Den Tod sterben und das Leben: Dominikanische Erzählungen der Gegenwart
 9783964566805

Table of contents :
Inhalt
Einführung
Der Fluß und sein Feind
Stationen
Die Lüge
Gespenster gehen um
Die Mauer
Tod auf Tod
Heute nacht geht die Welt unter
Der gelbe Sturm
Der Mann im Haus
Das tote Kind
Die Chance
Die verzehrte Kraft
Am Rande einer Unterhaltung in der U-Bahnstation der 168. Straße in Manhattan
Die Autoren

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Den Tod sterben und das Leben

Den Tod sterben und das Leben Dominikanische Erzählungen der Gegenwart Herausgegeben von Frauke Gewecke

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1989

CIP-Htelaufnahnie der Deutschen Bibliothek Den Tod sterben und das Leben: dominikanische Erzählungen der Gegenwart / hrsg. von Frauke Gewecke. - Frankfurt am Main: Vervuert, 1990 ISBN 3-89354-316-3 NE: Gewecke, Frauke [Hrsg.]

Umschlaggestaltung Uli Seib unter Verwendung eines Fotos von Michael Richter © dieser Ausgabe: Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1990 Alle Rechte vorbehalten Printed in West-Germany

Inhalt Frauke Gewecke Einßhrung 7 Juan Bosch Der Fluß und sein Feind 23 Pedro Peix Stationen 37 José Rijo Die Lüge 47 Marcio Veloz Maggiolo Gespenster gehen um 53 Virgilio Díaz Grullón Die Mauer 59 Iván García Tod auf Tod 69 Miguel Alfonseca Heute nacht geht die Welt unter 79 Armando Almánzar Rodríguez Der gelbe Sturm 89 Ramón Francisco Der Mann im Haus 97

José Alcántara Almánzar Das tote Kind 101

René del Risco Bermúdez Die Chance 113

Aída Cartagena Portalatin Die verzehrte Kraft 117

Roberto Marcallé Abreu Am Rande einer Unterhaltung in der U-Bahnstation der 168. Straße in Manhattan 121 Die Autoren 135

Einführung Die Dominikanische Republik - ein Ferienparadies: So mag sich durch die Werbung von Reisebüros und die stereotype, in der Regel auf die Reisebeilage beschränkte Berichterstattung bundesdeutscher Zeitungen das kleine Land der Karibik in das Bewußtsein deutscher Leser eingeschlichen haben. Der für den vorgelegten Erzählband gewählte Titel Den Tod sterben und das Leben wird solchermaßen geschaffene Erwartungen gewiß enttäuschen. Dafür verspricht dieses Buch dem Leser, der bereit ist, sich auf das kritische Selbstverständnis seiner 13 Autoren und die konfliktreiche Wirklichkeit des Landes einzulassen, zweierlei: erste Einblicke in die zu Unrecht hierzulande gänzlich unbekannte dominikanische Literatur und erste, zwar nur punktuell und mittels Fiktion eingeblendete, aufgrund der gewählten Form aber umso eindrücklicher vermittelte Einsichten in die Probleme und Konflikte der dominikanischen Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, vorherrschende Themen der gesamten neueren literarischen Produktion des Landes. Der Tod ist in der dominikanischen Literatur - und ganz besonders in den hier ausgewählten Erzählungen - in zahlreichen seiner möglichen Erscheinungsformen gegenwärtig: der physische Tod durch eine dem Menschen feindliche Naturgewalt, durch die prekären, nicht einmal die einfachsten vitalen Bedürfnisse sichernden Lebensbedingungen der Campesinos und marginalisierten städtischen Bevölkerimg oder durch politisch motivierte Verfolgung und Mord; und der psychische Tod als Folge von Resignation und Apathie angesichts enttäuschter Hoffnungen auf grundlegenden Wandel oder als Folge von Anpassimg und Selbstaufgabe angesichts der Notwendigkeit, das physische Überleben, selbst um den Preis des Verrats einst verfochtener Prinzipien, zu sichern. 7

Lateinamerikanische Literatur - und dies gilt in besonderem Maße für die fiktionale Prosa - ist nach dem Verständnis der meisten ihrer herausragenden Repräsentanten »literatura comprometida«, engagierte Literatur: nach dem Votum des paraguayischen Romanciers Augusto Roa Bastos Instrument zur Aufarbeitung und möglichen Veränderung sozialer Wirklichkeit, Dokument der Anklage, Zeugnis kollektiver Wünsche, Ängste, Entbehrungen, Niederlagen und auch Erfolge. Dasselbe gilt für die hier ausgewählten dominikanischen Erzähler; auch sie sahen oder sehen ihre Daseinsberechtigung und ihre Berufung im verbalen Protest als einer möglichen Form der Rebellion, der zahlreiche unter ihnen durch politische Aktivität und den Kampf mit der Waffe zusätzlich Nachdruck zu verleihen suchten. Dem deutschen bzw. europäischen Leser sind die historischen und aktuellen Hintergründe und Bezugspunkte, für das Verständnis der Mehrheit der hier abgedruckten Erzählungen als Kontextwissen unverzichtbar, in der Regel nicht geläufig; ein summarischer Rückgriff auf die Geschichte der Dominikanischen Republik, konzentriert auf die Werk-Welt der Erzählungen, mag für den Leser eine hilfreiche Orientierung sein. Santo Domingo - oder Hispaniola, wie Kolumbus die von den Indios Quisqueya genannte Insel getauft hatte - war die erste europäische Besitzung in Amerika: politisch-administratives und kulturelles Zentrum des spanischen überseeischen Imperiums, mit seinen zahlreichen Kirchen, Klöstern und seiner Universität (nach dem Urteil der Zeitgenossen) das »Athen der Neuen Welt«. Doch bereits wenige Jahrzehnte nach der Gründimg setzte der Niedergang ein, nachdem sich die spanischen Aktivitäten endgültig auf Mittelund Südamerika verlagert hatten; und dieser absolute Niedergang war umso folgenschwerer, als das spanische Santo Domingo - besonders nach der Abtrennung der westlichen Inselhälfte, dem französischen Saint-Domingue und späteren 8

Haiti - in jenen Zustand der politischen Bedeutungslosigkeit, wirtschaftlichen Stagnation und kulturellen Isolation führte, den zu überwinden der unabhängigen Dominikanischen Republik bis weit in das 20. Jahrhundert nicht gelang. Von der ersten Unabhängigkeit 1844 - die endgültige Unabhängigkeit wurde nach einem freiwilligen Wiederanschluß an Spanien erst 1865 erlangt - bis zur ersten militärischen Intervention der USA 1916 erlebte das Land eine wechselvolle, überaus turbulente Geschichte: Die andauernde innenpolitische Krise, geschürt durch lokale Caudillos und diktatorial regierende Präsidenten, von denen viele ein gewaltsames Ende fanden, führte zu 69 Regierungswechseln. Die US-amerikanischen Besatzungstruppen suchten jeden Widerstand in der Bevölkerimg durch rigorose Repressionsmaßnahmen im Keim zu ersticken; sie vermochten jedoch nicht das Entstehen einer breiten Guerillabewegung, der sogenannten »gavilleros«, zu verhindern, die noch heute im kollektiven Gedächtnis der Dominikaner als Verkörperung heldenhaften Widerstands gegen die verhaßte Fremdherrschaft präsent sind. Die US-amerikanische Verwaltung schuf aber auch - durch Aufbau eines weitreichenden Verkehrsnetzes sowie die Aufstellung einer professionellen Polizeitruppe, der späteren Nationalen Streitkräfte - die Voraussetzungen für die territoriale Konsolidierung der Staatsmacht, die nur acht Jahre nach Abzug der US-Truppen angesichts des Fehlens einer politischen Kultur und einer diese tragenden Bourgeoisie (nach dem Urteil dominikanischer Historiker) folgerichtig in jene Diktatur mündete, die die Dominikanische Republik zum Machtmonopol und Privatbesitz eines Mannes machte: Rafael Leónidas Trujillo, der 1930 als Oberbefehlshaber der Nationalen Streitkräfte durch einen Putsch an die Macht kam und bis zu seinem gewaltsamen Tod 1961 dem Land eine gewisse Stabilität und Prosperität bescherte. Dies geschah jedoch ausschließlich zum eigenen Machterhalt und wirtschaftlichen Nutzen, unter Einsetzung einer obskurantistischen, beson9

ders den in der Dominikanischen Republik latent vorhandenen Anti-Haitianismus schürenden Ideologie (der 1937 etwa 20 000 in der Dominikanischen Republik ansässige Haitianer in nur wenigen Tagen durch ein von Trujillo persönlich befohlenes Massaker zum Opfer fielen) und schließlich unter massiver Verfolgung, Deportation oder Ermordung, Oppositioneller. Erste Versuche eines organisierten bewaffneten Widerstandes gab es bereits Ende der 40er Jahre; doch erst Ende der 50er Jahre geriet das Regime in eine bedrohliche Krise. Auslösendes Moment war ein Guerillavorstoß, der am 14. Juni 1959 von Kuba aus mit Unterstützung der gerade unter Fidel Castro siegreichen Rebellen aufbrach und sechs Tage später bei Estero Hondo und Maimón landete. Der Trupp wurde aufgerieben, etwa 200 der Expeditionsteilnehmer wurden brutal ermordet. Die Ereignisse stießen in weiten Kreisen der Bevölkerimg, vor allem in den Mittelschichten, auf Empörung. Sie bewirkten nicht nur weitere Aktivitäten vor allem jener Gruppe, die sich fortan »Bewegung des 14. Juni« nannte, sondern auch wachsenden Widerstand in Teilen der Kirche und, nach der Distanzierung der USA, auch unter den traditionellen Verbündeten und Nutznießern des Regimes, die schließlich das Komplott gegen den Diktator verabredeten und in die Tat umsetzten. Auf den Tod Trujillos am 30. Mai 1961 folgte eine - allerdings nur kurze - Zeit grenzenloser Euphorie. Die politische Öffnung bewirkte die Rückkehr zahlreicher Exilierter, unter anderem auch Juan Boschs, der in Kuba den Partido Revolucionario Dominicano (PRD) mitbegründet hatte und der als deren Präsidentschaftskandidat mit einem populistisch und gemäßigt sozialistischen Reformprogramm aus den seit Jahrzehnten ersten freien Wahlen am 20. Dezember 1962 mit einer überwältigenden Stimmenmehrheit als Sieger hervorging. Doch gerade sieben Monate nach dem umjubelten Triumph Juan Boschs, am 25. September 1963, wurde dieser 10

durch eine Clique ultrakonservativer Militärs und ziviler Anhänger des Trujillismo gestürzt und durch ein Triumvirat ersetzt. Und wieder erfaßte das Land eine Welle der Repression, der auch die meisten Führer der »Bewegung des 14. Juni«, die sich erneut zur Guerilla formiert hatte, noch im Dezember desselben Jahres zum Opfer fielen. Am 24. April 1965 kam es schließlich, ausgelöst durch die Revolte einiger verfassungstreuer Offiziere und Truppeneinheiten, in der Hauptstadt Santo Domingo zu einem regelrechten Volksaufstand, der breite Sektoren des Kleinbürgertums und der Unterschichten mobilisierte und der die Wiedereinsetzung der Verfassimg von 63 und Juan Boschs als verfassungsmäßigem Präsidenten zum Ziel hatte. Entschieden wurde der Aufstand nach Monaten verlustreicher Kämpfe durch das militärische Übergewicht der bereits wenige Tage nach Ausbruch des Aufstandes entsandten USTruppen, die zwecks Wahrimg US-amerikanischer Wirtschaftsinteressen und zur Eindämmung der angeblich drohenden »kommunistischen Gefahr« die Rückkehr Juan Boschs - erfolgreich - zu verhindern suchten. Das Scheitern der sog. »April-Revolution« bedeutete das Ende aller Hoffnungen auf einen Schlußstrich unter die Trujillo-Diktatur und auf einen demokratischen Neubeginn: 1966 wurde Joaquin Balaguer, der sich zu Lebzeiten Trujillos als dessen treuer Statthalter erwiesen hatte und der nach dessen Tod als ebenso treuer Erbfolger antrat, durch Wahlen ins Präsidentenamt berufen, bei denen die Oppositionsparteien durch Administration und Polizei massiv behindert und Balaguer mit seinem Partido Reformista (dem späteren Partido Reformista Social Cristiano) von den USA offen unterstützt worden waren. Bis 1978 regierte Balaguer sein Land in einer leicht gemäßigten Variante der Trujillo-Diktatur: Die Kräfte der linken sowie alle sonstigen, in führender Position an der April-Revolution Beteiligten wurden durch Deportation oder Mord 11

ausgeschaltet; andere kritische Elemente, insbesondere des Kleinbürgertums, unter ihnen auch viele Intellektuelle, gelang es über die Mechanismen der Klientelwirtschaft mit dem Regime zu versöhnen. Mit Hilfe ausländischen Kapitals, das die Dominikanische Republik zu einem der höchstverschuldeten Länder der Hemisphäre machte, wurde eine Entwicklungsstrategie finanziert, die - anders als noch zu Zeiten Trujillos - Sektoren der Mittelschichten begünstigte; dies jedoch zu Lasten der Armen, deren Zahl beständig wuchs und die infolge der starken Binnenmigration in den unaufhaltsam sich vergrößernden Elendsvierteln insbesondere der Hauptstadt ohne Hoffnung auf Arbeit oder gar staatliche Unterstützung unterhalb des Existenzminimums dahinvegetieren. Als 1978 - diesmal mit Unterstützung der Sozialistischen Internationale - der PRD, der sich seit der Abspaltung Juan Boschs 1973 sozialdemokratisch orientiert gibt, mit seinem Präsidentschaftskandidaten Antonio Guzmán die Wahlen gewann, schienen sich die Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Landes und die Wahrung der Menschenrechte doch noch zu erfüllen. Aber der PRD erwies sich, insbesondere unter dem Nachfolgepräsidenten Salvador Jorge Blanco, als unfähig, der im Gefolge der Klientelwirtschaft blühenden Mißwirtschaft und Korruption Einhalt zu gebieten und eine funktionsfähige Verwaltung zu garantieren oder gar das Versprechen tiefgreifender Reformen einzulösen. Weitere Verärgerung in der Bevölkerung, die sich zunehmend in wilden Streiks und Hungermärschen entlud, bewirkten die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die willfährige Politik der Regierung gegenüber dem Internationalen Währungsfonds. Das Ergebnis der Wahlen im Mai 1986 kam daher nicht überraschend. Gegen den zerstrittenen PRD, der gleich mit zwei Kandidaten, Jacobo Majluta und José Francisco Peña Gómez, antrat, sowie Juan Bosch und dessen mittlerweile gegründeten linksliberalen Partido de la Liberación Dominicana 12

trug erneut Joaquin Balaguer, gestützt vor allem auf die traditionell konservativ wählenden Campesinos, den Sieg davon. Vier Jahre später, bei den Wahlen im Mai 1990, schien entsprechend den Meinungsumfragen endlich für Juan Bosch, mittlerweile knapp 81 Jahre alt, die große Chance gekommen, das Duell mit dem 83 Jahre alten und nahezu erblindeten Joaquin Balaguer für sich zu entscheiden. Doch siegte wieder einmal Balaguer, wenn auch mit knappem Vorsprung und dem Verdacht ausgesetzt, das für ihn positive Ergebnis durch Wahlmanipulation herbeigeführt zu haben. Balaguer, aller Kritik gegenüber unbeirrt, wird vermutlich weiterhin - vorwiegend durch karitative Maßnahmen gegenüber der Landbevölkerung und kaum finanzierbare Monumentalbauten - daran arbeiten, nun doch noch als gütiger Landesvater und weitsichtiger Staatsmann in die Geschichte seines Landes einzugehen. Seine Landeskinder aber, ohne Hoffnung, in ihrer Heimat ihr Auskommen zu finden, sehen sich in immer größeren Scharen gezwungen, ihr Land zu verlassen, um in den USA, vorwiegend in New York, nach allerdings wenig freudvollen - Alternativen der Existenzsicherung zu suchen. Literatur, so wurde gesagt, ist nach dem Verständnis lateinamerikanischer Autoren wesentlich Dokument und Zeugnis einer konfliktreichen sozialen Wirklichkeit. Das heißt nun nicht, daß alle Repräsentanten der lateinamerikanischen Literatur unter das Konzept des kritischen Realismus zu fassen wären, und auch nicht, daß kritischer Realismus in jedem Fall als quasi-dokumentarische »Widerspiegelung« von Wirklichkeit zu begreifen wäre. Diese Präzisierung gilt auch für die Literatur der Dominikanischen Republik im allgemeinen und die dominikanische Erzählung im besonderen. Inwieweit die für diese Anthologie ausgewählten Cuentos sowohl hinsichtlich der Thematik als auch hinsichtlich der narrativen Techniken als für die dominikanische cuentistica 13

repräsentativ gelten können, mag ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung seit den 30er Jahren erhellen; einige Verweise auf spezifische Kontextbezüge mögen überdies den Zugang zu den einzelnen Erzählungen erleichtern. Die herausragende Figur unter den dominikanischen Erzählern ist Juan Bosch: ein Meister der Kurzprosa auch nach dem Urteil jener unter den jüngeren Autoren, die sich thematisch wie formal weit von ihm entfernt haben. Seinen ersten Erzählband, Camino Real, veröffentlichte er 1933 noch in der Dominikanischen Republik; alle weiteren Erzählungen erschienen seit der Exilierung im Jahre 1938 zunächst außerhalb seines Heimatlandes und wurden erst nach der Ermordung Trujillos dem dominikanischen Lesepublikum zugänglich. Die Thematik der Cuentos ist vielfältig, der geographische Rahmen bleibt überdies nicht auf die Dominikanische Republik beschränkt. Im Mittelpunkt aber steht in der Mehrzahl der Erzählungen der Campesino: die Bedrohimg durch die unbezähmbare Naturgewalt - wie in dem hier ausgewählten Text Der Fluß und sein Feind - oder der tägliche Kampf gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Hunger und Verzweiflung. Für die Autoren, die unter dem Trujillo-Regime nicht, wie Juan Bosch, ins Exil gingen, war aufgrund der rigorosen Zensur und der einem kritischen Autor drohenden Verfolgung der Spielraum ihrer literarischen Tätigkeit, sofern sie sich nicht ohnehin in die innere Emigration begaben, sehr gering. Nur wenige Erzähler sind in dieser Zeit hervorgetreten; und auch sie thematisieren vorwiegend die Welt der Campesinos, jedoch weniger im Gesamtzusammenhang aktueller politisch-sozialer Konflikte als durch Fokussierung familiär bedingter, individueller Nöte und Tragödien, die in der hier abgedruckten Erzählung Die Lüge von José Rijo durch die bedrohliche Präsenz der US-amerikanischen Besatzimg noch verschärft werden. Der Tod Trujillos eröffnete dem dominikanischen Leser 14

und Literaten nach über drei Jahrzehnten der kulturellen Isolation und Provinzialität mit einem Schlag ungeahnte Horizonte: dem Leser die nun ohne Importbeschränkung zugängliche lateinamerikanische »nueva narrativa«, Werke von Cortázar, Borges, Carpentier, García Márquez, Fuentes, Sábato oder Onetti, die neben den Werken von Joyce und Faulkner, Proust und Kafka, Sartre und Camus zum Kanon erhoben wurden; dem Literaten nach Wegfall der Zensur ein virtuell unbegrenztes Spektrum an Themen und Motiven, das neben dem gesellschaftlichen und politischen Engagement auch die bis dahin gänzlich tabuisierten Bereiche von Erotik, Sexualität und Prostitution mit einschloß. Der immense Nachholbedarf führte zu mancherlei Exzessen: zu besonderen Vorlieben für die Darstellung sexueller Brutalität und Perversion oder die kumulative Verwendung neuester narrativer Techniken, die nichts anderes verrät als den Drang nach nur vordergründig begriffener Modernität oder schlicht sklavischer Imitation. Aufgrund infrastruktureller Defizite waren - und sind der literarischen Produktion, insbesondere im Bereich der experimentellen Prosa, jedoch erhebliche Grenzen gesetzt. Angesichts des nur kleinen (potentiellen) Leser- bzw. Käuferkreises und des Mangels an öffentlichen Bibliotheken bedeutete die Herausgabe eines Buches, zumal von einem noch unbekannten Autor, für jeden Verlag ein großes Risiko, das häufig sogar von den Autoren selbst getragen werden mußte. Für die meist jüngeren Erzähler bot - und bietet - sich daher eine Chance der Veröffentlichimg nur über die literarische Beilage von Tageszeitungen oder universitäre Publikationen, schließlich auch über die jährlich ausgeschriebenen Literaturwettbewerbe, zunächst organisiert von der Gruppe La Máscara, seit 1977 vom Kulturzentrum Casa de Teatro, deren prämierte Cuentos in einem Sammelband veröffentlicht werden. Die Autoren, die seit 1961 im Bereich der fiktionalen Prosa, 15

Cuento und Roman, hervorgetreten sind, faßt die dominikanische Literaturkritik gemeinhin unter den Namen der »60er Generation« - eine treffende Bezeichnving, die sich nicht an Geburtsdaten oder Jahrgängen orientiert, sondern dem Faktum eines verbindenden Generationenerlebnisses Rechnung trägt: der Euphorie des Aufbruchs in eine (vermeintlich) hoffnungsvolle Zukunft bar jeder Restriktion im politischen wie kulturellen Leben. Den Vertretern des Cuento galt und gilt noch heute Juan Bosch als »Altmeister« der Gattung. Ihm ist in der Dominikanischen Republik gewiß auch aufgrund seiner politischen Statur und Bedeutung, der größte Publikumserfolg beschieden gewesen. Doch bei aller Reverenz gegenüber Bosch, der sich seit seiner Rückkehr aus dem (ersten) Exil 1961 vorwiegend der nicht-fiktionalen Literatur und sozio-politischen Themen zugewandt hat, sind nur wenige der jüngeren Autoren thematisch wie formal den von ihm gewiesenen Weg gegangen. Deren zentrales Thema ist zunächst die politische Gewalt: die blutigen Fehden der Caudillos Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Erzählung Stationen von Pedro Peix verknüpft mit dem Motiv des Tyrannenmords; der Terror der Trujillo-Diktatur, in Marcio Veloz Maggiolos Erzählung Gespenster gehen um als grausig-phantastisches Spektakel inszeniert; die Guerilla von 1963, in Die Mauer von Virgilio Díaz Grullón und Tod auf Tod von Iván Garría; schließlich die April-Revolution, in Heute nacht geht die Welt unter von Miguel Afonseca. Einen zweiten, nun nicht mehr historisch fixierten Schwerpunkt bildet die Stadt, aufgrund des strukturellen Wandels, den die dominikanische Gesellschaft seit den 30er und 40er Jahren erfahren hat, nunmehr das Zentrum, in dem alle sozialen Gruppen und Konflikte konvergieren: etwa die prekären Lebensbedingungen der Marginalisierten, geschildert in Ramón Franciscos Erzählung Der Mann im Haus als einzelnes, 16

allerdings repräsentatives Familienschicksal, in Das tote Kind von José Alcántara Almánzar gleichfalls als einzelnes, jedoch in den solidarischen Bezugsrahmen einer nachbarschaftlichen Schicksalsgemeinschaft eingebettetes Familiendrama; oder die Selbstverleugnung der einst kämpferisch-progressiven Sektoren des Kleinbürgertums im Streben nach sozialem Aufstieg, in Die Chance von René del Risco Bermúdez. Die Welt der Campesinos tritt allenfalls noch dort in Erscheinung, wo ihr - wie in der Erzählung Der gelbe Sturm von Armando Almánzar Rodríguez - die politische, sprich: städtische Kultur (oder Unkultur), hier in Gestalt eines um Stimmen werbenden Präsidentschaftskandidaten, ohne jede Möglichkeit der Annährung entgegentritt; oder wo sie - wie in Die Mauer von Virgilio Díaz Grullón und Tod auf Tod von Iván García - gleichermaßen verständnislos und sogar abwehrend auf eine politische Bewegimg, hier die Guerilla, reagiert, die im städtischen bzw. intellektuellen Milieu verankert ist und von der ländlichen Bevölkerung als fremder und bedrohlicher Einbruch in die eigene Welt empfunden wird. Einen weiteren Themenschwerpunkt bildet schließlich die Welt der Dominikaner in den USA: in der Erzählung Die verzehrte Kraft von Aída Cartagena Portalatin die bis zur völligen Entkräftung und Selbstaufgabe führende Existenz einer dominikanischen Akkordarbeiterin in New York, die sich bei ihrem weihnachtlichen Besuch in der Heimat als Fremde im eigenen Land erlebt; oder in Roberto Marcallé Abreus Erzählung Am Rande einer Unterhaltung in der U-Bahnstation der 168. Straße in Manhattan die von enttäuschten Hoffnungen genährte Resignation eines Angehörigen des dominikanischen Mittelstandes, dem trotz Einsicht in den Illusionscharakter des American Way of Life die Rückkehr in die Heimat aufgrund der dort herrschenden politischen Unkultur und wirtschaftlichen Stagnation nicht als Fluchtweg offensteht. Im Mittelpunkt aller ausgewählten Geschichten steht, wie 17

es der Gatttung eignet, ein bedeutsames Ereignis; als Momentaufnahme eingeblendet oder als Kulminationspunkt einer Ereigniskette sorgsam vorbereitet. Bedeutsam erscheint in der Regel auch das Ambiente, das sich in einzelnen, bisweilen nur vordergründig als Ornament skizzierten Details zu einem Gesamtzusammenhang verdichtet, der die Handlung stützt und expliziert. Weniger konturiert, und auch dies ist für den Cuento gattungsbestimmend, erscheinen die Personen der Handlung. Sie sind zumeist nicht vorrangig als Individuen, sondern als Typen gezeichnet: Vertreter einer gesellschaftlichen Gruppe oder Funktionsträger, in ihrer Bedeutung als handlungstragendes oder handlungsmotivierendes Moment jedoch zumeist mit wenigen, charakteristischen Attributen oder Handlungsweisen ausgestattet. Die vorgenannten Merkmale gelten für die Erzählungen Juan Boschs ebenso wie für die seiner Nachfolger. Doch während Bosch in der Mehrzahl seiner Erzählungen, entsprechend den Verfahren des traditionellen Realismus oder Regionalismus, den Handlungsablauf linear-chronologisch und in geordneten Bahnen von einem allwissenden Erzähler berichten läßt, haben sich zahlreiche Autoren der nachfolgenden Generation von den überkommenen, der Fragmentierung von Welterfahrung und der Diskontinuität im Bewußtsein des modernen Menschen als nicht mehr angemessen erachteten narrativen Techniken verabschiedet. Fragmentierung und Diskontinuität findet sich in zahlreichen Texten dieser Anthologie in der Behandlung von Raum und Zeit, in der Aufspaltung und Doppelving von Bewußtsein und Erzählperspektive, schließlich sogar in der typographischen Ordnung des Textes. Dies gilt jedoch keinesfalls für alle hier abgedruckten Erzählungen; und im Falle etwa von Alcántara Almánzar muß eingestanden werden, daß der ausgewählte Cuento, Das tote Kind, für sein Gesamtwerk, dem gerade aufgrund der Verwendung modernster narrativer Techniken bis hin zur dreidimensionalen Textcollage höchstes Lob gezollt 18

wird, nicht repräsentativ ist. Die Wahl gerade dieses Textes scheint dennoch gerechtfertigt, denn hier werden thematische Konstanten der »nueva narrativa« - etwa die Fragmentierung und Perspektivierung des Raumes sowie die Schaffung einer kollektiven Beobachter- und Erzählinstanz im Einklang mit der besonderen Fokussierung der Handlungsführung - mit den Techniken der traditionellen Erzählkunst und auf gänzlich unprätentiöse Weise ins Spiel gebracht. Sowenig eine einzelne Erzählung für das Gesamtwerk vieler der hier vertretenen Autoren, die ein umfangreiches Oeuvre vorzuweisen haben, repräsentativ sein kann, sowenig kann auch der Anspruch erhoben werden, alle Entwicklungslinien des dominikanischen Cuento oder gar alle Autoren, die im dominikanischen Kontext Bedeutung erlangten, berücksichtigt zu haben. So fehlen Autoren wie etwa Ramón Lacay Polanco, Hilma Contreras, Antonio Lockward Artiles, Carlos Esteban Deive, Abel Fernández Mejía, Efraim Castillo, Manuel Rueda, Diógenes Valdez (u.a.), die der bei der Auswahl der Texte notwendigen Selbstbeschränkung geopfert werden mußten. Und es fehlen Beispiele für jene Spielart des existentialistischen oder metaphysischen Cuento, die von einigen Autoren unter dem Einfluß der französischen Existenzphilosophie und lateinamerikanischer Autoren wie Borges und Cortázar gepflegt wurden - eine im Gesamtzusammenhang der dominikanischen Literatur eher marginale Erscheinung, die zugunsten der thematischen Kohärenz dieses Bandes unberücksichtigt blieb. Erzählungen aus der Karibik sind mittlerweile in mehreren Anthologien karibischer bzw. lateinamerikanischer Autoren dem deutschen Leser in Übersetzung zugänglich geworden. Doch erscheinen diese Sammelbände in zweifacher Hinsicht defizitär: Zum einen wurden in den Sammlungen lateiname19

rikanischer Autoren die Erzähler der spanischsprachigen Karibik extrem vernachlässigt, wurden in den allein der Karibik vorbehaltenen Sammlungen bekannte Autoren wie Carpentier, Lezama Lima oder García Márquez bevorzugt. Zum andern sind derartige Sammlungen naturgemäß sehr heterogen und vermögen dem Leser keine Einsicht in die gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge zu vermitteln, in die der literarische Text eingebettet ist und auf die er verweist. Den genannten Defiziten abzuhelfen, ist das Ziel dieses Sammelbandes. Indem sich die Auswahl auf eine Nationalliteratur beschränkt, eröffnet sie dem Leser für die literarische Produktion wie für die nationale Wirklichkeit einen Blick auf größere Zusammenhänge. Und indem hier Autoren aus der Dominikanischen Republik zu Wort kommen, wird beim Leser vielleicht Neugier geweckt auf eine Literatur, die von deutschen Verlagen bislang zu Unrecht vernachlässigt wurde. Der vorgelegte Band ist die erste Sammelpublikation dominikanischer Autoren in deutscher Übersetzung; in Anthologien lateinamerikanischer bzw. karibischer Autoren wurden bislang nur zwei Dominikaner, Juan Bosch und Miguel Alfonseca, mit einer Erzählimg aufgenommen. Doch es scheint, als ob diesem Mißstand abgeholfen wird. Gleichzeitig mit dieser Anthologie erscheint im dipa-Verlag in Frankfurt unter dem Titel Das Mädchen aus La Guaira. Karibische Erzählungen eine von Klaus Jetz zusammengestellte Auswahl der Erzählungen von Juan Bosch. Und für Herbst 1991 plant der Schönbach-Verlag in Hannover die Herausgabe einer deutschen Übersetzung des bislang letzten Romans von Marcio Veloz Maggiolo, Materia prima. Noch ein Wort zum vorliegenden Band: Er ist das Ergebnis einer projektbezogenen Seminarreihe, veranstaltet am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg, und Zeugnis einer gemeinschaftlichen Anstrengung, die allen Beteiligten ein Höchstmaß an Einsatz und Kritikbereitschaft abverlangte. Yasmin Bohrmann und Ulrich Winter danke ich für wertvolle 20

redaktionelle Mitarbeit, der Stiftung 600 Jahre Universität Heidelberg für finanzielle Unterstützung. Heidelberg, August 1990

Frauke Gewecke

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Juan Bosch

Der Fluß und sein Feind Meine Geschichte ereignete sich an einem Ort unterhalb von Villa Rivas, am Ufer des Yuna. Wenn der Yuna dort vorbeifließt, hat er bereits viele Kilometer zurückgelegt und die verschiedensten Landstriche fruchtbar gemacht. Von seiner Quelle in der unwegsamen Kordillere strömt der große Fluß in ruhigem und stetigem Lauf Dutzende Abhänge hinunter, bis er schließlich als eine gewaltige, aber auch friedliche Welt der Fluten den Ort erreicht, von dem ich spreche. Ich verlebte damals einige Ferientage bei meinem alten Freund Justo Félix. Am nächsten Morgen mußte ich in die Hauptstadt zurück, und so verbrachte ich den letzten Abend im Wohnraum seines Hauses, einem mächtigen Gebäude aus Holz, das auf hohen Pfählen gebaut war, damit der Fluß nicht in die Räume dringen konnte, wenn er über die Ufer trat. An jenem Abend saßen wir zusammen: mein Gastgeber, der es sich in einem Schaukelstuhl bequem gemacht hatte; seine Frau, die sehr schlank und weißhaarig war und still über einer Näharbeit saß; Justos jüngste Tochter, ein sehr hübsches junges Mädchen mit rosiger Gesichtsfarbe und üppigem, kastanienbraunem Haar; zwei Enkelkinder Justos, Balbino Coronado und ich. Die Lampe verbreitete nur schwaches Licht, und die Ecken des Raumes blieben im Halbdunkel. Balbino hatte sich auf einen einfachen Stuhl gesetzt. Ich war vom Eßzimmer her eingetreten und konnte Balbino nicht übersehen, weil er direkt vor mir saß. Ich war ihm noch nie begegnet, und als ich ihn an jenem Abend sah, spürte ich sofort, daß ich einen schwierigen Menschen vor mir hatte. Er blickte nicht auf.

