Tod und Leben großer amerikanischer Städte 9783035602128, 9783764363567

In The Death and Life of Great American Cities durchleuchtet Jane Jacobs 1961 die fragwürdigen Methoden der Stadtplanung

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Tod und Leben großer amerikanischer Städte
 9783035602128, 9783764363567

Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung
Teil I Die besondere Beschaffenheit von Großstädten
2 Zweck des Bürgersteigs: Sicherheit
5 Funktionen des Bürgersteigs: Förderung von Kontakten
4 Funktionen des Bürgersteigs: Kinder zu assimilieren
5 Funktionen öffentlicher Grünflächen
6 Funktion von städtischen N achbarschaften
Teil II Voraussetzungen für eine Mannigfaltigkeit in der Großstadt
7 Ursachen der Mannigfaltigkeit
8 Die Notwendigkeit gemischter primärer Nutzung
9 Die Notwendigkeit kurzer Baublocks
10 Die Notwendigkeit alter Gebäude
11 Die Notwendigkeit einer Bevölkerungskonzentration
12 Legenden über die Nachteile von Mannigfaltigkeit
Teil III Ursachen für Verfall und Regeneration
13 Die Selbstzerstörung großstädtischer Mannigfaltigkeit
14 Das Vakuum der Grenzzonen- Ein Fluch
15 Slums - Entstehung und Sanierung
16 Baufinanzierung- sintflutartig oder in kleinen Dosen
Teil IV Taktische Möglichkeiten
17 Offentlieh geförderter Wohnungsbau
18 Verödung der Städte oder Abwürgen des Kraftverkehrs
19 Ästhetischer Städtebau- Möglichkeiten und Grenzen
20 Sanierung von Siedlungen
21 Verwaltung und Planung von Bezirken
22 Die Kategorie des Problems, das eine große Stadt darstellt

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Bauwelt Fundamente 4

Herausgegeben von Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hildegard Barz-Malfatti Elisabeth Blum Eduard Führ Thomas Sieverts Jörn Walter

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Jane Jacobs Tod und Leben großer amerikanischer Städte Mit einem Nachwort von Gerd Albers

Bauverlag Birkhäuser Basel Gütersloh · Berlin

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Originaltitel The Death and Life of Great American Cities (Random House, 1961) Übersetzung der vorliegenden, gekürzten Ausgabe von Eva Gärtner Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich Conrads 1963 gegründet und bis 2013 herausgegeben (einschließlich Band 149), seit Anfang der 1980er Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke.

Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN 978-3-0356-0212-8) erschienen.

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag. © 2015 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston; und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-7643-6356-7 987654321 www.birkhauser.com

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NEW YORK CITY gewidmet. TVohin ich kam auf der Suche nach dem Glück, und u·o ich es fand in Bob, Jimmy, Ned und Maryauch für sie ist dieses Buch geschriebm.

Es haben mir so viele Menschen bei diesem Buch bewußt und unbewußt geholfen, daß ich niemals in der Lage sein werde, mich für die ganze Verpflichtung, die ich schulde und empfinde, erkenntlich zu zeigen. Im besonderen danke ich den folgenden Personen dafür, daß sie mir mit Informationen, Hilfe oder Kritik zur Seite gestanden haben: Saul Alinsky, Norris C. Andrews, Edmund Bacon, June Blythe, John Decker Butzner jr., Henry Churchill, Grady Clay, William C. Crow, Vernon de Mars, Monsignor John J. Egan, Charles Famsley, Carl Feiss, Robert B. Filley, Mrs. Rosario Folino, Chadbourne Gilpatric, Viktor Gruen, Frank Havey, Goidie Hoffman, Frank Hotchkiss, Leticia Kent, William H. Kirk, Mr. und Mrs. George Kostritsky, Jay Landesman, Rev. Wilbur C. Leach, Giennie M. Lenear, Melvin F. Levine, Edward Logue, Ellen Lurie, Elizabeth Manson, Roher Montgomery, Richard Nelson, Joseph Passonneau, Ellen Perry, Rose Porter, Ansel Robison, James vV. Rouse, Samuel A. Spiegel, Stanley B. Tankel, Jack Solkman, Robert C. Weinberg, Erik Wensberg, Henry VVhitney, vVilliam H. VVhyte jr., William Wilcox, Mildred Zucker, Bede Zwicker. Selbstverständlich ist niemand von ihnen verantwortlich für das, was ich geschrieben habe; einige sind ausgesprochen gegenteiliger Ansicht und haben mir trotzdem in großzügiger Weise geholfen. Ich bin außerdem zu Dank verpflichtet der RockefeUer Foundation für die finanzielle Unterstüztung, die meine Arbeit und dieses Buch ermöglichte, ferner der New School for Social Research für ihre Gastfreundschaft, und schließlich Donglas Haskell, dem Herausgeber des Architectural Forum, für seine Ermutigungen und für seine Geduld. Den größten Dank schulde ich jedoch meinem Mann, Robert H. Jacobs jr.; allmählich weiß ich nicht mehr, welche Gedanken dieses Buches seine und welche meine sind. JANE JACOBS

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»Bis vor kurzem war das Beste, was die Zivilisation mir außer der blinden Hinnahme einer Ordnung des Universums bedeutete, daß sie den Künstler, den Dichter, den Philosophen und den Wissenschaftler möglich macht. Ich denke jetzt, daß das nicht das Größte ist. Jetzt glaube ich, daß das Größte etwas ist, was uns alle direkt angeht. Wenn man sagt, daß wir uns zu sehr mit den Umständen des Lebens beschäftigen, dann ist meine Antwort, daß der Hauptwert der Zivilisation gerade darin liegt, daß sie die Lebensbedingungen komplexer macht; daß sie große und zusammenhängende geistige Bemühungen von uns verlangt an Stelle von einfachen und zusammenhanglosen, damit die Menschheit ernährt und gekleidet wird und Wohnungen erhält und von einem Ort zum anderen befördert wird. Weil komplexere und intensivere geistige Bemühungen ein volleres und reicheres Leben bedeuten, bedeuten sie mehr Leben überhaupt. Leben ist ein Ziel in sich, und die Frage, ob es lebenswert ist, ist die Frage, ob man genug von ihm hat. Nur ein Wort noch. Wir sind alle der Verzweiflung sehr nahe. Die Planken, die uns über die Wellen der Verzweiflung hinwegtragen, bestehen aus Hoffnung, aus dem Glauben an den unerklärlichen Wert und unbezweifelbaren Sinn der Bemühung und aus der tiefen, unterbewußten Befriedigung, welche uns die Ausübung unserer Fähigkeiten schenkt.« OLIVER WENDELL HOLMES jr.

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Inhalt

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Einleitung

Teil I

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Die besondere Beschaffenheit von Großstädten

2 Zweck des Bürgersteigs: Sicherheit 5 Funktionen des Bürgersteigs: Förderung von Kontakten 4 Funktionen des Bürgersteigs: Kinder zu assimilieren 5 Funktionen öffentlicher Grünflächen 6 Funktion von städtischen N achbarschaften

Teil II 7 8 9 10 11

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Voraussetzungen für eine Mannigfaltigkeit in der Großstadt

Ursachen der Mannigfaltigkeit Die Notwendigkeit gemischter primärer Nutzung Die Notwendigkeit kurzer Baublocks Die Notwendigkeit alter Gebäude Die Notwendigkeit einer Bevölkerungskonzentration Legenden über die Nachteile von Mannigfaltigkeit

Teil III

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46 57 65 78

91

96 110 114 120 131

Ursachen für Verfall und Regeneration

15

Die Selbstzerstörung großstädtischer Mannigfaltigkeit Das Vakuum der Grenzzonen- Ein Fluch 15 Slums - Entstehung und Sanierung 16 Baufinanzierung- sintflutartig oder in kleinen Dosen 14

Teil IV 17 18 19 20 21 22

Taktische Möglichkeiten

Offentlieh geförderter Wohnungsbau Verödung der Städte oder Abwürgen des Kraftverkehrs Ästhetischer Städtebau- Möglichkeiten und Grenzen Sanierung von Siedlungen Verwaltung und Planung von Bezirken Die Kategorie des Problems, das eine große Stadt darstellt

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Die Szenen, die als Illustrationen zu diesem Buch dienen können, sind rings um uns - man muß nur die Städte so betrachten, wie sie wirklich sind. Beim Schauen kann man auch lauschen, ein wenig verweilen und über das Gesehene nachdenken.

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Einleitung

Dieses BuCh ist ein Angriff auf die landläufige Stadtplanung und den landläufigen Umbau der Städte. Es ist außerdem und in erster Linie ein VersuCh, neue Prinzipien für Stadtplanung und Stadtsanierung einzuführen; diese Prinzipien sind andere als diejenigen, die heute überall, angefangen mit den Ausbildungsinstituten für ArChitekten und Planer bis hin zu den Sonntagsfeuilletons der Zeitungen un:d den Frauenmagazinen, gelehrt werden. Mein Angriff gründet siCh niCht auf Klügeleien über Wiederaufbaumethoden oder auf Haarspaltereien hinsiChtliCh Entwurfsmoden. Er riChtet siCh vielmehr gegen die Prinzipien und die Ziele orthodoxer Stadtplanung und Stadtsanierung, also gegen die Wurzeln ihrer UnzulängliChkeit. Bei der Darlegung meiner neuen Grundsätze werde ich hauptsäChlich über gewöhnliche, über alltägliChe Dinge sChreiben: zum Beispiel darüber, welChe Arten von Straßen in einer Großstadt siCher sind und welChe nicht; warum manChe Parks wunderbar, andere dagegen Brutstätten für VerbreChen und Mord sind; warum einige Slums Slums bleiben und siCh andere selbst gegen finanzielle und behördliChe Widerstände aus eigener Kraft regenerieren; oder warum siCh Zentren von Innenstädten verlagern; was eine NaChbarsChaft in der Großstadt bedeutet, wenn es sie überhaupt gibt, und welChe Nutzwerte, so vorhanden, NaChbarsChafren in Großstädten haben. Kurz gesagt, iCh werde darüber sChreiben, wie Großstädte im tägliChen, wirkliChen Leben funktionieren, denn das ist der einzige Weg zu erfahren, welche Grundsätze in Planung und Aufbau die soziale und wirtsChaftliChe Lebenskraft von Großstädten fördern können und welChe das Gegenteil bewirken. Einer sinnigen Legende zufolge könnten wir, wenn wir nur genügend Geld hätten - der Betrag wird gewöhnlich mit hundert l'v1illiarden Dollar beziffert -, innerhalb von zehn Jahren unsere sämtliChen Slums vom Erdboden versChwinden lassen, den Verfall in den großen eintönigen und grauen Randbezirken, den Vorstädten von gestern und vorgestern, rückgängig machen, die ruhelos umherziehende Mittelklasse und das mit ihnen herumziehende Steuergeld fest verankern und vielleicht sogar das Verkehrsproblem lösen. Man sehe siCh aber an, was wir mit den ersten paar Milliarden gebaut haben: Siedlungen für Minderbemittelte, die sChlimmere Brutstätten für VerbreChertum, Vandalismus und allgemeine soziale Hoffnungslosigkeit geworden sind als jene Slums, die sie ersetzen sollten; wir haben Wohnviertel für mittlere Einkommen gebaut, die, 9

