Leben, Tod und Entscheidung: Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik [1 ed.] 9783428510597, 9783428110599

Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert zeigt sich dem Betrachter eine Dekade, die wie kaum eine andere Karriere gemacht ha

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Leben, Tod und Entscheidung: Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik [1 ed.]
 9783428510597, 9783428110599

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STEPHAN LOOS I HOLGER ZABOROWSKI (Hrsg.)

Leben, Tod und Entscheidung

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 127

Leben, Tod und Entscheidung Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik

Herausgegeben von

Stephan Loos Holger Zaborowski

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Gerrnany

© 2003 Duncker &

ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-ll 059-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Inhaltsverzeichnis

Einleitung.......................................................................................................................... 7 Holger Zaborowski Leben, Tod und Entscheidung Die Philosophie Martin Heideggers in zeitund ideengeschichtlicher Perspektive ........................................................................ II Alfred Denker Die Neubelebung der Philosophie in dürftiger Zeit Martin Heidegger und Kar! Jaspers (1919-1933) ...................................................... .33 Stephanie Bohlen Sein, Leben, Geschichte Zur phänomenologischen Kritik an der Lebensphilosophie ...................................... .57 Johannes Schaber OSB Phänomenologie und Mönchtum Max Scheler, Martin Heidegger, Edith Stein und die Erzabtei Beuron........................ 71 Christoph Stumpf Paradigmenwechsel in der vergleichenden Rechtswissenschaft Von der Universalrechtsgeschichte und der Rechtsethnologie bei Josef Kohler zur modernen Rechtskomparatistik bei Ernst Rabe!... .................. ! 0 l Bernhard Casper Erlebnis und Ereignis Zum Geschick und zur Bedeutung zwei er Worte.................................................... 115

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Inhaltsverzeichnis

Alwin Letzkus

Menschliches Sein in der Entscheidung Helmuth Plessners anthropologische Wende der Philosophie................................. l33 Michael Mack

Transzendentaler Messianismus und die Katastrophe der Entscheidung Anmerkungen zu Carl Schmitts und Walter Benjamins Eschatologie ..................... l55 Stephan Loos

Carl Schmitt - ein deutsches Trauerspiel Dezision und politische Souveränität in der Politischen Theologie....................... .l67 A. Dirk Moses

The "Weimar Syndrome" in the Federal Republic ofGermany The Carl Schmitt Reception by the Forty-Fiver Generation oflntellectuals............ l87 Autorenverzeichnis....................................................................................................... 211

Einleitung Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert zeigt sich dem Betrachter eine Dekade, die wie kaum eine andere Karriere gemacht hat und mit einer stereotypen Charakterisierung in das allgemeine Bewusstsein eingegangen ist: die "goldenen Zwanziger". Kaum ein anderes Jahrzehnt ist derart mit einem einzigen Epitheton verbunden. Es handelt sich, weit präziser gefasst, um die Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, die durch einen sehr ambivalenten goldenen Glanz gekennzeichnet ist. Die Zeit der Weimarer Republik nur als "Katastrophenjahre" auf dem Weg zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zu interpretieren, bedeutete nicht nur, diese Zeit lediglich im Lichte ihres Endes zu sehen, sondern auch ihre spezifische Ambivalenz zu missachten. Die eigenartige Paradoxie avantgardistischer sozio-kultureller Neuerungen einerseits und kulturpessimistischer Modemekritik andererseits stellt eines der wesentlichen Charakteristika dieser Periode dar. In noch einem anderen Sinne fasziniert die Weimarer Republik den zeitgenössischen Betrachter: Wie in einem Spiegel nämlich reflektiert sie eine Gegen-wart, die überlieferter Sinndimensionen verlustig ging und zwischen der Scylla von Resignation und Verzweiflung und der Charybdis von Selbstüberschätzung und eitler Anmaßung Orientierung fiir ein gelungenes Leben sucht. Waren die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg bereits durch die Ankunft der Modeme geprägt, so wurde sie in den zwanziger Jahren erstmals auf umfassende Weise soziokulturelle Realität. Die "Klassische Modeme" 1 mit ihren ästhetischen und philosophischen Strömungen, den Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik sowie ihren sozio-kulturellen Veränderungen fand im Deutschland der Weimarer Republik ihre ungehinderte Durchsetzung - und ihre größte Krise. Dass immer wieder von den "zwanziger Jahren" die Rede ist, zeigt sehr deutlich, dass unsere Epoche hier ihren Anfang genommen hat: Die Zerstörung der so genannten alteuropäischen Ordnung, die Desillusionierung kühner, wenn 1 Nach Detlef Peukert eiWeist sich der dem kunstgeschichtlichen Diskurs entnommene Begriff der "Klassischen Modeme" als "zur Kennzeichnung der ganzen soziokulturellen Epochenlage [...]nützlich" . Vgl. D. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Modeme, Frankfurt a. M. 1987.

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oft sogar hybrider Menschheitsträume oder die Erfahrung einer selten auch nur geahnten Sinnlosigkeit zeigen die paradoxe Dialektik der Aufklärungsepoche, deren Licht sich im Bombennebel des Ersten Weltkrieges genauso verdunkelte wie es in den Geschützfeuern der Materialschlachten neu erstrahlte. Wer die Gegenwart verstehen will, kann daher nicht umhin, die Weimarer Republik und ihre Kultur als Gründungsurkunde einer Zeit zu verstehen, die sich via negativa durch das definiert, was vor ihr war: der Postmoderne, unserer Epoche. Das Erleben dieser krisenhaften Modernität prägt das geistige Klima der Weimarer Republik. Es drückt sich in exemplarischer Weise in den Leitworten "Leben", "Tod" und "Entscheidung" aus, die daher aufgrundihrer paradigmatischen Bedeutung als Interpretamente der Weimarer Republik betrachtet werden können. Leben - das ist die Sehnsucht nach Wirklichkeit, Intensität und Ursprünglichkeit, Kreativität und Vitalität, zuweilen bis zum Exzess, das Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung, in allem auch die Erfahrung des Scheitern und des Todes. Tod aber - das ist die Erfahrung des Krieges, der Gefangenschaft, der Verwundungen und Krankheiten, des Hungers und der Armut, die Erfahrung des Zusammenbruchs politischer Systeme und der Krise überlieferter Sinnentwürfe, in allem auch die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen. Entscheidung aber- das ist die Aufgabe politischen Engagements, künstlerischer Form- und Selbstfindung, das Suchen nach weltanschaulicher Verbindlichkeit und die Herausforderung religiöser Bekehrung oder des Aushaltens und Gestaltens radikaler Fraglichkeit und Sinnlosigkeit. Die Beiträge dieses Sammelbandes zeigen, inwiefern "Leben", "Tod" und "Entscheidung" Schlüsselbegriffe der zwanziger Jahre sind. Holger Zaborowski interpretiert einige Stationen des Denkweges Martin Heideggers im Kontext der Krisenerfahrungen der Weimarer Republik. Er zeigt, inwiefern "Leben", "Tod" und "Entscheidung" auch Schlüsselbegriffe des Heideggerschen Denkens sind und inwiefern sich Aporien und Ambivalenzen seines Denkens vor dem zeitund ideengeschichtlichen Horizont deuten lassen. Die angesichts der Erfahrung des Katastrophischen sich mit neuer Radikalität stellenden Fragen, was denn der Mensch tun solle und woran er sich orientieren könne, bilden auch den entscheidenden Ausgangspunkt einer Neudefinition der Wissenschaft und des universitären Lebens. Diese Bemühungen reflektiert Alfred Denker anband des Verhältnisses zwischen Martin Heidegger und Karl Jaspers. Den engeren philosophischen Kontext der Bemühungen um eine Neubestimmung der Wissenschaften zeigt Stephanie Bohlen in ihrer Darstellung der phänomenologischen Kritik der Lebensphilosophie: wie sich in den zwanziger Jahren zunehmend die Einsicht artikuliert, dass es dem Menschen aufgegeben ist, den Gang der Geschichte durch sein Dasein selbst zu entscheiden. Johannes Schaber rekonstruiert in einer kulturhistorischen Analyse das Interesse verschiedener Phänomenotogen am monastischen Leben, das im Kontext der Krisenerfahrung und

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neuen Sinnsuche nach dem Ersten Weltkrieg zu verstehen ist. Er exemplifiziert dies am Beispiel der Philosophen Max Scheler, Martin Heidegger und Edith Stein und ihrer Kontakte zur Erzabtei Beuron. Auch in der Jurisprudenz zeigt sich in dieser Zeit ein entscheidender Umbruch. Den Paradigmenwechsel in der vergleichenden Rechtswissenschaft erörtert Christoph Stumpf anband von Leben und Werk Josef Kohlers und Ernst Rabels. Bernhard Casper erläutert die Begriffsgeschichte von "Erlebnis" und "Ereignis" als philosophischer Termini und zeigt einen gleichfalls charakteristischen Paradigmenwechsel, der sich im Werk des jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig ankündigt: Hier wird Wirklichkeit in einer gänzlich neuen Weise erfahren. In vergleichbarer Weise spiegelt sich diese Grundkonstellation der zwanziger Jahre im Werk des Anthropologen Helmuth Plessner wider. Alwin Letzkus führt in Plessners Wesensbestimmung des Menschen vor ihrem zeitgeschichtlichen Kontext und befragt sie auf ihre politischen Implikationen und Konsequenzen angesichts der Verantwortung vor der Geschichte. In seiner Untersuchung des Verhältnisses von Carl Schmitt und Walter Benjamin zeigt Michael Mack zwei eng aufeinander bezogene, aber gleichzeitig sehr unterschiedliche Handlungsoptionen in einer als krisenhaft und katastrophisch erlebten Gegenwart. Diese Handlungsoptionen finden ihren Ausdruck in einer je verschieden artikulierten Sehnsucht nach Erlösung vor dem Hintergrund apokalyptischer Orientierungslosigkeit. Stephan Loos reflektiert die Theorie der Entscheidung bei Carl Schmitt als Versuch, eine verlorene Ordnung neu zu stiften, in Auseinandersetzung mit ihrer Rezeption und Kritik bei Walter Benjamin. Damit beschreibt er ein "Trauerspiel" deutscher Geistesgeschichte. Der Beitrag von A. Dirk Moses zieht die Verbindungslinie bis in die Gegenwart, indem Moses danach fragt, wie die Generation der zur Zeit der Weimarer Republik geborenen Intellektuellen das Denken Carl Schmitts rezipiert und sich dadurch in ein Verhältnis zu den Spannungen und Brüchen der Weimarer Republik und ihrer eigenen Zeit setzt.

Leben, Tod und Entscheidung Die Philosophie Martin Heideggers in zeit- und ideengeschichtlicher Perspektive Holger Zaborowski I. Eine Zeit der Krise und die Frage nach Opfer, Tod, Gnade und Erlösung In den Minima Moralia verweist Theodor W. Adorno auf die enge Verbindung zwischen dem Berlin der zwanziger Jahre und der nationalsozialistischen Diktatur ab 1933: "Die Phrase: ,Kommt überhaupt gar nicht in Frage', die im Berlin der zwanziger Jahre aufgekommen sein dürfte, ist potentiell schon die Machtergreifung. " 1 Adorno begründet seine These damit, dass diese "sprachliche Formel der Usurpation"2 prätendiere, "dass der private Wille, gestützt manchmal auf wirkliche Verfiigungsrechte, meist auf bloße Frechheit, unmittelbar die objektive Notwendigkeit darstelle, die keinen Einspruch zulässt."3 Noch eine andere Kontinuität zwischen dem Geist der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus beobachtet Adorno in seinen Reflexionen aus dem beschädigten Leben: "Was Hitler an Kunst und Gedanken ausgerottet hat, fiihrte längst zuvor die abgespaltene und apokryphe Existenz, deren letzte Schlupfwinkel der Faschismus ausfegte. Wer nicht mittat, musste schon Jahre vorm Ausbruch des Dritten Reiches in die innere Emigration: spätestens seit der Stabilisierung der deutschen Währung, die zeitlich mit dem Ende des Expressionismus zusammenfällt, hat gerade die deutsche Kultur sich stabilisiert im Geist der Berliner Illustrierten, der dem von Kraft durch Freude, der Reichsautobahnen und dem kessen Ausstellungsklassizismus der Nazis nur wenig nachgab." 4

1 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1998, S. 124.

Ebd. Ebd. 4 Ebd., S. 64. 2

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Der Blick auf die "goldenen Zwanziger" wirft, nehmen wir Adornos These ernst, Licht auf die "braunen Dreißiger". Wer sich bemüht, den Nationalsozialismus zu verstehen, kann nicht umhin, in den zwanziger Jahren - der Weimarer Republik - bedrohliche Präfigurationen und apokalyptische Prophetien dessen, was noch kommen sollte, zu erblicken.5 Auch Karl Jaspers wurde die geistige Situation seiner Zeit daher zu einem Problem. In seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit aus dem Jahr 1930 schreibt er: "Was in Jahrtausenden die Welt des Menschen war, scheint heute zusammenzubrechen. Die als Apparat der Daseinsfürsorge neu entstehende Welt zwingt alles, ihr zu dienen. Sie vernichtet, was in ihr keinen Platz hat. Der Mensch scheint in das aufzugehen, was nur Mittel, nicht Zweck, geschweige Sinn sein sollte. Aber er kann darin keine Zufriedenheit finden; ihm würde fehlen, was ihm Wert und Würde gibt. Was in aller Not ein unbefragter Hintergrund seines Seins war, ist im Verschwinden. [...] Daher ist das Bewußtsein allgemein, dass es mit dem, worauf es eigentlich ankommt, nicht in Ordnung sei. Alles ist fraglich geworden; alles sieht sich in seiner Substanz bedroht. Wie sonst die Wendung geläufig war, wir lebten in einer Übergangszeit, so ist jetzt in jeder Zeitung von Krise die Rede."6 Jaspers blieb skeptisch und scheint, am Ende, resigniert zu haben: "Es war alles umsonst"7, so soll er sich wenige Tage vor seinem Tod geäußert haben. Leitmotivisch kehrt in der Kunst, Literatur, Theologie oder Philosophie der zwanziger Jahre der Zusammenbruch des Althergebrachten und die, so Georg Trakl, "[v]ergebliche Hoffnung des Lebens"8 wieder. Kaum eine Zeit hat jemals derart einvernehmlich ihre eigene Krisenhaftigkeit thematisiert und zelebriert. Die Welt, so schien es vielen, löst sich auf, jeder Sinn schwindet. Die verstreuten und vereinsamten Monaden finden sich auf ihrer Suche nach Glück, mit Klaus Mann, einzig in einem "Treffpunkt im Unendlichen" - und das "im vollen Bewußtsein der völligen Bedeutungslosigkeit alles menschlichen Treibens, das in der Tat nicht mehr ist als eine Laune, welche die große Natur sich leistet."9 Entzieht sich "[d]as einzige Antlitz auf dieser Welt, das ich gekannt