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Wortkarg und sehr steif saß er auf seinem Stuhl und rührte sich nur, um in hohem Bogen auf den Boden zu spucken, was er sehr häufig tat. Bisweilen blitzte es für einen Moment in seinen Augen, und sie strahlten, nämlich dann, wenn er die Tochter meines Gastgebers ansah, die das zu stören schien und die nicht aufzublicken wagte. Ich hielt sie für ein Paar, das sich gestritten hatte oder bei dem sich ein Streit anbahnte. Justo begann, von interessanten Dingen zu reden und zu erzählen, wie er gelernt hatte, die in den Wäldern und an den Hängen der nahen Kordillere lebenden Wildschweine mit dem Buschmesser zu jagen, und bei dem Zauber seiner Worte meinte man, das Geschehen selbst vor Augen zu haben und die geheimnisvolle, unergründliche Macht der Wildnis zu spüren, die sich an beiden Ufern des Yuna erstreckt. Er erzählte von einer Jagd, an der er im Vorjahr teilgenommen hatte, und seine Erzählgabe, die nüchternen und treffenden Beschreibungen, füllten seinen Bericht mit Spannung. Ich folgte seiner Geschichte, ohne mich zu rühren, als ich sah, wie Balbino plötzlich aufstand, Gute Nacht wünschte und zur Tür ging. Justo verstummte, sah ihm nach, blickte dann zu seiner Frau und seiner Tochter, und während er das Gesicht verzog, so als wollte er sagen: »Was ist los?« oder auch: »Der ist weg!«, schwieg er und wirkte besorgt. »Ein eigenartiger Mensch«, bemerkte ich, um die Atmosphäre aufzulockern. Justo nickte langsam. »Ziemlich«, war seine ganze Antwort. Die Frau meines Freundes fragte etwas, das die Verwaltung des Hofes betraf, und vertiefte sich mit ihrem Mann in ein Gespräch über häusliche Probleme. Das Mädchen hob den Kopf, sah mich an und lächelte. Ich fand sie sehr anziehend. Sie hatte einen klaren Blick und wirkte gesund und lebhaft. Bis dahin hatte ich das noch nicht bemerkt. Da ich glaubte, daß zwischen ihr und Balbino irgendetwas war, fand ich es normal, daß er, wenn sie sich gestritten hatten, mit einem so unfreundlichen Gesicht gegangen war, denn das 24

Mädchen war einen Streit wohl wert. Ich sagte etwas zu ihr, wir fingen an zu reden, und schon rückte Balbino in den Hintergrund. Leider dauerte das nur kurze Zeit. Die Enkel meines Freundes gingen bald ins Bett, und wenig später gab Justos Frau ihrer Tochter ein Zeichen, diese bat um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, wünschte Gute Nacht, und Mutter und Tochter gingen auf ihre Zimmer. Mein Gastgeber und ich blieben allein zurück. Die eindrucksvolle Stille jener Stunde erfüllte mich mit tiefem Wohlbehagen. Man hörte das leise Rauschen des Waldes und des Flusses, der Nachtwind strich durch die nahegelegenen Bäume. Vom Wohnzimmer aus sah man, wie die Glühwürmchen herumschwirrten und die Finsternis erhellten, und ein Grillenchor erweckte den Eindruck, als würde Musik von seltenem Zauber über der Erde emporsteigen. Dies war meine letzte Nacht an diesem Ort, und ich wollte sie genießen. Ich verspürte den Wunsch, über Balbino Coronado zu sprechen, etwas über sein Leben zu erfahren, denn dieser Mann interessierte mich wirklich. Ich verspürte aber auch so etwas wie geistige Trägheit, die mich daran hinderte zu sprechen. Ich stand auf und ging zur Tür. »Heute nacht geht der Mond früh auf«, sagte mein Gastgeber hinter mir. »Ich würde gern sehen, wie er sich im Fluß spiegelt«, sagte ich. Da lud mich Justo ein, ihm zu folgen. Wir stiegen die Stufen hinab und gingen einen schmalen Weg entlang, bis wir auf das Geröll am Flußbett stießen. Eine gewaltige Masse an Bäumen verbarg das Wasser, und es roch hier scharf und süßlich zugleich. Wir sprachen kein Wort. Bisweilen zeigte Justo auf einen Stein oder einen Ast, an dem ich mich verletzen konnte, aber ich hörte kaum zu. Ich wollte nichts anderes, als diese Nacht genießen. Hier spürte man die Kraft der Erde. Heiter und lieblich sang der Fluß, einige Insekten zirpten, und die unzähligen Blätter der Bäume rauschten leise. Plötzlich erschien zwischen den dichten Zweigen ein blasses grünes Licht, zart und wie

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verzaubert, und wir sahen, wie die Wellen des Flusses Gestalt annahmen, hin und her schlugen, sich wie etwas Lebendiges bewegten. Der ganze Ort erschien plötzlich wie eine unwirkliche Welt. Das Spiel von Licht und Schatten erweckte die Bäume und das Geröll zum Leben, und ein kaum wahrnehmbarer, doch harmonischer Reigen schien anzuheben, so als hätten Wasser, Bäume und Steine zum Klang des Windes sanft zu tanzen begonnen. Dieses ruhige und wunderbare Bild nahm mich so gefangen, daß ich dastand, ohne mich zu rühren, bis Justo sagte, daß das Mondlicht verschwinden würde. Düstere Wolken, die über den Himmel zogen, verdeckten ihn nach und nach. Mein Freund und ich verließen den Platz. Ich war so aufgewühlt, daß ich darüber reden mußte. Ich sprach von der Landschaft, von der Majestät des Yuna, von dem Glück, dort leben zu dürfen. Justo hörte mir schweigend zu, so als habe er noch nie jemanden so reden hören. Wir gingen sehr langsam. Ab und zu drang ein Lichtstrahl durch die Wolkenmassen und erhellte den Ort. Mein Freund nahm mich am Arm und begann zu sprechen. »Den Menschen«, sagte er, »kann man nicht verstehen. Es stimmt doch wirklich, wenn man sagt, daß jeder Kopf eine Welt für sich ist!« Ich wartete darauf, daß er weitersprechen würde, denn diese Worte schienen keinen Zusammenhang mit dem zu haben, was ich gerade gesagt hatte. Er mußte meinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkt haben. »Ja, mein Freund, ich weiß, wovon ich rede«, fuhr er fort. »Hier ist ein Beispiel: Haben Sie Balbino Coronado gesehen, den jungen Mann, der vor einer Stunde bei uns war? Wissen Sie, warum er so ein merkwürdiges Gesicht machte?« »Ich nehme an«, erwiderte ich, »er ist in Ihre Tochter verliebt, und es ärgerte ihn, daß sie ihn nicht beachtete.« Mein Freund lächelte überlegen. »Nein, das ist es nicht. Er war deshalb so, weil er es fühlt, wenn das Hochwasser des Yuna kommt.« 26

»Er fühlt es?« »Oder er ahnt es, wenn Sie diesen Ausdruck angemessener finden.« Ich konnte nicht umhin, Justo verblüfft anzusehen. Er schien meinem Blick keine Bedeutung beizumessen. »Sie haben«, sagte er, »gerade davon gesprochen, was für einen tiefen Eindruck der Fluß auf Sie gemacht hat, nicht wahr? Ich dagegen kenne jemanden, Balbino Coronado, der gegen den Yuna tödlichen Haß empfindet, einen Haß, den man gewöhnlich nur einem Menschen entgegenbringt, der einem sehr geschadet hat.« Die Worte meines Freundes machten mich neugierig. »Erklären Sie mir das doch genauer!« bat ich. In der Mitte des Hofes lag ein Baumstamm. Das Licht, das manchmal durch die Wolkendecke brach, verlieh der Erde, den Häusern und Steinen eine gräuliche Farbe. Alles schien hier bewegungslos. Das langsame Wogen der Baummasse am Flußufer vermittelte den Eindruck, als würde der Hof ganz allmählich einen gespenstischen Abhang hinuntergleiten. Über der schwarzen Masse der Bäume wölbte sich der bleierne Himmel, und ich fühlte, daß hier nur die Pflanzenwelt an ihrem Platz war. In dem schweigenden Herzen dieser Nacht war der Mensch überflüssig. Vielleicht weil wir von diesem Gefühl geleitet wurden, hatten mein Freund und ich sehr leise gesprochen, so als fürchteten wir, hier als Eindringlinge zu gelten. »Wollen wir uns auf diesen Baumstamm setzen?« fragte Justo. Ich nickte. Mein Freund setzte sich neben mich, zündete eine Zigarette an und begann zu sprechen. Seine Worte klangen gedämpft. Er erklärte mir, daß dem Yuna zweimal oder doch wenigstens einmal im Jahr am Oberlauf Wasser zuströmt und er zu steigen beginnt. Immer schneller, immer breiter fließt er dann von der Kordillere hinab, bis er schließlich als gewaltige Wassermasse hinunterstürzt. Dann führt der Fluß, wenn er die Ebenen erreicht, so viel Wasser mit sich, daß er über die Ufer tritt. Die Bewohner der Region 27

können dann nur zusehen, wie der Yuna sich nach und nach der ganzen Fläche bemächtigt, in die Äcker eindringt, die Savannen und die tiefer gelegenen Landstriche überschwemmt. Bisweilen bricht das Hochwasser mit ungeheurer Gewalt ein, dann hört man den Fluß Tag und Nacht toben und sieht, wie die Wassermassen schwarz und wütend herabbrausen und die höchsten Dämme erstürmen und in reißendem Strom die Anhöhen erreichen, wo die Leute ihre Hütten bauen. Wenn das geschieht, entwurzelt das Hochwasser Bäume, reißt Häuser und Vieh mit sich und schwemmt ganze Landstücke davon, weil das Wasser den Boden unterhöhlt und zerstört. Die Familien, die am Ufer wohnen, flüchten sich auf die Anhöhen und nehmen ihre Schweine, Hühner und Kühe mit. Von seinem Haus aus hatte Justo bei einer dieser Überschwemmungen gesehen, wie das Land kilometerweit Vinter Wasser stand, und einmal hatte seine Familie tagelang das Haus nicht verlassen können, weü der Fluß sogar bis dorthin vorgedrungen war und unaufhörlich gegen die Holzpfähle schlug, die das Haus trugen. »Ich kenne den Yuna, als wäre er ein Mensch«, versicherte mein Freund, »und ich liebe ihn sehr, weil ich weiß, daß diese Überschwemmungen das ganze Gebiet fruchtbar machen. Balbino Coronado dagegen haßt ihn bis auf den Tod.« Mein Freund verstummte. Ich stellte mir noch einen Moment lang vor, wie dieser Ort wohl aussah, wenn er vom Wasser überflutet war. »Und warum haßt er ihn?« fragte ich schließlich. »Sehen Sie, bis vor drei Jahren besaß Balbino Coronado hier ein Stück Land, recht wenig natürlich, nur knapp einen Hektar, aber er nutzte es wie niemand sonst, holte alles heraus, was so ein kleines Stück Land hergibt. Es hatte ihn wohl viel Arbeit gekostet, diesen kleinen Besitz zu erwerben. Das Land lag am Flußufer, nicht weit von hier, hinter uns auf der anderen Seite des Berges. Vor zwei Jahren um diese Zeit kam das Hochwasser und verschlang sein Land in einer Nacht. 28

Am nächsten Morgen war das Stück Land von Balbino Coronado Flußbett geworden, und der Fluß fließt heute noch dort entlang. Der Junge wurde beinahe wahnsinnig, und meiner Meinung nach ist er seitdem nicht ganz richtig im Kopf.« Die Geschichte war merkwürdig. Ich wollte mehr wissen, ur.d mein Freund erzählte mir, daß er Balbino häufig dort angetroffen hatte, wo sein Land gewesen war. Und da hatte er mit weit aufgerissenen Augen auf den majestätischen und gleichmütigen Fluß gestarrt. »Vorhin«, so erklärte er mir, »als ich Sie wie berauscht am Ufer des Yuna sah, dachte ich an Balbino, für den der Fluß nichts Schönes an sich hat. Deshalb sagte ich Ihnen, daß jeder Kopf eine Welt für sich ist.« »Wie merkwürdig«, erwiderte ich nur. Mein Freund zog ein paar Mal an seiner Zigarette, sah zum Himmel hinauf ur.d sagte etwas von möglichem Regen. Dann stand er auf. »Gehen wir schlafen«, sagte er. »Morgen reisen Sie ab, und wir müssen früh aufstehen, tun alles für die Fahrt zu richten.« Ich folgte ihm zum Haus, und noch von der Tür aus betrechtete ich einen Moment lang die schlafende Landschaft. Riasige dunkle Wolken flogen über den Himmel, und hoch oben sah man undeutlich den Mond. Vor dem Einschlafen dachte ich noch eine Weile an Balbino Coronado. Seine Geschichte war wirklich merkwürdig. Ich bedauerte, ihn nicht früher kennengelernt zu haben. Ich hätte versucht, ihm näherzukommen, ihn zu ergründen; aber ich dachte nicht lange darüber nach, da ich bald einschlief. Sehr früh hörte ich Stimmen vor meinem Zimmer. In aller E£e stand ich auf, weil ich dachte, daß es vielleicht schon spät se:, und als ich die Tür öffnete, sah ich Balbino, der unverständliche Worte von sich gab und dabei wild gestikulierte. Jujto stand vor ihm und sah ihn eindringlich an. »Beruhige dich, Balbino!« sagte er. Ich ging zu ihnen. Balbho hatte Justo an den Schultern gepackt, seine Augen wa29

ren weit aufgerissen, sie glänzten und verrieten seine Erregung. In seinem Gesicht spiegelte sich Angriffslust, und allem Anschein nach erfüllte ihn eine tiefe Qual. »Er kommt wieder! Ich sage Ihnen, er kommt wieder!« versicherte er mehrmals. Offensichtlich war er verzweifelt, doch ich wußte nicht, weshalb. Sein Aussehen glich ganz dem eines Verrückten. Mein Freund faßte ihn an den Hüften und führte ihn weg. Sie wollten gerade das Eßzimmer verlassen, als Justos Tochter erschien. Sofort blieb Balbino stehen und senkte den Kopf. Sie rügte ihn mit liebevoller Stimme: »Was soll denn das? Willst Du etwa nicht auf mich hören?« Balbino rührte sich nicht. Ich war verwirrt und hätte schwören können, daß er rot geworden war. »Geh in die Küche«, befahl die Tochter meines Freundes sanft, »und laß dir Frühstück geben.« Still und fast beschämt ging Balbino mit gesenktem Kopf davon. Das Mädchen sah ihm nach, wandte sich dann zum Vater und machte eine Geste des Bedauerns. »Wenn Balbino so ist, hört er nur auf sie«, versuchte Justo mir zu erklären. »So? Was soll das heißen?« »Es ist das Hochwasser. Er glaubt, daß der Yuna heute steigt.« »Heute? Das scheint mir aber nicht so.« Justo lächelte. »Sie werden nicht fahren, mein Freund. Balbino hat sich in dieser Frage noch nie geirrt.« »Und was hat meine Abreise mit dem Yuna zu hm?« »Habe ich Ihnen das gestern abend denn nicht erklärt? Wie wollen Sie diesen Fluß überqueren, wenn er ausbricht?« Wir begannen mit dem Frühstück und setzten unsere Unterhaltung fort. Die Enkel meines Freundes redeten unentwegt und erzählten Geschichten von den Überschwemmungen. Bald darauf begann es zu regnen, und es war mir unmöglich, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Durch das Fenster sah ich, daß der Hof unter Wasser stand. Das Singen des Regens machte Justos Tochter schläfrig. »Dieser 30

Regen macht den armen Balbino noch ganz verrückt«, versicherte sie. Mißmutig, weil meine Pläne gescheitert waren, ging ich auf mein Zimmer und blieb bis zum Mittag im Bett. Zu dieser Stunde schien der Regen nachgelassen zu haben. Unter dem Haus knurrten die Hunde und gackerten die Hühner. Windstöße fuhren durch die nahen Bäume. Alle im Haus wirkten schlecht gelaunt, und nur der kleinere von Justos Enkeln schien sich über die bevorstehende Überschwemmung zu freuen. Die Arbeiter, die von Zeit zu Zeit hereinkamen, sprachen kein Wort, und alles war von Sorge überschattet. Am späten Nachmittag hatte der Regen vollständig aufgehört. Ich stand auf der Veranda und sah einigen Enten zu, die sich in den Pfützen vergnügten, als Balbino hereinstürzte und an mir vorbeilief, ohne mich zu bemerken. Das Haar hing ihm in die Stirn, er war noch aufgeregter als am Morgen, und seine Augen funkelten noch stärker. Er packte Justo am Arm und sagte: »Hören Sie nicht, wie er heranbraust, dieser Teufel?« Justo sah ihn ernst an. »Nim hör schon auf damit!« befahl er knapp. »Ich höre nichts. Das bildest du dir nur ein. Außerdem ist Lucia da und wird mit dir schimpfen.« Balbino war offensichtlich beeindruckt. Er wandte sich zum Ausgang, kam aber plötzlich noch einmal zurück. »Ich bring ihn um! Wenn er steigt, bring ich ihn um! Ich schwöre bei meiner Mutter, daß ich ihn umbringen werde!« Im Wohnraum hörte man Lucias Stimme, und wie besessen stürzte Balbino zur Treppe, sprang die Stufen hinab und verschwand im Hof. Ich dachte, er würde gleich wahnsinnig werden. Schnell brach die Nacht herein. Die ersten Stunden verbrachten wir im Wohnraum und unterhielten uns über Verschiedenes. Als die Familie schlafen ging, wollte ich mir von der Veranda aus das düstere Naturschauspiel ansehen. Ein bleierner Himmel, wie rauchverhangen und nur schwach er31

hellt durch den Mond, den schwere Wolken verhüllten, lastete drückend auf der Ebene, soweit das Auge reichte. Im Hof glänzte hier und da das zur Ruhe gekommene Wasser. »Wollen wir hinuntergehen und sehen, was der Fluß macht?« fragte Justo. Eigentlich lag mir nicht viel daran, ich ließ mich aber überreden mitzugehen. Wir nahmen eine andere Abkürzung als am Abend zuvor. Eine ganze Weile gingen wir an den dichten, mächtigen Bäumen entlang, und auf einmal lag hinter einer Flußbiegung überraschend der weite Horizont vor uns. Es gab hier keinerlei Vegetation; wir befanden uns an einer Art breitem Geröllstrand. Dort machte der Fluß eine scharfe Biegung nach Osten, und von unserem Standort aus konnten wir am anderen Ufer eine kahle Ebene überblicken, die sich bis dorthin zu erstrecken schien, wo die ersten Ausläufer der Kordillere beginnen mußten. Vom Yuna erhob sich ein dumpfes Rauschen, drückend wie eine Drohimg. Offensichtlich war der Fluß an dieser Stelle ruhig. Dort, wo wir standen, war der Strand abschüssig, und zwei Meter weiter unten schlug das Wasser leise rauschend an das Ufer. Das diffuse Licht dieser Nacht lag über der Landschaft. Die Bäume, die man rechts und links erkennen konnte, wirkten düster, unbeweglich, und verbreiteten einen schwachen Glanz. Justo war schweigsam und ernst, er schien die weite Wasserfläche, die zu unseren Füßen rauschte, aufmerksam zu betrachten. Plötzlich ergriff er meinen Arm und zeigte auf die Biegung, hinter der der Fluß auftauchte. »Sehen Sie nur!« rief er. Ich versuchte, etwas zu sehen, konnte aber nicht erkennen, was meinen Freund beunruhigte. »Sehen Sie doch, dort kommt er, dieser Teufel!« Seine vor Aufregimg oder Angst zitternde Hand deutete nachdrücklich ins Dunkel, während die andere sich in meinen Arm krallte. Jetzt sah ich genauer hin. Mit einem Mal glaubte ich, ein anschwellendes Rauschen zu hören, das in 32

Sekundenschnelle stärker wurde. Alle meine Sinne waren angespannt. Plötzlich sah ich eine riesige Woge trüben Wassers, de auf dem Fluß heranrollte und sich brausend in die so ruhig scheinende Wasserfläche stürzte. Ich sah, wie sie vorwärtsstürzte, abfiel und sich von neuem aufbäumte, ich sah sie brodeln und rötlichen Schaum verspritzen, ich sah, wie sie voller Wut an den Ufern des Yuna riß, wie sie sich schüttelte, drehte und schäumte wie ein vom Wahnsinn besessener Mensch. Baumstämme und Tiere trieben auf dem Kamm einer Welle vorbei, und nach dieser kam eine andere und danach wieder eine und gleich darauf noch eine. Jetzt war das Wasser nur noch einen Meter von uns entfernt. Das lebendige Naß begann, sich über die Ebene, die vor uns lag, zu ergießen, ur.d in wenigen Minuten war die ganze Flußbiegung, an deren Ufern schwankendes Schilfrohr wuchs, zum Flußbett geworden, und das Schilf verschwand immer schneller unter dem unaufhaltsamen Vormarsch des Wassers. Ich muß zugeben, ich war erschrocken. Ich sah das Wasser aus der Flußbiegimg brechen, und ich sah, wie es vom Land Besitz ergriff. Ich dachte an die Nacht davor, die so lieblich, so voller Zauber gewesen war, und ich dachte an die Bauern, denen die Überschwemmimg Schweine und Rinder rauben würde und die sie aus ihren Häuser vertreiben würde. Wortlos beobachtete Justo das Geschehen, genauso angespannt wie ich. Ich weiß nicht, wielange wir dort standen. Mein Freund hatte wohl genug gesehen, denn er bat mich zu gehen. Ich hätte diese trübe Landschaft, die denen der ersten Schöpfung^tage ähnlich sein mußte, gern noch länger betrachtet. Das schwache Mondlicht über der versunkenen Ebene, das dumpfe Brausen des Flusses, der unablässig an den Steilhang schlvg, und der traurige Anblick der Pflanzenwelt vermittelten cas Gefühl, die ganze Natur sei in Angst versetzt; geradeso hatte ich in der Nacht zuvor gemeint, daß selbst die Steine Frieden ausstrahlten. 33

Wir verließen den Platz, noch immer das drohende Rauschen des Flusses im Ohr. Justo sprach auf dem Weg davon, was die Leute der Umgebung erwartete, und wir gingen um die Pfützen herum auf das Haus zu, als plötzlich aus dem Dunkel eine menschliche Gestalt auftauchte, die bei unserem Anblick verwirrt schien. Doch ihre Verwirrung dauerte nur Sekunden. Ganz plötzlich stürzte der Unbekannte davon, und die Hunde setzten ihm mit wütendem Gebell nach. Einen Moment lang wußten wir nicht, was wir tun sollten. Plötzlich drehte Justo sich um, packte mich am Hemdärmel und rief: »Laiifen Sie!« Dann rannte er wie gejagt hinter dem fliehenden Schatten her. Ich war völlig durcheinander und begriff nicht, was eigentlich geschah. »Laufen Sie!« schrie Justo noch einmal. Was fühlte ich? Es war weder Mut noch der Wunsch zu kämpfen, das ist mir klar, und ich will weder mir noch sonst jemandem etwas vormachen. Vielmehr schämte ich mich darüber, daß meinem Freund etwas zustoßen könnte, während ich dastand, und vielleicht hatte ich Angst, an diesem Ort und in dieser gespenstischen Nacht alleingelassen zu werden. Ich lief ebenfalls, lief wie einer, der vor einer drohenden Gefahr flieht. Ich sah Justo in der Dunkelkeit der großen Baummasse verschwinden und folgte ihm, ohne zu wissen, warum. Ich spürte den Wind in den Ohren, und das ausdauernde Geheul der Hunde quälte und ängstigte mich. Der Schatten, den wir verfolgten, durchquerte einen schmalen Lichtstreifen, der auf einen freien Raum zwischen den Bäumen fiel. Mir fuhr blitzartig der Gedanke durch den Kopf, daß der Unbekannte sich zwischen den Bäumen versteckt halten und auf Justo warten könnte, um ihn aus dem Hinterhalt anzugreifen. »Justo! Justo!« schrie ich in der Absicht, ihn zu warnen. Aber er hörte mich nicht. Ich rechnete mir aus, daß wir nahe am Fluß sein mußten, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Man konnte das Rauschen des Wassers bereits hören, dieses 34

dumpfe Raunen, das die Wellen aufsteigen ließen, und plötzlich sah ich den Yuna durch die Baumstämme hindurch, und ich sah, wie sich die schemenhafte Gestalt in die Ruten stürzte, in der rechten Hand eine Waffe, die in dem trüben Licht unheilvoll aufblitzte. »Justo! Justo!« schrie ich noch einmal. Aber er konnte mich schon nicht mehr hören. Meine Stimme versagte, ich rang nach Luft, und das Herz drohte mir zu zerspringen. Die verdammten Hunde näherten sich dem Wasser und kläfften noch wütender. Von den nahegelegenen Höfen gaben andere Hunde das Gebell zurück. Als ich das Ufer fast erreicht hatte, hörte ich Justos wütende Schreie. Und als ich schließlich, ganz kalt von der Anstrengung, erschöpft und dem Umfallen nahe, zu der kleinen Lichtung gelangte, wo ich Justo vermutete, sah ich mitten im Wasser einen Menschen, der mit den Wellen kämpfte und mit einem Buschmesser auf die Wasseroberfläche einstach. Weis man von seinem Gesicht erkennen konnte - das Funkeln in den Augen und der scharfe Zug um den Mund - vermittelte den Eindruck, daß er von einer Wut besessen war, die kein normaler Mensch empfinden konnte. Seine Stimme übertönte das Toben des Wassers. »Du verdammter Fluß, du!« schrie er. Vom Ufer aus rief ich laut schreiend nach Justo. Eine weitere große Woge näherte sich tosend dem Mann, der sich mitten im Yuna wand und wild um sich schlug. Ich sah, wie das Wasser auf ihn zukam, es kochte, schäumte, rollte sich ein und verschlang sich selbst. Die bräunliche Masse schlug von einem Ufer zum anderen, und die Steine am Ufer hüpften wie Blätter, und der Lehm wurde von der blindwütenden Kraft mitgerissen. Ich sah, wie das Wasser näher kam, und ich sah den Ausdruck von Wut, der zum letzten Mal die Gesichtszüge des Mannes verzerrte. Noch einmal erhob er das Buschmesser, dann schob sich ein Stamm, der von der Strömung vorbeigetragen wurde, zwischen ihn und meinen 35

Blick. Justo Félix, der jetzt neben mir stand, schrie, und sein Schrei hallte von einem Ufer zum anderen. »Balbiiinoooo! Komm raus, Balbiiinoooo!« Aber Balbino kam nicht. Fünf Tage später, als das Hochwasser zurückging, sah man, daß der Ruß seinen Lauf geändert hatte, und der Hektar Land von Balbino Coronado lag nun außerhalb des Flusses, bereit, als gutes Ackerland bebaut zu werden. Jedoch dürfte es, soweit ich gehört habe, keine Früchte tragen, denn Balbino Coronado hatte keine Erben. Deutsch von Petra Albütz und Beatrice von Wuthenau