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wahre Wunder an Langeweile und Uniformität, fest verriegelt sind gegen jegliche Schwungkraft oder Lebendigkeit eines Großstadtlebens; es entstanden Luxussiedlungen, die ihrer Fadheit mit schaler Vulgarität aufhelfen, oder es jedenfalls versuchen. Wir haben Kulturzentren, in denen sich nicht einmal eine gute Buchhandlung halten kann; Verwaltungszentren, die, außer von Tagedieben, die weniger Auswahl an Plätzen haben, an denen sie sich herumtreiben können, von jedermann gemieden werden; Einkaufszentren, die nur lackglänzende Imitationen der standardisierten Kettenläden der Vororte sind. Wir haben Promenaden, die irgendwo sinnlos anfangen und nirgendwo hinführen und die kein Spaziergänger benutzt. Wir haben Schnellverkehrsstraßen, die unsere Großstädte ausweiden. Das ist kein Städtebau, kein Umbau, das ist Plünderung der Städte. Unter der Oberfläche sind diese angeblichen Errungenschaften noch viel armseliger als die kümmerlichen Ansprüche, mit denen sie auftreten. Selten helfen sie (wie sie theoretisch sollten) den umliegenden Bezirken. Diese amputierten Bezirke entwikkeln typischerweise die galoppierende Schwindsucht. Menschen in dieser »verplanten« Art anzusiedeln heißt Preisschilder an der Bevölkerung anbringen. Jede einzelne Gruppe dieser so »ausgezeichneten« Bevölkerung lebt in wachsendem Mißtrauen und in wachsender Spannung gegen die sie umgebenden Stadtteile. Sind zwei solcher feindlichen Inseln einander gegenüber angelegt, so nennt man das Ergebnis dann »ausgeglichene Nachbarschaft«. Monopolistische Einkaufszentren und riesige Kultureinrichtungen bemänteln unter dem Beifall von »public relations«, daß Handel und Kultur dem intimen, alltäglichen Großstadtleben entzogen werden. Damit solche Wunder vollbracht werden können, werden die Menschen, die mit dem Hexenmal der Planer gezeichnet sind, herumgestoßen, enteignet und entwurzelt, etwa so, als stünden sie unter dem Joch eines lüsternen Eroberers. Tausende und aber Tausende kleiner Geschäfte werden in ihrer Existenz vernichtet und die Eigentümer ruiniert, wobei kaum die Geste einer Wiedergutmachung für notwendig gehalten wird. Ganze Gemeinden werden auseinandergerissen und in alle ·winde zerstreut. Das Ergebnis ist ein solches Ausmaß an Zynismus, Verbitterung und Verzweiflung, daß man es gehört und gesehen haben muß, um es zu glauben. Eine Gruppe von Geistlichen in Chikago fragte, entsetzt über die Früchte der dortigen plangemäßen Stadtsanierung: Könnte Hiob an Chikago gedacht haben, als er klagte: »Man verrückt die Grenzen, raubt die Herde, und weidet sie ... Die Armen müssen weichen, und die Dürftigen im Lande müssen sich verkriechen ... Sie ernten auf dem Acker, was er trägt, und lesen den Weinberg des Gottlosen ... Sie machen die Leute in der Stadt seufzend und die Seele der Erschlagenen schreiend, und Gott stürzt sie nicht.« Wenn Hiob dabei an Chikago gedacht hat, dann bestimmt auch an New York, an Philadelphia, Boston, Washington, St. Louis, San Franzisko und an eine ganze Reihe anderer Großstädte. Die wirtschaftliche Logik der üblichen Stadtsanierung ist Betrug. Denn die wirtschaftlichen Grundsätze basieren ja nicht nur auf der gesunden und vernünftigen Investierung öffentlicher Steuergelder, wie die Sanierungstheorien vorgeben, sondern ebensosehr auf den beträchtlichen Mitteln, die den hilflosen Opfern gegen ihren Willen abverlangt werden. Die erhöhten Steuereinnahmen, die 10

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dann als Ergebnis solcher »Investitionen« von diesen Stadtteilen zur Stadt zurückfließen, sind eitel Blendwerk und eine Bagatelle, verglichen mit den stetig wachsenden Summen öffentlicher Gelder, die notwendig sind, um dem Auseinanderfallen und der Labilität einer grausam in ihrem Lebensnerv getroffenen Stadt zu begegnen. Die Mittel der heutigen Stadtsanierung sind ebenso kläglich wie ihre Ziele. Alle Kunst und Wissenschaft der Stadtplanung sind mittlerweile machtlos, den Verfall - und die Hoffnungslosigkeit, die dem Verfall vorausgeht - in immer größeren Teilen der amerikanischen Großstädte aufzuhalten. Man könnte auch nicht etwa zur eigenen Beruhigung diesen Verfall dem Mangel an Gelegenheiten zuschreiben, die Kunst der Planung auch anzuwenden; es scheint kaum darauf anzukommen, ob sie angewandt wird oder nicht. Nehmen wir als Beispiel die Momingside Heights in New York City. Nach der Theorie dürften die Planer überhaupt keine Schwierigkeiten haben, denn sie verfügen über einen großen Reichtum an Parks, an Sportund Spielplätzen und anderem offenen Gelände. Die Häuser liegen in erhöhter und angenehmer Lage mit einer herrlichen Sicht auf den Fluß. Momingside Heights sind außerdem ein berühmtes kulturelles Zentrum mit großartigen Einrichtungen, wie der Columbia-Universität, dem Union Theological Seminary, der Juillard School of Music und noch einem halben Dutzend anderer Institutionen, die großes Ansehen genießen. Die Siedlung besitzt gute Krankenhäuser und Kirchen, sie hat keine Industrie, die Straßen sind im allgemeinen gegen vorschriftswidrige Nutzungen geschützt, die in diese Reservate solide gebauter, geräumiger vVohnungen für die mittleren und oberen Klassen einbrechen könnten. Trotzdem begannen die Morningside Heights sich um die Mitte der fünfziger Jahre derart rapide in einen Slum zu verwandeln - in jenen finsteren Typ von Slum, in dem die Leute Angst haben, auf die Straße zu gehen -, daß für die kulturellen Institutionen eine Krise entstand. Diese Institutionen taten sich daraufhin mit den Planungsgewaltigen in der Stadtverwaltung zusammen, wendeten alle erdenklichen Planungstheorien an, ließen den am schlimmsten heruntergekommenen Bezirk des Gebietes verschwinden und bauten statt dessen eine Siedlung für mittlere Einkommen, komplett mit Einkaufszentrum, und eine Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, alles aufgelockert durch Luft, Licht und Sonne und Landschaftsgestaltung. Das Ergebnis wurde als Musterbeispiel für städtebauliche Rettungsaktionen überall begeistert gepriesen. Danach ging es mit Momingside Heights noch schneller bergab. Das ist kein unfaires Beispiel. In einer Stadt nach der andem verfallen gerade die Bezirke, die es nach der Planungstheorie nicht dürften. Weniger auffällig, aber gleichermaßen bedeutsam: In einer Stadt nach der anderen widerstehen gerade die im Sinne der Planungstheorie längst überfälligen Bezirke dem Verfall. Großstädte sind gewaltige Laboratorien, voll von Experimenten und Irrtümem, Fehlschlägen und Erfolgen in Aufbau und Planung. Es sind Laboratorien, in denen die Stadtplanung hätte lemen und ihre Theorien bilden und ausprobieren sollen. Statt dessen haben Praktiker und Lehrer dieser Disziplin versäumt, die Erfolge und Fehlschläge in der Realität des Lebens zu studieren, die Gründe für unerwartete Erfolge aufzuspüren; sie ließen sich von Prinzipien leiten, die sie von dem Verhalten und der äußeren Erscheinung von Städten und Vorstädten, von Lungensanatorien 11

