachen (Causae finales); diese letzteren kommen nur in einem Teile des organischen Lebens zur Geltung und sind auf die ersteren zurückzuführen. Die all­ gemeinsten Naturgesetze (in der Physik z. B. Gravitation, in der Chemie Wahlverwandtschaft der Körper) sind absolut und gelten für das ganze Weltall. Die moderne Astronomie (be­ sonders Astrophysik, Spektralanalyse) hat uns überzeugt, daß diese universalen Weltgesetze ebenso in den weitesten Entfernun­ gen der Himmelskörper unbedingte Geltung besitzen, wie in dem

beschränkten Planetenbereiche unserer Erde. Wir müssen ihnen auch Ewigkeit zuschreiben; denn alle Vorgänge in der Ge­ schichte des Universums, in der Entwicklung der Himmelskörper ebenso wie in der der irdischen Organismen, sind durch dieselben Gesetze bedingt. Diese konstanten Naturgesetze sind also ganz verschieden von den veränderlichen Staatsgesetzen, welche in der menschlichen Gesellschaft den einzelnen Mitgliedern vorschreiben, wie sie handeln sollen (Sittengesetze, Religions­ gesetze, Sozialgesetze usw.). Diese letzteren werden von Gesetz­ gebern geschaffen, die ersteren nicht. Der hohe allgemeine Wert der richtig erkannten und verstandenen Naturgesetze beruht auf der logischen Sicherheit, welche das „Kausalitätsbedürfnis" unserer menschlichen Vernunft befriedigt und somit die monistische Wissenschaft wirklich begründet. Einheit des Weltalls (Monismus des Kosmos). Allen Betrachtungen über das Weltall und die darin waltenden Naturgesetze mutz die klare Erkenntnis vorangehen, daß der Kosmos oder das Universum ein einziges allumfassendes Ganzes ist, und daß dieser Begriff der „Welt" (— im weitesten Sinne! —) mit demjenigen der „Natu r" oder „Physi s" zusammenfällt. Wir gehen bei unseren nachstehenden Bettach­ tungen von der monistischen Überzeugung aus, daß die Natur (— im weitesten Sinne! —) Alles umfaßt, was wir er­ fahrungsmäßig erkennen, und worüber wir uns mit unserer menschlichen Vernunft Gedanken machen können. Damit schlie­ ßen wir von unserer wisienschaftlichen Betrachtung alles so­ genannte „übernatürliche" aus, insbesondere jede so­ genannte „Geisterwelt". Die zahlreichen und mannigfaltigen Sagen von Geistern, oder von „höheren über der Natur stehen­ den Mächten", die seit Jahrtausenden in den überlieferten Mythen und Religionen der Völker eine so große Rolle spielen, gehören sämtlich dem Phantasiereiche der Dichtung an. Ebenso ist auch die jenseitige „Idealwelt", welche die dualistische Philo­ sophie unserer diesseitigen „Realwelt" gegenüberstellt, em

Produkt der metaphysischen Spekulation,-welches sich dem ernsten wistenschastlichen Verständnis entzieht. Die Gegenüberstellung unseres wirklichen irdischen „Diesseits" und eines erdachten überirdischen „Jenseits" beruht aus uralten mystischen Vor­ stellungen, welchen keine einzige sichere Erfahrung zugrunde liegt.

B. Ewigkeit und 5ubstan;gesetz. Als oberstes und allgemeinstes Naturgesetz, dem sich alle anderen untervrdnen, betrachtet unsere monistische Naturphilo­ sophie das „S u b st a n z g e s e tz". Es hat Unbedingte Geltung in Raum und Zeit, und somit auch Anspruch aus Ewigkeit. Ich habe dieses allumsastende „Kosmologische Grund­ gesetz" im zwölften Kapitel der „Welträtsel" eingehend er­ läutert und besonders betont, daß darin zwei verschiedene Gesetze einheitlich zusammengesaßt werden: das ältere Gesetz von der „Erhaltung des Stoffes" (— oder „Konstanz der Materie" —), welches der französische Chemiker Lavoisier bereits 1789 begründet hatte, und das 53 Jahre jüngere Gesetz von der „Erhaltung der Kraft" (— oder „Konstanz der Energie" —), das 1842 der deutsche Arzt Robert Mayer in Heilbronn aufgestellt hatte. Nun sind jetzt zwar beide Gesetze in ihrer grundlegenden und universalen Bedeutung allgemein anerkannt, und in der Chemie gilt die „Erhaltung der Materie", m der Physik die „Erhaltung der Energie" als selbstverständlich. Indesten wird der notwendige Zusammenhang beider Gesetze immer noch von namhaften Seiten bestritten. Das hängt davon ab, ob man überhaupt in monistischem Sinne Kraft und Stoff für untrennbar hält und sie in dem einheitlichen Substanz­ begriff von Spinoza vereinigt; oder ob man nach dualistischem Prinzip einen Teil der Kräfte (die „Geisteskräfte") für über­ natürlich und vom Stoffe unabhängig erklärt. Diese Frage der Einheit von Materie und Energie (Grundprinzip der „Identitätsphilvsvphie") ist von fundamentaler Bedeutung;

sie wird von den konsequenten Monisten ebenso unbedingt bejaht, wie von den Dualisten verneint *). Ewigkeit der Materie (Unzerstörbarkeit des Stoffes — Universa materia perpetua. — Grundgesetz der Chemie). Das materialistische Prinzip unseres Monismus, die allgemeine Konstanz der Materie, beruht auf der Überzeugung, daß bei allen Erscheinungen (auch der so­ genannten „Geistestätigkeit") der den Raum erfüllende Stoff das unentbehrliche materielle Substrat bildet. Wesentlich-sür diese Auffastung ist eine klare Begriffsbestimmung der Materie und zwar dahin, daß ihr Hauptmerkmal die Ausdehnung (Extensio) bildet, und die damit verknüpfte vollkommene Raumerfüllung. Dabei können wir uns den universalen Raum oder Weltraum (das Ausgedehnte nach allen drei Dimensionen, nach Länge, Breite und Höhe) nur unbegrenzt denken, wenn wir quch nicht fähig sind, uns diese „Unendlichkeit des Raumes" sinnlich klar vorzustellen. Schon vor 2400 Jahren hat in diesem Sinne der große Anaximander von Milet (einer der ältesten und weitschauendsten griechischen Naturphilosophen) *) 1. Die Angriffe der dualistischen Philosophie gegen das Substanz­ gesetz habe ich in dem Aufsatze über „Monismus und Naturgesetz" (1906) widerlegt, der im ersten Bande meiner „Monistischen Bausteine" abgedruckt ist (1914, S. 51—105). In demselben Bande ist auch (S. 147 bis 157) die Erweiterung des Substanzbegriffs wiedergegeben, die ich 1912 in meiner Magdeburger Adresse vorgeschlagen hatte („Energetik und Substanzgesetz^OHiernach ist als ein drittes allgemeines Attribut aller Substanz (— neben „Kraft und Stoff" —) die Empfindung zu be­ trachten. DaS allgemeine „Erhaltungsgesetz" (oder Konstanz-Prinzip) ist dann dahin zu erweitern, daß die universale Erhaltung der Weltseele (— Konstanz des Psykhom") neben die Erhaltung von „Stoff und Äroft" tritt. Eine einfache Übersicht über diese „Trinität der Sub­ stanz" gibt die HL Synoptische Tabelle meiner Schrift „Gott-Natur^ (1914, S. 66). Zn der gegenüberstehenden Tabelle sind die „Drei Grund­ richtungen der Substanzlehre" neben einander gesetzt (L Weltstoff — Materie, IL Weltkraft — Energie, in. Weltseele — Psychom).

das Unbegrenzte (Apeiron) als den einheitlichen Urgrund aller Dinge angenommen und alle Erscheinungen daraus durch be­ ständigen Wechsel von zwei Zuständen abgeleitet. Früher nahmen die Physiker meistens an, daß der größte Teil des Weltraumes leer sei, und daß die sinnlich wahrnehmbaren und wägbaren Körper, in demselben schwebend, durch „Fernwirkung" auseinander einwirkten. Diese Auffassung ist jetzt größtenteils verlaßen, seit­ dem wir durch die neueren Fortschritte der Elektrik (— besonders seit den Forschungen von Heinrich Hertz 1888 —) die fundamen­ tale Bedeutung der Elektrizität und des Weltäthers als deren substanziellen Träger kennen gelernt haben. Seitdem nehmen die meisten Physiker an, daß der weitaus größte Teil des Welt­ raumes durch diesen Äther (= Lichtäther oder Weltäther) ausgesüllt, und daß dieser äußerst feine Stoff nicht wägbar (imponderabel) ist. Der übrige Teil des Raumes wird durch die schwere Masse erfüllt, die ponderable Materie. Diese ist aus diskreten kleinen Teilchen zusammengesetzt, den Molekülen, und diese wiederum aus kleinsten gleichartigen (chemisch nicht weiter zerlegbaren) Partikelchen, den Atomen. Viele moderne Physiker nehmen auch für den imponderablen Äther ebenso eine atomistische Struktur an, wie für die ponderable Maste; andere glauben (mit mehr Wahrscheinlichkeit), daß der Weltäther kon­ tinuierlich, nicht aus Atomen zusammengesetzt ist, und daß er nicht nur den sogenannten „leeren Raum" (das Vakuum), sondern auch alle Zwischenräume zwischen den Atomen und Mole­ külen ausfüllt, über diese wichtigen Beziehungen des Welt­ äthers zur Weltmaste, namentlich hinsichtlich des Verhaltens beider Urmaterien zur Elektrizität (die Natur der „Elektronen" usw.), gehen die Ansichten der Physiker heute noch weit aus­ einander. (Vgl. Kap. 12 der „Welträtsel".) Ewigkeit der Energie. (Unzerstörbarkeit der Kraft — Universum perpetuum mobile. — Grundgesetz der Energetik.) Das dynamische oder energetische Prinzip unseres Monismus, die allgemeine Konstanz der Energie, be-

gründet die Annahme, daß alle Erscheinungen im Weltall sich auf Wirkungen eines und desselben Substanz-Attributes zurück­ führen lassen, einer allgemeinen W e l t k r a f t (— Energie oder Dynamis, früher nach den alltäglichen Erfahrungen unserer eigenen Muskeltätigkeit schlechtweg als Kraft bezeichnet). Diese Energie tritt in zwei verschiedenen Urzuständen auf, die überall miteinander abwechsÄn: als Spannkraft in Ruhe, als Triebkraft in Bewegung. Die Spannkraft oder die „Energie der Lage" bedingt die Arbeitsfähigkeit aller Substanz und wird in der modernen Physik jetzt gewöhnlich als „Potentielle Energie" bezeichnet. Die Triebkraft hingegen oder die „Energie der Bewegung" bewirkt die Arbeits­ leistung jeder Substanz und wird jener potentiellen als „Aktuelle Energie" gegenübergestellt; sie wird auch in der Physik der Anorgane — ebenso wie in der Physiologie der Organismen — als lebendige Kraft bezeichnet (im Gegensatz zur „ruhen­ den Kraft"). Dieser Ausdruck ist deshalb von allgemeiner Be­ deutung, weil damit die prinzipielle Einheit der anorganischen und organischen Natur auch mit Bezug auf den universalen Be­ griff des „Leben s" anerkannt wird. Alle Körper, alle raum­ erfüllenden Dinge erscheinen „lebendig", wenn sie sich bewegen; dagegen „leblos" im Ruhezustand. Wenn aber im beständigen Wechsel beider Zustände der eine in den anderen übergeht, so bleibt trotzdem die Quantität der Energie im ganzen unverändert. Da nun das Weltall unendlich groß ist, so mutz auch die ihm innewohnende Kraft als ewig fortwirkend gedacht werden. Die neuesten Fortschritte der Physik (namentlich der Elektrik und der Astronomie) machen es sehr wahrscheinlich, daß das Universum als Ganzes niemals in absoluter Ruhe, sondern stets in relativer Bewegung ist. (Kreislauf der Gestirne, Molekularbewegung usw.) Während ein Teil der Substanz seine „Spannkraft" in Ruhe erhält, wirkt der andere Teil als „Triebkraft" auf seine Umgebung ein. Immer aber bleibt im ganzen das llniversalgesetz von der „Ewigkeit der Energie" bestehen.

Ewigkeit des Psychoms. (Unzerstörbarkeit der Weltseele — Universa anima perpetua. — Grund­ gesetz der Psychomatik.) Das psychistische Prinzip unseres Monismus, die allgemeine Konstanz der Weltseele, beruht aus der Annahme, datz alle Erscheinungen im Welt­ leben — ebenso in der anorganischen wie in der organischen Natur — mit einem gewissen inneren Gefühle oder einer Art Empfindung verknüpft sind, welche eine (unbewußte) Wahr­ nehmung der Substanzteile für ihre Umgebung, für die „Außen­ welt" vermittelt. Diese „Beseelung" aller Materie" offenbart sich uns am deutlichsten in dem Fundamentalgesetze der Chemie, das als „Wahlverwandtschast oder Affinität" bezeichnet wird. Wenn zwei verschiedene Elemente A und B sich gegen­ seitig anziehen und verbinden, während sie sich gegen ein drittes C ganz gleichgültig verhalten, so ist diese Erscheinung nur durch eine Unterscheidung der verschiedenen Qualitäten von A, B und C zu erklären. Schon vor 2400 Jahren führte Empedokles von Agrigent die ganze Mannigfaltigkeit der Erscheinun­ gen auf „Liebe und Haß der Elemente" zurück, auf vielfältigste Mischung und Trennung der qualitativ verschiedenen llrstofse. Die Empfindung oder Fühlung (Ästhesis), welche bei der Be­ rührung von A und B ein Lustgefühl — Positiver Tro­ pismus — erzeugt, hingegen bei der Berührung von A und C ein Unlustgefühl — Negativer Tropismus —, bewirkt im ersteren Falle Anziehung oder Neigung (Attraktion), im letz­ teren Falle Widerstand oder Abstoßung (Repulsion). Die­ selbe Empfindung zeigt sich bei der Kristallisation, wenn die aus einer gesättigten Lösung sich ausscheidenden Kristalle nur an einen hineingestellten Kristall derselben Verbindung sich an­ setzen, nicht an andere. Wie der Körper bei der chemischen Affinität durch die Empfindung der Q u a l i t ä t der berührenden Maste angezogen wird, so geschieht dasselbe bei der Schwerkraft oder Gravitation anscheinend durch das Gefühl der O u a n t i t ä i der anziehenden Maste. -fravifel, E'.' tclelt

Ewigkeit der Menschenseele. — (Unsterblichkeit der menschlichen Person.) „Ich glaube an den heiligen Geist, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben." Dieses in­ haltreiche Glaubensbekenntnis bekräftigt der Reformator Martin Luther im dritten Artikel seines Katechismus mit der feierlichen hebräischen Schlußformel: „Amen" und erklärt es genauer mit folgenden Worten: „Ich glaube, daß am jüngsten Tage der heilige Geist mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird; das ist ge­ wißlich wahr." — Bekanntlich spielt dieser mystische Glaubens­ artikel heute noch wie seit fast zwei Jahrtausenden die größte Rolle tut Vorstellungsleben der niederen und höheren Gesellschafts­ kreise. Gerade jetzt, wo in dem erbarmungslosen Weltkriege tag­ täglich Millionen von Menschen dem Todeslos ins Auge schauen müssen, drängt sich ihnen beständig die Frage auf: ob mit ihrem leiblichen Tode auch ihre persönliche Seele vernichtet wird — oder ob, wie die Kirche und die dualistische Philosophie behauptet, die „Seele" ein unsterbliches immaterielles Wesen ist, welches nach der Zerstörung des Leibes ewig fortlebt? Ich habe dieses weitverbreitete (oft als höchstes Gut des Christenglaubens be­ trachtete!) Dogma des „Athanismüs" im 11. Kapitel der „Welträtsel" ausführlich kritisch beleuchtet und als die unzer­ störbare „Zitadelle des Aberglaubens" bezeichnet. Dort ist nachgewiesen, daß dasselbe ganz und gar dem uferlosen Gebiete der religiösen Dichtung angehört. Die moderne Wisienschaft und deren sicherstes Fundament, die Entwicklungs­ lehre, kann die Wahrheit dieses mysteriösen Glaubensartikels nicht anerkennen. Die Physiologie, die das Leben selbst zum Gegen­ stände ihrer Erkenntnis hat, widerlegt den llnsterblichkeitsglauben ebenso bestimmt wie die vergleichende Psychologie des Menschen und der anderen Wirbeltiere; ebenso wie die Entwicklungs­ geschichte des Gehirns und seiner Funktionen. Die immaterielle Seele bleibt immer nur eine Funktion ihres Organs, die Arbeits­ leistung des materiellen Gehirns. Die reine Vernunft kann sich

eine ewige Fortdauer derselben unmöglich vorstellen. Wenn trotzdem der Glaube daran in weiten Kreisen noch heute fort­ besteht, so erklärt sich das einerseits durch die Macht der Tra­ dition und des geheiligten Kirchenglaubens, anderseits durch den Trost, den dieser athanistische Glaube dem bedrängten mensch­ lichen Gemüt wirklich gewähren kann — und ganz besonders durch die Hoffnung aus ein besseres „Leben nach dem Tode"; aus ein Wiedersehen der lieben Verwandten und Freunde, deren Gesellschaft wir in diesem „irdischen Iammertale" genoffen haben. Leider ist nur dieser hochgeschätzte Unsterblichkeitsglaube ein schöner Traum, ein leeres Versprechen, ohne jede Ga­ rantie seiner Erfüllung; noch niemals ist irgendein Ersahrungs-Beweis für den Athanismus geliefert worden. Ewigkeit des Geistes. Der Begriff des „Geistes" teilt mit vielen anderen allgemeinen Begriffen (Welt, Seele, Leben, Gott usw.) das schlimme Schicksal der Vieldeutigkeit. Je nach dem herrschenden Sprachgebrauch, nach der geltenden Schultradition und nach dem Bildungsgrade des Menschen ver­ knüpft er mit dem Begriffe Geist die verschiedensten Vorstellun­ gen. Im 14. Kapitel der „Lebenswunder" habe ich die wichtig­ sten Probleme des Geisteslebens vom monistischen Stand­ punkte der modernen Physiologie und Entwicklungslehre aus be­ trachtet. Mit Beziehung auf unser Problem der Ewigkeit sind folgende Auffaffungen wohl zu unterscheiden: I. Als Welt­ geist betrachtet, oder als oberstes einheitliches „geistiges Prin­ zip" aller Erscheinungen — oder auch „Geist in der Natur" ge­ nannt — fällt dieser Begriff zusammen mit dem Begriffe der Energie und des P s y ch o m s; er umfaßt diese beiden „Attri­ bute der Substanz" („die Welt als Wille und Vorstellung", Schopenhauer; — „die Welt als Entwicklung des Geistes", Noirä; — „die Welt als Gedanke Gottes", viele Mystiker). Wie die Substanz selbst, müffen wir auch deren Attribute, Energie und Psychom, als ewig betrachten. II. Der Gvttesgeist, als ge­ meinsamer Urgrund der ganzen Welt betrachtet, erscheint in ver-

schiedenem Lichte je nach der philosophischen Vorstellung von „Gott" überhaupt. Der monistische Pantheismus, nach dem die Begriffe von Gott und Welt zusammenfallen (Spinoza, Giordano Bruno, Goethe), muß die Ewigkeit des göttlichen Geistes annehmen. Auch der Ontheismus, welcher an einen un­ abhängigen Personalgott über der von ihm geschaffenen und re­ gierten Welt glaubt, nimmt für diesen Schulgott die Ewigkeit in Anspruch, für die Welt dagegen nicht. III. Der sogenannte „Heilige Geist", der nach dem Dogma des christlichen Triplvtheismus (der widerspruchsvollen „Dreigötterei") die dritte Person des „Dreieinigen Gottes" darstellt, wird von der Trini­ tätslehre gewöhnlich als ewig gedacht; dabei läßt es aber das Evangelium zweifelhaft, ob Christus (die zweite Person) vom heiligen Geist oder vom „Gott-Vater" (der ersten Person) aus der „unbefleckten Iungftau Maria" erzeugt worden ist. Gewöhnlich werden alle drei Personen als „ewig" vvrgestellt, obwohl Jesus erst 1915 Jahre vor der Gegenwart durch unbefleckte Empfängnis seine individuelle Existenz erhalten haben soll. Die materielle Verkörperung des mysteriösen „Heiligen Geistes" (in Gestalt einer Taube, wie sie oft schon in alten christlichen Bildwerken aufiritt) erinnert nach der vergleichenden Mythologie an die analoge antik-griechische Sage von Leda mit dem.Schwa«. IV. Der Menschengei st ist nach der wissenschaftlichen Auftastung des Monismus entweder gleichbedeutend mit mensch­ licher Seele, oder er wird vielmehr als ein besonderer, höherer Teil der Seelentätigkeit angesehen; in beiden Fällen ist er eine Funktion des P h r v n e m a, des Denkvrgans in unserem Gehirn; also geht er bei besten Zerstörung im Tode zugrunde. V. Dagegen ist der menschliche Geist nach der mysti­ schen Ansicht des Dualismus und der Metaphysik ein besonderes übernatürliches Wesen, welches auch nach dem Tode des Menschen ewig fortlebt. (Wie? Wo?) Der Spiritismus und Okkultismus, sowie die Geisterseherei (pathologische Phantasie­ gebilde) fasten die Ewigkeit der „Geister" sehr verschieden auf.

VI. Die GeisterderToten, welche die dichtende Phantasie der Naturvölker seit alter Zeit in mannigfachster Form nach dem Tode fvrtleben läßt, werden ebenfalls meistens als „ewig" vor­ gestellt; in vielen Sagen können sie aber später auch noch „zur ewigen Ruhe" eingehen, also verschwinden. . Ewigkeit und Vergänglichkeit. In scheinbarem Widerspruch Mr Allgeltung des Substanzgesetzes, zur Ewigkeit des Universum, steht das große Naturgesetz von der Vergänglichkeit aller Einzeldinge, von der beschränkten Zeitdauer alles Individuellen. Dieser Gegensatz beruht darauf, daß alle einzel­ nen Formen in der Zeit wie im Raume begrenzt und von der Außenwelt oder „Umwelt" abhängig sind. Das ganze Weltgeschchen ist ein ewiges „Werden und Vergehen". Fedes Individuum, jede einzelne Form der Substanz, nimmt nur einen Teil des unendlichen Weltraums ein und existiert nur einen Bruchteil der ewigen Zeit. Es war daher falsch, daß Pytha­ goras und die von ihm gestiftete Schule der Pythagoräer die F o r m als das Wesen aller Dinge und die Z a h l als die wahre Substanz betrachtete. Die ganze Entwicklung beruht aber auf einem beständigen Wechsel der Form, einer Metamorphose der Individuen. — Die Zahlenreihe ist endlos; mögen wir sie noch so weit ins „Unendliche" fortsetzen, immer können wir noch weitere Einheiten der „letzten Zahl" hinzusetzen. — Ebenso ist die Zeit nur als grenzenlose Ewigkeit vorstellbar; wenn wir auch die Myriadenzahl der Iahrmilliarden noch so sehr ver­ größern, immer können wir ihnen noch weitere Jahre oder „Licht­ jahre" anreihm. — Gleicherweise ist auch der Raum unendlich groß; mögen wir ihn noch so sehr nach allen drei Dimensionen ausdehnen, nirgends finden wir eine Grenze; immer frag^r wir aufs neue: „Ist denn dahinter nicht auch ein „Raum"?" — gleich­ viel ob ein „leerer" oder ein mit Substanz gefüllter Raum. — Die Spekulationen der „höheren Mathematik" (der angeblich exaktesten Wisienschast!) haben uns freilich in neuester Zeit be­ lehrt, daß die Zeü nur dkevierteDimension des Raumes

sei; indessen sträubt sich der naive „gesunde Menschenverstand" gegen diese, aller Anschaulichkeit entbehrende Vorstellung ebenso, wie gegen die extremen Auswüchse der modernen, viel bewunder­ ten „Relativitätstheorie", die von anderen (z. B. Leo Gilbert) als „die neueste Modenarrheit der Physik" bezeichnet wird. Relativ in gewissem Sinne sind gewiß alle Verhältnisse in dieser unendlichen Welt, in welcher nur der Substanzbegriff das Absolute darstellt. Aber alle Einzeldinge, alle individuellen Erscheinungen sind nur vergängliche Teile der ewigen Substanz. Wenn viele neuere Physiker die Welt sich nur als ein „geschloffe­ nes System" vvrstellen können, so kommen wir zu der merk­ würdigen kugelrunden „Ballvnwelt" des russischen Physikers Ehwolson; meine Ansicht darüber habe ich in dem zweiten Artikel meiner „Monistischen Bausteine" ausgesprochen (1914, „Monismus und Naturgesetz"). Anfang und Ende der Welt. Die uralte und immer wieder­ kehrende Frage nach dem rätselhaften „Anfang" und dem ge­ fürchteten „Ende" der Welt verlangt vor allem die Klarstellung des mehrdeutigm „Weltbegriffs". Das Weltall („Univer­ sum“ — „Kosmos“) ist nach unserer Überzeugung ewig im weitestm Sinne; es hat weder Anfang noch Ende, sondern be­ steht in einem unendlichen, immer wieder in sich zurückkehrenden Kreislauf von Fvrmenwechsel, ein wirkliches („allumfassendes") kosmisches „Perpetuum mobile Universum“. Dagegen wird von vielen Physikern das schwierige Gesetz der Entropie und der damit verbundenen „Dissipation der Energie" geltend ge­ macht. Danach würde der ganze Kosmos nach einem endlichen Entwicklungslauf mit einem totalen Stillstände durch Wärmet o d enden. Dieser sogenannte „zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmethevrie" von Clausius steht in Widerspruch mit dem ersten Hauptsatze, dem „Energie-Prinzip" (gleich dem Substanz­ gesetze). Während nach dem ersten „die Energie des Weltalls konstant" ist, strebt dagegen nach dem zweiten Hauptsatz „die Entropie des Weltalls einem Maximum zu", dem „Wärmetod".

Wenn das richtig wäre, so müßte diesem angenommenen „Ende der Welt" auch ein Ansang derselben, mit einem „Minimum der Entropie" entsprechen. Dann müßte ein übernatürlicher „Schöpfe r" die Welt „im Anfang" aus Nichts geschaffen haben., Die absurden Folgerungen, die aus dieser Vorstellung sich ergeben, haben neuerdings den Widerspruch vieler Philo­ sophen gegen jene Annahme der universalen Entropie verstärkt; insbesondere wurde geltend gemacht, daß der „Strahlungsdruck" und andere (zum Teil noch nicht näher bekannte) kosmische Be­ ziehungen der Himmelskörper die nachteiligen Folgen der En­ tropie wieder aufhcben. Dagegen ist dieselbe sicher wirksam in dem Energiewechsel einzelner Teile des Kosmos. So nimmt man auch für unsere Erde (wie für andere Weltkörper) ein schließ­ liches Ende durch Wärmetod mit Recht an. Diese Hypothese ist ebenso wahrscheinlich, wie diejenige einer Entstehung der ein­ zelnen Weltkörper durch mechanische Ursachen. Wir kennen aber zurzeit die verwickelten Verhältnisse des ganzen Weltbaues und des Formenwechsels seiner individuellen Teile (trotz der erstaun­ lichen Fortschritte der Astrophysik und Kosmogonie) noch viel zu wenig, um sichere Anschauungen darüber zu gewinnen. Die wahr­ scheinlichste Hypothese nimmt einen „ewigen Kreislauf des Weltalls" an, mit einem periodischen Wechsel des Wer­ dens Und Vergehens der Millionen von einzelnen Sternen, wie chn noch kürzlich Zehnder eingehend geschildert hat. Ähnliche Vor­ stellungen hatten schon vor mehr als 2000 Jahren die bewunde­ rungswürdigen Ionischen Naturphilosophen (Anaximander und Anaximenes). (Vgl. Näheres im 13. Kapitel der „Welträtsel".)