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Pedro Peix

Stationen Mit offenem Verdeck fuhr die schwarze Kutsche des Präsidenten über das vertrocknete Laub des Weges zurück in die Stadt. Hinter ihr lag das Landhaus von Oro León, letztes Ziel der sonntäglichen Ausflüge des Präsidenten, denn dort wurden dir Anis und Zigarren gereicht, »niemand wird dir deine Jahre im Amt vorwerfen können«, wie du diese zwei zum Ritual gewordenen Stunden im Pavillon des Parks immer genossen hast, »dir bleiben nur noch Monate, um ehrenvoll aus dem Amt zu scheiden«, Stunden, in die sich lange Momente des Schweigens fügten, welches allein durch die Käfige der Kanarienvögel und das Hinundher der Schaukelstühle gemindert wurde, »du kannst stolz sein, Pepe, du hast dem Land den inneren Frieden gebracht und gute Verwaltungsarbeit geleistet«, warm und fest fühltest du die Umarmung und den aufrichtigen Nachhall des Abschieds, »du dachtest gar nicht daran, Präsident zu werden, und warst schon damals der beste Schütze von Montelirio«, währenddessen sahst du, wie er das Portal schloß und deiner Kutsche nachblickte, die jetzt langsam und gemächlich durch ein enges Spalier von Flamboyant-Bäumen rollt, gezogen von einer weißen Stute, die dein treuer Kutscher Tapia Luzbel nicht anzutreiben braucht, denn die Sonntage sind Tage von heiterer Eintönigkeit, von immer gleichen Antworten, die dein Adjutant mit lakonischer Spontaneität entwickelt, »ja, General, Sie haben recht, Ihr Freund Oro León ist wirklich ein feiner Mensch«, oder aber etwas später in einer vertraulichen Wendung, »es stimmt, General, diese Flamboyant-Bäume spenden wirklich wunderschönen Schatten«, im Gegensatz zum Kutscher, ei37

nem großen Neger mit einer Melone auf dem Kopf, der in einer blauen Uniform mit vergoldeten Knöpfen steckt, »was würdest du tun, Tapia, wenn man versuchte, mich umzubringen?«, mit rauher, gelassener Stimme, »lebendig oder tot, Don Pepe, ich werde immer an Ihrer Seite sein«, zehn Jahre zuvor war er ein einfacher Arbeiter auf deiner Hazienda, fleißig und ehrlich, das wußtest du, selbst während der Überschwemmungen im September ging nichts von der Ernte verloren, verschwand oder ertrank kein einziges Tier, das unter seiner Obhut stand, kühn und verwegen war er, das hatte er dir bewiesen, lange bevor du Präsident wurdest, als er mit einer Machete gegen ein paar Deserteure kämpfte, die in deiner Abwesenheit versuchten, deine Frau, Doña Remigia, zu vergewaltigen, die während der Siesta in der Hängematte auf der Veranda schlief, deine Frau, damals jung und unschuldig, von zehn gierigen Händen gepackt, die sich auf ihre nackten, von der Brise leicht entblößten Schenkel stürzten, sicher wird sie jetzt das Abendessen richten lassen und die Hähne der Badewanne öffnen für den Moment, da du zurück bist, pünktlich und zufrieden wie jeden Sonntag, du hast dich schon gewöhnt an die angenehme Schläfrigkeit der abendlichen Spazierfahrt, schon gewöhnt an die Hochrufe und Grüße der Menschen, wenn du die Stadt verläßt und wieder zurückkehrst, schon gewöhnt an den rotglühenden Saum der Abenddämmerung, die sich kaum merklich zwischen den Zweigen der Flamboyant-Bäume davonmacht, schon gewöhnt an die schaukelnde Positur des Adjutanten, der auf der Rückfahrt vor sich hin gähnt und dessen Kopf schließlich heruntersackt auf die Schulter von Tapia Luzbel, und beide dämmern vor sich hin auf dem Bock der Kutsche, die, wie du plötzlich merktest, den üblichen Rhythmus verlor, »was gibt's, Oberst Nazareno?«, der aufwachte und sich die Augen rieb, »nichts, Herr Präsident, da scheint ein Wagen mitten auf der Straße zu stehen«, du strecktest den Kopf heraus und sahst ihn, den roten, anscheinend verlassenen Wa38

gen quer auf der Straße, als du im selben Moment hörtest, wie dein Kutscher schrie, »he, schafft den Wagen weg!«, annähernd eine Sekunde bevor du sahst, wie eine Gruppe von Männern zwischen den Bäumen eines nahen Anwesens hervorkam, die ihre Revolver auf dich richteten und nervös schrien, »halt stopp! halt stopp!«, und auf die Kutsche zukamen und losschossen, während der Adjutant seine Waffe zog, aufrecht auf dem Kutschbock, wo Tapia Luzbel schon dabei war, mit der Peitsche die weiße Stute anzutreiben, die durchging, wobei die Kutsche hin und her schleuderte und glücklicherweise, nur um wenige Zentimeter, dem Wagen, der sie behinderte, ausweichen konnte, »haben Sie sie gesehen, General, haben Sie sie gesehen, ich schwöre es, ich kenne sie, alle, General, alle!«, und dann ohne Schaden an den Rädern auf den Weg zurückkehrte, alle unversehrt, den Blick zurück, um nur noch die rötliche Silhouette jenes verlassenen Wagens zu sehen, der sich plötzlich mit Menschen füllte, die es eilig hatten, und mit offenen Türen in die der deinen entgegengesetzte Richtung losfuhr und sich mit höchster Geschwindigkeit aus dem Staub einer Falle davonmachte, die du schon hinter dir gelassen hattest. Dann zerfiel der Abend allmählich zu Schatten, und die Luft füllte sich mit dem Duft der am Wegrand gepflanzten Orangenbäume, und mein Zorn wurde immer größer dort auf dem Kutschbock, den zu verlassen ich beschlossen hatte, um Sie zu schützen, General, ich saß neben Ihnen und beschrieb Ihnen einen nach dem andern, das Gesicht und den Lebenslauf der Angreifer, ich werde schon erfahren, in welchem Haus sie wohnen, welcher Name sie identifiziert, welcher Spitzname ihre Identität bestätigt, durch welche Bande sie hier in nachbarschaftlicher Gemeinschaft geeint sind, ein Landgut folgte auf das andere, und er dachte an die Meinungsverschiedenheiten der Vergangenheit, die schlecht überspielte Rachsucht, die Feindseligkeiten, die sich durch Nichterscheinen und Gefühlskälte anläßlich einer Gedenk39

feier oder eines einfachen Staatsaktes manifestierten, Verbitterung lind Zweifel, die du vermutet hattest, von denen du aber glaubtest, sie wären vergessen, als du Präsident wurdest, und vielleicht schon viel früher, denn sie waren schließlich deine Freunde, deine engsten Vertrauten, sogar Ihre Kameraden, General, die fast alle den angesehensten und vermögendsten Familien der Hauptstadt entstammen, außer einem, mein Präsident, außer einem, dessen Augen erfüllt waren von Haß, ja, genau der, dem es fast gelang, auf die Kutsche zu springen, hast du nicht gemerkt, Tapia, wie der immer noch schoß, während die anderen schon wegliefen?, das hätten Sie sehen sollen, General, wie der nicht nachließ, der war fest entschlossen, Sie zu töten, er hörte nicht einmal auf die anderen, als die riefen, er sollte sich verstecken, es würde sich schon noch eine andere Gelegenheit bieten, er schoß weiter, bis ihm die Kugeln ausgingen, und aus lauter Wut warf er den Revolver auf den Boden, natürlich hatte er ihn gesehen, selbstverständlich kannte er ihn, schon seit zwölf Jahren, damals bei der Hinrichtung von Lilis Cienfuegos, einem der vielen Tyrannen, die nach eigenem Gutdünken die Insel regierten, hatte er geschworen, den Mord zu rächen, den du mit eigenen Händen an seinem Bruder begingst, ein armer Teufel etwa?, ein gewöhnlicher Delinquent?, ein politischer Feind?, dein gefährlichster Widersacher, Pepe Góngora, dein erbittertster Gegner im Kampf um die Macht, erinnert sich Euer Exzellenz Generell Don José Góngora y Carrasco noch daran?, es könnte auch ein Mißverständnis sein, im ganzen Land herrschte Krieg, die Hauptstadt war belagert, in Barrancas und Montelirio herrschten Terror und Plünderung, Atajo Viejo und Pasopronto waren durch das Kommen und Gehen der Toten, durch ihren schauerlichen Marsch, der alle Straßen verstopfte und die Cholera an alle Türen klopfen ließ, von der Außenwelt abgeschnitten, die Leute mußten das doch irgendwie einsehen, täglich wurden irgendwo Menschen standrechtlich erschossen, Verdächtige gelyncht, Ge40

fangene erhängt und Geiseln gefoltert, es war Krieg, wieder einmal ein Krieg zwischen von Ehrgeiz besessenen Generälen, wer war ich damals?, sag du es mir, Remigia, Trost und Zuflucht all meiner schlaflosen Momente, in welchem mit Sternen bestäubten Sumpf fandest du mich, meine kleine Braut vom Dorf, meine kleine Braut der reinen und verschlossenen Küsse, ich werde es dir sagen, du warst verletzt und hattest Angst, lagst mit offenen Wunden und unter Tränen in einem dunklen Sumpf von Montelirio, auf der Flucht vor der Truppe von Ulis Cienfuegos, vor den schlammigen Hufen seiner Pferde, die erbarmungslos auch noch den letzten Helfershelfer verfolgten, Pepe, den entferntesten Verwandten der Verschwörer, deine Eltern, deine Geschwister, deine Saufkumpane, die Huren, die sie aus jenem verrufenen Haus holten, um sie mit gespreizten Beinen in Reih und Glied mitten auf die Straße zu legen, auch sie kannten dich, Pepe, sie waren mit dir zusammen gewesen, und sie waren stolz darauf, das sagten sie zu den Wachposten, daß es alle in Montelirio, die an den Fenstern hingen, hören konnten, wer wußte nicht, daß du einer der Verschwörer warst, einer der Mächtigsten unter denen, die mit Lilis Cienfuegos abgerechnet hatten, wer nicht noch, wenn sogar ich, die sich nie um das Gerede auf der Straße gekümmert hatte, es wußte, Ufer und Strom meiner Tränen?, was kann ich hm, wenn die Vergangenheit mit blutigen Fingern auf mich zeigt, mein Gewissen hat recht, wenn es vergißt, mir bleibt nur, von Feinden zu träumen, sie ausfindig zu machen, wenn sie bereits direkt vor mir stehen, und sie sogar erst nach dem Tod zu erkennen, denn jeder kann Rachegedanken hegen, denen mein höchstes Amt, ja nicht einmal meine berechnendste Vorsicht begegnen könnte, das ist wahrhaftig Verrat, General, warten Sie, bis wir in der Stadt sind, dann werden Sie sehen, wie diese Mörder gefaßt werden, empört und zitternd befahl er Tapia Luzbel, »beeil dich, Guanguan, beeil dich, ich bin ganz wild darauf, sie festzunehmen«, und der Präsident, offenbar ruhig, unbe41

kümmert, bemüht, Gelassenheit auszustrahlen, überlegte, eine bessere und schnellere Strategie zu entwickeln als die von Oberst Nazareno, »es wird das Beste sein, wenn wir beim nächsten Landgut anhalten und in der Festung der Stadt anrufen«, worauf der Kutscher verneinend den Kopf schüttelte und mit einer Geste des Bedauerns erklärt, »es ist ein Unglück, Don Pepe, aber erinnern Sie sich nicht, daß bei der letzten Überschwemmimg alle Leitungen, die es in dieser Gegend gab, weggerissen wurden?«, und er treibt die Stute mit immer heftigeren Peitschenhieben an, »wie lange dauert es noch bis in die Hauptstadt, Guanguan?«, doch ohne zu antworten, bremste er angesichts eines Wagens, der sich ihnen plötzlich in den Weg stellte, »noch ein Hinterhalt, General, noch ein Hinterhalt«, schrie er, sprang von der Kutsche und schoß auf drei Männer, die Uniform trugen und aus dem Wagen sprangen und mit ihren Karabinern losfeuerten in Richtung auf den Platz, auf dem der Präsident saß, der augenblicklich an der rechten Hand getroffen wurde und nicht einmal Zeit hatte, seinen Revolver zu ziehen, der hilflos zusehen mußte, wie Oberst Nazareno getroffen zu Boden stürzte, und dann sah, wie die Angreifer verschreckt durch das Dickicht flohen, während Tapia Luzbel die Zügel packte, die Peitsche knallen ließ und über den umgestürzten Wagen der Verschwörer hinweg auf den Weg zurückfand, auf dem die Nacht bereits die dunkelsten Pfade ausgefüllt hatte. Blindlings und mit höchster Geschwindigkeit raste die Kutsche des Präsidenten unter dem schweren Geäst der Kapokbäume dahin. Hinten auf dem blutbefleckten Sitz erkannte der General José Góngora y Carrasco kaum noch den gespenstischen Rücken der Stute, hörte kaum das beschwerliche Schnauben des überreizten Tieres, das nur dank der Geschicklichkeit des Kutschers weiterläuft, »sind Sie in Ordnung, Don Pepe?«, und wieder das Knallen der Peitsche wie ein Blitz über dem Boden, dieselben Grillen erfüllen mit ihrer Litanei die Schatten, dein entsetztes Gesicht, Remigia, wenn 42

du mich kommen siehst, »machen Sie sich keine Sorgen, Don Pepe, wir sind gleich da«, wer hätte das geglaubt, nicht einmal ihr, die ihr mir nach dem Leben trachtetet, nicht einmal ihr, denn meine Rache wird euch vernichten, in deinem und meinem Neimen, Oberst Nazareno, im Gedenken an deinen durchlöcherten Körper muß ich mich rächen, nur noch wenige Minuten, und sie werden verfolgt, wo auch immer sie sein werden, wird man sie finden, Festungen und Kasernen werden wachsam sein, diese Gerechtigkeit gebührt mir, auf, Republikanische Garde!, sie verstand es, die Verbrecher auszuschalten, die sich weigerten und akzeptierten, daß du nun Euer Exzellenz General Don José Góngora y Carrasco warst, das konnten sie nicht verhindern, nicht einmal Rosendo Hurtado, der in Bergen und Tälern dir großspurig Paroli bot, schaffte es, die Jahre der Säuberung zu überstehen, Baum für Baum, Furche für Furche blieb nicht ein einziges Tier am Leben, nicht eine einzige Ratte, Rosendo Hurtado, die du deinem Magen hättest bieten können, um in Montelirio weiterzukämpfen, dafür bist du verantwortlich, Herr Präsident, weil du so vielen Generälen für das Verbrechen die Befugnis erteiltest, Deckung und Munition gabst für jenes Gemetzel, das allen Mädchen, die in den Bergen lebten, den Leib umdrehte, oh, General, wie einfach ist es doch, bei Schlaflosigkeit standrechtlich zu erschießen, wie einfach, im Namen des sozialen Friedens Rivalen aus Bordellen und von Hahnenkampfplätzen hinzurichten, wie einfach, Anhänger einer anderen Partei zu ermorden, die weder dein Banner tragen, noch deiner Sippe angehören, daß das jedem klar ist, zum General wurde ich, indem ich Säbel eingrub und Sporen einschlug, erinnerst du dich nicht mehr daran, wie du sie bis auf den Grund in die Augen der jungen Leute tratest, die Remigia umwarben, der jungen Leute, die sie gleichfalls liebten und sie nun nie wieder sehen würden, zornig und blind werden sie mich suchen, werden Hinterhalte und Verschwörungen anzetteln, bis sie mir die Eingeweide mit bloßen Händen 43

herausreißen, bis sie mich verwest auf dem Leichentuch der groß angelegten Rache liegen sehen, auch ihre Söhne, Herr Präsident, die Söhne der Männer, die Sie erschießen ließen, werden in dem Fieber unversöhnlicher Rachsucht heranwachsen, andere, namenlos vielleicht, Bauern und Schmiede, Vorarbeiter und Zuhälter, Schneider und Frisöre in den Dörfern, Rekruten und Offiziere, Zuckerrohrarbeiter und Zauberer in den Hütten der Haitianer und Engelmacher haben sicher all die Jahre hindurch eine schlaue und kalkulierte Vergeltung gehegt, sie sind Söhne des Krieges, General, vergessen Sie sie nicht, glauben Sie diesem Kadaver, der auf den Weg geworfen wurde, ich kann Ihnen mehr bieten als das Gesicht des Todes, Worte der Warnung, die in meinen stinkenden Lymphbahnen aufsteigen, Ratschläge von einem Aas, das noch Worte für Sie hat, General, Worte, um Sie vor dem Treuebruch zu warnen, vor der Gemeinheit der Undankbarsten, die du auf die eine oder andere Weise beschütztest, ohne zu wissen, daß auch der Haß zu lächeln und zu gehorchen versteht, viele Jahre habe ich es gewußt, Oberst Nazareno, und jetzt ganz besonders danke ich Ihnen, jetzt, da die Kutsche des Präsidenten durch eine finstere, mit hohen Kiefern bestandene Kurve fährt, »fahr zu, Tapia, fahr zu!«, denn schon wieder haben sie dir aufgelauert, und du kannst nichts erkennen in dieser Dunkelheit, in der du nur deine zerschmetterte Hand spürst, die aufeinanderfolgenden Salven von Kugeln, die in den Türen der Kutsche steckenbleiben, vom Trittbrett und vom Kutschbock abprallen, die Peitsche deines Kutschers durchschlagen, »jetzt, Guanguan, jetzt haben wir es ihnen endgültig vermasselt!«, schreist du voll Freude, als du das Sperrfeuer der Verschwörer durchbrichst, als du in der Ferne die ersten Lichter der Stadt erkennst, die letzte Kurve der Belagerung, von wo sie schweigend dich, lebend, verabschieden, die Kiefern, Kamerad, diese edlen Wachposten des Harzes, die für Sekunden dachten, sie würden deinen Tod begleiten. 44

»Endlich, Tapia, endlich sind wir dieser Hölle entkommen!«, deine Freude war so groß, daß du die Knochen, die durch die Haut deiner rechten Hand hervortraten, nicht mehr spürtest, auch nicht den blutigen Schweiß, der deinen ganzen Körper durchtränkt hatte, der deine Weste und deine Hose befleckt hatte, Stunden zuvor noch weiß und tadellos, ohne einen Tropfen Anis oder auch nur einen Hauch Asche, so wie dein Freund Oro León dich gesehen hatte, auf jenem Landgut, von dem ich mir nie hätte vorstellen können, daß es der Ausgangspunkt so vieler Schicksalsschläge sein würde, wirklich, mein Freund, hätte ich nur den leisesten Verdacht einer Verschwörung gehabt, hätte ich dich nicht von diesem schönen Ort wegfahren lassen, den nun der Zufall mit Schmach umgibt, aber es freut mich, einmal mehr dein Glück bestätigt zu sehen, mein Freund, schon immer habe ich es bestaunt und gepriesen, du weißt nicht, was ich darum gegeben hätte, wenn ich wieder den Säbel und die Sporen der ersten Jahre aus dem Schrank hätte holen, wie damals kämpfen und dir meine eigenen Gedärme anbieten können, um dich vor jedem Kreuzweg zu beschützen, er liegt schon weit hinter dir, während du das Knirschen der Räder hörst, ihr dumpfes und schwerfälliges Rollen, um das du dich nicht kümmerst, weil du glücklich bist, dich berauschst bei dem Gedanken an die unerbittliche Vergeltung, die du entfesseln wirst, vielleicht überheblich geworden durch deine Aura der Unverwundbarkeit, durch dieses neue Gefühl, das du empfindest, als du dich plötzlich als auserwähltes Wesen entdeckst, »das Schicksal hat noch viel mit mir vor, Tapia, verstehst du?, das Schicksal hat noch viel mit mir vor!«, du sahst, wie er glänzte und schwitzte, jetzt ohne Hut, schwärzer denn je saß er auf dem Kutschbock, fast über die Zügel gebeugt, die er fest in den Fäusten hielt, eigentlich eher über seinen Schoß gebeugt, als ob ihn ein starker Schmerz niederdrückte, düster, niedergeschlagen, die Schulterstücke der Uniform blutbefleckt, so sahst du ihn, mit dem Rücken zu dir, und dann drehte er sich 45

um, ohne die Zügel, die er noch immer um die Wunden seiner Hände gewickelt hielt, loszulassen, und du hörtest, wie er mit dieser rauhen Stimme, die du so gut kanntest, murmelte, »tot oder lebendig, Don Pepe, ich werde immer an Ihrer Seite sein«, seine Worte gingen dir zu Herzen, sie waren gerecht, rein und sicher wie die sechs Kugeln, die der Kutscher Tapia Luzbel auf die Brust des Präsidenten abfeuerte, eine nach der anderen, gleichmütig, während er die Kutsche Richtimg Stadt lenkte und leise vor sich hin sprach, »auch ich, Don Pepe, war einer der Verschwörer, auch ich, General, bin ein Sohn des Krieges«. Deutsch von Frank Barsch und Reinhard Ewald

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José Rijo

Die Lüge Bei jedem Hieb krümmte sich Chitos kleiner Körper vor Schmerz. Mit einem Strick züchtigte Pancho unbarmherzig das Fleisch des Jungen, der sich wie ein Tier wand und um Verzeihung bat. Schließlich kam er frei und verzog sich verweint, um lauthals gegen die zweite Tracht Prügel zu protestieren, die ihm der Vater an diesem Tag für seine Lügen verpaßt hatte. In Chitos Mund hatten alle Lügen der Welt Platz, und trotzdem war er ein liebenswerter kleiner Kerl. Mit seinen schwarzen, lebhaften Augen, seinem breiten Gesicht, das die Farbe gerösteten Brotes hatte, und seiner immer zerrissenen, ewig schief sitzenden Mütze war er der typische Junge vom Land, Räuber hochgelegener Nester und der Garnelen in den Höhlen am Fluß. Keiner konnte wie er Kokosnüsse herunterholen oder ein Stierkalb mit dem Lasso einfangen. Kurz vorher hatte ihm der Vater befohlen, ein paar Esel anzubinden. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern dreimal wiederholte Pancho seinen Befehl, Chito spielte weiter. Da rief er ihn, den Strick in der Hand: »Bist du noch nicht weg?« »Ja, Señor. Ich bin noch hier, weil Teresa mir gesagt hat, ich soll mit ihr zum Fluß gehn.« »Stimmt das?« Das tat es nicht, und Chito bezog Prügel. »Hat's wehgetan?« fragte Teresa ihren Bruder, als sie allein waren. 47

»Das soll wehtun? Pfff...« »Ah ja? Und die Träne da?« »Die? Vom Lachen!« antwortete der Junge frech und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann zog er seine Hose hoch, die schon in den Kniekehlen hing. Mit der Schnur, die ihm als Gürtel diente, band er sie tun seinen nackten Bauch, der vor Dreck ganz fleckig war. Er nahm ein Lasso, und nachdem er seiner Schwester mit einer kurzen Grimasse die Zunge herausgestreckt hatte, ging er. Er war so unbeschwert wie der Specht, der zwischen gelegentlichen Schreien sein Nest im Wipfel einer Palme baute. Chito sah ihn und warf einen Stein nach ihm. Der Vogel öffnete mit einem diesmal noch klangvolleren, beinahe spöttischen Schrei die Flügel und verlor sich im Grün der Blätter. Singend ging Chito weiter: »Ich bin Americano, seh zu, was hier passiert; such einen, der mir vom Flaum die Nase abrasiert.« Der Vogel schrie erneut in einer anderen Palme. Junge und Specht waren gleich. In der Hütte wandte sich Teresa zum Vater: »Kann ich baden gehn, Papa?« »Geh, aber bleib nicht zu lang, und nimm 'ne Kürbisflasche zum Wasserholen mit.« Das Mädchen ging, während Pancho Pfeife rauchend zurückblieb und lästige Gedanken wälzte. Er hatte Sorgen. Tage zuvor hatte eine Patrouille der Yankeearmee, die das Land besetzte, hinterhältig wie der Falke, der sich auf das Nest der Henne mit ihren Küken stürzt, seinen kleinen Hof überfallen. Sie beschuldigten ihn, den Gavilleros zu helfen: So nannten die Weißen die Dominikaner, die aus Pflichtgefühl auf den Schatten der Hütte verzichtet hatten und die erbarmungslose Sonne der Steppen vorzogen, die das frische Wasser der heimischen Krüge getauscht hatten gegen das der Pfützen und 48

Tierspuren in der Wildnis - Schauplatz patriotischen Heldenmuts, aber auch ebensooft wildverzweifelter Kämpfe ums nackte Überleben. Pancho bestritt die Anschuldigung, aber damit war es nicht getan. Sie erlegten ihm für den Zeitpunkt ihrer Rückkehr als Strafe eine hohe Geldbuße oder Steuer auf. Die Geldbuße... Unter diesem Vorwand begann der Weiße, die reinen Wege der sonnenbeschienenen Felder rot und schwarz zu beflecken. Vielleicht waren es die fünfzehn Jahre des Mädchens, die anmutig und verlockend in Blüte standen. Oder das Reit- und Lasttier, das sein Brandzeichen trug. Daran dachte er, als eine Gruppe Uniformierter den grünen Hof der Hütte mit gelben Flecken übersäte. Das Herz in seiner Brust begann zu rasen. Sie verlangten von ihm das Geld, und er redete lange und eindringlich, damit sie ihm einen Aufschub gewährten. Der Anführer ließ ihn reden, dann sagte er: »Oh, you not haben the money? Well«, und er ging langsam auf ihn zu, kalten Blutes, die Augen vor Perversität halbgeschlossen. Brust an Brust, das rote Gesicht des Weißen nahe dem dunklen des Kreolen, maßen sie sich. Pancho spannte die Arme, und der Yankee schleuderte ihn mit einem brutalen Stoß gegen einen Wasserbehälter. Der Gestürzte richtete sich auf. Urinstinkte wurden in ihm wach. Weder die Prügel noch deren Resultat kümmerten ihn, aber dort kam vom Fluß mit tropfnassem Haar, mit sauberem und feuchtem Körper, der sich durch das Kleid erahnen ließ, die Tochter, für die er leben mußte. Sie trug die Kürbisflasche auf dem Kopf, und in ihrem dunklen Gesicht stand das Mißtrauen gegenüber den Fremden. Pancho machte Anstalten, auf sie zuzugehen, und das hatte erneut Mißhandlung zur Folge. Mit dem Strick, der seinen Sohn geschlagen hatte, fesselten sie ihn. Währenddessen war das Mädchen wie eine Frucht ohne Stacheln dem Verlangen des Weißen ausgeliefert. Wut und Zorn bewölkten 49

den blanken Himmel in Panchos Augen mit Tränen. Seine Hilflosigkeit und das Weinen seiner Tochter verliehen dieser Szene, verhärtet durch die Brutalität der rohen Gewalt, eine Note schmerzhafter Weichheit. Eine Schlange der Wollust wand sich um Teresa, die sich vergeblich zu wehren suchte, während der Vater wie ein Kind bettelte: »Um Gottes Willen, nein! Rühren Sie sie mir nicht an...« Und er wand sich zornig und tapfer. Ein ungewohntes Geräusch ließ den Anführer in seinem Vorhaben innehalten. Es klang wie in der Ferne galoppierende Pferde, wie näherkommendes Hufgetrappel. Für einen Moment horchte der Mann auf. Dann öffnete er die Tür zu dem einzigen Raum und schickte seine Männer hinein. Er zog die Pistole, setzte dem Mädchen den Lauf auf die Brust und befahl ihm: »Wer kommen, you sagen, niemand sein da. You widerstand?« Er nahm Pancho mit und schloß die Tür hinter sich. Die Kälte des Stahls trocknete Teresas Tränen. Sie war ganz benommen, ein brauchbares Werkzeug für den Hinterhalt, den man den Aufständischen, um die es sich handeln konnte, bereiten würde. Vor der Hüttentür verstummten die Schritte, und die Weißen atmeten erleichtert auf. Es war Chito. Kaum war er abgestiegen, wiederholte Teresa, ohne zu wissen, was sie tat, was der Anführer ihr gesagt hatte. »Es ist niemand da.« Chito begriff gar nichts, und als sei es nun an ihm, etwas zu sagen, sprudelte er los, während er sich den Schweiß abwischte: »Verdammt! Ich mußte diesem störrischen Vieh ganz schön die Sporen geben, denn dahinten ist Ramón Natera mit den Gavilleros, die sind mehr als 'n ganzer Bienenschwarm! Wenn die die Weißen kriegen, rupfen sie jeden Einzelnen. Drinnen wurden die Soldaten unruhig, sowohl wegen der Zahl, die der Junge ankündigte, als auch wegen des Mannes, 50

der sie anführte: Ramón Natera, der Schrecken der Yankees in der östlichen Region. Schneller als man es in Worte fassen kann, zischte der Anführer Pancho, während er ihn losband, ins Ohr: »Wenn you nicht sagen Gavilleros, daß Weiße hier gewesen, ich sein dein Freund«, und riß die Hintertür der Hütte auf. Einer nach dem anderen suchten sie das Weite, schnell, leise, wie Perlhühner, die eine Gefahr spüren. Die Angst vertrieb sie. Pancho trat ins Freie. Er hielt noch den Strick, mit dem sie ihn gefesselt hatten, in der Hand, und in seinem Gesicht spiegelte sich Unsicherheit. »Wo sind 'n die Gavilleros?« fragte er. Chito, den Blick starr und voller Angst auf den Strick gerichtet, wich bis zu Teresas Rockzipfeln zurück. Weder die Schwester, die ihn beschützte, noch der Vater, der immer wieder fragte, verstanden sein Verhalten, bis der Junge, den Tränen nahe, flüsterte: »Verzeih mir, Vater! Ich hab gelogen.« Während die Beklemmung allmählich aus ihren Herzen wich, hämmerte von neuem zwischen gelegentlichen Schreien der Specht und baute sein Nest in einer anderen Palme. Deutsch von Kerstin Mattauch und Clemens Rohfleisch

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Marcio Veloz Maggiolo

Gespenster gehen um Der leichte Schweißausbruch machte ihm bewußt, daß die Orden zu schwer waren. Er betrachtete sein blumengeschmücktes Käppi und überlegte, daß er besser laufen, an Tempo zulegen sollte. Wir schrieben das Jahr 1961, und die Zeit war trügerisch. Sobald er die widrigen Zeichen wahrnahm, mußte er zum Himmel aufsehen, der sich bleigrau färbte. Er konnte sich jetzt an keine Schlacht erinnern, er war nie in ein anderes Land einmarschiert, hatte nie sein Vaterland gegen Interventionen von außen verteidigen können, da er diese stets befürwortet hatte. Es blieb ihm eigentlich nichts anderes übrig, als loszulaufen. Sein rechtes Auge löste sich und rutschte immer tiefer, er würde, wollte er sein S e i erreichen, gegen die Uhr anlaufen müssen wie jene olympischen Läufer, die immer danach streben, einen neuen Rekord aufzustellen. Kaum hatte er zu laufen begonnen, platzte das rechte Auge wie diese gelben Früchte, die herabhängen und nur auf den Windstoß warten, um herunterzufallen und aufzuplatzen. Er lief und lief, das Auge hing herunter, baumelte wie ein Pendel, bis es auf den Boden schlug und weiterrollte. Dasselbe geschah mit dem linken Auge, diesmal schneller. Wie schwer doch die Orden waren, wie schwer die golden blühenden Zweige am Käppi! Er beschleunigte seinen Lauf, und es gelang ihm, das Käppi an einen Rand des Weges zu werfen. Mit leeren Augenhöhlen durchmaß er jetzt die alte Strecke aus dem Gedächtnis. Er kannte sie gut, auf diesem Weg wurden die Regimegegner abtransportiert, die erschossen werden sollten. Schon kam er mit großen Sätzen voran, als er merkte, daß sein rechter Arm wie Karamel zu zerflie53

ßen begann. Hätte er nach hinten blicken können, so hätte er etwas gesehen, das aussah wie eine schmierige Ölspur und nichts anderes war als der gummiartige, bereits der Fäulnis anheimgefallene Arm. Bald fühlte er ihn fast wie Matsch unter seinen Füßen, denn blind, wie er war, rutschte er auf einem Weg entlang, der nur deshalb so glitschig sein konnte, weil der eine Arm allmählich zerfloß und auch der andere Arm schon dabei war, sich in einem gemächlich fortschreitenden Prozeß beklemmender Dehydratation langsam aufzulösen. »Legt an! Feuer!« Er hörte Stimmen. Er erkannte sie. Es waren seine Kommandos, wie er Feinde standrechtlich erschießen ließ. Dort, in den Feldern von Haina, und weiter unten, als sie in den Anfangstagen seiner Regierung gegen ihn rebellierten. 1930 und die Straße abwärts, er rennt. Zerfließt. Wird zu Quecksilber, das an den Rand der Straße läuft. Ohne Augen, ohne Arme, um das Gleichgewicht zu halten, wird der Lauf immer beschwerlicher. Die Orden schmelzen nicht, sie bleiben wie Blutegel vor die Uniform gespannt. Würden sie herunterfallen, dann könnte er schneller laufen und vielleicht mit etwas Heilem, einem Teil, das noch vollständig ist, zurückkehren. Doch jetzt sind die alten und schreckhaften Kleider wie Schwalben davongeflogen, aber die Orden hängen nun am Fleisch, an den Brustwarzen, am Brustbein, an den Rippenbögen. Nackt läuft er weiter. Aber der Weg läßt sich ertasten, denn der Wind, der durch die Schlingpflanzen zieht, streift auch mit spöttischer Beklommenheit die gelben Gräser, die an beiden Seiten des Weges wachsen, wo die Eulen und Uhus ein Lied anstimmen, das nur die Erschossenen kennen. »General, begnadigen Sie sie!« »Red keinen Unsinn! Wer Ärger macht, kriegt Ärger! Er spürte, daß seine Beine nachgaben. Das Heisch, das sie bedeckte, fiel langsam ab, und übrig blieb der nackte Kno54

chen. Kalt ist es, Señor! Schrecklich kalt! Señor, sollen wir ihnen Decken überlegen?... Wozu? Sie sind doch schon tot... Ich stellte mir in etwa die Wangen vor und ahnte, daß es sie nicht mehr gab. Auch sie waren mit dem Windstoß davongeflogen. Nur die im Brustkasten aufgehängten Orden waren noch zu hören. Er vermutete, daß er zu diesem Zeitpunkt ein erbärmliches Gerippe war, das den Weg hinunterlief. Mit seinem ausgeprägten Sinn für Würde vermutete er, daß er, falls dies zutraf, eine lächerliche Figur abgeben würde. Er vermutete richtig, was er feststellte, als er hörte, wie die Campesinos riefen und sagten: »Matilde, der Tod! Da läuft der Tod!« Und er hörte das Übliche, das, was die Campesinos dieser Gegend, die sich an die gespenstische Erscheinimg gewöhnt hatten, immer sagten: »Ich habe keine Angst davor. Dieses Gerippe, das von Nacht zu Nacht läuft, kennen wir schon!« »Mein sagt, es sei die Erscheinimg des Generals.« »Alle haben schon genug von ihm und seinem ewigen Kommen und Gehen!« Er kümmerte sich nicht um die Stimmen. Er lief weiter und lief jetzt noch schneller. Auf die nackten Knochen setzte sich der Staub aus den Bergen, der in feines Gold verwandelt herabfiel; durch die Nasenhöhlen, an denen kaum mehr eine Faser des alten irdischen Fleisches hing, verspürte er den Geruch nach Campesino, der Furchen pflügt, die Gurkensaat mit Kuhmist düngt und nicht mehr an Generäle glaubt. Das Scheppern von Knochen und Blech machte ihm klar, daß sich die Orden immer noch an ihrem unvergänglichen Platz befanden. Es waren viele, an die 52, alle errungen durch den »Dienst am Vaterland« und »zur Aufrechterhaltung des Friedens«, wie sich gerade die Gelegenheit ergab. Die anfängliche Kälte wurde schärfer. Die nackten Knochen seines Gerippes spürten den Wechsel vom Tag zur 55