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und Traumstädten ableiteten - von allem, außer von den Großstädten selbst. Wenn es heute den Anschein hat, als reduzierten die sanierten Stadtteile und die endlosen neuen Siedlungen außerhalb der Städte das Stadtleben wie das Landleben in gleichem Maße zu einem monotonen, unbekömmlichen Haferschleim, so ist das keineswegs erstaunlich. In diesem Brei sind die Eigenschaften, die Notwendigkeiten, die Vorzüge und das Verhalten von Großstädten unentwirrbar mit den Eigenschaften, Notwendigkeiten, Vorzügen und dem Verhalten von anderen Niederlassungen trägerer Natur vermischt worden. Nichts war wirtschaftlich oder gesellschaftlich unvermeidbar an dem Verfall alter Städte oder an dem Abstieg frisch geprägter, nichturbaner Verstädterung. Ganz im Gegenteil, es gibt kein anderes Gebiet in unserer Wirtschaft und Gesellschaft, das ein volles Vierteljahrhundert lang zielbewußter gehandhabt worden wäre, um genau das, was wir haben, zu vollbringen. Ungewöhnliche finanzielle Anreize seitens der Regierung sind in Anspruch genommen worden, um dieses Ausmaß an Eintönigkeit, Sterilität und Vulgarität zu erreichen. Jahrzehnte des Predigens, Schreibens und Mahnens durch Fachleute haben zu dem Ende geführt, daß wir und unsere Gesetzgeber davon überzeugt sind, ein derartiger Brei sei gut für uns, solange er uns mit Gras umrankt gereicht wird. Häufig gibt man aus Bequemlichkeit den Autos die Schuld an den Übeln der Städte und an den Enttäuschungen und Fehlschlägen in der Stadtplanung. Aber die Zerstörerischen Wirkungen von Autos sind weniger Ursache als Symptom für unsere Unfähigkeit zum Bauen. Selbstverständlich sind die Stadtplaner, genauso wie die Verkehrsfachleute mit den ihnen zur Verfügung stehenden märchenhaften Geldmitteln, hilflos angesichts des Problems, wie sie Autos und Städte miteinander in Einklang bringen sollen. Sie wissen nicht, was sie mit den Autos in den Städten anfangen sollen, weil sie sowieso nicht wissen, wie sie funktionsfähige und lebendige Städte planen sollen - mit Autos oder ohne. Die einfachen Bedürfnisse von Autos sind wesentlich leichter zu begreifen und zu befriedigen als die vielschichtigen Bedürfnisse von Großstädten, aber eine wachsende Anzahl von Planem ist zu dem Schluß gekommen, daß man, wenn man nur das Verkehrsproblem lösen könnte, damit allein auch schon das Hauptproblem der Städte gelöst hätte. Städte haben aber viel verwickeltere wirtschaftliche und soziale Probleme als den Autoverkehr. Wie kann man denn wissen, was man mit dem Verkehr versuchen könnte, bevor man weiß, wie die Stadt selbst lebt und was sie sonst noch mit ihren Straßen anfangen will? Man kann es eben nicht. Vielleicht sind wir ein so gedankenloses Volk geworden, daß es uns nid1t mehr interessiert, wie die Dinge wirklich funktionieren, sondern lediglich, was für einen Eindruck sie auf den ersten, oberflächlichen Blick machen. Wenn das so ist, dann gibt es weder Hoffnung für unsere Großstädte noch für irgend etwas anderes in unserer Gesellschaft. Aber ich glaube eigentlich nicht, daß das der Fall ist. Gerade in bezug auf unsere Stadtplanung gibt es einwandfrei eine große Anzahl guter und ernsthafter Menschen, denen die Planung und der Aufbau sehr am Herzen liegen. Trotz einiger Korruption und beträchtlicher Gier nach dem Weinberg des Nächsten sind doch die Absichten, die den Unmöglichkeiten zugrunde liegen, welche 12

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wir zuwege bringen, exemplarisch. Planer, Städtebauer und alle, die sie zu ihren Ansichten bekehrt haben, sind nicht absichtlich teilnahmslos gegenüber der Wichtigkeit des Wissens um das Funktionieren der Dinge. Sie haben sich, ganz im Gegen· teil, die größte Mühe gegeben, alles zu lernen, was die Heiligen und Weisen mo· derner orthodoxer Stadtplanung darüber gesagt haben, wie die Großstädte funktio· nieren sollten und was für die Menschen und den Handel in ihnen gut sein sollte. Dies nehmen sie mit solcher Hingabe in sich auf, daß sie, wenn die widersprechende Wirklichkeit auf den Plan tritt und ihr mühsam erworbenes Wissen umzustürzen droht, die Wirklichkeit dann halt mit einem Achselzucken abtun müssen. Sehen wir uns beispielsweise die Reaktion der orthodoxen Stadtplanung auf den Bostoner Bezirk North End an. (Bitte behalten Sie das North End in Erinnerung, ich werde in diesem Buch noch öfter darauf zurückko=en.) North End ist ein alter Bezirk mit niedrigen Mieten, der an der Wasserfront in die Schwerindustrie übergeht, und wird offiziell als Bostons schli=ster Slum und als öffentliche Schande betrachtet. Es verkörpert Eigenschaften, die alle klugen Leute für schlecht halten, weil so viele andere kluge Leute sie für schlecht erklärt haben. North End liegt nicht nur direkt neben der Schwerindustrie, schli=er noch: alle möglichen Arten von Arbeitsplätzen und Geschäften sind hier in größtem Durcheinander mit den Wohnblocks vermischt. North End hat nicht nur die höchste Konzentration von Wohnungen auf der Fläche, die in Boston für Wohnungsbau genutzt wird, sondern die höchste Konzentration von Wohnungen, die überhaupt in einer amerikanischen Großstadt zu finden ist. Es gibt kaum Grünflächen. Die Kinder spielen auf den Straßen. Statt Superblocks oder wenigstens einigermaßen großer Mietblocks gibt es nur kleine Baublocks. Nach Planungs-Sprachgebrauch ist der Bezirk »stark von bodenverschwendenden Straßen durchschnitten«. Die Gebäude sind alt. Alles Erdenkliche ist vermutlich falsch im North End. Oder - wieder im orthodoxen Planungs-Jargon ausgedrückt- North End ist das dreidimensionale Lehrbuch einer »Megalopolis« in den letzten Stadien des Verfalls. Es ist somit eine ständige Schulaufgabe für Studenten, die Stadtplanung und Architektur in Harvard studieren und sich immer wieder unter Leitung ihrer Lehrer daranmachen, diesen Bezirk in Superblocks und Promenaden und Parks aufzuteilen; sie radieren die vorschriftswidrigen Nutzungen aus und machen aus dem Ganzen ein Ideal an Ordnung und Vornehmheit, so einfach, daß es auf einen Stecknadelkopf eingraviert werden könnte. Vor zwanzig Jahren, als ich das North End zum erstenmal sah, waren seine Gebäude furchtbar überfüllt; es waren städtische Einfamilienhäuser verschiedenster Art und Größe, die in Mietshäuser umgewandelt waren, dazwischen vier- bis fünstöckige Mietshäuser, welche die Flut der Einwanderer erst aus Irland, dann aus Osteuropa und schließlich aus Sizilien auffangen sollten. Der allgemeine Eindruck war de:r eines Bezirks, der einer ungeheuren physischen Anstrengung nicht gewachsen und sehr arm war. Als ich das North End dann 1959 wiedersah, war ich verblüfft über den Wandel. Dutzende und aber Dutzende von Gebäuden waren neu hergerichtet. Statt Matrat· zen vor den Fenstern gab es Jalousien und überall frischgestrichene Wände. Viele

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der kleinen, in Wohnungen aufgeteilten Häuser hatten jetzt nur noch zwei Familien anstatt der drei oder vier von früher. Einige der Familien in den Mietshäusern hatten (wie ich bei einem Besuch dort erfuhr) sich selbst Luft geschafft, indem sie zwei ältere Wohnungen zusammengelegt und diese mit Badezimmern, Küchen und ähnlichem eingerichtet hatten. Ich blickte eine enge kleine Straße hinunter und meinte, wenigstens dort das alte schmutzige North End wiederzufinden, aber nein: weitere saubere Ziegelbauten, neue Vorhänge und ein Schwall von Musik, als eine Tür aufging. Dies war tatsächlich der einzige Stadtbezirk, den ich je gesehen habe - und zwar bis heute -, in dem die Hausmauern, die an Parkplätze grenzten, nicht roh und verstümmelt gelassen, sondern in Ordnung gebracht und genauso sauber gestrichen waren, als seien sie zum Vorzeigen bestimmt. Unter die Wohngebäude war eine Unzahl von herrlichen Lebensmittelläden gemischt, auch gab es Unternehmen, wie Polstereien, Klempnereien, Schreinereien. Die Straßen waren voller Leben, Kinder spielten, Leute kauften ein, gingen spazieren, unterhielten sich. Wäre es nicht ein kalter Januartag gewesen, hätten sicher auch Leute im Freien gesessen. Diese allgemeine Atmosphäre von Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Gesundheit war so ansteckend, daß ich anfing, nach Straßen zu fragen, nur um dadurch mit den Leuten sprechen zu können. Ich hatte in den vergangenen Tagen eine ganze Menge von Boston gesehen, meistens war das äußerst deprimierend gewesen, und dies hier empfand ich erleichtert als den gesundesten Ort in der ganzen Stadt. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wo das Geld für diese Gesundung wohl hergeko=en war, denn es ist heute so gut wie unmöglich, nennenswerte Hypothekengelder für amerikanische Stadtbezirke zu bekommen, die weder hohe Mieteinnahmen bringen noch Imitationen von Vorstädten sind. Um das herauszubeko=en, ging ich in ein Restaurant mit einer Bar {an der eine lebhafte Unterhaltung über Angelsport geführt wurde) und rief einen Stadtplaner aus Boston an, den ich kannte. »Warum, in aller Welt, sind Sie unten im North End?« fragte er. »Geld? Nein, wieso? Nach North End sind weder Geld noch Arbeit gegangen. Dahin geht nichts. Vielleicht später mal, aber jetzt noch nicht. Es ist doch schließlich ein Slum!« »Mir sieht es gar nicht aus nach einem Slum«, sagte ich. »Aber es ist der schlimmste Slum in der ganzen Stadt. Es hat 68o Wohnungseinheiten je Hektar. Es ist mir ausgesprochen unangenehm zuzugeben, daß wir so was in Boston überhaupt haben, aber es ist leider Tatsache.« »Haben Sie noch mehr Zahlen zur Hand?« fragte ich. »Ja. Komischerweise hat es die geringste Verbrechens-, Krankheits- und Kindersterblichkeitsquote der Stadt. Außerdem ist dort das Verhältnis zwischen Miete und Einko=en am günstigsten. Mein Gott, diese Leute haben es wirklich gut. Moment mal ... die Kinderzahl entspricht ungefähr dem Durchschnitt der Stadt. Die Sterblichkeitsziffer ist niedrig, 8,8 pro mille gegenüber dem städtischen Durchschnittswert von 11,2 pro mille. Tb-Sterblichkeit ist sehr niedrig, weniger als eins pro zehntausend. Nicht zu verstehen, es ist noch weniger als in Brookline. Früher war das North End der schlimmste Herd für Tuberkulose in der ganzen Stadt, aber das hat sich alles geändert. Es müssen gesunde Leute sein. Aber es ist natürlich ein gräßlicher Slum.«