C. Wellgesetz und «Zufall. Die alte Frage nach der Bedeutung des Zufalls wird uns durch die buntwechselnden Ereignisse des jetzigen Weltkrieges tag­ täglich nahegelegt; bei nüchterner, objektiver Betrachtung aller Verhältniße wird sie für denjenigen, der sich von mystischen Vor-

stellungen und anerzogenen Vorurteilen frei gemacht hat, in dem Sinne beantwortet, daß der Zufall die größte Rolle spielt. Wir verstehen dabei dm Begriff des Zufalls in dem Sinne, den ich am Schluffe des 14. Kapitels der „Welträtsel" erläutert habe; jede einzelne Erscheinung hat nach dem allgemeinen Kausalgesetz ihre mechanische Ursache; aber das Zusammentreffen von zwei oder mehreren Erscheinungen, die unter sich in keinem ursächlichen Zusammenhang standen, bewirkt neue Ereignisse, die wir nur als zufällig bezeichnen können. Schon im gewöhn­ lichen Alltagsleben kann sich jeder unbefangene Beobachter täg­ lich von der Macht des Zufalls überzeugen, die wir im guten Falle als „Glück", im schlimmen Falle als „Unglück" be­ zeichnen. Viel augenfälliger und drastischer tritt uns das jetzt fortwährend im Völkerkriege entgegen. Täglich fliegen Millionen von Schüssen aus Kanonen und Mörsern, Flinten und Maschinen­ gewehren durch die Lust und vernichten Tausende von jungen, blühenden Menschenleben; täglich leiden Tausende von Verwun­ deten in den Lazaretten und von Gefangenen in den Gefangenen­ lagern unter den schweren Geschicken des blinden Zufalls; täglich gehen Tausende von Menschen physisch oder moralisch an den zufälligen aber unvermeidlichen Folgen des gegenseitigen Völkermordens zugrunde. Wie kann man da noch glauben, daß ein liebender Allvater, eine weise Vorsehung, die Geschicke jedes ein­ zelnen Menschm in jedem Augenblick leitet? Zufall im persönlichen Leben. Die Schicksale jedes einzelnen Menschen unterliegen ebenso wie die Geschicke jedes anderen Tieres dem blinden Zufall von Anfang bis zu Ende, von der Wiege bis zum Grabe; überall sehen wir, daß die Abhängigkeit von tausend äußeren Ursachen, die Wechselbeziehung zu unzäh­ ligen Objekten der Außenwelt, die individuelle Entwicklung des Menschen bestimmen. Der blinde Zufall beginnt sein tolles Spiel schon in dem Augenblick, in welchem jede Person ihr indi­ viduelles Leben anfängt, in dem Momente der sexuellen „Emp­ fängnis"; da umschwärmen die Eizelle der Mutter, die aus

dem Eierstock ausgetreten und zur Befruchtung reif ist, Millionen winziger Spermazellen, welche in einem Tröpfchen Sperma des Vaters sich lebhaft umherbewegen. Nur einer einzigen von diesen Samenzellen gelingt es, in den Körper der kugeligen (dem unbe­ waffneten Auge kaum als Pünktchen sichtbaren) Eizelle einzu­ dringen. Die individuellen Unterschiede der Person sind aber schon durch Vererbung in der chemischen Zusammensetzung des Plasma der beiden kopulierenden Geschlechtszellen gegeben, welche die weitere Entwicklung des neu erzeugten Kindes bestim­ men. Nun ist allgemein bekannt, wie verschieden die körperlichen und seelischen Anlagen sind, welche alle von einem und demselben Elternpaar erzeugten Kinder besitzen (trotz gewisier gemeinsamer, von Eltern und Großeltern geerbter Familienzüge!). Unter zwölf Kindern eines und desselben Paares können zwei hervorragend begabt, drei oder vier mißraten und die anderen sieben oder sechs von mittleren Anlagen sein; das hängt allein von dem Zu­ fall ab, welche von den Millionen Spermazellen zuerst in die Eizelle eingedrungen ist, und welche von den tausend Eizellen des Eierstocks zuerst zur Befruchtung gelangt ist. Weiterhin weiß jeder denkende Mensch, wie seine körperliche und geistige Entwicklung schon von frühester Kindheit an beeinflußt wird durch die zufälli­ gen Bedingungen seines Familienlebens und Schulunterrichts, seines Verkehrs mit Geschwistern und Bekannten. Die bedeu­ tungsvolle, für das ganze weitere Leben entscheidende Wahl des Berufes — später die Wahl des Ehegatten —, die unzähligen Be­ ziehungen zu anderen Menschen, mit denen er in engere oder weitere Berührung tritt, setzen durch Tausende von Zufällen den Gang des persönlichen Lebens zusammen, welcher bei den moder­ nen Kulturmenschen so unendlich verwickelt erscheint. Wenn trotz­ dem die dualistischen Anhänger einer idealen Weltanschauung von einer „höheren Leitung unserer Schicksale durch eine weise Vor­ sehung" reden, oder von einer „gütigen Führung des liebenden Allvaters" usw., so können wir diese schönen Phantasiegebilde der Dichtung sehr erbaulich und angenehm finden; wir fragen aber

vergeblich, wie wir sie vernünftigerweise mit der rauhen Wahrh e i t des realen Menschenschicksals in Einklang setzen sollen? Der tröstliche Hinweis auf ein späteres „Ewiges Leben" versagt völlig. Zufall im Weltkriege. Eindringlicher als je zuvor macht sich die Herrschaft des blinden Zufalls für jeden denkenden Menschen in dem gigantischen Trauerspiel des jetzigen Weltkrieges fühlbar und sichtbar. Tag für Tag bedroht seit 15 Monaten der Zufall das Leben von Tausenden blühenden kräftigen Männern, die im Schlachtengewühl dem Tode jeden Augenblick ausgesetzt sind. Die Schrecknisse des blutigen Kampfes in den Schützengräben, bei der Erstürmung von Festungen, in offener Feldschlacht — oder in den neuen Formen des Seekrieges, der Panzerflotten, der Unter­ seeboote — oder in den unerhörten Formen des Luftkrieges, der Zeppeline, der Fliegerbvote, der Wasserflugzeuge usw. treten uns tagtäglich in den Zeitungsberichten und den offiziellen Mitteilun­ gen der Heeresleitungen vor Augen. Tausende von Bildern, von Photogrammen, von Skizzen aus den Kriegslagern illustrieren die gedruckten Berichte lebendig. Ein einziger gut gezielter oder durch blinden Zufall geglückter Treffer einer Granate oder Bombe oder eines der modernen Riesengeschütze kann in einer Sekunde Dutzende von Menschenleben grausam vernichten. Anderseits wieder kann eine glückliche Bewegung oder eine vorteilhafte Stellung und Deckung einzelne Soldaten mitten im Kugelregen retten, während ihre Kameraden unmittelbar daneben fallen. Die Berichte unserer Militärärzte, besonders unserer Chirurgenkon­ gresse, sind voll von erstaunlichen Mitteilungen über die seltsamen, oft unglaublichen Verletzungen der Verwundeten; Krieger, denen Kugeln in die edelsten Organe, Gehirn, Herz, Eingeweide einge­ drungen sind, denen Arme und Beine zerschmettert sind, kommen gut davon und werden nach längerer und kürzerer Zeit geheilt; andere, die nur leicht verwundet sind, sterben infolge von zufälli­ ger Blutvergiftung oder unzweckmätziger Behandlung. Ein­ zelne Soldaten, die im heftigsten Kugelregen fielen, weisen mehr als hundert Wunden an ihrem zerrissenen Körper auf. Und wie

verschieden spielt der blinde Zufall in den weiteren Schicksalen der Verwundeten, und besonders der Gefangenen! Welche Rolle spielt die zufällige Art des Transports, der Behandlung in den Lazaretten, in den Gefangenenlagern usw.! Und wieviel tausend Zufälle spielen sich jetzt alltäglich in den Millionen von trauern­ den Familien, von sorgenden Müttern, Frauen und Kindern ab, deren Kinder, Männer und Väter draußen im $elbe liegen, und

von denen sie oft durch Wochen und Monate keine Nachricht er­ halten! Niemals, so lange die leidende Menschheit auf diesem „verpfuschten Planeten" existiert, ist das Massenelend des Krieges und die verhängnisvolle Herrschaft des blinden Z u f a l l s in solchem Grade und in so grauenhasten Formen uns vor Augen getreten, wie in diesem entsetzlichen Weltkriege, der allein durch den Geschäftsneid und den brüt alenEgoism u s des christlichen Musterstaates England uns aufgezwun­ gen worden ist. Zufall im organischen Leben. Dieselbe bestimmende Rolle wie im persönlichen Leben des einzelnen Menschen spielt der blinde, unbewußte Zufall auch im Leben jedes anderen Organis­ mus. Das gilt ebenso von der Entwicklung jedes einzelnen In­ dividuums (O n t o g e n i e), wie von derjenigen seiner histori­ schen Ahnenreihe (P h y l o g e n i e); — es gilt ebenso vom Leben der einzelligen Protisten oder „Zellinge" (Protophyten und Protozoen), wie von demjenigen der vielzelligen und gewebebil­ denden Histonen oder „Webinge" (Metaphyten und Metazoen). Das ganze wunderbare Bild der Stammesg e s ch ich t e der Organismen, wie ich es in meiner „Systemati­ schen Phylogenie" (1866—1896) zu entwerfen versucht habe, be­ ruht auf der absichtslosen Durchflechtung von Myriaden zu­ fälliger Begebenheiten, von denen jede einzelne be­ dingt ist einerseits durch die unzähligen Beziehungen zur Außen­ welt („Anpassung"), anderseits durch die angeborenen, von der Ahnenreihe übertragenen Charaktere („Vererbung"). Die historische Entwicklung der vielen tausend Arten von Pflanzen

und Tieren, die sich im Laufe von mehr als hundert Iahrmillionen auf unserem Erdball gesondert haben, und die doch alle nur von wenigen einfachsten Stammformen abstammen (die ältesten von einer einfachen llrzelle!), enthält ein endloses Wechselspiel von historischen Ereignissen, von denen jedes einzelne wieder das mechanische absichtslose Produkt von unzähligen Zufällen ist. Dieser Erkenntnis gegenüber erscheint der andere Zweig der Biogenie, die K e i m e s g e s ch i ch t e der Organismen, zunächst vielleicht anderer Natur, da die Entwicklung jedes Einzelwesens aus der Stammzelle (der „befruchteten Eizelle") schon von Anfang an auf ein bestimmtes Ziel, auf die volle Ausbildung der Artform gerichtet ist; allein diese Determination der individuellen Entwick­ lung ist nach unserem „Biogenetischen Grundgesetze" nur die ab­ gekürzte, durch Vererbung bedingte Wiederholung jener langen Stammesgeschichte (Palingenese); und auch sie ist in ihrem weiteren Verlaufe (bis zum Tode!) immer wieder durch zufällige Veränderungen bedingt, die unter den Begriff der Anpassung im weiteren Sinne fallen (Zaenogenese). Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit des organischen Erdenlebens ist dadurch bedingt, daß in dem überall und jederzeit wirkenden „Kampfe ums Dasein" tausende von Beziehungen zufällig mechanisch zu­ sammenwirken. Eine bewußte Zielstrebigkeit (Entelechie) oder ein beabsichtigter Lebenszweck, wie ihn die dualistische Teleologie voraussetzt, ist dabei ebensowenig nachzuweisen wie bei' dem Existenzkämpfe der Nationen im Weltkriege. Zufall im anorgischen Leben. Viel klarer und unzweideu­ tiger als im organischen Leben unserer Planeten tritt uns die bestimmende Macht des Zufalls in den Gebieten der anorgischen Natur entgegen, welche der Geologie und Geogenie, der Mine­ ralogie und Kristallographie, der Hydrographie und Meteorologie angehören. Früher wurden alle diese Objekte der Anorgik als „leblose Naturkörper" angesehen. Indessen hat uns die genauere, im letzten halben Jahrhundert erworbene Kenntnis ihres Wesens und ihrer Entwicklung zu der Überzeugung geführt, daß auch diesen

Zufall in der Geologie.

Anvrganen ein wirkliches Leben im weiteren Sinne zuge­ sprochen werden muß. Schon vor 50 Jahren hatte ich im zweiten Buche der „Generellen Morphologie" (Bd. I, S. 109—238) eingehende „Allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Entstehung der Organismen und ihr Verhältnis zu den Anorganen" angestellt. Seitdem haben viele neuere Entdeckungen die von mir damals schon behauptete innige LZeziehung beider Hauptgruppen von Naturkörpern, die Wesenseinheit ihrer Substanz und ihrer Entwicklung, klarer und offen­ kundiger bewiesen. Einerseits bilden die Moneren (nament­ lich Chromaceen und Bakterien) eine niederste Gruppe von „O r ganismen ohne Organe", deren höchst einfache morpho­ logische und physiologische Beschaffenheit sie von den übrigen Orga­ nismen entfernt und den Anorganen nähert. Anderseits haben wir in den merkwürdigen, von Lehmann neuerdings entdeckten /,8 l ü s f i g e n K r i st a l l e n" Naturkörper kennen gelernt, die in mehrfacher Beziehung den Übergang zu einfachsten Organismen bilden. Das „L e b e n d e r K r i st a l l e", ihr Wachstum, ihre Re­ generation, ihre gesetzmätzige Gestaltung und Sttuktur, besonders aber ihre unbewußte „Empfindung" sind „Lebenserscheinungen", welche denjenigen niederer Protisten sich eng anschließen. Diese ge­ setzmäßige Entwicklung der Kristalle schließt aber nicht aus, daß auch sie durch die Beziehung zur Umwelt vielfach modifiziert werden und dabei dem blinden Zufall unterliegen. Ganz offenkundig und höchst lehrreich offenbart sich dessen Einfluß in der Geologie und Meteorologie. Die großartigen Veränderun­ gen der Erdoberfläche, die noch heute wie seit vielen Iahrmillivnen ununterbrochen vor sich gehen, sind bedingt durch das zufällige Zusammenwirken von unzähligen kleinen Vorgängen rein mechanischer Natur, welche lediglich auf physikalischen und chemischen Ursachen beruhen. Ganz dasselbe gilt auch von der Meteorologie, der Witterungskunde. Vom Wetter weiß jeder­ mann, daß es von Tag zu Tag sich ändern kann und daß kein Wetterprophet imstande ist, heute mit Sicherheit vorauszusagen.

was morgen geschehen wird. Ein einziger Sonnentag nach langem Regenwetter, ein einziger Windstoß im Gebirge, eine einzige De­ pression des Luftdrucks auf dem Meere genügt, um auf weite Strecken hin das Wetter zu ändern und wichtige Störungen her­ vorzurufen; und doch find die ersten Anstöße zu diesen Ereignisien, obwohl jeder einzelne Faktor mechanisch durch physikalische Ge­ setze bedingt ist, meist reines Spiel eines unberechenbaren Zufalls. Zufall im kosmischen Leben. Das Weltall im ganzen — als „Universum oder Kosmos" — ist mit seinen unzähligen ein­ zelnen Teilen oft mit einem riesigen Organismus verglichen wor­ den. Dieser Vergleich ist richtig, insofern er sich auf die materielle Einheit des ganzen Kosmos und auf die damit verknüpfte energetische Einheit aller Naturkräfte, sowie auf die psychomatische Einheit der allumfassenden „Weltseele" gründet. Der Vergleich ist aber falsch, wenn damit eine zweckmäßige Organisation des ganzen Weltgebäudes, eine Zielstrebigkeit in dualistisch-teleologi­ schem Sinne verstanden wird. Vielmehr haben uns die erstaun­ lichen Fortschritte der A st r o n o m i e, insbesondere der Astro­ physik, der Spektralanalyse und Himmelsphotographie, in den letzten 30—40 Jahren zu folgenden sicheren Ergebnissen geführt: I. Die vielen Millionen von Sternen, welche im weiten Himmelsraum regellos zerstreut find (mit völlig ungleichen Abständen und Laufbahnen!), folgen zwar alle in ihrer ewigen Bewegung dem großen Grundgesetze der Gravitation; ihre un­ gleiche Verteilung und Anordnung zu kleineren Gruppen und größeren Systemen läßt aber keine Spur von Zweckmäßigkeit im Weltenbau erkennen. II. Die kreisförmigen oder elliptischen oder parabolischen B a h n e n, in denen sich die Himmelskörper umein­ ander oder um gemeinsame Zentralsonnen bewegen, sind nicht, wie man früher annahm, beständig und ewig (von einem kunst­ reichen Himmelsarchitekten planvoll geordnet!), sondern sie sind veränderlich und durch zufälligen Wechsel der gegenseitigen Beziehungen bestimmt. III. Das plötzliche Auftauchen neuer Sterne, von vorher nie gesehenen Himmelskörpern, die nach

kürzerer oder längerer. Zeit wieder verschwinden, ist nur durch große Weltkatastrophen zu erklären, durch den zufälligen Zusammenstoß von früher weit getrennten Sternen. IV. Die zahlreichen kleinen, dabei durch Zersplitterung oder Zerstäubung entstandenen neuen Himmelskörper betreten wieder neue Bahnen und können durch zufälliges Zusammenballen neue Nebel­ flecke und weiterhin neue rotierende Sterne bilden. V. Auch die wechselvollen Erscheinungen, die wir in unserer Sonne beob­ achten, die Protuberanzen, die Korona usw., beweisen ein „a n o r g i s ch e s Leben" in diesem großen Zentralkörper; und besten Erscheinungen sind ebenso wie im anorgischen Leben unseres Erdballs selbst von tausend Zufällen abhängig, keinem vorbedachten Zwecke oder Ziele zugewandt. So geht denn auch in dem großen Gebiete der Kosmologie — ebenso wie in dem beschränkten Teile der Geologie — der ganze Entwicklungslaus des anorgischen Lebens rein mechanisch vonstatten, ohne vorbedachten „weisen Plan" oder „Weltzweck".

D. Weltkrieg und Vorsehung. Im Gegensatze zu diesen allbekannten Tatsachen, die jeder­ mann mit offenen Augen sehen kann, behaupten noch zahlreiche Gebildete, daß die Schicksale der Völker ebenso wie jedes ein­ zelnen Menschen nicht durch mechanische Gesetze und den dabei beständig mitspielenden Zufall geleitet werden, son­ dern durch die übergeordnete Leitung eines zielbewußten Gottes, der als Vorsehung über dem ungeheuren Wechsel­ spiel der Kräfte wacht und sie zusammen nach einem bestimmten Ziele leitet. Bekanntlich ist diese anthropistische Auffasiung, bei welcher der „liebe Gott" bald mehr nach dem Vorbilde eines treu sorgenden „Allvaters" verehrt, bald mehr nach dem llrbilde eines allmächtigen und richtenden orientalischen Monarchen ge­ fürchtet wird, noch heute in weitverbreiteter Geltung bei den Theologen und den mit ihnen verbündeten dualistischen Philo-

sophen. Dabei ist es im Prinzip gleich, ob dieser „allweise" und „allwissende" Schulgott in gröberer. Form als ein i d e a l i s i e r ter Mensch angebetet wird (z. B. Christus als „mensch­ gewordener Gott"), oder in feinerer Form als ein im­ materieller Geist, der unsichtbar in allen Schicksalen der Menschen wirkt und sie als „Vorsehung" absichtsvoll leitet. Wir verkennen nicht den Wert des Trostes und der Hoffnung auf besseres Geschick, welcher durch diesen „Glauben an die gütige Vorsehung" dem leidenden Menschen gespendet wird. Aber schon in gewöhnlicher Friedenszeit haben sich freidenkende und klarsehende Männer oft nicht entschlichen können, diesen schönen Verheißungen Glauben zu schenken. Die ganze Natur­ geschichte und Kulturgeschichte der Menschheit lehrt tausendfach das Gegenteil. Man denke nur an die unendlichen Leiden der Menschen in den Zuständen der Sklaverei und Barbarei; oder an das namenlose Elend in den Krankenhäusern und Hospitälern, in den Gefängnisten, in den modernen Großstädten; oder an die bitteren Qualen, denen Millionen von Menschen von jeher in den Zeiten der Not, der großen Epidemien und Kriege aus­ gesetzt waren. Vollends der jetzige Weltkrieg, in dem das Masten­ elend und die Leiden der Einzelnen unerhörte Dimen­ sionen angenommen haben, muß allen Glauben an eine liebevolle Vorsehung zerstören. Dasselbe gilt von dem damit verknüpften Glauben an eine „sittliche Welt­ ordnung", welche den anthropistisch gedachten Weltregenten mit moralischen Tugenden ausstattet. Alle diese nebelhaften Phantasiegebilde des dualistischen Glaubens erweisen sich im Lichte der reinen Vernunft als Erzeugnisse der unkritischen Leichtgläubigkeit oder des tiefgewurzelten mystischen Aberglaubens. Schon ein altes Sprichwort lehrt: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott." (Nähere Begründung dieser monisti­ schen Überzeugung enthält das 14. und 15. Kapitel der „Welt­ rätsel".)

E. Werl des Menschenlebens. über wenige Gegenstände des Denkens gehen die Ansichten der Menschen so weit auseinander und stehen sich die Über­ zeugungen, sowohl in theoretischer wie in praktischer Beziehung, so schroff gegenüber, wie in betreff des Wertes des menschlichen Lebens, zunächst des einzelnen Individuums, der Person. Einer­ seits beweist uns die monistische Wissenschaft — auf Grund der reinen Vernunft und der großartigen Fortschritte der Biologie im letzten halben Jahrhundert —, daß das Leben des Menschen, wie jedes anderen Tieres, ein physikalisches Phäno­ men ist, und daß sowohl die körperlichen als die geistigen Eigen­ schaften denselben allgemeinen Naturgesetzen unterworfen sind, wie alle anderen Naturerscheinungen. Andrerseits behauptet die dualistische Metaphysik (— und mit ihr in Übereinstimmung der größte Teil der Theologie —), daß das Menschenleben eine übernatürliche, von den gewöhnlichen Naturgesetzen un­ abhängige Erscheinung sei; dabei stützt sie sich besonders auf seine seelischen Eigentümlichkeiten; auf die irrtümlich angenom­ mene Unsterblichkeit seiner Seele (— oder des „Geistes" —) und auf die moralischen Bedürfnisie der praktischen Vernunft. Dazu kommt das Schwergewicht der g e h e i l i g t e n Tradition, des natürlichen Egoismus und vieler Vorurteile verschiedenster Art. Auf die zahlreichen einzelnen Widersprüche dieser Vorstellungskreise können wir hier nicht eingehen; wir begnügen uns damit, auf den offenkundigen Gegensatz hinzuweisen, welchen einerseits die allzu hohe Überschätzung, andrerseits die allzu tiefe Unterschätzung des persönlichen Menschenlebens noch auf dem heutigen Kulturstandpunkte des 20. Jahrhunderts zeigt. Überschätzung des Menschenlebens. Da jeder Mensch sich selbst der Nächste und dem Selbsterhaltungstriebe ebenso wie jeder andere Organismus unterworfen ist, sucht er vor allem sein persönliches Leben zu erhalten und die demselben drohenden GeHaeckel, Ewigkeit.

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fahren zu meiden. In der menschlichen Gesellschaft hat sich daher von Anfang an ein natürliches Bedürfnis gegenseitiger Hilfe geltend gemacht, und sind bestimmte Gesetze zum Schutze des persönlichen Lebens entstanden, sowie zur Abwehr der Ge­ fahren, die ihm von Angriffen anderer drohen. Die darauf ge­ gründete Rechtsordnung hat sich naturgemätz mit fortschreitender Kultur immer weiter entwickelt und zu einer immer höher stei­ genden Bewertung des individuellen Lebens geführt. Dabei gerät ^t die subtile Dialektik der Juristen in Gegensatz zu dem natürlichen „gesunden Menschenverstände", der sich auf die biologischen Erkenntnisse der monistischen Anthropologie stützt. So begegnet man heute vielfach den seltsamsten Bemühungen zur „Abschaffung der Todesstrafe". Nach der Ansicht vieler wahrer Philanthropen (die ich teile) ist dieselbe nicht nur die gerechte Vergeltung für Mörder, die anderen Menschen das Leben nehmen, sondern sollte auch noch auf andere unverbesserliche Verbrecher angewendet werden. Die Strafe des lebens­ länglichen Zuchthauses, die dafür empfohlen wird, erscheint bei näherer vorurteilsloser Betrachtung viel schlimmer und grau­ samer als die Todesstrafe. — Noch seltsamer und geradezu wider­ sinnig ist die weitverbreitete Ansicht, daß der Arzt verpflichtet sei, um jeden Preis das Leben des Kranken zu e r h a l t e n. Welchen Nutzen haben davon die unzähligen unheilbaren Kran­ ken, welchen ihre schmerzensreiche Existenz eine beständige Qual, ihren Angehörigen eine schwere Last ist? Welchen ver­ nünftigen Zweck hat es, die unheilbar an Geisteskrankheit, an Krebs oder Aussatz Leidenden, die selbst ihre Erlösung wünschen, lange Jahre in ihrer bejammernswerten Verfassung zu erhalten, oder gar besondere isolierte Hospitäler zur künstlichen Ver­ längerung ihrer Qualen zu unterhalten? Welchen Sinn kann es ferner haben, neugeborene Kinder mit Defekten, welche eine künftige glückliche Entwicklung von vornherein-unmöglich machen, Mißgeburten, die von Anfang an das arme Geschöpf zu einem elenden, jammervollen und nutzlosen Dasein verurteilen.

künstlich am Leben zu erhalten? Eine kleine Dosis Morphium oder Cyankalium würde nicht nur diese bedauernswerten Ge­ schöpfe selbst, sondern auch ihre Angehörigen von der Last eines langjährigen, wertlosen und qualvollen Daseins befreien. Über den offenkundigen Nutzen der „Spartanischen Selek­ tion", welche schon vor mehr als 2000 Jahren krüppelhafte Neugeborene zu töten empfahl, habe ich bereits 1868 (im 7. Vor­ trage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte") und 1904 (im 5. Kapitel der „Lebenswunder") meine persönliche Überzeugung ausgesprochen. — Mitleidige Ärzte, welche diese E r l ö s u n g den hofsnungslosen und schwer leidenden Kranken auf ihren eigenen Wunsch gewähren, erfüllen damit ein Gebot „christlicher Nächstenliebe"; aber nach unseren heutigen unlogischen Gesetzbüchern (— die überhaupt noch reich an überlebten Be­ stimmungen des Mittelalters sind! —) würden sie strafbar fein! Unterschätzung des Menschenlebens. In schroffem Gegen­ satze zu dieser sinnlosen Überschätzung des persönlichen Lebens stehen die Anforderungen, welche die menschliche Gesellschaft im Kriege an jeden Einzelnen in ihrem Gesamtinteresie stellt. Nie­ mals ist uns das so unmittelbar zum Bewußtsein gekommen, wie in dem jetzigen gigantischen Weltkriege, der alle anderen bisher erlebten Kriege an Größe der Menschenopfer, der sittlichen und materiellen Verluste weitaus übertrifft. Täglich muffen wir in den Zeitungen den Heldentod zahlreicher hoffnungsvoller Jüng­ linge lesen, die kaum über das dienstpflichtige Alter hinaus sind; den Verlust von tüchtigen, gesunden Männern, die ihre Familien in der Heimat vaterlos zurücklassen mußten. Uns Deutsche treffen diese schmerzlichen Verluste ganz besonders hart; denn bei uns wie bei unseren österreichischen Bundesgenossen ist die geistige Bildungshöhe und damit der persönliche Lebenswert im Durchschnitt weit größer als bei unseren Gegnern, welche ihr Riesenheer zum größten Teil aus ungebildeten Menschen nie­ derer Klaffen zusammensetzen, aus gekauften Söldnern und aus farbigen Angehörigen wilder und halbwilder Raffen, die sie aus

allen Erdteilen zusammengeworben haben! Ein einziger fein­ gebildeter deutscher Krieger, wie sie leider jetzt massenweis fallen, hat einen höheren intellektuellen und moralischen Lebenswert als Hunderte von den rohen Naturmenschen, welche England und Frankreich, Rußland und Italien ihnen gegenüberstellen. Nun ist es ja richtig, daß unser teures Vaterland diesen ungeheuren Existenzkampf nur dann siegreich durchführen kann, wenn wir alle einmütig und mit Begeisterung jene Opfer bringen. Das geschieht auch mit einem Heldenmute unfeinem Erfolge, der in der Staatengeschichte diesen Befreiungskrieg zu einem Ehrendenkmal ersten Ranges für uns erhebt. Aber nichtsdesto­ weniger muß uns täglich dieser Gedanke schmerzen, daß hier Millionen wertvoller Menschenleben einem barbarischen Ver­ nichtungskriege geopfert werden müßen, welcher bei hinreichen­ der V e r n u n f t, bei richtiger Politik und kluger diplomatischer Vertretung auf unserer Seite, ebenso aber auch bei inter­ nationaler Toleranz, bei gerechter Beurteilung unserer An­ sprüche auf deutsche Weltstellung von seilen unserer Gegner, hätte vermieden werden können. Tief betrübend ist es für jeden Menschenfreund, und besonders für jeden Pazifisten, zu sehen, wie tief die Schätzung des individuellen Lebens in diesem Völker­ kriege gesunken ist und welche schweren Wunden der menschlichen Kultur und Gesittung dadurch auf lange Zeit geschlagen werden. Sinn des Menschenlebens. Nicht weniger verschieden als die widersprechenden Ansichten über den Wert des menschlichen Lebens sind die ost damit verknüpften Anschauungen über seinen eigentlichen Sinn, seine allgemeine und besondere Bedeutung. Bei der Beantwortung dieser wichtigen Frage scheiden sich sofort die beiden Wege der monistischen und der dualistischen Lebens­ philosophie. Unsere monistische oder naturalistische Überzeugung, welche sich fest aus die wistenschastliche Erkenntnis der modernen Biologie und speziell der Anthropologie gründet, beurteilt das ganze individuelle Leben des Menschen nach den­ selben Grundsätzen wie das der übrigen Wirbeltiere, und

insbesondere der nächstverwandten Herrentiere, von denen er direkt abstammt. Wir werden unten, im dritten Kapitel, sehen, wie die definitive Lösung des Kapitalproblems diese großen Fragen, zugleich mit denen der Unsterblichkeit und Ewigkeit, klar beantwortet. Das Menschengeschlecht ist ein spätes Produkt des Wirbeltierstammes, erst in neuester Tertiärzeit aus der Familie der Menschenaffen, als der höchststehenden Primaten, hervorgegangen. Das gilt ebenso für seine gesamte körperliche Organisation, wie für das höhere Leben seiner Seele oder seines Geistes. Für die Annahme einer Unsterblichkeit dieses letzteren, einer ewigen Fortdauer nach dem Tode, liegt keine einzige Spur eines Beweises vor; sie ist ein Phantasieprodukt der Dichtung. Da es ein „Jenseit s" nicht gibt, da ein zweites, überirdisches Leben ausgeschlossen ist, kann der Mensch nur die Ausgabe haben, sein irdisches Leben im „Diesseits" so gut und glücklich wie möglich zu gestalten. Diese Aufgabe wird aber bei den hoch­ entwickelten Kulturmenschen nicht durch bloßen Sinnengenuß ge­ löst, sondern durch das Bewußtsein erfolgreicher Arbeit, fruchtbarer Beteiligung an der fortschreitenden Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts. Der wahre Sinn des Lebens liegt in der richtigen Anwendung der praktischen Vernunft aus dasselbe. — Ganz anders urteilt natürlich die d u a l i st i s ch e oder metaphysische Philosophie, welche in Übereinstimmung mit den herrschenden Religionslehren unser irdisches Leben nur als eine Vorstufe zu einem zweiten höheren Leben ansieht, als eine Vorbereitung zu einem überirdischen Leben in einem un­ bekannten „Jenseits". Es ist ganz begreiflich, daß dieses zweite übernatürliche und ideale Leben, ausgestattet mit allen Rei­ zen eines phantastischen Märchens, höher geschätzt wird als unser wirkliches Leben im „Diesseits", das immer mit allerlei Mängeln und Hindernisien zu kämpfen hat, wie das Leben aller anderen Organismen auch; daher die „Naturverachtung" des Christen­ tums und die törichte Askese und Selbstpeinigung in den christ­ lichen Klöstern. Für den monistisch denkenden und naturalistisch

gebildeten Menschen der Zukunst wird der Sinn des Lebens in der vernünftigen und naturgemäßen Lebensführung selbst liegen.

F. Leben und Tod. Unsere Anschauungen von den Erscheinungen und dem Wesen des Todes haben sich im Laufe des letzten halben Jahr­ hunderts völlig geändert. Die moderne Physiologie, in Ein­ klang mit den Erfahrungen der Physik und Chemie einerseits, der Biogenie und Kristallographie andrerseits, haben die ftüher an­ genommene scharfe Grenze zwischen Organismen und Anvrganen, zwischen „belebter und lebloser" Natur völlig verwischt. Das Wachstum und die Regeneration der mineralischen Kristalle ist ebenso ein „Lebensprozetz", wie diejenige der einfachsten Or­ ganismen. Die niedersten Formen der letzteren, die M o n e r e n (Chromaceen und Bakterien), entbehren noch ganz der „Organisatton", der zweckmäßigen Zusammensetzung ihres homogenen, kernlosen Plasmakörpers aus verschiedenen Werkzeugen; sie sind in Wahrheit noch „Organismen ohne Organe". Der individuelle Kristall hat die gleiche morphologische Individualität wie die einfachsten Formen der Moneren. Die flüssigen Kristalle (von Lehmann entdeckt) führen spontane Bewegungen gleich den letzteren aus. Die einfachste Form des organischen Lebens bei diesen letzteren ist ein rein physikalischer Vorgang, die „Kata­ lyse kolloidaler Substanz". Wenn die wachsenden Kristalle in einer übersättigten (metastabilen) Flüssigkeit eine ge­ wisse Wachstumsgrenze überschreiten, vermehren sie sich ebenso (durch Ansatz neuer Kristallindividuen), wie die homogenen und strukturlosen Plasmakugeln der einfachsten Moneren (durch ein­ fache Selbstteilung). Wenn aber ein organisches Individuum durch Teilung in zwei zerfällt, so ist damit seine Indivi­ dualität vernichtet; diese ist „tot", obgleich seine lebendige Substanz in den Teilprodukten weiterlebt. Man darf daher nicht von einer „Unsterblichkeit der Einzelligen" (Prosisten) sprechen; denn auch bei den Vielzelligen (Histonen)

lebt das Plasma in den Kindern — in abgelösten Keimzellen — fort, nachdem die Elternindividuen gestorben sind *). Freitod und Selbsterlösung. Die beispiellosen Trauerfälle und Notzustände, welche der ungeheure, durch Englands brutalen Egoismus hervorgerufene Weltkrieg zur Folge gehabt hat — „das größte Verbrechen der ganzen Weltgeschichte!"—, haben vielen tausend schwer leidenden Menschen den Wunsch nahegelegt, ihren Leiden durch freiwilligen Tod ein schnelles Ende zu bereiten. Dieser natürliche Wunsch erscheint, vom vernünftigen Standpunkte unseres Monismus ge­ würdigt, vollberechtigt und moralisch einwandfrei. Man denke nur an die entsetzlichen Qualen der armen, tödlich verwundeten Soldaten, welche hilflos im Getümmel des Völkermordes liegen bleiben, an unsere edlen, feingebildeten, deutschen Freiwilligen, welche von den „Hyänen des Schlachtfeldes", von barbarischen *) Die ganz irrtümlichen und logisch unhaltbaren Vorstellungen, welche der verdienstvolle Zoologe August Weismann (1882) in seinen Arbeiten „Über die Dauer deS Lebens", sowie über „Leben und Tod" er­ folgreich in die Biologie eingeführt hat, habe ich bereits 1904 im 5. Kapitel meiner „Lebenswunder" eingehend widerlegt. Dort sind auch die Ver­ hältnisse des individuellen Todes, die Abnutzung des Plasma und die Nekrobiose, sowie die wichtigen damit zusammenhängenden Todes­ fragen ausführlich erörtert; im 2. und 8. Kapitel besonders die wichtige Vergleichung der Zellen und Kristalle. Die unbefangene Betrachtung dieser Tatsachen, sowie die Vergleichung des Todes bei den höheren und niederen Organismen hat unsere moderne Auffassung vom Wesen, den Bedingungen und Folgen des individuellen Todes wesentlich ge­ läutert. Beim Menschen, wie bei den meisten höheren Wirbeltieren, erlischt das Leben des ganzen vielzelligen Organismus augenblicklich, sobald das geordnete Zusammenwirken aller Organe in seiner verwickelten Maschinerie durch Vernichtung der Zentralorgane gestört wird. Bei niederen Tieren und Pflünzen hingegen kann das ganze Individuum noch fortleben, wenn auch viele einzelne Teile sich ablösen; diese können oft noch selbständig weiterleben und stch durch Regeneration wieder zu einem selbständigen neuen Individuum ergänzen. Man kann dann einen totalen und einen partiellen Tod des Organismus unterscheiden (Vergl. Kap. 2 und 7 der Lebenswunder".)