5 Für die geistesgeschichtliche Situation der 20er Jahre siehe auch: Hubert Cancik (Hrsg. ), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982; Det/ev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1993. 6 Kar/ Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1979, S. 72. 7 Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt a. M. 1994, S. 327. 8 Georg Trakt, Sommersneige, in: ders., Dichtungen und Briefe (=HistorischKritische Ausgabe I), hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Salzburg 1969, S. 137. 9 Klaus Mann, Treffpunkt im Unendlichen, Reinbek 1999, S. 286; für den biographischen Kontext von "Treffpunkt im Unendlichen" siehe: Nicole Schaenzler, Klaus Mann. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 196-205 und passim; siehe auch: "Ruhe gibt es nicht,

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habe und zu dem ich Vertrauen hatte", 10 in den Tod, so scheint, als schwacher und letztlich scheiternder Trost, einzig die Dialektik von Hingabe und Glück, von Selbstauflösung und Liebe zu bleiben. Klaus Mann formuliert die unvollkommene Lösung, die sichangesichtsdes epidemischen Weltschmerzes vielen seiner Zeitgenossen auf der Suche nach Glück und Gerechtigkeit gestellt hat. Bis nämlich überhaupt erst Gemeinschaft möglich sei, so Mann, gebe es nur "die Liebe, der einzige wesentliche Versuch, das tragische Phänomen der Isolierung zu überwinden. Wie jeder andere Versuch zum Scheitern verurteilt (Einsamkeit unser Teil); aber das einzige Sumogat, das wenigstens auf Minuten über die sonst unerträgliche Wahrheit hinwegtäuscht."'' Da überlieferte Antworten - seien es religiöse, philosophische, politische oder ästhetisch-künstlerische Sinnentwürfe - als nicht mehr gültig erfahren werden, stellt sich in dieser Zeit auch in neuer Weise die Frage, ob und wie Erlösung möglich sei. In einer Situation, in der das Bewusstsein des sinnlosen Todes so präsent war wie selten zuvor, wird nach der Möglichkeit, selbst in der Erfahrung der Sinnlosigkeit an einer Dimension von Sinn festzuhalten, und damit auch nach der Möglichkeit und dem Sinn des Opfers gefragt. Das Opfer ist daher letztlich eines der zentralen Motive, die, in morbider Verzweiflung, die Kultur, Literatur, Theologie und Philosophie nach dem ersten Weltkrieg variieren, transformieren und säkularisieren: "Ein wenig Glück mehr auf dieser Erde: wie gern, wie gerne verströmte ich daf'Ur mein Blut." 12 Adorno und Horkheimer haben in der Dialektik der Aufklärung hellsichtig auf die moderne Rezeption und Transformation des Opfergedankens und die ihm eigene Dialektik aufmerksam gemacht: "Die im Opfer gelegene Stellvertretung, verherrlicht von neumodischen Irrationalisten, ist nicht zu trennen von der Vergottung des Geopferten, dem Trug der priesterlichen Rationalisierung des Mordes durch Apotheose des Erwählten." 13 Das auf sich selbst zurückgeworfene und nach Sinn dürstende Individuum wird, so können wir an Adornos und Horkheimers Interpretation anschließen, im Opfer sein eigener Gott, inszeniert sein eigenes Golgatha, seinen eigenen existentiellen Karfreitag, und erlöst sich selbst von und f'Ur sich selbst. Dem Olymp der Götter entspricht dabei das Gewimmel epigonaler Priester und Propheten. Die f'Ur viele philosophische Strömungen der Neuzeit charakteristische Tendenz, die Erlösung des Menschen als Projekt menschlichen Machens zu verstehen, die Säkularisierung des Erbsündendogmas, die dem Fall die unendliche Fortschrittsgeschichte der Freiheit und der bis zum Schluß." Klaus Mann (1906-1949), hrsg. von Uwe Naumann, Reinbek 1999, S. 116 f. 1 Klaus Mann, Treffpunkt im Unendlichen, S. 305. II Ebd., s. 203. 12 Ebd., S. 195. 13 Theodor W. Adorno I Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung, Darmstadt 1998, s. 69.

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Sittlichkeit gegenüberstellte, die soteriologischen Ansprüche mancher - und nicht der wenigsten - moderner Geschichts- und Systemphilosophen sowie ihrer Adlati und Epigonen, diese hybriden Tendenzen, so scheint es, werden allererst dort vollends deutlich, wo sich ihr Scheitern offenbart. Im Zusammenbruch der Modeme bricht sich der Optimismus in die Verzweiflung und feiert noch im Trauergewande neue Triumphe. Überlieferte Antworten versagen, die faustische Seele wird sich ihres eigenen Mephistophelismus inne; Apoll schaut in den Spiegel eitler Selbstgefälligkeit und erblickt- Dionysos. Und gleichzeitig begleitet die Erfahrung der Transzendenzlosigkeit und Krise die Hoffnung auf einen ganz anderen und unerwartet fremden Zuspruch. 14 So zelebriert Georg Trakl die melancholische Abgründigkeit der Lebenserfahrung des modernen Menschen - "Gottes Schweigen I Trank ich aus dem Brunnen des Hains" 15 -, ohne ein Gegenbild - den Klang kristallner Engel gänzlich aufzugeben. Seine Dichtung lebt aus dieser unaufhebbaren Spannung. Die christlichen Bilder bei Trakl, so demgemäß Walther Killy, "sind ganz ernst zu nehmen, obwohl sie in einer Welt erscheinen, welche ganz offenbar nicht glaubt. Diese Bilder sind nämlich nicht mit dem einfachen Begriff der Säkularisation zu fassen, keine Verflachung, keine Wendung ins Weltliche ist vorgegangen. Sondern der Dichter und seine Generation leben in einer von den Elementen des Glaubens bestimmten Welt, ohne zu glauben. Er ist ihrer Wahrheit verhaftet, aber die Wahrheit gilt nicht und bleibt unerreichbar. Das ist ein Vorgang [... ], der ein Neues darstellt- die Negation von Ordnung und Wahrheit aus verzweifelter Liebe zu ihnen." 16 Dieses Festhalten an der Welt des Glaubens, ohne zu glauben, zeigt sich auch in der zentralen Bedeutung, die die Metapher von Brot und Wein für Trakls Dichtung hat. In diesem von der christlichen Tradition maßgeblich geprägten Bild drückt sich ein Gegenbild zur zeitgenössischen Krisenerfahrung aus: 17 "Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen." 18 Dem sanften Schweigen entspricht, dem dunklen Pfade der Wanderschaft entgegengesetzt, das goldene Blühen des Baumes der Gnaden. Dem Kreuz, diesem Gegen-Baum zum paradiesischen, mit dem Fall des Menschen eng verbundenen Baum der Erkenntnis, begegnet der Wanderer, bevor er still über die durch Schmerz versteinerte Schwelle tritt. Nach dieser Initiation 14 Dieser Gedanke findet seinen theologischen Ausdruck vor allem im Werk Karl Barths. Siehe vor allem: Kar/ Barth, Der Römerbrief, München 1919 (21922). Diese Buch "schien Heideggers eines der wenigen Anzeichen für ein echtes geistiges Leben zu sein" (Martin Heidegger im Zeugnis von Karl Löwith, in: Martin Heidegger im Gespräch, hrsg. von Richard Wisser, Freiburg 1970, S. 38-41, S. 39). 15 Georg Trakt, De Profundis, in: ders., Dichtungen und Briefe, S. 46. 16 Walther Killy, Über Georg Trakl, Göttingen 1960, S. 10. 17 Für die Metaphorik von Brot und Wein bei Trakl siehe auch: Jochen Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992, S. 228-246. 18 Georg Trak/, Menschheit, in: ders., Dichtungen und Briefe, S. 43.

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in die imitatio Christi "erglänzt in reiner Helle I Auf dem Tische Brot und Wein" 19 - Bild eines Opfers, das im Tod Leben und Sinn zeigt. Und so heißt es im Gesang des Abgeschiedenen: "Und es leuchtet ein Lämpchen, das Gute, in seinem Herzen I Und der Frieden des Mahls; denn geheiligt ist Brot und Wein I Von Gottes Händen, und es schaut aus nächtigen Augen I Stille dich der Bruder an, dass er ruhe von dorniger Wanderschaft. I 0 das Wohnen in der beseelten Bläue der Nacht. " 20 Doch für Trakl bleibt die Erfahrung des Schweigens Gottes unaufhebbar. Auch in Georg Bernanos' Tagebuch eines Landpfarrers - wir verlassen hier die zwanziger Jahre, obwohl wir weiterhin ihrem "Geist" auf der Spur bleiben - findet sich als Schlüsselmotiv die Dialektik von Hingabe und Erlösung: ,,Alles ist Gnade"21 - mit diesen Worten auf den Lippen stirbt der Landpfarrer, der auf die Nachricht, er leide an Magenkrebs, zunächst nur existenzielle Leere und Einsamkeit spürte: "Ich war meinem Tod gegenüber allein, unbeschreiblich allein, und dieser Tod war so, dass einem das Sein weggenommen war - genau das. Die sichtbare Welt schien sich mir mit erschreckender Schnelligkeit in ein unordentliches Gewirr von Bildern zu verflüchtigen, die nicht grausig, sondern im Gegenteil allesamt leuchtend und strahlend waren. "22 Dieser Verzweiflung angesichts des leuchtend-stahlenden irdischen Reizes begegnet der zunehmend in der Nachfolge Christi lebende -und das bedeutet gerade: sterbende und sich selbst opfernde - Priester dadurch, dass er sich selbst vergisst und hingibt und seine Nahrung auf Brot und Wein beschränkt: "Es ist leichter, als man glaubt, sich zu hassen. Die Gnade besteht darin, dass man sich vergisst. Wenn aber aller Stolz in uns gestorben wäre, dann wäre die Gnade der Gnaden, sich selbst demütig zu lieben als irgendeinen, wenn auch noch so unwesentlichen Teil der leidenden Glieder Christi.'m Bernanos' Tagebuch eines Landpfarrers ist wiederum typisch fUr seine Zeit. Die Krisen- und Katastrophenerfahrung einer gebrochenen und verzweifelten Existenz steht in dialektischer Spannung zur Universalität des Gnaden- und Heilsgeschehens. Vermittlung und Einverständnis des Individuums in sein Schicksal gibt es nur im Tod: "'Alles ist Gnade.' Und ich glaube, fast unmittelbar danach ist er gestorben. " 24 Erlösung zeigt sich an der Schwelle zur Offenheit des Todes. Identität, Einheit mit sich selbst, findet das geschädigte Leben nur in einem Treffpunkt im Unendlichen. 19 20

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Georg Trakt, Ein Winterabend, in: ders., Dichtungen und Briefe, S. 102. Georg Trakt, Gesang des Abgeschiedenen, in: ders., Dichtungen und Briefe, S.

George Bernanos, Tagebuch eines Landpfarrers, Frankfurt a. M. 1956, S. 367. Ebd., S. 338. Für Bemanos' christliche Deutung der Erfahrung des Todes und der Sinnlosigkeit siehe auch: Hans Urs von Balthasar, Gelebte Kirche: Bemanos, Trier 3 1988, v. a. S. 414 ff. 23 George Bernanos, Tagebuch eines Landpfarrers, S. 364. 21

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Dieser Treffpunkt bleibt Stachel und Ansporn für das Denken - auch, wie wir bereits gesehen haben, über die zwanziger Jahre hinaus. "Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist," bemerkt Adomo daher programmatisch, "wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellen. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik." 25 Philosophieren öffnet sich, nach dem Scheitern der rekonstruktiven Systematisierung und des konstruktiven Totalanspruches auf Zukunft und Freiheit der abgründigen Offenheit menschlicher Freiheit und der radikalen Andersheit der Zukunft. Diese apokalyptische Stimmung lässt, in einer trotzigen, fast tollkühnen Weise, auch neu nach Glück und dem Gelingen des Lebens fragen - so etwa bei Adomo in den in den vierziger Jahren geschriebenen und 1951 erstmals veröffentlichten Minima Mora/ia, in denen er sich einem Bereich zuwendet, "der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sentiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben." 26 In gewisser Weise sind die Minima Moralia auch ein Schlüsselwerk für das Verständnis der Weimarer Republik und der daran anschließenden Zeit: Das Grundparadigma der Modeme wird hier in Frage gestellt. Nicht mehr Erkenntnis, sei es die der eigenen unendlichen Freiheit, der Zukunft oder sogar allen Wißbaren, garantiert die Erlösung. Erlösung, das also, was sich nicht mehr herstellen, machen oder bewerkstelligen lässt, wozu keine auch noch so ausgefeilte Technik verhilft, das Licht der Erlösung - das sanfte Schweigen von Brot und Wein leuchtet in dem Schatten, den die Verzweiflung wirft. Fraglichkeit und Gelassenheit sind der Modus dieses Denkens, Dichten seine Sprache, Minimalismus seine Methode, Verzweiflung und das geschädigte Leben allererst sein Ausgang, Glück seine Hoffnung, und Leben, Tod und Entscheidung seine Schlüsselworte. II. Martin Heideggers Philosophie als Philosophie ihrer Zeit Diese Zeit der radikalen Krise und fundamentalen Umbrüche spiegelt sich auch in der Philosophie Martin Heideggers wider. Heidegger selbst hat ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass "[j]ede Philosophie [... ] die Philosophie ihrer Zeit und [... ] nur dann echte Philosophie"27 sei. "Sie (sei!. die PhiTheodor W. Adorno, Minima Moralia, Darmstadt 1998, S. 283. Ebd., S. 13. 27 Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, hrsg. von Claudius Strube (GA 28), Frankfurt a. M. 1997, S. 344. 25

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losophie, H.Z.) ist, was sie sein kann," so Heidegger an anderer Stelle, "nur als Philosophie ihrer ,Zeit'."28 Das beinhaltet einen besonderen Anspruch an das Philosophieren: "Das Philosophieren muß, ob es um sich selbst weiß oder nicht, so sein, dass es für seine Zeit da ist, wenn seine Zeit gekommen ist. " 29 Inwiefern ist aber Heideggers Denken für seine Zeit da? Inwiefern ist seine Zeit gekommen? Und ist - umgekehrt gefragt - der zeit- und ideengeschichtliche Kontext ein Schlüssel für das Verständnis des Denkens Heideggers?30 Vor dem Hintergrund der im ersten Teil dieses Aufsatzes in groben Zügen entwickelten (und daher nur sehr thetischen) Skizze des "Zeitgeistes" der Weimarer Republik wird sich deutlich zeigen, inwiefern auch Heideggers Philosophie Philosophie ihrer Zeit ist. Die Skizze der Zeit- und Ideengeschichte wird viele Motive, die für die Philosophie Heideggers der zwanziger Jahre charakteristisch sind, zwar nicht erklären, aber doch verständlicher machen. Leben, Tod und Entscheidung werden sich auch als Schlüsselbegriffe für das Denken Martin Heideggers erweisen. Dabei wird es in unserer Untersuchung auch darum gehen müssen, die nicht eigens explizierten Voraussetzung und Implikationen des Denkens Heideggers deutlich zu machen: "Sie müssen begreifen," so mahnt Heidegger nämlich seine Zuhörer in der Vorlesung zur "Einführung in das akademische Studium", "dass das Wesentliche oft nicht in dem liegt, was ich hier zu Ihnen rede, sondern in dem, was ich verschweige. Ich kann aber nur zu Ihnen über etwas schweigen, wenn ich zu Ihnen rede." 31 Um besser zu verstehen, inwiefern sich in der Philosophie Heideggers die Erfahrung des ersten Weltkrieges und die Krisenstimmung der Weimarer Republik spiegelt, müssen wir uns zunächst des lebensgeschichtlichen Ausgangs des Denkweges Martin Heideggers und seiner frühen Brüche und Krisenerfahrungen vergewissern.