Nacht; die Sonne erlosch, und der Mond mit seinem ungeteilten Gebiß knackte für immer die intensiven Farben erschöpfter Tropen. Jetzt lief er mit noch größerer Hast. Das Grab mußte schon in der Nähe sein. Er selbst hatte es 1937 ausheben lassen, um darin Tausende von Landsleuten und Ausländern zu verscharren, die zwecks Aufrechterhaltung der Grenzlinien massakriert worden waren. Daß das Grab schon ganz nahe war, bestätigte ihm dieser Klang wie von Trommeln, wie von lockerer Erde, den seine skelettierten Füße mit jedem Schritt erzeugten. Es war der typische Klang nicht festgetretener Erde. In wenigen Sekunden stand das ordenbewehrte Gerippe vor dem gekrümmten Loch, dessen Umrisse durch einen strahlend hellen Lichtkranz, der keinen Sinn ergab, hervortraten. Es tat einen Sprung ins Leere, und seine Knochen erklangen wie die Tasten eines Klaviers, das mit dem Verstummen seiner Töne das ganze Ausmaß dessen verliert, was seine Musik hätte sein können. Vom Scheitelpunkt der Nacht aus leuchtete der Mond auf die weißen Knochen und die auf dem Grund des Schachts verstreuten Orden. Langsam begann das Skelett, sich wieder zusammenzusetzen und tauchte zum Rand empor wie eine mit Orden behängte Schlingpflanze. Jetzt der Rückweg: 19611930. Wieder zusammengefügt, begannen die Knochen zu rennen. Wie in einem Film, der rückwärts abläuft, sieht man Augen, Wimpern, Finger und Muskeln wieder an ihren Platz zurückkehren, während der General Stimmen hört. Mitten in der Nacht überzieht das Fleisch die Backenknochen; die Orden strahlen in neuem Glanz und ächzen im Gleichklang mit dem zackigen Schritt; erneuerte Arme, der Finsternis entwachsene Fersen kehren an ihren Ursprungsort zurück. »Matilde, der Tod hat wieder eine Runde gedreht.« »Er kehrt zurück.« 56

»Ach, Matilde, ich kann mich nicht daran gewöhnen.« Man hört die Schritte, die immer langsamer werden, und der General erreicht unversehrt seinen Ursprungsort, das Ziel, auf das er seinen Lauf hin programmiert hatte. Er blättert in seinem Kalender und liest: Mai 1930. Wir aber schreiben das Jahr 1983, und es gelingt dem General nicht, bis zu einem jüngeren Datum vorzudringen. Er setzt sich, weint, stöhnt. Er wird es morgen versuchen! Tags die völlige Auflösung. Des Nachts die Umkehr, die Rückkehr zum Ursprungsort. Lima 1983 Deutsch von Veronika Hartmann und Gesa Neukirch

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Virgilio Díaz Grullón Die Mauer Er liegt flach auf dem Boden und drückt sich eng an die heiße, schwarzbraune Erde. Das Kinn stützt er in die linke Armbeuge. Mit der rechten Hand umgreift er noch fest das Gewehr, das er neben sich hat. Schon lange liegt er reglos und angespannt da, die Augen starr auf die schmale Öffnimg gerichtet, die weiter unten ein riesiges, kahles Felsenpaar bildet. Er weiß, daß sie, wenn sie kommen, zwangsläufig durch diese Art von natürlichem Säulengang hindurch müssen, und er ist entschlossen, ihn in eine tödliche Falle zu verwandeln. Obwohl es ihm scheint, als sei seit dem letzten Schuß schon eine Ewigkeit vergangen, klammert er sich an diese Möglichkeit und will noch einige Zeit durchhalten, bevor er diesen ausgezeichneten Beobachtungsposten verläßt. Sein Mund ist wie verbrannt und ausgetrocknet, und die riesige, schwere und steife Zunge wälzt sich zwischen den Gaumenwänden hin und her wie ein sterbender tollwütiger Hund. (Wohlige Erinnerimg an sanftes, ruhiges Weisser und ein Kind - er selbst - , das nackt bis auf den schlammigen Grund einer Lagune taucht.) Die Zunge preßt sich nun auf der Suche nach ein wenig Speichel schmerzhaft gegen die Zähne. Die Vorstellung von Wasser läßt ihn nicht mehr los. Er denkt unentwegt an einen Schluck Weisser. Nur ein einziger Schluck. Ihn geizig im Mund behalten und am Gaumen hin und her bewegen und ihn dann ohne jede Hast hinabgleiten lassen, um zu spüren, wie er ihm erfrischend und sanft die Kehle spült. (Der Wasserfilter aus weißem Porzellan am vertrauten Platz in der Ecke des elterlichen Eßzimmers. Die kitschigen blauen Blümchen, an die er sich nun wehmütig erinnert und die 59

rhythmisch vor seinen fiebrigen Augen tanzen.) Wie lange kann ein Mensch ohne Wasser auskommen? Zwei, drei Tage? Er weiß es nicht mehr genau. In der Schule hatte er etwas darüber gelernt, aber das lag schon so weit zurück. Außerdem darf man nicht alles glauben: Man hatte ihm auch beigebracht, daß man es drei Minuten ohne Atmen aushalten könne, und er hatte unter Wasser nie mehr als eine Minute geschafft. Obwohl er inzwischen vielleicht viel länger durchhalten könnte. Eingetaucht in einen kühlen Fluß mit sanfter Strömimg. Sich auf die blankgewaschenen Steine setzen und das Streicheln des Wassers spüren, das seinen Körper zärtlich liebkost. Die Arme ausbreiten und sie kraftlos treiben lassen. Oder mit geschlossenen Fingern die Hände durchs Wasser ziehen, den Widerstand der flüssigen Masse spüren und ihn langsam überwinden. Das Bewußtsein der ihn umgebenden Wirklichkeit überkommt ihn plötzlich wie ein Schauder: Ich bin jetzt nicht im Wasser, sondern an Land. In meinem Land. Das zu befreien ich gekommen bin. »Wir müssen unser Land säubern«, hatte der Ausbilder im weit entfernten Schulungslager gesagt, der die Angewohnheit hatte, wohltönende Sätze und militärische Ausbildung miteinander zu vermengen. »Man muß hingehen und ihm das schmutzige Gesicht waschen.« Nun gut. Ich bin hier und versuche es. Nur, daß ich es jetzt nicht mehr so sehen kann wie von dort aus. Nein, es ist nicht dasselbe. Hier handelt es sich nicht um einen Siegeszug, auch nicht um das »glorreiche Werk der Freiheitshelden« und auch nicht darum, Hymnen zu singen oder über Politik zu diskutieren. Hier fühlt man sich wie im Sturm hinweggefegt, fortgerissen und verweht. Ohne das Steuer übernehmen zu können. Ohne Zeit zu haben, überhaupt daran zu denken, daß es irgendwo ein Steuer geben mußte. »Man muß das Land säubern«, aber das einzige Stück Land, dessen er sich bewußt ist, ist der winzige Heck, an den er seinen Körper preßt, in dem wilden Verlangen, unentdeckt zu bleiben. Und das einzige, wovon er 60

es säubern könnte, wäre das spärliche Gras, das unter ihm wächst. Außerdem ist dies nicht der richtige Moment, daran zu denken, irgendetwas zu säubern oder Unkraut auszureißen. Dies ist der Moment, daran zu denken, sein Leben zu retten und dieser Falle zu entkommen. Mein Gott, nur ein bißchen Wasser! Ich darf jetzt nicht an Wasser denken. Wasser ist noch das geringste Problem. Durst ist ein Geisteszustand. Durst ist ein Geisteszustand. Durst ist... Der Filter aus weißem Porzellan hatte einen kleinen Hahn, und das Wasser rann aus ihm so langsam, daß man den Apparat neigen mußte, um das Fließen zu beschleunigen. Einmal war ihm dabei der Filter heruntergefallen. Er hatte sich fürchterlich erschreckt, aber der Filter war nicht zerbrochen, und niemand hatte es überhaupt bemerkt. Mein Mund ist trocken. So trokken, daß meine Zunge ganz rissig ist und mir beim Schlucken der Hals wehtut. Beim Schlucken von was? Luft vielleicht, denn sowas wie Spucke habe ich nicht mehr. Es müßte mir guttun, Luft zu schlucken, denn sie ist kühl, und das ist genau das, was ich brauche: eine Erfrischimg von innen. Ich habe bestimmt Fieber. Mein Körper ist glühend heiß. Würde ich meine Temperatur messen, dann würde das Thermometer mindestens 39 "C anzeigen. Aber wer denkt jetzt schon an Thermometer? Dies ist kein Problem, das sich mit Thermometern lösen ließe. Auf was ich mich hier eingelassen habe, ist weit schwerwiegender. Der verfluchte Durst! Wie lange werde ich das noch aushalten? Wie lange noch? Die große knochige Frau steht aufrecht vor dem Holzmörser und zerstößt mit rhythmischen Bewegungen ihrer sehnigen und starken Arme die frisch gerösteten Kaffeebohnen. Der geschickt gehandhabte schwere Stampfer steigt und fällt gleichmäßig und schlägt dabei unaufhörlich auf die am Boden des Mörsers dichtgedrängt liegenden dunklen Bohnen. Über dem dumpfen Geräusch verliert sich der glanzlose Blick der Frau in der fernen Ebene: Er fällt durch die offene Tür der 61

Hütte und weitet sich, als er auf das freie Feld und den kahlen Saum des Berghangs trifft, wo sich die letzten Strahlen der Nachmittagssonne brechen. Seit geraumer Zeit zerstößt sie jetzt schon die Bohnen. Noch ein bißchen, und sie würde fertig sein. Als vor mittlerweile mehr als zwei Stunden die Soldaten kamen, fanden sie sie mitten in der Arbeit, und während der Durchsuchung unterbrach sie diese keinen Augenblick. Auch dann nicht, als sie sie fragten, ob sie ein paar Männer auf der Flucht gesehen hätte. Nicht einmal als der, der am meisten redete und der Chef zu sein schien, sich vor ihr aufbaute, den Holzstampfer packte, ihre Bewegungen dadurch urplötzlich stoppte und sie anschrie: »Hör mal, du verdammtes Weib, wenn du einen von diesen Banditen hier versteckst, reiß ich dich mit diesem Bayonett in Stücke.« Sie antwortete ihm mit keinem Wort, befreite ihre Hand durch eine jähe Bewegung und setzte ihre Arbeit fort, ohne den Mann überhaupt anzusehen. Und Toño war wie immer nicht da. Jedesmal, wenn etwas passierte, war Toño weg. Als ahnte er, wann es Schwierigkeiten geben würde. So war es, als das Kind Fieber hatte und in ihren Armen starb, während sie vor der Hütte stand, zum Weg hinübersah und auf ihren Mann wartete. Und als der Fluß vor zwei Jahren über die Ufer trat und sie es war, die allein das ganze Gerümpel aus der Hütte holen, es auf den Berg hinaufschleppen und dort die ganze Nacht verbringen mußte, weil die Ebene völlig unter Wasser stand und Toño sich erst blicken ließ, als sich das Wasser schon wieder in das Flußbett zurückgezogen hatte. Immer war sie es, die alles wieder in Ordnung bringen mußte. Ein Glück, daß sie nie den Kopf verlor. Was zu tun war, das tat sie. Ohne nachzudenken: einfach indem sie zuließ, daß etwas, das in ihr steckte, herauskam und an ihrer Stelle handelte. Und jetzt dieser neue Ärger. Zuerst die Schüsse auf der anderen Seite des Berges und dann die Soldaten, die in die Hütte eindrangen, alles durchwühlten und sie nach ihrem Mann fragten. Und die roten Augen des Offiziers, der sie bedrohte. 62

Nein, Tofto würde jetzt nicht zurückkommen. Es war sinnlos, auf ihn zu warten. Er mußte es schon gerochen haben. Seit einiger Zeit wirkte er ganz verschreckt. Er war in irgendwas verwickelt, über das er aber nicht sprach. Sie stellte ihm keine Fragen, aber sie schöpfte Verdacht, weil er nachts oft wegging und sich mit merkwürdigen Leuten traf und dann mißmutig, schweigend und mit einem eigenartigen Glänzen in den Augen zurückkam. Nein, jetzt würde Tono nicht zurückkommen. Er würde am nächsten Tag auftauchen, wenn alles vorbei wäre. Er würde ein mürrisches Gesicht machen und auf die Regierung fluchen. Und sie, seine Frau, würde sich wie immer um alles kümmern müssen. Er stützt sich auf die Ellbogen, zieht sich ein Stück nach vorn, streckt den Oberkörper dann vorsichtig ein wenig vor und läßt seinen Blick weiter unten über die kahlen Felsen gleiten, wobei er aufmerksam das spärliche Gestrüpp beobachtet, um sich zu vergewissern, daß nicht die geringste Gefahr besteht. In diesem Moment bemerkt er links von der Felsöffnung die mit Palmblättern gedeckte Bretterhütte. Gebannt starrt er auf das baufällige Gebilde und hält den Atem an. Irgendwo hinter diesen einfachen Wänden, auf irgendeinem primitiven Untersatz, wartet, möglicherweise gering geachtet, auf jeden Fall aber in seiner höchsten Bedeutung verkannt, teilnahmslos mit seinem dicken, wie bei einem Buddha angeschwollenen Bauch, ein rötlicher Tonkrug mit frischem Wasser. Plötzlich vergißt er jede Vorsicht. Er springt auf und rennt so schnell den Hang hinunter, daß er Geröll lostritt. Halb läuft er, halb fällt und rutscht er, das Gewehr instinktiv umklammert, bis er die offene Ebene erreicht und in vollem Lauf auf die Hütte zustürzt, die seiner stummen Verzweiflung grau und gleichgültig entgegensieht. Sie hat ihn gesehen, wie er durch die Felsöffnving rennt und näherkommt, aber sie unterbricht ihre Arbeit nicht. Noch zweimal läßt sie den Stampfer auf die schon zu Pulver ge63

mahlenen Bohnen fallen, nachdem sie schon die stockenden Worte des Mannes gehört hat, der völlig erschöpft am Türrahmen lehnt: »Wasser, Doña. Bitte etwas Wasser.« Ohne auch nur eine Miene zu verziehen, durchquert die Frau, nachdem sie nur einen flüchtigen Blick auf die flehende Gestalt geworfen hat, langsam den Raum, nimmt die Blechbüchse von der gegenüberliegenden Wand, füllt sie in dem großen Tonkrug und reicht sie dem Mann, und auch während dieser in verzweifelter Begierde trinkt, sieht sie ihn immer noch nicht an. Er selbst füllt die Büchse von neuem und leert ihren Inhalt wiederum in einem Zug, bis er das Gefühl hat zu platzen. Dann wischt er sich mit dem Handrücken über den feuchten Mund und sieht zu der Frau hinüber, die zum Mörser zurückgegangen ist und weiter die Bohnen zerstampft, ohne sich auch nur im geringsten um seine Anwesenheit zu kümmern. Langsam hat er das Gefühl, wieder er selbst zu sein. Es ist, als ob ihm erst jetzt, nachdem er seinen Durst gelöscht hat, bewußt würde, wer er ist und was er hier tut. Sein Blick fällt auf das Gewehr, und er wundert sich, daß er es noch immer bei sich hat. Ihm kommt es so vor, als sei es ein anderer und nicht er gewesen, der wie ein Verrückter über die offene Ebene gerannt ist und sich den Schüssen ausgesetzt hat. »Danke, Doña«, sagt er mit stockender Stimme. Er fühlt sich absurd und fehl am Platz, wie er da mit der Waffe in der Hand dieser schweigenden Frau gegenübersteht, die unaufhörlich mit dem schweren Holzstampfer auf den bedeckten Boden des Mörsers schlägt. »Kann ich mich hier einen Moment ausruhen? Ich werde mich nur kurz hier neben die Tür setzen.« Er bekommt keine Antwort und läßt sich langsam an der rauhen Wand hinabgleiten, bis er mit ausgestreckten Beinen, den Rücken endlich an etwas Festes, Sicheres, gelehnt, auf dem Boden sitzt. Das Gewehr, das er für einen Moment vergessen hat, liegt neben ihm. Er möchte sprechen, doch er findet nicht die passenden Worte. Er weiß, daß es sie gibt und daß es einfache, klare und genaue Begriffe 64

sind, doch sie fallen ihm nicht ein. Er weiß, daß er dieser Frau erklären muß, wer er ist und weswegen er hier ist. Sie ist der erste Mensch, dem er seit der gefährlichen Landung begegnet ist, denn die Soldaten bekam er nicht einmal zu Gesicht. Er hörte nur ihre Stimmen in der Nacht und dazwischen die Schüsse. Ja, er muß mit ihr reden, aber er kann die Formel nicht finden, mit deren Hilfe er die Mauer durchbrechen kann, die zwischen ihnen immer höher wird. Es ist absurd, denkt er. Knapp zwei Meter trennen mich von einem Campesino. »Die edle Frucht des Landes«, hätte der Ausbilder gesagt. Sie hat mir Wasser gegeben. Sie hat mir erlaubt, mich hier auszuruhen. Und doch weiß sie nicht, wer ich bin. Was ich will. Warum ich hier bin. Würde ich es ihr erklären können? Würde ich ihr alles, was mich bewegt, so sagen können, daß sie es versteht? Damit sie mich mit anderen, mitfühlenderen, menschlicheren, Augen sieht? Nein, ich könnte es nicht. Ich werde es nie können. Das war schon immer so. Niemals wird es mir gelingen, alles, was mich seit meiner Kindheit im meinem tiefsten Innern bewegt hat, in verständliche Worte zu fassen. Die Rebellion, die Liebe, die mich schon immer auf die Seite der Schwachen gezogen hat, der Armen, derer von ganz unten, wer auch immer sie waren. Alles lief gut, solange es sich auf die gedankliche Ebene beschränkte, auf die mehr oder weniger abstrakte politische Theorie. Wie schwierig ist es dagegen, sie auszudrücken und «in ein konkretes Objekt zu richten! Immer schon ist es mir unmöglich gewesen, dieses Gefühl, das wie ein Feuer in mir brennt, einem Menschen direkt zu vermitteln. Und jetzt ist es wieder das gleiche: Hier steht sie, ich kann sie fast berühren, und sie wartet geduldig auf meine Worte, in stiller Resignation, ihrer unendlichen Hilflosigkeit ausgeliefert und in der unbewußten Hoffnung auf eine vage erahnte Rettimg. Und ich bin nicht einmal fähig, ihr zu erklären, wofür ich eintrete. Warum ich in mein Land zurückgekehrt bin. Ihr zu sagen, was ich für sie tun will und für alle, die so sind wie sie. Mein 65

Gott, woran liegt das nur? Ist diese unüberwindliche Mauer ihre oder meine Schuld? Habe ich sie mit denselben Händen errichtet, mit denen ich die Wunden des Volkes heilen will? Ist der Grund, weshalb jeder Versuch gegenseitiger Verständigung fehlschlägt, der, daß ich in Wahrheit nichts über sie weiß? Unkenntnis ihrer tatsächlichen Probleme. Nicht derer, für die sie als Symbol steht, als reine Abstraktion, sondern jener, die sie Tag für Tag erlebt und durchstehen muß. Die seit Jahrhunderten ihren Körper verzehren. Warum fühle ich mich so unendlich fern von dir, meine Schwester? Nach und nach verschwimmen seine Gedanken: dieser verdammte Stampfer, der ununterbrochen auf den Boden des Mörsers hämmert - wie das Ticken einer Uhr, die nie stehenbleibt. Und diese unendliche Müdigkeit, die sich unaufhaltsam in mir breit macht. Ich darf jetzt nicht einschlafen: Das wäre dumm und unvorsichtig. Aber ich habe schon so lange nicht mehr geschlafen! Sechsunddreißig Stunden? Achtundvierzig? Wie wird es meinen Compañeros gehen? Ob wohl ein paar dem Hinterhalt entkommen sind? »Sammeln unter der Brücke«, lautete die Parole. Aber die Brücke war so weit weg. Alles ist so weit weg. Und hier ist die Luft so kühl. Und dieser verdammte Stampfer fällt und fällt. Die Mütze rutscht ihm sanft vom Kopf, als er ihn, vom Schlaf überwältigt, gegen den Türrahmen lehnt. Die Frau stampft noch eine Weile weiter. Dann nähert sie sich langsam, den Stampfer noch in der Hand, dem ausgestreckten Körper. Sie beugt sich über ihn, greift nach der grünen Stoffmütze und betrachtet dabei das wehrlose Gesicht zu ihren Füßen. Wie sie es so heiter und entspannt daliegen sieht, murmelt sie leise vor sich hin: »Aber das ist ja noch ein Kind!« Da reißt sie, aus einem schrecklichen, tief in der Zeit wurzelnden Impuls heraus, die Augen weit auf, spannt die sehnigen und kräftigen Arme, umklammert mit den Händen, auf denen die Adern hervortreten, wild das rauhe Holz des Stampfers. Und dann hebt sich das ganze entsetzliche Ge66

bilde über das sanfte, wehrlose Gesicht und fällt mit unglaublicher Wucht genau in dem Augenblick herab, da der Feuerstoß urplötzlich, unbarmherzig, ohrenbetäubend und brutal, so als käme er einstimmig von überall her, von den Wänden, von den Fenstern, von der Tür, vom Fußboden und vom Dach, mit höllischem Krachen die Hütte erfüllt. Unzählige Male wird der reglose Körper hochgeworfen, und die sanften Gesichtszüge, noch einen Moment zuvor im Schlaf entspannt, verwandeln sich vor ihren Augen in eine tragische Masse aus Fleisch, Blut und zermalmten Knochen. Eine tiefe Stille breitet sich aus. Wie ein Schwärm gelber Wespen, der sich in alle Richtungen bewegt, sind von überall her Soldaten aufgetaucht und reden miteinander, ohne daß sie es hört. Sie läßt alles hinter sich, geht langsam aus der Hütte heraus, bleibt mit verschränkten Armen in der Türöffnung stehen, wo sie gleichmütig auf ihren Mann wartet, der nie zu Hause war, wenn es ein Problem zu lösen galt. Deutsch von Britta Burkard und Michaela Kuhn

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Ivan Garcia

Tod auf Tod Er tauchte am Flußufer auf Gefangen zwischen zwei Steinen Treibend Die erste Person, die ihn sah, war kein Fischer und auch kein Milchhändler, der seine Kannen dort gewaschen hätte; Manuela, die heimlich dort vorbeikam (die alten Frauen sagen, sie wissen, warum), durchquerte schweigend das ganze Dorf, um es dem Pfarrer zu erzählen. Und was habe ich damit zu tun? Sag es dem Bürgermeister oder der Polizei, ich muß mich auf die Messe vorbereiten. Das war um vier, eine halbe Stunde später klopfte es an die Tür von Don Francisco, dem Dorfältesten. Ein Toter liegt im Fluß. Mußt du um diese Zeit kommen, um mir das zu erzählen? Es gefiel ihm nicht besonders, daß man ihm die Tür vor der Nase zuschlug, aber da konnte man nichts machen, und er ging in den Laden, der zugleich Wirtschaft war, um einen Kaffee zu trinken und Zeit zu gewinnen. So früh schon, Serafin! Ich wollte eigentlich einen Spaziergang durch die Felder machen, aber dann beschloß ich, hierher zu kommen. Du weißt ja: die Schlaflosigkeit. Nichts Neues? Nichts. Don Franciscos Frau blickte drein wie ein geprügelter 69

Hund, dann ging sie zum Fenster, das von dem Julias nur durch ein Gäßchen getrennt ist, und sagte es ihr im Flüsterton. Beide schlössen die klapprigen Fensterläden, und in dem schmalen Durchgang belauerten die Mäuse wieder die Hühner. Der Sohn der Nachbarin fragte, ob er draußen spielen durfte. Der Vater erlaubte es nicht und sagte dann zu seiner Frau: Tja, die Sache wird brenzlig! Es schien, als ob die Sonne nicht aufgehen wollte oder doch aufgegangen war, aber die Wolken die Nacht nicht losließen. Julia ging Vinter dem Mangobaum und den Bananenstauden hindurch, was man nicht tun darf, nachdem man gebügelt hat, weil sie einen Krampf verursachen, und erzählte es Dofta Venancia, die schon das Buch, den Rosenkranz und die Mantilla in der Hand hielt. Jesusmariaundjosef! Das muß ich Don Alonso sagen. Beinahe fällt sie wegen eines Mangokerns, den der kleine Neffe, der gestern den ganzen Tag bei ihr war, einfach weggeworfen hatte. Über das Wellblech hinweg sprach sie sehr bekümmert mit Don Alonso, während sich dieser im Hemd vor der Waschschüssel unter dem Kirschbaum rasierte. Die Ehefrau kam mit entsetztem Gesicht auf den Hof hinaus, und hinter dem Handtuch versteckt, schickte er sie mit einer Handbewegimg wieder weg. In der Küche sagte er dann zu ihr: Wenn er es ist, hat er selbst schuld, man kann nicht ständig gegen alles protestieren. Was geht ihn das an, wenn der Pfarrer sich verkauft hat, wenn der Bürgermeister nichts anderes ist als eine Marionette, wenn die Polizisten Diebe in Uniform sind, wenn... wenn die Regierung schlecht ist, wenn wir verkommen sind? Er ist ein Dummkopf: Wenn er sich zum Feind derer macht, die ihm Arbeit geben können, dann bleibt ihm nur noch zu verhungern. Er ist ein Faulpelz! Ich denke nicht daran, mir wegen eines Idioten selbst zu schaden. Ich werde es öffentlich bestreiten, mit einem Brief oder sonstwie. 70

Und obwohl ihr eine Träne entwischte, war sie einverstanden und machte sich daran, ihm zwei Drei-Minuten-Eier zu kochen. Bist du sicher, daß es nicht der Sohn von Don Alonso ist? Ja, der hier ist dunkelblond. Auf dem Polizeirevier, verschlossene Türen, kein Licht, es wurde geredet. Und du, was hattest du da zu suchen? Ich war bei Justina. Du weißt schon... Warst du es wirklich nicht? Gott bewahre! Meint ihr nicht, daß wir es melden müssen? Wir würden uns fürchterlichen Ärger einhandeln. Ärger gibt es sowieso. Sollen ihn doch andere entdecken! Wenn wir es sagen, wer glaubt uns dann, daß nicht wir ihn untergetaucht haben? Stimmt. Es ist besser, den Schein zu wahren. Die Sache ist nun mal passiert! Ich will mir die Hände nicht schmutzig machen. Diese Regierung wankt, und dann kommt eine andere und dann, das Volk wird uns, ohne lange zu fackeln, einen Kopf kürzer machen. Ich habe noch nie einen umgebracht. Und ich auch nicht. Ich? Wo denkt ihr hin! Der Leichnam lief Gefahr Von der Strömung mitgerissen zu werden Aber es schien irgendein Interesse daran zu bestehen Daß er dort blieb Irgendein geheimnisvolles Interesse Dona Venancia trat ein, um die alte, noch rüstige Margarita abzuholen, und sie brauchten länger als gewöhnlich. Die fünfzehnjährige Juana kam halberschrocken aus dem Haus und begab sich zum Haus des Bürgermeisters, danach ging sie wieder »nach Hause« (das mit dem »nach Hause« in An71

führungszeichen, denn dort wird sie nur aufgezogen und nicht gerade wie eine Tochter behandelt). Auf dem Weg zur Kirche begaben sich die zwei Alten noch zur Witwe Domínguez, mit der sie sich nicht sehr gut verstehen, aber beide waren sich einig darüber, daß man den Umständen Rechnung tragen muß. Der Bürgermeister drohte seiner Frau eine Tracht Prügel an, wenn sie ihn weiterhin bedrängte. Mich geht das nichts an. Du bist die zivile Autorität. Ich will mich aber nicht in Politik einmischen. Vielleicht ist er einfach hingefallen. Nein, mein Kind, heutzutage fällt keiner hin, er wird umgelegt! Der Sohn von Domínguez besuchte den Sohn von Pérez, als trotz der Wolken schon kein Zweifel mehr darüber bestand, daß es Tag war. Der Gasbehälter, der als Glocke fungiert, gab auffallend unrhythmische Schläge von sich, was verkündete, daß es der Priester war, der läutete, denn der Küster, ein Schwuler ohne viele Opfer (die Eltern bewachten des Nachts ihre Jünglinge), gelangte beim Messeläuten zu seinem höchsten künstlerischen Ausdruck. An diesem Tag erfüllte er seine Pflicht nicht, denn als er am Fluß vorbeikam und sah, dachte er: Besser, ich sage, ich bin krank, schließlich gehe ich seit fünfzehn Jahren denselben Weg, und niemand wird mir glauben, daß ich heute, einfach so, woanders langgegangen bin. Im Vorhof der Kirche versammelten sich ein paar Frauen und tuschelten. Sie sahen aus wie Fliegen über einem Tropfen Honig, als Manuela die Sakristei betrat. Betrachten Sie das, was ich Ihnen heute morgen gesagt habe, als Beichtgeheimnis. Als solches habe ich es die ganze Zeit über betrachtet. Der Sohn von Pérez, von dem gesagt wird, er sei ein Volksverhetzer, machte seinem Ruf alle Ehre, er suchte ein paar Häuser auf und schleuderte es jedem ins Gesicht, den er auf der Straße traf. Fiquito, ein gutgelaunter Trunkenbold, 72

schrie vor dem Polizeirevier, mit dem Rücken zur Kirche, rechts das Café der Chinesen und links das Bürgermeisteramt: Will denn die Polente heut nicht rauskommen? Und der Bürgermeister verlangte von seiner Frau, daß sie zur Messe ging, sonst würde das den Leuten merkwürdig vorkommen; sonst würde dieser Schnapskolben auch vor seiner Tür zu schreien anfangen. Die Autorität wird ja nicht mehr respektiert! Als sein Vater nach den Kühen sah (eine war kurz vor dem Kalben), ging Julias Sohn schließlich raus, um mit seinen Freunden zu spielen. Sie sagte zu ihm: Du sollst nicht schwitzen, denk an deine Erkältung! Aber schon als sie um die Ecke waren, fing er an zu schwitzen. Als sie an der Kirche vorbeikamen, sangen sie »Kommt, Kinder, zum Tabernakel, denn Jesus ist am Weinen«. Mehr Ehrerbietung bitte! schrie ihnen eine an der Tür kauernde Bettlerin zu, und die alten Frauen gingen hinein. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, es heißt er sei einer von den Rebellen in den Bergen aber ist er denn von hier? es sieht nicht so aus, die Frucht deines Leibes, Jesus, mal sehen was die Polizei sagt ha!, bitte für uns Sünder, ich habe gehört er ist sehr blond und sehr kräftig gebaut aber ganz häßlich die Nase und alles andere wie der Teufel persönlich klar daß er Kommunist war, Amen, Amen, Vater unser, der Du bist im... Das Dienstmädchen im Haus der Schwestern Alberti flüsterte dem vom Laden, nachdem sie ein Pfund Kaffee verlangt hatte, lange ins Ohr. Bis dahin hatte Serafín bereits zwei Tortillas aus zwei Eiern mit zwei halbreifen in Erdnußöl schwimmenden Bananen gegessen. Ñingo, der außer Ladeninhaber auch noch Koch und Laufbursche ist, ging zu ihm und wischte den Tisch ab, so als wollte er ihn blitzblank polieren. Ist der Sohn von Don Alonso endlich aufgetaucht? Ja, er ist in die Hauptstadt gegangen, um Arbeit zu suchen. 73