Indern und grausamen Senegalnegern (— den Kampfgenossen der englischen und französischen „Gentlemen"! —) in unmensch­ licher Weise gequält und verstümmelt werden! — Man denke an den namenlosen Jammer der Mütter, die ihren einzigen Sohn, der Frauen, die ihren geliebten Gatten, der Kinder, die ihren treusorgenden Vater verloren haben! — Man denke an die Tau­ sende von mittellosen Armen, denen durch die mitleidlosen Feinde ihre ganze Habe genommen und der Hungertod in sichere Aus­ sicht gestellt ist — oder an die armen Krüppel, die ihre Augen, ihre Arme und Beine verloren haben und deren Lebensrest auf lange Jahre nur Elend und Schmerzen verspricht! — Welcher mitfühlende Mensch kann es diesen bedauernswerten Armen ver­ denken, wenn sie ihren hoffnungslosen Qualen durch einen Pistolenschuß oder durch ein Morphiumpulver ein schnelles und schmerzloses Ende bereiten? Diese „S e l b st e r l ö s u n g" (Autolyse) als „Selbstmvr d" zu bezeichnen und moralisch zu verurteilen, ist völlig sinnlos, wie ich schon im 5. Kapitel der „Lebenswunder" gezeigt habe. Die traditionelle Verurteilung dieses „Freiwilligen Todes" ist um so verkehrter, als derselbe Freitod als Heldentat verherrlicht wird, wenn er im Interesse Anderer oder der Gesellschaft geschieht; — Aufopferung für be­ drängte Mitkämpfer, Opfertod für den Staat. Hier wie in vie­ len anderen Fällen gilt dieselbe Handlung für höchst moralisch, wenn sie im Interesse der Gesellschaft, für höchst verwerflich, wenn sie zum Besten der einzelnen Person geschieht. And doch sind die altruistischen Werte des Staates mit den egoistischen Inter­ esten der einzelnen Staatsbürger untrennbar verknüpft! Urzeugung (Archigonie). Durch die erwähnten Fort­ schritte der modernen Physiologie ist nicht nur die früher festge­ haltene scharfe Grenze zwischen der anorgischen und organischen Natur aufgehoben, sondern auch die schwierige Frage gelöst, wie der erste Anfang des organischen Lebens auf un­ serem Erdball zu denken ist. Wir betrachten jetzt das Leben aller Organismen (— also auch des Menschen —) als einen rein physi-

kalisch-chemischen Prozeß, dessen wesentlichster Akt die Kata­ lyse einer kolloidalen Substanz, des Plasma, ist. Dieser wahre „Lebensstoff", eine stickstoffhaltige Kohlenst o s s - Verbindung aus der Gruppe der Eiweißkörper (— oder nach anderer Ansicht ein Gemenge verschiedener Albumine —) bildet die materielle Grundlage aller „Lebendigen Substanz" 'und vermittelt allein die mannigfaltigen Formen der Energie und des Psychoms, die wir als die meist charakteristischen Funktionen des organischen Lebens betrachten; von den einfachsten, noch kern­ losen Moneren hinauf zu den einzelligen kernhaltigen Protisten, und von den niederen wirbellosen Tieren bis hinauf zu den Wir­ beltieren, an ihrer Spitze den Menschen. Wie die erste Ent­ stehung von P l a s m a aus anorgischen Verbindungen zu denken ist, habe ich in meiner Hypothese der Archigonie, — d. h. der „Urzeugung" in einem ganz bestimmten Sinne! — im 14. Ka­ pitel der „Welträtsel", ausführlicher im 2., 6. und 15. Kapitel der „Lebenswunder" dargelegt. Dort ist auch die alte Irrlehre von einer besonderen, zweckmäßig tätigen „Lebenskraft" widerlegt (Vis vitalis). Zwar war der alte Vitalismus fchon vor 60 Jahren durch die Fortschritte der physikalischen und chemische Physiologie im Grunde beseitigt. Allein dieser mystische Palavitalismus ist neuerdings wieder aufgelebt in der neuen Form des Neovitalismus, der einerseits durch Ignorierung aller modernen Ergebnisse der Entwicklungslehre, andererseits durch unverständliche Phrasen einer sophistischen Dialektik sich auszeichnet. Die dualistische und teleologische Naturbetrachtung, welche darin zutage tritt, ist durch unsere monistische und mechanische Naturphilosophie längst gründlich widerlegt. Wir finden in allem Geschehen, ebenso in der Bio­ logie wie in der Anorgik (— oder Abivtik —) ausschließlich die Herrschaft ewiger und unverbrüchlicher Naturgesetze. Das ist deshalb ganz besonders zu betonen, weil durch die irreführenden Lehren des Vitalismus die natürliche Einheit der Weltentwicklung aufgehoben wird.

Todesfurcht. Ein Gedanke, der in dem Massenmorde des jetzigen Weltkrieges täglich an Millionen von Kämpfern heran­ tritt, ist die Frage nach den Umständen und Folgen des drohenden Todes; sie wird, je nach der persönlichen Schätzung des Lebens­ wertes und den festgewurzelten Vorstellungen der Überlieferung, sehr verschieden beantwortet. Der hochgebildete Kulturmensch der Gegenwart, der biologische Kenntnisie besitzt und namentlich von der Wahrheit der Entwicklungslehre überzeugt ist, betrachtet seinen persönlichen Tod mit vernünftiger Resignation als eine Naturnotwendigkeit, die auf alle Fälle ftüher oder später eintritt. Wenn er sich die Grundsätze der monistischen Philosophie sowohl in bezug auf theoretische Weltanschauung als auf prakttsche Lebensführung angeeignet hat, ist er von der beschränkten Zeit­ dauer feiner persönlichen Existenz ebenso fest wie von der Ver­ gänglichkeit alles Individuellen überzeugt. Er sucht daher sein irdisches Leben in ftuchtbarer Tätigkeit und erquickendem Natur­ genuß so gut und glücklich als möglich zu gestalten und überläßt im übrigen die Entscheidung seines Schicksals dem blinden Zufall, der in Ermangelung einer weisen Vorsehung die ganze Welt regiert. Wenn seine ethische Kultur bis zur Erlangung des richtigen Gleichgewichts von Egoismus und Altruismus sich erhoben hat, wird er auch seiner sozialen Pflicht gegen den Staat eingedenk sein und der Erhaltung des Vaterlandes sein Leben gern zum Opfer bringen. Wir sehen ja jetzt im Völkerkriege alle Tage, wie Tausende von deutschen Kriegern mit Begeisterung in die Schlacht gehen und selbst ihr Familienglück dem höheren Interefle des Vaterlandes opfern. So hat auch seit Jahrtausenden die Tapferkeit der kämpfenden Helden mit Recht als eine hohe Tu­ gmd gegolten, wobei die Todesfurcht ganz zurückgedrängt wurde. Das sollte nun folgerichtigerweise auch für die überwiegende Mehrheit der Athanisten gelten, welche an die persönliche Un­ sterblichkeit ihrer Seele glauben und meistens ein besseres „Leben nach dem Tode" im Jenseits erwarten. Indesien ist das bekannt­ lich nicht der Fall. Vielmehr überwiegt bei den meisten Men-

scheu der natürliche egoistische Trieb der Selbsterhaltung. Auch wird bei sehr vielen die Todesfurcht durch zahlreiche abergläu­ bische Vorstellungen und geheiligte Traditionen genährt, wie z. B. die Angst vor dem „Fegefeuer" in der katholischen Kirche, oder dem Grauen vor der eingebildeten „Unterwelt" oder Hölle, die in den Dichtungen der m ei st en Völker eine große Rolle spielt. Das klassische Alter­ tum stellte in der Blütezeit Griechenlands den natürlichen Tod als den Bruder des Schlafes dar, in plastischen Kunstwerken als einen schönen Jüngling. In dieser Auffassung sollte auch der moderne Kulturmensch, nachdem er sein Leben in befriedigender Tätigkeit und Pflichttreue verbracht, den sanften Tod als einen naturgemäßen glücklichen Abschluß ansehen und jede törichte Todesfurcht verscheuchen. Wie wir am Abende eines schönen Wandertages, nach erhebendem Genuß der herr­ lichen Natur und gelungener Überwindung ermüdender Anstren­ gungen, uns auf die erquickende Nachtruhe freuen, so dürfen wir auch nach glücklich vollendeter Lebenswanderung, im Hinblick auf treu erfüllte Pflicht und in interessanter Erinnerung an wech­ selnde Schicksale, den unvermeidlichen Tod als „Ewigen Schlaf" mit ruhiger Ergebung begrüßen.

Zweites Kapitel.

Weltkrieg und Religion. A. Werl der Religion. Als eine bedeutungsvolle Erscheinung des Weltkrieges wird feit mehr als einem Jahre sehr häufig die Vertiefung des Men­ schen in religiöse Gedanken und Betrachtungen hervvrgehoben. Insbesondere wird betont, daß die schrecklichen Ereignisse des ungeheuren Völkermordens die Menschen zur bewußten Einkehr in sich selbst veranlassen, die llmkehr aus dem gewohnten niede­ ren Alltagsleben zu dem höheren Geistesleben der Religion her­ beiführen. Tatsächlich sehen wir, daß vielfach im bürgerlichen Leben die vernachlässigten äußeren Religionsübungen wieder ausgenommen werden. Das bedrängte Gemüt des Menschen, der von tausend Gefahren bedroht ist, der täglich die persönlichen und materiellen Verluste des Schlachtengewühls kostet, sucht Schutz und Hilfe bei den „höheren Mächten", gleichviel ob diese als „Persönlicher Gott" oder als „Allgewaltiges Schicksal" aufgefaßt werden. Auch in den kämpfenden Heeren selbst — nicht minder als in den daheimgebliebenen Fa­ milien der Krieger — macht sich dieses starke „Wiedererwachen des religiösen Triebes" geltend. In feierlichen Feldgottesdiensten und Kirchenpredigten, in öffentlichen Gebeten und Sakraments­ handlungen wird der „Schutz des Allmächtigen" angerufen. Heerführer und Fürsten, die ihre Armeen zur blutigen Schlacht führen, erbeten die Hilfe Gottes und vertrauen darauf, daß der Sieg ihrer „guten Sache" zuteil werden müste. Dabei kommt es

oft vor, daß in jedem der beiden feindlichen Heerd, die sich gegen­ seitig zu vernichten suchen, derselbe „liebe Gott" angebetet und seine unparteiische Gerechtigkeit in Anspruch genommen wird. Wir werden dieses starke Anwachsen der religiösen Triebe und der damit meistens verknüpften Gvttesverehrung leicht verstehen, wenn wir auf die verschiedenen Urquellen der Religion zurück­ gehen. Die Furcht vor drohenden Gefahren, die dunkle Angst vor unbekannten Naturgewalten, die Trauer über schmerzliche Verluste, das Bedürfnis des höheren Schutzes bewirken die Zu­ flucht zum „Allmächtigen Gott", in welchem die meisten Reli­ gionen ihr persönliches Oberhaupt- suchen. Aber gerade die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, welche sich die verschiedenen Völker und Nationen, Rassen und Klassen der Menschheit über diese höchsten Objekte ihres Denkens und Empfindens bilden, nötigt uns vor allem, den wahren Inhalt und Wert der Religion näher ins Auge zu fasten. Dabei müsten wir die t h e v r e t i f ch e und die praktische Bedeutung der Religion wohl unterschei­ den. Wir brauchen jedoch hier nicht das weite und interessante Gebiet der vergleichenden Religionsgeschichte zu betreten, auch nicht im einzelnen die Hauptfragen der Religionsphilosophie zu erörtern; vielmehr genügt es, wenn wir nur klar den Unterschied der beiden Hauptrichtungen der religiösen Gedankenwelt ins Auge fasten, der monistischen und der dualistischen Religion.

B. Theoretische und praktische Religion. Weltanschauung und Lebensführung. — Kosmologie und Ethik. Jede wirkliche Religion, gleichviel, ob sie der monistischen oder der dualistischen Richtung angehört, hat für den denkenden Menschen eine zweifache Bedeutung: erstens dient sie t h e o r e tisch als feste Grundlage für die Bildung einer vernünftigen Weltanschauung, sie bestimmt die Grenzen und den Inhalt einer umfastenden Kosmologie; zweitens wirkt sie praktisch

für die Gestaltung einer beftiedigenden Lebensführung, sie liefert als E t h i k oder Sittenlehre — oder als „Pragmatismus" — be­ stimmte Normen für das praktische Leben. Beide Gebiete des religiösen Lebens sollten eigentlich stets in Harmonie und Wech­ selwirkung bleiben, sich gegenseitig bestimmend. Indessen ist das bekanntlich sehr oft nicht der Fall. Sehrhäufig finden wir eine streng religiöse Weltanschauung gepaart mit einer stark unsitt­ lichen Lebensführung; umgekehrt wird eine freie, von religiösen Dogmen ganz unabhängige Kosmologie verbunden mit einem durchaus moralischen und frommen Lebenswandel. Dieser Zwie­ spalt zwischen theoretischer Gesinnung und praktischer Handlungs­ weise gilt ebenso für die Philosophie wie für die Reli­ gion. Ursprünglich hängen ja diese beiden Gebiete des höheren Geisteslebens eng zusammen. Freilich gestaltete sich später das Verhältnis meistens so, daß man die Hauptaufgabe der Philo­ sophie mehr im Gewinne eines klaren theoretischen Weltbildes suchte, diejenige der Religion dagegen mehr in dem tätigen moralichen Verhalten des praktischen Lebens. In der christlichen Re­ ligion z. B. stehen die Dogmen der Weltschöpfung, wie sie aus der mosaischen Glaubenslehre des alten Testaments herübergenom­ men sind, durchaus in Widerspruch mit den klaren Erkenntnisien der modernen Wisienschaft; hingegen sind die sozialen Gebote der christlichen Moral, wie wir sie aus dm Sittenlehren des Neuen Testaments schöpfen, großenteils sehr wertvoll für die ge­ läuterte Ethik des modernen Kulturlebens. Wenn man daher die Religionen der verschiedenen Völker und Kulturstufen vergleichend betrachtet, sollte man bei der Beurteilung immer zunächst unter­ scheiden den theoretischen Wahrheitsgehalt ihrer Weltanschauung und den praktischen Wert ihrer moralischen Lebensgestaltung. Wir beschäftigen uns hier zunächst mit der ersteren und stellen da die beiden Hauptgruppen der monistischen und der dualistischen Weltanschauung klar gegenüber.

C. Monistische Religion. Das wesentliche Grundprinzip des modernen Monismus, wie ich es bereits vor 50 Jahren in der „Generellen Morphologie" aufgestellt und später in verschiedenen Schriften weiter ausgeführt habe, besteht in der Annahme eines einzigen naturgemäßen Grundprinzips für sämtliche uns erkennbare Erscheinungen. Eine einheitliche, gemeinsame Ursache für alle die mannigfaltigen Phä­ nomene des Daseins wurde schon im sechsten Jahrhundert vor Christus von den alten griechischen Naturphilosophen mit aller Be­ stimmtheit behauptet; unter den weitschauenden Ionischen Physio­ logen nahm Thales von Milet als gemeinsamen Urgrund aller Dinge das Master an, Anaximander von Milet und fein Schüler Anaximenes des Unbegrenzten Raum (Apeiron) oder die Lust (einem „Weltäther" entsprechend, mit periodischer Weltbildung und Weltzerstörung); Heraklit von Ephesus einen „Feueräther", mit ewiger Veränderung aller Dinge. Dieser „hylozoistifche Monismus" wurde verdrängt, als im stinften und vierten Jahrhundert v. Chr. Sokrates und sein Schüler Platon die ent­ gegengesetzte dualistische Idealphilosophie zur Geltung brachten; da deren Lehren von zwei getrennten Welten, der materiellen Körperwelt und der ideellen Geisterwelt, mit den bald sich aus­ breitenden Lehren des Christentums in Einklang standen, blieben dieselben im ganzen Mittelalter herrschend. Erst im 16. Jahr­ hundert n. Chr., im Zeitalter der Reformation und Renaistance, gewann der Monismus wieder einen neuen Aufschwung durch den großen Dominikanermönch Giordanv Bruno, und im 17. durch Benediktus' Spinoza. Ihre Lehre von der Einheit Gottes und der Natur („Deus sive Natura“) bereitete den Boden für die spätere „Identitätsphilosophie", welche mit Bezug auf die Religion zum Pantheismus wurde. „Gottes Geist lebt und wirkt in allen Dingen." In neuerer Zeit haben sich verschiedene Arten von Monismus entwickelt, von denen die einen mehr materialistisch gefärbt sind, die anderen mehr

spiritualistisch, energetisch oder psychomatisch. Gemeinsam bleibt allen Formen der monistischen Religion, die sich daraus entwickel­ ten, der Grundgedanke, daß Natur und Gott zusammen ein einziges, einheitliches Weltprinzip bilden. Die­ sen pantheistischen Vorstellungen hat namentlich Goethe in seinen unvergleichlichen Dichtungen (Faust, Prometheus, Gott und Welt usw.) den schönsten Ausdruck gegeben. Insofern dabei ein per­ sönlicher Gott — unabhängig von der Welt — ausgeschlossen wird, ist dieser monistische Pantheismus zugleich Atheismus. Eine solche „Religion ohne Gott" ist aber selbständig schon früher in verschiedenen Ländern aufgetreten, so namentlich im indischen Buddhismus und in der chinesischen Religion von Konfutse, in den weitest verbreiteten Religionen von Asien.(500 Jahre vor Christus).

D. Dualistische Religion. Während unsere monistische Religion die Einheit der Sub­ stanz in allen Dingen behauptet, nehmen dagegen alle dualisti­ schen Religionen zwei verschiedene Grundprin­ zipien des Weltgeschehens und Daseins an. Gott als immaterieller, unsichtbarer „Geist" lebt außerhalb der sinnlich erkennbaren Welt und steht dieser als „Schöpfer und Erhalter" gegenüber. Die höheren und jetzt noch herrschenden Formen die­ ses Theismus, insbesondere die drei großen Mediterran-Religivnen: Mosaismus, Christentum und Islam, sehen diesen „pers ö n l i ch e n G o t t" als ein selbständiges Wesen an (0 n); sie schreiben ihm die Eigenschaften eines allgewaltigen orientalischen Monarchen zu. Wenn dieser Schulgvtt (Ontheos) für sich allein die ganze Welt regiert und erhält, nimmt die Religion die Form des reinen Monotheismus an. Wenn dagegen zwei' verschiedene „höchste Wesen" nebeneinander bestehen und sich be­ kämpfen, das „gute und böse Prinzip" — Gott und Teufel —, tritt an die Stelle jener Eingötterei die Zweigötterei, der

Amphitheismus. Zu diesen beiden „persönlichen Gott­ heiten" tritt in der Dreigötterei, dem Triplvtheismus, noch eine dritte Person, so in der altkndischen, altchaldäischen und altchristlichen „Dreieinigkeitslehre". Ich habe in den beiden ersten „Synoptischen Tabellen" meiner letzten Schrift „Gott-Natur" (S. 64,65) eine kurze Übersicht über diese verschiedenen „Hauptfor­ men des O n t h e i s m u s" gegeben. Gemeinsam ist den meisten dualistischen Religionen der a n t h r o p i st i s ch e Charakter ihrer Gvttesvörstellung. Der persönliche Gott denkt und spricht, sieht und handelt wie ein Mensch, nur in vollkommenerer Form. Da­ bei wird er meistens als unsichtbarer „G e i st" gedacht. Da die unklaren Bilder von solchen „Geistern" ursprünglich von dem Vergleiche der menschlichen Seele mit dem Lufthauche oder Winde herrühren, wird diese luftartige oder gasförmige Beschaffenheit auch auf den unsichtbaren „Geist Gottes" übertragen. So ge­ langt man zu der paradoxen Vorstellung eines „gasförmigen Wirbeltieres", über deren vielfach mißverstandene Bedeutung ich in der Schrift über „Gott-Natur" (S. 40) einiges Nähere gesagt habe. Dort sind auch die vielfachen Widersprüche erwähnt, in welche sich die Gottesidee einerseits in der Anorgik (der Wissenschaft von der anorganischen Natur), andererseits in der Biologie (der organischen Naturkunde) notwendig verwickeln mutz. Daher ist auch neuerdings der „persönliche Gottesglaube" aus der ersteren ganz verschwunden, während er sich in der vita» listischen und teleologischen Richtung der letzteren — aller reinen Vernunft zum Trotze! — noch fortdauernd erhält. Allgott und Schulgott (Pantheos und Ontheos). Bei der Unsicherheit und Unklarheit, welche über diese verschiedenen Re­ ligions-Vorstellungen noch heute in weiten Kreisen herrscht, ist es wichtig, sich die wesentlichen Gegensätze ihrer beiden Hauptrich­ tungen, des Pantheismus und Ontheismus, vollständig klar zu machen. Man kann als gemeinsame Grundlage aller geläuterten Religionsformen die Vorstellung eines letzten und höchsten Ur­ grundes aller Erscheinungen, einer ersten „WeltUrsache" Ewigkeit, Haeckel.

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annehmen; diese kann man — hier wie dort — als „Sott" (Theos) bewundern und anbeten. Dann bleibt zuletzt, trotz aller gleichartigen Richtung des religiösen Bedürfnisses, der wesentliche Unterschied beider Richtungen darin bestehen,' daß der Allgott (Panthevs) in der materiellen Welt selbst, als bewußtlose „Urkraft", seinen Sitz hat; der Schulgott hin­ gegen (Ontheos) menschenähnliches Bewußtsein besitzt und als „allmächtiges" Subjekt von außen her die Objekte der realen Welt schafft und regiert. Der Allgott (Deusintramundanus) ist als kosmisch e r „Urgrund der Welt" der allumfassende Universalgott und regiert das Universum nach den unveränderlichen Naturgesetzen, bewußtlos, ohne „sittliche Welt­ ordnung". Der Schulgott hingegen (Deus extramundanus) ist als anthrvpistischer „Urgrund der Welt" ein in­ dividueller Personalgott; er schafft und regiert das Weltall mit Bewußtsein und gibt selbst in voller Freiheit die Gesetze der „sitt­ lichen Weltordnung", nach denen er alles mit „Weisheit und Verstand" zweckmäßig ordnet. Der Allgott des Pantheis­ mus ist das beständige Naturgesetz selbst und kann dasselbe nicht willkürlich ändern, also auch keine Wunder tun. Hingegen besitzt der Schulgott des Ontheismus volle persönliche Freiheit, kann die von ihm gegebenen Naturgesetze stets abändern und alle denkbaren Wunder tun. Je weiter man über diesen Gegensatz des Pantheismus und Ontheismus nachdentt, desto mehr überzeugt man sich, daß der Schulgott des letzteren nur ein idealisierter Mensch ist. Alle seine Eigenschaften sind anthropomorph, nach Menschenart gedacht; daher ist auch die ganze theistische, dar­ auf gegründete Weltordnung anthropozentrisch; der Mensch als „Gottes Ebenbild" ist das höchste Ziel und der Mittel­ punkt der Welt, um den sich alles dreht. Daher stammt auch die idealistische Menschenvergötterung oder „A n t h r o p o l a t r i e", in der sich der eitle Mensch — ein spät entstandenes höheres Säugetier! — ganz besonders gefällt. Wir fassen diese drei Be­ griffe, die anthropomorphe, anthropozentrische und anthropola-

Irische Idee, unter dem Begriffe des Anthropismus zu­ sammen; wir werden sehen, welche folgenschweren Irrtümer aus dieser menschlichen Selbstvergötterung entstehen. Weltkrieg und Wissenschaft. Die unvergleichliche Bedeutung, welche die W i s s e n s ch a f t als höchstes Ergebnis aller mensch­ lichen Kulturarbeit.besitzt, ist uns noch niemals so zum Bewußtsein gekommen, wie in dem jetzigen ungeheuren Völkerkrieg. Ip praktischer Beziehung leuchtet ja das sofort jedermann ein, wenn er die Bedingungen und Anforderungen der heutigen Kriegswissenschaft in Betracht zieht und sie mit denjenigen aller früheren Kriege vergleicht. Die erstaunlichen Fortschritte aller wirklichen, auf Erfahrung" gegründeten Wissenschaften im letzten halben Jahrhundert, besonders in Physik und Chemie, weiterhin in Geo­ graphie und Ethnographie, haben nicht bloß theoretisch unsere Kenntnis der Erde und ihrer Bevölkerung außerordentlich er­ weitert, sondern auch in praktischer Beziehung eine solche Vervoll­ kommnung der Technik herbeigeführt, daß tatsächlich eine An­ zahl von ganz neuen Hilfsmitteln der Kriegführung ent­ standen ist. Es ' genügt, hier kurz an die bewunderungs­ würdige Ausbildung unserer Verkehrsmittel zu erinnern: Eisen­ bahnen und Dampfschiffe, elektrische Bahnen und Luftschiffe, Telegraphen und Telephone, Angrifsswaffen und Schußwaffen der raffiniertesten Art. Alle diese Erfindungen und Produkte der modernen Technik beruhen auf theoretischen Fortschritten der Naturwissenschaft, welche im Laufe der vergangenen 80 Jahre, und besonders der letzten 40 Jahre, eine früher nicht geahnte Höhe der Ausbildung erreicht hat. Wir verdanken die­ selben der fortgesetzten Schärfung unserer Sinnesorgane, als der ersten Erkenntnisquellen, ferner der Vervollkommnung ihrer, technischen Hilfsmittel (Mikroskope, Teleskope, Spektroskope usw.) — vor allem aber der höheren Ausbildung des „Phronema", des Denkorgans in unserm Großhirn, Niemals so wie heute ist uns der unvergleichliche Wert der mensch­ lichen Vernunkt zum Bewußtsein gekommen, jenes Organs

der Kausalität oder Llrsachenerkenntnis, welches den modernen Kulturmenschen so hoch über den rohen Naturmenschen erhebt, und über die Ahnenreihe der Herrentiere, aus denen er hervorgegangen ist. In gleichem Maße aber wie Vernunft und Wissenschaft („des Menschen allerhöchste Kraft"!) sich gehoben und uns zu einer höheren Stufe der Weltanschauung auswärts geführt haben, in gleichem Maße ist der Wert jener alten „Glaubenssätze" gesun­ ken, welche in früheren Perioden der Kulturgeschichte deren Grundlage bildeten. Weltkrieg und Glaubenssätze. Indem ich hier den alten Streit zwischen „W i s s e n und Glauben", zwischen Vernunft und Einbildungskraft kurz berühre, muß ich zunächst an jene allgemeinen Betrachtungen über „monistische und dua­ listische Erkenntnislehre" erinnern, welche ich in meiner Schrift über „Gott-Natur" (1914) der Klarstellung des Verhält­ nißes von „Religion und Philosophie" vvrausgeschickt habe. Die Erkenntnis der Wahrheit kann nur auf dem Wege der voraus­ setzungslosen und kritischen Wissenschaft gefunden werden, durch natürliche Erfahrung, Beobachtung und Experiment, durch un­ befangene Vergleichung und kausale Analyse der Erscheinungen; und dazu ist nur die reine Vernunft fähig, der Intellekt. Irreführend und wahrheitsfeindlich sind dagegen die Wege soge­ nannter Offenbarung, gleichviel, ob sie im Sinne der kirch­ lichen Glaubenslehre als göttliche, übernatürliche „Revela­ tion" (— Apokalypfis) angesehen werden, oder im Sinne der dualistischen Philosophie als „höhere Intuition" oder innere Erkenntnis, frei von aller Erfahrung. Diese „höhere Offen­ barung" oder „Inspiration" ist immer ein Phantasiegebilde der Dich 1 ung; sie stützt sich vielfach auf die Ansprüche des Gemütes; dieses hat aber mit der Erkenntnis und Wahrheit gar nichts zu tun. Vielmehr führt es uns auf den verschlungenen Irrwegen der Mystik und Theosophie zu jenen phantastischen Vorstellungen, welche in der bunten Mythologie des Altertums wie in den Wundergeschichten des Ehristentums und anderer Glaubens-

Dichtungen die mannigfaltigste Ausbildung erfahren haben. Wohl zu unterscheiden sind von allen diesen transzendenten und über­ natürlichen Glaubenssätzen die H y p o t h e s e n der Wissenschaft, jene vernunftgemäßen Annahmen, welche die Lücken unseres be­ schränkten Wissens auf natürlichem Wege durch Erkenntnis der wahren Ursachen auszufüllen versuchen. Gegenüber den ungeheuren Ereignissen, welche der Weltkrieg uns tagtäglich un­ mittelbar vor Augen führt, wird der klar denkende Vernunft­ mensch überall nach unbefangener Erkenntnis der wahren natür­ lichen Ursachen der Erlebnisse streben. Aber die Macht der Tra­ dition und des geheiligten Kirchenglaubens ist so groß, daß trotz­ dem viele noch an „Wunder", an übernatürliche Ursachen glauben. Eine große Rolle spielen dabei die Macht der Gewohnheit, die Wünsche des Gemütes und die Autorität der Schule.