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»Sie sollten mehr solcher Slums haben«, sagte ich. »Sagen Sie bloß nicht, daß schon Pläne bestehen, um den hier abzureißen. Sie sollten mal herkommen und soviel wie möglich daraus lernen.« »Ich verstehe Sie genau«, gab er zu. »Ich gehe selbst öfter hin, nur um in den Straßen spazierenzugehen und dieses wunderbar fröhliche Straßenleben zu genießen. Wissen Sie, wenn Sie's jetzt schon so schön finden, sollten Sie im Sommer wiederkommen. Sie wären begeistert im Sommer. Aber irgendwann müssen wir es natür· lich neu aufbauen. Wir müssen die Leute ja von der Straße runterbringen.« Das war merkwürdig. Die Instinkte meines Freundes sagten ihm, daß das North End ein guter Ort war, und seine sozialen Statistiken bestätigten es noch dazu. Aber alles, was er als funktionell arbeitender Städtebauer gelernt hatte über das, was für Menschen und eine städtische Nachbarschaft gut ist, alles, was ihn zum Fachmann gemacht hatte, sagte ihm, daß das North End ein übler Ort zu sein habe. Der führende Sparkassenbankier von Boston, »ein Mann, ganz oben in der Machtmaschinerie«, an den mich mein Freund wegen meiner Frage nach der Finanzierung verwiesen hatte, bestätigte, was ich inzwischen von den Leuten im North End selbst gehört hatte. Es war kein Geld von Gnaden des großen amerikanischen Banksystems, das ja genug von Stadtplanung versteht, um einen Slum genausogut zu erkennen wie die Planer. »Dem North End Geld zukommen zu lassen«, sagte der Bankier, »hat keinen Sinn. Es ist ein Slum! Da kommen noch immer Einwanderer rein! Und außerdem hatte es während der Depression eine sehr große Anzahl abbruchreifer Gebäude; schlechter Ruf, so was.« (Davon hatte ich auch gehört, und auch davon, wie die Familien gearbeitet und ihre Ersparnisse zusammengelegt hat· ten, um einige dieser abbaureifen Gebäude zurückzukaufen.) Die größten Hypothekengelder, die in dem Vierteljahrhundert seit der Depression diesem Bezirk von immerhin fünfzehntausend Menschen zugeflossen waren, waren 3000-Dollar-Werte, erzählte mir der Bankier, »und nur sehr, sehr selten«. Es hatte andere Hypotheken für 1000 und einige für 2000 Dollar gegeben. Die Sanierungsmaßnahmen waren fast ganz durch Geschäftsleute und Nettomieteinnahmen innerhalb des Bezirks selbst finanziert worden, außerdem durch Handwerkerleistungen, die von den Bewohnern und ihren Verwandten ausgehandelt wurden. Ich wußte inzwischen, daß diese Unmöglichkeit, Geld für stückweise Verbesserungen aufzunehmen, eine schwere Sorge für die North-Ender war, und daß außerdem einige Leute vom North End darüber beunruhigt waren, daß es ganz unmöglich schien, irgendwelche Neubauten im Bezirk zu errichten, es sei denn unter der Bedingung, sie selbst und ihre Gemeinde würden nach dem Muster der Studententräume von einer Stadt Eden vom Erdboden hinweggefegt. Daß das keine blasse Theorie war, wußten sie, weil dieses Schicksal bereits einen sozial ähnlich zusammengesetzten, wenn auch größeren Bezirk getroffen hatte: das in der Nähe liegende West End. Sie waren in Sorge, weil sie sich klar darüber waren, daß ewiges Flickwerk auf die Dauer nicht ausreichte. »Besteht irgendeine Möglichkeit, Darlehen für Neubauten im North End zu bekommen?« fragte ich den Bankier. »Nein, absolut nicht!« antwortete er und schien über meine Begriffsstutzigkeif ungeduldig. »Es ist doch ein Slum!«

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Bankiers wie Planer haben ihre festen Theorien zum Thema Städtebau, und sie handeln danach. Die Bankiers haben ihre Theorien von den gleichen intellektuellen Quellen bezogen wie die Planer. Bankiers und Verwaltungsbeamte, die für Hypotheken Ausfallbürgschaften geben, erfinden die Planungstheorien nicht, ja, überraschenderweise erfinden sie nicht einmal wirtschaftliche Doktrinen für die Städte. Sie sind heutzutage einfach aufgeklärt und holen sich ihre Ideen von den Idealisten der vorangegangenen Generation. Und da die theoretische Stadtplanung seit wesentlich mehr als einer Generation keine wichtigeren neuen Ideen mehr vorgebracht hat, befinden sich die theoretischen Planer, die finanzierenden und die Verwaltungsbehörden jetzt alle ungefähr auf gleicher Stufe. Grob gesagt, befinden sie sich alle auf der gleichen Stufe mühsam erlernten Aberglaubens, ebenso wie es der medizinischen Wissenschaft zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts erging, als die Wundärzte ihren ganzen Glauben in die Heilkraft des Aderlasses steckten. Es dauerte Jahre, bis man genau lernte, welche Adern und in welcher Weise sie bei welchen Symptomen geöffnet werden sollten. Eine Superwissenschaft technischer Komplikationen wurde in derart verblüffenden Einzelheiten festgelegt, daß die Fachliteratur dariiber noch heute beinahe einleuchtend klingt. Medizinische Analogien erscheinen, auf soziale Organismen angewendet, leicht als an den Haaren herbeigezogen. Aber Analogien, die sich auf das beziehen, was sich in den Hirnen ernsthafter und gelehrter Menschen abspielt, die mit komplexen Phänomenen zu tun haben, sie aber ganz und gar nicht verstehen und ihrer deshalb mit einer Pseudowissenschaft Herr zu werden versuchen - solche Analogien haben durchaus einen Sinn. Wie im Falle der Pseudowissenschaft des Aderlassens, hat sich im Falle der Pseudowissenschaft des Städtebaus und der Stadtplanung in langen Jahren ein Riesengebäude ausgefeilter und komplizierter Dogmen auf der Grundlage eines Unsinns entwickelt. So haben sich mit der Zeit viele fähige Männer und große Verwaltungsfachleute nach Oberwindung der Anfangsschwierigkeiten aufgemacht, um, ausgerüstet mit den vervollkommneten Werkzeugen der Technik und dem Vertrauen der Öffentlichkeit, in zwingender Logik das größte Zerstörungswerk durchzuführen, das durch Vorsicht oder Mitleid gerade noch hätte verhindert werden können. Das Aderlassen im vergangenen Jahrhundert konnte nur aus Zufall heilend wirken, oder wenn es die eigenen Gesetze brach. Man hat es endlich zugunsten harten, gründlichen Untersuchens und Zusammenstellens der wirklichen Gegebenheiten aufgegeben, man hat endlich die Wirklichkeit Stück für Stück gepriift und beschrieben, so, wie sie ist, und nicht mehr, wie sie sein sollte. Die Pseudowissenschaft der Stadtplanung und ihre Schwester, die Kunst des formalen Städtebaus, haben immer noch nicht mit dem triigerischen Ausruhen in Wunschdenken, vertrautem Aberglauben, Vereinfachungen und Symbolen gebrochen, haben noch immer nicht das Abenteuer begonnen, sich über die wirkliche Welt zu vergewissern. So werden wir es also unternehmen, uns, wenn auch nur in kleinerem Umfang, mit diesem Buch in die wirkliche Welt hinauszuwagen. Um an das anscheinend geheimnisvolle und widersprüchliche Verhalten von Großstädten heranzukommen, gibt es nur den einen Weg: ganz genau und mit so wenigen Voraussetzungen wie möglich