Er hat seiner Mutter geschrieben. Er lebt! Hat er sie bekommen, die Arbeit? Er sagt, daß es auch da schwierig ist. Er wird weiter protestieren, der Arme. Willst du noch was? Heute ist hier wenig los, oder? Genehmigen wir uns einen Milchkaffee. Die drei Polizisten gingen frühstücken. Einer von ihnen, dessen graues Hemd schon fast weiß war, pfiff den Jaleo eines Merengue, von dem nur er sagen könnte, welcher es ist. Der andere näherte sich dem, der vor ihm ging, als wollte er ihn ins Ohr beißen. Und wenn wir sagen, es war ein Soldat? Wie könnten wir das der Regierung erklären? Ganz einfach, mein Lieber, ganz einfach. Und die drei pfiffen den Jaleo des Merengue, von dem nur sie sagen könnten, welcher es ist. Sie betraten den Laden und begrüßten den Besitzer und Serafín, der schwitzte und erleichtert aufatmete. Der Sohn von Pérez war hereingekommen, um eine Schachtel Zigaretten zu kaufen, Haß erfüllte ihn, er spuckte auf den Boden und rannte fast zu dem Grundstück, wo Julias Mann die Kühe weiden läßt (alle beschweren sich wegen des Gestanks nach Mist, aber ihm gehört mehr als das halbe Dorf). Dort warteten drei junge Leute auf ihn. Hast du ihn gesehen? Ich trau mich nicht hinzugehen, sie überwachen mich. Wer kann das sein? Was er wohl getan hat? Ich habe ihn von weitem gesehen; es besteht kein Zweifel, er ist wirklich tot. Fast so tot wie wir. Nur daß er verfault und wir nicht. Wir verfaulen auch, man merkt es nur nicht! Ob er aus einem Dorf flußaufwärts ist? Sehr wahrscheinlich. Wie lange werden wir uns noch in unserer eigenen Scheiße 74

herumwälzen! Sein Tod: eine Perle; wir: Säue, Perle-Säue, Säue-Perlen. Vielleicht hat er sich nur umgebracht. Unsinn! Vielleicht ist es das, was wir tun sollten. Und die Flugblätter? Die haben sie immer noch nicht fertig, die sind ganz schön unzuverlässig. Ist der Tote nicht vielleicht einer von denen, die mit Don Alonsos Sohn zu den Aufständischen gingen? Möglich. Es heißt, daß sie mit den Bauern nicht klar gekommen sind. Mit denen im Dorf auch nicht, verdammt noch mal! Der Ministrant, der Jüngste der Montolios, der, um seinen Weg abzukürzen, über das Grundstück kam, fuhr zusammen, als er die Gruppe sah, und machte sich schnellstens aus dem Staub, er rannte wie vom Teufel besessen durch die Straßen, und ohne diesen draußen zu lassen, rannte er hilfesuchend zum Priester vor dem Altar. Trotz der Messe, der Rosenkranz ging weiter: Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, und weißt du daß Manuela ihren Mann betrügt jedesmal wenn er wegen Geschäften unterwegs ist? das ist alt meine Liebe es heißt daß jetzt Serafín dran ist weil der Sohn von Pérez ihr wegen der Tochter von Núñez den Laufpaß gegeben hat sie treffen sich nachts in dem Häuschen nahe bei der Brücke Tercer Misterio. Und der Meßdiener, jetzt nicht mehr außer Atem, nutzte den Moment, als der Priester zur Kanzel schritt, um ihm ein Geheimnis anzuvertrauen; und dieser, der schon das Treppchen hochstieg, antwortete, ohne sich umzudrehen und mit zusammengekniffenem Mund: Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Seh Körper zeigte die Spuren der Jugend 75

Obwohl es möglich ist, daß sie schon hinter ihm lag Den Mund halb geöffnet Zähne gleichmäßig und weiß Gleichsam ein Strahlen in den Augen Ein Leuchten Etwas von Protest in der Miene Im Trockenen jetzt der Kopf Die Stirn weit Noch lebendig das Haar Das Wasser vergessend Ganz sanft durchwühlt Mit einer rötlichen Färbung Wie von Kohle in der Nacht Die verglüht Man könnte erahnen Obwohl er nun ruhte War er nicht glücklich gestorben Als Don Francisco und Don Olegario sich fragten, wer der Tote sein konnte und wer ihn warum umgebracht hatte; als die Polizisten ihr Frühstück beendeten und Serafín von der Tür des Ladens auf die Straße sah; als die Messe zu Ende ging; als die jungen Leute vom Grundstück nichts mehr zu bereden hatten; als die Stille aus Fenstern und Türen zu bersten drohte, da liefen die Kinder durch die Straße und sangen nach der Melodie von »Zwei und zwei«: »Ein Toter liegt im Fluß, morderimordera; ein Toter liegt im Fluß, morderalalalala.« Auf einmal kam Leben ins Dorf: Alle traten mit erstaunten Gesichtern auf die Straße, redeten, machten sich auf den Weg zum Fluß, der Bürgermeister vorneweg, die Polizisten gleich dahinter und in der Menge Don Alonso und seine Frau, Señor Montolío (von dem böse Zungen behaupten, daß die Fünfzehnjährige, die die alte Margarita großzieht, seine Tochter und die einer Schwester Margaritas ist, die an Tuber76

kulose und ledig gestorben war, aber Genaues weiß man nicht), Don Olegario, Don Francisco, die Schwestern Alberti, Fiquito, die Pérez, die Concepcións, die Frauen Mordán (Mutter und Tochter, denn der Vater ist gelähmt), schließlich das ganze Dorf. Die aus der Kirche mußten sich beeilen, um den Zug einzuholen, der Priester trug einen Teil seines Meßgewandes, und der Meßdiener hatte sich die Soutane um die Hüften geknotet. Sie kamen an. Kennt ihn jemand? Don Alonso und seine Frau lächelten erleichtert beim Anblick des Toten. Ein langes Schweigen. Der Meßdiener, der sich verspätet hatte, sagte: Oh Gott, war das ein schöner Mann. Julias Mann schimpfte sie aus, leise, weil sie den Sohn nicht ermahnt hatte, vom Fluß wegzubleiben; sie aber meinte, leise, daß es so besser sei, denn Kinder sind unverdächtig. Holen wir ihn nun raus? Es wäre gut, ihn zu fotografieren, bevor wir ihn hochheben. Das sagte Pedro, der Anwalt, aber der Vorschlag kam nicht an, denn der Fotograf erscheint nie. Es wurde erneut still, Serafín beobachtete Manuela, die den Kopf gesenkt hielt, die Alten beobachteten beide, der Sohn von Pérez betrachtete diese mit einem spöttischen Lächeln in den Augen und verzogenem Mund, alle verhielten sich so, als hätte gerade die Erde gebebt, Don Francisco trocknete sich den Schweiß, ohne daß es heiß gewesen wäre, Doña Venanda klagte über ihre Hühneraugen und Fiquito, der mit Würde die Schnäpse ertrug, sagte: Er ist bestimmt aus einem andern Dorf. So ein Pech: hier zu stranden, um unsere Ruhe zu stören. Und der Ertrunkene erhob sich Und ging in den Fluß Bis das Wasser ihm zum Hals reichte Dann wandte er sich mit vorwurfsvollem Blick um 77

Es konnte auch einfach nur Traurigkeit sein Er schwamm ein Stück Und ließ sich von den Fluten bedecken Das letzte was man sah War seine verzweifelte Hand Als sagte sie Nochmals Adiós Der Sohn von Pérez und der Sohn von Julia sagten, daß sie ihn um Hilfe schreien hörten, als die Strömung ihn forttrug. Deutsch von Ilona Groß und Gabi Müller

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Miguel Alfonseca

Heute nacht geht die Welt unter Für Piedad »Heute nacht geht die Welt unter.« Ich fragte mich, ob es wohl an dieser überraschenden Form der Sonne lag, daß du das sagtest. Denn nur jemand, der sehr verzweifelt ist, kommt auf solch einen absurden Satz. Wenn du in dem spöttischen Ton gesprochen hättest, in dem du sonst die Dinge angreifst, die stören und dir weh tun, wäre ich nicht weiter beunruhigt gewesen. Was mir Angst machte, war vielmehr die Ferne deines Blicks, während diese Worte, viel zu gelassen, hervorquollen, so als wollten sie sich direkt aus deinen Gedanken, ohne den Weg über den Mund zu nehmen, in die Luft ergießen. Sie waren einfach da und rissen ein Loch in die Stille des Spätnachmittags, verloren sich in der Zeit. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, als erlebten wir gemeinsam etwas nicht eigentlich Wirkliches, an einem Nachmittag, an dem wir zusammen waren, weil wir zusammen sein wollten. Ich sah ebenfalls hin, und es gefiel mir ganz und gar nicht. Nie zuvor war die Sonne so rot gewesen, so in Blut verkehrt. Die Dämmerung kam mir nicht, wie sonst, wie eine Blüte, sondern wie eine Drohung vor. Deshalb erschreckte es mich, daß du sagtest heute nacht geht die Welt unter, denn der Himmel fraß diesen Feuerschädel allmählich auf, und die Berge standen steif hinter den Häusern, eingehüllt von der im Abend ergrauenden Ferne. Du hieltest den Wagen an, und wir stiegen aus. Alles war Himmel, grenzenlos, silbrig. Ich lehnte mich ein dich, wagte nicht zu sprechen und sah zu, wie die Sonne langsam zerstört wurde. 79

»Es sieht aus, als ob der Himmel ein ihr nagt.« »Ja, Pablo.« »Er reißt Stücke aus ihr heraus wie eine kratzende Kralle. Der Himmel ist eine große Kralle.« Der Wind verfing sich im Gras und umspielte Sandras Hals, verschleierte ihre braunen Augen und blähte ihre weiße Bluse auf, preßte den blauen Rode an ihre Oberschenkel. Aber du sahst nur den Himmel und die Berge, schwarz und düster, an dem Platz, wo zwei breite Straßen sich zu einem Kreis verschlangen und dann wieder auseinander strebten. Dir war, als könnten im nächsten Augenblick Sandra, du selbst, die Stadt, als könnte alles unter einem großen Erdrutsch verschwinden, der diese kalte, erdrückende Landschaft auslöschte. »Ich habe Angst, Pablo.« Auch du hattest plötzlich Angst, vielleicht weil diese Flammenwundenkugel etwas Schreckliches prophezeite, das vielleicht alles verändern könnte, auch dich. Und dich erfaßte noch größere Angst, als du merktest, daß du den ersten Satz ausgesprochen hattest, ohne nachzudenken, rein mechanisch, aus der Vorahnung heraus, die zuweilen Ereignisse in der Zukunft anzukündigen scheint - oder einfach Ereignisse in der Zeit, die einen immer weiter verstrickt, bis man schließlich jede klare Vorstellung von Tagen und Jahren verliert und, was noch schlimmer ist, von dem, was geschieht, geschehen wird und jemals geschah. Du warst in düsterer Stimmung aufgestanden, denn es war der 24. April 1968. Der Morgen erschien dir abscheulich, schon als du auf die Straße hinaustratst und feststelltest, daß das Leben genauso war wie jeden Tag. Als wären nicht heute vor drei Jahren so viele umgekommen, in diesem Krieg, den der Frühling gebracht hatte! Du wolltest zu dem kleinen verschlafenen Friedhof im Zentrum der Stadt, vor dem die Autos hupen und die Passanten an alles mögliche denken: ans Büro, an den Monatslohn, ans Feiern, ans Bett. 80

Du sahst diese Niederlage kommen, in jenen Tagen, als du, erschöpft von der gleißenden, schrecklichen Sommersonne, voller Zorn die glänzende Limousine durch die von Schützengräben und stummen Gewehren starrende Stadt fahren sahst, ohne eine andere Möglichkeit, als abzuwarten. Darum kam der Mann im tadellosen weißen Anzug mit dem verächtlichen Zug um den Mund: ZUM VER-HANDELN. Erst verneinte er, dann handelte die CIA, setzte die Daumenschrauben an, denn der Krieg war zur Falle geworden. Nicolás Guillén sagt: »Ein Blues weint, unter Tränen der Musik, an einem zarten Morgen«, und genauso ist es, nur weinst hier du, unter Tränen, an einem von Enttäuschimg schweren Morgen. Und wenn Musik erklingt, dann ist es kein Blues, sondern ein Merengue, den man einfach so tanzt, weil »La Miseria« einen prickelnden Rhythmus hat und man bei Desiderio Arias nur an Trommel und Akkordeon denkt und daran, wie gut es tut, nach einer Reihe Boleros etwas Schnelles zu tanzen. Die alte Verfassimg kommt nicht wieder, und du redest immer noch von den Begräbnissen unter den Bäumen, unter dem Himmel und unter der Sonne - als ob es dir lieber gewesen wäre, du hättest den Krieg nicht überlebt und suchst nach den gewundenen Gassen, wenn die Stadt in diesem Sterbelicht versinkt, das mit dem Tag heraufzieht. »Gib mir eine Zigarette, meine sind alle.« Ich löste mich von dir, Pablo, und sah die Umrisse deiner Gestalt vor dem dämmernden Himmel. Auch du warst grau. Der Schatten kroch herauf und begann dich aufzufressen, ließ kaum noch deine Gesichtszüge erkennen. Der Wind frischte auf, ließ seine tausendjährigen Finger spielen. Das Gras streifte deine Hosenbeine. Das Licht war nur noch ganz schwach, gerade eben ein ergrauender, zu Himmel zerfließender Punkt. Du schienst mit der Sonne zu vergehen, und dieser Augenblick war für mich zeitlos. Du warst ein Gedanke, Sonnengedanke, Himmelgedanke. Und die Stille in diesem Augenblick eine ganze Schöpfung. Ich fühlte mich 81

überflüssig, als wärst du in eine Öffnung getreten, die in ein anderes, nur dir eigenes Universum führt, und ich rührte mich nicht, denn wenn du in Gedanken versunken bist, wage ich nicht, diese eigenartige Verbindung zu unterbrechen, die du zu den Dingen einer anderen Zeit, zu Wänden, Menschen, die ich nicht sehe, Planeten oder was weiß ich herzustellen scheinst. Dann habe ich Angst. Ich habe das Gefühl, daß ich dich nicht kenne und daß du irgendwann plötzlich aus meinem Leben verschwinden wirst. Ich mochte diesen Augenblick nicht länger ertragen. Gerade wollte ich sagen komm, gehen wir, aber da rührtest du dich schon, und wir gingen zurück zum Wagen. Wir fuhren die von riesigen Bäumen mit schwebenden roten Blüten überschattete Straße hinunter und setzten uns auf die Kaimauer, mit dem Rücken zu den dir verhaßten Restaurants, verschlungen vom Meer und seiner riesigen, vogelgleichen Dämmerimg. Du bliebst weiterhin stumm. Aber dann sprachst du davon, daß die Zeit für dich an Gewicht und Bedeutimg verliert, daß ein Augenblick eine Stadt oder eine Epoche, ja sogar einen Menschen verändern kann. Ich sehnte mich nach dem Tag vorher zurück, nach Mildreds Party, auch wenn unser Lachen bitter gewesen war. Zumindest hätte ich nicht diese Angst, die deine Worte in mir hervorriefen. »Heute abend gehen wir ins Kino, vielleicht lenkt uns das ab.« »Von mir aus, Pablo.« Als du mich zu Hause abgesetzt hattest, sah ich dem Wagen nach, bis er oben an der breiten Straße, die zum Armenviertel hinaufführt, verschwand. Mit einer sanften Brise zog die Nacht herauf, lebendig, vergänglich und doch ewig. Sie legte sich auf deinen Wagen und bildete über der Straße einen Tunnel, durch den du hinauffuhrst, und mir kam es so vor, als würdest auch du vom Himmel verschlungen. Mich schauderte. Ich ging ins Haus und nahm mir ein Buch, legte 82

es gleich wieder weg, griff nach der Gitarre, bereit zu warten, bis es acht Uhr wäre, bis der Wagen käme, mein Liebster, und das Kino, mein Liebster, und die Nacht, mein Liebster, und dann, was dann? Du lagst auf dem Bett in deinem kleinen, mit Kleidungsstücken vollgestopften Zimmer, dachtest an die enge, dumpfe Zeit, die mit dem Staatsstreich von 1963 begonnen hatte. Dein Blick wanderte über die weiße, abblätternde Decke; da hing das Leben, wie ein Stockfleck oder wie hinter einer Grimasse versteckte Jahre, von all der Heuchelei erblindete Tage. Du ruhtest aus von deinem eigenen Leben und hättest dich wieder einmal dem Thema Sinnlosigkeit gewidmet, hättest du nicht plötzlich lautes Geschrei gehört. Du achtetest nicht weiter darauf, weil du dachtest, das sei wohl nur wieder einmal ein Tumult wegen der Wasserknappheit, und die Leute in den schmutzigen Vierteln öffneten die Hydranten, aber der Lärm schwoll an, und keine fünf Minuten später stürmte Carmelo, der eifrige, weibische Dienstbote, herein, und fast rennt er deine Mutter um. »Die Regierung wurde gestürzt!« ' »Was?« Du sprangst auf und liefst zu ihm. »Wer sagt das?« »Ich habe es eben im Radio gehört, im Sender der Revolutionspartei. Jetzt kommt Bosch bestimmt zurück!« Er jubelte vor Freude und lief auf die Straße hinaus. Ungläubig strecktest du deinen Kopf aus dem Fenster. Auf dem Bürgersteig standen viele Menschen und redeten aufgeregt durcheinander. Dir wurde klar, daß da etwas ins Rollen kam und daß viele von dem Räderwerk irgendeines obskuren Apparates erfaßt werden würden, der unsichtbar über einem schwebt, bis ein Schlachtruf im Frühling ihn einem entdeckt. Du liefst winkend und lachend durch das Armenviertel und mischtest dich unter die Leute, die hier offensichtlich ein Freudenfest feierten. Plötzlich war alles anders. Die Luft füllte sich mit einem schweren sauren Geschmack, und die Sonne leuchtete ir83

gendwie langsam, als ob ihr Licht über der Stadt stehenblieb und sie verdunkelte, Köpfe hervorhob, Straßen und Ecken hart nachzeichnete, einen alten Schuh im Schritt innehalten oder ein verblichenes Kleid über mageren Schultern und Brüsten erstarren ließ. Gleich darauf veränderte sich die Sonne, jetzt war sie ein lauerndes Auge, als wollte sie diesen Moment einschließen, in einer realen Welt, in der viele Menschen nicht mehr sprechen, nicht mehr sehen, sich selbst nicht mehr spüren würden. In allen Häusern drehte man am Radio, und mitten in all dem Durcheinander, unter den unermüdlichen Stimmen, war der staatliche Rundfunk zu hören: 24. APRIL - DIE REGIERUNG LAG PRAKTISCH AM BODEN, UND DAS VOLK WAR FREI UND SOLLTE AUF DIE STRASSE GEHEN. Die Stadt erbebte. Die Worte gingen immer schneller von Mund zu Mund. Die Regierung lag praktischamboden, regierunglagamboden, und das Volk war frei, volkwarfrei, frei, freiii. Dein Nachbar, der farbige Bäcker mit den sieben Kindern, holte eine Flasche aus dem Laden ein der Ecke und kam auf dich zu. »Komm, wir trinken einen!« Und du trankst und lachtest ihm zu. Du sahst auf die Uhr: kurz nach zwei. Noch zu früh, zuviel Sonne, zuviel Himmel. Du wünschtest dir mit aller Kraft die Dunkelheit herbei. Du hattest Angst davor, daß..., Angst vor, du weißt nicht, vor was, vielleicht vor der Sonne. Darum brach für dich auch nicht alles zusammen, als nach einer Weile im Radio eine lange Stille eintrat und dann eine militärische Stimme bellte: Lauter Lügen, Machenschaften einiger Nachrichtensprecher, alles Kommunisten und Schwule etc. etc. Viele Gestalten schlichen in ihre Häuser, getrieben von der unheilvollen Nachmittagssonne. Dennoch liefen die Gerüchte weiter, und du blicktest hartnäckig zum Himmel, um herauszufinden, was wirklich los war. Erst jetzt spürtest du den Wind, heiß und rauh, und betrachtetest haßerfüllt das Licht, seinen bleiernen Schein, der die Mauern und die Gesichter verzerrte, bis sie zu einem verschwommenen Bild erstarrten, an das du 84

dich sehr viel später erinnern solltest, als Häuser, Gräber und die Küsse des blonden Mädchens, das dich liebt, längst vergangen waren. Du standest vor deiner Haustür und sahst die Panzer die Straße des 30. März heraufkommen. Die riesigen stählernen Kröten rollten unter einem weißlichen Himmel, in dessen Mitte die Sonne als Feuerball stand, und du sagtest: »Heute nacht geht die Welt unter.« Deine Mutter stand neben dir, angsterfüllt, und sah dich verwundert an. Ihr gefielen diese viel zu gelassenen Worte nicht, die sich aus deinen Gedanken in die Luft ergossen, ein Loch in die Stille des Spätnachmittags rissen und sich in der Zeit verloren. Sie lehnte sich an dich, schlang ihre Arme um dich, als ob sie dich auf diese Weise beschützen könnte. Wie aus der Ferne sahst du sie an, küßtest ihr blondes Haar und wandtest deinen Blick wieder der Dämmerung zu. »Gib mir eine Zigarette, meine sind alle.« Sie ging ins Haus und kam mit einer brennenden Zigarette in der Hand wieder heraus, du nahmst sie, sahst tief in ihre braunen Augen. Dort keimte das Entsetzen, denn die Sonne war ihr noch nie so in Blut verkehrt erschienen, so sehr eine Drohung, die vom Himmel herabhing. »Es ist der Himmel: Er reißt Stücke aus ihr heraus wie eine kratzende Kralle. Der Himmel ist eine Kralle.« Sie mochte diesen Augenblick nicht länger ertragen und wollte gerade sagen komm, wir gehen hinein, aber da rührtest du dich schon, sagtest noch einmal heute nacht geht die Welt unter und ließest dich von ihrer Angst mitreißen. Deshalb sahst du dir dann, als es Abend wurde, an, was von der Regierung im Fernsehen gesagt wurde. Die Angst wanderte von den Augen in die Kehle hinunter und ließ die Stimme brüchig werden: Zwei Militäreinheiten hätten sich erhoben, und ihnen werde, um sich zu ergeben, eine Frist bis 6 Uhr morgens eingeräumt, andernfalls würden sie bombardiert, aber alles sei ruhig, man habe eine Ausgangssperre verhängt, 85

um Ausschreitungen zu verhindern, die Regierung sei stärker. Niemals war dir der Fernsehapparat so unwirklich, so unheilbringend erschienen. Der Bildschirm machte alles leblos. Du hättest die Angst gern berührt, gerochen, aber die Worte waren schon zu Ende, und Hanna-Barbera-Cartoons legten los mit ihrem Rummel, um die leeren Zuschauerränge zu unterhalten. Die Leute in den Armenvierteln standen am Straßenrand, tranken Kaffee und unterhielten sich leise, aber als Gruppen von Jugendlichen die ersten Straßenlaternen zerschmetterten, verschwanden einige Frauen in ihren Häusern, andere blieben vor der Tür stehen, während die Kinder vor dem Fernseher einen alten Spielfilm nach dem anderen über sich ergehen ließen, in denen unter einem verblichenen Himmel, untermalt von einem Requiem von quäkenden Tangos, Rancheras und alten spanischen Schnulzen, zahlreiche Kadaver mit Pomade im Haar sich vor Liebe verzehrten. Schon loderten an den Straßenecken Feuer aus angezündeten Autoreifen, und junge Leute skandierten, gestählt von dem rötlichen Schein: »Verfassimg! Verfassimg!« Du hattest die halbe Nacht hindurch an einem der Feuer gestanden und geschrien, umringt von einer immer aggressiver werdenden Gruppe, ohne daß die Polizeifahrzeuge gewagt hätten, euch auseinanderzutreiben. Als die ersten Salven krachten, rannten alle los, um zu sehen, wo geschossen wurde, aber dann tauchte plötzlich ein Wagen auf, aus dem über Lautsprecher Durchsagen kamen und Waffen verteilt wurden. Immer noch züngelten Flammen aus den Autoreifen, als du dich, eingekeilt und mit einem Gewehr in der Hand, in einem Volkswagen wiederfandest, auf dem Weg in dein Schicksal. Der Fahrer erklärte mit Nachdruck: »Wir müssen den Sender zurückerobern. Wir fahren in die Straße hinter dem Gebäude, und dann greifen wir an. Sie haben schon die ersten Soldaten in die Stadt gebracht und gehen in Stellung. Wenn die Regierung bombardiert, trifft sie 86

nur leere Kasernen. Es lebe die Verfassung von 63! Vorwärts!« Die Nacht wurde plötzlich klein, sie begann sich zusammenzuziehen wie eine Amöbe, die etwas umschließt und immer weniger Raum zur Flucht offenläßt. Für einen Augenblick vergaßest du, daß du da in einem dunklen Auto zustimmen mit anderen bewaffneten Männern auf dem Weg zu einem Angriff warst, bei dem es um Leben und Tod ging. Du dachtest nur: Frühling. Die Nacht drang durch die Wagenfenster. Du dachtest nur Zeit, Tod, Leben, nie wird man diesen 24. April 1965 vergessen. Der Wagen glitt durch die verlassene Dunkelheit der Straßen. Er hielt in der Nähe des von Panzern schwer bewachten hohen Gebäudes. Bremsen und alles raus. Die Kommandos, das Zögern bei manchen, das Gewehr fest im Griff, und die Nacht klebt sich an die Gesichter und an die Rippen, legt sich sogar auf die Atmung, und ihr zwei geht linksrum und wir drei rechtsrum, Blei und Vorsicht und Nacht, und morgen ist, bist du... Du dachtest nicht mehr, wolltest nicht. Das einzig Wichtige war laufen, egal, wohin der Weg führte, führen mußte, und als die Nacht zu einem wilden Tier wurde, das über euren Köpfen brüllte, und alles schrie, rannte, da begriffst du, daß du ganz nah dran warst, dran, und es gab kein Zurück. Du drücktest ab. Die Nacht bäumte sich auf, getroffen. Die Kugeln fanden dich. Du fielst nicht gleich, hieltest dir deinen verbrennenden Bauch, fühltest das Blut und die Eingeweide zwischen deinen Fingern, empfandest keinen Schmerz, du sahst die Straßenlaterne oben in der Dunkelheit, an einem hohen Mast, und sie sah aus wie die Sonne am späten Nachmittag. Du brachst zusammen, den Rücken an einer Wand, und dachtest plötzlich nur noch an den einen Satz, den du nachmittags in Gegenwart deiner Mutter gesagt hattest. Du begriffst, warum du ihn gesagt hattest. Die Welt ging wirklich unter. Du konntest kaum noch etwas sehen, ein ungeheurer Schwindel zog dich wie eine Spirale in eine un87

erklärliche Finsternis hinab. Deshalb hatte deine Mutter Angst gehabt, als sie deine Worte hörte. Aber bevor du dich endgültig verlorst, als du begannst, dich nicht mehr zu spüren, wimdertest du dich über jenes Mädchen an deiner Seite, das dich zärtlich umarmte. Die Landschaft war grau, und das Mädchen blickte dich angsterfüllt an, du aber sahst zu, wie der Himmel die rote Sonne auffraß, und sagtest: »Heute nacht geht die Welt unter«, während das Gras deine Hosenbeine streifte und sie dir eine Zigarette aus deinem Wagen holte, an einem stillen, zeitlosen Nachmittag. Juli 1968 Deutsch von Martin Funk und Christiane Nord

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Armando Almänzar Rodriguez Der gelbe Sturm Straßen? Nein, höchstens Abstände, Zwischenräume, Lücken, die zwischen den Hütten auftauchten, zwischen den gelblichen Behausungen aus krummen Holzlatten, mit einem Dach aus getrockneten Palmblättern und einem Boden aus klumpiger Erde, die vom Lauf der Zeit und von Tausenden barfüßiger Tritte hart geworden war. Nein, natürlich waren das keine Straßen, diese kahlen, trockenen, rissigen freien Stellen, die unter dem weißgoldenen Gleißen flimmerten, den Mund vor Durst aufsperrten und nur Staub atmeten. Als das erste Auto am Rand der Landstraße hielt und die Hupe ertönen ließ, tat sich im Ort nichts, nur eben so etwas wie ein merkwürdiges Echo, ein unerhörtes Widerhallen, das auf der gegenüberliegenden Seite von den nahen Hängen der Sierra abprallte und zurückrollte, tausendfach durchbohrt von den spitzen Stacheln der Kakteen, Raquetas, Bayahondas und Tunas, gestochen von den Cayucos, der Guazäbara, verbrannt von den Guaobäumen, dem Fogarat£ und der Pringamosa und von jener Duftakazienblüte, die die Haitianer »Sacasi6« nennen, bis es auf der Oberfläche des großen Salzsees anlangte und sich dort voller Erleichterung auflöste, nachdem es noch einmal zwischen den Hütten hindurchgekommen war, ohne die glühende Stille des Augenblicks auch nur im geringsten gestört zu haben. Das erste Auto war schwarz, schwarz und glänzend, auch wenn es jetzt von den Reifen bis zu den Scheiben und den weichen Ledersitzen sumpfiggelb aussah, denn der safranfarbene, feine und kaum spürbare Staub nahm keinerlei 89

Rücksicht auf geschlossene Scheiben oder air condition und fand sich so gleichermaßen auf den getönten Brillen der fettleibigen Herren, die lässig auf dem Rücksitz lehnten, wie auf den spitzen Stacheln, den Palmblättern, den verbrannten Steinen, den dicken, hervorstehenden Bauchnabeln oder auf der gespannten Haut, wo er die Zeichnimg der Rippen schattierte. Und er schwebte unablässig in der Luft, in der Sonne glitzernd, ein leichter, unendlich feiner, durchsichtiger Schleier, der alles in seine erstickende goldene Liebkosung hüllte. Ein dicker Mann stieg aus dem Wagen und reckte Arme und Beine, wobei er mit seinem Taschentuch versuchte, die ockerfarbene Schicht abzuklopfen. Diese hüpfte unter den seidenen Schlägen und wirbelte umher, vermischte sich mit der dichten Staubwolke und setzte sich wieder ganz sacht, so als sei tatsächlich nichts geschehen, auf das Dunkelblau des Anzugs und seine weißen Nadelstreifen, die durch goldene Gaze kaum noch zu erkennen waren. Nach dem Dicken stiegen noch zwei aus, die genauso dickbäuchig waren, genauso nach Atem rangen und denen schon dicke Schweißtropfen herunterrannen, als sie kaum dem gekühlten Refugium aus glänzendem Metall entstiegen waren, in Schweiß gebadet und hochgelb, schwerfällig und vom Feuer der Sonne gepeinigt. Die drei sahen durch Staub und Schweiß zu den Hütten hinüber, aber in diesen geschah nichts, alles blieb unverändert: Die Sonne röstete und zermürbte Erde, Stacheln, Holzlatten und Palmblätter unterschiedslos und ohne Erbarmen. In der nahen Biegung der Landstraße tauchten weitere Autos auf, schwarz und glänzend wie das erste, gelb und rauchend wie das erste, und der dicke Anführer der Invasion gab seinem Fahrer, der bis zu diesem Augenblick noch in seinem Sitz gelehnt hatte, ein Zeichen. Dieser hupte ohrenbetäubend und stieg dann aus, die Arme mit Paketen beladen. 90