E. Religion und Konfession. Seitdem die Türkei im Weltkriege eine entscheidende Stellung eingenommen und dem verbündeten Deutschland und Österreich ein höchst willkommener Bundesgenosse geworden ist, hat auch die Beziehung der Religion zum Weltkriege sich wesent­ lich verändert. Denn in diesem hoffnungsvollen „neuenDreibund" kämpfen nun als treue Mitkämpfer nebeneinander die vorwiegend evangelischen Deutschen, die überwiegend katholifchen Österreicher und die größtenteils mohammedanischen Tür­ ken; dazu treten noch viele tausend israelitische Juden und eine sehr große Zahl von monistischen Dissidenten.' Diese letzteren, die jeden Aberglauben aufgegeben haben und ihre Weltanschautmg ausschließlich auf die Vernunftschlüsse der Wissenschaft gründen, gchören größtenteils den höheren, feiner gebildeten Kreisen der Gesellschaft an — und zwar in allen drei Ländern des neuen Dreibunds —. Ihre Zahl und ihr Einfluß ist viel größer, als es zunächst scheinen könnte; denn sehr viele freidenkende Dissidenten fügen sich aus praktischen Rücksichten äußerlich

noch den traditionellen Gebräuchen der herrschenden Kirchen, ob­ wohl sie innerlich den Glauben an ihre Wahrheit längst verloren haben. Es ist aber bemerkenswert und im Sinne des Kultur­ fortschritts freudig zu begrüßen, daß die spezielle Bekenntnisform der verschiedenen Gläubigen in den gemischten Lagern des Welt­ krieges sehr zurücktritt, und daß die Kvnfessionsunterschiede in der treuen Kameradschaft der Kriegsgenosten keine bedeutende Rolle spielen. Das ist ein erfreulicher Fortschritt der geläuterten Re­ ligion, wie sie in Lessings „Nathan der Weise" als Grundlage wahrer Sittlichkeit verherrlicht wird. Immer mehr bricht sich die Überzeugung Bahn, daß der Wert der wahren Religion im praktischen Leben und in der Sittenlehre unabhängig ist von den besonderen theoretischen Glaubenssätzen einer jeden besonderen Konfession. Die vergleichende Religionswistenschaft über­ zeugt uns ohnehin davon, daß der größte Teil dieser hochgehalte­ nen „ehrwürdigen" Glaubenssätze nichts weiter sind als Phantasiebildungen der Dichtung; bald mehr uralte Traditionen des Aberglaubens, bald mehr vielgestaltige Lehrsätze der dualistischen Spekulation. Der Austausch der verschiedenen Meinungen und Urteile, welche in den ungeheuren Ereignisten des Völkerkrieges alltäglich sich den Mitkämpfern verschiedener Konfession aufdrän­ gen, trägt viel dazu bei, die wünschenswerte Aufklärung über die wichtigsten Lebensfragen zu fördern, und zugleich die Toleranz gegen Andersgläubige. Als gemeinsames Ziel Aller tritt immer mehr die Förderung der Humanität hervor, jener höheren Kultur, deren monistische Religion sich auf Ver­ nunft und Wissenschaft gründet. Weltkrieg und Christenglauben. Die große Mehrzahl der Kulturvölker, welche im jetzigen Weltkriege sich gegenseitig zu ver­ nichten streben, bekennt den Glauben an die christliche Religion. Die hohe praktische Bedeutung des Christentums, sein wirk­ licher Wert für höhere Ethik und veredelte Lebensführung steht historisch^außer Zweifel. Anders steht es aber mit seinem theo­ retischen Wert, mit dem philosophischen Inhalt des christlichen

Glaubens, insofern er Anspruch auf wissenschaftliche Geltung er­ heben kann. Da ich bereits im 17. Kapitel der „Welträtsel" die wichtigen Beziehungen von Wissenschaft und Christentum, den un­ versöhnlichen Gegensatz zwischen der monistischen wissenschaftlichen Erfahrung und der dualistischen christlichen Offenbarung klar hervorgehvben habe, genügt es, hier darauf hinzuweisen, daß alle Versuche einer künstlichen Versöhnung zwischen beiden völlig ver­ geblich geblieben sind. Die dogmatischen Sätze des A p o st o l i schen Glaubensbekenntnisses, welches die wichtigsten Grundgedanken der katholischen Weltanschauung in bindender Form zusammensaßt, widersprechen vollständig den sicheren Ersahrungssätzen der modernen Wissenschaft. Dasselbe gilt von den drei Glaubensartikeln des evangelischen Katechis­ mus, wie et noch heute in der von Luther gegebenen Fassung und Erklärung an den meisten Schulen als wichtigste religiöse Grundlage der Bildung gelehrt wird. Im ersten Artikel wird der Glaube an die übernatürliche „Schöpfung des Himmels und der Erde" durch den allmächtigen Gott-Vater behauptet; — im zweiten Artikel der Glaube an seinen „eingeborenen Sohn Jesus Christus", an desien Parthenvgenesis aus der Jungfrau Maria, seine Höllen- und Himmelfahrt; — im dritten Artikel der Glaube an den rätselhaften „Heiligen Geist", die Auferstehung des Flei­ sches und ein ewiges Leben. Wenn man diese Glaubensartikel in ihrem wahren Wesen als religiöse Dichtungen betrachtet, so können sie denselben poetischen, ästhetischen und ethischen Wert in Anspruch nehmen, wie ähnliche Phantasiegebilde anderer Reli­ gionen. Wenn man ihnen aber die maßgebende Bedeutung un­ umstößlicher Wahrheiten zuschreibt und auf deren Glauben die ganze Bildung unserer Jugend festlegen will, so kann nicht scharf genug betont werden, daß sie von Anfang bis zu Ende falsch sind und den sicheren Erkenntnissen der Vernunft und der durch sie errungenen Wissenschaft widersprechen. Ganz besonders gilt dies von dem Glauben an die unmögliche „Auf­ erstehung des Fleisches und ein ewiges Leben". Diese mystische

Dichtung wird durch die empirische Lösung der anthropologischen „Kardinalsrage" aus das bestimmteste widerlegt. Weltkrieg und Christensitten. Der wichtigste Grundsatz der christlichen Religion (im besten Sinne!) ist die allgemeine Menschenliebe; — alle Menschen, gleichviel welcher Nation und welchem Stande angehörig, sind „Kinder Gottes", sind gleich­ berechtigte Ebenbilder des „Allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erde". Das echte Christentum predigt den reinen Altruis­ mus und verwirft den einseitigen Egoismus; „Liebe deinen Nächsten als dich selbst"! Lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun! „Wenn dir jemand den Rock nimmt, gib ihm dazu noch den Man­ tel"! „Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen"! Mit diesen Grundsätzen der Nächstenliebe ist naturgemäß der prinzipielle P az i s i s m u s der christlichen Sittenlehre verknüpft; nicht nur wird der Krieg im allgemeinen verworfen, sondern auch alle die ein­ zelnen rohen Gewalttaten und die wilden Grausamkeiten, die wir in dem jetzigen Weltkriege täglich tausendweis erleben müssen. Wenn nun schon jederKrieg — auch die Selbstverteidigung als Notwehr gegen unverschuldeten Angriff — im Sinne des reinen Christentums verwerflich ist, so muß das doch ganz besonders jetzt von dem größten aller Kriege gelten. Über­ trifft doch der gegenwärtige, alle Kulturkreise des Erdballs be­ rührende Völkerkrieg sowohl in quantitativer als in qualitativer Beziehung bei weitem alles, was die leidende Menschheit bisher erlebt, ja alles, was sie für möglich gehalten hat! Und dabei sollen wir noch ap die Güte des „lieben Gottes" glauben, an die weisen Ratschlüße seiner „Vorsehung", an die Gerechtigkeit seiner „sitt­ lichen Weltordnung"! In Wahrheit bedeutet die reale Praxis unseres Völkerkrieges den totalen Zusammenbruch der christlichen Sittenlehre — ebenso wie seit 60 oder 80 Jahren die unge­ ahnten Erkenntnisie der Naturwissenschaft den totalen Bankerott der theoretischen christlichen Glaubenslehre herbeiführen mußten. Siegreich muß sich auf den Trümmern und Aschen­ haufen dieser christlichen „Weltreligion" und ihres Aberglaubens

die neue Vernunftreligion unseres Monismus er­ heben, die einzig und allein auf die Erkenntnis der realen Natur­ gesetze sich gründet und die in dem richtigen Gleichgewicht von Egoismus und Altruismus das „goldene Sittengesetz" zm höchsten Norm unseres Lebens erhebt. Deutsches Christentum (Reformation). Unter allen Kultur­ ländern steht Deutschland in der vernünftigen Fortbildung der christlichen Religion voran. Erstens hat die deutsche Theo­ logie vor 400 Jahren durch die Reformation einen so be­ deutenden Fortschritt der höheren Geisteskultur herbeigeführt, daß die Kulturgeschichte mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts einen neuen Hauptabschnitt der sogenannten „Weltgeschichte" anfängt. Allerdings hatte schon im 15. Jahrhundert mit der „Renaissance" der Kunst, mit der Entdeckung von Amerika (1492), mit der Er­ findung der Buchdruckerkunst (1450) und gleichzeitig mit der Wiedergeburt selbständiger Natursorschung neues Geistesleben der finsteren Nacht des Mittelalters ein Ende bereitet. Aber es war doch eine weltgeschichtliche Tat, als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, den entscheidenden Kamps gegen den Papismus begann und damit die Wiedergeburt der gefesielten Vernunft einleitete. Noch bedeutungsvoller für den Fortschritt der Weltanschauung aber war es, daß 26 Jahre später ein anderer deutscher Theologe, der Domherr von Thorn, Nikolaus Kopernikus, sein neues, helio­ zentrisches Weltsystem an die Stelle des alten ptolemäischen Sternsystems setzte und damit die herrschende geozentrische Welt­ anschauung zerstörte. Die Erde verlor damit ihre beherrschende Stellung im Mittelpunkt der Welt; damit wurde aber auch die zentrale Weltstellung der christlichen Mythologie zerstört, deren ganze Geschichte sich in der kurzen Zeitspanne von 1543 Jahren bis dahin abgespielt hatte. — Zweitens hat 300 Jahre später die deutsche Theologie den bedeutendsten Einfluß auf die Neugestal­ tung der Philosophie dadurch gewonnen, daß ihre angesehensten Vertreter den traditionellen mystischen Ontheismus in einen

rationellen, wissenschaftlich begründeten Pantheismus ver­ wandelten; Schleiermacher in seinen Reden über Religion, Ludwig Feuerbach in seinem „Wesen des Christentums", David Strauß in seinem „Leben Jesu" und der neueren Schrist „Alter und neuer Glaube" bereiteten hier im Verein mit vielen anderen freidenken­ den deutschen Theologen den fruchtbaren Boden vor, auf welchem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unser Monismus, gestützt aus die wunderbaren Fortschritte der modernen Natur­ erkenntnis, den festen Grund zu einer neuen naturgemäßen monisti­ schen Religion legen konnte. Damit wurde das „Scheinch r i st e n t u m" des 19. Jahrhunderts reformiert, dessen Bedeu­ tung ich im 17. Kapitel der „Welträtsel" erörtert habe, zugleich mit kritischen Betrachtungen über die historische Entwicklung des Christentums. Englisches Christentum (Pambritismus). Als wichtig­ stes Ziel seiner Weltherrschaft verfolgt England angeblich die Aus­ breitung der höheren Kultur durch Erziehung zum christlichen Glauben. Kein anderes Kulturvolk entfaltet in dieser Richtung eine so eifrige und ausgedehnte Tätigkeit wie Großbritannien. Englische Missionare durchziehen alle Länder; englische Bibel­ gesellschaften verbreiten die Heilige Schrist alljährlich in Millionen von Exemplaren; die englische „Heilsarmee" predigt das Evan­ gelium in den niederen und höheren Vvlksklasten. In vielen Hotels in Indien und Ägypten — aber auch in der Schweiz und in anderen von englischen Touristen bevorzugten Ländern — fin­ det der Reisende in den Lesesalons und in den Schlafzimmern das Reue Testament ausgelegt. In unzähligen Kirchen und Kapellen der Englisch sprechenden Welt werden von glaubenseifrigen Pre­ digern die christlichen Glaubenslehren unermüdlich verbreitet. In vielen englischen Häusern, besonders der höheren Stände, gilt der äußere Kultus der christlichen Zeremonien, das Tischgebet, der fromme Gruß, die kirchliche Unterhaltung als ein wesentlicher Bestandteil der feineren Bildung. Gewiß ist ein großer Teil dieses britannischen Christentums ernst gemeint und dient auch

wirklich zur Verfeinerung der Lebensart und Sitte. Aber der weit­ aus größere Teil dieser frommen Religionsübungen wird nur ge­ wohnheitsmäßig mitgemacht, oder er wird äußerlich vollzogen, ohne warmen, inneren Anteil, oder er dient ganz anderen welt­ lichen Zwecken. Ein sehr großer Teil derselben beruht aber auf bewußter Heuchelei. Der äußere Schein frommer Rede und Handlungsweise steht in schroffem Gegensatz zu der egoistischen Gesinnung, der inneren Fäulnis des Charakters. Und wie ver­ hält sich dieses erhabene und viel gepriesene „englische C h r i st e n t u m" zu den namenlosen Gräueln des Weltkrieges, dessen Schuld allein aus den frommen Inselstaat fällt? Stehen nicht alle die blutigen Ereignisse, deren Augenzeugen wir seit 15 Monaten sind, alle die Menschenverluste und feindseligen Handlungen, unter denen täglich Millionen leiden, in schroffstem Gegensatze zu den Geboten der christlichen Liebe, von denen der Mund Großbritanniens beständig überfließt? Und wie hat die englische Presse seit Ausbruch des Weltkrieges alle ihre Gegner — das Deutsche Volk voran — in der maßlosesten Weise ver­ leumdet und beschimpft? Niemals, seit es menschliche Kultur gibt, ist ein solches ÄbermaßvonLügeundVerleumdung, von Betrug und Heuchelei entwickelt worden, wie seit fünf Vierteljahren von dem „gottseligen" England im Namen des dreieinigen Christengottes geschehen ist. Und diese schamlose Heuchelei muß um so widerwärtiger erscheinen, als jeder Sach­ kenner weiß, daß dieser britische Christengott in Wahrheit die B a n k v o n E n g l a n d ist, das heilige „G o l d e n e K a l b", dessen abgöttische Kultur das Hauptziel des Pambritismus ist, der Herrschaft Englands über alle anderen Völker. Colvmbanisches Christentum (Dollarismus). Wir können an dem unerfreulichen Hinweis auf die bodenlose englische Heuchelei nicht vorübergehen, ohne zugleich derselben Hypokrisie in Nordamerika zu gedenken. Die „Vereinigten Staaten von Nordamerika" spielen ja leider in diesem Völkerkriege eine so ver­ hängnisvolle Rolle, daß unser Hauptseind Großbritannien diesem

angeblich neutralen Lande zum größten Dank verpflichtet ist. Zum Verständnis dieser bedauerlichen Tatsache muß man die Ent­ wicklungsgeschichte der „United States" im Auge behalten, die ja erst vor 150 Jahren durch das Verdienst von George Washington von dem Joche des englischen Mutterlandes sich befreit haben. Da seitdem zahllose Einwanderer aus Europa und aus anderen Welt­ teilen sich in den Vereinigten Staaten niedergelasien und in man­ nigfachster Weise vermischt haben, fehlt es diesem großen Lande an jenem einheitlichen Nationalcharakter, der die meisten Staaten­ gebilde der Alten Welt mehr oder minder scharf kennzeichnet. Diese Eigenart spricht sich schon in dem Umstande aus, daß eine allgemein anerkannte Nationalbezeichnung für die gesamten poli­ tisch vereinigten Bewohner der „United States" nicht in Gebrauch ist; der Name „Banker s" wird meistens nur für die „Neu­ engländer" verwandt; mit Beziehung auf den Entdecker der Neuen Welt, Christosoro Colombo, werden sie bester als Cvlomb a n e r bezeichnet. Wenn wir entsprechend hier die herrschend« Religion derselben als colombisches oder colombanisches Christentum bezeichnen, so geschieht dies mit dem ausdrück­ lichen Vorbehalt, daß diese Religionssorm sich in mehr als 150 verschiedenen Sekten unabhängig vom Staat entwickelt hat. Es gibt keine „alleinseligmachende colombanifche Staats­ kirche". Die wünschenswerte Trennung von Staat und Kirche, eine erste Vorbedingung freier geistiger Entwicklung, ist also in Colombanien, ebenso wie in Holland und neuerdings in Frank­ reich, praktisch durchgeführt, ohne daß die religiösen Bedürfnisse des Volkes dadurch Schaden gelitten hätten. Im allgemeinen wird von den Colombanern, trotz ihres starken Geschäftssinns, der Kirchenglaube hoch gehalten — wenigstens in bezug auf die äuße­ ren Formen des „Gottesdienstes" —; das hindert aber nicht, daß die Pankees im praftischen Leben auf die christlichen Sittengesetze sehr wenig Rücksicht nehmen. Der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten, Profestor Wilson, bekennt sich nicht nur im Prinzip zu deren Neuttalität, sondern ordnet als eifriger Frie-

densfreund besondere Bettage und Gottesdienste zur baldigen Be­ endigung des Weltkrieges an. Gleichzeitig tut er in Wirklichkeit alles mögliche, um den Weltkrieg zu verlängern; er gestattet, daß die nordamerikanischen Munitionsfabriken unseren Feinden unbe­ grenzte Mengen von Waffen und Munition liefern, er begünstigt den infamen Plan Englands, durch Abschneiden aller Zufuhr Deutschland auszuhungern, er versteigt sich in seinen „Friedens­ reden" zu einem Grade der politischen und religiösen Heuche­ lei, der demjenigen des englischen „Millionenmörders" Grey nichts nachgibt. Das find die schönen Früchte des christlichen Dollarismus, der goldgierigen Gewinnsucht,' die leider in Colombanien zum höchsten Prinzip der „christlichen Nächstenliebe" geworden ist.

F. Der heilige Krieg. Nachdem der Sultan in Konstantinopel, als geistliches Ober­ haupt des ganzen Islam, den Eintritt der mohammedanischen Welt in den großen Völkerkrieg verkündet hatte, wurde vielfach befürchtet, daß der damit proklamierte „Heilige Krieg" miss neue in einen fanatischen „Religionskrieg" ausarten werde, in eine der schlimmsten und zugleich törichtsten Formen der Krieg­ führung. Manche äußerten schon die Sorge, daß die Türken und die mit ihnen verbündeten Mohammedaner Asiens und Afrikas die ganze christliche Kultur bedrohen und das Kreuz durch den Halbmond vernichten würden. Daß diese Befürchtungen sich nicht erfüllt haben und nicht erfüllen werden, ist verständlich für die­ jenigen, welche die Kulturfortschritte des 19. Jahrhunderts, und besonders in dessen letzter Hälfte, in allen Weltteilen vergleichend verfolgt haben. Die weit vorgeschrittene Bildung in allen Kreisen, der Austausch der geistigen und materiellen Güter durch den internallonalen Weltverkehr, sowie die damit zunehmende Toleranz der verschiedenen Konfessionen, haben die ftüheren Ansichten über deren Wert gründlich verändert. In einer vortrefflichen Schrift

von Dr. Galli (früher deutscher Generalkonsul in Algier und Smyrna, ein gründlicher Kenner des Orients) ist der „Dschihad", der heilige Krieg des Islam und seine Bedeutung im Weltkriege, unter besonderer Berücksichtigung der Interesien Deutschlands einem klaren Verständnis nähergebracht worden. Es handelt sich in dem jetzigen „Heiligen Kriege" nicht wie in den früheren um einen Glaubenskampf zwischen den Konfessionen der drei großen „Mediterran-Religionen": der israelitischen, christlichen und mohammedanischen Glaubenssormen. Vielmehr ist unser gemein­ sames Ziel bei diesem heiligen Freiheitskriege vor allem die Freiheit des O z e a n s, die Befreiung von der uner­ träglichen Tyrannei Großbritanniens, welches die absolute Herr­ schaft über das ganze Weltmeer, fast zwei Drittel der Erdober­ fläche, für sich allein in Anspruch nimmt. Außerdem haben die mohammedanischen Völker in Asien und Afrika unter dem Joche der englischen Sklaverei den wahren sittlichen Wert des englischen Echeinchristentums gründlich kennen gelernt; man denke nur an die Hungersnöte und die grausam unterdrückten Aufstände in Indien, an den Opiumhandel in China, an den Burenkrieg in Südaftika. Jetzt ist nun auch durch die barbarische, aller „christ­ lichen Liebe" spottende Art der Kriegführung Englands, durch dieses beispiellose Gewebe von Lüge, Heuchelei und Roheit, auch den anderen Völkern klar geworden, was sie weiterhin von dieser Gewaltherrschaft der englischen „Brüder in Christo" zu erwarten haben. Somit ist wirllich der „Kampf bis aufs Mester", welchen Großbritannien in seinem Größenwahn uns aufgezwungen hat, auch für den neuen Dreibund ein wahrhaft „H e i l i g e r K r i e g" geworden, ein Kampf für Wahrheit und Recht, für Sitte und Menschlichkeit. Monistische Sittenlehre. Die neue geläuterte Religion des 20. Jahrhunderts, welche sich hoffentlich als segenbringender Phönix aus dem riesigen, blutgetränften Aschenberg des jetzigen Weltkrieges erheben wird, kann nur den modernen Monismus als unerschütterliche Grundlage festhalten. Denn nur dieser

naturalistische oder pantheistische Monismus kann ein betriebt« gendes und dauerhaftes Band zwischen Religion und Wissenschaft Herstellen, wie ich es 1892 in meinem Alten­ burger Vortrage als wünschenswertestes Kulturziel hinge­ stellt habe. Einerseits ist in theoretischer Beziehung festzuhalten, daß unsere monistische Weltanschauung sich einzig und allein auf den Boden der vernunftgemäßen Wissen­ schaft stellen darf. - Da der gewaltige Fortschritt der Natur­ erkenntnis im letzten halben Jahrhundert durch die Entwicklungs­ lehre auch alle Gebiete der sogenannten „Geist es wissenschäft" der Herrschaft der Naturgesetze unterworfen hat, werden von jetzt an überall nur die Gesetze der N atur wiss ens ch aft maßgebend sein, an ihrer Spitze die definitive Lösung der großen Kardinalsrage. Nur die sichergestellten Erkenntniste der Er­ fahrung, durch sinnliche Beobachtung und vernunftgemäße Verknüpfung im Denkorgan unseres Gehirns, im Phronema, dür­ fen uns als wirkliche Wahrheit gelten. Dagegen bleiben streng aus­ geschlossen alle sogenannten „Offenbarungen", alle Phantasie­ gebilde der „Intuition" oder „Inneren Erleuchtung". — Andererseits wird unsere monistische Religion in prak­ tischer Beziehung jene vernunftgemäßen Grundsätze der ge­ reinigten S i t t e n l e h r e festhalten müßen, welche Christus in dem einfachen Satze aussprach: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Indessen ist dieses „goldene Sitteng e s e tz", unser höchstes „ethisches Grundgesetz" (oft auch schlecht­ hin als „goldene Regel" bezeichnet), nicht erst durch Christus zur Richtschnur unseres sittlichen Denkens und Handelns erhoben wor­ den, sondern bereits 600 Jahre vor ihm von verschiedenen Weisen und Religionsstiftern der alten Welt im gleichen Sinne ausge­ sprochen; so von mehreren griechischen Naturphilosophen, von Thales und Pittakos, von Aristippus und dem großen chinesischen Religionsstifter Konfutse. Ein Fehler der meisten christlichen Religionslehren bestand aber darin, daß sie die Nächsten­ lieberen Altruismus zum ausschließlichen Prinzip der mensch-

lichen Lebensführung erhoben und die natürliche Eigenliebe, den Egoismus, gänzlich ausschalten wollten. Nach unserer natur­ gemäßen Überzeugung sind aber diese beiden konkurrierenden Triebe der menschlichen Natur gleichberechtigt; es besteht eine notwendige Wechselwirkung, eine natürliche Äquivalenz des Egoismus und Altruismus; wir alle haben ebenso berechtigte Pflichten der individuellen Selbsterhaltung, wie soziale Pflichten gegen die Gemeinde und den Staat, dem wir als Glieder angehören. Die wichtigste Aufgabe unserer mo­ nistischen Ethik wird in der praktischen Lebensführung immer sein, das richtige Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus herzustellen. Wie im übrigen die Pflichtgebote oder „Imperative" unserer monistischen Sittenlehre auf Grund der Entwicklungslehre sich gestalten können, habe ich im 19. Kapitel der „Welträtsel" und im 17.—19. Kapitel der „Lebenswunder" weiter ausgeführt. Besonders zu beachten sind die dort ange­ führten Arbeiten'von Bartholomäus Carneri, Friedrich Iodl und Ludwig Feuerbach. Zu den wichtigsten Pflichtgeboten gehört der „Energetische Imperativ" von Wilhelm Ostwald: ^Vergeude keine Energie, sondern verwerte sie."

Drittes Kapitel.

Weltkrieg und Kardinalfrage. A. Wert des Kardinalproblems. Von allen tausend Fragen, die sich dem denkenden Menschen ausdrängen, ist weitaus die wichtigste diejenige nach seiner eigenen Natur, nach seinem Ursprung und seinen Beziehungen zur übrigen Welt. Daher hat Thomas Huxley, als er 1863 seine berühmten drei Vorlesungen über „Die Stellung des Menschen in der Natur" veröffentlichte, dieses Kardinalprvblem mit Recht als „die Frage aller Fragen" bezeichnet. Sie ist seit 40 Jahren definitiv gelöst durch den sicheren Nachweis der PrimatenAbstammung des Menschen. Zwar behaupten auch heute noch viele angesehene Autoren, namentlich Theologen und dualistische Metaphysiker, daß dieser Nachweis nicht gelungen oder nur eine „unsichere Hypothese" sei. Allein jeder unbefangene Denker, der die betreffenden empirischen Urkunden kennt, muß sich überzeugen, daß die Abstammung des Menschen von einer Reihe ausgestorbener Säugetiere eine unzweifelhafte histori­ sch e T a t s a ch e ist. In meiner Anthropogenie habe ich 1874 alle betreffenden Dokumente kritisch zusammengestellt, im ersten Bande die Keimesgeschichte, im zweiten die entsprechende Stammesgeschichte des Menschen ausführlich geschildert und durch zahlreiche Abbildungen illustriert. In dem Vortrage über „Das Menschenproblem und die Herrentiere" von Linnö (1907) find die betreffenden Beweise kurz zusammengefaßt. In der Festschrift über „Unsere A h n e n r e i h e ", die am 30. Juli Haeckel, Ewigkeit

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1908 bei der Übergabe meines Phyletischen Museums an die Universität Jena veröffentlicht wurde, sind diese „Kritischen Studien über phyletische Anthropologie" eingehender begründet. Die fundamentale Bedeutung, die ich dieser Progonotaxis des Menschen zuschreibe, beruht daraus, daß die Überzeugung von der Primaten-Abstammung des Menschen wirklich den Schlüssel zur Lösung aller Welträtsel enthält. Denn ebenso wie die gesamte körperliche Organisation des Men­ schen nur aus derjenigen der nächstverwandten Menschenaffen ab­ geleitet werden kann, so gilt ganz dasselbe auch für seine Seelen­ tätigkeit, für den „Men sch eng ei st", als die physiologische Funktion seines höchst entwickelten Denkorgans, des Phronema im Großhirn. Wer das ganze weite Gebiet der botreffenden biologischen Wissnschast kennt und ihre empirischen Tat­ sachen unbefangen vergleichend zu beurteilen imstande ist, wird anerkennen, daß die glückliche Lösung des Kardinalproblems wirk­ lich die definitive Beantwortung aller höchsten Fragen des den­ kenden Menschengeistes einschließt.

B. Urkunden der Primaten-Abstammung. Angesichts dieser universalen Bedeutung des Kardinal­ problems, welche von keiner anderen Aufgabe der Wissenschaft an Wert übertroffen werden kann, ist es geboten, alleempirischen Urkunden, welche wir darüber besitzen, streng aus ihre Beweiskraft zu prüfen. Dabei müßen wir uns aller jener reichen Hilfsmittel bedienen, welche uns die glänzenden Fort­ schritte der Naturerkenntnis während des letzten Jahrhunderts in die Hand gegeben haben. Es werden also die speziellen Ergeb­ nisse der exakten Natursvrschung sowohl als der histori­ schen Untersuchungen im einzelnen zusammenzustellen, dann aber vor allem ihre allgemeinen Resultate im Zusammenhang zu über­ blicken sein. Die induktiven Erkenntnisse der ersteren werden uns dann, richtig beurteilt und verwertet, zu den wichtigsten

deduktiven Schlüssen führen. Immer müssen wir jedoch dabei im Auge behalten, daß die gesamte Stammesgeschichte der Organismen nicht zu den exakten, sondern zu den historischen Naturwissenschaften gehört, ebenso wie ihre anorganische Schwester, die Geologie. Es werden also zukünftige Forschungen unsere Phylogenie im einzelnen noch vielfach berichtigen und ergänzen können; aber die großen allgemeinen Ergebnisse — auf die es in diesen Betrachtungen vor allem ankommt — wer­ den im ganzen für immer dieselben bleiben. Der Prüfung der einzelnen biologischen Urkunden lassen wir dann noch eine besondere Betrachtung des Wirbeltier st ammes folgen, für welche die vergleichende Zoologie einen sicheren Unterbau liefert. Anatomische Urkunden. Als vor beinahe 200 Jahren der große schwedische Naturforscher Carl von Linnö sein grund­ legendes „Systema naturae" schuf, stellte er an die Spitze der Tierreichs die Klasse der Säugetiere und nannte deren erste Ord­ nung „Anthropomorpha, Tiere von Menschengestalt". Als drei Gattungen derselben, die er später „Primates oder Herrentiere" taufte, unterschied er den Menschen (Homo), den Affen (Simia) und den Halbaffen (Lemur). Die verwandt­ schaftlichen anatomischen Beziehungen dieser drei Gattungen, die später zum Range eigener Familien oder Ordnungen erhoben wur­ den, haben zwar im einzelnen verschiedene Deutungen erfahren, find aber im ganzen anerkannt dieselben geblieben. Als wichtigste Resultate der betreffenden zoologischen Untersuchungen ergaben sich folgenhe Sähe: I. Die Primaten oder Herrentiere bilden eine selbständige, aus einer gemeinsamen Wurzel ent­ sprungene Legion der Säugetiere, hie zwar alle wesentlichen Eigen­ schaften der übrigen Mammalien teilt, aber doch durch besondere anatomische Merkmale sich von ihnen unterscheidet; II. die nie­ derste von den drei Ordnungen, die sich unmittelbar an die älteren Insektenfresier (Igel, Maulwurf usw.) anschließt, sind die H a l b affen (Prosimien oder Lemuren); III. diesen am nächsten

Unsere Primaten-Abstammung

stehen unter den geschwänzten echten Affen (Simien oder Pitheken) die Westaffen der Neuen Welt (Platyrrhinen); dann folgen die höher stehenden Ostaffen der Alten Welt (Catarrhinen), und zwar zunächst die Hundsaffen (Cynopitheca); IV. den Übergang von diesen letzteren zum Menschen bilden die schwanz­ losen Menschenaffen (Anthropoides), von denen heute noch vier verschiedene Gattungen in den Tropen der Alten Welt leben: Gibbon und Orang im südlichen Asien, Schimpanse und Gorilla im zentralen Afrika; V. Für die richtige Beurteilung der viel besprochenen nahen Verwandtschaft dieser Menschenaffen mit dem Menschen gilt vor allem der bedeutungsvolle „Pithekome traf atz" von Huxley (1863): „Alle anatomischen Unter­ schiede (gleichviel welches Organ man vergleicht) sind zwischen dem Menschen und den Menschenaffen geringer, als zwischen diesen letzteren und den niederen Affen"; VI. Die vielumstrittene „Abstammung des Menschen vom Affen" muß demnach als eine gesicherte phyletische Hypothese gelten, gleichviel von welchem Zweige der Primaten-Legion man die ältesten Ur­ menschen ableiten will; denn die anatomische und embryologische Einheit dieser „Herrentiergruppe" bleibt auf alle Fälle bestehen; VII. Selbst wenn man diese monophyletische Primatendeszendenz bestreiten und den Ursprung des Menschengeschlechts von einer anderen (unbekannten!) Gruppe der Säugetiere ableiten wollte, würde der einheitliche Ursprung der ganzen Klaste unzweifelhaft bleiben; und immer würde man eine hypothetische Gruppe von ausgestorbenen Menschenaffen zwischen den Menschen und seine ästeren (insektenfressenden!) Vorfahren einschieben müsten. Die nahe morphologische Verwandtschaft des Menschen mit den An­ thropoiden fällt jedem unbefangenen Beobachter sofort in die Augen, wenn er in dem Phyletischen Museum zu Jena (oder in einer anderen gröberen anatomischen Sammlung) die Skelette des Menschen und des Gorilla, des Schimpansen und Orang, nebeneinanderstehend vergleicht, sowohl im ganzen als in den ein­ zelnen Teilen. Die Zusammensetzung des Knochengerüstes aus

200 einzelnen Knochen, deren Anordnung und Verbindung, ist überall dieselbe. Die wirklich vorhandenen Unterschiede sind nur durch Verschiedenheiten im Wachstum und demzufolge auch der Große und Form der einzelnen Knochen bedingt. Histologische Urkunden. Ebenso wie die gröbere Zusammen­ setzung und der charakteristische Bau -der einzelnen Organe im Körper des Menschen und der Menschenaffen im wesentlichen gleich ist, so gilt das auch (und zwar noch in höherem Grade!) von ihrem feineren mikroskopischen Bau, ihrer Gewebestruktur und deren Zusammensetzung aus Milliarden von Zellen. Mögen wir bei starker Vergrößerung die einzelnen Fasern der Nerven oder der Muskeln, die skelettbildenden Zellen der Knochen oder der Knorpel, die Drüsengebilde der Leber oder der Nieren unter­ suchen, überall begegnen wir denselben Bildern beim Menschen und bei den höheren Säugetieren. Besonders charakteristisch ist die Tatsache, daß bei allen Säugetieren die roten Blutzellen ihren Kern verloren haben, während er bei allen übrigen Wirbel­ tieren erhalten bleibt. Auch die Struktur und Entwicklung der Haare, der eigenartigen Hautbedeckung der Säugetiere, ist im wesentlichen bei allen Mammalien dieselbe, und verschieden von den ähnliche Hvrngebilden, welche bei den Vögeln als Federn, bei den Reptilien als Schuppen die Haut bedecken. Allerdings haben sich gerade bei diesen oberflächlichen, der Anpasiung am meisten ausgesetzten Zellenbildungen des Körpers — ebenso auch bei einigen anderen Zellenformen, z. B. im männlichen Samen — mannigfache Formunterschiede in einzelnen Gruppen der Säuge­ tiere entwickelt. Allein diese sind von untergeordneter Bedeutung gegenüber der Tatsache, daß der gesamte Gewebebau unseres menschlichen Körpers im wesentlichen dem der übrigen Säuge­ tiere, und ganz besonders dem der Herrentiere gleich ist. Diese feinere histologische Übereinstimmung bezeugt, ebenso wie die gröbere organologische, die Abstammung aller Mämmalien, mit Inbegriff des Menschen, von einer gemeinsamen Stammform, einem Promamuale (oder Architherium) der Triaszeit.