28 Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), hrsg. von Käte Bröcker-Oltrnanns (GA 63), Frankfurt a. M. 1988, S. 18 29 Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, S. 344. 3 Für die frühe Entwicklung des Denkens Martin Heideggers siehe u.a.: Otto Pögge/er, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1983; Theodore Kisie/, The Genesis of Heidegger's ,Being and Time', Berkeley 1993; A/fred Denker, Omdat Filosoferen leven is. Een archeologie van Martin Heideggers ,Sein und Zeit', Best 1997. Siehe auch: Theodore Kisie/, Heideggers Dankesschuld an Emil Lask. Sein Weg vom Neufichteanismus zu einer Hermeneutik der Faktizität, in: Studia Pha:nomenologica 1/3-4 (2001), S. 221247; Marion Heinz, Philosophie und Weltanschauung. Die Formierung von Heideggers Philosophiebegriff in Auseinandersetzung mit der Badischen Schule des Neukantianismus, in: Studia Pha:nomenologica I/3-4 (2001), S. 249-273; A/fred Denker, Martin Heidegger: Zwischen Herkunft und Zukunft. Die Anfange seines Denkweges, in: Studia Pha:nomenologica 113-4 (2001), S. 275-322. 31 Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, S. 354.

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111. "Herkunft aber bleibt stets Zukunft" und die Erfahrung der Krise Das Denken Heideggers hat seine Wurzeln vor allem in der christlichen Wirklichkeitserfahrung. Heidegger hat mit Nachdruck - in einem oft zi.tierten Wort - darauf aufmerksam gemacht, dass Herkunft stets Zukunft bleibe und dass sein anfängliches Studium der Theologie für ihn stets von Bedeutung geblieben sei: "Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt. Herkunft aber bleibt stets Zukunft." 32 Allerdings wird für Heidegger schon früh die Gewissheit des ihm überlieferten religiösen Glaubens und seiner Heilsverheißung erschüttert. Ein 1911 von Heidegger veröffentlichtes Gedicht zeigt, inwiefern sein Glaube auch von Krisenerfahrungen - das Gedicht trägt den Titel "Ölbergstunden"- geprägt war und welche Lösung sich ihm in seiner Klage zeigte: "Ölbergstunden II Ölbergstunden meines Lebens: I im düstern Schein I mutlosen Zagens I habt ihr mich oft geschaut. II Wein(md rief ich: nie vergebens. I Mein junges Sein I hat müd des Klagens I dem Engel ,Gnade' nur vertraut."33 In einer Situation der persönlichen Krise rettet ihn der Akt des Vertrauens auf den Engel Gnade - ein Vertrauen, das sich auch noch 1915 in einem "Trost" betitelten Gedicht zeigt. Auch in diesem Gedicht sind die Engel Gottes tröstendes Gegenbild zu einer Welt des Todes, des Scheiteros und der Krise: "Die Sonne scheint I ein Stündlein nur. I Muß früh schon sterben. II Die Liebe weint- I Des Lebens Flur I Ein Feld von Scherben. II Wie Gott es meint!- I Auf ew'ger Spur I Geh'n Engel werben." 34 Die göttliche Gnade bleibt für Heidegger ein zentrales Anliegen. In einem Brief vom 01. Mai 1919 an Elisabeth Blochmann kritisiert er etwa einen "Mangel innerer Demut vor dem Geheimnis u. Gnadencharakter allen Lebens."35 Noch 1929 schreibt er an Blochmann: "Denn die Wahrheit unseres Daseins ist kein einfach Ding. Ihr entsprechend hat die innere Wahrhaftigkeit ihre eigene Tiefe und Vielfältigkeit. Sie besteht nicht allein aus den zurechtgelegten rationalen Überlegungen. Sie bedarf ihres Tages und der Stunde, in der

32 Martin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache,Stuttgart101993,S.9 6 33 Martin Heidegger, Ölbergstunden, in: Aus der Erfahrung des Denkens, hrsg. von Hermann Heidegger (GA 13), Frankfurt a. M. 1983, S. 6. Für eine Deutung dieses Gedichtes vor dem Hintergrund von Heideggers "schwerer seelischer Krise des Frühjahrs 1911" siehe auch Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a. M. 1988, S. 71. 34 Martin Heidegger, Trost, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. von Hermann Heidegger (GA 16), Frankfurt a. M. 2000, S. 36. 35 Martin Heidegger I E/isabeth Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, hrsg. von Joachim W. Storck, Marbach am Neckar 1969, S. 14.

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wir das Dasein ganz haben. Dann erfahren wir, dass unser Herz in allem seinem Wesentlichen sich der Gnade offen halten muss."36 Heideggers Gnadenverständnis unterliegt jedoch gewichtigen Transformationen; sein Verhältnis zur Gnadenwirkung hat sich, wie wir sehen werden, im Vergleich zu den "Ölbergstunden" oder zu "Trost" verschoben. Im Wintersemester 1920/21 hält Heidegger eine Vorlesung mit dem Titel "Einleitung in die Phänomenologie der Religion", in der er anband einer phänomenologischen Interpretation des paulinischen Denkens die christliche Lebenserfahrung phänomenologisch zu erfassen sucht. In diesem Zusammenhang bemerkt er: "Es ist fast hoffnungslos, in einen solchen Vollzugszusammenhang hineinzukommen. Der Christ hat das Bewußtsein, dass diese Faktizität nicht aus eigener Kraft gewonnen werden kann, sondern von Gott stammt - Phänomen der Gnadenwirkung.'m Die christliche Faktizität in ihrem Vollzug zeige, so Heidegger, die Grenzen aller rein menschlichen Vollzüge: "Der Vollzug übersteigt die Kraft des Menschen. Er ist aus eigener Kraft nicht denkbar."38 Er beabsichtigt in der Vorlesung daher nicht "eine dogmatische oder theologischexegetische Interpretation, auch nicht eine historische Betrachtung oder eine religiöse Meditation, sondern lediglich eine Anleitung zum phänomenologischen Verstehen zu geben.''39 Heidegger geht es methodisch darum, nicht die Grenzen dessen zu verletzen, was phänomenologisch aufgewiesen werden kann. Phänomenologisch könne nämlich nur in der formalen Anzeige der Bezug, d.h. das "ursprünglich , Wie"'40, in dem ein Phänomen erfahren werde, gezeigt werden, so dass der "Vollzugscharakter noch frei bleibt." Heideggers methodisch-inhaltliche Selbstbeschränkung, aber auch die - sehr persönlich gefärbte - Bemerkung, dass es fast hoffnungslos sei, in den christlichen Vollzugszusammenbang hineinzukommen, geht vor allem auf sein methodologisches Selbstverständnis als Phänomenologe zurück; sie zeigt aber auch die zunehmende Distanz, die Heidegger zum Christentum vor allem in der ihm seit seiner Kindheit vertrauten Gestalt eingenommen hat. Für diese Distanzierung haben wir verschiedene weitere Indizien. 1919 bekennt Heidegger in einem Brief an Engelbert Krebs, dass "erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennen [... ] das System des Katholizismus problematisch u. unannehmbar gemacht" haben - "nicht aber das Christentum und die Metaphysik, diese allerdings in einem neuen Sinne.'' Dabei geht es nicht um fachwissenschaftliche, sondern Ebd., S. 32. Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, hrsg. von Mattbias Jung I Thomas Regehly I Claudius Strube (GA 60), Frankfurt a. M. 1995, S. 121. 38 Ebd., S. 122. 39 Ebd., S. 67. 40 Ebd., S. 63. 36

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um sehr persönliche Einsichten mit ebensolchen Konsequenzen: "Es ist schwer zu leben als Philosoph- die innere Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber u. mit Bezug auf die, für die man Lehrer sein soll, verlangt Opfer u. Verzichte und Kämpfe, die dem wissenschaftlichen Handwerker immer fremd bleiben."41 Dieses philosophische Ethos Heideggers drückt sich auch in einem Brief an Heinrich Rickert aus. Hatte Rickert im Februar 1917 an Heidegger geschrieben, er sei "auch als Philosoph überzeugter Katholik" und müsse "auf jeden Fall an einer Universität bleiben, an der eine katholisch-theologische Fakultät ist,"42 so antwortete Heidegger- sicherlich nicht nur in einem Versuch der captatio benevolentiae: "Ich bin nie auf dem engen katholischen Standpunkt gestanden, dass ich die Probleme, ihre Auffassung und Lösung an außerwissenschaftlichen Gesichtspunkten traditioneller oder sonst welcher Art orientiert hätte und je orientieren würde. Nach freier persönlicher Überzeugung werde ich die Wahrheit suchen und lehren."43 Der katholische Glaube seiner Herkunft ist Heidegger zunehmend fragwürdig geworden, und zwar nicht nur aus - im engen Sinne - biographischen, sondern auch aus - im weitesten Sinne - zeitgeschichtlichen Gründen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt Heidegger: "Die übersinnliche Welt, insbesondere die Welt des christlichen Gottes, hat seine wirkende Kraft in der Geschichte verloren. [... ]Wäre, wenn es anders wäre, der erste Weltkrieg möglich gewesen? Und vollends, wäre, wenn es anders wäre, der zweite Weltkrieg möglich geworden?"44 Wäre es eine unerlaubte Projektion späterer Gedanken Heideggers in die Zeit des ersten Weltkrieges und die Zeit der Weimarer Republik, wenn man davon ausginge, dass Heidegger bereits in diesen Jahren die Erfahrung des "Fehl Gottes" gemacht hat? Ein Indiz dafür findet sich in dem 1916 veröffentlichten Gedicht "Einsamkeit". In diesem Gedicht verknüpft Heidegger die zeitgeschichtliche Situation - "Engel breiten draußen Leichentücher" - mit seiner persönlichen, von der Erfahrung der Sündhaftigkeit charakterisierten Lebenssituation- "Verhärmte Gestalten, die das Licht nie finden, I Irren um mich, meine klagenden Sünden". Der Titel zeigt an, dass nicht mehr die Engel Gottes und ihre Gnadenwirkung Heideggers Erfahrung bestimmen, sondern eine radikale Einsamkeit und Distanzierung von der Vergangenheit 41 Martin Heidegger, Brief an Engelbert Krebs, in: Bernhard Casper, Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger DiözesanArchiv 100, S. 534-541 (der Brief wurde mit einer kleinen Korrektur auch abgedruckt in: Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, S. 106-7). 42 Martin Heidegger I Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente, aus den Nachlässen hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt a. M. 2002, S. 40. 43 Ebd., S. 42. 44 Martin Heidegger, Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, in: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933, herausgegeben von Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 2 1990, S. 25.

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"Erinnerung stirbt. Die Welt steht still" -, in der nur noch ein Gefiihl zeigt, welcher Trost hätte möglich sein können: "Ich fiihl', wie Gottesliebe aufflammen will -." Aber selbst die Gottesliebe will nicht mehr aufflammen, geschweige denn die Erfahrung göttlicher Gegenwart, kalt ist die Szenerie, die Heidegger beschreibt: "Es schneit."45 Ein weiterer wichtiger Faktor fiir die Entwicklung des Heideggerschen Denkens ist daher auch die Erfahrung des "Fehls Gottes", die Erfahrung also, dass die durch das Christentum zum Ausdruck gebrachten Sinnvorstellungen nicht mehr tragen. Während Heidegger sich in einer Phase der kritischen Auseinandersetzung mit seinen katholischen Wurzeln zunächst an protestantischen Theologien bzw. an im Protestantismus im Vordergrund stehende Theologoumena orientiert - in denen sich ja gerade auch die Erfahrung der Fremdheit Gottes und der Unvorhersehbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens ausdrückt radikalisiert sich Heideggers religiöser Zweifel im Verlauf der zwanziger Jahre. So fordert er ausdrücklich eine Befreiung aus dem, so in seiner Interpretation des platonischen Höhlengleichnisses, "mythischen Dasein" in der Höhle: "eingeschlossen in einen festen und gleichen Kreis des Seienden, unter der Hut des Schutzbietenden, des Heiligen. Wahrheit ist hier also nicht Unverborgenheit des Seienden, sondern Geborgenheit des Daseins."46 Diese Geborgenheit des Daseins wie auch die trügerische Suche nach Geborgenheit versucht Heidegger radikal hinter sich zurück zu lassen. Dieser Versuch zeigt sich deutlich auch im Wintersemester 1925/26 in der Vorlesung "Logik. Die Frage nach der Wahrheit". In dieser Vorlesung entwickelt Heidegger eine radikale Kritik der neukantianischen Wertphilosophie. Diese habe sich an den drei Kritiken Kants- der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft - orientiert und das Wahre, Gute und Schöne als Grundwerte aufgezeigt. Da Kant sich aber nicht mit der Religion in einer solchen Weise auseinander gesetzt habe, "dass man diese Behandlung den ,Kritiken' gleichstellen könne" und da die Religion im System auch untergebracht werden müsse, habe man "zu diesem Zweck den Wert des Heiligen erfunden. Das Heilige ist zwar nach Windelband kein selbständiger Wert- so etwas zu sagen um 1900 und vor dem Kriege wäre gewagt. Da nun aber die Welt seit dem Krieg sehr religiös geworden ist," so erläutert Heidegger, "kann man schon riskieren zu sagen, die Religion sei auch ein Wert, ja sogar hierbei bleibt man nicht stehen, sondern- die Einsichten werden

45 Martin Heidegger, Einsamkeit, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910-1976, S. 40. 46 Martin Heidegger, Einführung in das akademische Studium, in: Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, S. 353.