Die anderen Autos parkten in korrekter Formation hinter dem ersten, und es erschien eine Flut strohgelber Anzüge, gefolgt von noch mehr Fahrern mit von Paketen lahmen Armen. Und als die Gruppe vollzählig war, brach sie langsam aber stetig den Widerstand des goldenen Schleiers und erreichte die ausgebrannte Mitte des Dorfes. Der erste Dicke aus dem ersten Auto verlangte, lauthals brüllend wie ein Wahnsinniger, nach den Dorfbewohnern. In der türlosen Öffnung einer der Hütten zeigte sich, zitronengelb, ein abgemagertes kleines Mädchen mit aufgeblähtem Bauch und mit ausgeblichenem roten Haar, das zum Scheitel hin heller wurde. Hinter ihr ein Hahn mit gerupftem Hals und dahinter ein Mann unbestimmten Alters und von undefinierbarer Hautfarbe, der den Hahn einfing und sich vor der beanzugten Gruppe wiederfand; sein zielloser Blick schwebte durch den Staub, seine Finger streichelten die spärlichen Federn des Hahns. »Einen wunderschönen guten Tag, Seitor. Sind Sie der Bürgermeister?« Eine ganz leichte Kopfbewegung, ein Gackern des Hahns, eine eher erahnbare als klar erkennbare Verneinung, und die Hand glitt von den Federn zum Kraushaar eines Jimgen, der jetzt auch aus der Hütte hervorkam und mit dem kleinen Mädchen ein perfektes Paar runder Bäuche abgab. Er war nackt und aschfarben wie sie, abwesend und aschfarben wie sie und der Mann. »Na schön, wenn Sie nicht der Dorfvorsteher sind, dann sagen Sie mir, wer es ist oder wo ich ihn finden kann!« Daß er nicht der Dorfvorsteher war, war genauso klar wie der Umstand, daß er ihn nicht zu ihm bringen, ja ihm nicht einmal den Namen eines solchen nennen konnte, weil es dort schlicht und ergreifend keinen gab und auch niemand je von einer derartigen Person gehört hatte. Dies konnte ihm schließlich ein anderer Mann sagen, der, nackt von der Hüfte an aufwärts, von irgendwo herkam. Als sie das endlich her91

ausgefunden hatten, waren schon fast alle Dorfbewohner herbeigekommen und standen mit ihren gallsüchtigen Körpern im Kreis um die safrangelben Anzüge herum. Der goldene Staub umgab sie und schwebte zwischen ihnen hin und her, als wartete er auf etwas. »Na, im Grunde macht es nichts, wenn es keinen Bürgermeister gibt, dann sprechen wir eben mit euch, denn ihr seid das Volk, ihr seid diejenigen, die mit ihrer Stimme entscheiden, denn das ist eure Macht, die Macht die euch die Demokratie verleiht: die Wahl, die geheime und freie Wahl. Mit eurer Stimme wählt ihr eure Regierenden, mit eurer Stimme werdet ihr euren künftigen Präsidenten wählen, der euch jetzt die Ehre erweisen wird, persönlich zu euch zu sprechen.« Und als der Dickste, der aus dem letzten Auto gestiegen war, an den inneren Rand des gelben Kreises trat, klatschten sämtliche Anzüge im Gleichklang und jubelten ihm zu, wobei sie den fahlen Staub untereinander austauschten, den Hahn mit dem gerupften Hals in Aufruhr versetzten und das Wunder vollbrachten, den lahmen räudigen Köter, der nur noch Haut und Knochen war, von seinem schattigen Plätzchen an einer verwahrlosten Feuerstelle aus drei Steinen und uralter Asche zu vertreiben; er winselte ein paar Mal, bevor er sich davonmachte. »Bürger von *Vengan a Ver!« In dem Kreis der Dorfbewohner rührte sich eine Frau mit ockerfarbenem aufgesteckten Haar, indem sie ihr wenige Monate altes Kind, das sie auf ihrem dicken schwangeren Bauch abstützte, auf den anderen Arm nahm und dann dem kleinen Mädchen zu ihrer Rechten einen Stoß gab, um das geräuschvolle Schnauben zu unterbrechen, mit dem es seine Nasenlöcher freimachte und das die geflügelte Inspiration des Kandidaten zu beenden drohte, der unterdessen Kakteen und Raquetas mit seinem Wort erbeben ließ. Von Zeit zu Zeit * dt.: Kommt und seht 92

tauschten die gelblichen Anzüge durch ihr Klatschen Staub aus, ließen ihren Volksredner hochleben und ermunterten die reglosen Dorfbewohner, es ihnen gleichzutun. »...und wenn mir die große Ehre zuteil wird, euer Präsident zu sein, werdet ihr sehen, wie die ureigentlichen Quellen des Fortschritts sich in Sturzbächen über euch ergießen und eure sehnlichsten Wünsche und Hoffnungen übertreffen werden, und die unaufhaltsame Flut der Zivilisation wird mit ihrem Mantel der Glückseligkeit dieses Dorf und seine bescheidenen, aber guten, redlichen und großmütigen Menschen umhüllen.« Ganz leise drang das krampfartige Weinen des Kindes in das Loch der Stille, die für den Bruchteil einer Sekunde zwischen dem Versprechen und seiner geklatschten Entgegnimg schwang. Eine Frau wich zurück zu den Hütten und hinterließ eine Lücke im Kreis, die der glitzernde Staub sanft zu füllen begann. Ein nackter kleiner Junge stieß gegen eine rostige Konservenbüchse, und das metallene Geräusch brachte den beanzugten Redner zum Stottern. Die unzähligen Blicke, die auf den kühnen Störenfried fielen, lähmten ihn, und da stand er nun, gelb und erstarrt, mit einem Fuß über dem anderen, wobei sein Blick krampfhaft seinen vorgewölbten Bauchnabel suchte. »Bestimmt wartet ihr noch immer darauf, daß sich die Versprechen des vorherigen Kandidaten erfüllen. Aber keine Sorge, die Stunde der Wahrheit ist für alle unsere Mitbürger gekommen. Männer und Frauen von Vengan a Ver, ich verspreche euch feierlich...« Just in diesem feierlichen Moment verlor ein Kind, das etwas älter als ein Jahr war, das Gleichgewicht, als es versuchte, wieder seine staubige und runzlige Brustwarze zu greifen, und landete auf allen Vieren neben der geraden Linie der vormals schwarzen Hose des Volksredners, an die es sich klammerte, um aufzustehen. Der im Anzug schüttelte zunächst überrascht das Bein, und als er dann in einer Atem93

pause seiner donnernden Rede das schwache Weinen zu seinen Füßen vernahm, sah er nach unten und machte Anstalten, das Kind aufzuheben. Sein Lächeln war durch den Staub kupfern getönt, seine Hand schlug in nervöser Hast gegen das Hosenbein, und er murmelte: »Armer Kleiner, geh wieder zu deiner Mama!« Und noch eine schmale Lücke begann sich mit Staub zu füllen, als sich die Mutter mit ihrem Kind entfernte. »Die Zukunft gehört dem Volk, die Zukunft ist euer, Bürger von Vengan a Ver, die ihr gewissenhaft wählen werdet, weil ihr die Wahrheit kennt, und die Wahrheit wird euch frei machen!« Der erste Windstoß war zaghaft, er vermochte gerade die unendlich feinen goldenen Partikeln sanft auf den Autos, Anzügen und Knochen weiterwandern zu lassen. Die gelben Nackten betrachteten gelassen die Sonne und den rötlichen Kranz, der sie umgab, und dann sahen sie sich an. Der Mann mit dem Hahn sah auf den herabfließenden Schweiß, der über das Gesicht des dicken Redners, der sich so nach Feuchtigkeit sehnte, strömte und sein Jackett durchtränkte. Die nachfolgenden Windstöße kamen jetzt häufiger und stärker, während der Dickste aus dem letzten Auto seine einschläfernde Rede fortsetzte. Doch es war kaum eine Minute seit dem ersten Windstoß vergangen, da mußte er seinen Wortschwall vinterbrechen, um Augen, Mund und Nase mit dem schneeweiß-gelben Taschentuch zu bedecken. Er machte noch einmal den Versuch fortzufahren, aber es gelang ihm nicht, der Wind erhob sich zu einem trockenen Wirbelsturm, und das goldene Glitzern umkreiste alle mit wildem Toben. Da gab der Redner dem Dicken aus dem ersten Auto ein Zeichen, der seinerseits den Fahrern einen erstickten Befehl erteilte. Inmitten des goldenen Wirbelwindes bedeckten sich die Hütten in Sekundenschnelle mit prachtvollen Plakaten, aus denen das lächelnde, liebenswürdige Gesicht des dicken Vielredners gelb hervorsah. 94

Die Nackten standen inmitten des stürmischen, safrangelben Rummels und sahen, wie ihr Dorf von dem vervielfältigten Lächler verschlungen wurde und verschwand, und sie sahen, wie der Dicke immer schneller ging, dann regelrecht zum Auto rannte. Noch eine letzte Geste der Solidarität und des Sieges, vollzogen mit dem gleichen, nun rissig und düster gewordenen Lächeln der bunten Plakate, während er ins Auto abtauchte, gefolgt vom halben Dorf, das der Wind in Staub verwandelt hatte. Die Autos starteten, und in das tanzende, goldene Glitzern eingehüllt, fuhren sie wie auf Kommando ab. Die Stacheln wirbelten stürmisch im Staub umher, die Dorfbewohner liefen zu ihren schützenden Hütten, in der Mitte des glänzenden Kranzes rötete sich die Sonne, deren Strahlen von der schwebenden Welt verdunkelt wurden. Die wenigen Tropfen eines fernen Regengusses verdampften auf den Steinen und Palmblättern und Holzlatten, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen, der See bedeckte sich mit einer dünnen Staubschicht und wurde gleichfalls gelb. Drinnen setzte sich einer der Nackten, der jetzt noch mehr die Farbe der ihn umgebenden fahlgelben Menschheit angenommen hatte, zu der Frau und dem Kind, das weinend an der runzligen, flachen und trockenen Brust hing. »Und was passierte dann?« Der Mann legte sich auf den Strohsack, der auf dem gallsüchtigen, kranken Boden lag, und strich mit der gelben Hand sanft und ohne Hast über das Gesicht des Jungen. »Nichts weiter. Der Wind...« Deutsch von Barbara Albers und Elisabeth Kabatek

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Ramón Francisco

Der Mann im Haus »Los, verdammtes Weib! Steh auf! Mach mir 'n Wasser mit Salz!« Der Mann versetzte seiner Frau einen Stoß. Das Bett gab ein Knarren von sich, das mit einem Mal über das kleine Zimmer hereinbrach. Die Frau stand auf und tastete schwerfällig nach den Streichhölzern auf dem Tisch. Ein dumpfes Licht verbreitete sich, und der Mann wälzte sich in dem Bett, das weiterhin beharrlich knarrte. *Cristo Rey schlief. Der Winter stand vor der Tür, und die Männer des Viertels verrichteten ihr heroisches Tagewerk: das knarrende Geräusch, das sie ihrem Bett entlockten, indem sie ihren Körper darin herumwälzten, umso verzweifelter, je heftiger der Hunger gegen ihren schwachen Magen schlug. Kurz zuvor oder vielleicht in diesem selben Augenblick mochte in einer anderen dieser elenden Behausungen von Cristo Rey ein anderer Mann, ebenso liebevoll, dasselbe sagen: »Los, verdammtes Weib! Mach mir 'n Wasser mit Salz!« Und wenn Salz im Haus war, mochte er, während er versuchte, Schleif zu finden, vergessen, daß er Hunger hatte. »Hier, nimm!« Der Mann stürzte das Wasser gierig hinunter und setzte sich auf die Bettkante. Er stützte die Ellbogen auf die Beine und sah eine Weile nachdenklich in eine Ecke des Zimmers, wo zwei seiner Kinder schliefen, die Augen halbgeschlossen, die Bäuche aufgebläht gen Himmel gestreckt. »Der Teufel soll uns holen! Wie spät is denn?« »Halb eins oder eins.« * dt.: Christ-König 97

»Lolo hat vielleicht Nerven. Er is immer noch nich da.« »Er is bestimmt noch nich fertig.« »Wie denn!? Ausgerechnet heute, wo Zahltag is. Der treibt sich doch bestimmt nur mit Frevinden rum. Aber das soll er mir morgen büßen. Den schlag ich windelweich, gleich wenn ich aufgestanden bin.« Die Frau hörte, wie der Mann dem Sohn drohte, sagte aber nichts. Es war zweifellos nicht gut, einem Mann zu widersprechen, dem vor Hunger der Magen sticht. Das wußte sie. Sie setzte sich auf das Bett, um irgendetwas zu tun. Der Mann redete weiter. Sprach von der Gleichgültigkeit dieser Kinder von heute, darüber, wie egal ihnen das Elend ihrer Eltern ist. Lolo war auch so einer, natürlich. Wie war es sonst möglich, daß er nicht früher nach Hause kam, wo heute Zahltag war und Lolo genau wußte, daß er, seine Frau und die Geschwister so spät nachts noch nichts im Magen hatten? Aber morgen würde Lolo dafür büßen, das war sicher. Gleich nach dem Aufstehen würde er Lolo windelweich schlagen, damit er keine Spielchen mehr mit ihm trieb und ein für allemal begriff, wer hier der Mann im Haus war. »Lolo glaubt wohl, er kann so mit mir umspringen, weil er Geld nach Haus bringt. Der wird was erleben morgen...« Wie oft im Jahr derartiges geschah, während Cristo Rey schlief, wird man nie erfahren. Wir wissen aber, daß sich der Mann trotz allem Mühe gab. Er suchte eine Beschäftigung, aber ohne Erfolg. »Nirgendwo gibt es Arbeit, und das nutzt Lolo jetzt aus, ums mir zu zeigen, das weiß ich.« Es war tatsächlich sehr schwer, Arbeit zu finden. Er hatte es mehr als fünf Jahre versucht. So hatte Lolo die Sache in die Hand nehmen müssen. Ihm war es zu verdanken, daß es ab und zu etwas zu essen gab. Das heißt, daß man über den Hunger nicht groß reden mußte, wenn sich der Magen meldete. Die Frau stand auf. Sie füllte noch etwas Wasser in den 98

Krug auf dem Tisch und gab noch ein paar Salzkörner hinzu. Sie schwenkte den Krug eine Weile, dann trank sie den ganzen Inhalt in einem Zug aus, während sie die andere Hand zum Bauch führte. »Der Teufel soll uns holen!« wiederholte der Mann. In diesem Moment klopfte es, und die Frau stürzte wie der Blitz zur Tür, um zu öffnen. Es war tatsächlich Lolo. Seine halbschielenden Augen, seine zerzausten, staubbedeckten Haare, seine nackten, schmutzigen Füße bezeugten, wie hart der Tag gewesen war. Seine dreieinhalb Fuß Größe wuchsen ins Riesenhafte, während sich die Tür öffnete. Dann trat er in die Mitte des Zimmers, unter dem verhärteten Blick des Vaters, die Mutter mit angehaltenem Atem, und ließ seine erschöpften Jahre auf einen Stuhl fallen, der ebenfalls erbärmlich knarrte. Seine Gestalt beherrschte das Schweigen, das mit seinem eindrucksvollen Erscheinen entstand. Im Alter von zehn Jahren - wer konnte das bezweifeln? - war Lolo der Mann im Haus. »Die Leute geben nichts mehr, Mama. Das is alles, was ich heut gekriegt hab.« Er steckte die Hand in die Hosentasche und holte ein paar Münzen heraus, die er seiner Mutter gab. Sie preßte das Geld einen Augenblick in ihrer Faust an die Brust, während sie zur Decke sah und sich auf die Lippen biß. Dann verfiel die Nacht wieder in dumpfes Schweigen, das urplötzlich vom Gebrüll des Vaters wie von einem Donnerschlag zerrissen wurde: »Worauf wartest du noch, verdammtes Weib? Mach Feuer! Weck die Nachbarin, und kauf drei Bananen!« Deutsch von Yasmin Bohrmann und Ulrich Winter

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José Alcántara Almánzar

Das tote Kind Zuerst hörte er ein leises Stöhnen, das linterdrückte Schluchzen von jemandem, der irgendwo in der Nachbarschaft vor sich hin weinte. Dann hörte er, als er sich etwas aufrichtete, das sanfte und anhaltende Wimmern einer Frau, die ihre Klage nicht länger zurückhalten konnte und ihrem Schmerz nachgab. Cacho dröhnte der Kopf, als wollte er jeden Augenblick zerspringen. In seinen Schläfen klopfte es; wie mit Hammerschlägen pulste das Blut gegen die seitlichen Schädelwände. Schon vorher hatte er ein unangenehmes Schwindelgefühl gehabt; aber warum er so plötzlich hochschreckte, konnte er sich nicht erklären. Mehrere Male mußte er sich über das Becken beugen, den Kopf so weit wie möglich nach unten halten, weil ihn immer wieder ein Brechreiz überkam, der drohte, aus seinen schon fast leeren Eingeweiden das letzte herauszuholen. Er war sicher, es war nichts Festes mehr in seinem Magen, aus dem hin und wieder eine bittere Flüssigkeit aufstieg, die das Brennen in seinem Innern verstärkte. Cacho wälzte sich im Bett hin und her und versuchte, eine bequeme Stellung zu finden, die es ihm erlaubte, zur Ruhe zu kommen und vielleicht sogar zu schlafen. Die Unruhe, die ihn für einige Sekunden aus dem Unwohlsein des Rausches in die Außenwelt beförderte, hinderte ihn daran. Er hörte auch die bewegte, bebende Stimme eines Mannes, der versuchte, die Frau zu trösten. Er konnte nicht herausfinden, woher genau das Weinen kam, und auch nicht, was die Ursache war. »Vielleicht hat die Alte wieder Schmerzen«, dachte er, denn er erinnerte sich daran, daß am Abend zuvor Doña Santa stundenlang über einen Backenzahn gejammert hatte. 101

Jetzt wollte er nur, daß es ihm besser ging und daß er seine Übelkeit überwand. Er drehte sich in dem elenden Bett, wälzte sich aber gleich wieder herum und legte sich auf die andere Seite. Die Moskitos summten ihm die ganze Zeit heftig in den Ohren und krochen ihm in die Nasenlöcher. Jedesmal, wenn er nieste, fluchte er, ohne Scheu, die Nachbarn aufzuwecken. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Durch das Oberlicht drang der Schein einer Lampe im Hof, und Cacho musterte trotz seiner Benommenheit mit stierem Blick die Löcher im Moskitonetz und nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit durch ein anderes zu ersetzen, das ihn vor den nächtlichen Stacheln, die seinen Körper zerstachen und die Laken mit blutigen Flecken beschmutzten, schützen würde. Der enge Raum roch nach frisch Erbrochenem, abgestandenem Bier und eilten Kippen. Die stickige Luft war ihm so vertraut wie der Krach aus Glorias Bordell, von wo die nicht enden wollenden Boleros und Guarachas immer noch durch die Stille der Nachbarschaft dröhnten, genüßliche Erinnerungen zu ihm herübertrugen - Erinnerungen, die ihm die Kopfschmerzen allerdings verdarben - und mit den Klagen der Frau, die irgendwo weinte, verschmolzen. Im Zimmer nebenan sorgte Mecos gleichmäßig wiederkehrendes Schnarchen zusammen mit dem kurzatmigen Schnaufen seiner Frau Fela und den Atemzügen der Kinder, die neben dem Paar in einem klapprigen Bett schliefen, für ein rhythmisches Konzert. Ab und zu kratzte sich Meco am Bauch und unterbrach sein melodisches Schnarchen, so als wollte er gleich aufwachen, was Cacho, der nun auf der anderen Seite der dünnen Wand gezwungenermaßen wachlag, entsetzlich störte. Fela lag ruhig, fast reglos in einem leichten Schlaf, aus dem das leiseste Geräusch sie wecken konnte. Sie schlief praktisch nackt, um die nächtliche Hitze besser aushalten zu können und vorbereitet zu sein auf die sexuellen Forderungen ihres Mannes, der täglich von ihr verlangte, sich ihm hinzugeben, und sie mitten im Schlaf überfiel. Es waren 102

flüchtige Begegnungen, bei denen Meco Fela mit brutaler Leidenschaft bestieg, sein schweres Gewicht auf die dürre Brust seiner Frau stemmte, einige Sekunden mit der Geschwindigkeit eines Gockels ihre Scham bearbeitete und schnell zum Erguß kam, dann keuchend zusammensackte, während Fela ihm die Hand vor den Mund hielt, damit die Kinder nicht von dem Stöhnen aufwachten. Als sie auf einmal jemanden weinen hörte, öffnete sie die Augen. Sie versuchte herauszufinden, woher das anfangs verhaltene, später laute und herzzerreißende Wehklagen und die tröstende Stimme eines Mannes kamen, der unzusammenhängende Worte stammelte. Anfangs versuchte sie, ganz ruhig zu bleiben und die Herkunft der Stimmen festzustellen, aber aus Angst konnte sie weder deis eine noch das andere. Sie war besorgt und fing an, unruhig zu werden und genau hinzuhören. Doña Santa konnte es nicht sein: Ihre Stimme war sehr tief, und wenn sie klagte, dann tat sie das mit dem eindeutigen Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen und die anderen am Schlaf zu hindern. In ganz Villa Francisca gab es keine so wehleidige Alte wie sie, und Fela wußte nicht, wie Ñoña, die ältliche Tochter, von der die Alte Tag und Nacht versorgt wurde, das aushielt. Es mußte die Stimme einer anderen Frau sein - vielleicht die von Olga, die allein lebte und sich regelmäßig ganz fürchterlich betrank. Oder die Stimme von Queta, die mit dem fiebernden Kind. Als sie ihre Neugier schließlich nicht mehr zurückhalten konnte, faßte sie Meco am Arm und flüsterte ihm zu: »Alter, wach auf, da is was.« Der bullige Mann drehte ihr brummend den Rücken zu, und Fela hielt es für das Beste, ihn in Ruhe zu lassen und seinen Zorn oder seine Begierde nicht zu wecken. Die Zwillinge teilten sich ein Zimmer, das zwischen dem von Meco und Fela und dem von Olga lag, einer Schwarzen ohne feste Arbeit, die sich nie mit ihnen eingelassen hatte, obwohl ihr jeder der beiden dauernd Anträge machte und ihr versprach, ihr eine Wohnung in einem anderen Stadtviertel 103

zu besorgen. »Ich mag keine Leute aus Bani, die sind so knikkerig«, sagte sie zu den beiden jungen Männern, wenn sie sich ein sie heranmachten, und dann ging sie in ihr Zimmer, zog sich aus und fing an, sich den ganzen Körper mit »Agua de Florida« einzureiben, wodurch sie den Raum in jenen unverwechselbaren Duft tauchte, der die Zwillinge ganz geil machte. Um sie heimlich zu beobachten, waren sie auf die Idee gekommen, in eines der Wandbretter eine kleine Öffnung zu machen, und Olga, die sehr wohl wußte, welche Funktion das kaum verborgene Loch hatte, ließ es zu, ja, sie freute sich sogar darüber und legte sich nackt auf das auf Raten gekaufte Riesenbett, genau im geilen Blickfeld der Burschen aus Bani. »Eines Tages bring ich dich um, du verdammte Hure«, hörte sie dann einen der beiden mit erstickter Stimme rufen, worauf sie - weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen - laut loslachte und sich genau unter die Lampe stellte, damit das gelbliche Licht voll auf sie fiel und der da drüben ihre Attribute genau erkennen konnte. Die Klagen gelangten auch in das Zimmer der Zwillinge, die tief und fest auf getrennten Betten schliefen, unter denen sie die Ware unterbrachten: Stoffe und Plunder, was sie schon früh am Morgen in der Stadt zum Kauf anbieten würden. Keiner der Brüder vernahm das klagende Weinen der Frau, das sich jetzt mit den Anstrengungen vermischte, die Cacho in seinem Zimmer unternahm, um gegen seine Übelkeit anzukämpfen. Sie lagen in tiefem Schlaf und träumten. Der eine sah vor sich das Geschäft, das er sich mit dem Geld aus einem Lotteriegewinn gekauft hatte. Der andere gab sich ganz der Lust hin, die ihm der Körper Olgas, der endlich sein war, bereitete. Dosen und Flaschen, der Geruch von Stockfisch und frischem Hering und ein von lärmenden Menschen gefüllter Laden entlockten dem einen Träumer ein Lächeln, erhöhten den Genuß und verlängerten den Schlaf. Der andere erbebte, während er Olga im Traum vor sich sah, ihren verdammt geilen Körper, der sich den Liebkosungen dieser großen und 104

plumpen Hände hingab - Hände eines Bauern, aus dem erst vor kurzem ein fliegender Händler geworden war und der den Ehrgeiz besaß, ein eigenes Geschäft aufzumachen und sich in Bani oder der Hauptstadt niederzulassen. Aber die Klagen hörten nicht auf, ungeachtet der Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit und Gelassenheit tiefer Träume. Olga konnte nicht schlafen und war eine der ersten, die Quetas Gewimmer hörten. Für Olga, die dem Zimmer ihrer Nachbarin am nächsten war, gab es keinen Zweifel: Es war Queta, die unaufhörlich wimmerte und die Nando vergeblich zu trösten suchte. Olga schwankte zwischen der Wut, die die Schlaflosigkeit in ihr hervorrief, Lustlosigkeit und dem barmherzigen Wunsch, der bekümmerten Frau zu Hilfe zu eilen. Die Boleros und Guarachas aus Glorias Bordell ließen Olga, die unter ihrer Periode litt, keine Ruhe. Sie hatte nicht einmal ein Beruhigungsmittel, um die innere Unruhe und die Schmerzen zu lindern. Sie war allein, ohne die anzüglichen Bemerkungen der Zwillinge, die wie tot im Nebenzimmer lagen. Olga öffnete die Augen und bedeckte sich mit dem Laken, als ob etwas ganz Konkretes ihr Angst einflößte. Die Helligkeit im Hof, die durch das künstliche Licht hervorgerufen wurde, vermischte sich immer mehr mit dem Morgengrauen, obwohl es bis zum Tagesanbruch noch einige Zeit hin war. Sie schloß die Augen und versuchte, an nichts zu denken, sich um die Probleme anderer nicht zu kümmern, doch Quetas Jammer wurde stärker und äußerte sich nun in einem erbärmlichen Schrei, der aus ihrem Innersten emporstieg und vom ganzen Hinterhof Besitz ergriff. Olga öffnete wieder die Augen, und ein Angstschauer durchfuhr ihren Körper, abergläubische Vorstellungen und apokalyptische Ängste überkamen sie. Sie spürte plötzlich, daß das Blut in ihre Scheide drängte und auf das Tuch floß, das sie sich vorgelegt hatte, um Blutflecken auf dem Bett zu vermeiden. Am meisten quälte sie der starke Schmerz, den ihr die Blutgerinsel bereiteten, die sich den Weg durch den Muttermund 105

bahnten. Olga konnte sich des Gedankens an den Tod, den diese in ihr hervorriefen, nicht erwehren. »Weil ich kein Kind habe«, dachte sie. Irgendwo hatte sie gehört, daß Frauen, die ein Kind geboren haben, nicht unter diesen Schmerzen leiden, weil die Geburt ihnen hilft, ihre Organe vergrößert und elastisch macht wie einen Gummizug. Danach wurde sie von einem naßkalten Schauder erfaßt, die Härchen ihrer Haut richteten sich auf, und sie erzitterte. Nach einigen Minuten beschloß sie aufzustehen. Sie warf sich einen Morgenmantel über, band ein Tuch um den Kopf und beschloß nachzusehen, was draußen los war. Quetas Weinen und Nandos Stimme brachten sie fast zur Verzweiflung. Wenn sie weiter in ihrem Zimmer blieb, ohne einschlafen zu können, und sich mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigte, würde sie noch wahnsinnig werden. Olga suchte nach den Hausschuhen, ohne Licht zu machen, denn sie wollte die schlafenden Nachbarn nicht wecken, am allerwenigsten die Zwillinge. Im Halbdunkel fand sie tastend, was sie suchte. Zu Ñoñas Glück war ihre Mutter früh eingeschlafen, weil die Entzündung des Backenzahns nachließ, und dank der Aspirintabletten und der warmen Tücher, die sie der alten Frau bei geschlossener Tür den ganzen Tag lang geduldig auf die Kinnbacke gelegt hatte. Jetzt hinderte das Ächzen und aufdringliche Brummen des altersschwachen Ventilators Ñoña am Einschlafen, und sie mußte sich mit dem Gedanken zufrieden geben, wenigstens im Bett liegen bleiben zu dürfen und nicht, wie am Tag zuvor, mit Umschlägen und Beruhigungsmitteln hin- und herlaufen und sich das dauernde Winseln ihrer Mutter anhören zu müssen, die über einen Schmerz klagte, der nur durch das Ziehen des Backenzahns zu beheben wäre. Doña Santa schlief auf dem Rücken und war bis zum Hals mit einem Laken bedeckt. Ihr Gesicht strahlte eine Zufriedenheit aus, die Ñoña im Halbdunkel nicht sehen konnte, und ebensowenig sah sie, auch wenn sie es sich vorstellte, die Schlafmütze auf dem Kopf der alten 106