Physiologische Urkunden. Alle Lebenserscheinungen, die wir von unserem menschlichen Organismus kennen, sind ebenso wie bei allen anderen Säugetieren durch die anatomische und histologische Struktur seiner Organe, wie durch die chemische Zusammensetzung seiner Zellen und deren physikalische Beschaffenheit bedingt. Alle Tätigkeiten dieser Milliarden von Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe erfolgen nach den Gesetzen der Physik und Chemie, wie bei allen übrigen Organismen. Die moderne „Zellular-Physiologie" (Max Verworn) betrachtet demnach das Leben des Menschen, gleich dem aller anderen Lebewesen, als ein rein physikalisches Phänomen im weitesten Sinne. Wir dürfen also beim Menschen ebensowenig wie bei den anderen Wirbeltieren als letzte Lebensursache eine besondere „Lebenskraft" annehmen, wie sie der Vitalismus behauptet. Die vergleichende Physiologie lehrt uns ferner, daß die Säugetiere, als die höchst entwickelte Klasse des Wirbeltier­ stammes, sich von besten übrigen Klasten durch mehrere besondere Eigentümlichkeiten auszeichnen. Dahin gehört namentlich die besondere Form des Blutkreislaufs und der Atmung. Nur bei den Säugetieren tritt das arterielle Blut aus der linken Herzkammer durch den linken Aortenbogen in den Körper, bei den Vögeln hingegen durch den rechten; in den älteren Reptilien (von denen beide Klasten abstammen) haben noch beide Aorten­ bögen (linker und rechter) ihre ursprüngliche Funktion bchalten. Nur bei den Mammalien wird die Atembewegung hauptsächlich durch das Zwerchfell vermittelt, weil nur allein in dieser Klaste dasselbe eine vollständige Scheidewand zwischen Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Von ganz besonderer Bedeutung aber ist für alle Säugetiere die Absonderung von Milch in der Brustdrüse (Mamma) und die Ernährung der Jungen durch das Säuge­ geschäft. Diese Form der Brutpflege, der die Klaste ihren Namen verdankt, ist deshalb von hervorragender Wichtigkeit, weil die Ernährung des Kindes durch die Milch der Mutter nicht nur die innigste Wechselbeziehung zwischen beiden bewirkt, sondern auch

andere Lebensfunktionen vielfach beeinflußt. Der Instinkt der Mutterliebe, die mit Recht als eine der wertvollsten Familien-Beziehungen gefeiert wird, und deren edelste Form im Bilde der Madonna mit dem Christuskinde Millionen von schönen Kunstwerken hervorgerufen hat, ist bei den Affen bekanntlich nicht weniger entwickelt als beim Menschen. Die besondere Anlage und Entwicklung der milchliefernden Brustdrüsen und ihrer Saug­ warzen ist beim Menschen genau dieselbe wie bei den Affen. Embryologische Urkunden. Die Tatsachen, welche uns die Keimesgeschichte (Embryologie oder Ontogenie) des Menschen offenbart, die Entwicklungsgeschichte jedes einzelnen menschlichen Wesens vom Beginne seiner Existenz an, gehören zu den wichtigsten Antworten aus die Kardinalfrage der PrimatenDeszendenz. Wenn diese erstaunlichen, seit 50 Jahren genau er­ forschten Tatsachen allgemein bekannt wären, und wenn sie nament­ lich von feiten der dualistischen Fachphilosophie die gebührende Beachtung fänden, würde die vielbestrittene „Abstammung des Menschen vom Affen" längst allgemein anerkannt sein. Da ich dieselben im ersten Bande meiner Anthropogenie (1874) aus­ führlich dargestellt und durch zahlreiche Abbildungen illustriert, sie auch in anderen Schriften vielfach verwertet habe, begnüge ich mich hier damit, die zwölf Gruppen von embryologischen Erschei­ nungen namhaft zu machen, welche von höchster allgemeiner Be­ deutung sind: 1. Jeder Mensch entsteht, wie jedes andere höhere Tier, aus einer einfachen kugeligen Zelle, der Stammzelle (Cytula), einer kernhaltigen Plasmakugel von ungefähr 0,2 mm Durchmesser, mit bloßem Auge eben als feines Pünktchen sicht­ bar. 2. Diese Stammzelle — die sogenannte „befruchtete Eizelle" oder „erste Furchungskugel" — entsteht in dem Augenblick, in welchem die weibliche Eizelle der Mutter mit der männlichen Spermazelle des Vaters zusammentrifft und völlig verschmilzt. 3. Dieses Moment der „Befruchtung" (ge­ nauer bestimmt die Verschmelzung der Kerne beider kopulieren­ der Geschlechtszellen) bezeichnet haarscharf den Zeitpunkt, in

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Unsere Primaten-Adscammung.

welchem die Existenz des neu erzeugten Individuums beginnt. 4. Die Vererbung der persönlichen „angeborenen Eigen­ schaften" jedes Menschen beruht daraus, daß durch den Kern der weiblichen Eizelle die individuellen Charaktere der Mutter und deren beider Eltern, hingegen durch den Kern der männlichen Spermazelle die persönlichen Eharakterzüge des Vaters und dessen beider Eltern, auf die neue Stammzelle übertragen werden. 5. Nach vollzogener Befruchtung (Kopulation der beiden Eltern­ zellen) erfolgt alsbald eine vielfach wiederholte Teilung dersel­ ben; die so entstandenen „Furchungszellen" bleiben zu einem kugeligen Keimkörper (Morula) vereinigt, der sodann dem wich­ tigen Prozeß der Gastrulation unterliegt. 6. Diebedeu­ tungsvolle Keimform, die daraus hervorgeht, die Gastrula oder der „Becherkeim", besteht aus zwei verschiedenen Zellen­ lagen, den beiden „primären Keimblättern", und enthält die An­ lage des ersten „Primitivorgans": Llrdarm mit Urmund. 7. Aus dieser Gastrula entwickelt sich weiterhin die charakte­ ristische Keimform der Chordalarve oder Chordula, deren Körper bereits aus vier sekundären Keimblättern und aus sechs „Primitivorganen" besteht; diese Keimform hat beim Menschen im wesentlichen dieselbe Zusammensetzung wie bei allen übrigen Wirbeltieren. 8. Im weiteren Verlaufe der Keimesentwick­ lung entsteht aus der Chordula die charakteristische, einer Sandale oder Schuhsohle ähnliche Keimfvrm des Sandalion; sie ist allen Amnioten gemeinsam, den drei höheren Wirbeltierklassen. 9. Der menschliche Embryo, welcher sich weiterhin aus dem Sandalion entwickelt, ist auch noch später, nachdem bereits Kopf und Sinnesorgane, sowie die Anlagen beider Gliedmaßenpaare ausgebildet sind, dem Embryo anderer höherer Säugetiere (be­ sonders Affen, Halbaffen, Hunden) so ähnlich, daß man sie nicht unterscheiden kann. 10. Die äußere Ähnlichkeit und die wesentliche Übereinstimmung im inneren Körperbau be­ steht beim Menschen und den Menschenaffen auch später noch auf der Bildungsstufe fort, auf welcher die

Unterschiede von anderen Säugetier-Embryonen längst aus­ geprägt sind. 11. Mehrere auffallende Eigentümlichkeiten, durch welche sich die embryonale Entwicklung des Menschen auszeichnet, besonders in der Bildung der K e i m h ü l l e n und der Keimes-Anhänge (Nabelstrang und Mutterkuchen), teilt der Mensch nur noch mit den Menschenaffen, während dieselben bei den niederen Assen und den übrigen Säugetieren verschieden sind. 12. Der gesamte Verlauf der Keimesgeschichte, sowohl in de« feineren wie in den gröberen Verhältnissen der Organbildung und Gewebesonderung, ist beim Menschen im wesentlichen der­ selbe wie bei den Menschenaffen, so daß auch durch die embryologische Vergleichung die nahe Verwandtschaft beider Primatengruppen ebenso klar bezeugt wird, wie durch die mor­ phologische, histologische und physiologische Vergleichung*). Paläontologische Urkunden. Die Versteinerungen oder Petrefakten, welche wir in den sedimentären, aus dem Wasser ab­ gesetzten Schichten unserer Erdrinde massenweis finden, sind die unzerstörbaren Überreste von Tieren und Pflanzen, welche in früheren Perioden der Erdgeschichte gelebt haben. Als hand­ greifliche, historische Urkunden geben sie uns allein un­ mittelbar Auskunft über die frühere Existenz und Organi­ sation von längst ausgestorbene« Organismen, die während ♦ Die Embryologie des Menschen, in weiteren BildungsPreisen noch viel zu wenig bekannt, offenbart uns die bedeutungsvollsten Tatsachen, deren hoher Wert für die Lösung des „Menschen­ problems" nicht überschätzt werden kann. Ich habe sie in meiner „Keimes­ geschichte des Menschen" (im ersten Bande der Anthropogenie) ausführ­ lich dargestellt und durch zahlreiche Abbildungen illustriert. Vergl. auch die unten angeführten Neineren Schriften, namentlich „Sandalion, eine offene Antwort auf die Fälschungsanklagen der Jesuiten" (1910, Frank­ furt a. M.). Lier ist auch die jüngste/ bisher beobachtete Keimform des Menschen, 12 Tage alt, einer Schuhsohle oder Sandale ähnlich, abgebildet. — Ihre volle Erklärung finden diese embryologischen Erscheinungen *rst durch das Biogenetische Grundgesetz (Generelle Morphologie, Bd. H, 1866).

vieler Millionen Jahre die Oberfläche unseres Planeten be­ völkert haben. Ihre hohe Bedeutung für die Schöpfungs­ geschichte wurde aber erst sehr spät erkannt. Die Geologen, welche bei der Untersuchung der Sedimentgebirge zuerst mit den darin eingeschlossenen Skelettresten und Abdrücken fossiler Or­ ganismen bekannt wurden, erblickten in diesen „Leitfossilien" wertvolle Anhaltspunkte für die relative Altersbestimmung und historische Ordnung der übereinandergeschichteten Gesteinslager. Die darauf gegründete „Versteinerungskunde" oder „ Petre faktologie" wurde daher mit der Mineralogie und Geologie verknüpft und zu den „anorganischen Naturwissenschaften" ge­ rechnet. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem Dar­ win durch feine Reform der Deszendenztheorie uns den Schlüssel zum Verständnis der Stammesgeschichte in die Hand gegeben hatte, erkannten die Biologen den außerordentlichen Wert, welchen die Überreste der fossilen Tiere und Pflanzen, in ihren unmittelbaren Beziehungen zu der heute noch lebenden Be­ völkerung besitzen. Nun erst entwickelte sich aus der beschreibenden „Petrefaktenkunde" die wirkliche erklärende „Paläonto­ logie", die verständnisvolle Erkenntnis der wirklichen Ver­ wandtschafts-Beziehungen, welche die alten fossilen Organismen teils als direkte Vorfahren der heute noch lebenden modernen Erdbewohner, teils als nahe Verwandte oder als Seitenlinien des Stammbaums besitzen. In kurzer Zeit hat sich diese neue biologische Wissenschaft, bereichert durch eine erstaunliche Fülle überraschender Entdeckungen während des letzten halben Jahr­ hunderts, zu einem selbständigen Zweige der Entwicklungslehre ausgebildet. Allerdings ist leider das empirische Material der­ selben sehr unvollständig. Aus Gründen, welche ich im 16. Vor­ trage meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" ausführlich dargelegt habe, geben uns diese wertvollen Versteinerungen, als wahre „Denkmünzen der Schöpfung", nur eine un­ vollkommene Vorstellung von der ganzen Gestaltung und Or­ ganisation der Lebewesen, als deren Bruchstücke oder teilweise

Abdrücke ihre Reste uns erhalten sind. Aber trotzdem besitzen sie als unmittelbare Zeugen einer großartigen Vergangenheit der Erdbevölkerung die höchstehistorischeBedeutung und gewähren uns besonders für die Stammesgeschichte der Wirbel­ tiere die wertvollsten Anhaltspunkte. Anthropologische Grundlagen. Alles was wir. wißen und glauben, unsere ganze Weltanschauung, Philosophie und Re­ ligion, ist in erster Linie bedingt durch die Natur des Menschen selbst, durch die Beschaffenheit seiner Erkenntnisorgane, der Sinne und des Gehirns. Insofern ist die wahre Anthropologie (im weitesten Sinne!) die Vorbedingung für alle anderen Wissen­ schaften. Schon der alte griechische Sophist Protagoras von Abdera sprach 440 Jahre vor Christus den berühmten Satz aus: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge"; er war gleich seinem Vorgänger Heraklit von der Überzeugung beseelt, daß die Welt in ewigem Fluße begriffen und daher alles Wißen von ihr nur relativ ist; der Grundgedanke der modernm Relativitäts-Theorie ist hier (im weitesten Sinne!) vor­ ausgenommen. Unter den neueren Denkern hat vor allen der große monistische Philosoph Ludwig Feuerbach (1840) diesen pantheistischen Grundgedanken in seinem „Anthropologirm u s" ausgebildet; er zeigte, daß die drei großen Ideale des Dualismus: „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nur vom Stand­ punkte der Anthropologie aus" richtig beurteilt werden können (1866). Neuerdings wird der Begriff der Anthropologie vielfach in engerem Sinne gebraucht, indem man als ihre eigent­ liche Aufgabe bald die somatische Menschenkunde (Anatomie und Physiologie), bald die menschliche Seelenkunde (Psychologie und Soziologie) einseitig betont. Vielfach wird sogar von einer so­ genannten „exakten Anthropologie" nur die genaueste Beschrei­ bung und Messung aller menschlichen Körperteile, ihrer RaßenUnterschiede usw. als die wichtigste Aufgabe angesehen und dabei der Gesichtskreis höchst beschränkt. Man sollte aber vernünftiger­ weise dm Begriff der monistischen Anthropologie nur im w e i -

1 esten Sinne fasten, als die Gesamtwissenschaft vom menschlichen Organismus, seinem Leben und seiner Entwicklung. In diesem Sinne — mit besonderer Beziehung auf die Primaten-Abstammung des Menschen — habe ich in meiner gene­ rellen Morphologie schon 1866 „DieAnthropvlogieals Teil der. Zoologie" bezeichnet. Wenn wir uns nun er­ innern, welchen hohen Wert die vergleichende und gene­ tische Forschungsmethode für alle Untersuchungen über orga­ nische Wesen besitzt, werden wir uns leicht überzeugen, daß die anthropologische Grundlage unserer ganzen monistischen Philo­ sophie nur auf dem festen Unterbau der vergleichenden Zoologie dauernd ruhen kann.

C. Zoologischer Unterbau. Keine andere Wistenschaft hat im Laufe des letzten halben Fahrhunderts so gewaltige Fortschritte gemacht und ihren ur­ sprünglichen Wirkungskreis so erstaunlich erweitert wie die moderne Tierkunde, die Zoologie im weitesten Sinne. Allerdings hatte schon vor mehr als zweitausend Jahren der große Aristoteles, der „Vater der Naturgeschichte", seine umfastende Aufgabe in dem Sinne erfaßt, daß die „Geschichte der Tiere" auch die anatomische Kenntnis von ihren Körperteilen und deren Entwicklung umfasten muffe. Allein diese fruchtbare Bahn der Forschung wurde von keinem seiner Nachfolger fvrtgeführt, und als im sechzehnten Jahrhundert die großen geographischen Entdeckungen eine Menge neuer, bis dahin unbekannter Tier- und Pflanzen-Formen nach Europa brachten, waren die Vertreter der Naturgeschichte vor­ wiegend mit der Beschreibung unzähliger einzelner Arten beschäf­ tigt. Unabhängig davon erschienen erst im 18. Jahrhundert ein­ gehende Untersuchungen über den inneren Körperbau und die Entwicklung der Tiere. Aber erst im 19. Jahrhundert drangen wir tiefer in die großen Geheimniste des organischen Lebens ein. Der Versuch von Jean Lamarck in seiner „Zoologischen

Philosophie" (1809), dieselben einheitlich zusammenzu­ fassen und mittels der Abstammungslehre die natürliche Entstehung der unzähligen Tier- und Pflanzen-Arten zu erklären, fand Beifall und Verständnis weder bei den empirischen Zoologen und Botani­ kern, noch bei den spekulativen Philosophen. Erst nachdem Char­ les Darwin 50 Jahre später sein Werk über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859) veröffentlicht und alle Erscheinungen des organischen Lebens unter einem einheitlichen grvhen Gesichtspunkte vereinigt hatte, gelangte die organische Ent­ wicklungslehre zur Anerkennung. Nun wurde es möglich, eine „Natürliche Schöpfungsgeschichte" an die Stelle der traditionellen „übernatürlichen Schöpfungs­ dichtungen" zu setzen (1868), und alle verschiedenen Zweige der Zoologie und Botanik, der Morphologie und Physiologie durch den gemeinsamen Entwicklungsgedanken zu einer umfassenden monistischen Biologie zu verbinden *). Einheit des Wirbeltierstammes. Im Beginne des 19. Jahr­ hunderts unterschied zuerst der große Lamarck, der Begründer der Abstammungslehre, unter den sechs Tierllasten des alten LinnHchen Systems (1735) zwei natürliche Hauptgruppen; feine Wirbeltiere (Vertebrata) umfaßten die vier höheren, feine Wirbellosen (Invertebrata) die zwei niederen Klassen von Sinne. Alle folgenden Zoologen haben diese wichtige Unterschei­ dung anerkannt; insbesondere hat Cuvier schon 1802 auf Grund der vergleichenden Anatomie, Baer (1828) in der Bahn seiner *) In der Rede „Über Entwicklungsgang und Aufgabe der Zoologie", welche ich 1869 beim Eintritt in die philosophische Fakultät zu Jena hielt, habe ich versucht, eine umfassende Übersicht über die Lauptgruppen der biologischen Wissenschaften zu geben, welche nunmehr sowohl in der Zoologie wie in der Botanik das Lauptziel einer Gesamterkenntnis des organischen Lebens — an der Land unserer neuen Entwicklungslehre! — zu erstreben haben. Nur durch vergleichendes Studium dieses großen ganzen „Bios" und durch seine Verknüpfung mit den Prinzipien der monisti­ schen Philosophie ist es möglich, die Anthropologie fest zu begründen und zur Lösung der Kardinalftage zu verwenden.

vergleichenden Entwicklungsgeschichte, Johannes Müller (1833) mit Hilfe der vergleichenden Physiologie die natürliche Einheit der Wirbeltiergruppe nach allen Richtungen hin bestätigt. Als dann 1859 durch Darwin die Deszendenztheorie zur Geltung kam und die Bedeutung des „natürlichen Systems der Tiere und Pslanzen als Ausdruck ihres hypothetischen Stammbaums" er­ kannt wurde, habe ich in meiner „Generellen Morphologie" (1866) den ersten Versuch unternommen, die ganze zoologische und botani­ sche Systematik aus Grund der Stammesgeschichte umzugestalten und den Stamm der Wirbeltiere in diesem phyletischen Sinne als eine geschlossene Einheit dargestellt, deren Ursprung aus einer Gruppe der Wirbellosen damals noch zweifel­ haft erschien. In der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868) habe ich diese monophyletische Auffasiung des Vertebratenstammes und die Stammverwandtschaft seiner verschiedenen Klassen in populären Grundzügen dargestellt, und in dem dritten Bande meiner „Systematischen Phylogenie". (1895) eine eingehende wissenschaftliche Begründung dieses neuen Phyletischen Systems der Vertebraten gegeben. Die Grundzüge desselben sind seitdem von den meisten Zoologen anerkannt und insbesondere die phylogenetische Einheit des ganzen Wirbeltierstammes, von dm niedersten Schädellosen und Fischen die zu den Affen und Mmschen hinauf, fast allgemein zugegeben worden. Gerade diese Deduktion ist aber für die monistische Be­ antwortung unserer Kardinalfrage von ganz entscheiden­ der Bedeutung. Gleichviel wie man im einzelnm die genealogischen Linien des Vertebraten-Phylema deutet oder die Verwandtschafts-Beziehungen kleinerer Gruppen verschieden aus­ legt, immer bleibt der Mensch — in allen Beziehungen mit den übrigen Gliedern des Stammes verglichen — ein echtes Wirbel­ tier; und immer bleibt er (auf dem Gipfel des Stammes) ein un­ zweifelhaftes Säugetier, welches in den Herrentieren (Primaten), und an deren Spitze den Menschenaffen seine nächsten Verwandten besitzt. Da aber die Grundzüge des Vertebraten-Stammbaums

durch die paläontologische Reihenfolge seiner Hauptgruppen defi­ nitiv festgelegt sind, ist dadurch allein schon das Kardinalprvblem für alle Zeit definitiv gelöst. Klaffen des Wirbeltierstammes. Die vier Hauptgruppen der höheren Tiere, die bereits LinnS (1735) als Klaffen unterschied, und die sodann zuerst Lamarck (1801) unter dem Begriffe der Vertebraten zusammengefatzt hatte, waren die Fische, Amphibien, Vögel und Säugetiere. Die Klaffe der Amphibien wurde später in zwei Klaffen geschieden, nachdem Baer gezeigt hatte, daß die echten kiemenatmenden Amphibien (Salamander und Frösche) näher den Fischen, hingegen die kiemenlvsen Rep­ tilien (Eidechsen, Krokodile usw.) näher den Vögeln verwandt seien. Die Fünfzahl der Wirbeltierklaffen mutzte dann von mir (1866) auf acht erhöht werden, indem ich zeigte, datz die alte Klaffe der Fische in drei verschiedene Gruppen aufzulösen sei; die beiden niedersten Abteilungen derselben, die schon Johannes Müller in seinem reformierten System der Fische als selbständige Ordnungen abgetrennt hatte, unterscheiden sich von den echten Fischen viel mehr als diese von den übrigen Wirbeltieren; sie gehören als selbständige Klaffen einer viel tieferen und älteren Bildungsstufe an. Die S ch ä d e l l o s e n (Acrania), durch die Gruppe der Lanzettiere (Amphioxida) vertreten, haben bis heute das älteste Urbild unseres Stammes in wenig veränderter Form erhalten. Ich habe in meiner Anthropogenie (16. und 17. Vortrag) eingehend gezeigt, wie bedeutungsvoll die genaueste Kenntnis des Amphioxus als des ältesten und niedersten Verte­ braten ist; denn er lätzt uns den Ursprung des Stammes aus wirbellosen Chordatieren erraten. Die zweite Klaffe der kiefer­ losen Wirbeltiere, die Rundmäuler (Cyclostoma) — noch heute durch die Pricken oder Lampreten (Petromyzontes) ver­ treten — vermitteln den Übergang von jenen Schädellosen zu den echten Fischen (den Urfischen, Schmelzfischen und Knochen­ fischen). Aber auch die Lungenfische (Dipneusta), welche als Lungenatmer den Übergang zu den Amphibien bilden, können

jenen als selbständige Klaste gegenübergestellt werden. Alle diese niederen Wirbeltiere entbehren noch der vollkommeneren Aus­ bildung des Gehirns, durch welche sich die drei höheren Klasien auszeichnen, die Reptilien, Vögel und Säugetiere. Diese haben die ursprüngliche Kiemenatmung der ersteren gänzlich aufgegeben und dafür besondere Schutzhüllen für ihren Embryo erworben, die Wasierhaut (Amnion) und die Zottenhaut (Chorion). Der einheitliche Stamm dieser Amniontiere (Amniota) beginnt mit niedersten Reptilien und hat einerseits den Vögeln, ander­ seits den Säugetieren den Ursprung gegeben. Das enge Verwandtschastsverhältnis der acht Vertebratenklasien, die wir dem­ gemäß in unserm phyletischen System unterscheiden können, ist heute allgemein anerkannt. Geschichte des Wirbeltierstammes. Die Entwicklungsgeschichte unserer Wirbeltierahnen, soweit sie sich unmittelbar auf Grund der fossilen Vertebratenreste zeitlich rückwärts verfolgen läßt, ergibt eine Anzahl phylogenetischer Tatsachen von höchster Bedeutung. Die geologische Sukzession der VertebratenG r u p p e n, d. h. die empirisch festgestellte Reihenfolge, in welcher die einzelnen Klasien und Ordnungen der Wirbelüere im langen Laufe der organischen Erdgeschichte nacheinander auftreten, ist nicht allein für die klare Beantwortung unseres Kardinalproblems bedeutungsvoll, sondern auch für die großen allgemeinen Fragen der Naturphilosophie, die -sich damit verknüpfen, von größter Wichtigkeit. Da ich dieselben in der Anthropogenie (1874) und in der Fessichrist über „Unsere Ahnenreihe" (1908) eingehend be­ handelt habe, kann ich mich hier darauf beschränken, folgende Ergebnisie besonders hervorzuheben: I. Die ältesten fossilen Überteste von Wirbeltieren, die wir kennen, sind in den obersten und jüngsten Schichten des silurischen Systems gefunden worden; sie gehören echten Fischen an, aus den beiden llnterklasien der Selachier und Ganoiden. II. Auch in der folgenden Devonischen Periode, die sicher mehrere Millionen Jahre gedauert hat, ist unser Stamm ausschließlich durch echte Fische vertreten (Urfische

und Schmelzfische), ihnen schließen sich als erste Lustatmer die Lungensische an (Dipneusta), Übergangsformen zu den Amphibien. III. Die ältesten A m p h i b i e n, die Panzermolche (Stegocephala), treten zuerst in der Steinkohlenperiode auf; kleine, unseren Salamandern ähnliche Lurche, mit Schuppenpanzer und zwei Paar kurzen, fünfzehigen Beinen, die ältesten land­ bewohnenden Vertebraten. IV. Ihnen folgen in der Permischen Periode die ersten Reptilien, ähnlich kleinen Eidechsen, nächstverwandt der Hatteria von Neuseeland. Die Zeitdauer der angeführten vier geologischen Perioden, welche das paläo­ zoische Zeitalter zusammensetzen, wird aus mindestens 30 bis 40 Millionen Jahre geschätzt. Während dieses ungeheuren Zeit­ raums existierten noch keineSäugetiere. V. Diese höchst­ stehende Klasse tritt erst in dem solgenden (etwa 10 bis 12 Mil­ lionen Jahre umfassenden) mesozoischen Zeitalter auf, in welchem die Klaffe der Reptilien ihre mächtige Herrschaft ent­ faltete und die drei Schichtensysteme der Trias, Iura und Kreide abgelagert wurden. VI. Die ältesten fossilen Mammalienreste die sich in diesen Sekundärschichten spärlich vorfinden, gehören alle Heinen, niedrig organisierten Säugetieren an: Gabeltiere (Mvnotremen), Beuteltiere (Marsupialien) und llrzottentiere (Mallotherien). VII. Die letzteren, am nächsten den heutigen Insekten­ fressern verwandt, enthalten in der Kreidezeit die Stammsormen der höheren Säugetiere, der Zottentiere (Placentalien). VIII. Die reiche und mannigfaltige Entwicklung dieser letzten Unterklasse fand erst in dem nachfolgenden Zaenozoifchen oder Tertiären Zeitalter statt, deffen Zeitdauer auf mindestens 3—4 Millionen Jahre geschäht wird; erst jetzt erschei­ nen (in der Eozänperiode) die ältesten Herrentiere, ver­ treten durch niedere Halbaffen (Lemuren). Stammesgeschichte der Primaten. Die Phylogenie der Herrentiere, die für' unser Kardinalproblem naturgemäß das höchste Intereffe hat, wird durch die Paläontologie nicht in dem Maße durch einen Schatz von handgreiflichen fossilen Urkunden Haeckel, Ewigkeit.

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unterstützt, wie es bei anderen formenreichen Gruppen der höhere« Säugetiere, namentlich bei Raubtieren und Huftieren der Fall ist. Die versteinerten Überreste von Herrentieren sind verhältnismäßig selten und meistens sehr unvollständig. Das liegt hauptsächlich an der arboralen Lebensweise derselben; die meisten Assen und Halb­ affen bringen ihr Leben kletternd auf Bäumen zu und geraten beim Tode selten in eine Lage, welche für die gute Erhaltung ihrer zarten Knochengerüstes, oder auch nur einzelner Teile desselben, günstig ist. Trotzdem besitzen die zahlreichen Schädel- und Skelettfragmente, die man besonders in neuerer Zeit versteinert in den Tertiärgesteinen gefunden hat (die ältesten Halbaffen im Eozän), ein hohes Interesse für die hypothetische Konstruktion des Primaten-Stammbaums. Mit ganz besonderem Eifer hat man sich bemüht, unmittelbare fossile Zwischensormen zwischen Menschen und Menschenaffen zu finden, und die angebliche Lücke zwischen beiden durch Entdeckung eines „fehlenden Gliedes" auszufüllen. Insbesondere hat hier die Entdeckung des fossilen Pithecanthropus erectus in Java (1894), der wirklich als ein solches unmittel­ bares Bindeglied in der Kette der Primatenahnen betrachtet wer­ den kann, zu umfangreichen Erörterungen Veranlasiung gegeben; ich habe darüber in den oben angeführten Schriften näheres mitgeteilt. Nach meiner persönlichen Überzeugung besitzen diese ein­ zelnen, neuerdings zahlreicher gefundenen fossilen Urkunden für die Primaten-Phylogenie nicht die hohe, ihnen gewöhnlich zuge­ schriebene Bedeutung. Für denjenigen Naturforscher, welcher die vergleichende Anatomie und Physiologie, Ontogenie und Psycho­ logie der Herrentiere gründlich kennt, und der imstande ist, sie vor­ urteilsfrei phylogenetisch zu beurteilen, ergibt sich die* Abstam­ mung des Menschen von einer Reihe ausgestorbener Affen (und früher Halbaffen) aus diesen indirekten „Schöpfungsurkunden" mit voller Sicherheit, ganz abgesehen davon, ob jene Petrefakten dieselben direkt bestätigen oder nicht. Wirbellose Ahnen des Menschen. Die fossilen Dokumente der Etammesgeschichte, welche uns die Paläontologie für die Er»

fenntms unserer Ahnenreihe liefert, haben nur Geltung für die zweite Hälfte der Progonotaxis, von der Silurzeit an aufwärts. Denn die filurifchen Fische (zuerst haifischähnliche Selachier) sind die ältesten Wirbeltiere, welche harte, der Versteinerung fähige Skeletteile besaßen. Ihre älteren Vorfahren, die beiden niedersten Vertebraten-Klassen (Acranien und Cyclostomen), hatten einen weichen Körper, ohne feste Skeletteile; und dasselbe gilt für die lange Reihe unserer Invertebraten-Ahnen, jener längst ausgestorbenen wirbellosen Tiere, welche, die erste und ältere Hälfte der Progonotaxis (vor der Silurzeit) hypothetisch zufammensetzen. Für deren Erkenntnis sind wir ausschließlich auf die Urkunden der Vergleichenden Anatomie und Ontvgenie angewiesen; die wertvollsten und sichersten Dienste leistet uns dabei dasbiogenetischeGrundgesetz. Über die einzelnen Klassen der Wirbellosen, die für diese hypothetische ältere, präsilurische Ahnenreihe in Betracht kommen können, sind sehr verschiedene Vermutungen aufgestellt worden. Sicher er­ scheint nur, daß die nächsten wirbellosen Verwandten der ältesten Wirbeltiere die Manteltiere (Tunicata) sind; denn nur bei ihnen entwickelt sich aus dem Ei die charakteristische Larvenform der C h o r d u l a, mit ihren sechs Primitivorganen. Wir haben daher auch die beiden Stämme der Manteltiere und Wirbeltiere unter dem Begriff der Chordatiere (Chordonia) zusammen­ gefaßt und sie den anderen Wirbellosen gegenübergestellt, die einen ganz andern Weg der Ontogenese einschlagen. Sicher er­ scheint ferner, daß die älteren Vorfahren aller dieser Gewebtiere aus dem Stamme der Wurmtiere (Vermalia) hervor­ gegangen sind, und daß die gemeinsame Ahnenform sämtlicher Metazoen in der hypothetischen Stammform der G a st r a e a zu suchen ist; ihr getreues Abbild hat sich überall bis heute in der gemeinsamen Keimform der zweiblättrigen G a st r u l a erhalten. Wie diese wiederum aus einer Reihe von niedersten einzelligen Lebensformen, von Protisten abgeleitet werden kann, habe ich in meinen „Studien zur Gastraeatheorie" gezeigt (1872 bis

1876). Auf jeden Fall müssen alle vielzelligen Tiere und Pflan­ zen, alle „Histone n" (Metazoen und Metaphyten) ursprünglich aus Pro 1 isten, aus einzelligen Stammformen hervvrgegangen fein. Der Beweis für diese phyletische Hypothese liegt in der fundamentalen Tatsache, daß bei allen die Ontogenese, die in­ dividuelle Entwicklung aus dem Ei, mit der einfachen Eizelle be­ ginnt. Die ältesten Protisten, also die tiefsten Wurzeln unseres Stammbaums, waren plasmodome Urpflanzen (Protop h y t e n); aus ihnen sind erst später die primitivsten Urtiere (Protozoen) hervorgegangen.

D. Naturmensch und Kulturmensch. Die bewunderungswürdigen Fortschritte, welche die soge­ nannte „Vorgeschichte oder Urgeschichte" des Menschen in den letztverflossenen 80 Jahren gemacht hat, ihre Verknüpfung mit der Primaten-Abstammung einerseits, mit der Ethnographie und Völkergeschichte anderseits, — vor allem die Erkenntnis, datz die AnthropologieeinTeilderZoologieist, — haben unsere Kenntnis vom Wesen und der Entwicklung des Menschengeschlechts in ungeahnter Weise vertieft und vervollkommnet. Wir wissen jetzt positiv, datz der Mensch durch aufsteigendeLntWicklung und stufenweise Vervollkommnung aus einer langen Reihe von Mammalienahnen im Laufe vieler Iahrmillionen her­ vorgegangen ist; — wir wissen ebenso positiv, daß der Mensch nicht durch übernatürliche „Schöpfung" aus der Hand eines gött­ lichen Schöpfers entstanden ist und durch einen mysteriösen „Sündenfall" aus einem ursprünglich vollkommenen (gottähn­ lichen!) Zustande herabgesunken ist. Der ganze historische Entwicklungsgang der Menschheit folgt somit (wie der der organi­ schen Erdbevölkerung überhaupt!) im großen und ganzen dem Gesetze des Fortschritts, nicht des Rückschritts; — daran wird nichts geändert durch die bedauerliche Tatsache, daß die nützliche und gute progressive Entwicklung der Kultur immer wieder

zeitweise durch schädliche und schlimme regressive Perioden unterbrochen wird. Nun ist aber gerade die genaue Kenntnis und richtige Beurteilung der älteren und niederen Entwicklungsftufen der menschlichen Kultur von höchster Bedeutung für die richtige Wertschätzung des Menschenwesens und für die Aner­ kennung der darauf gegründeten „Monistischen Anthro­ pologie". Es war und bleibt bis heute einer der größten Fehler der herrfchenden (von den Dogmen der verbündetm ontheistischen Religion geblendeten!) „Dualistischen P h i l o s o p h i e", datz sie jene Tatsachen ignoriert und bei ihren Reflexionen über die menschliche Psychologie (insbesondere die sogenannte „Erkenntnistheorie" und die „Geisteswisienschaft") von der höchst entwickelten Psyche des modernen „Kultur­ menschen" ausgeht, und datz sie die verwickelten, hier beob­ achteten Erscheinungen ohne weiteres auf den Menschen überhaypt überträgt. Das wahre Verständnis derselben kann aber nur durch die eingehende und kritische Vergleichung mit dem rohen Naturmenschen gefunden werden. Die besonderen G e i st e s - Vorzüge, durch welche sich der Mensch als solcher vom Tier, speziell vom nächstverwandten Säugetier, unterscheiden soll, sind Produkte tausendjähriger Kultur; sie sind bei den niedersten Naturmenschen überhaupt noch nicht entwickelt.