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die alltäglichen Szenen und Geschehnisse zu betrachten und zu versuchen, sich darüber klarzuwerden, was sie bedeuten und ob aus ihnen prinzipielle Gedankengänge abzuleiten sind. Dies versuche ich im ersten Teil dieses Buches zu tun. Einem Prinzip, das überall greifbar und in so vielen und so mannigfaltigen Formen zutage tritt, will ich mich gesondert im zweiten Teil dieses Buches zuwenden, der damit zum Kem meiner These wird. Dieses allgegenwärtige Prinzip ist die Notwendigkeit von untereinander abhängigen, feinkörnig gesäten, verschiedenartigen Nutzungen, die sich ständig gegenseitig, sowohl wirtschaftlich als auch sozial gesehen, stützen. Die einzelnen Komponenten dieser mannigfaltigen Nutzung können sehr verschieden sein, aber sie müssen sich gegenseitig auf konkrete Art ergänzen. Ich bin der Ansicht, daß funktionsunfähige Stadtbezirke jene Bezirke sind, in denen eine solche gegenseitige Durchdringung und Unterstützung der Nutzung fehlt, und daß eine Wissenschaft der Stadtplanung und eine Kunst des Städtebaus für wirkliche Städte und wirkliches Leben eben Wissenschaft und Kunst vom Lenken und Nähren dieser feinkörnigen Beziehungen zu sein haben. Ich glaube, daß nach den vorliegenden Ergebnissen vier grundsätzliche Bedingungen notwendig sind, um eine nutzbringende Großstadtmannigfaltigkeit entstehen zu lassen, und daß man, wenn diese vier Bedingungen von vornherein bei der Planung berücksichtigt werden, echte großstädtische Vitalität bewirken kann (etwas, was die Pläne der Planer und die Entwürfe der formalen Städtebauer allein niemals schaffen können). Während also Teil I dieses Buches - als Voraussetzung für alles Weitere - vor allem das soziale Verhalten von Menschen in Großstädten behandelt, geht es in Teil II hauptsächlich um das wirtschaftliche Verhalten der Großstädte; damit wird dieser Teil zum wichtigsten des Buches. Großstädte sind unheimlich dynamische Gebilde, und das ist ganz augenfällig in funktionsfähigen Bezirken, die für die Pläne von Tausenden von Menschen fruchtbaren Boden bieten. Im dritten Teil dieses Buches untersuche ich deshalb einige Symptome sowohl des Verfalls als auch der Regeneration unter dem Gesichtspunkt, wie Großstädte genutzt werden und wie sie und ihre Bewohner sich im wirklichen Leben verhalten. Der letzte Teil des Buches enthält Änderungsvorschläge in bezug auf Wohnungsbau, Verkehr und Gestaltung. Er geht auf Planungs- und Verwaltungsprobleme ein und legt schließlich die Art des Problems dar, welches eine Großstadt stellt. Es ist das Problem, eine großstädtische Mannigfaltigkeit planmäßig zu fördern. Die äußere Erscheinung der Dinge und ihre Art zu funktionieren hängen untrennbar zusammen, und dies nirgendwo mehr als in Großstädten. Aber die Leute, die nur daran interessiert sind, wie eine Stadt aussehen soUte, und uninteressiert daran sind, wie sie wirklich funktioniert, werden von diesem Buch enttäuscht sein. Es ist sinnlos, die äußere Erscheinung einer Großstadt zu planen oder darüber Betrachtungen anzustellen, wie man ihr einen angenehmen Eindruck von Ordnung verleihen könnte, wenn man nicht weiß, welches die Gesetze sind, nach denen sie von innen her funktioniert. Wenn man in erster Linie nach dem äußeren Anschein strebt oder diesen als Hauptfaktor empfindet, riskiert man nur Verwirrung und Schwierigkeiten. 17

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In East Harlem in New York existiert eine Siedlung mit einer auffälligen rechteckigen Wiese in der Mitte, die zum Haßobjekt für die Bewohner wurde. Eine Sozialpflegerin, die häufig die Siedlung besuchte, war überrascht, wie oft das Thema dieser Wiese zur Sprache kam; meistens geschah es, soweit sie es beurteilen konnte, ohne jeden Zusammenhang. Die Mieter haßten die Wiese und wollten sie weghaben. Als die Sozialpflegerin nach dem Grund fragte, kamen vage Antworten wie: »Was sollen wir damit?« oder: »Wer will sie denn haben?« Schließlich erklärte eines Tages eine etwas gesprächigere Mieterin: »Niemand hat sich dafür interessiert, was wir wollten, als man das hier gebaut hat. Sie haben unsere Häuser abgebrochen und uns hierher und unsere Freunde irgendwo anders hingeschubst. Wir haben hier keinen Ort, wo man einmal eine Tasse Kaffee trinken oder sich eine Zeitung oder fünfzig Cents holen kann. Keiner hat sich darum gekümmert, was wir brauchen. Aber jetzt kommen die ganzen großen Tiere alle hier an und sehen sich diese Wiese an und sagen: >Ist das nicht herrlich! Jetzt haben die Armen alles!häßlich, uniform, ununterscheidbar voneinander und gesichtslos< seien. Aber er regte an, solche Siedlungen mit Parks zu umgeben.« Aus einem Bericht der New York Times, Januar 1961.

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Anlagen, die von der Landschaft her, von Flußufem oder Hügeln, ihre Vorzüge haben. Erste Voraussetzung zum Verständnis der Wechselwirkungen zwischen den Großstädten und ihren Parks ist, mit der Verwirrung aufzuräumen, die über den tatsächlichen und den theoretischen Nutzwert von Parks herrscht - so zum Beispiel mit der unsinnigen Fiktion, die Parks seien die »Lungen der Großstadt«. Um das Kohlendioxyd zu absorbieren, das vom Atmen, Kochen und Heizen von nur vier Menschen frei wird, braucht es mehr als einen Hektar Wald. Es sind die Luftmeere, die um uns zirkulieren, und nicht die Parks, die uns vor dem Ersticken bewahren. * Es wird auch nicht am Ende etwa mehr Luft durch eine gegebene Anzahl von Grünflächen in die Stadt hereingelassen. Die Straßen zu entfemen und ihre Fläche für Parks und Siedlungsgrün zu nutzen, ist im Verhältnis zu den Luftmengen, die eine Stadt erhält, vollkommen belanglos. Die Luft weiß nichts vom Rasen-Fetischismus und richtet sich in keiner Weise danach. Um das Wesen von Parks zu begreifen, muß man außerdem die falsche Vorstellung verabschieden, Parks stabilisierten die Grundstückswerte oder dienten als Anker für eine Gemeinde. Parks tun automatisch von sich aus überhaupt nichts. Am wenigsten sind diese labilen Elemente stabilisierende Faktoren für Werte oder die umgebenden Bezirke. Philadelphia kann zu diesem Punkt mit drei gründlich durchexerzierten Beispielen aufwarten. Als William Penn den Stadtplan ausarbeitete, entwarf er für die Mitte den Platz, der heute vom Rathaus eingenommen wird, und sah außerdem in gleichem Abstand nach allen vier Seiten hin vier Parks in Wohngegenden vor. Was ist heute aus diesen vier Parks geworden, die alle zu gleicher Zeit und in gleicher Größe angelegt wurden, deren Benutzung ursprünglich die gleiche war und die alle den gleichen vorteilhaften Einfluß auf ihre Umgebung haben sollten? Ihr Schicksal ist so unterschiedlich wie nur möglich. Der bekannteste der vier Parks von Penn ist Rittenhause Square, ein beliebter, viel benutzter Park mit guter Funktion, eine der großen Attraktionen des heutigen Philadelphia, Mittelpunkt eines eleganten Bezirks; es ist der einzige alte Bezirk Philadelphias, der von sich aus ständig seine Randbezirke verbessert und im Grundstückswert steigt. Der zweite Park ist Franklin Square; es ist der Park für Arbeitslose, Heimatlose

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Los Angeles, das mehr Hilfe für die Lungen seiner Bewohner braucht als jede andere amerikanische Stadt, hat zufällig auch mehr offene Räume als jede andere große Stadt; sein schmutziger Dunst kommt teilweise von örtlichen Besonderheiten in der Zirkulation der Meeresluft, ist aber auch durch die Streuung und Weite der offenen Räume in dieser Stadt bedingt. Die weite Streuung verlangt ein gewaltiges Ausmaß an Kraftverkehr, und dieser wiederum steuert fast zwei Drittel der Chemikalien zum Dunst der Stadt bei. Von den tausend Tonnen Chemikalien, welche die Luft verunreinigen und jeden Tag durch die drei Millionen registrierten Kraftfahrzeuge in Los Angeles ausgestoßen werden, sind ungefähr 6oo Tonnen Hydrokarbonate. Das Paradoxe an dem nicht umzubringenden Luft- und Grünflächen-Ideal rührt aus folgendem: In den modernen Großstädten fördert die großzügige Streuung von Siedlungen und Grünflächen die Verunreinigung der Luft, anstatt sie zu bekämpfen. Diese Wirkung konnte Ebenezer Howard kaum voraussehen. Inzwischen handelt es sich jedoch nicht mehr um Voraussicht, sondern um P,ückblick und Einsicht.

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und für Müßiggänger, die sich inmitten eines Bezirks billiger Hotels, religiöser Missionen, von Gebrauchtwarenläden, Schreibstuben, Leihhäusern, Arbeitsvermittlungen, schäbigen Restaurants und Speisehallen dort versammeln. Der Park und seine Benutzer sind schäbig, aber der Park ist kein gefährlicher Ort oder gar ein Verbrecherpark. Allerdings hat er sich kaum als Anker für Grundstückswerte oder soziale Stabilität erwiesen. Seine Nachbarschaft ist vorgesehen für Sanierung in großem Umfang. Der dritte Park ist Washington Square, Mittelpunkt eines Bezirks, der, einst das Herz der Innenstadt, heute ein ausgesprochenes Bürozentrum für Versicherungsgesellschaften, Verlage und Werbeagenturen ist. Vor einigen Jahrzehnten war Washington Park Philadelphias Revier für Homosexuelle. Das ging so weit, daß er von den Büroangestellten in der Mittagspause gemieden wurde und daß er sich für Parkaufsicht und Polizei zu einem nicht zu bewältigenden Komplex von Lastern und Verbrechen entwickelte. Mitte der fünfziger Jahre wurde er dann umgebrochen, über ein Jahr lang geschlossen und neu angelegt. Während dieser Zeit zerstreuten sich die Benutzer, was der Absicht entsprach. Heute wird er selten und kümmerlich benutzt; er ist, außer während der Mittagspausen an schönen Tagen, meistens leer. Washington Square hat genausowenig wie Franklin Square von sich aus den Wert des umgehenden Bezirks erhalten oder gar gehoben. Hinter dem Platzrand aus Bürogebäuden soll auch dieser Bezirk von Grund auf saniert werden. Der vierte von Penns kleinen Parks ist zu einer Verkehrsinsel zusammengeschrumpft, Logan Circle auf dem Benjamin Franklin Boulevard, eine typische City-BeautifulPlanung. Das Rondell ist mit einem großen, rauschenden Springbrunnen und wunderbar gepflegten Anlagen ausgestattet. Es gehört zu dem monumentalen kulturellen Zentrum der Stadt; der angrenzende Bezirk ist nach völligem Niedergang bereits saniert und in eine Cite Radieuse verwandelt worden. Die so unterschiedlichen Schicksale dieser Parks, vor allem der drei, die Parks geblieben sind, sind ein gutes Anschauungsmaterial für das charakteristisch labile Verhalten von Stadtparks überhaupt. Diese Labilität der Parks und ihrer Nachbarschafren kann ins Extrem gehen. Einer der reizendsten und individuellsten kleinen Parks, die es in einer amerikanischen Großstadt gibt, ist die Plaza in Los Angeles. Riesige Magnolien umsäumen diesen Park, er ist ein herrlich schattiger Ort, voller Tradition, und wird heute paradoxerweise an drei Seiten von verlassenen Geisterhäusern und Schmutz umsäumt, der bis über die Bürgersteige hinwegstinkt. An der vierten Seite ist ein mexikanischer Touristenbazar, der gut geht. Madison Park in Boston, eine Grünflächenanlage inmitten einer. ReihenhäuserNachbarschaft, eine Anlage also, wie sie in so vielen superklugen Sanierungsplänen heute immer wieder auftaucht, ist Zentrum eines Wohnbezirks, der einem Bombenhagel zum Opfer gefallen zu sein scheint. Die Häuser um den Park herum, die sich kaum von den hoch im Kurs stehenden Häusern um den Rittenhause Square unterscheiden, verfallen aus Mangel an Wert und infolge entsprechender Vernachlässigung. Wenn eines der Reihenhäuser zusammenfällt, wird es abgerissen; sicherheitshalber siedelt man die Familie des nächsten Hauses um; ein paar Monate