Frau, die Ohrringe, die sie trug, seit Ñoña denken konnte, die geöffnete Bibel auf einer Konsole über dem Bett, die Heiligenbilder und den Rosenkranz aus schwarzen Kugeln, der sie Tag und Nacht begleitete. Die ersten Klagen von Queta, anfangs kaum hörbar, dann aber deutlicher und durchdringender, beunruhigten Ñoña. Am Tag zuvor waren Queta und Nando mit ihrem Kind morgens im Krankenhaus gewesen und waren mit ein paar Rezepten zurückgekehrt. Nandos Stimme vermischte sich nun mit den Klagen seiner Frau. Zuerst war es ein leises Wimmern, ein unterdrücktes Schluchzen, dann ein sanftes und inständiges Weinen und schließlich ein offenes, zügelloses Wehgeschrei, mit dem das Paar kundtat, daß das tote Kind hergerichtet war und man jetzt kommen konnte. Queta weinte herzzerreißend, Ñoña stieg aus dem Bett und machte Licht. Und so wachte Doña Santa auf, mit einem Vorwurf auf den Lippen, bis ihr klar wurde, was da vor sich ging. Soeben war der kleine Pablo gestorben, ohne daß Nando und Queta es hätten verhindern können, und deshalb klagte die Frau, während von der anderen Straßenseite - wo das Leben mit ansteckender Lebendigkeit pulsierte - weiter die fröhlichen Melodien aus Glorias Bordell zu hören waren und sich mit dem Lärm vermischten, den Cacho im Hof veranstaltete, um sich von den Stoffen zu befreien, die ihn vergifteten. Die Tür des ärmlichen Zimmers wurde weit geöffnet. Mit der lauen Luft des frühen Morgens drang der Gestank des Abflußgrabens herein, der heisere Schrei eines alten Hahns hoch oben auf dem Mandelbaum im Hof, der furchterregende Lärm eines Lastwagens und die Klagerufe der ersten Nachbarn, die herbeieilten. Die alte Santa und ihre Tochter kamen wehklagend herein und umarmten Queta eine ganze Weile. Der kleine Pablo lag in einer Wiege, hohläugig, schmächtig und in ein Leintuch gehüllt, so als schliefe er, ohne sich zu bewegen, mit eingesunkenen Lippen. Er war sehr klein, fast kahl, und in den letzten Tagen war er noch 107

kleiner geworden. Die Frauen wagten nicht, ihn anzusehen; sie drängten sich um Queta und beschworen sie, sich Gottes Willen zu fügen. Nando stand wie versteinert da; hilflos sah er den Frauen zu und dachte daran, wie er das Geld für die Beerdigung des Kindes beschaffen könnte. Dann kam Cacho; seine Augen waren gerötet, und er stank infernalisch. Nachdem er das Kind gesehen hatte, sank er auf einen Stuhl und schlug klagend die Hände vor das Gesicht. In diesem Augenblick tauchte Olga auf, gefolgt von Meco, Fela und den Kindern. Die Schwarze knöpfte ihren Morgenmantel zu und gab sich die allergrößte Mühe, nicht einfach loszuschreien. Kaum hatte Fela den Raum betreten, als sie auch schon aus tiefster Seele losheulte, während ihr riesiger Mann sie am Arm hielt und sie bat, sich zu beruhigen. Der Lärm, den das Ereignis verursachte, rief die Nachbarn aus den letzten Winkeln des Hinterhofs zusammen. Die einzigen, die fehlten, waren die Zwillinge, die sich aber bald mit mißmutigem Gesicht einstellten und vielleicht das unvermittelte Ende ihrer glücklichen Träume verfluchten. Auf der Straße ging das Leben unverändert weiter. Die durchdringenden Schreie von Freunden und Verwandten wurden lauter und übertönten den Straßenlärm, ließen die Rufe der Straßenhändler und Losverkäufer ebenso untergehen wie das Getratsche der Frauen, die in angrenzenden Höfen frisch gemahlenen Kaffee tranken. In das Zimmer paßte schon niemand mehr hinein; ein paar Leute mußten im Hof bleiben, sie reckten den Hals, um das tote Kind sehen zu können, und drängelten, um hineinzukommen. Neugierig, von den Stimmen und den Klagen angezogen, kamen immer mehr Menschen die kleine Gasse herauf. Doña Santa und Ñoña beteten unaufhörlich; liebevoll ließen sie den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten und murmelten Gebete, mitten im Durcheinander und in der Hitze der erregten Körper. Olga stand in der Ecke neben der Tür. Reglos, den Blick starr auf Pablito gerichtet, hielt sich die Schwarze den schmerzenden Bauch 108

und stand still da, wie verklärt durch das Leid, das ihr dieses »Stückchen Mensch« - so nannte sie ihn - bereitete, dieser leblose kleine Junge, der zu einem Stück Eis geworden war. Als die Zwillinge sahen, daß die Helligkeit der Sonne den Morgen vertrieb, beschlossen sie, arbeiten zu gehen. Aus einem fernen Radio mahnten die letzten Worte des »Frühaufstehers« zum x-ten Med: »Steh früh auf und mach dich an die Arbeit...«, und die mexikanische Musik zeigte an, daß nun die Frauen in der Nachbarschaft gleich die Töpfe zum Einweichen der Bohnen auf den Herd stellen und ihre Behausungen kehren würden. Bevor sie gingen, gaben die Zwillinge Nando zwei Pesos, mehr hatten sie nicht, und bahnten sich ihren Weg durch die Menge, nicht ohne zu versprechen, rechtzeitig zur Beerdigimg zurückzukommen. Olga war die einzige, die es bemerkte: Pablito hatte sich bewegt. Niemand außer ihr hatte die leichte Bewegung des toten Kindes wahrgenommen. Mit einem wilden Schrei unterrichtete sie alle von dem ungewöhnlichen Ereignis und fiel in Trance; wie eine aufgezogene Puppe, bei der eine Feder gesprungen ist, wälzte sie sich am Boden. Das Strampeln von Olga, die Meco und Cacho zu halten suchten, vergrößerte noch das Durcheinander. Aus ihrem Mund quoll dicker Geifer, ihre Augen waren verdreht, und sie schien nicht zu merken, was um sie herum vorging. Queta und Nando wußten, daß die Cholera das Kind umgebracht hatte und es sich unmöglich bewegt haben konnte, wie Olga behauptete. Aber schon wurde im Hof darüber gemunkelt. Von einem Wunder sprach man, von einem kleinen Engel, der zum Himmel emporstieg und allen seinen Segen erteilte. In wenigen Stunden wimmelte der Hof vor Menschen. Sie waren aus umliegenden Häusern gekommen, aus Nachbarvierteln, weit entfernten Gassen. Sie wollten das wundertätige Kind sehen, es berühren, Lilien und Rosen in seine Wiege legen, irgendein Kleidungsstück als Glücksbringer mitnehmen, ihm Kerzen anzünden und Fürbitten an Gott 109

richten. Olga war mitten in dem Getöse und Gedrängel langsam wieder zu sich gekommen. Doña Santa und Ñoña beteten, als ob nichts sie stören könnte, und Fela hatte ein Tablett mit ein paar Tassen Kaffee gebracht, die sie mit Hilfe ihres Mannes servierte. Durch das Wunder in fieberhafte Erregung versetzt, drängte die aggressive Menge weiter in den Hof, um Pablito zu sehen. Man hatte das Kind in einer kleinen Kiste aufgebahrt, die Leute legten Blumen auf das Leichentuch und sprachen leise Fürbitten. Am Nachmittag, kurz bevor es Zeit war, zum Friedhof aufzubrechen, erschien Gloria. Belagert von den Blicken der Nachbarn, hatte die alte Hure keine Mühe, bis zum Zimmer vorzudringen. Gloria ging langsamen Schrittes, flankiert von zwei jungen Frauen mit übernächtigten Gesichtern. Als sie das Zimmer erreichte, bekreuzigte sich Gloria und murmelte ein Gebet zu Ehren des kleinen Toten. Sie kam, um in der Stunde des Unglücks nicht zu fehlen, und sie trug, wie die anderen Frauen auch, das Anständigste, was sie besaßen: Kleider aus schwarzem Taft, die im Licht der Sonne glitzerten. Aus einer Ecke sah Cacho vertraulich zu ihr hinüber und wagte sogar, ihr zuzulächeln, als wären sie alte Freunde. Aus der Ferne warfen die frühzeitig zurückgekehrten Zwillinge ein Auge auf Glorias Begleiterinnen und waren verblüfft und sprachlos. Olga strafte sie mit einem Blick der Verachtung. Glorias Stimme hob sich deutlich von dem allgemeinen Gemurmel ab. Ihre Klagen klangen glaubhaft. Sie äußerte, daß sie zu den Kosten der Beerdigung beitragen wollte, steckte Nando ein paar Pesos zu, trank von dem Kaffee, den man ihr anbot, und dann ging sie wieder. Nachdem Gloria weg war, gaben sich die Leute weniger Mühe, in das Zimmer vorzudringen. Es waren zu viele, aber man stritt nun nicht mehr darum, den Engel von Villa Francisca aus der Nähe zu betrachten, der in seiner kleinen Kiste lag, so wie man ihn hineingelegt hatte, jetzt mit schwärzlichen Augenrändern, mit spitzem Gesicht und hervorstehen110

den Backenknochen, eingehüllt in den Duft von Lilien und geschmolzenem Wachs. Der Besuch der alten Hure hatte Olgas Schwindel etwas von seiner Wahrhaftigkeit genommen und ihn in einen kuriosen Zwischenfall verwandelt. Man mußte die kleine Kiste nicht zunageln. Es genügte, daß Meco sie zuschraubte, wie Nando ihn gebeten hatte. Queta war untröstlich und schrie wie eine Wahnsinnige, als sie Pablito unter dem Sperrholzdeckel verschwinden sah. Die Schreie wurden lauter, als Meco den Sarg hochnahm und sich in Begleitung von Fela, den Zwillingen und Cacho im Schritt eines Leichenzuges in Bewegung setzte. Doña Santa und Ñoña beteten immer noch, Olga schrie zusammen mit Queta, Nando stand da mit gesenktem Kopf, während die Menge den Hof räumte und Spuren ihrer Anwesenheit zurückließ: Spuren von Schweiß und Tränen, das Echo schauriger Schreie und Fürbitten. Inmitten der Trostlosigkeit eines ganz gewöhnlichen Nachmittags ertönte wieder die fröhliche Musik von Glorias Bordell. Deutsch von Siegfried Joseph und Gerhard Peters

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René del Risco Bermúdez Die Chance Beim Verlassen des Hauses streifte sein Blick unwillkürlich den Kalender: 22. Dezember - ein gutes Datum, um sich ein bißchen zu verändern und einiges zu vergessen, was ganz einfach nicht so wichtig war, wenn man erst einmal akzeptiert hatte, daß nur das wichtig ist, woran sich die Erinnerung nicht vermeiden läßt. Er atmete tief den Rauch seiner Zigarette ein, richtete den Knoten der Krawatte, klopfte das Jakkett ab, indem er es am Revers hielt, und setzte schließlich den rechten Fuß auf den Gehweg, noch ein Schritt und noch einer, und schon war er ein Fußgänger mehr auf der Sraße, die allmählich in den anderen Teil der Stadt hinaufführte. In den Kriegstagen hätte er nichts von alledem getan. Aber das war auch eine andere Zeit gewesen. Niemand mit einem gewissen Maß an Aufrichtigkeit in seinem Handeln hätte das getan. Doch ihm war klar, daß es Leute gab, die es selbst in jener Zeit taten, und er erinnerte sich sogar an den in Khaki gekleideten Jungen, der sich einen schwarzen, leicht über die rechte Augenbraue geneigten Hut zurechtzog und in der Nähe des Hauptquartiers herumspazierte, wobei er seine Absätze laut und rhythmisch erschallen ließ. In Gedanken hatte er ihn einmal mit einem Cowboy verglichen, der auf Abenteuersuche nach Amerika gekommen war. Doch heute war das anders. Jetzt mußte man auf anderem Boden stehen. Jetzt kam es darauf an, sich zu verteidigen. Die Verteidigung, so hatte man ihm gesagt, ist etwas Wichtiges, das von Fall zu Fall Verschiedenes bedeuten kann. Im Krieg zum Beispiel ist die Verteidigung eng verknüpft mit der Verpflichtung anzugreifen. Das heißt, sich verteidigen 113

bedeutet in die Offensive gehen. Jetzt, da die Zeit eine andere ist, ist das nicht so. Heute bedeutet sich verteidigen, den Angriffen der anderen ausweichen, sie umgehen, sich in acht nehmen, manches verbergen, kurzum: nachgeben und nochmals nachgeben oder, was dasselbe ist, »sich mit beiden Beinen auf den Boden stellen«, wie es jemand ausgedrückt hatte. So gesehen, war er ein Mann, der beide Beine auf dem Boden hatte. Um acht Uhr war er aufgestanden, er ging ins Bad, trällerte vier oder fünf Noten irgendeines Liedes, kam erfrischt und rasiert wieder heraus, setzte sich an den Tisch, frühstückte und suchte aus dem Schrank einen Anzug heraus. Die passendste Farbe war Hellgrau. Weder besonders gesetzt, noch zu leger. Die Krawatte mußte entsprechend den jüngsten Vorgaben des guten Geschmacks gestreift sein, die Strümpfe selbstverständlich aus feinster Seide, die Schuhe schwarz und glänzend und dazu ein Hauch von Kölnisch Wasser, um das Ganze abzurunden. Alles tadellos. Jetzt war er auf der Straße, das Päckchen Zigaretten in der linken Hemdtasche, die Streichholzschachtel in der rechten Tasche des Jacketts, die getönte Brille fest auf dem Nasenrükken. Alles tadellos. Als er an der Ecke ankam, mußte er am Rand des Gehwegs kurz stehenbleiben, bis das letzte Auto der Schlange vorbei war. Dann konnte man die Straße überqueren - allerdings zügig. Diese und andere Dinge sind es, die die Menschen in der Stadt ins Schwitzen bringen. Schon war er beim Park. Der schöne Rasen der Anlagen, dicht belaubte Bäume, hier und da verstreut ein paar Blätter auf dem Zement, Männer, Frauen, Päckchen, Farben, Schmetterlinge, Gehupe, eben der Park. Dort gegenüber ist die Apotheke, ein Stück weiter der Frisiersalon, an der Wand ein Plakat für eine Wohltätigkeitsveranstaltung, Buchstaben, Flecken, Wände. Dies ist die Hauptstraße. Es ist 9 Uhr 45. Der Termin ist ge114

nau um 10 Uhr, nicht eine Minute früher. In einer Versicherungsgesellschaft ist Zeit eine wichtige Sache, eine Frage des Systems. Durch den Schweiß waren die Gläser seiner Brille etwas verschmiert. Vorsichtig nahm er sie ab, zog das Taschentuch aus der Gesäßtasche seiner Hose und wollte sie gerade putzen, als er plötzlich die Menschenmenge bemerkte, die ein paar Straßenecken entfernt in entgegengesetzter Richtimg vorrückte. Sie kam schnell näher, in großen Schritten, klatschend. Ein großes Plakat mit roten Buchstaben, zwei Fahnen in verschiedenen Farben, junge Männer mit Heften, junge Frauen mit großen Taschen und ein Getöse, ein großes Getöse, das mit dem Vorrücken der Menge rhythmisch anschwoll. Er verspürte eine flüchtige und sonderbare Freude, die sich plötzlich in eine Art süßer Beklemmimg verwandelte; ein flüchtiger Blitz, der ihn erschaudern ließ. Ein Jahr früher, und er wäre bestimmt unter ihnen. Mehr noch, er wäre einer der ersten, einer von denen, die mit geballter Faust an der Spitze laufen, den Blick fest nach vorn gerichtet, und aus vollem Hals schreien: »Raus!«, »Nein!«, »... oder Tod!« Nur ein Jahr früher. Aber es ist viel geschehen. Der gewaltige Zusammenstoß unter den Zungen des Feuers, die langen Tage der Belagerung, der Mut auf eine harte und andauernde Probe gestellt, das Eingesperrtsein, die aufgepeitschte Wut von Tagen und Nächten, der Tod auf der einen und der anderen Seite, vor allem der Tod, sehr viel Tod, vielleicht zuviel Tod... Schließlich war alles vorbei. Alle kamen aus der Falle heraus. Die Menge rückte in großen Schritten vor, man konnte die Gesichter einiger erkennen, die ausdrucksvollsten, die feurigsten. Unwillkürlich wandte er den Kopf und sah, wie hinter ihm , 115

der Polizeitrupp vorrückte, der Zellenwagen stand beim Park. Er sah wieder nach vorn, vier Gebäude und das große Schild im zweiten Stock: AMERIKANISCHE VERSICHERUNGSUNION. Der Termin war genau um 10 Uhr, nicht eine Minute später. Es war eine gute Chance, einen guten Posten zu bekommen, gut bezahlt, mit Sicherheiten, guten Perspektiven, eine Gesellschaft mit gut etablierten Stützpunkten von New York bis über ganz Amerika. Schnell sah er sich noch einmal um. Waffengeklirr, schon erhobene schwarze Schlagstöcke, Männer mit ausdruckslosen Gesichtern, eine Minute noch, und sie würden aufeinanderprallen. Er sah nach vom, noch vier Schritte und das Gebäude mit dem Schild im zweiten Stock. Er zögerte eine Sekunde, blickte auf die Menge, setzte die getönte Brille auf und ging schnell hinein, stieg mit großen Schritten die Treppe hinauf, draußen ein großer Aufschrei, vier Schüsse in Folge, er zog das Taschentuch heraus, drückte es sich gegen die Stirn und setzte seinen Weg nach oben fort. Als er die Büroräume betrat, fiel sein Blick auf die große runde Uhr: Es war genau zehn. Er war im richtigen Moment gekommen. Er hatte die Chance. Deutsch von Yacin Hehrlein und Michael Röhrig

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Aída Cartagena Portalatin

Die verzehrte Kraft Ayayay, Tante! Prebis ist gekommen, mit den anderen Dominikanern von drüben. Ein Flugzeug aus New York hat sie zu Weihnachten hergebracht, du müßtest sie sehen, eingezogen wie Barajita, die aus der Hauptstadt, oder wie Comaisita aus La Vega, eine Kette über der andern, Armbänder noch und noch, dazu eine blonde Perücke. Und was die heute morgen aus dem Wagen geladen haben, da kommst du nicht mit: zehn Koffer, vier Kartons, Papierblumen und zwei Puppen. Ja sag mal, hat sie denn nicht nach mir gefragt? Dieser amerikanische Name Prebis ist so eine Schnapsidee von meiner alten Freundin Prebisteria Sánchez, und was du sagst, daß sie so aufgedonnert ist, sie denkt wohl, sie kann denen in Guaco imponieren. Fran-Francisco, es ist mir ja egal, aber sag schon, was hast du noch gesehen? Ich habe nicht mit ihr gesprochen, Tante, da kam gleich ein Ingenieur oder Architekt mit einer Riesentasche voller Scheine von uns und tauschte ihr die gegen die amerikanischen ein. Ayayay, Tante, jede Menge Scheine! Fran-Franciscos Neuigkeiten verbreiteten sich schnell in der ganzen Gegend. Und alle kamen, um sie zu sehen, die Nachbarn, die Geschwister, die Bekannten, die Freunde und so weiter und so fort. Die Prebis war diese Weihnachten Thema Nummer eins. Prebisteria wusch jetzt nicht mehr für Geld, bügelte nicht mehr für Geld, Prebisteria ging nicht mehr für Geld ins Bett, Prebisteria fand jetzt die Leute von Guaco bescheuert. Doch zu ihrem Glück tauchte nach drei Tagen Andrejulio bei ihr auf, um sie zu sehen und Erinnerungen wachzurufen. 117

Er ergriff Besitz von Prebisteria und einem Kofferradio, das sie für ihre Tochter gekauft hatte. Das Radio brachte sie einander näher, sie hörten die heimischen Sender, am liebsten die aus der Hauptstadt, und auf Langwelle Aruba oder Bucaramanga und genossen auf einem Feldbett die Wunschkonzerte. Prebis sagte, sie sei ein Fan von der Montiel. Sergeant Valenzuela ließ »Bésame mucho« für sie spielen, gesungen von Sarita Montiel, und wenn der Empfang nicht gestört war, wollte Andrejulio die Wahrheiten hören, die Fidel von Havanna aus von sich gab. Vier Tage später bestellte sie ein boxspring, wie sie in New York eins hatte, und natürlich, ayayay, Tante, dieser Luxus, warfen sie das Feldbett raus, und natürlich konnte man nun bequemer schlafen, Radio hören, lange reden und so weiter und so fort, aber sie war nicht besonders glücklich, denn dafür arbeite ich overtime, und jetzt ist meine Tochter nicht mehr hier, das ist nicht zu fassen, und all die Sachen, die ich meiner Calandria und ihren Kindern mitgebracht habe, und die von hier, die freuen sich so richtig, wenn sie mir erzählen können, daß sie in der Hauptstadt in einer Nachtbar tanzt. Ich glaube, es war nicht gut, daß sie nicht getauft wurde. Der Teufel steckte dahinter, wer weiß. Alles ging blitzschnell, der Priester nahm den Wedel mit Weihwasser in die eine Hand und den Geburtsschein in die andere, ich sag dir ja, es ging blitzschnell, er warf unserem Paten den Schein hin, machte Augen wie eine alte Eule und schrie: So heißt doch kein Mensch, und ließ sie ungetauft. Für den Priester war der Name eine Beleidigung: Calandria, so hieß ein Vogel, aber kein Mensch, und so hieß auch keine Heilige. Calandria. Ihretwegen hatte sie sich so aufgeopfert und overtime gearbeitet, um herzukommen, um ihr von allem was zu bringen. Andrejulio, der ein wenig Mitleid hatte, bot an, mit ihr in die Hauptstadt zu fahren. Ayayay, Tante, war das ein Reinfall! Sechsmal setzte sich der Fahrer wieder ans Steuer, nachdem die Straßenpolizisten das Gepäck durch118

sucht hatten, und beide, er und Andrés, erklärten ihnen jedesmal, daß die Prebis keinen gültigen Ausweis hatte, weil sie in New York wohnte. Andrés, Andrés, Andrejulio, wie springt das Leben mit mir um! Immer dieses Frühaufstehen, um ja keinen Trouble zu haben, als ob sie dich auslaugen und dir die Luft abdrücken, und dann in der Bahn unter der Erde an einen Gurt geklammert Richtimg Fabrik, und bis zu drei Dutzend Bettlaken täglich für Cannon, und bei Kissenbezügen sogar bis zu sechs Dutzend, und wenn ich fertig bin, steh ich auf und mach die Maschine zu und denke, ich brech zusammen, aber, Andrés, money, very viel Geld, und auf dem Nachhauseweg wieder du und die Calandria in meinen Gedanken, diese Tochter, die so viel von mir hat, erinnerst du dich noch, Andrejulio, wie ich war, bevor ich mich so verbraucht habe, als ich noch frisch und lebendig war, erinnerst du dich noch, Andrés, was mir mit dir an dem Hang passiert ist, manchmal denke ich, mein Kopf ist wie ein Register, und was ist heute? Ay, mein Schatz, die Arbeit verbraucht meinen Körper, bringt mich noch um, und die Calandria tanzt in einer Nachtbar, und du jetzt so gleichgültig, bleibst nur die halbe Nacht auf dem box-spring, aus Furcht vor dieser andern, die dir die Kinder gebiert, oder vor der Guerilla, mit der Rundfunk und Zeitungen Angst einjagen, und wenn ich daran denke, daß ich in zehn Tagen wieder ins Flugzeug muß, ay, Andrés, dieses Flugzeug, hin und her und rauf und runter wie verrückt, und mein Körper, diese Schmerzen, ich dachte, gleich fallen meine Knochen auseinander. Andrejulio hielt sein Versprechen, und sie kamen in die Hauptstadt, es war so schwer, nach Villa Duarte durchzukommen, wie zu Zeiten der Revolution. Da war die Nachtbar, wo Calandria tanzte, da paßte eine Freundin auf ihre Jungen auf, da, da... Und dann Andrés: Sie lassen uns nicht durch. Andrés, ich will durch, Andrés, meine Tochter. Aber es kam ein Polizist und noch ein Polizist und noch einer, und die Leute wichen zurück. Prebis winkte den heran, der die 119

meisten Streifen hatte, steckte ihm zehn Pesos zu und gab ihm das Paket mit der Adresse: Bringen Sie das alles Calandria. Die Kleider sind für sie und die Pullover für die Kinder. Sagen Sie ihnen, wir sehen uns nächstes Jahr, und wenn ich herschwimmen muß. Als sie nach Guaco zurückkamen, klärte das Radio die Sache mit den Durchsuchungen und der Absperrung von Villa Duarte auf. Der Nachrichtensprecher berichtete: »Am Morgen fielen Schüsse bei der Überführung Puente Seco, an der Mauer, wo ein ganzes Regiment Amaury in der Falle hatte. Um zehn Uhr wurde im oberen Teil der Calle Duarte el Tuerto, mutmaßliches Mitglied einer Diebesbande, gefaßt.« Ayayay, Tante, war das eine Reise! Prebis beschloß, nicht wiederzukommen, in ihrem Land mußten die Amerikaner Ordnung schaffen, mußten die Amerikaner alles in die Hand nehmen. Tante, ayayay, ist die verrückt! Aber drei Jahre später, körperlich verbraucht durch die Arbeit, ob es heiß war oder nicht, regnete oder nicht, schneite oder nicht, waschen, bügeln, hetzen, kochen, der Trouble und so weiter, schickten sie sie nach einem Nervenzusammenbruch in ihr Land zurück. Sie, die doch all ihre Kraft in der Fabrik der Amerikaner verbraucht hatte. Ayayay, Tante, »remember« hat dir Prebisteria Sánchez geschickt. Deutsch von Ursula Rinne und Anne

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Sorg-Schumacher

Roberto Marcallé Abreu

Am Rande einer Unterhaltung in der UBahnstation der 168. Straße in Manhattan Er sagte: Ich werde mit dem Trinken aufhören müssen. Das bringt mich am Ende noch um. Unbewußt, instinktiv, sah er auf die dunkle Digitaluhr, die ihm der alte Máximo (er wurde Máximo, der Kubaner, genannt) vor Monaten geschenkt hatte, als er mal wieder, wie so oft, im Laden bei seinem Budweiser saß. Es war eine mechanische Geste, die sich dutzendmal wiederholte und die Zeit verlängerte, sie dehnte, fast bis ins Unendliche. Die linke Hand heben und auf die Augen zubewegen. Kurze Striche, die durch ein schwaches, vom Rand des Zifferblattes ausgehendes Licht markiert wurden und sich ganz plötzlich zu vibrierenden, elektronischen, unruhigen Zahlen ordneten; Zahlen, die sich nun, da sie die Zeit ansagten, deutlich abzeichneten: 3:17 AM. Er sagte: Ich glaube, ich kann nicht mehr schlafen. Er rückte an die Bettkante und setzte die Füße auf ein Stück blauen Teppichs. Er machte Licht, indem er an einer Schnur zog, die direkt in einer nackten Glühbirne endete. Die Helligkeit überflutete den Raum. Neben dem schlecht zugeschnittenen Stück Teppich stand eine noch halbvolle Flasche Hennessy. Das Licht zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen. Die Anpassung gelang schnell. Er fuhr sich mit den Händen nach hinten durch das dunkle Haar, und dann begann er, bestimmte Stellen mit den Fingern zu betasten: oberhalb der Stirn, den Scheitel, die rechte Schläfe. Er sagte: Es geht mir aus, verdammt. Es geht mir aus! Ein sehr tiefes Bedauern, ein Gefühl der Ohnmacht, vielleicht des Schmerzes, bemächtigte sich seiner Seele. Ein paar 121

Tränen rollten die Wangen herab, und er schluchzte ein wenig. Dann faßte er sich wieder, nahm die dicke Decke und rieb sich damit das Gesicht. Wieder sah er auf die Uhr: 3:24 AM. Diese verdammte Zeit geht nicht weiter, sagte er kaum hörbar. Er sprach nicht jedes Wort aus, sondern vervollständigte die Sätze in Gedanken. Er sah sich um, dann schüttelte er verneinend und ablehnend den Kopf. Grobe weiße Wände, bisweilen schmutzig, merkwürdig verzogen, rissig, unter dem Putz, der an manchen Stellen herunterkam, ein gelblicher Grund, sicher eine Mischung aus Gips und Blei (im Radio hieß es, sie sei tödlich). Überall Risse, auch an der weißen und verzogenen Decke, an der sich silbern gestrichene Rohre entlangzogen, durch die der Heizungsboiler, das Wasser und das Gas an die über siebzig darüberliegenden Appartements angeschlossen waren. Die matress ohne Rückenlehne. Das sideboard, wo er Hemden, Unterwäsche, Strümpfe und Taschentücher unterbrachte. Eine Stange, wie ein Scheitel zwischen zwei Wände gefügt, an die er Mäntel und Hosen hängte, vielleicht würden sie so ein bißchen die Form behalten. Der Fußboden aus tiles, die wie Keramikfliesen mit Muster aussehen sollten und sich ablösten, er wußte nicht, ob wegen der bisweilen herrschenden übermäßigen Feuchtigkeit oder wegen der übermäßigen Trockenheit, die auf seiner Haut ein starkes Jucken verursachte. Er sagte: Das ist kein Leben! Bestimmt nicht! Die Traurigkeit, dachte er, kam mit der Abenddämmerung. Er sah sich zusammen mit Don Julio, dem Besitzer des Ladens, im Kanal Galavision eine Fernsehserie an. Es war ein vergleichsweise ruhiger Moment. Sie hatten den ganzen Tag hart gearbeitet, seit den frühen Morgenstunden, als sie beide zusammen mit dem anderen Angestellten, Encarnación, zum market gefahren waren, um Fleisch und frisches Gemüse zu kaufen. Der Morgen war sehr kalt, vielleicht 5 oder 10 Grad unter Null, aber schon im van hatte das bißchen Wärme seine Kräfte wiederhergestellt. Gegen sechs oder sieben hatten sie 122

alles abgeladen und erledigten die anfallenden Arbeiten so, daß sie gegen neun oder spätestens zehn den Laden öffnen konnten. Hier fegen, dort die Kisten stapeln, das Gemüse so anordnen, daß es den Kunden ins Auge fällt, Bier und softdrinks in die Kühlschränke stellen, die Ratten und Kakerlaken wegschaffen, die nachts am Gift und an den Insektiziden eingegangen waren, mit etwas Spray den schlechten Geruch durch Rosenduft überdecken. Dann die Kunden bedienen, sich dabei nicht übers Ohr hauen lassen, mal sehen, wer dem anderen dabei mehr aus der Tasche ziehen kann, ab und zu die Bilder im füll color TV von Sony verfolgen. Agustín kam gegen Abend. Er kam, als auf dem Broadway gerade die Lichter angingen. Die Lichter der kleinen, mittleren, riesengroßen und unübersehbaren Reklameschilder der Geschäfte der breiten Straße. Lichter in perfekter Harmonie mit denen der Wagen aller Klassen, die den Boulevard entlangfuhren, mit denen der Straßenbeleuchtung, mit denen der Ampeln. »Agustín, Junge«, sagte er zu ihm, »komm!« Sie zogen sich in eine Ecke des Ladens zurück. Don Julio verfolgte weiter die fast immer zu Tränen rührenden Bilder, die in luxuriösen Farben im Apparat aufleuchteten. Draußen gingen die Leute vorüber: unscharfe Bilder. Unaufhörlich. Die Kälte begann nachzulassen, und es war abzusehen, daß jeden Moment der Frühling ausbrechen würde. Die Bäume der Fußgängerwege wurden langsam wieder grün. Genau wie die Rasenflächen. Agustín, ein alter Freund aus den Tagen in der Calle Eduardo Vicioso in Bella Vista, drüben in der Hauptstadt, hatte ihm bei einem seiner gelegentlichen Besuche im Laden gesagt, daß alles besser werden würde, wenn der Frühling kommt. Menschen auf den Straßen. Hübsche Mädchen, in Minirökken, in Jeans. Musik, die ganze Stadt voll von Musik, Merengue und Salsa. Boleros und Bier. Dunkle Brillengläser zum Schutz gegen die Sonne. Kleidung in lebhaften Farben. Schöne Autos, die man jetzt nicht vorführt, warum auch, bei dem ganzen Schnee, diesem Dreck, diesem rutschigen Pfla123

ster, dieser verdammten Kälte? Du wirst sehen, es wird uns besser gehen. Es wird besser werden. Jetzt schien Agustín nicht so begeistert zu sein. Ein Bier?, fragte er ihn. Nein, antwortete er. Ich möchte nichts trinken. Eigentlich bin ich gekommen, um mich zu verabschieden. Ich gehe zurück. Ein Wellenschlag gegen die Steine in seinem Herzen. Drüben, in der Hauptstadt, waren er und Agustín nie so eng befreundet gewesen. Klar, sie waren in denselben Cliquen gewesen, hatten dieselbe Schule besucht, und vielleicht waren sie mal fast aneinandergeraten, weil ihnen dasselbe Mädchen gefiel. Aber das war lange her. Damals waren sie Jugendliche, und Jugendliche sind merkwürdige und schwierige Menschen. Jetzt hatten sie beide die Schwelle überschritten und bereits von den Genüssen des Lebens gekostet. Ihr Zusammentreffen in New York war mehr oder weniger zufällig gewesen. Entweder ist die Welt zu klein, sagte er damals zu ihm, als sie sich in der U-Bahnstation der 168. Straße - Ecke Broadway trafen, oder wir sind viele hier... immer mehr. Immer mehr, sagte Agustín. Und wir werden noch mehr. Wir werden noch mehr. Jetzt war jedoch nicht der geeignete Zeitpunkt, sich an dieses Treffen zu erinnern. Die belanglosen und unverbindlichen Worte, die man bei solchen Gelegenheiten von sich gibt. Die Lügen, die man sich manchmal erzählt. Die Träume und Wünsche und ihre schreckliche Unvereinbarkeit mit der Realität. Die Erinnerung an das, was wir einmal waren, an unsere kleinen Streitigkeiten und Konflikte, an unser eitles Konkurrenzgehabe und sonstiges Gebaren. Die Straßen. Das Leben, das in verhältnismäßig ruhigen Bahnen verlief. Die Eltern. Die Familie. Das Studium. Die Schule, die Universität. Die Karriere, die man anstreben mußte. Die marxistischen Bücher. Die Romane. Die Kinofilme. Die Freundinnen. Der Klatsch im Viertel. Auch das kam wie ein Schlag. Aber diesmal ein Schlag in 124