E. Menschenrassen im Weltkrieg. Zu den vielen neuen und unerhörten Ereignisien, mit denen der gigantische Weltkrieg die Menschheit des 20. Jahrhunderts überrascht hat, gchört auch die folgenschwere Tatsache, datz unser Todfeind England alle verschiedenen Menschenraflm zur Ver­ nichtung des deutschen Brudervolkes mobil gemacht hat. Das stolze Grotzbritannien dünkt sich in seinem Größenwahn über alle anderen Völker erhaben, sieht auf die nächstverwandten Germanen mit tiefer Verachtung herab, und da es sich selbst zur Ausrottung dieser „Barbaren" zu schwach fühlt, ruft es als Verbündete

die niederen farbigen Menschenrasten aus allen Erdteilen zu­ sammen: vorab die gelben, schlitzäugigen Japaner, die perfiden Seeräuber des Ostens!, dann die Mongolen aus Hinterindien und die braunen Malayen aus dem benachbarten Malakka und Singapore; die schwarzbraunen Australneger und Papuas aus Ozeanien, die Koffern aus Südafrika und die Senegalneger aus den nord» afrikanischen Kolonien — und damit kein Farbenton der tief verachteten „Niederen Menschenrasten" fehlt, und das bunt­ scheckige Heer des stolzen Albion auch in ethnographischer Zusam­ mensetzung die „ewige Weltherrschaft" des anglosächsifchen Inselvolks demonstriert, werden auch noch die Reste der Rothäute aus Amerika auf die blutdampfenden Schlachtfelder von Europa herübergeschleppt! Mit welchem Stolze mästen die britischm Millionenmörder, die Herren Grey und Churchill, ihren französischen und russischen Alliierten ihr „herrliches Kriegs­ herr" in Parade vorführen, das sich aus den heterogensten Musterstücken aller Völker zusammensetzt! Mit Recht ist dieses schamlose Verhalten der „allerchristlichsten" englischen Nation als ein niederträchtiger Verrat an der weißen Rasse, als ein Meuchelmord der höheren menschlichm Kultur gebrandmarkt worden. Völkerkundige Ethnographen und weiterschauende Welt­ politiker haben sorgenvoll auf die schweren Folgen hingewiesen, welche diese „Verbrüderung aller Menschenrasten" im bunt­ scheckigen Heer Großbritanniens für besten eigenen Bestand, wie für die Autorität der weißen Menschenraste überhaupt in Zukunst haben muß. Denn der kulturelle und psychologische Abstand zwischen den höchstentwickelten europäischen Völkern und den niedrigst stehenden Wilden ist größer, als derjenige zwischen diesen letzteren und den Menschenaffen. Aber was kümmern diese Sorgen das auserwählte Volk Englands, welches alle anderen Nationen als „Menschen zweiter und dritter Klasse" verachtet; wenn sie nur seinem brutalen Nativnal-Egoismus dienen, der geträumten Aufrechterhaltung der pambritischen Weltherrschaft („f ü r a l l e E w i g k e i t!").

Viertes Kapitel.

Weltkrieg und Entwicklungslehre. A. Werl der Entwicklungslehre. Unter den gewaltigen Fortschritten der Welterkenntnis, welche dem 19. Jahrhundert den stolzen Namen des „Jahrhunderts der Naturwissenschaften" verliehen haben, stehen obenan die beiden allgemeinen Gesetze der Weltewigkeit (Substanzgesetz) und der Weltentwicklung (Genetik). Während das Substanz­ gesetz die Ewigkeit und Konstanz von Materie, Energie und Psychom, die Unzerstörbarkeit des Weltganzen behauptet, zeigt uns die Entwicklungslehre umgekehrt die Vergänglichkeit aller Einzeldinge, ein ewiges „Werden und Vergehen" alles Individuellen, in beständigem Wechsel der Form. Beide große Gesetze sind erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich zur Anerkennung gelangt, nachdem die bewunderungswürdigen Fortschritte der Physik und Chemie, der Biologie und Geologie, ihnen eine feste empirische Grundlage gegeben hatten. Beide Grundgesetze der modernen Naturphilosophie finden ihre all­ gemeinste Verwertung im Monismus, als derjenigen ein­ heitlichen Weltanschauung, welche sich lediglich auf die logischen Schlüsse der „reinen Vernunft" und der wifienschaftlich geprüften Erfahrung gründet, stet von allem Mystizismus und Wunder­ glauben. Es war daher vollkommen berechtigt, daß Wilhelm Ostwald, der Präsident des Monistenbundes, auf besten festlicher Versammlung in Hamburg (1911) unsere Gegenwart als das Monistische Jahrhundert bezeichnete. Wir können sie

Entwicklungslehre und Schdpfungsglauve.

aber auch das Genetische Jahrhundert nennen, weil erst jetzt, nach langen und harten Kämpfen, unsere Grundsätze der natürlichen Entwicklung oder Genesis allmählich zu allge­ meiner Anerkennung in den unbefangenen, nicht vom über­ lieferten Glauben geblendeten Bildungskreisen gelangt sind. Der wahre Wert dieser modernen Genetik oder „Evolutions­ doktrin" kann gar nicht überschätzt werden;' denn „natürliche Entwicklung" ist in Wirklichkeit das „Zauberwort, durch dar wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder doch auf den Weg ihrer Lösung gelangen können". Zunächst ist das in den wichtigsten Gebieten der Naturwissenschaften (insbeson­ dere der Biologie und Anthropologie) allgemein anerkannt; es gilt aber ebenso auch für alle sogenannten Geisteswissenschäften; diese sind ja nach unserer Überzeugung von den erste­ ren gar nicht zu trennen und durch die Erkenntnisse der Anth ro­ st o g e n i e untrennbar mit ihnen verknüpft. Entwicklungslehre und Schöpfungsglaube (Genetik und Kreatismus). Die hohe allgemeine Bedeutung unserer monistischen Entwicklungslehre für die gesamte Wissenschaft, und namentlich die Philosophie, gipfelt in ihrem Siege über den tra­ ditionellen Schöpfungsglauben. Die meisten älteren Versuche des denkenden Menschen (seit mehr als drei Jahrtausenden!), die Ent­ stehung und Geschichte der Welt zu begreifen, gingen von der irrtümlichen Voraussetzung aus, daß ein vernünftiger Schöpfer (Creator) das Universum, die Erde und ihre lebendigen „Ge­ schöpfe" mit Bewußtsein und Verstand nach einem zielbewußten Plane erschaffen habe. Dabei wurden diesem persönlichen Schöpfer, dem Schulgotte (Ontheos) dieselben technischen Eigenschaften und Fähigkeiten beigelegt, wie dem zweckvoll tätigen Menschen bei der Schaffung eines Kunstwerks. Obgleich der be­ schränkte Anthropismus dieses Schöpfungsmythus mit allen seinen irreführenden Folgerungen auf der Hand lag, fand trotz­ dem der übernatürliche Kreatismus weiteste Verbreitung und Gel­ tung. Er erhielt in der dualistischen Philosophie die stärkste Stütze

durch die Ideenlehre von Platon, in der christlichen Religion durch die fortgesetzte Geltung der Schöpfungsgeschichte von Moser, aus Grund des Alten Testaments. Als solche wird sie noch heute in den meisten Kirchen und Schulen der modernen Kulturwelt gelehrt. Erst im Laufe des letztverflosienen Jahrhunderts wurden ihre morschen Grundlagm durch die Fortschritte der natürlichen Genetik allmählich gelockert und zuletzt ganz zerstört. Es wurde jetzt endlich sonnenklar, daß der angenommene Personalgott gar nicht exissiert, und daß der ganze Kosmos unbewußt ewigen -er Substanz innewohnenden Naturgesetzen zufolge, sich s e l b st entwickelt. Der monistische Begriff der „Gott-Natu r" (Theophysis), wie ihn zuerst Giordano Bruno und Spinoza, später vor allem Goethe klar und erhebend gefaßt hatten, ersetzte nunmehr die mystische und «dualistische Vorstellung des „W e l t baumeister s" (Demiurgos), wie sie Platon 400 Jahre vor Christus erfolgreich in die Kosmogenie eingeführt hatte. Daß dieser anthrvpistische Mythus, samt der ganzen damit zusammen­ hängenden Mythologie, in den Kirchenlehren und in der Poesie noch weiter erhalten und als Dichtung fortgeführt wird, ist natürlich und sowohl aus ästhetischen wie kulturhistorischen Grün­ den berechtigt. Wir muffen aber verlangen, daß sie in der Schule der Zukunst nicht ferner als Wahrheit gelehrt und als bin­ dende K o n f e f f i o n der Vernunft der sich entwickelnden Kinder­ seele aufgebürdet wird. Die naturgemäße Genetik mutz an die Stelle des transzendenten Kreatismus treten; sie wird als „Natürliche Schöpfungsgeschichte" in weit höherem Grade er­ leuchtend und veredelnd auf die Bildung des Menschen einwirken, als die Mythologie des „übernatürlichen Schöpfungsglaubens". Der erhabene Gegenstand der echten Andacht und Gottesverehrung muß für uns der universale A l l g o t t (Pantheos) bleiben. Stetige und sprungweise Entwicklung (Evolutio continuata et saltuata). Alle Entwicklung in der Welt ist im Grunde stetig oder kontinuat; denn jede Erscheinung hat ihre natürliche Ursache und ist die Folge von vorhergehenden Erscheinungen. Das ist ein

Grundgesetz der Entwicklung, das schon der alte Satz lehrt: „Natura non facit saltus“ — die Natur macht keine Sprünge! — Im Grunde erscheint dieser Satz als selbstverständliche Folge des allgemeinen Kausalgesetzes oder — konkret gefaßt — unseres „Substanzgesetzes". Das ganze Weltgeschehen, als „Ewige MetamorphosederSub stanz" ausgefaßt, ist stetig, un­ unterbrochen. Wenn demgegenüber viele einzelne Erscheinungen plötzlich, neu und unvermittelt aufzutreten scheinen, so liegt das entweder an einer auffallenden Beschleunigung eines Entwick­ lungsaktes, oder an unserer Unkenntnis der bewirkenden Ursachen. Eine sogenannte „sprungweise Entwicklung" ist immer nur scheinbar, niemals eine ursachlose oder übernatürliche Erscheinung, ein „Wunder". Solche unerklärlichen Wunder spielten früher nicht nur in den Dichtungen der Mythologie eine große Rolle, sondern auch oft in der Wissenschaft. In der Geo­ logie herrschten sie noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, nachdem Cuvier seine Katastrophentheorie eingeführt hatte, die Lehre vom wiederholten plötzlichen Untergänge der organischen Erdbevölkerung und nachfolgender wunderbarer Neu­ schöpfung derselben. Diese wurde erst 1822 durch Karl von Hoff (Gotha) und eingehender 1830 durch Charles Lyell widerlegt; beide Geologen zeigten, daß die angenommenen plötzlichen „Revo­ lutionen des Erdballs" keine Unterbrechung, sondern nur eine zeitweilige Beschleunigung seiner Entwicklung bedeuteten. Nach­ dem dann Charles Darwin (1859) mit Hilfe seiner Selek­ tionstheorie bewiesen hatte, daß auch die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreiche nicht auf eine wunderbare Neuschöpfung, sondern auf eine allmähliche Umbildung der Spezies zurückzuführen sei, mußte auch hier die Kontinuität der Entwicklung als erwiesen gelten. Allerdings wurden auch wieder verschiedene Versuche gemacht, die stetige Entwicklung durch eine sprungweise zu ersetzen; plötzlich austretende Umbildun­ gen sollten als „Mutationen" gegen die kontinuierliche Formentwicklung der Spezies sprechen. Indessen beruhen auch

Fortschreitende und rückschreitende Entwicklung.

SI

hier, wie bei plötzlichen Katastrophen im kosmischen Gebiet (z. B. beim Austreten neuer Sterne), die Veränderungen aus mechani­ schen Ursachen, die uns nur teilweise oder ganz unbekannt sind. Immer bewährt sich das Wort von Gdethe: „Die Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge ge­ langen; sie macht keine Sprünge." Mit andern Worten: „Die Genesis der Substanz ist immer und überall eine kontinuate Metamorphose, niemals eine unvermittelt saltuate." Fortschritt und Rückschritt (Progressive und RegressiveEntwicklung). Eine unbefangene Übersicht über den Gang der Stammesgeschichte überzeugt uns leicht, daß deren Verlaus im großen und ganzen dem Gesetze des Fortschritts (Progressiv) folgt. Die Paläontologie zeigt uns auf Grund der fossilen Dokumente handgreiflich, daß im Laufe der langen orga­ nischen v Erdgeschichte eine langsame Vervollkommnung (Teleosis) in der Organisation der Pflanzen und Tiere stattgefunden hat, deren versteinerte Überreste in den übereinander

abgelagerten Schichten der Erdrinde begraben sind. Der Zeit­ raum, der während der Sedimentbildung dieser neptunischen Gebirgsmasien verfloß, beträgt sicher mehr als hundert Iahrmillionen; er gewährte dem bildungsfähigen Plasma Zeit genug, in stetig zunehmender Zahl und Mannigfaltigkeit die Wundergebilde des organischen Lebens hervorzubringen. In jeder kleineren und größeren Gruppe der Tier- und Pflanzenwelt erscheinen zuerst nur wenige, niedere und kleine Formen; ihre Größe und Voll­ kommenheit wächst zugleich mit der Vielgestaltigkeit, bis zuletzt ein Höhepunkt erreicht ist, der nicht überschritten wird; dann stirbt die Fvrmenreihe gewöhnlich aus und eine andere tritt an ihre Stelle. Indessen wird dieser allgemeine Fortschritt in der Entwicklung des organischen Lebens auch vielfach durch einzelne Rückschritte unterbrochen, in Anpasiung an ungünstigere Lebensbedingungen oder an besondere Wechselbeziehungen der Organismen, so z. B. parasitische und sedentäre Lebensweise. Ge­ wöhnlich sind diese progressiven und regressiven Metamorphosen

mit den bedeutungsvollen Erscheinungen der Sonderung oder Differenzierung der Formen verknüpft, welche in der Phylogenie die größte Rolle spielen: als physiologische Ar­ beitsteilung (Ergonomie) und entsprechende morphologische Formspaltung (Polymorphismus). Im 12. Vortrage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" habe ich gezeigt, wie diese Divergenz des Charakters sowohl in der Entstehung neuer Arten, wie in der Differenzierung der Gewebe und Organe, eine notwendige mechanische Folge des von Darwin entdeckten Selektionsprozestes ist. (£s- bedarf zu ihrer Erklärung keiner metaphysischen Entelechie, keines zweckmäßig schaffenden „Schöpfungsplanes", wie ihn die dualistischeTelevlogie annimmt. Ohnehin wird diese letztere widerlegt durch die bedeutungsvollen „Rudi­ mentären Organe", jene zwecklosen Körperteile, welche durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung entstanden sind. Die lehrreiche Wistenschaft von diesen unnützen Organen, welche keine Funktionen mehr ausüben, öieUnzweckmäßigkeitslehr^e (Dysteleologie) liefert eine starke Stütze für unsere mechanische Biologie und monistische Philosophie. Entwicklung im Völkerleben. Durch die wunderbare Erwei­ terung unseres Gesichtskreises und die damit verknüpfte Vervoll­ kommnung unserer Weltanschauung, welche wir der Entwicklungs­ lehre des 19. Jahrhunderts verdanken, sind wir überzeugt worden, daß dieselben Naturgesetze in der Kulturgeschichte und im Leben der Völker, wie in der Naturgeschichte und im Leben aller Organismen walten. Die Geschichte der menschlichen Kultur und Staatenentwicklung ist eine direkte Fortsetzung der Stammesgeschichte der Wirbeltiere, aus denen wir erst in später Tertiärzeit hervvrgegangen sind. Wie nun in der phyletischen Entwicklung der ganzen organischen Welt lange Perioden allmäh­ lichen Fortschritts von plötzlichen Wendepunkten beschleunigter Umwälzung unterbrochen werden, so ist es auch in derVölker» g e s ch i ch t e der Fall, die man seit langer Zeit in anthropistischer Äberhebung die „W e l t g e s ch i ch t e" zu nennen pflegt. In der

Phylogenie der Wirbeltiere sind solche bedeutenden Fortschritte zu erkennen in der Steinkohlenzeit, wo aus den wasserbewvhnenden, mittels Flossen schwimmenden Fischen sich zuerst vierbeinige, landbewohnende Amphibien entwickelten; in der Triasperiode, wo die ersten warmblütigen Säugetiere aus kaltblütigen Reptilien hervvrgingen; in der Tertiärzeit, wo die Mammalienklasse sich rasch zu hoher Blüte entwickelte und als bedeutendsten Zweig ihres Stammes die Herrentiere hervorbrachte. In der Völkergeschichte treten solche Wendepunkte hervor im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus, wo t>ie klassische Blüte Griechenlands sich zu entwickeln begann; im Beginn unserer Zeitrechnung, wo das Christentum das ganze Kulturleben umgestaltete; im 15. und 16. Jahrhundert, wo die Renaissance und Reformation die dunkle Periode des Mittelalters abschlvß; endlich im 19. Jahrhundert, wo der Ent­ wicklungsgedanke auf allen Gebieten des Geisteslebens Wurzel faßte und die von der ftanzösifchen Revolution begonnene Um­ gestaltung aller sozialen und politischen Verhältnisse neue Ziele des gesamten Völkerlebens zur Geltung brachte.

B. Biogenetisches Grundgesetz. Unter allen Erscheinungen der organischen Entwicklung sind die ausfälligsten und der Beobachtung unmittelbar zugänglichen diejenigen, welche wir bei der Entstehung des Wirbeltierkörperr aus dem besruchteten Ei wahrnehmen. Insbesondere hat die Ent­ wicklung des Vogelkörpers aus dem Hühnerei (die sich innerhalb drei Wochen vollzieht), ferner diejenige der Fische und Frösche schon seit alter Zeit das Interesie erregt. Bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden hat Aristoteles, der große „Vater der Natur­ geschichte", viele Beobachtungen darüber mitgeteilt. Seine Schrift „Von der Zeugung und Entwicklung der Tiere" blieb fast die einzige Quelle über dieses Objekt bis zum Anfänge des 17. Jahr­ hunderts. Aber genauere Beobachtungen darüber und theore­ tische Deutungsversuche verdanken wir erst zwei deutschen Embryo-

logen: Caspar Friedrich Wolff (1759) und Karl Ernst von Baer (1828). Eine wirkliche Erklärung dieser wunderbaren Vorgänge wurde erst möglich, nachdem Charles Darwin (1859) die natür­ liche Entstehung der Arten aufgedeckt hatte. Darauf gestützt, zeigte der ausgezeichnete deutsche Naturforscher Fritz Müller (Desterro 1864) an dem klassischen Beispiele der Krustazeen, wie die Über­ einstimmung in der embryonalen Entwicklung aller verschiedenen Formen dieser Krebstiere sich nur durch die Annahme ihrer ge­ meinsamen Abstammung von einer Stammform erklären lasse. Ich selbst habe sodann in meiner Generellen Morphologie (1866) diesem bedeutungsvollen Parallelismus der individuellen und der phyletischen Entwicklung allgemeine Geltung zugeschrieben und daraufhin das „BiogenetischeGrundgesetz" aufgestellt, dessen kürzeste Fassung lautet: „Die Ontogenie oder Keimes­ geschichte ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylvgenie oder Stammesgeschichte". In der Anthropogenie (1874) habe ich dieses „Grundgesetz der organischen Entwicklung" an dem Bei­ spiele der menschlichen Organbildung im einzelnen durchgeführt. Endlich habe ich in meinen Studien zur Gasträatheorie (1872 bis 1876) zu zeigen gesucht, datz die gemeinsame Abstammung aller Metazoen von der hypothetischen Stammform der Gasträa sich aus der Übereinstimmung ihrer gleichen Keimform, der Gastrula folgern lasse. In diesen und anderen Arbeiten, welche dort zitiert sind, teilweise auch in den „Monistischen Bausteinen" (1914) sind die Gründe ausführlich dargelegt, welche uns berechtigen, diese viel diskutierte „Rekapitulations-Theorie" wirk­ lich als allgemeines Grundgesetz aller organischen Entwicklungsvvrgänge auszufassen; die Stammesgeschichte ist die mechanische Ursache der Keimesgeschichte; ohne die erstere würde die letztere gar nicht existieren. Beide Hauptzweige der Biogenie (der organischen Entwicklungs­ geschichte im weitesten Sinne!) stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhang, in direktem Kausalnexus; daher halte ich auch alle Einwände für hinfällig, welche bis heute von verschiede-

nen Gegnern, namentlich Anhängern einer falschen „Entwick­ lungsmechanik", dagegen erhoben worden sind. Wenn einige von ihnen das allgültige „Grundgesetz" bloß als eine „biogene­ tische Regel", als „zufälliges Vorkommen" ohne tiefere Be­ deutung gelten lasten wollen, so erklärt sich das wohl meistens aus ungenügender Berücksichtigung der paläontologischen Dokumente und des wichtigen Unterschiedes zwischen Palingenese und Zaenogenese (vgl. Dr. Heinrich Schmidt: „Haeckels biogene­ tisches Grundgesetz und seine Gegner", Odenkirchen, 1902). Entwicklungsmechanik. In allen Gebieten der Anorgik, in der gesamten anorganischen Physik (die Chemie mit inbegriffen) gilt feit vier Jahrhunderten die mechanische Erklärung der Erscheinungen, d. h. die Zurückführung auf unbewußte W erk­ ür s a ch e n (Causae efficientes) als allein berechtigt. Anders verhielt sich das bis vor 50 Jahren in der Biologie, da ein Teil der organischen Lebenserscheinungen, besonders die der Seelentätigkeit und der Entwicklung, einer rein mechanischen Er­ klärung unzugänglich erschienen. Hier glaubte man, im Sinne -es Vitalismus, zur Annahme bewußter Zweckursachen (Causae finales), einer bewußt wirkenden, übernatürlichen „Lebenskraft", gezwungen zu fein. Für die Philosophie ergab sich daraus das Dilemma, in der ganzen Anorgik monifüfch, da­ gegen in der Biologie (die zeitlich und räumlich betrachtet nur «inen winzigen Bruchteil des Universum behandelt) dualistisch denken zu müsten. Dieser offenkundige Zwiespalt wurde erst be­ seitigt, seitdem wir durch die moderne Entwicklungslehre in den Stand gesetzt wurden, auch die schwierigsten und verwickeltsten Vorgänge in der Biogenie und Psychologie rein physikalisch zu erklären und auf mechanische Ursachen zurückzuführen. Den ersten Versuch dazu habe ich vor 50 Jahren in meiner „Ge­ nerellen Morphologie der Organismen" gemacht, deren Aufgabe auf dem Titelblatt bezeichnet ist als: „Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwistenschaft, mechanisch begründet durch die Deszendenztheorie". Indem das biogenetische Grundgesetz

den überall gültigen Kausalzusammenhang zwischen individueller und phyletischer Entwicklung nachwies und die erstere als einen gedrängten Auszug aus der letzteren erklärte, löste es das schwie­ rige Problem der „Entwicklungsmechanik" im eigent­ lichsten Sinne. Zehn Jahre später wurde diese Ausgabe in gananderer Weise zu lösen versucht, indem man die höchst verwickelten Erscheinungen der Ontogenese aus sich selbst — ohne Beziehung zur Phylogenese — erklären wollte (Wilhelm His u. a.). Einsachste physikalische Vorgänge sollten die kompliziertesten Prozefle der Formbildung in der Keimesgeschichte bewirken, während der Stammesgeschichte alle Geltung abgesprvchen wurde. Dabei wurde besonderes Gewicht auf die experimentelle Be­ gründung dieser irreführenden „T e k t o g e n e t i k" gelegt. Ich habe im 16. Kapitel der „Lebenswunder" die Wertlosigkeit der­ selben dargetan und in meiner Schrift über „Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte" (1875) ausführlich ihre prinzi­ piellen Irrtümer beleuchtet. Embryologische Experimente können sehr wertvolle Beiträge zur Physiologie und Pathologie des Embryo liefern, aber niemals die historischen Vorgänge der Phylogenesis erklären, welche in der Ontvgenesis kurz rekapituliert werden, und welche nur mit Hilfe der Paläontologie und der vergleichenden Anatomie zu verstehen sind. Universale Entwicklungslehre. Eine umfasiende und gründ­ liche Darstellung der allgemeinen Entwicklungslehre — eine wirkliche Universal-Genetik —, die Anwendung des monistischen Entwicklungsgedankens auf alle Gebiete der menschlichen Wisienschaft, existiert bisher noch nicht. Dieser Übelstand erklärt sich einerseits aus dem eigentümlichen Entwicklungs­ gang der Genetik oder des „Evolutismus" selbst, anderseits aus dem ganz verschiedenen Anteil, welchen die verschiedenen daran beteiligten Gebiete der gesamten Wissenschaft bisher daran genommen haben. Hier tritt uns besonders der verhängnisvolle und oft beklagte Zwiespalt zwischen Naturwisienschaft und Geisteswisienschast, zwischen realer Empirie und idealer Philo-

sophie entgegen. Trotzdem wir seit einem halben Jahrhundert eifrig bemüht sind, diese unnatürliche, beiden Teilen gleich schäd­ liche Kluft zu überbrücken und in einer streng m o n i st i s ch e n Naturphilosophie das erstrebenswerte Bündnis zwischen beiden herzustellen, sind wir noch weit von der wünschenswerten naturgemäßen Harmonie entfernt. Einerseits verliert sich ,die empirische Naturforschung, als exakte Wissenschaft, immer mehr in einseitigem Spezialismus, in genauester Beschreibung der unzähligen einzelnen Tatsachen, welche das unermeßlich erweiterte Gebiet der Beobachtung ihr darbietet; dabei entgeht ihr der Blick aus das Ganze und zugleich die Fähigkeit zur Erkenntnis allge­ meiner Gesetze. Anderseits hat die spekulative Philo­ sophie, als umfassende Weltanschauungslehre, keine Neigung, sich mit den Ergebnisien jener Spezialsorschungen bekannt zu machen und verliert mit ihrem luftigen Wolkenfluge den festen Boden unter den Füßen. Ganz besonders gilt das vom Verhältnis der abstrakten Metaphysik (namentlich der deutschen Idealphilosophie), gegenüber den großartigen Erkenntnissen unserer modernen Ent­ wicklungslehre. Indem sie dieselbe ignoriert oder beiseiteschiebt, indem sie ausdrücklich ihren größten Triumph, die gelungene Lö­ sung des Kardinalproblems, nicht anerkennt, beraubt sie sich selbst des wertvollsten Mittels zur Erkenntnis der höchsten Naturgesetze. So kommt es, daß auf unseren Universitäten oft ein und dasselbe Wissensgebiet, vor allem Psychologie und Entwicklungsgeschichte, von den monistischen Naturforschern und den dualistischen Philo­ sophen in völlig entgegengesetztem Sinne gelehrt wird. Vor 70 Jahren hatte der geniale Alexander von Humboldt den großen Plan, in seinem „Kosmos" einen umfasienden „Entwurf einer phyfischenWeltbefchreibung"zu geben. Allein es fehlten damals noch alle die kostbaren Schätze der Evolutions­ lehre, welche größtenteils erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts zutage gefördert wurden. Es wird eine der lohnendsten — freilich auch schwierigsten — Aufgaben der neuen monistischen Naturphilosophie sein, in gleichem Sinne und in gleich vollendeter Haeckel, Ewigkeit.

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Form den Entwurf einer physischen Weltentwicklung herzustellen. In meinem Versuche einer „Generellen Morpholo­ gie" (1866) und in späteren Schriften, besonders den „Welt­ rätseln" (1899), konnte ich nur die allgemeinen Richtlinien an­ deuten, nach welchen eine solche universale „G e n e s i s" auszu­ führen sein wird. Geschichte der Entwicklungslehre. Das größte Hindernis für die wünschenswerte Abfassung einer „llniversal-Genet i k" lag bisher darin, daß die einzelnen Zweige der Entwick­ lungslehre nach Alter und Akt ihrer Entstehung bedeutende Verschiedenheit zeigen. Während die „Naturgeschichte des Himmels" (Kant-Laplace) schon 1755—1796 entworfen wurde und die „Historische Geologie" (Karl von Hoff, Charles Lyell) bereits 1822—1830 an das Licht trat, wurde die Entwicklungs­ geschichte der organischen Welt erst 1859 durch Darwins Reform der Deszendenzlehre von Lamarck (1809) möglich; und deren wich­ tigster Fvlgeschluß, die „Abstammung des Menschen von Pri­ maten", wurde bestimmt erst 1863 gezogen. Auch sind die Fach­ kenntnisse und die Methoden zu deren Gewinnung in diesen vier Hauptgebieten der Genetik so verschieden, die weiten Gebiete der Astronomie und Geologie, der Biologie und Anthropologie sind so ausgedehnt und liegen so weit auseinander, daß die schöne Aufgabe, ihre allgemeinen Grurchzüge in einem gemeinsamen Ge­ samtbilde zu vereinigen, nicht allein eine allgemeine Übersicht über das Ganze, sondern auch einen kritischen, philosophischen Scharfblick für ihre Verknüpfung erfordert. Die Aufgaben eines solchen „Genetischen Naturgemäldes" habe ich 1912 in einem Aufsatze „Zur Geschichte der Entwicklungslehre" näher erläutert, welcher im XII. Jahrgang der Frankfurter Halbmonats­ schrift „Das Freie Wort" (Nr. 18) erschien; er ist abgedruckt im ersten Hefte meiner „Monistischen Bausteine" (1914, S. 159). Als vier Hauptteile sind dort angeführt 1. Kosmogenie (— Astronomische Genetik oder Evolutismus des Weltgebäudes); II. G e o g e n i e (— Terrestrische Genetik oder Historische Geo-

logte); III. Biogenie (— Biologische Genetik oder Evvlutis-mus der organischen Welt); IV. Anthropogenies— Anthro­ pologische Genetik, Stammesgeschichte und Keimesgeschichte des Menschen). Diesen vier Hauptgebieten könnten ferner als beson­ ders wichtig noch angeschlosfen werden: V. Psychogenie (= Psychologische Genetik, Entwicklungslehre der Seelenkunde); VI. Theogenie (— Theologische Genetik, Vergleichende Re­ ligionsgeschichte, Genetische Theologie); VII. Glossogenie (— Linguistische Genetik, Vergleichende Sprachwissenschaft, Ent­ wicklungsgeschichte der Sprachkunde); VIII. Svphogenie (= Philosophische Genetik, Genetische Philosophie, Geschichte der Weltanschauungen; insbesondere des modernen Kampfes um den Entwicklungsgedanken. Die schöne Aufgabe,' nach diesem Programm eine umfassende „Allgemeine Geschichte der Entwick­ lungslehre" zu schreiben, hat ein dazu besonders geeigneter Schüler von mir übernommen, Dr. Heinrich Schmidt, Archivar des „Phyletischen Archivs" in Jena; da dieses Archiv eine sehr reiche, seit fünfzig Jahren von mir fortgeführte Sammlung von bezüglichem literarischen Material enthält, ist zu hoffen, datz diese wichtige Aufgabe befriedigend gelöst werden wird.