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später bricht das geräumte Haus zusammen, und nun wird das Haus daneben leergemacht. Das geht ohne jeden Plan vor sich; es entstehen lediglich immer mehr zufällige, gähnende Löcher, Trümmer und Öde breiten sich um den kleinen Geisterpark aus, der theoretisch einem guten Wohnbezirk als Anker dienen sollte. Sollte! Es ist eine der bittersten Enttäuschungen in der Baugeschichte moderner Siedlungen, dieses Versagen von Parks und Grünflächen in Hinsicht auf die Hebung oder Stabilisierung der betreffenden Umgebung. Man sehe sich den Rand irgendeines Großstadtparks oder die Umgebung von Anlagen um Siedlungen herum an: wie selten gibt es eine Grünflächenanlage in der Großstadt, deren direkte Umgebung die angebliche Anziehungskraft oder einen stabilisierenden Einfluß tatsächlich erkennen läßt. Und dann die Parks, die während des überwiegenden Teils der Zeit ungenutzt bleiben. In den zwei schönsten Parks von Cincinnati, die beide über dem Fluß liegen, konnte ich an einem heißen Septembernachmittag die phantastische Gesamtzahl von fünf Benutzern feststellen (drei halbwüchsige Mädchen und ein junges Paar); dagegen waren Straßen über Straßen in Cincinnati voll mit herumspazierenden Leuten, denen nicht die kleinste Annehmlichkeit für den Genuß der Stadt und nicht der geringste Schatten geboten war. An einem ähnlichen Nachmittag mit Temperaturen über dreißig Grad konnte ich in Corlears Hook Park, einem landschaftlich angelegten Flußufer mit ständiger frischer Luftzufuhr, einer Oase auf der dichtbevölkerten Lower East Side von Manhattan, nur achtzehn Menschen entdecken, meistens einsame, anscheinend arbeitslose Männer. Kinder waren nicht dort; keine vernünftige Mutter würde ein Kind dort allein hinschicken. Warum sind so oft dort, wo die Parks sind, keine Menschen und keine Parks dort, wo die Menschen sind? Unpopuläre Parks sind nicht wegen der verschwendeten und verpaßten Möglichkeiten beunruhigend, sondern auch wegen ihrer häufig negativen Auswirkungen. Sie haben die gleichen Probleme wie Straßen ohne Augen, und ihre Gefahren teilen sich den umgebenden Bezirken mit, so daß die Straßen an solchen Parks ebenfalls als gefährliche Orte gelten und gemieden werden. Es werden im allgemeinen zu große Erwartungen an die Großstadtparks gestellt. Weit entfernt davon, irgendeine wichtige Eigenschaft ihrer Umgebung zu verändern, weit entfernt davon, das Niveau ihrer Nachbarschaft von sich aus zu heben, werden die nachbarschaftlieh genutzten Parks selbst direkt und drastisch davon beeinflußt, wie diese Nachbarschaft sich zu ihnen verhält. Städte sind Orte, die greifbar vorhanden sind. Um sie zu »begreifen«, müssen wir alle nützlichen Beobachtungen über das, was greifbar vor sich geht, zusammentra· gen, anstattauf metaphysischen Wolken davonzusegeln. Penns drei kleine Parks in Philadelphia sind drei normale, übliche Typen von Stadtparks. Was erzählen sie uns nun über ihre gewöhnlichen Beziehungen zu ihrer jeweiligen Nachbarschaft? Rittenhause Square, der Erfolgspark, verfügt über eine mannigfaltig zusammengesetzte Nachbarschaft und über ein ebenso mannigfaltig zusammengesetztes Hinterland. Direkt um ihn herum liegen im Augenblick ein Künstlerklub mit Restau6g

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rant und Kunstgalerie, eine Musikschule, ein Heeresverwaltungsgebäude, ein Apartment-Haus, ein Klub, eine alte Apotheke, ein Marineverwaltungsgebäude, das einmal Hotel war, Wohnungen, eine Kirche, eine öffentliche Bibliothek und wieder Wohnungen. Anschließend hieran, in den Straßen dahinter, die rechtwinklig zu den Parallelstraßen hinführen, gibt es eine Fülle von Läden, gemischt mit alten Häusern, neueren Wohnblocks und den verschiedensten Bürogebäuden. Diese Mischung von Gebäuden nach der Art ihrer Nutzung hat eine Auswirkung auf den Park: sie versorgt den Park mit einer Mischung von Benutzern, die ihn zu unterschiedlichen Zeiten betreten und verlassen. Sie besuchen den Park zu verschiedenen Stunden, weil ihre Tagespläne voneinander abweichen, und der Park verfügt auf diese Weise über eine lückenlose Folge von Nutzung und Benutzern. Rittenhouse Square ist somit den ganzen Tag über ziemlich belebt; er ist es aus dem gleichen Grund, aus dem heraus ein lebhafter Bürgersteig ständig belebt ist: wegen der funktionellen Mannigfaltigkeit der anliegenden Gebäude, die eine Mannigfaltigkeit der Benutzer und ihrer Tagesläufe mit sich bringt. Philadelphias Washington Square, das frühere Revier der Homosexuellen, bietet hierzu das extreme GegenbeispieL Sein Rand ist von riesigen Bürogebäuden beherrscht, und sowohl die direkt anliegenden Gebäude als auch das Hinterland ermangeln jeglichen Äquivalents zu der Mannigfaltigkeit von Rittenhouse Square; es gibt keine Läden, keine Restaurants oder kulturellen Institutionen in der Nähe. Das Hinterland verfügt über eine nur geringe Dichte an Wohnungen. Washington Square hat seit Jahrzehnten nur ein einziges Reservoir örtlicher Benutzer: die Büroangestellten. Die Auswirkung auf den Park ist die, daß die Menschen dieses einzigen Reservoirs ziemlich zur gleichen Tageszeit in Erscheinung treten. Alle Besucher betreten den Park morgens zur gleichen Stunde, sind dann bis zum Mittagessen und nach dem Mittagessen erneut eingesperrt. Nach Arbeitsschluß sind sie fort. Washington Square ist so notgedrungen in der überwiegenden Zeit des Tages ein Vakuum; hinein strömt das, was auch sonst ein Vakuum in der Großstadt zu füllen pflegt: eine Plage in irgendeiner Form. Die Homosexuellen, die jahrzehntelang Washington Square in Besitz nahmen, haben keineswegs einen lebensvollen und beliebten Park ruiniert. Sie haben keine ehrenwerten Leute daraus vertrieben. Sie sind lediglich in ein verlassenes Gelände gezogen und haben sich dort eingerichtet. Vor sehr langer Zeit hatte Washington Square sehr gute Besucherschichten. Obwohl es noch »derselbe« Park ist, haben Wesen und Nutzung sich völlig gewandelt, als sich die Umgebung wandelte. Es mußten nicht unbedingt Bürostunden sein, die diesen Park entvölkerten. Jegliche einseitige, alles beherrschende Nutzung, die dem Park einen engbegrenzten Zeitplan auferlegte, hätte die gleiche Wirkung gehabt. Diese Grundsituation wird auch in allen Parks, deren Nachbarschaft überwiegend aus Wohnvierteln besteht, erzeugt. In diesem Fall besteht dann das große, einzige Reservoir an Erwachsenen aus Müttern. Parks oder Spielplätze können aber genausowenig wie nur von Büroangestellten allein von Müttern bevölkert werden; Mütter, die einen Park während