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vermutlich noch tiefer - Gott ist ein Wert und selbst der höchste Wert." 47 Der sarkastische Ton verrät, inwieweit Heidegger persönlich in diese Frage involviert ist. Es geht ihm um mehr als um bloße Diagnose der zeitgenössischen Tendenzen der Philosophie. Während nämlich die Welt seit dem ersten Weltkrieg religiöser geworden sei und sich durch religiöse Werte wie die des Heiligen oder sogar Gottes abzusichern tendiere, hat Heidegger diese vermeintliche Sicherheit verloren und durchschaut, worum es sich seiner Ansicht nach in Wahrheit handelt, nämlich um eine Strategie, die Fraglichkeit und Unsicherheit des menschlichen Lebens zu leugnen. Gleichzeitig bleibt die Frage nach einem angemessenen Verständnis Gottes und des Heiligen - in alle~ Ambivalenz seines eigenen Denkens - ein Anliegen Heideggers. So bezeichnet er etwa die Reduktion Gottes auf einen Wert als eine "Blasphemie, die dadurch nicht herabgemindert wird, dass sie Theologen als letzte Weisheit vortragen. " 48 Die Option eines sichemden und die Radikalität existentieller Erfahrungen ausschließenden Glaubens steht ihm aber nicht mehr offen. Philosophie und Theologie bzw. religiöser Glaube sind streng voneinander getrennt: "Der Philosoph glaubt nicht."49 Dass diese Trennung allerdings nicht rein methodischer Natur ist, sondern mit einer zentralen inhaltlichen Akzentverschiebung verbunden ist, zeigt sich auch an Heideggers zunehmend kritischer Haltung dem Denken S0ren Kierkegaards gegenüber. Skizzenhaft zeigt sich folgende Veränderung seiner Einschätzung Kierkegaards: 1923 verweist Heidegger auf die zentrale Bedeutung Kierkegaards für sein Denken, indem er bekennt, dass "Begleiter im Suchen [... ] der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener hasste" gewesen seien. "Stöße gab mir Kierkegaard [ ... ] ."50 In Sein und Zeit findet sich folgende bereits distanziertere Fußnote über die Größe und die Grenze des Denkens Kierkegaards: "Im 19. Jahrhundert hat S. Kierkegaard das Existenzproblem als existenzielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich durchdacht. Die existenziale Problematik ist ihm aber so fremd, dass er in ontologischer Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit Hegels und der durch diesen gesehenen antiken Philosophie steht. Daher ist von seinen ,erbaulichen' Schriften philosophisch mehr zu lernen als von den theoretischen - die Abhandlung über den Begriff der Angst ausgenommen."51 1929 notiert Heidegger in den Beilagen zu seiner Vorlesung zum deutschen Idealismus: "Realität - Idealität, Substantialität - Subjektivität. 47 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Walter Biemel (GA 21), Frankfurt a. M. 2 1995, S. 83 f. 48 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 84. 49 Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Juli 1924, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Tietjen, Tübingen 1995, S. 6. so Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), S. 5. SI Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 17 1993, S. 235.

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Kierkegaard ist philosophisch, methodisch nie über diesen Gegensatz hinausgekommen, sondern hat an die Stelle des Subjekts die christliche Auffassung vom Menschen gesetzt. Er war vom entscheidenden Problem noch weiter entfernt als der deutsche Idealismus, weil er die eigentliche Leidenschaft nicht begriff, sondern mißdeutete. Grober Mißverstand."52 Heidegger distanziert sich also zunehmend von dem christlichen "Existentialismus" Kierkegaards und ordnet ihn als eine dem Deutschen Idealismus philosophisch untergeordnete und letztlich reaktionär-christliche Position ein. Gleichzeitig rückt die Philosophie des Deutschen Idealismus ab Ende der zwanziger Jahre in das Interesse Heideggers. Er schreibt im Juni 1929 an Karl Jaspers: "Zur Zeit lese ich zum ersten Mal über Fichte, Hege!, Schelling - und es geht mir wieder eine Welt auf, die alte Erfahrung, dass die anderen nicht für einen lesen können."53 Das Aufgehen dieser Welt hat allerdings Voraussetzungen in Heideggers eigenem Philosophieverständnis und Rückwirkungen auf dieses. Hier mag auch einer der Gründe dafür liegen, dass sich im Verlauf der zwanziger Jahre der Stil und Anspruch des Heideggerschen Denkens ändern. In seinen frühen Freiburger (und in den Marburger Vorlesungen in immer geringerem Maße) geht Heidegger zusammen mit seinen Hörern einen Weg des Fragens und hat die Aufgabe der Philosophie folgendermaßen bestimmt: "Das eigentliche Fundament der Philosophie ist das radikale existenzielle Ergreifen und die Zeitigung der Fraglichkeit; sich und das Leben und die entscheidenden Vollzüge in die Fraglichkeit zu stellen ist der Grundergriff aller und der radikalen Erleuchtung." 54 Gerade der Begriff der "radikalen Erleuchtung" zeigt aber bereits eine Ambivalenz, die darauf verweist, dass zunehmend eine prophetische und quasi-religiöse Dimension in den Vordergrund des Heideggerschen Denkens rückt, die durchaus an den Anspruch und das Selbstverständnis der idealistischen Philosophen erinnert. Die Philosophie oszilliert somit zwischen der Aufgabe der Problemanzeige in einer radikalen Zeitigung von Fraglichkeit und der Aufgabe, definitive Antwort auf die Fragen, die sie formuliert, zu geben. In gewissem Sinne stellt sie den Anspruch, die Krise der Gegenwart zu überwinden und neuen definitiven Sinn zu stiften. Unter der Vor52 Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, S. 263. 53 Martin Heidegger I Kar/ Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, hrsg. von Walter Biemel I Hans Saner, Frankfurt a. M. 1990, S. 123. 54 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einfilhrung in die phänomenologische Forschung, hrsg. von Walter Bröcker I Käte BröckerOltmanns, (GA 61), Frankfurt a. M. 2 1994, S. 35. Ebd. stellt Heidegger einen ausdrücklichen Bezug der, wie er später sagen sollte, Hermeneutik der Faktizität zur Fraglichkeit her: "Mit dieser Fraglichkeil macht die philosophische Interpretation der Faktizität Ernst, [...) so, dass sie lediglich konkret und in konkret verfilgbaren Direktionen die Fraglichkeit zeitigt und behält, und damit aber gerade den Vollzug des Zugangs zu faktischem Leben in der Lebendigkeit hält."

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aussetzung der vorgängigen Kritik überlieferter Sinnstiftung als Zeugnis von Sicherungstendenzen, Verfallenheit oder Uneigentlichkeit und der damit verbundenen Explikation radikaler Fraglichkeit wird ihr zunehmend eine sinndeutende und sinn-stiftende Aufgabe eingeräumt. Hierin zeigt sich deutlich der ambivalente Charakter des Heideggerschen Denkens zumindest auf einer wichtigen Station seines Denkweges. Wie sich Heideggers philosophisches Selbstverständnis seit seinen frühen Freiburger Vorlesungen entwickelt hat, inwiefern sein Philosophieren von einer Ambivalenz gekennzeichnet ist und worin sich der prophetisch-religiöse Charakter seiner Philosophie als einer Philosophie des Lebens, des Todes und der Entscheidung äußert, werden wir im folgenden genauer darstellen. IV. Leben, Tod und Entscheidung als Schlüsselbegriffe der Philosophie Heideggers

Heidegger hat vor allem in seinen frühen Freiburger Vorlesungen immer wieder die Frage erörtert, was denn eigentlich Philosophie sei. Die Philosophie selbst und ihre Methode waren ihm zu einem zentralen Problem geworden. Seine eigene Position hat er vor allem in Auseinandersetzung mit der scholastische Schulphilosophie, mit dem Neukantianismus und mit der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls gefunden. Hatte Husserl noch Philosophie als "strenge Wissenschaft"55 definiert, so ist fiir Heidegger - nachdem er im Kriegsnotsemester 1919 und im Wintersemester 1919/20 Philosophie als Urwissenschaft definierte - zunehmend der Gedanke, dass die Philosophie (bzw. die vor-theoretisch Urwissenschaft) keine Wissenschaft sei, von zentraler Bedeutung. In kritischer Auseinandersetzung mit Husserls Philosophieverständnis formuliert Heidegger in der "Einleitung in die Phänomenologie der Religion": "Nur durch Philosophieren selbst, nicht durch wissenschaftliche Beweise und Definitionen, d.h. nicht durch Einordnung in einen allgemeinen, objektiv geformten Sachzusammenhang"56 lasse sich das Selbstverständnis der Philosophie erreichen; Wissenschaft und Philosophie seien prinzipiell verschieden. 57 Mit dieser Bestimmung der Philosophie und dieser Kritik der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls kündigt sich Heideggers Wende zur hermeneutischen Phänomenologie an: "Der Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie ist die faktische Lebenserfahrung."58 Heidegger erblickt die Wichtigkeit der Philosophie darin, "dass anstelle des Nebulösen, in dem sich die übliche Philosophie bewegt, das Konkrete, das letzte Konkrete phänomenologisch faßss Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1965. Martin Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, S. 8. 57 Ebd., s. 9. ss Ebd., s. 10.

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bar gemacht werden muß und kann, dass allerdings diese Konkretisierung solcher ,abstrakter' Probleme erst in und durch die phänomenologische Methode sich vollzieht."59 Damit rückt die faktische, endliche Existenz des Menschen in den Vordergrund der Philosophie. Der Anspruch des Denkens, ein Systemganzes der Wirklichkeit zu bedenken, ist zurückgewiesen,60 Philosophie wird als Hermeneutik der Faktizität bestimmt. Mit Husserl hält Heidegger aber daran fest, dass die Phänomenologie eine philosophische Methode ist, und kennzeichnet Phänomenologie als "zunächst nichts anderes als eine Weise der Forschung, nämlich: etwas Ansprechen, wie es sich zeigt und nur soweit es sich zeigt."61 Nur wer dem phänomenologischen Ruf ,,Zu den Sachen selbst!"62 folgt, nur wer in der Haltung der Epoche alle Vorurteile und alles Vorauswissen eliminiert, wird nachvollziehen können, was die phänomenologische Methode sehen läßt: Nur in der "phänomenologischen Einstellung"63 kann man dieses Philosophieren nachvollziehen was, so Heidegger, "keine Sache einer gelehrten Diskussion ist, sondern eine Sache, über die der einzelne Philosoph nichts weiß, und die eine Aufgabe ist, der der Philosoph sich zu beugen hat."64 Phänomenologie wird von Heidegger- gegen die von ihm kritisierte Dialektik - daher als "Stufe der unmittelbaren Erkenntnis"65 bezeichnet, die "nur phänomenologisch zugeeignet werden (scil.: kann, H.Z.), 59 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), S. 26. Auch noch im Spätwerk ist das Denken durch diese Suche nach dem letzten Konkreten, nach einem Einfachen gekennzeichnet: "Das Einzige, was das Denken, das sich in ,S. u. Z.' zum ersten Mal auszusprechen versucht, erlangen möchte, ist etwas Einfaches. Als dieses bleibt das Sein geheimnisvoll, die schlichte Nähe eines unaufdringlichen Waltens." (Martin Heidegger, Über den Humanismus. Brief an Jean Beaufret, in: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 3 1975, S. 53-119, S. 78). 60 Ganz ähnlich äußert sich zu dieser Frage auch Theodor W. Adorno: "Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: dass es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen." (Theodor W. Adomo, Die Aktualität der Philosophie, Darmstadt 1998, S. 325). 61 Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), S. 71 62 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen 11.1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Text d. 1. u. 2. Auflage, hrsg. von Ursula Panzer (Hua XIX/I), Den Haag 1984, S. 6 (§ 2) und Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen ~1986,8. 27,8.34. 63 Zur "phänomenologischen Einstellung" vgl. zum Beispiel: Edmund Husser/, Grundprobleme der Phänomenologie 1910/11, hrsg. von lso Kern, Text nach Hussediana Band XIII, 2., durchgesehene und um ein Literaturverzeichnis erweiterte Auflage, Harnburg 1992, 8. 52 ff. (§ 15) und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff "Einstellung": Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, S. 48. 64 Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer, in: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 51991, 8. 246-268, 8. 257. 65 Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), S. 44.

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d.h. nicht so, dass man Sätze nachredet, Grundsätze übernimmt oder an Schuldogmen glaubt, sondern durch Ausweisung."66 Definitionen sind von dieser Philosophie nicht zu erwarten, nicht einmal solche, die ihre eigene Aufgabe umschreiben: "Es gibt," so Heidegger über die Phänomenologie, "keine Definitionen in dem üblichen Sinn und es gibt in der Philosophie überhaupt nicht Definitionen solcher Art."67 Was aber kann Philosophie in ihrer Unmittelbarkeit als das "lebendige Mitgehen mit dem echten Sinn des Lebens" und das "verstehende Sicheinfiigen"68 (scil., in das Leben an sich, H.Z.) unter den zeitgeschichtlichen Umständen- in dem Prozess "der inneren Selbstauflösung der heutigen Existenz"69 - noch leisten? Sind die überlieferten Sicherheiten zerbrochen, so Heidegger, komme es darauf an, den "Sicherungstendenzen" und Weltanschauungen Widerstand zu leisten, die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz anzunehmen und die Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Daseins zu thematisieren und auszuhalten. Dies richtet sich gegen Tendenzen zum Übergeschichtlichen, die Heidegger in seiner Zeit feststellt: "Nicht genug, dass das heutige Dasein sich in die gegenwärtige Pseudogeschichte verloren hat, es muss auch den letzten Rest ihrer Zeitlichkeit (d.i. des Daseins) dazu benutzen, um sich ganz aus der Zeit, dem Dasein, fortzustehlen. Und auf diesem phantastischen Wege zur Übergeschichtlichkeit soll die Weltanschauung gefunden werden. (Das ist die Unheimlichkeit, die die Zeit der Gegenwart ausmacht.)"70 In dieser Philosophie und ihrer radikalen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie spiegelt sich deutlich ihre Zeit - die Zeit nach den Erschütterungen des ersten Weltkrieges: "Diese Jahr nach dem Ersten Weltkrieg", so Karl Löwith, "waren die schönsten, reichsten und fruchtbarsten meiner Generation. Sie brachten fast alles hervor, wovon wir auch heute noch geistig leben. Sie waren zugleich gekennzeichnet durch eine Kritik an allem Überlieferten und noch Bestehenden, von deren Radikalität sich die heutige junge Generation keine rechte Vorstellung machen kann, weil sie nicht, nach einer eben überstandenen Katastrophe, aus einem echten Hunger und Drang, sondern aus Saturiertheit und Überdruss rebelliert. Das Schlagwort von Sein und Zeit: die Destruktion der gesamten überlieferten Metaphysik oder Ontologie hatte in dieser Situation nach dem Ersten Krieg sein treibendes Motiv. Es sprach uns Ebd., S. 46. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einfiihrung in die phänomenologische Forschung, S. 18. 68 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), hrsg. von Hans-Helmuth Gander (GA 58), Frankfurt a. M. 1993, S. 23. 69 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 36. 70 Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Macburger Theologenschaft Juli 1924, S. 25. 66 67

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unmittelbar positiv an, weil man in dem Bewußtsein lebte, dass nichts Bestehendes Bestand haben kann, wenn es nicht von Grund auf kritisch in Frage gestellt und erneuert wird.'m Diese radikale Infragestellung des Bestehenden, in der das Leben, die faktische Existenz, der Tod und die existenzielle Entscheidung zu Grundthemen der Philosophie werden, zeigt aber eine Dialektik, innerhalb der das Motiv der Fraglichkeit seinen Widerpart im dezisionistischen Motiv der Entschlossenheit findet. Da alles fraglich ist, haftet der Entschlossenheit eine Unbestimmtheit an, die das "entschlossene Da-sein" gewissermaßen für alles entschlossen machen kann und es der Gefahr, verführt oder in die Irre geleitet zu werden, aussetzt. Eine ähnliche Dialektik und Ambivalenz zeigt sich auch im Hinblick auf den impliziten systematischen Anspruch der Philosophie Heideggers. Bereits Jaspers hat bemerkt, dass in Sein und Zeit, "[d]ie Existenzerhellung, die auf dem Grunde der seit Kierkegaard sich entfaltenden Existenzphilosophie versucht wird, [... ] durch den monistischen Systemgedanken zugleich verdeckt" sei. 72 Damit zeigt sich in Heideggers Denken die Gefahr, dass die Offenheit des Fragens und die weltanschauliche "Enthaltung" der Phänomenologie als einer Methode des Philosophierens unterminiert wird - durch dezisionistische Motive, die im Kontext dessen, was Jasper den "monistischen Systemgedanken" nennt, ihre Legitimation finden. Diese Ambivalenz zeigt der Denkweg Heideggers in den Jahren direkt nach Sein und Zeit sehr deutlich. Im Sommersemester 1929 hat Martin Heidegger eine Vorlesung zur "Einführung in das akademische Studium" gehalten. 73 In dieser Vorlesung thematisiert Heidegger die Krise des akademischen Lebens. Angesichts dieser Krise sei, so Heidegger, eine Einführung in das akademische Studium gerade auch für die Lehrenden notwendig. Heidegger spricht davon, dass das akademische Studium fragwürdig geworden sei und dass gerade am Ende des Studiums eine "eigentümliche Unruhe" auftauche, und bezieht sich auf die "Ratlosigkeit gerade der Besten nach vollendetem oder fast vollendetem Studium, die Erkenntnis, dass ihnen trotz größter Kenntnisse ihrer Wissenschaft etwas Wesentliches fehlt." 74 Die Antwort, die Heidegger gibt, mahnt zur 71 Martin Heidegger im Zeugnis von Kar! Löwith, in: Martin Heidegger im Gespräch, S. 38-41, S. 38 f. 72 Kar/ Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, hrsg. von Hans Saner, München 1978, s. 32. 73 Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, S. 345-361. Der Titel dieser Vorlesung erinnert an Schellings "Einführung in die Methode des akademischen Studiums". Gerade angesichts der erneuten Beschäftigung Heideggers mit dem deutschen Idealismus ist diese Ähnlichkeit nicht zufällig. 74 Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hege!) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, S. 347.