C. Entwicklungslehre und Soziologie. Von hoher Bedeutung ist unsere monistische Genetik für die moderne Gesellschaftslehre oder Soziologie. Im letzten halben Jahrhundert hat sich diese junge Sozialwissenschaft, deren allgemeinste Aufgaben in einer neuen Sozialphilosophie ihre Lösung finden sollen, zu einem wichtigen Zweige der Kultur­ geschichte emporgeschwungen, besonders infolge ihrer vielfachen Beziehungen zu anderen Wissenschaften, zur theoretischen Psycho­ logie und Ethnologie einerseits, zur praktischen Ethik und Politik anderseits. Gewöhnlich wird die Soziologie in dualistischem Sinne als eine höhere „Geisteswissenschaft" angesehen und an die metaphysische Psychologie angeschlossen. Nach unserer Ansicht

muß sie aber — gleich allen anderen sogenannten „Geisteswissenschaften", auch der Psychologie — als eine Naturwissen­ schaft, und zwar als ein Zweig der Physiologie behandelt wer­ den. Auch hier wieder müßen die Erscheinungen zunächst durch sorgfältige objektive Feststellung auf Erfahrung begründet, nach vergleichenden und genetischen Methoden untersucht, sodann aber nach monistischen Prinzipien erklärt werden. Da ergibt sich für den unbefangenen Soziologen bald mit Sicherheit, daß die Gesellschaftsbildung keineswegs ein besonderes Produkt der menschlichen Anpaßung (noch weniger eine höhere Einrich­ tung des Personalgottes) ist, auch nicht bloß auf die höheren Tierklasten beschränkt bleibt; sondern daß die niederen Stufen der Gesellung (Asfozion oder Asioziation) eine allgemeine Lebensfunktivn aller Organismen darstellen. Demnach müßen auch die sozialen Naturgesetze, denen ihre natür­ liche Entwicklung folgt, durch die ganze Stufenleiter der Lebens­ formen bis zu den niedersten Organismen hinab verfolgt werden. Da stellt sich dann heraus, daß die sozialen Triebe oder Instinkte schon bei den einzelligen Protisten vorhanden und auf die Sym­ pathie gleichartiger Zellen, aus gesellige Empfindungen und Bedürfniße von Elementarorganismen einer und derselben Art zu­ rückzuführen sind. Aus diesen haben sich erst allmählich die sozia­ len Neigungen und Verbindungen vollkommenerer Art entwickelt, die wir in den Herden- und Staaten-Bildungen höherer Tiere antrefsen, und aus denen zuletzt die sittlichen Gesetze der menschlichen Ethik entsprungen sind. Gesellung und Gesittung (A s s o z i o n u n d Moral). Die wichtigen Vorteile, welche die Gesellschaftsbildung den sozial ver­ bundenen Individuen bietet — gegenseitige Hilfe, Schutz gegen Gefahren, gesicherte Ernährung —, sind auch die Ursachen, daß der egoistische individuelle Trieb der Selbsterhaltung in den altruistischen Trieb der Erhaltung der Gesellschaft übergeht. So­ mit können wir auch in der natürlichen Gesellung oder Astozion die tiefste Grundlage der Gesittung oder Moral

finden. Wenn wir das naturgemäße „Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus" als das wichtigste Prinzip unseres „Goldenen Sittengesetzes" ansehen, so ist damit zugleich die ursprüngliche Gleichberechtigung dieser beiden mächtigsten Natur­ triebe erwiesen — im Gegensatze zur christlichen Moral, welche den Egoismus ganz verwirft und allein den Altruismus als Grund­ lage sittlicher Lebensführung gelten lasten will. Nun zeigt uns aber die Entwicklungslehre — ebenso die ursprüngliche Phylogenie wie die sie rekapitulierende Ontogenie —, daß mit zunehmen­ dem Fortschritt der Organisation der Altruismus (die Nächsten­ liebe) immer mehr das Übergewicht gewinnt über den Egoismus (die Eigenliebe). Die Aussöhnung dieses Konfliktes zwischen bei­ den konkurrierenden Naturtrieben wird dadurch herbeigeführt, daß der s o z i a l e E g o i s m u s, d. h. der Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft, als höheres ethisches Prinzip sich stärker erweist als der natürliche individuelle Egoismus. Schon im menschlichen Familienleben sehen wir das bei der aufopfernden Elternliebe, im Kulturstaat bei der Vaterlandsliebe. Wenn gegen­ wärtig in dem titanischen Weltkriege Millionen tapferer Deut­ scher ihr Leben freiwillig dem teuren Vaterland zum Opfer brin­ gen, so ist dieser rühmliche Patriotismus nicht bloß ein Beweis für die tiefer gewordene Einsicht in den hohen Wert des National­ staates, sondern auch für die höher entwickelte moralische Ge­ sinnung. Der Kulturmensch des 20. Jahrhunderts, besten Gesichts­ kreis nach allen Richtungen erweitert ist, hat sich überzeugt, daß wahres Lebensglück, Wohlstand. und Zufriedenheit nicht in der Pflege des reinen Egoismus zu finden ist (wie ihn in extremer Weise Max Stirner und teilweise Friedrich Nietzsche predigten), sondern in gegenseitiger Hilfe und in friedlichem Zusammenleben mit nächststehenden Mitmenschen, in der Familie, in der Gemeinde, im Staate. Die großen Vorzüge des Altruismus treten um so mehr hervor, je zahlreicher und vielseitiger die Bedürfniste des sozialen Kulturmenschen werden, und damit erhebt sich zugleich seine Sittlichkeit auf eine höhere Stufe.

Gravitation und Affinität (Massenanziehung und Wahlverwandtschaft). Da nach unserer Überzeugung eine scharfe Grenze zwischen anorgischer und organischer Natur nicht existiert, vielmehr alle vitalen Erscheinungen im Bios ursprünglich aus physikalische Kräste im Anorgon zurück­ zuführen sind, so werden wir fragen, ob nicht auch für die SozialBildungen der Organismen analoge Verhältnisse bereits in der anorganischen Natur vorhanden sind. Die Antwort finden wir in unserer P s y ch o m a t i k, in der Überzeugung, daß primitive Formen der Empfindung oder Fühlung (Ästhesis) allen Natur­ körpern gemeinsam zukommen, und daß dieses Psychom (oder die „Weltseele" in physikalischem Sinne!) ein drittes allgemeines Attribut aller Substanz ist (neben Materie und Energie). Mit Bezug aus die Frage derEwigkeit ergibt sich daraus die oben bereits erläuterte Lehre von der Trinität der Substanz. Die Weltseele, die sich in den wechselnden Urzuständen der An­ ziehung (Attraktion) und des Wider st andes (Repulsion) äußert — in positivem und negativem Tropismus —, ist ebenso ewig und unzerstörbar wie Stoff und Kraft, die beide mit ihr unzertrennlich verbunden sind. Das große Gesetz der Massenanziehung (Gravitation), das ebensowohl den ewigen Kreis­ lauf der Weltkörper, wie den Fall des Apfels vom Baum be­ stimmt, erklärt sich durch die Annahme, daß die M o l e k ü l e der Maste ihre relative Quantität gegenseitig empfinden und durch ein primitives Lustgefühl zur geselligen Verbindung getrieben werden. Ebenso wird das universale chemische Grundgesetz der Wahlverwandtschaft (Affinität) durch die Annahme verständlich, daß die Atome der Maste ihre verschiedene Qualität emp­ finden. Die Neigung zu der besonderen Substanz-Art, mit Lust­ gefühl niederster Art verbunden, treibt sie zur Verbindung mit derselben, während sie gegen andere Arten der Substanz sich gleich­ gültig verhalten. Die alte; bereits vor 2400 Jahren ausgestellte Lehre des Empedokles von „Liebe und Haß der Ele­ mente" findet dadurch ihre Bestätigung. Anderseits wird

durch diesen „Gesellungstrieb" der anorgischen Körper die unmittelbare Brücke zu den niedersten sozialen Trieben der Organismen geschlagen. (Vgl. hierüber Kap. 13 der „Lebens­ wunder", 1904; und S. 36, 67 der „Gott-Natur", 1914.) Zellular-Soziologie. Als eine der wichtigsten und fruchtbarsten biologischen Lehren wird seit 77 Jahren allgemein die Zellentheorie betrachtet, welche 1838 von dem genialen Botaniker Schleiden in Jena begründet wurde. Er wies nach, daß bei der großen Mehrzahl der Pflanzen der vielgestaltige Leib aus mikroskopischen Bausteinen sich zusammensetzt, die ähnlich den „Zellen" einer Bienenwabe die Organe aufbauen. Nur die niedersten Pflanzen (Algen) sind einfach gebaut und haben den Wert einer einzigen Zelle. Bald wurde dieselbe Erkenntnis auch auf den Tierkörper ausgedehnt; durch Brücke wurde namentlich die physiologische Selbständigkeit dieser „Elementarvrganismen" betont. Nudolf Virchow erkannte ihre hohe pathologische Bedeu­ tung und führte die Krankheiten auf abnorme Veränderungen der Zellen zurück. Siebold fand zuerst, daß auch die niedersten Tiere (Infusorien) nur den Wert einer einfachen Zelle besitzen, und nannte sie Urtiere (Protozoa). Ich selbst vereinigte darauf (1866) alle einzelligen Organismen, sowohl Urpflanzen (Protophyta) als Urtiere (Protozoa) in dem besonderen Reiche der Protista (= 3 e 11 i n g e) und stellte ihnen als Histones (— Webinge) alle vielzelligen und gewebebildenden Organismen gegenüber (Gewebpflanzen, Metaphyta, und Gewebtiere, Metazoa). Alle Protisten bilden keine Gewebe und bleiben auf der ersten und niedersten Stufe der organischen Individualität stehen, der ein­ fachen Zelle. Hingegen erheben sich alle Histonen auf die zweite und höhere Stufe, indem sie aus vielen sozial verbundenen Zellen Gewebe aufbauen und aus diesen mannigfaltige Organe zusammensetzen. Aber im Beginne ihrer individuellen Existenz sind auch die Histonen (von den niedersten Metazoen bis zum Menschen hinauf) einzellig, im Zustande der befruchteten Eizelle, der Cytula. Erst wenn sich diese einfache Stammzelle wie-

derholt teilt, entstehen daraus im Laufe der Ontogenese die zahl­ reichen Zellengenerationen, welche die Gewebe bilden — nach unserem biogenetischen Grundgesetze die palingenetische (durch Vererbung bedingte) Wiederholung des gleichen Vorgangs in der ursprünglichen Stammesgeschichte. Das allgemeine biologische Verhältnis der autonomen, aber subordinierten Zellen zu- den Geweben und Organen der Histonen ist dasselbe, wie in den höheren Tierstaaten (z. B. Ameisen, Bienen, Termiten), in den Herden der Wirbeltiere und den Staaten der Menschen, das untergeordnete Ver­ halten der sozial verbundenen Individuen (Personen) zu der Ge­ meinschaft, der sie als Glieder angehören. Auch unser eigener menschlicher Organismus ist in Wahrheit ein Zellenstaat. Die relative physiologische Selbständigkeit der Zellen gilt auch in psychologischer Beziehung, wie ich in meinem Wiener ConcordiaVortrage (über „Zellseelen, und Seelenzellen") bereits 1878 gezeigt habe. Die Erscheinungen der Assozion und Arbeits­ teilung im Aufbau der Histonen sind nicht zu erklären ohne die Annahme, datz jede einzelne Zelle eine selbständige Z e l l s e e l e besitzt, eine individuelle Energie, die in ihren Bewegungen, und ein Psychom, welches in ihren Empfindungen sich kundgibt. Zellulare und histonale Ethik. Die vergleichende Biologie und die daraus gegründete monistische Entwicklungslehre führt uns zu der Erkenntnis, daß der historische Fort­ schritt der Organisation — ebenso im Tierreich wie im Pflanzenreich — hauptsächlich einerseits auf der Vermehrung, der Assozion und zunehmenden Arbeitsteilung der konstituierenden Individuen, anderseits auf der stärkeren Integration oder Zentralisation, auf der zunehmenden Macht einer Zentralgewalt, die das Ganze regiert (Nervensystem der höheren Tiere), beruht. Sehr wichtig ist für diese Auffassung die Entstehung der Zeli­ ve r e i n e (Coenobia). Solche „Zellengesellschaften" treten schon in den niederen Gruppen der Protisten auf, sowohl bei den P r o t ophyten (Volvocinen, Diatomeen) als bei den Protozoen

(Magosphaeren, Vorticellen). Ich habe die verschiedenen Hauptformen dieser Zellverbände im 7. Kapitel der „Lebens­ wunder" erwähnt, wo überhaupt die wichtige (von den meisten Biologen sehr vernachlässigte) Frage von der Individuali­ tät der Organismen, von den verschiedenen Stufen der „Lebenseinheiten" eingehend behandelt ist. Diese Coenobien der Protisten leiten die Gewebebildung der Histonen ein. Da nun die G e s e l l u n g der Zellen bereits die ersten An­ fänge der Gesittung mit sich bringt, so können wir auch von einer elementaren Zellularethik der einzelligen Organis­ men sprechen, im Gegensatz zu der Histonalethik der viel­ zelligen und gewebebildenden Lebewesen. Es ist das besondere Verdienst von Wilhelm Kleinsorgen, diese wichtigen Fragen ein­ gehend behandelt zu haben, in seiner gedankenreichen Schrift: „Zellularethik als moderne Nachfolge Christi, Grundlinien eines neuen Lebensinhalts" (Leipzig 1912). Insbesondere ist hier die hohe Bedeutung der L i e b e für den Aufbau der Gesellschaft und die weitere Entwicklung ihrer Moral hervorzuheben. Eine be­ sonders interessante Form der Zellvereine bilden die Sphaeral-Zvenobien, Hohlkugeln, deren dünne Wand aus einer einzigen, epithelartigen Lage von gleichartigen, eng ver­ bundenen Zellen besteht; solche finden sich unter den Protophyten bei Volvox und Halosphaera, unter den Proto­ zoen bei Magosphaera und Synura. Dieselbe Form kehrt aber als vorübergehende Embryonalstufe in der Blasttila der Metazven wieder, jener „K e i m b l a s e", aus der durch Ein­ stülpung (Gastrulation) die bedeutungsvolle Keimsorm der Gastrula entsteht. Ihre einschichtige Zellwand ist die Keimhaut (Blastoderma); der Mutterboden, aus dem sich die Keimblätter, und aus diesen die Gewebe aller Metazven entwickeln. Die stufenweise Ausbildung der H i st o n a l e t h i k bei diesen letz? teren, ihre Entwicklung aus der Zellularethik der Proto­ zoen, wird als mechanischer Prozeß verständlich, sobald wir

das Psychom, die unbewußte Empfindung der Zellen, richtig ver­ standen und gebührend gewürdigt haben. Wirbeltiere und Gliedertiere. Neben dem Stamm der Wirbeltiere (Vertebrata), aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist, erhebt sich aus der Fülle der niederen wirbellosen Tiere ein zweiter mächtiger Stamm, das Phylum der Gliedertiere (Articulata). Dieser weitaus artenreichste Stamm des ganzen Tierreichs ist für viele allgemeine Fragen, besonders aber für die Entwicklungslehre, von solchem Interesse, daß wir hier wenigstens auf seine soziologische, und die damit verknüpfte psychologische Be­ deutung einen flüchtigen Seitenblick werfen wollen. Der Stamm der A r t i k u l a 1 e n, wie ihn zuerst Luvier 1812 mit weitschauendem Scharfblick richtig erfaßte, enthält vier große Klassen; von diesen ist die älteste und niederste die der Ringelwürmer (Annelida); aus ihr sind nach zwei divergenten Richtungen die drei höheren Klassen hervvrgegangen, die kiemenatmenden Krustentiere (Crustacea), die achtbeinigen luftrohratmen­ den Spinnentiere (Arachnida) und die geflügelten sechs­ beinigen Kerbtiere (Insecta). In jeder dieser drei formenreichen Klassen finden wir eine lange Stufenleiter von Familien, die sich von sehr einfachen und niederen Formen durch zahlreiche Zwischenstufen hindurch zu höchst vollkommenen und geistig hoch­ stehenden Verstandstieren erheben. Einerseits unter den Krusten­ tieren oder Krebstieren, anderseits unter den Spinnen und Insekten gibt es eine große Anzahl von höchst intelligenten Glieder­ tieren, deren merkwürdige Sinnes- und Seelentätigkeit derjenigen der höheren Wirbeltiere nichts nachgibt. Dabei ist besonders zu betonen, daß diese beiden Stämme, die äußerlich gegliederten Artikulaten und die innerlich gegliederten Vertebraten, in keinem direkten Verwandtschaftsverhältnis stehen, sondern un­ abhängig voneinander aus verschiedenen Stammgruppen der Wurmtiere (Vermalia) hervorgegangen sind. Auch das Gehirn, das Zentralorgan der Seelentätigkeit, ist in beiden Stämmen ganz verschieden, bei den Gliedertieren mit einem Dauchmark, bei den

Wirbeltieren mit einem Rückenmark verbunden. Die vergleichende Psychologie ergibt aber in beiden Stämmen so viele Ähnlich­ keiten, und namentlich auf den höchsten Entwicklungsstufen so wunderbare geistige Leistungen, daß man vielfach die Intelligenz einzelner Artikulaten-Gruppen direkt mit der menschlichen Ver­ nunfttätigkeit in Parallele gestellt hat. Ganz besonders gilt dies von denjenigen höheren Insekten, deren soziale Entwicklung zur Bildung wirklicher Tierstaaten geführt hat, dem monarchi­ schen Bienenstaat, den demokratischen Staaten der Ameisen und Termiten. Durch weitgehende Arbeitsteilung einerseits, hohe Or­ ganisation und Integration anderseits haben sich hier soziale Ver­ bände entwickelt, die der Gliederung der menschlichen Gesellschaft nichts nachgeben: Arbeiter bauen kunstreiche Wohnungen und sammeln Nahrungsvvrräte ein; Gärtner pflegen Gemüsebeete (Pilze); Viehzüchter halten Blattläuse, deren Honigsaft sie als Milch verwerten; andere pflegen die junge Brut und sorgen für deren Erziehung; bevorzugte Weibchen (Königinnen) und Männ­ chen (Drohnen) von verschiedener Form besorgen die Fortpflan­ zung; Soldaten dienen als bewaffnete Krieger zur Verteidigung der Stöcke; verschiedene Ameisenartey bekämpfen sich in blutigem Kriege; einige haben sich sogar die Sklavenhalterei angewöhnt. Die dualistischen Psychologen, welche an die persönliche Unsterb­ lichkeit der menschlichen Seele glauben, müßten diese folgerichtigerweise auch bei den hochzivilisierten Ameisen annehmen. Nun pflegt man ja meistens diese merkwürdigen Seelenfunktionen bei den geistig höchst entwickelten Tieren als Instinkte zu be­ zeichnen, welche bei der Erschaffung jeder einzelnen Tierart für ihren besonderen Lebenszweck vom weisen Schöpfer eingepflanzt worden sind. Indessen sind diese veralteten anthropistischen Vor­ stellungen, nebst dem ganzen Schöpfungsmythus, jetzt aufgegeben. Wir wißen jetzt, daß die sogenannten Instinkte wesentlich als Seelengewohnheiten aufzufasten sind, welche ursprünglich durch Anpassung erworben und dann durch Vererbung auf

viele Generationen übertragen und befestigt worden sind. (Vgl. Kap. 29 der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte".) Organisation und Militarismus. Unter den schweren An­ klagen, die England zur Begründung seines Angriffs auf Deutsch­ land in der Welt verbreitet hat, spielt eine große Rolle unser „M i l i t a r i s m u s" und die angeblich damit verknüpfte „Sklaverei". Da diese Beschuldigungen nicht nur bei seinen Bundesgenosien, sondern auch bei. den neutralen Nationen Glauben gefunden haben und erfolgreich zur Steigerung ihrer Abneigung gegen uns benutzt worden sind, muß ich einige Worte der Aufklärung hier einfügen, um so mehr, als ich selbst ftüher bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die Auswüchse des Militarismus mich geäußert habe. Vor allem ist hervvrzuheben, daß dieses Schlagwort — gleich vielen anderen — in mehrfach verschiedenem Sinne gebraucht wird. Der berechtigte und gesunde Grundzug des Militarismus, dem wir im jetzigen Weltkriege, gegenüber der kolosialen Übermacht unserer Feinde, die Rettung unseres Vaterlands verdanken, ist nichts anderes als die gut organisierte Wehrkraft. Jeder einzelne Organismus ebenso wie jeder Staat ist von Feinden und Neidern bedroht und muß sich gegen deren Angriffe durch Schutzwaffen und mög­ lichst vollkommen hergerichtete Defensivmaßregeln schützen. In dieser Beziehung ist die vorzügliche Organisation des Preu­ ßischen Heeres als musterhaft anerkannt; und da gerade am heuti­ gen Tage, am 20. Oktober 1915, der Beginn der 500 jährigen Hohenzollernherrschaft in Brandenburg festlich begangen wird, dürfen wir nicht unterlassen, den berühmten Häuptern dieses Fürstenhauses die verdiente Anerkennung für ihre unermüdliche Tätigkeit in der Herstellung eines starken Kriegsheeres zu zollen. Allen voran steht hier der große monistische Philosoph von Sanssouci, Friedrich II., der vor 150 Jahren den Kampf gegen eine „Welt von Feinden" siegreich durchführte. Aber auch der ehrwürdige Kaiser Wilhelm I., der mit Hilfe von Bismarcks unvergleichlicher Staatskunft vor 44 Jahren das neue Deutsche

Reich begründete, verdient unseren Dank dafür, daß er die von seinem Vater in den Befreiungskriegen vor 100 Jahren einge­ führte allgemeine Wehrpflicht zeitgemäß durchsührte. Diese Maßregel, die ein zur Verteidigung des Vaterlands be­ stimmtes Volksheer im besten Sinne schuf, wurde von den meisten Kulturvölkern Europas neuerdings nachgeahmt. Nur die Engländer, die sie als Beschränkung der individuellen Freiheit verwarfen, wollten nichts davon wisien; jetzt, wo ihr jämmerliches Werbesystem versagt, beginnen sie deren Notwendigkeit einzu­ sehen. — Wohl zu unterscheiden von diesem vernunftgemäßen Militarismus sind die Auswüchse der Heeresausstattung, die man als teures und unvernünftiges Svldatenspiel mit Recht verurteilt: die kostspielige Ausschmückung zahlreicher verschiedener Regimentsarten mit bunten, glänzenden Uniformen, das Renom­ mieren mit dem „Herrlichen Kriegsheer" in unaufhörlichen Paraden, Fahnenweihen und Siegesfesten. Diese Prahlerei kostet dem Staate viele unnütze Ausgaben, macht die Soldaten eitel und prunksüchtig, und verletzt das Ehrgefühl der anderen Nationen. Die wirkliche Tüchtigkeit, und Wehrfähigkeit des Heeres, feine wertvolle innere Organisation wird da­ durch nicht gestärkt. Jetzt, wo vernünftigerweise Darwins Prinzip der „Schutzfärbung" praktisch eingeführt und die bunte, glänzende Uniform mit dem einfachen „Feldgrau" vertauscht ist, wird jener „falsche Militarismus" bedeutungslos.

D. Entwicklungslehre und Politik. Wie der Staat nur eine höhere, rechtlich geordnete Form der Gesellschaftsbildung, so ist auch die Staatslehre oder Politik nur ein besonderer Zweig der Soziologie in weiterem Sinne. Sie unterliegt also denselben allgemeinen Gesetzen der Entwicklungs­ lehre wie die letztere. Nur ist ihre Aufgabe insofern schwieriger, als die Politik zur richtigen Beurteilung aller Verhältnisie eine viel umfasiendere Kenntnis aller Bedingungen und speziellen Be-

ziehungen verlangt; um so mehr, je größer der Umfang und je mannigfaltiger die Zusammensetzung der Staatsgebilde ist. Daher begegnen wir auch alltäglich der Erfahrung, datz sowohl in der theoretischen S t a a t s w i s s e n s ch a f 1, als in der praktischen Staatskunst die Ansichten und Wünsche der gebildeten Kulturmenschen weit auseinander gehen, trotzdem jeder täglich seine Zeitung liest und durch seine Lebensbedürfnisse zur Be­ schäftigung mit politischen wie mit sozialen Verhältnissen gezwun­ gen ist. Dazu kommt noch der Umstand, datz jedermann schon von früher Jugend an durch seine nationale Erziehung mehr oder weniger einseitig die Einrichtungen seines Vaterlandes als die normalen anzusehen gewohnt ist, hingegen diejenigen anderer Länder als mangelhaft oder verfehlt. In besonders auffälligem Matze tritt uns dieser Äbelstand im gegenwärtigen Weltkriege ent­ gegen, wo eine und dieselbe Tatsache und Aufgabe in den Augen der beteiligten Völker die verschiedenste Beurteilung findet. Der deutsche Gebildete hat sicher im allgemeinen einen unbefangeneren Blick und ein richtigeres Urteil, sowohl wegen der besseren allge­ meinen Bildung in den Schulen, als wegen seiner kosmopolitischen Interesien und internationalen Neigungen. Demgegenüber ist der Engländer durch seinen egoistischen Grötzenwahn, der Franzose durch seine überspannte Nationaleitelkeit („La grande nation!“), der Italiener durch seinen Ahnenstolz auf das weltbeherrschende alte Rom, der Rüste durch seine panslawistische Nationalsucht so verblendet, datz sie die meisten politischen Ereignisse von ihrem beschränkten Standpunkt aus sehr einseitig und oft ganz falsch be­ urteilen. Dadurch erklärt sich auch das bedauerliche Scheitern aller internationalen Verständigungsversuche und der damit verknüpf­ ten pazifistischen Bestrebungen. Da ich selbst seit vielen Jahren an diesen vernunftgemätzen internationalen Versöhnungsaktkvnen beteiligt war und sowohl in England, als in Frankreich und Italien Mitglied solcher „Rekonziliationsverbände" war, weitz ich aus eigener Erfahrung, welche grotzen praktischen Widerstände hier den bestgemeinten idealen Bestrebungen entgegenstehen. Nach meiner

Überzeugung ist auch hier erst dann ein erfreulicher und dauernder Fortschritt zu erzielen, wenn die oben dargelegten Grundsätze der Entwicklungslehre, der genetischen Anthropologie und Soziologie, und der darauf gegründeten monistischen Philosophie besser es Verständnis und allgemeinere Anerkennung finden. Deutschland und England. Unter allen Versuchen ftiedlicher Verständigung mit unsern Nachbarn, die seit Jahrzehnten von vielen bedeutenden Staatsmännern und wohlmeinenden Politi­ kern unternommen wurden, waren sicher die wichtigsten und aus­ sichtsvollsten diejenigen mit England. Denn der gemeinsame Grundzug der Germanischen Kultur, der namentlich in den wisienschaftlichen und künstlerischen, technischen und humani­ tären Bestrebungen beider Nachbarländer sich niemals ganz ver­ leugnete, tiefe besonders in den letzten vierzig Jahren, seit der Wiedergeburt des Deutschen Reiches und der Bezwingung des unversöhnlichen Frankreichs, die Hoffnung festhalten, daß die engere politische Verbindung der beiden germanischen Schwesternationen nicht nur ihrem beiderseitigen Nutzen und Wohlstände zum Vorteil gereichen, sondern auch eine dauernde Bürgschaft für den allerseits gewünschten Weltfrieden sein würde. Deutsch­ lands Heer als die stärkste Landmacht, Englands Flotte als die größte Seemacht hätten vereint der ganzen Kulturwelt dauernden Frieden und humanitären Kulturfortschritt schenken können — besonders dann, wenn Kolombanien (die „Ver­ einigten Staaten vvn Nordamerika"), in denen deutsche und eng­ lische Elemente überwiegend gemischt sind, sich dieser grvfeen westöstlichen Germanischen Allianz angeschlosien hätten. Dieser schöne Traum ist jetzt zerronnen, dank dem tiefgewurzel­ ten und brutalen nationalen Egoismus Eng­ land s; und leider ist keine Aussicht, dafe er in absehbarer Zeit wieder aufleben wird. Denn die Folgen des von England frevel­ haft heraufbeschworenen Völkerkrieges — „des größten Verbrechens der ganzen Weltgeschichte!" — sind so entsetzlich und schlagen der Kulturmenschheit so tiefe Wunden,

daß an eine wirkliche Versöhnung des überfallenen Deutschlands mit dem falschen englischen Brudermörder vorläufig nicht zu denken ist. Wenigstens kann die jetzige Generation des kontinen­ talen Europa, die seit 15 Monaten täglich Zeuge der b a r b a r i s ch e n und infamen Kriegsführung Großbritanniens ist — des beispiellosen Massenmordes, der schamlosen Verlogenheit und Heuchelei der englischen Politik, der niederträchtigen Behandlung der Gefangenen und Verwundeten! —, unmöglich wieder die Hand zur Versöhnung reichen. Erst muß wieder eine neue Generation kommen, welche in dem neu erstandenen Europa wieder mensch­ liche Sitte und Toleranz, Privatrecht und Völkerrecht (beide von England und seinen Verbündeten mit Füßen getreten!) zur Gel­ tung gelangt sieht. Die Blutschuld am Weltkriege. In den ersten Monaten nach dem überraschenden Ausbruch des Völkerkrieges, im August und September 191*4, gingen die Ansichten über besten eigentliche Ursachen und über die Schuld seiner Anstifter noch sehr ausein­ ander. Weitblickende Politiker und Geschichtskenner, welche die verwickelten internationalen Beziehungen der europäischen Kultur­ staaten in den letzten dreißig Jahren und besonders seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam verfolgt hatten, sprachen schon damals die Überzeugung aus, daß die tiefliegende Grundursache der Neid und die E i f e r s u ch t unserer östlichen und westlichen Nachbarn auf das Gedeihen und Emporblühen des neu geeinigten Deutschen Reiches seit 44 Jahren sei. Während besten ftüherer Zerristenheit und politischen Ohnmacht hatten sie sich daran ge­ wöhnt, die kontinentale Zentralmacht Europas als eine unter­ geordnete Macht zweiten Ranges zu betrachten, die jeder Nachbar nur zu seinem eigenen Nutzen ausbeuten könne. Daß Deutsch­ land sich als gleichberechtigte Großmacht neben die anderen Groß­ mächte stellen, daß es gleich ihnen Kolonien erwerben und am all­ gemeinen Welthandel seinen berechtigten Anteil haben wollte, das war das große Ärgernis, welches unsere Feinde in Ost und West nicht schlafen ließ, und das vor allem England — den stamm-

verwandten germanischen Bruderstaat — zu unserem grimmigsten Todfeinde machte. Besonders tragisch war dabei der Umstand, daß der König von England, Eduard VII. — ein Fürst deutschen Blutes und der Onkel unseres Kaisers Wilhelm II. —, sich zum Förderer dieses Bruderhasies machte und zehn Jahre hindurch in der feindlichen „Einkreisung Deutschlands" seine Hauptaufgabe sah. Ich habe diese Verhältnisse gleich nach Aus­ bruch des Krieges (am 12. August 1914) in einem kleinen Auf­ sätze über „die Blutschuld Englands am Weltkriege" klarzustellen gesucht, der eine weite Verbreitung gefunden hat (Eisenach, Iakobis Verlag). In einem zweiten Aufsatze (im Novemberheft der Monatsschrift „Nord und Süd") habe ich vom darwinistischen Standpunkte des , Naturforschers aus „Weltkrieg und Naturgeschichte" behandelt, die doppelte Bedeutung des „Kampfes ums Dasein" (als friedlichen „Konkurrenz­ kampf" und als feindlichen „Existenzkampf"). Daß England allein die Blutschuld an diesem „Größten Verbrechen der Weltgeschichte" trifft, und daß es seit mehr als 40 Jahren auf die Vernichtung des gefährlichen deutschen Konkurrenten sich vorbereitete, ist bekanntlich seitdem durch zahlreiche Tatsachen (vor allem durch die berühmten Enthüllungen der Belgischen Staats­ archive) sicher erwiesen, und im letzten Vierteljahr haben zum Überfluß die naiven Geständnisie der englischen Staatsmänner in der Regierung und im Parlament diese Schuldftage ganz offen zugegeben. Englands Weltherrschaft. Im Verlaufe der ungeheuren und wechselvollen Ereignisse, welche der von England angefachte Völkerkrieg seit 15 Monaten bereits herbeigeführt hat, ist es allmählich überall klargeworden, daß dieser mächtigste Seeräuber­ staat nicht allein seine unbeschränkte Herrschaft über alle Meere und seine überall angelegten Kolonien fest in der Hand behalten, sondern auch in Zusammenhang damit alle anderen Nationen rücksichtslos zu seinem Vorteil ausbeuten will. Wir können die Größe dieses brutalen nationalen Egoismus ebenso Haeckel, Ewigkeit,