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ihrer relativ einfach zu errechnenden Zeiten benutzen, beleben ihn nur für höchstens fünf Stunden des Tages einigermaßen wirkungsvoll. Ihre tägliche Benutzung der Parks ist überdies nicht nur verhältnismäßig kurz, sondern auch durch festgesetzte Zeiten, wie Mahlzeiten, Nachmittagsschlaf der Kinder, beschränkt und vernünftigerweise auch vom Wetter abhängig. Ein nichtspezialisierter, nachbarschaftlieh genutzter Park, der mit der funktionellen Monotonie seiner Umgebung geschlagen ist, stellt unweigerlich für einen bedeutenden Teil des Tages ein Vakuum dar. Und selbst wenn das Vakuum gegen gewisse Formen irgendeiner Plage geschützt ist, übt es nur geringe Anziehungskraft auf das potentielle Reservoir an Benutzern aus. Ein Vakuum langweilt schrecklich, weil Monotonie eben langweilig ist. Wie auf den Straßen, ziehen auch in Parks Leben und Mannigfaltigkeit weiteres Leben an; Ode und Monotonie wirken abstoßend. Das ist ein Prinzip, das nicht nur für das soziale, sondern in vieler Beziehung auch für das wirtschaftliche Verhalten von Städten gilt. Es gibt jedoch eine große Ausnahme von der Regel, daß ein Park eine weite Skala funktioneller Mischung an Umgebung und Besuchern braucht, um den ganzen Tag lang genutzt zu werden. Es gibt in allen Städten eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, die für sich allein lange und gut einen Park genießen und beleben kann, obwohl sie selten als Attraktion auf andere Arten von Besuchern wirkt. Das sind die Menschen mit absoluter Muße, jene Leute, die nicht einmal häusliche Pflichten haben. In Philadelphia bevölkern diese Leute den dritten von Perms Parks, den Franklin Square. Im allgemeinen besteht eine große Abneigung gegen solche Parks, die von den Müßiggängern bevölkert werden, und das ist natürlich, denn der Anblick so viel menschlichen Versagens ist hart. Gewöhnlich unterscheidet man auch kaum zwischen diesen Müßiggänger-Parks und solchen Parks, die im Geruch von Verbrechen stehen, obwohl es sich um zwei ganz verschiedene Dinge handelt. (Das eine kann aber selbstverständlich aus dem anderen folgen.) In einem gut etablierten Park für Müßiggänger, wie es etwa Franklin Square ist, tritt der glückliche Fall ein, daß Angebot und Nachfrage sich endlich einmal entsprechen. Wenn es das Wetter gestattet, fmdet im Franklin Square eine Art ganztägigen Empfangs statt. Die gut besetzten Bänke sind dann das Zentrum der Versammlung, und um sie herum bewegt sich ein lebhafter Stehkonvent. Die Gäste sind respektvoll gegeneinander und auch Außenstehenden gegenüber höflich. Im Uhrzeigersinn rückt die Versammlung im Laufe des Tages um den kreisförmigen Teich in der Mitte des Parks herum; sie folgt der Sonne und der Wärme, und wenn die Sonne dann fort ist, ist auch die Versammlung bis zum nächsten Tag vorüber. Nicht alle Großstädte verfügen über so gut etablierte Müßiggänger-Parks. New York hat zum Beispiel keinen, obwohl viele kleine Parkfragmente und Spielplätze dort häufig von arbeitsscheuen Elementen besucht werden und auch der gefährliche Sara Delano Roosevelt Park viele solcher Kunden hat. Vielleicht ist der größte in dieser Hinsicht spezialisierte amerikanische Park der wichtigste Park der Innenstadt von Los Angeles, der Pershing Square. Auch dort geht es denkbar gesittet zu. 71

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Man kann jedoch kaum auf höfliche Müßiggänger-Schichten bauen, um alle unpopulären Parks in den Städten zu retten. Ein allgemein nachbarschaftlieh genutzter Park, der nicht zufällig Hauptquartier der professionellen Nichtstuer ist, kann nur dadurch auf selbstverständlichem Wege belebt werden, daß er sehr nah an lebendigen Orten liegt, an denen vielfältige Lebensadern zusammenströmen. Wenn er im Stadtinnern liegt, muß er von den Menschen, die dort einkaufen und bummeln, wie auch von den Arbeitenden in der Innenstadt profitieren können. Liegt er nicht in der Innenstadt, so sollte er doch bequem erreichbar sein von Orten, die möglichst viel von dem bieten (Arbeitsplätze, kulturelle und wirtschaftliche Institutionen und Wohnungen), was Großstädte sonst noch aufzuweisen haben. Viele Stadtbezirke besitzen bereits einen solchen Brennpunkt des Lebens, der nach einem nahe gelegenen Park oder nach öffentlichen Plätzen geradezu schreit. Solche Brennpunkte im öffentlichen Leben der Bezirke sind leicht daran zu erkennen, daß sie von den Leuten mit den Werbezetteln als Arbeitsplatz auserkoren werden. Es hat jedoch keinen Sinn, Parks zu den Menschen zu bringen, wenn dabei die Gründe für die Gegenwart der Menschen ausradiert werden und der Park an deren Stelle tritt. Dies ist einer der grundlegenden Irrtümer bei der Planung von Siedlungen und kulturellen Zentren. Parks funktionieren in keiner Weise als Ersatz für die Mannigfaltigkeit der Großstadt. Funktionierende Parks sind niemals Grenzen oder Unterbrechungen im komplexen Gewebe der sie umgebenden Stadtfunktionen. Sie tragen im Gegenteil dazu bei, die verschiedenen Funktionen ihrer Umgebung zusammenzubringen, indem sie einen angenehmen Treffpunkt darstellen; dabei fügen sie selbst im Laufe der Zeit noch ein weiteres geschätztes Element der Mannigfaltigkeit hinzu und geben ihrer Umgebung auf diese Weise etwas zurück, wie es Rittenhouse Square oder jeder andere gute Park tut. Man kann einen nachbarschaftlieh genutzten Park weder betrügen, noch kann man mit ihm rechten. »Künstlerische Konzeptionen« und schmeichelnde Wiedergaben können einem Parkentwurf Bilder von Leben verleihen; oberflächliche Variation in der Gartenarchitektur mag wie Mannigfaltigkeit wirken. Aber nur ein echter Gehalt an wirtschaftlicher und sozialer Mannigfaltigkeit, den Menschen mit verschiedenen Tagesplänen hervorbringen, ist für den Park von Bedeutung und kann ihm die Wohltat der Lebendigkeit zukommen lassen. Wirklich gute Parks stehen selten in ernsthaftem Wettbewerb mit anderen Anlagen im Freien. Das ist begreiflich, denn die Menschen in den Großstädten sind bei all ihren Interessen und Pflichten kaum imstande, unbegrenzte Mengen lokaler Grünflächen zu bevölkern. Es hat sich bereits herausgestellt, daß Stadtbezirke mit relativ vielen Grünflächen, wie Momingside Heights oder Harlem in New York, nur sehr selten einen bestimmten Park als intensiven Gemeindebrennpunkt ausersehen noch besondere Liebe für einen bestimmten Park entwickeln. Anders die Leute im North End von Boston, die ihren Prado lieben, oder die Leute von Greenwich Viilage mit ihrer Zuneigung zum Washington Square oder die Leute aus dem Bezirk um den Rittenhause Square in Philadelphia. Besonders beliebte, nachbarschaftlieh genutzte Parks pflegen von einem gewissen Seltenheitswert zu profitieren.

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Die Fähigkeit eines Parks, leidenschaftliche Zuneigung oder eben nur Gleichgültigkeit zu wecken, scheint wenig oder nichts mit dem Einkommen oder der Beschäftigung einer Bevölkerung zu tun zu haben. Man kann das aus den großen Unterschieden in Einkommen, Beschäftigung oder Bildung bei den verschiedenen Gruppen ersehen, die in gleichem Maß an einem Park wie New Yorks Washington Square hängen. Im Lauf der Jahre hat sich zum Beispiel die wirtschaftliche Situation der Leute im North End sehr gehoben, der Prado jedoch, ein winziger, aber zentral gelegener Park, ist sowohl in den Zeiten der Armut als auch in denen des Wohlstandes immer das Herz der Nachbarschaft gewesen. Harlem in New York bietet ein Beispiel konsequenten gegenteiligen Verhaltens. Im Lauf der Jahre hat sich Harlem von einem eleganten Wohnbezirk für die oberen Mittelklassen in einen Bezirk für die unteren Mittelklassen und schließlich in einen Bezirk gewandelt, der vorwiegend von armen und diskriminierten Schichten bewohnt ist. Während dieser gesamten Folge von Wandlungen hat es in Harlem, dessen Reichtum an örtlichen Grünflächen ungefähr dem von Greenwich Viilage vergleichbar ist, niemals eine Zeit gegeben, in der einer seiner Parks ein lebendiger Brennpunkt des Gemeindelebens gewesen wäre. Das gleiche trifft auch auf die typischen Siedlungsgrünflächen, auch auf die besonders liebevoll entworfenen, zu. Diese Unfähigkeit einer Nachbarschaft oder eines Bezirks, sich mit Anhänglichkeit einem Park in der Nachbarschaft zuzuwenden, rührt, glaube ich, aus einer Kombination von negativen Faktoren her: erstens werden Parks, die mögliche Kandidaten für die Zuneigung ihrer Umgebung wären, häufig durch ungenügende Mannigfaltigkeit ihrer direkten Umgebung und die dazugehörige Langeweile entwertet; und zweitens wird das, was an Mannigfaltigkeit und Leben verfügbar ist, unter zu viele verschiedene Parks, die sich gegenseitig zu ähnlich sind, verschwendet und zerstreut. Gewisse Eigenschaften des Entwurfs spielen anscheinend ebenfalls eine Rolle. Denn wenn das Ziel eines allgemeinen nachbarschaftlieh genutzten Parks darin liegt, so viele verschiedene Arten von Menschen mit entsprechend verschiedenen Tagesläufen, Interessen und Absichten anzuziehen wie nur möglich, dann muß natürlich die Anlage des Parks seine Beliebtheit anstreben; sie darf ihr nicht entgegenstehen. Intensiv als öffentliche Plätze genutzte Parks zeigen im allgemeinen rein anlagemäßig vier wichtige Faktoren: sie sind nicht sofort überschaubar, sind auf einen bestimmten Punkt ausgerichtet, verfügen über Sonne und eine Einrahmung. Unüberschaubarkeit gehört zu der Vielfalt an Gründen, welche die Menschen dazu bewegen, in einen Park zu gehen. Ein und dieselbe Person wird zu verschiedenen Zeiten aus verschiedenen Gründen kommen: einmal, um sich sitzend auszuruhen, dann, um zu spielen oder um einem Spiel zuzuschauen, dann wieder, um das Getriebe der Stadt von einem stillen Zufluchtsort aus zu beobachten, manchmal in der Hoffnung, Bekannte zu treffen, und fast immer, um durch den Anblick von anderen Menschen unterhalten zu werden. Wenn die ganze Anlage mit einem Blick erfaßt werden kann wie ein gutes Plakat und wenn jeder Fleck jedem anderen Fleck in diesem Park gleich ist, man auch 73