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inneren Verwandlung, zum Warten und zum Opfer: "Wir müssen reif werden für eine innere Wandlung an uns. Es heißt vor allem warten können [... ]. Der Wandel kann nur geschehen, wenn wir lernen, uns zu opfern.'m Das Warten, so Heidegger noch 1944/45, ist eng mit dem Tod verknüpft: "Der Mensch ist als dasjenige Wesen, das sterben kann, das wartende Wesen."76 Solange kein Sinn sich am Horizont der Geschichte abzeichnet, gilt es daher zu warten, sich zu wandeln, für den Tod bereit zu sein und darin eigentlich zu werden. Denn der Tod, so Heidegger, ist je unser Tod; wir können nicht - noch nicht einmal im Opfer - für den anderen sterben. Der Tod ist "die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit."77 Selbst im Opfer sterbe ich meinen eigenen Tod und kann nicht für den anderen sterben: "Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. Jeder kann wohl ,für einen anderen in den Tod gehen'. Das besagt jedoch immer: für den Anderen sich opfern ,in einer bestimmten Sache'. Solches Sterben für[ ... ] kann aber nie bedeuten, dass dem Anderen damit sein Tod im geringsten abgenommen sei. Das Sterben muss jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen.'m Die Überlegungen zur inneren Wandlung, zum Tod, Warten und Opfer zeigen deutlich, dass Heideggers Philosophie nicht mehr nur eine Methode des Denkens darstellt und auch nicht mehr nur ein "radikales existenzielles Ergreifen und die Zeitigung der Fraglichkeit" ist. Sie zeigen vielmehr, dass Heidegger selbst eine radikale und bis in den Ton hinein prophetisch-religiöse Antwort auf die Frage, als die der Mensch sich erfährt, formuliert. Diese Überlegungen zeigen auch, dass Heideggers Philosophie in ihrer Analyse der Entschossenheit und des Daseins zum Tode unterschwellige Voraussetzung über den Menschen und den Sinn menschlichen Lebens macht. Otto Pöggeler hat daher die folgende Frage gestellt: "Wohl aber muss gefragt werden, ob Heidegger nicht die Motive der Daseinsanalyse überhaupt falsch ansetzt. So hat schon Max Scheler, auf den Heidegger sich bei seiner Zuwendung zur ,emotionalen' Sphäre stützte, geltend gemacht, der Tod könne nur zusammen mit der Geburt und so mit der Tendenz des Lebens, Neues herzustellen, verstanden werden; Sorge und Angst im Vorlaufen zum Tode müssten zusammengesehen werden mit der Liebe, die den Anderen bejaht."79 Warum aber hat Heidegger die Liebe, die den Anderen bejaht, nicht berücksichtigt? Dies hängt vielleicht mit einer solipsistischen und gewissermaßen positivistischen Dimension von Heideggers Existentialontologie zusammen, auf die schon Jaspers in

Ebd., S. 348. Martin Heidegger, Feldweg-Gespräche (1944/45), hrsg. von Ingrid Schüßler (GA 77), Frankfurt a. M. 1995, S. 225. 77 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 250. 78 Ebd., S. 240. 79 Otto Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg 1992, S. 66. 75

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seiner Kritik an Sein und Zeit aufmerksam gemacht hat: "Heideggers Philosophie bis jetzt gottlos und weltlos, faktisch solipsistisch. Gradlinig und blind in der Akzentuation der ,Entschlossenheit'. I Ohne Liebe. Daher auch im Stil uDliebenswürdig. Nur ,Entschlossenheit', nicht Glaube, Liebe, Phantasie. Ein neuer Positivismus. Spannung der weit- und gottlosen Existenz in sich selbst zu ungeheurer Intensität. Disziplin, verzweifelte Entschlossenheit. Unbedingte, aber leere Energie."80 Warum aber handelt es sich nach Jaspers bei Heideggers Denken um einen "neuen Positivismus"? Zunächst einmal scheint diese Charakterisierung dem in seinen phänomenologischen Ursprüngen antipositivistischen Anliegen Heideggers nicht gerecht zu werden. Hat Jaspers die Pointe der in Sein und Zeit entwickelten Fundamentalontologie nicht verstanden? Wollte er sie nicht verstehen? Oder spricht sich in seiner Kritik ein berechtigtes Anliegen aus? Jaspers selbst gibt uns Hilfestellungen, um den Positivismusvorwurf besser zu verstehen: Ein Denken, dem es "gradlinig und blind" um eine inhaltlich nicht konkretisierte Entschlossenheit geht und das keinen Platz fiir Gott, den anderen Menschen, Liebe, Glaube und Phantasie offen hält, steht in der Gefahr, Wirklichkeit auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zu reduzieren. Damit ist verbunden, dass der Tod eine so zentrale Position als Woraufhin des Daseins hat und das Dasein den Anschein einer in sich verschlossenen "weit- und gottlosen Existenz" macht. Über die Transzendenz des Todes hinaus gibt es dann keinerlei transzendente Bezugsgrößen mehr. Das meint Jaspers, wenn er von der fiir das Dasein charakteristischen "leeren Energie" spricht. Die teleologische Spannung, in der der Mensch steht, der nämlich zwischen dem bloßen Leben und dem guten bzw. besseren Leben, kann dann nicht mehr gedacht werden. Darin konvergiert Heideggers Denken, so scheint Jaspers nahezulegen, mit dem Positivismus, dass das einzige Telos, das unter den Voraussetzungen dieser reduktionisitischen Wirklichkeitsbetrachtungen verbleibt, das grundlegendste (und, wenn man so will, "natürlichste" und empirisch eindeutig fassbare) Woraufhin des Menschen ist: der Tod. Ähnlich wie der Positivismus die Orientierung des Menschen an transzendenten Bezugsgrößen bestenfalls noch als naturwüchsigen Trieb verstehen kann und Leben vor allem als Selbsterhaltung deutet, geht es fiir Heidegger dem Dasein als Sein zum Tode um sein Sein selbst. Und hier müssen wir betonen: nur um sein Sein selbst. In ähnlicher Weise zeigt auch der Begriff der "Geworfenheit" ein einseitiges und reduktionistisches Verständnis des Menschen, das seinen Intentionen entgegen mit einer positivistischen Wirklichkeitsbetrachtung konvergiert. Der Mensch ist wie die Tiere - von einem blinden Schicksal in sein Leben geworfen. Man kann vermuten, dass diese perspektivische Verengung zum einen mit der Kri-

°Kar/ Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, S. 33 f.

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senerfahrung des ersten Weltkrieges und der Zeit der Weimarer Republik zusammenhing, zum anderen damit, dass Heideggers religiöse Krise wie auch sein philosophischer Denkweg es ihm unmöglich machten, zu verstehen, inwiefern der Mensch auf mehr und auch auf grundsätzlich anderes als primär auf den Tod hingeordnet ist. Dies hat Jaspers vermutlich im Sinn gehabt, als er von einem "neuen Positivismus" sprach - eine Kritik an Heidegger, die sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Heidegger in verschiedenen Modifikationen und Akzentsetzungen wiederfinden sollte - etwa bei Emmanuel Levinas. Da die Erfahrung es nicht mehr erlaubt, von einer grundsätzlichen Geborgenheit des Daseins auszugehen und da die Möglichkeit der Gnade im christlichen Sinne nicht mehr gegeben ist, übernimmt die Philosophie in ihrer Daseinsanalyse daher zunehmend auch prophetische und Sinn-anzeigende Aufgaben und formuliert eine - wenn auch weitestgehend abwartend-vertröstende Antwort auf die Frage danach, wie sich die fundamentale Krise, die mit dem ersten Weltkrieg ihren Beginn nahm, überwinden lasse: Nach der Destruktion überlieferter Sicherheiten und Gewißheiten schlägt der Gestus der Fraglichkeit in die neue Sicherheit der Entschlossenheit, des Opfers und des Wartens um. Es mag das Schicksal einer jeden fundamentalen Kritik sein, dass die verdrängten und vermeintlich zurückgelassenen Motive zurückkehren und im Verborgenen weiter wirken. Als Teil dieser Dialektik bleibt Heidegger ein Denker der Moderne. Gerade auch in der Rektoratsrede von 1933 zeigt sich deutlich- und vielleicht am problematischsten - dieser Aspekt des Denkens Heideggers. Unsere skizzenhafte Interpretation dieses Textes dürfte auch deutlich machen, inwiefern die Rektoratsrede innerhalb ihres zeit- und ideengeschichtlichen Kontexts sowie als Station auf dem Denkweg Martin Heideggers - als Zeugnis eines Denkens von Leben, Tod und Entscheidung- interpretiert werden muss.81 Heidegger geht in seiner Rede von drei gleichursprünglichen Bindungen der deutschen Studentenschaft aus, die sich in drei verschiedenen Diensten ausprägen: "Die erste Bindung ist die an die Volksgemeinschaft. Sie verpflichtet zum mittragenden und mithandelnden Teilhaben am Mühen, Trachten und Können aller Stände und Glieder des Volkes. Diese Bindung wird fortan festgemacht und in das studentische Dasein eingewurzelt durch den Arbeitsdienst." Hier zeigt sich das Motiv des "Lebens", der faktischen Geworfenheit in eine bestimmte geschichtliche Situation und der Lebenserfahrung in einer Volksgemeinschaft. Das Todesmotiv findet sich im Gedanken, dass der "Wehrdienst" der Bindung 81 Damit ist nicht zum Ausdruck gebracht, dass die politische Dimension der Rektoratsrede vernachlässigt werden könne, sondern nur, dass diese Dimension hier nur sekundär von Interesse ist. Zudem muss man den Text der Rektoratsrede zunächst einmal in seiner philosophischen und ideengeschichtlichen Dimension lesen und in diesem Kontext verstehen, um auf dieser Grundlage seine politische Dimension und die damit verbundene Problematik aufzeigen zu können.

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"an die Ehre und das Geschick der Nation inmitten der anderen Völker" entspreche: "Sie verlangt die in Wissen und Können gesicherte und durch Zucht gestraffle Bereitschaft zum Einsatz bis ins Letzte." Dem Arbeits- und Wehrdienst ist der Wissensdienst als "gleich notwendig und gleichen Ranges" beigeordnet. Er entspricht der "Bindung der Studentenschaft[...] an den geistigen Auftrag des deutschen Volkes. Dies Volk wirkt an seinem Schicksal, indem es seine Geschichte in die Offenbarkeit der Übermacht aller weltbildenden Mächte des menschlichen Daseins hineinstellt und sich seine geistige Welt immer neu erkämpft. So ausgesetzt in die äußerste Fragwürdigkeit des eigenen Daseins, will dies Volk ein geistiges Volk sein. [ ... ) Aber dieses Wissen ist uns nicht die beruhigte Kenntnisnahme von Wesenheiten und Werten an sich, sondern die schärfste Gefährdung des Daseins inmitten der Übermacht des Seienden. Die Fragwürdigkeit des Seins überhaupt zwingt dem Volk Arbeit und Kampf ab [... )."82 In dieser Fragwürdigkeit ist der Mut zur Entscheidung und zum Opfer verlangt: der Wille, ein geistiges Volk zu sein. Die Philosophie ist unter der Hand zu einer sinnstiftenden und orientierenden Instanz geworden, der es nun weniger um die Artikulation der Fraglichkeit der menschlichen Existenz geht, als darum, prophetisches Sprachrohr einer verfiihrerischen Antwort auf die inhaltliche Leere der Entschlossenheit zu sein. V. Ein Ausblick: Gelassenheit und die Armut des Denkens Heidegger hat auf seinem Denkweg selbst gesehen, inwiefern sein Denken ihn in eine Sackgasse geführt hat, für die - neben dem fragmentarischen Charakter von Sein und Zeit - die Rektoratsrede vielleicht das deutlichste Zeichen ist. In seinem Spätwerk entwickelt er Gedanken, die an die frühe Hermeneutik der Faktizität erinnern und seine zumindest in hohem Maße naiven und fehl geschlagenen Versuche, aus der Sicht des Philosophen Antworten auf die radikale Fraglichkeit, in der der Mensch sich findet, zu formulieren, infrage stellen. Gelassenheit, Warten - in einem weit radikaleren Sinne als zuvor- und die Armut des Denkens werden zu neuen Schlüsselworten eines Philosophierens, das nicht einmal mehr den Begriff der Philosophie für sich in Anspruch nimmt, sondern sich nur noch als Denken versteht: "Wer sich ins Wartenkönnen findet, übertriffi alles Leisten und dessen Erfolge, wobei das Warten nie auf ein Überholen rechnet."83 Wer aber warte, lerne allererst die rechte Genügsamkeit, um Lehrer der großen Armut sein zu können. 84 Das Denken befindet sich daher 82 Für die Rektoratsrede vgl.: Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Ubemahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933, S. 9-19. 83 Martin Heidegger, Feldweg-Gespräche (1944/45), S. 227. 84 Ebd., S. 226.