Form von Bildern. In der fernen Heimat. Die Neonlichter, die die ungleichmäßig asphaltierten Straßen erleuchten. Die gelb getünchten Häuser mit höchstens einem Stockwerk. Mit ihrer kleinen Betonmauer, die in Metallstäben endet, mit dem verzierten Tor, das die vielfarbigen Rosen, den Rasen, die Stiefmütterchen, die duftenden Ziersträucher eher umhegt als beschützt. Die Autos, die langsam durch die breiten Straßen fahren, die Dienstmädchen, die in den kleinen Lebensmittelläden einkaufen oder sich auf den Gehwegen mit ihrem Boten oder ihrem Polizisten in Zivil unterhalten, wobei letzterer, gegen die Kühlerhaube gelehnt, einen weniger hell erleuchteten Standort vorzieht. Die Jungen, die an den Ecken Witze machen. Hier das Geräusch eines Fernsehers, dort das eines Radios, eher gedämpfte und leise Geräusche, damit die Nachbarn nicht gestört werden. »Agustin, Junge. Was für eine Überraschimg, dich hier zu treffen!« »Verdammt, Mario. Ist das lange her!« Sie gaben sich lächelnd die Hand. Und in genau diesem Moment eröffnete sich schlagartig eine Wirklichkeit, die anders war als die, der er sich gegenüber sah. Aber es war wie ein Blitz, der nur wenige Sekunden andauerte. Denn die Wahrheit war hier, jetzt. In der Frau, die schnell an ihnen vorbeiging und Mario anstieß. Ohne ihn anzusehen, sagte sie »Excuse me« und ging weiter. Sie standen an einer Treppe, und neben ihnen, hinter ihnen, vor ihnen gingen, liefen Männer und Frauen, die es eilig hatten, die beiseite drängten, mit sich rissen, anstießen, überholten, was sich ihnen in den Weg stellte. Als ob ihr Leben davon abhinge. Hohe, abgetretene Absätze. Unrhythmischer Gang. Schmutzige Tennisschuhe. Schmutzige, abgerissene, geflickte Jeans. Mäntel. Lange Mäntel in Braun, in Schwarz, in glänzendem Blau, aus echtem Leder und aus Kunstleder. Körper, die sich ohne Schönheit, ohne Anmut bewegten, in der Hektik von Gängen und Geländern, von Tunneln voller Dreck und Ruß, be125

schmiert mit Kritzeleien, seltsamen Zeichen, von irgendjemandem eilig oder in aller Ruhe auf die vor Jahren errichteten Betonwände gemalt, auf die weißen Kacheln, die Stahlpfeiler, die Sitze der Untergrundbahn. Die Wirklichkeit... das Aufeinanderstoßen von Eisen und Eisen. Die unverständlichen Stimmen, die aus verborgenen Lautsprechern drangen. Treppen. Tunnel. Rauhe und schmierige Zementböden, darauf der ekelerregende Dreck vergangener Jahre. Der ohrenbetäubende Lärm der subway. »Laß uns lieber runtergehen. Hier werden wir noch umgerannt.« »Ja«, antwortete Mario. Downtown. Uptown. Straight ahead. Keep clean New York. »Daß wir uns ausgerechnet hier getroffen haben... kaum zu glauben.« Die Lichter und der Lärm bedeuteten Mario, daß sie dieselbe Bahn nehmen oder sich trennen mußten. Er nahm einen Kugelschreiber, riß schnell ein Stück liniertes Papier aus seinem Adreßbuch, schrieb eine Nummer und eine Adresse unter seinen Namen. »Das ist mein Zug. In welche Richtung fährst du?« »Ich muß den Zug A nehmen. Aber wir bleiben in Verbindung. Schreib dir meine Telefonnummer auf.« Das tat er. »Vergiß nicht, mich anzurufen.« Der Zug hielt. »Das Graffitimuseum auf Rädern«, wie man ihn getauft hatte. Die Magie der Spraydose. Die Magie der Droge. Nicht eine menschliche Gestalt, nicht ein menschliches Wesen. Namen. Namen von Personen, Spottnamen, Namen von Lastern. Namen in dickgemalten Buchstaben, so als wollten sie eine anonyme Kraft und eine imbekannte Macht demonstrieren. Sich von anderen unterscheiden, jemanden darstellen. In der unaufhaltsamen Menschenflut. Ein Stil. Eine Anklage, eine Krankheit der Zeit. Ich, der Name, der 126

Spott, das Laster, das Leben, die Farben. Keine Menschengestalten, keine Tiergestalten, nur diese Sprache, die zu ergründen, zu begreifen, auszusprechen, unmöglich ist, eine unbewußte, instinktive Sprache, eine individuelle Sprache und eine Sprache anonymer, stummer, rätselhafter Massen zugleich, eine Sprache nicht greifbarer Seelen. Mit ihrer vagen Botschaft von Macht und Tod, Irrationalität und Wahnsinn. »Ich habe dir nicht richtig zugehört, Agustín. Du sagst, du gehst weg?« »Ja, Mario. Ich habe keine Kraft, ich fühle mich nicht stark genug. Ich bin so durcheinander. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich einiges in meinem Kopf kläre. Und das wird mir in dieser Stadt, in diesem Land nicht gelingen.« Er mußte ihn einen Moment allein lassen. Mehrere Personen - eine dicke und dunkle Frau mit zwei lärmenden Kindern, drei junge Männer in schwarzen Lederjacken, ein Mädchen in engen, dunkelblau gestreiften Hosen, provozierend, der letzte Schrei - kamen herein. Die dunkle Frau ging schnell wieder hinaus, aber nach ihr kam ein junger Mann mit einer Plastiktüte voll Leergut herein. Don Julio setzte sich mit ihm auseinander und erklärte ihm, daß leere Flaschen und Dosen nur an bestimmten Tagen in der Woche zurückgenommen würden. Verärgert warf der Junge die Tüte auf den Boden: Budweiser, Pepsi und Coke rollten vor der Ladentheke über den Boden. Er fluchte, beschuldigte Don Julio des Diebstahls und verschwand. Mario packte das Leergut wieder in die Tüte und brachte diese in den hinteren Teil des Ladens. Im Hohlspiegel (zwei davon gab es in den Ecken des Ladens unter der Decke) beobachtete er ein junges Paar, das Bier kaufte. Er sagte nichts, als das Mädchen eine Tüte mit Kartoffelchips aufriß und anfing, sie an Ort und Stelle zu essen. Sie ließ die Hälfte übrig, nahm ein paar Bananen und reichte sie Don Julio, um sie abwiegen zu lassen: soundsoviel das Pfund. Er ging zurück zu Agustín. Agustín sah nicht auf das Trei127

ben im Laden - ein Treiben mit menschlichen und elektronischen Geräuschen - , sondern auf die Straße. Auf den lärmenden Broadway, die Schlagader, die ein eigenes und ewiges Leben zu besitzen schien, ein Ort, den er wie die ganze Stadt geliebt hatte, so wie ein Mann in seinem Leben einmal bestimmte Frauen liebt. Mario konnte ihn einen Moment lang beobachten. Er dachte unvermeidlich an die Veränderung, die sich in seinem Gesicht vollzogen hatte. Mit dem Einbruch der Kälte wurde die Haut heller, wie sie selbst sagten, ließ mein die gebräunte Haut der Tropen zurück, dieser starken und imbarmherzigen Sonne der Heimat. Das lange Warten überall Schlangestehen, Schlangen, um ein Souvenir zu kaufen, Schlangen, um ins Kino zu kommen, Warten und Schlangestehen für den Bus, um im Supermarkt einzukaufen und zu bezahlen, in der subway - veränderte auch den Charakter. Geduldiger, toleranter werden, sich beherrschen lernen. Überall das Auf und Ab von Treppen, von Fahrstühlen, die Notwendigkeit, auf den Sitzen der öffentlichen Verkehrsmittel enger zusammenzurücken, die langen Wege, die man gehen mußte, um den Bestimmungsort zu erreichen, die Schnelligkeit und die Vorsicht, mit der man sich auf den schneebedeckten, rutschigen Gehwegen, auf den matschigen Straßen fortbewegen mußte, bei kräftigen Nordostwinden, bei Wolkenbrüchen, die drei, vier, fünf Tage andauerten - all das wandelte sich im Körper zu Härte und Beständigkeit. Das Schweigen. Verschlossene Menschen. Mißtrauen. Harte Gesichter. Ein anderes Äußeres. Aber die große Veränderung, überlegte er, war die, die sich im Innern der Menschen vollzog. Vor allem bei denen, die nicht hineingeboren wurden in diese Welt der gepflasterten Straßen, stellenweise bedeckt mit Asphalt, den die Gewalt der Jahreszeiten erbarmungslos zerstörte. Bei denen, die nicht aufwuchsen im Angesicht dieser Backsteinmauern der ewig währenden Gebäude von Manhattan. Für die die subway, die Schnellstraßen, die Blinklichter im Verkehr und ihre perfekte Harmonie un128

glaublich und beeindruckend waren. Agustín war dafür ein Beispiel, er selbst auch, sagte er sich. Was anfangs Nahrung und Anreiz für den Geist war, verwandelte sich später in Verwirrung und Angst. In Zweifel und Unsicherheit. In Augenblicke großer Euphorie und Glückseligkeit und in Leere, die über die Tage, die Wochen, die Monate und die Jahre immer länger anhielt. Ja, denn Agustín selbst hatte ihm gegenüber bei so vielen Gelegenheiten geäußert, daß es keinen Sinn hatte, in die Heimat zurückzukehren, die, wie die Zeitungen und auch die Leute, die in letzter Zeit herüberkamen, berichteten, in ein stummes und gespanntes Chaos, ein dauerhaftes Chaos, gestürzt war. Ganz anders war hingegen seine Einstellung, wenn sie gelegentlich im Luigi's saßen, einer italienischen Bar in der 178. Straße, und über das sprachen, was sie schlicht »das Gefühl der Entwurzelung« getauft hatten. Du bist hier. Dies ist ein sehr angenehmer Ort. Vorne drei, vier kleine Tische. Fensterscheiben, hinter denen das Leben wie ein großer Strom ist. Amerikanerinnen, Weiße und Farbige, Kubanerinnen, Dominikanerinnen, orientalische Gesichter, eng anliegende Hosen, die unaufhörlich vorübergehen. Frisuren im neusten Look. Frauen, Männer. Ausgestoßene, Penner, mit einer Flasche billigen Weines in einer Plastiktüte. Die Busse, die an der Bushaltestelle an der Ecke halten, der 0100, der M5. Reihen von Menschen, die einsteigen und unter dem metallischen Blick des Fahrers und Kontrolleurs ihre genau abgezählten neunzig Cent hinwerfen. Eine Riesenbushaltestelle, port authority bus terminal, am oberen Ende des Broadway. Weiter vorn die Autos, die aus New Jersey kommen. Unten, auf dieser Seite der George Washington Bridge, zehn, zwölf, fünfzehn, zwanzig Stockwerke mit Geschäften. Ein ungeheures Verteilernetz, die Strecke zur Bronx, zur East Side von Manhattan. Hier drinnen Dutzende von Amerikanern, größtenteils Weiße, italoamerikanischer Abstammung, bei ihrem Glas Bier, Scotch, Bourbon. Man unterhält sich, das 129

Wechselgeld neben dem Glas, Hinweis darauf, daß noch eine Bestellung folgt, und dann noch eine. Ein laut eingestellter Fernseher, die Bilder, wunderschön, Baseball, eine informelle Pressekonferenz von Reagan, eine Diskussionsrunde mit Experten der nordamerikanischen Außenpolitik, ein Film mit Charles Bronson, ein Hit nach den Schüssen von Bernhard Goetz in der U-Bahn auf vier Farbige, die ihn, mit spitzen Schraubenziehern bewaffnet, angeblich hatten angreifen wollen... Entwurzelung, Mario, sagte Agustín. Das ist schön, etwas Außergewöhnliches, Einzigartiges, eine Erfahrung, die man selten macht. Aber sie sprechen eine andere Sprache. Sie sind eine andere Art Mensch. Diese Stadt wurde vor so vielen Jahren erbaut, sie hat so lange funktioniert. Die Jahreszeiten, ja die Schönheit der Jahreszeiten... Nur drüben... Das ganze Jahr über Blumen. Glauben schenken, auch wenn sie uns hin und wieder hintergehen. Vertrauen, sein Leben etwas gelassener angehen, der Wirklichkeit mehr Sinn abgewinnen. Aber das heißt nicht leben, Mario, das heißt nicht leben. Leben... Die Frauen, sie sind attraktiv, aber dahinter: nichts. Und Liebe am allerwenigsten. Das Ziel: besitzen, besitzen, besitzen. Anzeigen, Zeitungen, Rundfunksender: noch mehr anschaffen, immer mehr. Ich fühle mich leer, Mario. In letzter Zeit werde ich immer deprimierter. Vielleicht konnte er jetzt, beim Anblick der weißen Wände, mit der halbvollen Flasche Hennessy, Agustín verstehen. Sein Kopf wurde etwas klarer, und er erinnerte sich an Sätze, Worte, Situationen. Noch ist deine Zeit nicht gekommen. Du solltest noch etwas warten. Schließlich bist du schon verheiratet, hast schon einen Teil des Geldes ausgegeben, das du in den ersten Monaten verdient hast, um dir ein Heim aufzubauen. Warte noch ein bißchen, noch ein paar Monate, und du gehst zurück mit der green card. Wenn du drüben nicht zurechtkommst, dann kommst du wieder zurück, versuch, zurückzukommen und wieder von vorn anzufangen, diesmal anders, wer weiß, wenn man ständig unterwegs ist, hier und 130

da Sachen kauft, verkauft, ich habe gehört, das bringt was ein. Jetzt aber gehst du zurück ohne Geld, ohne die Möglichkeit, wieder herzukommen, und was dann? Bedauern, was du getan hast? Was du nicht getan hast? Man muß sich irgendeine Art Trost suchen, Agustín, das ist doch das, was wir immer gesagt haben. Hier kommt man zwar aus dem Tritt, aber man verdient seine Dollars. Jeder Dollar, den du hier verdienst, ist dort drei wert, das ist doch was! Agustín sah auf den erdigen Boden, der bei Regen immer einen starken Geruch nach Feuchtigkeit und Moder ausströmte, der typische Geruch all dieser Läden. Dazu kam der Geruch des heimischen Fettgebäcks, angerichtet auf einem großen Tablett auf dem Ladentisch, der Geruch der Früchte, der Lebensmittel und des frischen Gemüses, für die Kundschaft gut sichtbar aufgebaut in mittelgroßen grünen Plastikbehältern. Ein Trost, Agustín, dachte Mario. Aber während er sprach, spürte er ein Unbehagen, eine Mischung aus Freude, Ohnmacht, Traurigkeit. Ja, es gab einen Ausweg. Es gab ein Mittel, der Bitterkeit zu entkommen, die das Leben so oft unerträglich machte: in den geschlossenen Räumen, den vier Wänden der Wohnung, den mit Ziegelsteinen eingemauerten Straßen, in der Sinnentleertheit der Menschen, in der Leere und der Einsamkeit, nach der man nicht auf der Suche war. Weggehen, abhauen, zurückgehen, sich verabschieden von diesem ganzen holy shit, der einmal ein Traum gewesen war, der der Traum vieler bleiben wird, viele Jahre lang, bis in die Ewigkeit, wie die Stadt selbst, eine mächtige Stadt, unglaublich stark, standfest, unzugänglich, spöttisch, allmächtig und prahlerisch, eine Stadt von ungewöhnlicher Schönheit und unvorstellbarer Grausamkeit, eine ewige Stadt, Wiege des Guten und des Bösen, materielle und geistige Verwirklichung des Himmels und der Hölle. Das Verbrechen und die Rosen. Der Hudson und die Abwasserkanäle. Die monumentalen, mit Gold überzogenen Glasgebäude von Downtown und die Abgründe voller Ungeziefer der subway. 131

Ja, es gab einen Ausweg: die Heimat. Die wunderschöne Heimat. Noch schöner aus der Entfernung. Ruhige Strände, gelassene Menschen, ohne diese Doppelzüngigkeit. Palmen und Pinien. Die Bedeutsamkeit des Einzelnen. Der Freund, der dich trifft, dich wiedererkennt, dir hilft, dich aufnimmt. Aber, für wie lange, für wie lange? Und danach die Ungewißheit, die wirtschaftliche Lage. Es gibt keine freien Stellen. Du arbeitest vielleicht ein, zwei, zwanzig Jahre, und der Dank..., welcher Dank? In der Heimat gibt es keine Alternativen. Und die sozialen Spannungen... Wann würde sich die bei den Bewohnern der Armenviertel angestaute Spannung entladen? So viele leere Versprechungen, so viele Lügen, das Gespenst des April? Ein Ausweg? Ohnmacht. Zurückgehen, aber ins Ungewisse. Freude, welch eine Freude, Agustín - das hatte er, so erinnerte er sich, in einem Moment zu ihm gesagt, als sie beide die Euphorie empfanden, auf die fast immer eine tiefe Depression folgte - wir können uns glücklich schätzen, daß wir zumindest eine neue Erfahrung gemacht haben, dieses Land kennen, in der Hauptstadt der Welt sind. Wieviele würden in unserer Heimat, in den Ländern der Region nicht geben, was sie nicht besitzen, selbst das eigene Leben, um hier zu sein. Überleg doch mal, Agustín: die, die versuchen, in zerbrechlichen Booten nach Puerto Rico zu gelangen und von dort den Absprung zu schaffen. Die, die in Tankern als Ballast zurückgeblieben sind, tot, bei dem Versuch, einen Traum zu verwirklichen. Die, die die Route über Mexiko genommen haben, über den Rio Grande, sich über Dutzende oder sogar Hunderte von Kilometern schleppen mußten, um diesen Ort zu erreichen, diese Stadt... Frauen, die sich vergewaltigen lassen, Männer, die es hinnehmen, sich erniedrigen zu lassen. Und wir, Agustín, wir sind hier, sind hier etabliert, können den Wechsel der Jahreszeiten vollständig erleben. Das Hereinbrechen der Kälte im Winter, den ersten Schnee. Wir können den Frühling sehen, wie alles blüht, wie die Bäume ent132

schieden nach Farbe verlangen. Wir können im Herbst die vielfarbigen Bäume sehen, das Fallen der Blätter, wir können die Wärme des Sommers spüren, jeden Tag eine Veränderung in der Natur feststellen, New York ist ein Loblied auf das Leben selbst... Jetzt, in diesen vier verzogenen Wänden, in dieser Stille und Einsamkeit, was vermochten da diese Worte, diese halben Wahrheiten und halben Lügen? Die Worte waren Worte. Die Tatsachen, die Wirklichkeit gehörten manchmal einer Sphäre an, die gänzlich anders und im Grunde ziemlich schmerzhaft war. Ihm tat der Kopf weh, er wollte sich aufraffen, zum nahen sideboard gehen, sich eine Tablette holen, zum nächsten Bad nach draußen gehen, sie mit etwas Wasser einnehmen, zurückkommen, aber, dachte er, wozu das alles? Was hatte es für einen Sinn, seine Kopfschmerzen zu lindern, sich mit dem Regen, dem weißen Schnee in den Straßen und auf den Häusern, der vielfarbigen Natur des Herbstes zu trösten, wenn in der Seele eine unendliche Leere herrschte, ein absoluter Mangel an konkreten Sinnbezügen? Und trotzdem schien es einen Sinn zu geben. Wozu bist du nach New York gekommen? Um ein anderes Leben zu führen. Dieselben Dinge, dieselben Leute, du hattest sie satt. Fünf, sechs, sieben Namen im Zusammenhang mit allen wichtigen Aktivitäten in deinem Land. Der immerwährende und stets chaotische Zustand der Dienstleistungen: keine ausreichende Stromversorgung, das Wasser rationiert. Das mag ja ein, zwei, fünf Jahre so gehen, aber immer, immer... tagaus, tagein: die Zeitung, die Nachrichtensendungen, dieselben Worte und Zustände. Die Staatsdiener, ihre Erklärungen, ihre Ausführungen, immer dieselben Gegebenheiten, aber die Probleme werden nicht gelöst. Herr X, Herr Y. Im Gesellschaftsleben, in der Kunst, in der Politik, fünf, sechs Personen. In der Wirtschaft, den großen Unternehmen, den Haziendas fünf oder sechs Personen. Fünf oder sechs Gesichter, fünf oder sechs Namen. 133

Und die Straßen zerstört. Die Arbeitslosigkeit. Der Rückgang der Produktion. Die Flüsse und Bäume werden kaputt gemacht. Die Industrie, ausländische Investitionen. Devisen gibt es nicht. Inflation. Balaguer ist der Präsidentschaftskandidat. Nein, Jacobo Majluta. Nein, José Francisco Peña Gómez. Nein, Professor Juan Bosch... Der Kopf tat ihm noch mehr weh, aber er fühlte sich unfähig, vom Bett aufzustehen. Die ferne Heimat, schön und bitter zugleich. New York, das Prachtvolle und Bittere. Was tun unter diesen Umständen? Er fühlte sich in die Enge getrieben. Ein Gefängnis. Aus einem Gefängnis ausbrechen, allein das zählt. Sich frei fühlen von diesem Druck, auch wenn man sich einem anderen aussetzt. Die Möglichkeit zu wählen, die Möglichkeit, sich zu entscheiden, und sei es nur für die eine und gegen die andere Bitternis. Niedergeschlagenheit, Depression. Agustín war jedenfalls mutig genug gewesen, sich auf den Absprung vorzubereiten. Alle Brücken hinter sich abzubrechen. Seinen Weg fortzusetzen, ohne (oder mit nur sehr geringer) Möglichkeit der Rückkehr. Es war eine mutige Tat, auch wenn manchmal zwischen Mut und Wahnsinn kein großer Unterschied besteht. Er würde ihn gehen sehen. Er selbst würde in dem Gefängnis zwischen den Mauern zurückbleiben. Im Augenblick hatte er keine Alternative und keinen anderen Ausweg. Er war nicht so mutig und auch nicht so entschlossen. Juni 1985 Deutsch von Eva Dorn und Gisela Stamer

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Die Autoren José Alcántara Almánzar (geb. 1946) Soziologe, Universitätsprofessor. Veröffentlichte neben unzähligen Artikeln mehrere Bände zur dominikanischen und gesamtlateinamerikanischen Literatur, u. a. Antología de la literatura dominicana (1972, mit einer umfangreichen Einführung auch zum Cuento) und Narrativa y sociedad en Hispanoamérica (1984). Erschienen sind bislang fünf Erzählbände: Viaje al otro mundo (1973), Callejón sin salida (1975), Testimonios y profanaciones (1978), Las máscaras de la seducción (1983) und La carne estremecida (1989). Die Erzählung »Das tote Kind« (El muertico) entstammt dem Band Las máscaras de la seducción. Miguel Alfonseca (geb. 1942) Publizierte zwei Gedichtbände - Arribo de la luz (1965) und La guerra y los cantos (1967) - , jedoch keine Sammlung von Erzählungen; diese erschienen bislang nur in Periodika und Anthologien. Erhielt zahlreiche Preise bei nationalen und internationalen Wettbewerben; ist einer der meistanthologisierten Erzähler der Dominikanischen Republik. Die Erzählung »Heute nacht geht die Welt unter« (Esta noche se va a acabar el mundo) ist der von Jenny Montero herausgegebenen Anthologie La cuentística dominicana (1986) entnommen. Armando Almánzar Rodríguez (geb. 1935) Journalist, Filmkritiker, Radio- und Fernsehproduzent. Veröffentlichte drei Erzählbände: Limite (1966; 2. Auflage 1984), Infancia feliz (1978) und Selva de agujeros negros para »Chichi La Salsa» (1985); in Vorbereitimg ist ein weiterer Band, Páginas encogidas. Die Erzählung »Der gelbe Sturm« (Vengan a ver) erschien in Selva de agujeros negros para »Chichi La Salsa«.

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Juan Bosch (geb. 1909) Historiker, Soziologe, Politiker (1963 gewählter Staatspräsident, durch einen Putsch gestürzt; gegenwärtig Vorsitzender des Partido de la Liberación Nacional). Veröffentlichte neben zahlreichen historisch-soziologischen Abhandlungen zwei Romane - La mañosa (1936) und El oro y la paz (1975) - und eine Vielzahl von Cuentos, die überwiegend vor 1961 verfaßt, aber erst danach in Sammelbänden dem dominikanischen Leser zugänglich wurden: (u.a.) Cuentos escritos en el exilio (1962; enthält auch den Essay Apuntes sobre el arte de escribir cuentos), Más cuentos escritos en el exilio (1964), Cuentos escritos antes del exilio (1974). Die Erzählung »Der Fluß und sein Feind« (El río y su enemigo) ist in Más cuentos escritos en el exilio enthalten. Aída Cartagena Portalatin (geb. 1918) Kunsthistorikerin, Universitätsprofessorin, Direktorin des Museums für Anthropologie in Santo Domingo. Vielfältige Publikationstätigkeit: neben Essays zu kulturhistorischen Themen neun Gedichtbände - u. a. Vísperas del sueño (1944), Una mujer está sola (1955), Yania tierra. Poema documento (1981) - , zwei Romane - Escalera para Electra (1970; 2. verb. Auflage 1975) und La tarde en que murió Estefanía (1983) - sowie einen Erzählband, Tablero. Doce cuentos de lo popular a lo culto (1978), dem die Erzählung »Die verzehrte Kraft« (La fuerza aniquilada) entnommen ist. Virgilio Díaz Grullón (geb. 1924) Rechtsanwalt. Publizierte neben einem Roman - Los algarrobos también sueñan (1977) - und einem Testimonio über die Trujillo-Ära - Antinostalgia de una era (1989) - drei Erzählbände: Un día cualquiera (1958), Crónicas de Altocerro (1966) und Más allá del espejo (1975). Eine Gesamtausgabe seiner fiktionalen Prosa erschien unter dem Titel De niños, hombres y fantasmas (1981; 2. Auflage 1982). Die Erzählung »Die Mauer« (A través del muro) entstammt dem Band Crónicas de Altocerro. 136

Ramón Francisco (geb. 1929) Universitätsprofessor, Literaturkritiker. Publizierte neben literaturkritischen Arbeiten einen Gedichtband - Las superficies sórdidas (1960) - und auszugsweise das vielzitierte Poem Las odas a Walt Whitman. Seine Cuentos erschienen vorwiegend in Sammelpublikationen; »Der Mann im Haus« (El hombre) ist der von Margarita Vallejo de Paredes zusammengestellten Antología literaria dominicana, Bd. II: Cuento (1981) entnommen. Iván García Guerra (geb.1938) Universitätsprofessor, Schauspieler, Regisseur, Radio- und Fernsehproduzent. Trat vor allem durch sein Wirken als Dramatiker und Theaterpraktiker in Erscheinung; unter seinen eigenen Werken haben die Stücke Más allá de la búsqueda und Fábula de los cinco caminantes starke Resonanz gefunden. Ein Teil seiner Erzählungen erschien in dem Band La guerra no es para nosotros (1979), dem der Cuento »Tod auf Tod« (Remuriendo) entnommen ist. Roberto Marcallé Abreu (geb. 1946) Journalist, lebt in New York. Publizierte neben zwei Romanen - Cinco bailadores sobre la tumba caliente del licenciado (1979) und Espera de penumbras en el viejo bar - fünf Erzählbände: Las dos muertes de José Inirio (1972), El minúsculo infierno del señor Lukas (1973), Sábado de sol después de las lluvias (1978; 2. Auflage 1984), Ya no están estos tiempos para trágicos finales de historias de amor (1982; 2. Auflage 1984) und Alternativas para una existencia gris. Relatos de New York (1987). Die Erzählung »Am Rande einer Unterhaltung in der U-Bahnstation der 168. Straße in Manhattan« (Divagaciones de una conversación en la estación ciento sesenta y ocho de Manhattan) entstammt dem Band Alternativas para una existencia gris.

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Pedro Peix (geb. 1952) Rechtsanwalt, Journalist, Rundfunk- und Fernsehproduzent. Publizierte neben Gedichten - El paraíso de la memoria (1985) und zwei Romanen - El placer está en el último piso (1974) und El brigadier (1981) - mehrere Bände mit Erzählungen und Novellen: Las locas de la Plaza de los Almendros (1977), La noche de los buzones blancos (1980), Los despojos del cóndor (1983), Pormenores de una servidumbre (1985) und El fantasma de la calle El Conde (1988). Ist Herausgeber der umfassendsten Anthologie des dominikanischen Cuento, La narrativa yugulada (1981; 2. Auflage 1987), in der auch die Erzählung »Stationen« (Los hitos) enthalten ist. José Rijo (geb. 1915) Anwalt und Richter. Veröffentlichte zahlreiche Erzählungen in den 30er und 40er Jahren; gehört mit Juan Bosch zur sog. Gründergeneration des dominikanischen Cuento. Einzelpublikationen: Floreo (1978) und Entre la realidad y el sueño (1983). Die Erzählung »Die Lüge« (Chito) ist in dem Band Floreo abgedruckt. René del Risco Bermúdez (1937-1972) Lyriker und Erzähler. Publizierte zu Lebzeiten zwei Bände: Viento frío (1967) und Del júbilo a la sangre (1967). Seine Gedichte und Erzählungen sind in dem Band Cuentos y poemas completos (1981) zusammengefaßt; diesem Band entstammt die Erzählung »Die Chance« (La oportunidad). Marcio Veloz Maggiolo (geb. 1932) Diplomat, Universitätsprofessor, Archäologe, Journalist, Literaturkritiker. Mit etwa 30 veröffentlichten Titeln der produktivste und vielseitigste Autor der Dominikanischen Republik. Zu seinem Werk zählen literaturkritische Essays - (u.a.) Cultura, teatro y relatos en Santo Domingo (1972) - , Lyrik -El sol y las cosas (1957) und Intus (1962) - , Theater - Creonte (1963) - , 138

Romane - (u.a.) El buen ladrón (i960), De abril en adelante (Protonovela) (1975), La biografía difusa de Sombra Castañeda (1980) und Materia prima (1989) - sowie Novellen und Erzählungen, zusammengefaßt in den Bänden Novelas cortas 1 (1980), La fértil agonía del amor (1982) und Cuentos, recuentos y casicuentos (1986). Dem letztgenannten Band ist die Erzählung »Gespenster gehen um« (Fantasmas de ida y vuelta) entnommen.

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