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bewundern, wie den umfaßenden Weitblick und die raffinierte Schlauheit, mit welcher Großbritannien feine reale Weltherrschaft feit Jahrhunderten befestigt und ausgebaut hat. Ich persönlich habe die großartigen Verdienste, welche sich das kleine britische Inselreich — dank den kostbaren Vorzügen seiner insularen Selek­ tion und seiner geographischen Verbindungen — um die mensch­ liche Kultur erworben hat, stets bereitwillig anerkannt. Außer­ dem bin ich dabei durch meine Arbeiten über den Darwinismus (seit 50 Jahren), durch den persönlichen freundschaftlichen Ver­ kehr mit Darwin und Huxley, mit Lyell und John Murray, sowie mit zahlreichen anderen berühmten Naturforschern in England und Schottland in die angenehmsten und fruchtbarsten persönlichen Beziehungen getreten. Als ich 1866 in London zuerst die reichen dort ausgestapelten Schätze der Kunst und Wissenschaft kennen lernte, wurde ich von Bewunderung über die großen Züge der englischen Kulturarbeit und ihre musterhafte praktische Organi­ sation erfüllt. Als ich sodann zehn Jahre später in Glasgow und Edinburgh die wundervollen, das neue Forschungsgebiet der Tiefsee erschließenden Sammlungen der bahnbrechenden Challen­ ger-Expedition einsehen durste, übernahm ich selbst auf Wunsch von deren Direktion die Bearbeitung eines großen Teiles der­ selben, welche mich zwölf Jahre lang beschäftigte. Die großen Monographien der Radiolarien und Spongien, Medusen und Siphvnophoren, deren Ausstattung von mehreren hundert Tafeln mit größter Liberalität gewährt wurde, gehörten zu meinen dank­ barsten zoologischen Spezialarbeiten. Endlich lernte ich 1881 aus meiner ersten Tropenreise in Ceylon, sowie 1900 auf der zweiten in Singapore, die großartige Kolonialkunst der Engländer und ihre umfaßende Geschicklichkeit in der Beherrschung des gewalti­ gen Indischen Kaiserreichs bewundern. Oft bin ich in Deutschland deshalb einer übertriebenen Hochschätzung britischen Unternehmungs- und Forschungsgeistes angeklagt worden. Um so tiefer muß ich es jetzt beklagen, daß der egoistische Neid und grenzen-

lose Größenwahn Englands uns gegenwärtig zu seinen bittersten Todfeinden gemacht hat. Englands Größenwahn. Der gewaltige Erfolg, den das „Perfide Albion" bei Ausübung, seiner Weltherrschaft seit Jahr­ hunderten erzielt hat, beruht auf denselben äußeren und inneren Verhältnißen, deren Bedeutung in dem jetzigen Weltkriege klarer als je zuvor zutage getreten ist. In äußerer Beziehung betrachtet erscheint das kleine englische Inselreich als eine unangreifbare See­ festung, deren unüberwindliche Riesenflotte, in zahlreichen vor­ trefflichen Häfen sicheren Schutz findend, die direkte Invasion jedes äußeren Feindes unmöglich macht. Dazu kommt die schein­ bar unerschöpfliche Macht der Goldquellen, welche Großbritannien durch seine riesigen Kolonialgebiete und Dominien in allen Ecken der Welt besitzt. In bezug auf die inneren Ursachen seiner Machrstellung ist aber sprichwörtlich die Niederträchtigkeit seiner Realpolitik, die Falschheit seiner diplomatischen Ränke, die Nicht­ achtung der Rechte aller anderen Nationen. Die berüchtigte „Punica fides“ der alten Karthager wird von der Verlogenheit des „Perfiden Albion“ noch weit übertroffen. Gleich nach Beginn des Krieges eröffnete England jenen großartigen Lügenfeldzug gegen Deutschland, der durch schamlose Ver­ leumdung und spitzfindige Entstellung der Wahrheit uns in den Augen der übrigen Kulturwelt in ein völlig falsches Licht setzte; um so mehr, als es durch Abschneidung unserer auswärtigen Ver­ bindungen uns monatelang verhinderte, der täglichen Verbreitung falscher Nachrichten in der Preße gebührend entgegenzutreten. Als in der bekannten Erklärung von 93 namhaften deutschen Ge­ lehrten die Fäden dieses Lügennetzes durchrißen und der wahre Sachverhalt der Kriegsentstehung dargelegt wurde, antworteten 120 englische Gelehrte mit einer Gegenerklärung, deren unglaub­ liche Entstellungen nur als Ausfluß des bekannten englischen Größenwahns zu erklären sind. Tatsächlich lebt ja der größte Teil der englischen Bevölkerung in der pathologischen Einbildung, daß sie allein die wahren Förderer der Kultur und Bildung sind;

dieser maßlose Nationalstolz wird gesteigert durch ihre Unkenntnis der wirklichen Vorzüge anderer Nationen. Überall erhebt der Engländer bekanntlich den Anspruch, daß seine Sprache und Sitte allein maßgebend ist; er lernt die Sprachen und die Individuali­ täten anderer Kulturnationen nur unvollkommen oder gar nicht kennen. Englands Seeräuberei. Unter allen Formen des Krieges und der damit verknüpften Gewalttaten und Raubanfälle ist keine so rücksichtslos als der Seekrieg, die Piraterie. Zugleich übt diese Seeräuberei einen eigentümlichen romantischen Reiz auf die Unternehmer aus, einerseits durch die damit verknüpften Gefahren und Glücksfälle, anderseits durch die Sicherheit oder selbst Unan­ greifbarkeit, welche eine isolierte Insel oder eine unnahbare Felsen­ küste mit versteckten Schlupfwinkeln und sicheren Häfen dem An­ greifer darbietet. Daher sehen wir feit Jahrtausenden kühne und intelligente Küstenbewohner mit dem einträglichen und abenteuer­ lichen Gewerbe des Seeraubes beschäftigt; und nicht selten haben Invasionen größeren Stils die Piraten zu bedeutenden politischen Erwerbungen geführt. Auch bemächtigen sich seit alters her Dich­ ter und Romanschreiber dieser dankbaren Stoffe. Wir brauchen bloß an Homer und andere Dichter des klassischen Altertums zu erinnern; an die Iliade und Odysiee, an die Heldenfahrten der griechischen und phönizischen, karthagischen und römischen See­ räuber. Im 8. bis 11. Jahrhundert brandschatzten die kühnen Normannen die Küsten der britischen Inseln und des westeuropäi­ schen Festlandes. Während des Mittelalters griffen viele türkische und sarazenische Korsaren die Küsten des Mittelmeeres und des westlichen Europas an. In Italien und Spanien, wie in anderen mediterranen Küstenländern zeugen noch heute zahlreiche alte Warttürme von dem Schrecken, den diese plötzlichen SeeräuberAnfälle den Einwohnern einflößten; nicht nur nahmen sie ihnen Hab und Gut gewaltsam weg, sondern schleppten sie in Gefangen­ schaft und benutzten sie als Sklaven. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die britischen und ftanzösischen Bukkanier berühmt, welche

Westindien und die Ostküsten von Nordamerika brandschatzten, im 18. Jahrhundert die Flibustier des Nordatlantischen Ozeans. 1670 eroberte sogar ein englischer Bukkanier Panama; er führte den berühmten Namen Morgan, denselben, welchen jetzt der Colombaner Morgan in New Pork besitzt, einer der Milliardäre, die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika den gewaltigen Stahltrust gründeten und durch Massenlieferung von Munition für England den Tod von vielen taufend deutschen Kriegern her­ beiführen. Damals plünderte auch ein verlumpter französischer Edelmann namens Gramont Mexico. Heute noch bildet die Piraterie im Osten ein einträgliches Geschäft für zahlreiche chine­ sische und japanische Schiffe. Indessen alles, was diese und andere Seeräuber seit zwei Jahrtausenden erreichten, tritt zusammen­ genommen zurück gegen die großartigen Erfolge, welche Groß­ britannien, der mächtigste und gewalttätigste von allenPiratenstaaten, in allen Erdteilen zustande gebracht hat. Ist doch der größte Teil seiner Weltmacht auf die rücksichtslose Gewalttätigkeit gegründet, mit der England andere Länder an­ gegriffen und ausgeplündert hat; dabei ging es meistens mit einer Kühnheit und diplomatischen Schlauheit vor, der man die Be­ wunderung kaum versagen kann. Wir betrachten es als ein be­ sonderes Verdienst unserer Unterseeboote, dieser Räuberbande wenigstens teilweise das Handwerk gelegt zu haben. Englands Barbarei. In dem großartigen Lügenfeldzug, den England gleich nach Beginn des Weltkrieges gegen Deutschland in Szene gesetzt und mit Hilfe seiner Presse und seiner Börse in allen Weltteilen erfolgreich durchgeführt hat, wird uns besonders wirkungsvoll die „Barbarei" unserer Kriegführung zum schwersten Vorwurf gemacht. Wer den Charakter des deutschen und des englischen Volkes, sowohl in den höheren als in den niederen Klassen gründlich kennt und unbefangen vergleichen kann, wird urteilen, daß dieser niederträchtige, durch verlogene Angaben und gefälschte Bilder gestützte Vorwurf auf England selbst zurückfällt. Im ganzen Verlauf des Weltkrieges haben die Staatsmänner

wie die Soldaten und die Journalisten Großbritanniens unzählige Male bewiesen, daß ihnen alle Satzungen des Völkerrechts gleich­ gültig sind; ihr rücksichtsloser nationaler Egoismus hat sie gegen alle Rechte anderer Völker blind gemacht. Man braucht bloß die Geschichte der Kolonialkriege Englands in Indien und Afrika zu lesen, um zu erkennen, wie völlig unmenschlich diese „allerchrist­ lichste Nation" gegen ihre Feinde verfährt. Charakteristisch dargestellt ist diese kaltherzige Grausamkeit in dem berühmten indi­ schen Kriegsbilde des genialen russischen Malers Wereschtschagin: da steht in Parade aufgepflanzt eine Batterie von englischen Ge­ schützen; vor die offene Mündung jeder Kanone ist ein lebendiger indischer Fürst oder Würdenträger fest angebunden; die Kanoniere stehen kalt und ruhig daneben und erwarten geduldig den Augen­ blick, wo nach langem Warten der Befehl zum Lvsschietzen erfolgt und die zerrißenen Leiber der schon halb zu Tode geängstigten Schlachtopfer in die Luft fliegen. Diese indischen Verbrecher haben nur ihre Pflicht erfüllt und ihr Vaterland gegen die britischen Seeräuber verteidigt. Dabei sind diese arischen Inder keine schwarzen Kasfern und Senegalneger, wie sie der Vierverband jetzt gegen uns ins Feld führt; vielmehr sind sie ältere Sproßen derselben indogermanischen Raße, der auch die Angelsachsen jen­ seits und die Teutosachsen diesseits des Ärmelkanals entsprungen sind. Wenn Deutschland infolge eines unglücklich endenden Welt­ krieges nach Englands Wunsch zerteilt und vernichtet würde (wie es bereits hoffnungsfrvhe Zukunftskarten unserer Feinde bildlich darstellten!), dann würde das Schicksal der „Germanischen Domi­ nien" nicht beßer sein als dasjenige der unterjochten Inder und Australier, Südafrikaner und Ägypter!

E. Zukunftsbild der Entwicklungslehre. Im Hinblick auf die großartigen Fortschritte, welche der Ent­ wicklungsgedanke im Laufe des letzten halben Jahrhunderts für das Gesamtgebiet unserer menschlichen Wissenschaft herbeigeführt

hat, dürfen wir überzeugt fein, daß er auch aus dem Chaos des gegenwärtigen wahnsinnigen Weltkrieges die leidende Menschheit auf eine höhere Stufe der Kultur und des Lebensglückes hinauf­ führen wird. Hat uns doch im Laufe der letzten 50 Jahre die Erkenntnis der allgemeinen Weltgesetze (obenan des Sub­ stanzgesetzes) und die Begründung der monistischen Entwick­ lungslehre (obenan die Lösung des Kardinalproblems) zu einer Höhe der Weltanschauung geführt, welche zu erreichen noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts unmöglich schien. Hand in Hand mit dieser bewunderungswürdigen Ausbildung unserer theoretischen Gedankenarbeit, der vernunftgemäßen monistischen Philosophie, hat sich auch deren praktische An­ wendung auf unsere humane Lebensführung, die rationelle monistische Religion, zu einer früher kaum geahnten Höhe empor­ geschwungen. Freilich hat der erwünschte stetige Fortschritt der Kultur durch die unvermeidlichen Greuel des jetzigen Völker­ krieges tausendfach bedauerliche Unterbrechungen erfahren und zu schmerzlichen Rückschritten in Barbarei geführt. Allein im großen und ganzen überwiegt doch die segensreiche progressive Evolution die Schäden der verderblichen regressiven Entwicklung. Die Geschichte der Menschheit, ebenso wie die Stammesgeschichte der ganzen organischen Lebewelt, folgt durchschnittlich dem bekannten Bilde der Echternacher Springprozession: Drei Schritte vorwärts, zwei Schritte rückwärts; immer bleibt ein Schritt zugunsten des Fortschritts übrig. So sind auch vor 120 Jahren die Greuel der französischen Revolution gesühnt worden durch den gewaltigen Fortschritt, den die bürgerliche und politische Freiheit durch die Vernichtung des mittelalterlichen Feudal­ systems, des Absolutismus und der sozialen Standesvorurteile erfahren hat. Wir dürfen sicher hoffen, daß auch der gegen­ wärtige Völkerkrieg — eine viel gewaltigere Revolution der Kulturwelt — trotz der damit verknüpften Verletzung aller Be­ griffe von Menschenliebe und Völkerrecht, — dennoch schließlich eine neue Ära des höheren Kulturfortschritts zur Folge haben

wird. Zunächst wird sich dieser freilich mehr äußerlich kund­ geben, in einer großartigen Verschiebung der internationalen Macht- und Besitzverhältnisse. Wichtiger aber werden in ihren bleibenden Folgen die i n n e r l i ch e n Reformen sein, welche aus der erweiterten Kenntnis der internationalen Kultur und dem Verständnis der verschiedenen Volkscharaktere sich ergeben. Hier wird der berechtigte nationale Egoismus in Verbindung mit dem höheren internationalen Altruismus die Gebote des „Goldenen Sittengesetzes" mehr und mehr befolgen lernen. Friedenshvffnungen. Je länger der entsetzliche Völkerkrieg dauert, je größere Werte an Menschenleben, an Kulturerwerbun­ gen und materiellen Gütern dadurch alltäglich zerstört werden, desto dringender tritt auf allen Seiten der Wunsch nach baldigem Friedensschluß hervor, und zwar nach einem dauernden Frieden, welcher die Wiederkehr solcher unmenschlichen Greuel aus Jahrhunderte (wenn nicht für immer?) verbürgt. Schon Kant hat 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" gezeigt, daß die Herstellung eines solchen internationalen Rechtszustandes das Ziel der höheren Kultur sein und den ständigen Kriegs­ zustand der rohen Naturvölker verdrängen solle. Zur Verwirk­ lichung dieser schönen Idee haben sich ja seit längerer Zeit ver­ schiedene Friedensgesellschasten gebildet; ein besonderer „Nobel­ preis" wird alljährlich an Schriftsteller, die dafür werben, ver­ teilt; sogar der russische Zar (der Ende Juli 1914 durch die Mobil­ machung seines Millionenheeres tatsächlich den ersten Schritt zum wirklichen Ausbruch des Weltkrieges tat!) hat im Haag den berühmten „F r i e d e n s p a l a st" errichtet. Seitdem hat der alte Streit, ob dauernder Friede zwischen den Nationen möglich sei oder nicht, wieder neue Kraft gewonnen. Ich selbst bin prin­ zipiell „P a z i s i st" und habe schon seit vielen Jahren mehreren Friedensgesellschaften in Deutschland und Österreich, Frankreich und England angehört, deren wohlgemeinte Agitation gegen den Krieg gerichtet ist. Unser Ziel ist, den unvermeidlichen, aber unblutigen „Konkurrenzkampf" nicht in den blutigen und

mörderischen „Existenzkampf" ausarten zu lasten. Die veredelten Kulturvölker sollen gegenseitig Toleranz üben und zu höherer gemeinsamer Kulturarbeit im Dienst wahrer Hu­ manität sich verbünden. Ich sehe nicht ein, warum nicht schließlich die Anwendung roher Gewalt zwischen den seindlichen, in Wettbewerb stehenden Nationen ebenso durch vernünftigen Ausgleich oder durch ein neutrales Schiedsgericht vermieden werden kann, wie es hinsichtlich des berüchtigten Faust rechts und der Blutrache schon vielfach geschehen ist. Haben wir doch auch die Beschränkung des persönlichen Duells (das nur vom abergläubischen Standpunkt des „Gottesurteils" einen Sinn hat!) in weiten Volkskreisen erreicht, trotzdem die falschen mittel­ alterlichen Ehrbegriffe höherer Gesellschaftsklassen, besonders beim Militär, bei einem Teile der Studentenverbindungen usw. diese verderbliche Unsitte zu erhalten bestrebt sind. Daher hoffe ich, daß früher oder später die Herstellung eines dauernden (wenn auch nicht „ewigen"!) Friedens zwischen den höher entwickelten Kulturnativnen wirklich gelingen wird; notwendige Voraussetzung dafür bleibt freilich, daß die fortgeschrittene praktische Ver­ nunft den streitenden Völkern die Torheit und Verderbnis ihres gegenseitigen Mordens zur klaren Einsicht gebracht haben wird; und zweitens, daß es gelingen wird, dem neutralen Schieds­ gericht die moralische Autorität und die realen Machtmittel zur Geltendmachung seiner vernunftgemäßen Urteile zu verschaffen. Deutsches Neuland. Daß die Landkarte von Europa nach erfolgtem Friedensschluß gewaltige Veränderungen erleiden wird und die Grenzen der einzelnen Länder sich bedeutend verschieben werden, darüber herrscht allgemein kein Zweifel. Aber wie, wo und wann der Friedensschluß erfolgen, wie die beispiellos ver­ wickelten politischen Probleme dieses rätselvollen Weltkrieges ge­ löst werden sollen, vermag gegenwärtig noch kein Mensch zu ahnen. Nur der eine Wunsch besteht fast allgemein, und ist auch von den maßgebenden Stellen der Reichsregierung wieder­ holt ausgesprochen worden, daß wir (ohne falsche „Sentimen-

talität"!) unerschütterlich durchhalten bis zur Er­ reichung eines bleibenden Erfolges; der zu erhoffende Friede muß dauerhaft fein und so ausgestaltet werden, daß unseren neidischen Nachbarn und gehässigen Feinden die Lust zu einem neuen Angriff gründlich gelegt wird. Wir können natürlich nicht daran denken, hier irgendwelche besonderen Vorschläge für die Friedensbedingungen zu machen. Wohl aber dürfen wir (wie es auch anderfeitig schon vielfach geschehen ist) in all­ gemeinen Umrissen die wichtigsten Punkte berühren, auf welche beim Friedensschluß besonders zu achten sein wird. Wir halten jetzt bereits ansehnliche Länder (Belgien und Nordfrank­ reich im Westen, Polen und die baltischen Provinzen Rußlands im Osten) als wertvolles Faustpfand in fester Hand, und diese reichen Gebiete waren in früheren Zeiten deutscher Besitz. Ant­ werpen mutz unser fester Stützpunkt in der Nordsee, Riga in der Osffee bleiben. Höchst wertvoll ist für uns die in diesem Augen­ blick erreichte Verbindung mit dem Orient (Berlin, Kon­ stantinopel, Bagdadbahn usw.). Jedenfalls muffen wir beim Friedensschluß eine bedeutende Gebietserweite­ rung des Deutschen Reiches in Anspruch nehmen. Dabei sind wir weder von der Habsucht und Goldgier des welt­ beherrschenden Englands geleitet, noch von dem eitlen National­ stolz des gloiresüchtigen Frankreichs; weder von dem kindischen Größenwahn des romtollen Italiens, noch von dem unersättlichen Expansionstriebe des halbbarbarischen Rußlands. Vielmehr bedürfen wir bei der Übervölkerung des Deutschen Reiches drin­ gend einer Erweiterung und Stärkung seiner höchst ungünstigen Grenzen, erstens um uns gegen künftige Angriffe unserer stär­ keren Nachbarn sicherzustellen, und zweitens, um die große Zahl deutscher Volksgenossen nicht zu verlieren, die alljährlich aus dem zu eng gewordenen Vaterlande auswandern und als „Kultur­ dünger" für andere Länder uns verloren gehen. Die neuen an­ gegliederten Gebiete sind energisch und rücksichtslos, aber mit Vorsicht und Verstand zu germanisieren oder wenigstens

deutscher Kultur, Bildung und Gesittung zugänglich zu machen. Diese wichtige Aufgabe ist ja in früheren Jahrhunderten bereits in großer Ausdehnung uns gelungen. Deutsches Kolonialland. Zu den vielen wichtigen Erkennt­ nissen, zu welchen dieser weltumspannende Völkerkrieg als 'Lehr­ meister uns geführt hat, gehört besonders die wachsende Über­ zeugung, daß unser Deutsches Reich als Weltmacht ausgedehnter Kolonien bedarf. Diese politische Notwendigkeit hatte mit weitem Blick schon vor 250 Jahren der „Große Kurfürst" erkannt, und der geniale Gründer des neuen Deutschen Reiches, Fürst Otto von Bismarck, hat sie in unserer Zeit in die Tat um­ gesetzt, trotz des zähen Widerstandes vieler kurzsichtiger Politiker. Unter den verschiedenen Vorschlägen, welche neuer­ dings für die Erweiterung unseres bereits erworbenen Kolonial­ besitzes gemacht worden sind, dürfte am aussichtsreichsten die Grün­ dung eines großen deutschen Kolonialreiches in Mittelafrika sein. Mit dem Besitze von Belgien (und besten vortrefflichem Hafen Antwerpen!) fällt uns zugleich der ausgedehnte höchst wertvolle K o n g o st a a t zu. Indem wir diesen unseren jetzigen, mit Aufwand gewaltiger Mittel bereits zu hoher Blüte erhobenen Kolonien im östlichen und westlichen Teile von Mittel-Aftika angliedern, erhalten wir ein gewaltiges Gebiet, desien Ausbeutung durch den energischen Fleiß und die kenntnisreiche Umsicht deutscher Kolonisten uns für Jahrhunderte lohnendste Ausbeute verspricht. Englands großartiger Plan, durch direkte Verbindung seiner Macht „vom Kap nach Kairo und vom Niger bis zum.Irawaddi" auch zu Lande ein all­ beherrschendes Weltreich zu gründen, darf überhaupt nicht zur Ausführung gelangen. Ägypten, das die Engländer vor dreißig Jahren den Türken, seinen rechtmäßigen Besitzern, geraubt haben, muß diesen zurückgegeben werden, ebenso der Suezkanal, der international verwaltet werden muß. Aus Afrika muß Groß­ britannien überhaupt verschwinden. Das Kapland sollte, ebenso wie das herrliche Zeylon, wieder an Holland zurückfallen, dem es

früher gehörte. Mit Holland, wie mit der Schweiz und Skandinavien, als wohlwollenden neutralen Nachbarländern, stets auf dem besten freundschaftlichen Fuße zu bleiben, mutz ein wichtiges Ziel des verjüngten und vergrötzerten Deutschen Reiches bleiben. Auf die moderne Reform des Osmanenreiches, durch Einführung deutscher Kultur und Bildung, ist große Hoffnung zu setzen, um so mehr, als der frühere religiöse Fanatismus der Türken in den höheren Bil­ dungskreisen schon sehr geschwunden ist. Kleinasien, eines der herrlichsten Länder, schon vor 2500 Jahren mit der höchsten Blüte griechischer Kultur geschmückt, ferner die anstoßenden Euphratgebiete, und Syrien nebst Palästina, können in der wiedergeborenen Türkei — in vereinter Kultur­ arbeit mit Deutschland! auch mit Griechenland — wieder zu fruchtbarstem Gedeihen sich emporschwingen. Seefreiheit. Als eines der wichtigsten Friedensziele, an welchem alle Kultur-Rationen des Erdballs gleichmäßig beteiligt find, müssen wir die Herstellung der freien Schiffahrt auf dem Ozean und eines gesicherten Rechtszustandes zwischen den seefahrenden Nationen betrachten. Dieses Ziel ist aber nur dadurch zu erreichen, daß die großbritannische See­ herrschast zerstört oder unschädlich gemacht wird. Tatsächlich besteht diese maritime Tyrannei schon seit Iahrhundertm; ohne alle Rücksicht auf die berechtigten Ansprüche anderer Nationen hat England in seiner selbstsüchtigen Herrschsucht und Habgier die Seemacht aller anderen, mit ihm in Mitbewerb getretenen Staaten zu schwächen oder zu vernichten gesucht; es hat die Flotten von Frankreich und Spanien, von Italien und Griechen­ land, von Holland und Dänemark, von allen Staaten, deren Handel ihm an den Küsten aller Weltteile gefährliche Konkurrenz bereitete, unbedenklich angegriffen und zerstört. In seinen mäch­ tigen Kolonien, die an Umfang und Wert diejenigen aller anderen Nationen übertreffen, hat es die absolute Herrschaft über deren Küsten und Häfen, Inseln und Festungen, unbedingt für sich in

Anspruch genommen. Niemals ist uns das so direkt fühlbar geworden, wie im jetzigen Völkerkriege, wo England von Anfang an durch seine maritime Übermacht und seine sicheren Stützpunkte in allen Weltteilen Deutschland isoliert und durch Zerstörung aller Verbindungsdrähte von allen anderen Ländern abgeschnitten hat. Nur so ist die ungeheure Wirkung des beispiellosen Lügen-Feldzuges zu erklären, durch welchen unsere Feinde uns bei den neutralen Nationen verleumdet und verhaßt gemacht haben. Und doch sind diese Neutralen, gleicherweise wie Frank­ reich und Italien, und wie alle anderen mit England Verbün­ deten — ebenso wie wir selbst, durch Großbritanniens maritime Tyrannei bedroht. Ihnen allen wird der britische Piraten-Staat im gegebenen Falle ebenso wie uns den Mitbewerb im Welt­ handel untersagen und die freie Schiffahrt im Ozean unmöglich machen. Das weite Gebiet des Weltmeers, welches nahezu zwei Drittel der Erdoberfläche umfaßt, muß aber Gemeingut der ganzen Menschheit bleiben und darf niemals Privateigentum einer einzelnen seefahrenden Nation werden. Wenn die englischen Minister noch in den letzten Jahren den Anspruch auf dieses Monopol offen erhoben und zugleich in stolzer Zuversicht gedroht haben, daß Britannien für alle Zeiten die unumschränkte Be­ herrscherin der Meere bleiben werde, so haben sie damit nur einen neuen Beweis für die Blindheit des britischen Größen­ wahns geliefert. Denkfreiheil. Während die äußere Neugestaltung von Europa und die Beziehungen Deutschlands zu dm übrigen Staaten noch vielfach im Nebel der Zukunft verborgen liegen, lasten sich dagegen die wichtigsten Ziele seiner inneren Reform schon klar im Lichte der Zukunft erkennen. Ganz im allgemeinen, von der hohen Warte der reinen Vernunft überschaut, können wir da den Wunsch aussprechen, daß die anerkannten Grund­ züge der geläuterten Moral, wie sie im engeren persönlichen Ver­ kehr der Kulturmenschen schon lange angestrebt werden, als Norm auch innerhalb des Staates zwischen den verschiedenen Ständen

und Gesellschaftsklassen, ebenso wie weiterhin international zwischen den einzelnen Staaten Geltung erhalten. Das wich­ tigste von allen diesen ethischen Prinzipien ist das uralte „G o l deneSittengesetz" oder die „Goldene Regel", über welche ich im 19. Kapitel der „Welträtsel" meine Gedanken mitgeteilt habe. Besonders möchte ich auf die dort geäußerten Wünsche über die notwendige Schul-Reform und den „Kultur­ kampf" Hinweisen, sowie die wichtige Neugestaltung der gegen­ seitigen Beziehungen von Schule, Kirche und Staat. Von meinem freidenkenden Standpunkte des Monismus aus halte ich die Trennung von Schule und Kirche, sowie von Staat und Kirche für höchst wünschenswert; sie ist in Holland und neuerdings auch in Frankreich, sowie in Kolombanien, zum Nutzen aller Beteilig­ ten längst durchgeführt. Damit ist nicht gemeint, daß der Reli­ gions-Unterricht überhaupt wegsallen soll; im Gegenteil wünschen wir, daß unsere Monistische Religion (in dem oben er­ läuterten Sinne) als naturgemäße Ethik für die moralische Er­ ziehung der Jugend ausgebildet werden soll, zumal sie in ihren wichtigsten Prinzipien (Menschenliebe, Toleranz) mit den wesent­ lichsten praktischen Sittenlehren des Christentums überein­ stimmt. Nur die theoretischen Glaubenslehren des letz­ teren, die als mythologische Dichtungen den Ergebnisten der modernen Wistenschast direkt widersprechm, dürfen unserer Jugend nicht mehr als „Göttliche Offenbarungen" aufgezwungen werden. Wohl aber können sie in der „Vergleichenden Religionsgeschichte", in Parallele mit der ähnlichen Mythologie anderer Religionen, dem Bildungskreise der Jugend einverleibt werden. — Keinesfalls sollte noch fernerhin der blinde Glaube an die Wundergeschichten des Alten und Neuen Testa­ ments in den deutschen Schulen obligatorisch gelehrt werden. Denn dieser biblische Aberglaube widerspricht nicht nur direkt der Vernunft, sondern führt auch zu jenem traurigen Kampf der Konfessionen, der gerade in dem gemüts­ tiefen Deutschland so viel Unheil angerichtet hat und noch heute

anrichtet. „Gedankenfreiheit", wie sie der Marquis Posa in Schillers „Don Carlos" forderte, und wie sie leider in vielen deutschen Staaten und in Österreich noch heute vermißt wird, sollte eines unserer ersten Grundrechte sein, nach dem be­ kannten Grundsätze Friedrich II.: „In meinen Staaten kann jeder nach seiner Fasion selig werden." Die volle Glaubensfrei­ heit im Geistesleben ist sür die Kulturmenschen des 20. Jahr­ hunderts ebenso wichtig und unentbehrlich, wie im politischen Leben und im Weltverkehr die S e e f r e i h e i t. Ernte des Weltkrieges. Am Schlüße unserer „WeltkriegsGedanken" angelangt, legen wir uns zuletzt noch die allgemeine Frage vor: „Welche (Ergebnisse wird dieses beispiellose Völker­ ringen für die ganze Kulturwelt bringen?" Welche edlen Früchte werden aus dem grauenhaften, mit dem Blute von Millionen Menschen gedüngten Schlachtfeldern Europas hervorsprießen? Welche dauernden Güter werden sich sür das höhere Geistesleben der Menschheit aus diesem titanischen „Kampf ums Dasein" ent­ wickeln, in welchem seit 15 Monaten die mächtigsten Kulturvölker sich gegenseitig zu vernichten suchen?" — Bei unserer Antwort auf diese große Frage werden wir weder in'pessimistischem Sinne den Untergang unserer mühsam erworbenen Kultur befürchten, noch in optimistischer Beleuchtung auf ein nahendes goldenes Zeit­ alter voll lauter Glück und Frieden hoffen. Vielmehr werden wir, vom realistischen Standpunkte unserer monistischen Natur­ philosophie ausgehend, in der jetzigen Weltkatastrophe einen jener großen Wendepunkte der menschlichen Geschichte erkennen, an welchem unter der vereinten Wucht gewaltiger Fortschritte und tief einschneidender Zufälle neue Gestaltungen des Völkerlebens aus dem Schutte der zusammenstürzenden „Guten alten Zeit" sich erheben. Die unvergleichlichen Fortschritte der Wissenschaft, vor allem der tieferen Naturerkenntnis im letzten Jahr­ hundert, haben der blinden oder nur im Nebel tastenden Mensch­ heit die Augen geöffnet und ihr in klarem Sonnenlichte den wahren Wert des Erdenlebens gezeigt; sie haben die Verderblich-

feit des geheiligten Aberglaubens und der dadurch gestützten Un­ vernunft nachgewiesen; sie haben uns überzeugt, datz nur durch Vernunft und Wissenschaft (— „des Menschen allerhöchste Kraft"! —) die Wahrheit erkannt und die höhere Kultur geför­ dert werden kann. Unter diesen segenbringenden Früchten der Wisienschast steht obenan das allbeherrschende Substanz­ gesetz, die Erkenntnis von der Unzerstörbarkeit von Materie, Energie und Psychom; und mit ihm verknüpft sich unmittelbar das allgemeine Gesetz der beständigen Metamorphosedes Kosmos, die Erkenntnis von der Vergänglichkeit alles Indi­ viduellen. Das ganze Universum besteht in Ewigkeit; aber nicht in ewiger Ruhe, sondern in ewiger Bewegung, in ununter­ brochenem „Werden und Vergehen". „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen." Ein anderer Ausdruck dafür ist unser Satz: „Universum perpetuum mobile“ (1899). Eine unerschöpfliche Fundgrube edelsten Genusies bietet für den denkenden Kulturmenschen das Schauen und Erkennen der unzähligen Wunder dieses ewigen Lebensprozesies, und den sicheren Weg dazu findet er in unserer modernen Ent­ wicklungslehre.

Jena, am 20. Oktober 1915.