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nach Heidegger "auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens."85 Auch der späte Heidegger hält daran fest, dass man sich falscher Sicherungstendenzen erwehren müsse: "Sicherheit (was man darunter versteht) entspringt nicht aus Sicherungen und Maßnahmen dafur; Sicherheit beruht in der Ruhe und wird durch diese selbst überflüssig. Was aber ist Ruhe ohne das, worin das Ruhende beruht? Wo ist beruhen, ohne ein Gehören in das Eigentum? Wo ist solches Gehören, ohne die Ereignung? Wo ist Ereignung ohne das Ereignis?" 86 Das dankende Denken als Warten auf das Kommende bleibt in seiner Frage nach dem Heilenden87 ungesichert. Es nimmt als ereignisgeschichtliches Denken die Ereignisstruktur von Seyn ernst: Sicherheit, so Heidegger, gibt nur das Ereignis. 88 Sie lässt sich nicht bewerkstelligen. Heidegger hat auf seinem Denkweg paradigmatisch die Spannungen und Brüche, die fiir die Weimarer Republik charakteristisch sind, durchlebt. Er hat gleichzeitig, wie dieser kurze Ausblick zeigt, aus der Erfahrung einer noch tieferen Krise gezeigt, wie der Mensch der ausgehenden Moderne gerade nach den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts sich verstehen und leben kann, ohne das krisenhafte Moment menschlicher Krise zu leugnen oder sich vorschneller und trügerischer Orientierungsangebote zu bedienen. Heideggers Denken bleibt prophetisch, allerdings in einer Weise, die in größerer Treue zu dem Anliegen einer Hermeneutik der Faktizität steht als diejenigen Stationen seines Denkenweges, die wir in ihrer Ambivalenz wie auch in ihren Irrtümern hier nachzuzeichnen und aus dem Geist der krisenhaften Zeit der Weimarer Republik zu verstehen versucht haben.

85 Martin Heidegger, Briefüber den ,Humanismus', in: Wegmarken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), Frankfurt a. M. 1976, S. 364. 86 Vgl. Martin Heidegger, Feldweg-Gespräche (1944/45), S. 244. 87 Zum Beispiel ebd., S. 205. 88 Ebd., S. 244.

Die Neubelebung der Philosophie in dürftiger ZeitMartin Heidegger und Karl Jaspers (1919-1933) Alfred Denker Das ist die dürftige Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden. 1 Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete eine Zäsur in der Geschichte des Abendlandes. Während viele 1914 den Krieg als einen notwendigen Kampf um die wahre Weltanschauung bejaht hatten, blieb am Ende nicht mehr übrig als ein Trümmerhaufen von wütender Zerstörung und sinnlosem Blutvergießen. Das erwartete Morgenrot eines neuen Tages erwies sich schließlich nur als der Beweis, dass eine Gestalt des Lebens alt geworden war. Dass es nicht so weitergehen konnte, war klar, aber wie es weitergehen sollte, wussten nur wenige. Auch für Martin Heidegger war der Krieg ein Ende, "das kommen musste" und die "einzige Rettung". 2 Obwohl die Kultur des 19. Jahrhunderts mit dem Vertrag von Versailles zu Ende gegangen war, blieb ungewiss, wie das Leben sich neu gestalten würde. Sicher und unerschütterlich war nach Heidegger nur "die Forderung an die wahrhaft geistigen Menschen, gerade jetzt nicht schwach zu werden, sondern eine entschlossene Führung in die Hand zu nehmen und das Volk zur Wahrhaftigkeit und echten Wertschätzung der echten Güter des Daseins zu erziehen".3 Mit den Begriffen "Erziehung" und "wahrhafte Geistigkeit" haben wir den Schlüssel zum Verständnis von Heideggers Denkweg zwischen 1919 und 1933. Die Philosophen sollen sich jetzt als die wahrhaft geistigen Menschen um die Erziehung des deutschen Volkes kümmern. "Das geistige Leben muss

44.

1 Martin

Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M. 5 1981, S.

2 Martin Heidegger I Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, hrsg. von Joachim W. Storck, Macbach am Neckar 1989, S. 12. 3 Ebd., S. 12.

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wahrhaft wirkliches werden."4 Für Heidegger ist das Leben des Philosophen die höchste Existenzweise des Menschen. Er glaubt, den inneren Ruf zur PhiloT sophie zu haben und durch seine Erfüllung in Forschung und Lehre für die ewige Bestimmung des inneren Menschen - und nur dafür - das in seinen Kräften Stehende zu leisten und so sein Dasein und Wirken selbst vor Gott zu rechtfertigen.5 Nur wenn wir wissen, was Philosophie ist oder sein könnte, können wir wissen, wer der Mensch ist oder sein soll. Diese Wechselwirkung zwischen Philosophie und Existenz bleibt auch im Grundriss von Sein und Zeit erhalten. Als existenziale Analytik des Daseins zeigt die Philosophie, wie der Mensch in seiner uneigentlichen Alltäglichkeit lebt. Aber nur der Philosoph weiß, wie er eigentlich sein kann und soll. Zwischen 1919 und 1933 versucht Heidegger immer wieder, drei wichtige Fragen zu beantworten: Was ist Philosophie? Was heißt eigentlich existieren? Wie ist philosophische Erziehung möglich? Ab dem Kriegsnotsemester 1919 hat er diesen Fragekomplex in seinen Vorlesungen und Seminaren behandelt. Wie Heidegger schon am 15. Juni 1918 an Elisabeth Blochmann schreibt, kann "geistiges Leben nur vorgelebt und gestaltet werden, so dass, die daran teilhaben sollen, unmittelbar, in ihrer eigensten Existenz davon ergriffen sind".6 Die Aufgabe des Philosophielehrers besteht darin, die Studierenden zu "einer Vertiefung des Selbst in seine Ursprünglichkeit" zu bringen. 7 Aber das ist nur möglich, wenn die Philosophie wieder das klopfende Herz der Universität als Zentrum des geistigen Lebens wird. Schon in seinen Briefen von 1917 an Heinrich Rickert klagt Heidegger öfters über den Verfall der Universität, an der man sich wie an einem Gymnasium vorkomme. 8 Bei seinen Versuchen, die Philosophie neu zu beleben und die Universität neu zu gestalten, fand Heidegger in Karl Jaspers einen unerwarteten Kampfgenossen. Von Anfang an war ihr gemeinsames Ziel die Bekämpfung der Kathederphilosophen wie Heinrich Rickert und der Weltanschauungspropheten wie Oswald Spengler. Sie lernten einander während Husserls Geburtstagsfeier im April 1920 persönlich kennen. Jaspers besuchte Heidegger. Ohne Zweifel wurde auch über Heideggers kritische Besprechung der Psychologie der Weltanschauungen gesprochen. In seinem ersten Brief vom 21. April 1920 schrieb Heidegger an Jaspers: "Ich habe mich sehr gefreut über den Abend bei Ihnen und habe vor allem das ,Gefühl' Ebd., S. 7. Heideggers Briefan Engelbert Krebs vorn 9. Januar 1919 (Zitiert nach: Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a. M. 1988, S. 233). 6 Martin Heidegger I Elisabeth Blochmann, Briefwechsel1918-1969, S. 7. 7 Martin Heidegger, Grundproblerne der Phänomenologie, hrsg. von Hans-Helrnuth Gander (GA 58), Frankfurt a. M. 1993, S. 263. 8 Für den Briefwechsel zwischen Rickert und Heidegger siehe: Martin Heidegger I Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente, aus den Nachlässen hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt a. M. 2002. 4

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gehabt, dass wir aus derselben Grundsituation an der Neubelebung der Philosophie arbeiten."9 Erst Jahre später würden sie die entscheidende Differenz in ihren philosophischen Grundstellungen bemerken: Jaspers war maßgeblich von Max Weber beeinflusst; Heidegger dagegen von Edmund Husserl und seinem Ideal der Philosophie als strenger Wissenschaft. I. Der innere Beruf zur Wissenschaft

Heideggers erste Vorlesung nach dem Ersten Weltkrieg im Kriegsnotsemester 1919 Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem ist als hermeneutischer Durchbruch von entscheidender Bedeutung für seinen ganzen Denkweg. Der Titel der Vorlesung deutet schon an, dass es Heidegger hier um das Verhältnis von Philosophie und Weltanschauung geht. Was ist Philosophie? Ist sie Weltanschauungslehre oder etwas anderes? In seiner Vorlesung wird Heidegger das Programm unterschreiben, das Husserl in seinem berühmten Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft von 1911 der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Das Weltanschauungsproblem ist auch das zentrale Thema von Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen. 10 Die entscheidenden Differenzen zwischen den philosophischen Grundstellungen Heideggers und Jaspers' lassen sich klar herausstellen, wenn wir sie von Max Webers Position aus entwickeln. Am 7. November 1917 hielt Weber in München seinen bedeutenden und vieldiskutierten Vortrag Wissenschaft als Beruf, der erst 1919 veröffentlicht wurde.'' In seinem Vortrag über das Ethos der Wissenschaft versuchte Weber, die Frage zu beantworten, wie ein sinnvolles Leben in der modernen Gesellschaft noch möglich sei. Der Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Wertfreiheit der Wissenschaft. Die Wissenschaft kann uns nur sagen, ob diese Mittel geeignet sind, jenen Zweck zu erreichen. Sie kann auch das Verhältnis zwischen unseren Zwecken untersuchen und mögliche Widersprüche aufdecken. Aber ob es sinnvoll ist, diesem Zweck nachzustreben, kann sie nicht entscheiden. 12 Die persönliche Verantwortlichkeit für unsere ethischen und normativen Entscheidung kann sie uns nicht abnehmen. Dies ist die Befreiung der Aufklärung: sapere aude! Mensch, hab den Mut, selbst zu leben. Dennoch geben wir zu oft 9 Martin Heidegger I Kar/ Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, hrsg. von Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt a. M. 1990, S. 15. 10 Kar/ Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, München 1985. 11 Vgl. dazu auch das Nachwort von Wolfgang Schluchter, in: Max Weber, Wissenschaft als Beruf 1917/1919- Politik als Beruf 1919, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1994, 89-116. 12 Ebd., S. 19-20.

s.

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unsere Freiheit auf, weil die Wissenschaft uns zum Schicksal geworden ist. Die technische und praktische Anwendung der Wissenschaft hat das menschliche Dasein wesentlich geändert, den Zauber der Welt zerstört und während des Krieges gezeigt, wie vernichtend die Wissenschaft sein kann. Die Wissenschaft hat ihre alten Illusionen verloren. Sie ist nicht länger "Weg zum wahren Sein. Weg zum wahren Kunst. Weg zur wahren Natur. Weg zum wahren Gott. Weg zum wahren Glück." 13 Die Wissenschaft ist sinnlos geworden, "weil sie auf die allein fiir uns wichtige Frage: ,Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?' keine Antwort gibt". 14 Wir haben durch die Rationalisierung der Welt Gott aus unserem Leben verwiesen, obwohl wir nicht wussten, was wir taten. Unsere Zivilisation ist nach Weber selbst soweit rationalisiert, dass wir jetzt auch auf unsere Lebensfragen wissenschaftliche Antworten haben möchten. Statt die Freiheit zu nutzen, welche die Wissenschaft uns bei normativen Fragen lässt, wollen wir auch hier die Sicherheit der Wissenschaft erreichen. Statt unsere Verantwortung fiir das persönliche Leben zu übernehmen, verstecken wir uns hinter pseudo-wissenschaftlichen Weltanschauungen. Die Propheten der Katheder haben hieraus einen Brot- und Gelderwerb gemacht. Sie antworten auf die Mechanisierung einer durch die Rationalisierung entzauberten Welt mit dem Versuch, die letzte Magie, die uns noch bleibt, die Persönlichkeit und ihre Freiheit, in die Zwangsjacke der Pseudo-Rationalität zu zwingen. Sie schöpfen so die Illusion der Wissenschaftlichkeit und täuschen auf diese Weise ihre Leser und Zuhörer. Weber antwortet auf diese Gefahr mit einem Dualismus. Einerseits müssen wir die Welt wissenschaftlich untersuchen und unsere Berechnungen machen, andererseits müssen wir das Geheimnis der Persönlichkeit und Freiheit respektieren. Aus unserer entheiligten Welt ist Gott verschwunden und sollte er noch irgendwo existieren, dann nur in der Seele des individuellen Menschen. Der lebende Glaube ist nicht von dieser Welt und fordert deshalb "das Opfer des Intellekts". 15 Wir sollen Glaube und Wissenschaft nicht verwechseln. Weber entzieht die Sphäre des persönlichen Lebens, fiir die nur wir selbst verantwortlich sind, der Macht des wissenschaftlichen Erkennens.16 Damit überlässt er die Menschen ihrem Los. Wie sollen wir leben? Was sollen wir tun? Auf diese Fragen ist keine wissenschaftliche Antwort möglich. Hier bleibt nur noch die persönliche Entscheidung. Weder Jaspers noch Heidegger können sich mit der rohen Faktizität des menschlichen Daseins zufriedengeben. Dennoch versuchen sie, in zwei verschiedene Richtungen Webers Position zu überwinden. Wo Heidegger einen neuen Begriff der Wissenschaft als Phänomenologie entwickelt, akzeptiert Jaspers Webers Dualismus. 13

Ebd., S. 13.

14Ebd. 15 Ebd., S. 23. 16 Ebd., S. 20.

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II. Das Denken ist selbst eine Gestalt des Lebens

Heidegger fiel während seiner ersten Vorlesung im Kriegsnotsemester 1919 mit der Tür ins Haus: "Die Idee der Wissenschaft[ ... ] bedeutet für das unmittelbare Lebensbewusstsein einen irgendwie umgestaltenden Eingriff in dieses; sie bringt mit sich eine Überführung in eine neue Bewusstseinsstellung und damit eine eigene Form der Bewegtheit des Lebens. Allerdings ist dieser Einbruch der Idee der Wissenschaft in den Zusammenhang des natürlichen Lebensbewusstsein im ursprünglichen, radikalen Sinne nur in der Philosophie als der Urwissenschaft vorfindbar." 17 Für Heidegger ist Philosophie Urwissenschaft, d.h. Wissenschaft der Wissenschaften. Keine Wissenschaft kann sich selbst begründen, weil jede Wissenschaft die Gültigkeit und Wahrheit ihres Grundsatzes voraussetzen muss und diesen deshalb nicht erweisen kann. Grundsätze liegen den Wissenschaften zugrunde und formen den Ursprung des Wissens. "Die Wissenschaft, die diese Ursprünge selbst zum Gegenstand hat, ist die Urwissenschaft, Philosophie." 18 Als Urwissenschaft ist die Philosophie die Wissenschaft der wissenschaftlichen Grundsätze. Weil die Urwissenschaft als Wissenschaft einen Grundsatz haben muss, der nicht aus höheren Grundsätzen deduziert werden kann, liegt in der Urwissenschaft notwendig ein Zirkel. 19 Wie kann Heidegger dieses Problem lösen? Er übernimmt von Fichte den Gedanken, dass das Prinzip der Philosophie kein theoretisches sein kann. Fichtes Lösung des Problems war die Proklamation des Primats der praktischen Vernunft. Weil die praktische und theoretische Vernunft nach Heidegger zwei unterschiedliche Vermögen sind, muss das Prinzip der Philosophie auch vorpraktisch sein. 20 Er übernimmt die Phronesis- und Sophia-Lehre des Aristoteles: Praktische und theoretische Vernunft, Praxis und Theorie, können nicht voneinander abgeleitet werden. Die theoretische Vernunft kann deshalb nicht als im Wesen praktische Vernunft gedeutet werden. Heidegger kann so das Problem der Begründung der Wissenschaften in der Philosophie lösen. Weil in jeder Wissenschaft ein theoretisches SubjektObjekt-Verhältnis vorausgesetzt wird, braucht in der Philosophie nur gezeigt zu werden, wie das theoretische Verhältnis in dem vortheoretischen Verhalten entspringt. In den Wissenschaften wird das Seiende auf unterschiedliche Weisen zum Gegenstand gemacht. In jeder Wissenschaft bleibt jedoch das SubjektObjekt-Verhältnis das gleiche theoretische Verhältnis. Das Seiende ist in jeder Wissenschaft Objekt für ein Subjekt. Die Philosophie ist die Urwissenschaft

17 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, hrsg. von Bemd Heimbüchel (GA 56157), Frankfurt a. M. 21999, S. 3-4.

Ebd., S. 31 . Ebd., S. 39. 20 Ebd., S. 59. 18

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des Vortheoretischen (der Ur-sprung), an dem das Theoretische erst entspringt. Damit ergeben sich fiir Heidegger zwei entscheidende Fragen: a.) Was ist das Vortheoretische? und b.) Wie kann die Philosophie als vortheoretische Urwissenschaft vermeiden, dass sie das Vortheoretische theoretisiert? Erstens stellt Heidegger fest, dass das Vortheoretische nur faktisch sein kann. Wir können es nicht weiter begründen oder erklären, weil es der Grund ist, in dem alles andere entspringt. Es ist das Ur-Etwas.21 Es ist die Wahrheit als das Unverborgene und verweist auf die Dimension des "es gibt", "es gilt", "es wertet", "es weitet". Das Ur-Etwas ist unbestimmt. Dies geht hervor aus Begriffen wie ,,Indifferenz" und das "Noch-nicht" seiner Potentialität.22 Das Ur-Etwas ist die Region des Lebens, in der noch nichts differenziert ist, in der es noch nicht Welt oder Objekte gibt. ,,Es ist vielmehr der Index für die höchste Potentialität des Lebens.'m In seiner ungeschwächten ,,Lebensschwungkraft'' hat es das intentionale Moment des "auf zu", des "in eine (bestimmte) Welt hinein", d.h. es hat eine Tendenz zur Differenzierung. Das Leben entfaltet sich in einer ,,motivierten Tendenz und tendierenden Motivation" und weitet aus in bestimmte Lebenswelten. Heidegger versucht in Feldbegriffen und nicht wie gewöhnlich in Dingbegriffen zu denken. Das Ur-Erleben weitet in die drei Lebenswelten Selbst-Welt, Um-Welt und Mit-Welt aus. Das höchste Prinzip, das Erleben, ist nicht selbst evident; es soll ohne theoretische Voraussetzungen rein phänomenologisch hingenommen werden, wie es sich von sich aus zeigt. Das faktisch unhintergehbare Ur-Etwas ist kein Ding. Dinge gibt es erst, wenn wir den Strom der Wechselwirkung von Ich und Nicht-Ich stillegen und dem Subjekt ein Objekt gegenüberstellen. Die Wechselwirkung ist die Indifferenz von Ich und Nicht-Ich. Im Erleben weitet es uns. Heidegger entdeckt in diesem Ereignis das Erleben in der vollen intensiven Dynamik und Rhythmik des intentionalen Lebens als "auf-etwas-hinleben". Im Erleben bin ich ,,mit meinem vollen Ich dabei.[...] Die Erlebnisse sind Er-eignisse, insofern sie aus dem Eigenen leben und Leben nur so lebt."24 Das Ereignis der Welt ist zugleich das Ereignis meines Lebens. Das Ereignis als aktives Welten und Aneignen des Ich, dessen Differenzierung eine Indifferenz enthält, ist das Leitmotiv des ganzen Denkweges Heideggers. Das Ur-Etwas ist der bodenlose Ab-Grund und die Bedingung der Möglichkeit aller Differenz und damit auch jeder abgeleiteten Dualität. Dieser Ab-Grund ist das mysterium tremendum der Philosophie Heideggers. Das strömende Erleben ist immer ichlich. Der ichliehe Charakter ist der Vorbote der ,,Jemeinigkeit" aus Sein und Zeit und steht in der Tradition von Fichtes Ich, das auch keine denkende Sub-

Ebd., S. 115. Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 75.

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stanz im Sinne von Descartes, sondern eine Tathandlung ist, eine immer strömende Bewegung. Es ist mein Leben, das ich in meiner vollen Historizität lebe. Das UrEtwas hat sich schon immer in Lebenswelten entfaltet, ehe ich da bin. Diese Entfaltung, "eine motivierte Tendenz und tendierende Motiviation", ist genauso transzendental wie Fichtes Tathandlung und die Möglichkeits-bedingung des Daseins von Welt und Ich. Die Grundstruktur des Lebens und Erlebens besteht darin, sich selbst als Ereignis zu erleben. Heidegger akzeptiert die Faktizität des Erlebens. Wir können nur aposteriori erkennen, welche Tendenzen und Motivationen das Erleben entfaltet hat. Nach dem Sinn des Erlebens können wir nicht fragen, weil das Erleben allen Sinn und Unsinn erst ermöglicht. Philosophie ist die Urwissenschaft des vortheoretischen Ur-Etwas. Das Uretwas ist die Sache der Phänomenologie. Wie kann aber eine Wissenschaft des Vortheoretischen möglich sein? Wie soll man das vortheoretische Etwas ansetzen und auslegen, ohne es theoretisch anzutasten und stillzulegen? Das fundamentale methodologische Problem der Phänomenologie, die Frage nach der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erschließung der Erlebnissphäre, steht selbst unter dem ersten Prinzip der Phänomenologie Husserls. Das Prinzip, an dem keine Theorie uns irre machen kann, ist "die Urintention des wahrhaften Lebens überhaupt, die Urhaltung des Erkennens und Lebens als solchen, die absolute mit dem Erleben selbst identische ,Lebenssympathie' [...]Diese Urhaltung ist erst absolut, wenn wir in ihr selbst leben - und das erreicht kein noch so weit gebautes Begriffssystem, sondern das phänomenologische Leben in seiner wachsenden Steigerung seiner selbst''.25 Das Ur-Etwas, das in der Phänomenologie nicht beschrieben, sondern erlebt werden soll, ist weder Objekt noch Ding. Es ist das Verhalten als solches, die intentionale Struktur, in der das Leben sich entfaltet. Das Leben ist in sich selbst motiviert und zeigt eine .,Tendenz zu". Dies ist genau das Ur-Etwas, das wir miterleben können, weil wir selbst auch Leben sind. Das Mit-Erleben ist bei Heidegger nicht anschauend, wie bei Husserl, sondern verstehend. An dieser Stelle ist der Einfluss Diltheys unverkennbar. Heidegger wandelt Husserls transzendentale Phänomenologie zu einer hermeneutischen. Weil das Ur-Etwas eine immanente Artikulation hat, kann es im Mit-Erleben verstanden und von sich selbst aus interpretiert werden.26 Das Verstehen muss ausgedrückt werden. Wenn das Miterleben stumm bleiben würde, wäre keine Wissenschaft möglich. Damit ergibt sich für Heidegger das Problem des Verhältnisses von Anschauung und Ausdruck. Weil jedes Erlebnis eine intentionale Struktur hat, können wir in einer hermeneutischen Intuition die intentionale Struktur am Leben selbst ablesen. Phänomenologie ist originäre Rück25 26

Ebd., s. 109-110. Ebd., S. 115-ll7.

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und Vorgriff-Bildung, bei der der Rückgriff die Motivation und der Vorgriff die Tendenz umfasst. Die Faktizität des Lebens ist nicht irrational. Das Leben ist in sich motiviert und hat ,,Richtung auf'. Das Erleben ist an sich schon das Verstehen des Lebens. Dass es das Verstehen gibt, ist das prinzipiell Unverständliche. In der hermeneutischen Intuition gehen wir in unserem Erleben mit dem sich in der Anschauung originär darbietenden Ur-Etwas als Erlebnis mit. Wir können Erlebnisse anderer Menschen verstehen, weil das Leben an sich immer schon das Verstehen von Erlebnissen ist. Das Leben ist mit sich selbst vertraut und hat eine bestimmte Selbstverständlichkeit. Die Bedeutsamkeil des faktischen Lebens ist das Thema der Philosophie als Urwissenschaft. ,,Das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung ist die Urwirklichkeit."27 Die Faktizität ist vortheoretisch und damit auch unerreichbar für die Wissenschaften. Heidegger weist, ebenso wie Weber, die Wertphilosophie des Neukantianismus und die Weltanschauungen der Lebensphilosophen als künstliche Konstruktionen zurück. Dennoch kann nach Heidegger die Struktur der Faktizität philosophisch erschlossen werden. Es ist die Aufgabe der Phänomenologie die faktische Lebenserfahrung zu ergründen. Sie soll "die echten, wahrhaften Ursprünge des geistigen Lebens überhaupt sehen und Zum-Sehen-Bringen".28 Heidegger kann einen Schritt weitergehen als Weher und uns helfen, eine Antwort auf die Fragen, was wir tun und wie wir leben sollen, zu fmden. Philosophieren heißt für ihn, "seine ganze, äußere und innere Existenz aufs Spiel setzen für etwas, dessen Erfolg und Ausgang, man selbst nicht zu sehen bekommt". 29 111. Die Seele ist gleichsam alles Nachdem er sich im Herbst 1913 für Psychologie habilitiert hatte, fmg Jaspers mit seinen Vorlesungen über Psychologie an. 30 Er übernahm von Weber den Unterschied zwischen wertfreier Wissenschaft und normativer Weltanschauung. Für Jaspers war jede wahre Philosophie gleichbedeutend mit prophetischer Philosophie, d.h. eine Weltanschauung. Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine systematische Erklärung des Ganzen der Welt. Diese Erklärung schreibt uns vor, wie wir leben sollen und was wir tun sollen. Dennoch können wir nur faktisch aus eigener Verantwortung eines der verschiedenen philosophischen Systemen wählen. Jedes System kann als in sich geschlossenes Ganzes prinzipiell nicht aus einem höheren Prinzip abgeleitet werden. Was für eine Philosophie man wählt, 27 Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, hrsg. von Claudius Strube (GA 59), Frankfurt a. M. 1993, S. 173. 28 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, S. 127. 29 Martin Heidegger I Kar/Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, S. 28. 3°Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie, München 2 1984, S. 31.

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hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Heideggers wwissenschaftliche Lösung kommt für Jaspers nicht in Betracht. Er lehntjeden Versuch, die Philosophie als Wissenschaft zu interpretieren, entschieden ab. In Husserls Logos-Aufsatz schien ihm "in der Schärfe des Denkens und der Konsequenzen die Philosophie, die ihm wesentlich war, verleugnet zu werden". 31 Dennoch kann Jaspers mit Hilfe der Philosophie - oder wie er es hier noch nennt: Psychologie - einen Schritt weiter als Weher gehen. In der Nachfolge Kierkegaards und Nietzsches entwickelt Jaspers in seiner Psychologie der Weltanschauungen das, was er später die ErheBung der menschlichen

Existenz nennen wird. Hierbei benutzt er meisterhaft die ideal-typische Methode Webers. Er entwirft eine Typologie der philosophischen und religiösen Weltanschauungen. Er interessiert sich vor allem für die Grenzsituationen des menschlichen Lebens wie Tod, Kampf, Liebe. In diesen Grenzsituationen müssen wir die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen. Jaspers versucht zu zeigen, wie Menschen in solchen Situationen ihr Leben gestaltet haben und gestalten können. Seine Typologie der möglichen Lösungen der Antinomien des Daseins gibt uns eine Orientierung für das eigene Leben.

Für unser Thema ist vor allem Jaspers' phänomenologische Beschreibung32 des Kampfes als Grenzsituation des Lebens von entscheidender Bedeutung. ,,Der Kampf ist eine Grundsituation des Lebens. In der Welt als einer endlichen muss der Mensch als endliches Wesen kämpfen. Der Kampf ist erstens unbemerkt, als bloße Auslese, als Gewinnung von Vorteilen aus dem Verhalten, das sich direkt gegen niemanden richtet. Es ist zweitens Kampf ums Dasein (Erhaltung unter Begrenzung anderer) und Kampf um Macht (Ausbreitung des eigenen Daseins); dieser Kampf ist zerstörend oder assimilierend. Drittens ist der Kampf ein Mittel der Leibe: Man kämpft nicht um Macht, sondern um sich selbst und den andern innerlich zu wagen, dass wir durchsichtig, und dass wir zum Selbst werden."33 Kampf ist ein Schlüsselbegriff der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts. Die Liebe zwischen Mann und Frau, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, die philosophische Freundschaft sind alle wesentlich Erscheinungen des Grundphänomens des Kampfes. Wie Heraklit schon sagte, ist Kampf der Vater aller Dinge. Weil der Kampf schon von solcher fundamentaler Bedeutung für das Lebensgefühl war, konnte der Nationalsozialismus daran anknüpfen. Kampf bedeutete eine wechselseitige Auseinandersetzung. Die Kämpfenden sollten den Weg ins Eigene finden. Er war nicht vernichtend, sondern eine Bedingung der Möglichkeit des menschli31 Kar/ Jaspers, Philosophie 1: Philosophische Weltorientierung, Berlin 4 1973, S. XVII. 32 Vgl. dazu ebd., S. VXII. "Als ich ihm [seit. Husserl, A.D.] sagte, ich habe noch nicht begriffen, was Phänomenologie eigentlich sei, antwortete er: ,Sie üben die Methode ausgezeichnet aus. Machen Sie nur weiter. Sie brauchen gar nicht zu wissen, was sie

ist."' 33

Kar/ Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 126.

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eben Daseins. Erst im Nationalsozialismus wird der Kampf ein Vernichtungskarnpfund Ausdruck des Willens zur Macht. Der Andere ist dann nicht länger Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins; er soll nun gerade als der Andere vernichtet werden, damit ich selbst unbeschränkt und ungefahrdet herrschen kann. Auch die Freundschaft zwischen Jaspers und Heidegger sollte sich in einer Kampfgemeinschaft konkretisieren.34 Hierbei ging es nicht nur um eine Opposition gegen die traditionelle Professorenphilosophie, sondern vor allem um eine Auseinandersetzung zwischen beiden um das Prinzipielle und ihnen zutiefst Eigene. Sie verwirklichten das Ideal des Kampfes in den frühen zwanziger Jahren in ihren Gesprächen in Jaspers' Haus. In der vertraulichen Atmosphäre der Freundschaft sprachen sie offen und unbefangen miteinander. Dennoch waren auch damals die Temperamentunterschiede beträchtlich. Heideggers zum Schweigen neigende Natur ließ Jaspers gelegentlich in ein Übermaß des Sprechens geraten. 35 Das einzige schriftliche Zeugnis dieser Kampfgemeinschaft sind Heideggers kritische Anmerkungen zur Psychologie der Weltanschauungen.

IV. Wer ist der Mensch? In seinen kritischen Anmerkungen entwickelt Heidegger eine phänomenologische Kritik von Jaspers' Buch.36 Er versucht, die immanenten Intentionen des Werkes herauszustellen, um die wahre Tendenz und ursprünglichen Motive von Problematik und Methode schärfer zu fassen. Die Kritik lebt "in einer bestimmten Orientierung und einem regionvorwegnehmenden Vorgrifi''.37 Jaspers solle das Phänomen der Seele in seinen immanenten Vorzeichnungen beschreiben. Er könne nur ohne unbemerkte Voraussetzungen zu der Sache selbst kommen, wenn er sich seine Voraussetzungen in einer faktisch-historisch orientierten Selbstkritik klarmache. Unsere unmittelbare Faktizität ist in Wirklichkeit immer historisch vermittelt. Wir können nur durch eine explizite Destruktion unserer Tradition vermeiden, dass wir unbemerkt und ungewollt Voraussetzungen machen. Heidegger entwickelt in seiner Kritik das, was Jaspers vergessen hatte, d.h. eine phänomenologische Selbstkritik, in der die Frage, ob die Methode zum Phänomen passe, explizit ausgearbeitet wird. Vielleicht lägen sogar "die Zugangsrichtungen zu den Sachen der Philosophie verdeckt'' und bedürfte "es eines radikalen Ab- und Rückbauens [...] einer eigentlichen, im Sinne des Philosophierens selbst mitvollzogenen Auseinan-

Martin Heidegger I Kar/ Jaspers, Briefwechsel1920-1963, S. 29-30. Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 94. 36 Martin Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers' "Psychologie der Weltanschauungen", in: ders., Wegmarken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), Frankfurt a. M. 1976, S. 1-44. 37 Ebd., S. 4. 34

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dersetzung mit der Geschichte".38 Damit ist die Kritik nicht nur negativ im Sinne des Nachweisens von Fehlern, sondern auch positiv, indem sie neue Wege und Möglichkeiten sichtbar macht. Die Psychologie der Weltanschauungen hat ein doppeltes Ziel: Erstens möchte Jaspers die Entwicklung der Psychologie als Ganze ennöglichen, damit sie ihre zentrale Frage "Was ist der Mensch?" beantworten kann. Seine Weltanschauungspsychologie ist ein Abschreiten der Grenzen des Seelenlebens, damit ein genauer Bezirk, innerhalb dessen das Phänomen der Seele zugänglich ist, abgesteckt wird.39 Zweitens will Jaspers verstehen, wie die Seele in Grenzsituationen reagieren kann und warum sie diese oder jene Reaktion wählt. Auf diese Weise kann er einen Schritt über Weber hinaus gehen. Die Psychologie der Weltanschauungen bietet uns zur Orientierung eine Vielheit von möglichen Reaktionen und Motivationen auf die Grenzsituationen des Lebens. Nach Heidegger machen die Kategorien, mit denen das seelische Leben beschreibt, deutlich, dass sein Vorgriff ganz traditionell ist. Das seelische Leben hat "Grenzen, es gibt da ,Grenzsituationen', auf die bestimmte ,Reaktionen' möglich sind, welche Reaktionen auf die antinomisch strukturierten Grenzsituationen in dem ,lebendigen Prozess' seelischen Lebens als ihrem Medium sich ,abspielen'". Ist der Vorgriffvon Jaspers überhaupt in Übereinstimmung mit der eigentlichen Tendenz seiner Problematik? Jaspers behauptet, dass er keine dominante Methode habe. Gerade diese methodische Naivität soll kritisch geprüft werden. Das Phänomen, das Jaspers untersucht, ist, fonnal angezeigt, die Existenz. Dieses Phänomen ist das ,ich bin' und dessen Seinssinn. Heidegger fragt, ob Jaspers mit seiner Methode dem genuinen Sinn des Existenzphänomens nachgehen kann. Jaspers fuhrt den Begriff ,,Existenz" ein als eine Idee im kantischen Sinne, d.h. als "etwas, das als das Ganze oder die Existenz gilt".40 Dieser Existenzbegriff wurde im Denken von Kierkegaard und Nietzsche zum Phänomen "des Lebens der gegenwärtigen Individualität" transformiert. Bei diesem Begriff geht es um "die Echtheit des seelischen Lebens".41 Mit dem seelischen Leben sind unvenneidlich Grenzsituationen gegeben. Diese Situationen vernichten die Einheit des individuellen Lebens.42 Der Tod steht im Gegensatz zum Leben, Zufall zur Notwendigkeit, Schuld zur Unschuld. Diese Gegensätze stehen "als Antinomien an der Grenze unseres Erkennens angesichts der Unendlichkeit. Darum gehören die Begriffe Unendlichkeit, Grenze und Antinomie zusammen".43 Die menschliche Existenz ist wesentlich eine gebrochene Einheit und eine begrenzte Unendlichkeit. Nach Hei38

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Ebd., S. 5.

Kar/ Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 6.

Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. 42 Ebd., S. 229. 43 Ebd., S. 232. 40

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degger ist es nur sinnvoll, das Wesen der Seele als antinomische Struktur zu beschreiben, wenn wir voraussetzen, dass die Seele eine Ganzheit, Totalität und Unendlichkeit ist. Insofern Jaspers den Mensch in seiner Ganzheit sieht, also diesen Lebensaspekt im Vorgriff hat, sich selbst in dieses Ganze als ein Letztes wesentlich mit hineingestellt sieht und sein Dasein als von diesem ungebrochenen Medium umschlossen erfährt, steht er in Antinomien. "Nur von diesem Ansatz des flutenden Lebens als Ganzen aus gesehen, zerstören, entzweien die Antinomien, und sie erfahren heißt: in einer Grenzsituation stehen.'..w Das Leben als Ganzes ist für Jaspers die leitende Idee. Dieses Ganze gibt die wesentliche Artikulierung des Gegenständlichen, auf dessen ordnende Betrachtung es die Psychologie der Weltanschauungen abgesehen hat. Die motivierende Erfahrung von Jaspers ist das, was Heidegger eine "ästhetische Grunderfahrung" nennt.45 Jaspers ist ein Zuschauer, der das Bühnenstück des Lebens an sich vorbeiziehen lässt. Er studiert das Leben rein theoretisch und objektiv ohne das Moment der Selbstbekümmerung des menschlichen Daseins erfahrund verstehbar machen zu können. Durch seinen theoretischen Vorgriff bleibt ihm verborgen, dass die menschliche Existenz ursprünglich und faktisch etwas ist, was mich selbst betrifft, und dass die Existenz deshalb nicht in einer theoretischen distanzierten Betrachtung erschlossen werden kann. Die Existenz ist "eine bestimmte Weise des Seins, als ein bestimmter ,ist' -Sinn, der wesentlich (ich) ,bin' -Sinn ist, der nicht im theoretischen Meinen genuin gehabt wird, sondern gehabt im Vollzug des ,bin', eine Seinsweise des Seins des ,Ich'. [. .. ] Das Mich-selbst-haben ist nach verschiedenen Hinsichten mehrdeutig, so zwar, dass diese Sinnmannigfaltigkeit nicht in ordnungshaften, systematisch regional für sich abgesetzten, sondern spezifisch historischen Zusammenhängen verstehbar gemacht werden muss".46 Der Mensch ist kein Ding; er hat selbst zu sein. Der Sinn der Existenz kann nicht erschlossen werden von einem objektiven ,ist' aus, sondern nur vom bekümmerten Sich-selbst-haben aus. Mit seiner ästhetischen, rein betrachtenden Methode vergegenständlicht Jaspers das Sein des Menschen und reduziert ihn damit zu einem Objekt. Er sollte nach Heidegger nicht fragen, was der Mensch, sondern wer der Mensch sei. Das Sein des Menschen, seine Existenz, sollte streng unterschieden werden vom Sein aller anderen Seienden. Das ursprüngliche Sein des Menschen liegt darin, dass ich mich selbst habe. Dieses Haben besteht wesentlich darin, dass ich mich um mich selbst kümmere. Die Sorge ist das Grundphänomen der menschlichen Existenz. Der Mensch hat kein Wesen, weil er zu sein hat. In diesem Zusein-haben kommt unsere Freiheit zum Ausdruck. Wir sind nie fertig und haben immer neue und andere Möglichkeiten, die wir noch verwirklichen können. In un-

44 Martin Heidegger, Anmerkungen zu Kar! Jaspers' "Psychologie der Weltanschauungen", S. 12. 45 Ebd., S. 23. 46 Ebd., S. 29.

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serer Selbstbekümmerung erfahren wir unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als Selbst leben wir in einer Selbst-, Um- und Mitwelt. Die faktische Lebenserfahrung ist ein historisches Phänomen, das durch den Vollzugssinn bestimmt wird. Heidegger beschließt seine Besprechung mit einer Zusammenfassung seiner Kritik an der Methode Jaspers' und seinem mangelnden Interesse für dieses Problem. Jaspers habe nicht gesehen, dass der Sinn der Existenz wesentlich historisch bestimmt ist. Er entschuldigt sich für seine methodische Unklarheit mit dem Verweis darauf, dass das individuelle Leben unbegreiflich sei. Das Leben ist ja ein unendliches, strömendes Ganzes. Weil Begriffe Formen sind, die das Leben fixieren und damit die strömende Bewegung aufheben, kann das Leben nicht in Begriffen gefasst werden. Nach Heidegger wäre es an der Zeit, statt das oft gesagte individuum est ineffabile immer neu zu wiederholen, zu fragen, welchen Sinn denn dabei dasfari haben und welche Art des Erfassens zum Ausdruck kommen sollrt7 Wenn Jaspers nur beschreibt, was er sieht, d.h. das Leben, das da ist, und er so eine Typologie der Grenzsituationen des Seelenlebens entwickeln kann, dann kann das Leben letztendlich nicht unbegreiflich sein. Das Leben hat sich immer schon ausgedrückt in Formen, die verstehbar sind, und deshalb kann auch das Individuelle nicht unaussprechbar sein. Das bloße Betrachten von Jaspers genügt nicht; wir müssen einen Schritt weiter tun zum "unendlichen Prozess eines radikalen Betragens, das sich selbst in der Frage hält''.48 In seinem Briefvom l. August 1921 schreibt Jaspers, dass Heideggers Besprechung "von allen, die ich las, diejenige ist, die der Wurzel der Gedanken am tiefsten nachgräbt''.49 Sie hat ihn berührt, auch wenn er die positive Methode und die Möglichkeit weiterzukommen vermisst. Jahre später wird er in seiner Autobiographie schreiben, dass er Heideggers Anmerkungen nur flüchtig las und dass sie in ihm nicht fruchtbar wurden. Er ging andere Wege. 50 Damit war Heideggers Besprechung eigentlich schon Anfang und Ende des philosophischen Kampfes zwischen beiden.

V. Die Idee der Universität und das Wesen des akademischen Studiums Obwohl der philosophische Kampf zwischen Heidegger und Jaspers niemals konkretisiert wurde, fiihlten sie sich im Kampf gegen der Professorenphilosophie noch immer als Verbündete. Jaspers spielte sogar mit dem Gedanken einer gemeinsamen kritischen Zeitschrift: ,,Die Philosophie der Zeit. Kritische Hefte von Ebd., S. 39-40. Ebd., S. 43. 49 Martin Heidegger I Kar/ Jaspers, Briefwechsell920-1963, S. 23. 5 Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 95. 47

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Martin Heidegger und Kar! Jaspers. Nur wirbeideschreiben darin."51 Auch dieser Plan kam nicht zustande. Während ihrer Gespräche über die Möglichkeit einer Neubelebung der Philosophie ging es immer wieder um die Notwendigkeit einer Universitätsreform. Die Universität hatte nicht nur ihre innere Einheit verloren; sie wurde auch immer mehr eine Berufsschule. Der fortschreitende Verfall der Universitäten sollte bekämpft werden. Die angestrebte Neubelebung der Philosophie sollte sich in einer Neugestaltung der Universität konkretisieren. Obwohl Heidegger und Jaspers sich in vielen Fragen einig waren, treten die Differenzen zwischen ihren Auffassungen auch von Anfang an ans Licht.

Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass die Humboldtsche Universität der Höhepunkt der Universitätsgeschichte darstelle. Die Universitätsverfassung von 1803 legte die Autonomie der Universität in dreifacher Hinsicht fest: 1. Die Universität sollte sich selbst, ohne äußeren Einflüsse des Staates, der Kirche oder der Wirtschaft, verwalten. 2. Die Lehr- und Forschungsfreiheit der Professoren sollte unbedingt sein. Nur auf Grund von Handlungen, die nach dem Strafgesetzbuch durch das Gericht verurteilt wurden, dürfe die Lehrberechtigung entzogen werden. 52 3. Die Studienfreiheit der Studierenden solle nicht beschränkt werden durch Studienordnungen und äußere Kontrolle. Humboldts Universität war ein geistiges Zentrum im Leben des deutschen Volkes. Als universitas war sie e~e Gemeinschaft von Lehrern und Schülern.53 Nur in der Kommunikation, d.h. in Wechselwirkung mit dem anderen Selbst, kann der Mensch ein Selbst werden. Kommunikation ist eine notwendige Bedingung des persönlichen Daseins.54 Durch diese Bindung stellte die Universität einen besonderen Lebenszusammenhang da. 55 Die Lehrer und Studierenden hatten sich fiir das wissenschaftliche Leben entschieden. Das verbindende und Einheit stiftende Moment in diesem Leben war die Bindung an das Ideal der Wahrhaftigkeit. An der Universität sollte nur die Wahrheit entscheidend sein. 56 Was das wissenschaftliche Leben bedeute, können die Schüler nur in der Verbindung von Forschung und Martin Heidegger I Kar/ Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, S. 35. Vgl. dazu Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 59, S. 60 und S. 63 . 53 Kar/ Jaspers, Die Idee der Universität, Berlin 1923, S. 46. 5~ Martin Heidegger, Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums, in: ders., Zur Bestimmung der Philosophie, S. 210 und Kar/ Jaspers, Die Idee der Universität, S. 36. 55 Martin Heidegger, Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums, S. 212; Kar/ Jaspers, Die Idee der Universität, S. 31 und Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 57. 56 Martin Heidegger, Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums, S. 213 und Kar/ Jaspers, Die Idee der Universität, S. 38. 51

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Lehre im Leben des Lehrers erfahren, weil er allein selbst lebende Wissenschaft sei. ,,Im Verkehr mit ihm allein ist die Wissenschaft, wie sie ursprünglich existiert, anschaubar.''s7 Unter Leitung eines derartigen Führers könnten sich Schulen bilden.s8 Der Führer fiihrt in das wissenschaftliche Leben ein. Der Führergedanke wird in Heideggers Rektoratsrede eine neue Prägnanz bekommen. Die Humboldtsche Universität war auch in Hinsicht auf das Wissen eine universitas.s9 Die Philosophie des Deutschen Idealismus sammelte alle wissenschaftliche Erkenntnis in einer Einheit und bestimmte die Idee des Wissens. Sie gab aller Forschung erst Sinn, Wert und Selbstzweck. ,)ede einzelne Wissenschaft ist ein solches Ganze und hat insofern philosophischen Charakter, und die einzelne Wissenschaft existiert in Beziehung auf das Ganze der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt. Darum ist es der Sinn der Universität, ihren Schüler mit der Idee dieses Ganzen seiner besonderen Wissenschaft und der Idee des Ganzen des Erkenntnis zu erfüllen. In diesem Sinn ist jeder wissenschaftlich bewegte Mensch ,philosophisch'. All der Schulbetrieb, der Erwerb der Routine und des Stoffwissens wird dann schädlich, wenn er nicht in bezug auf die Idee der Wissenschaft bleibt oder gar das Erfülltwerden von ihr hemmt oder lähmt.'