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keine Abwechslung verspürt, wenn man die verschiedenen Möglichkeiten ausprobiert, dann bietet der Park all den verschiedenen Zwecken und Stimmungen nur wenig Anreiz. Also bietet er auch wenig Anreiz, immer wieder zu ihm zurückzukehren. Eine kluge und tüchtige Frau, die in der Nähe von Rittenhause Square in Philadelphia wohnt, bemerkte: »Seit fünfzehn Jahren besuche ich diesen Park fast täglich, aber neulich abends wollte ich seinen Plan aus dem Gedächtnis aufzeichnen, und ich konnte es nicht. Es war zu kompliziert.« Das gleiche Phänomen zeigte sich, als der Washington Square in New York von der Gemeinde gegen eine geplante Verkehrsader verteidigt wurde. Während der Diskussion versuchten die Strategen immer wieder, rohe Skizzen des Parks anzufertigen, um einen Streitpunkt zu erläutern. Es war sehr schwierig. Dabei ist keiner dieser Parks wirklich kompliziert in der Anlage. Die Unüberschaubarkeit, auf die es ankommt, ist in der Hauptsache eine solche, die nur auf die Augenhöhe ausgerichtet ist. Sie besteht aus Wechsel im Geländeniveau, Gruppierung von Bäumen, Ausblicken, die auf verschiedene kleine Sichtziele hinausgehen; es sind also nur sehr unauffällige Verschiedenheiten. Die unauffälligen Verschiedenheiten der Anlage werden erst durch die Vielfalt der Nutzung intensiviert, die sie ihrerseits bewirken. Beliebte Parks sehen immer sehr viel abwechslungsreicher aus, während sie benutzt werden, als wenn sie leer sind. Und Darstellungen von Plätzen und Parks auf dem Papier sind irreführend; manchmal sind sie übersät mit Abwechslungen, die deshalb nichts bedeuten, weil sie sich unterhalb der Augenhöhe auswirken; oder das Auge erkennt sie nicht an, weil sie zu oft wiederholt werden. Wahrscheinlich ist das wichtigste Element der Unüberschaubarkeit die Ausrichtung auf einen bestimmten Punkt. Gute, kleine Parks haben immer irgendwo einen Ort, der allgemein als Mittelpunkt gilt, auch wenn es nur eine Kreuzung ist, ein Haltepunkt, ein Höhepunkt. Viele kleine Parks oder Anlagen sind praktisch nichts anderes als Mittelpunkt und beziehen ihre Vielfältigkeit aus kleineren Verschiedenheiten an der Peripherie. Man bemüht sich sehr darum, einem Park Mittel- oder Höhepunkte zu verschaffen. Manchmal ist es unmöglich. Langgestreckte Parks, wie der in kläglicher Weise versagende Sara Delano Roosevelt Park in New York und viele Anlagen an Flüssen, sind häufig entworfen, als seien sie mit der Schablone geprägt worden. Der Sara Delano Roosevelt Park hat vier ganz gleiche »Erfrischungshallen«, die in gleichen Zwischenräumen voneinander aufgebaut sind. Man kommt sich vor wie in einer Tretmühle. Denselben Fehler findet man ständig in der Planung von Grünanlagen in Siedlungen; dort ist er so lange beinahe unvermeidbar, solange die meisten Siedlungen ihrem Wesen nach SchabloneneDtwürfe für Schablonenfunktionen sind. In der Benutzung der Parkzentren können die Menschen zuweilen recht einfallsreich sein. So wird beispielsweise das Bassin der Fontäne im Washington Square ausgesprochen phantasievoll für eine Fülle von Zwecken in Anspruch genommen. In längst vergangeuer Zeit besaß das Bassin ein ornamentales eisernes Mittelstück

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mit einer Fontäne. Zurückgeblieben ist allein das eingelassene runde Bassin aus Zement; es ist meistens trocken und ist einen halben Meter über dem Erdboden von einem steinernen Rand umgeben, zu dem vier Stufen hinaufführen. Der Wirkung nach ist es eine Arena, eine runde Theaterbühne, und als solche wird es auch benutzt, wobei hinsichtlich der Zuschauer und Schauspieler völliges Durcheinander herrscht. Die städtischen Behörden denken sich in regelmäßigen Abständen Pläne aus, nach denen dieses Zentrum im Park mit Rasen und Blumen gefüllt und von einem Zaun umgeben werden soll. Die stereotype Wendung lautet: »Das Land wieder Parkzwecken zuzuführen.« Auch das ist, je nachdem, durchaus legitim. Aber in nachbarschaftlieh genutzten Parks sind Bühnenanlagen für die Menschen die schönsten Anlagen. Die Sonne ist ebenfalls ein wichtiger Faktor in den Parks, die im Sommer natürlich auch schattig sein sollen. Ein hohes Gebäude, das direkt an der Südseite eines Parks steht, kann dem Park sehr viel Sonne nehmen. Rittenhause Square hat bei allen Tugenden dieses Pech. An einem schönen Oktobernachmittag bleibt fast ein Drittel des Parks völlig leer; der Schatten des großen neuen Apartment-Hauses vertreibt die Menschen. Obwohl die Gebäude einem Park nicht die Sonne abschneiden dürfen, wenn der Park ständig benutzt werden soll, sind Gebäude um einen Park wichtig. Sie umschließen ihn. Sie geben dem Raum eine Form, so daß er ein wichtiges Ereignis, ein positiver Faktor in der Stadtszenerie wird und nicht wirkt wie ein Restraum, der irgendwo übriggeblieben ist. Von überbleibsein an Land werden die Menschen erfahrungsgemäß abgestoßen. Sie gehen sogar lieber auf die andere Straßenseite, wenn sie auf solche Landfetzen treffen - ein Phänomen, das überall dort zu beobachten ist, wo eine neue weiträumige Siedlung an eine lebhafte Straße angrenzt. Parkbesucher in der Großstadt suchen einfach keine Rahmen für Gebäude, sie suchen Rahmen für sich selbst. Für sie sind Parks Vordergrund und Gebäude Hintergrund - nicht umgekehrt. Die Großstädte sind voll von Parks ohne spezialisierte Nutzung. Man kann kaum erwarten, daß sie alle ihre Existenz rechtfertigen, selbst wenn die Bezirke, in denen sie sich befinden, lebensvoll sind. Vor allem sind einige dieser Parks ihrer Lage, Größe oder formalen Gestaltung wegen grundsätzlich ungeeignet, die Funktion eines öffentlichen Platzes zu erfüllen. Was kann man also mit ihnen anfangen? Einige können, wenn sie klein genug sind, eine andere Funktion erfüllen: sie können reine Augenfreude sein. Aber Parks, die in erster Linie Augenfreude sein sollen und keinerlei anderen Zweck erfüllen, müssen sich dort befinden, wo es Augen gibt, sie zu sehen; und naturgemäß erfüllen sie diese Funktion dann am besten, wenn sie klein sind, weil ihre Schönheit intensiv und nicht extensiv sein sollte. Die Parks, die die größten Probleme stellen, liegen genau dort, wo kaum jemals Leute vorbeikommen. Ein Stadtpark in dieser Zwangslage, der mit einem Terrain von guter Größe belastet ist (und das ist häufig eine Belastung), befindet sich sozusagen in ähnlicher Situation wie ein großes Warenhaus, das an einem Platz mit

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schlechten wirtschaftlichen Möglichkeiten liegt. Wenn solch ein Warenhaus überhaupt zu retten und zu rechtfertigen ist, dann nur durch eine Konzentrierung auf das, was man in der Handelssprache »Bedarfsgüter« nennt. Sie dürfen nicht von »Impulsivkäufen« abhängen. Wenn die Nachfrage genügend Kunden heranbringt, werden davon auch die Impulsivkäufe profitieren. Was sind im Falle eines Parks Bedarfsgüter? Einiges darüber verrät uns das Studium von einigen solchen Parks mit Problemen. Jefferson Park in East Harlem zum Beispiel setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen, von denen der offensichtlich als Hauptteil gedachte für allgemeine nachbarschaftliehe Nutzung bestimmt ist, was den Impulsivkäufen im Warenhaus entspräche. Aber alles daran widerspricht dieser Bestimmung. Er liegt am äußersten Ende des Bezirks und ist an der einen Seite durch den Fluß begrenzt. Er wird außerdem isoliert durch eine breite Straße mit großem Verkehr. Seine innere Aufteilung beschränkt sich weitgehend auf lange, einsame Wege ohne wirksame Brennpunkte. Einem Fremden scheint das Ganze unheimlich verlassen, einem Einheimischen ist der Park Schauplatz von Nachbarschaftsschwierigkeiten, Gewalttätigkeiten und Angst. Seit einem brutalen abendlichen Mord an einem Besucher durch Halbwüchsige im Jahre 1958 wird der Park mehr denn je gemieden. Jedoch erfreut sich ein anderer der für sich bestehenden Teile von Jefferson Park großer Beliebtheit. Es handelt sich um ein Schwimmbecken im Freien, das zweifellos nicht groß genug ist; denn es enthält häufig mehr Schwimmer als Wasser. Betrachten wir nun Corlears Hook, jenen Teil der Anlagen am East River, in dem ich an einem schönen Tag nur achtzehn Leute auf den Rasenflächen und Bänken entdecken konnte. Corlears Hook verfügt auch über einen Sportplatz für Ballspiele; es ist gar kein besonderer Sportplatz, aber an jenem Tag spielte sich das meiste dieses spärlichen Parkbetriebs darauf ab. Außerdem besitzt Corlears Hook noch zwischen seinen nichtssagenden riesigen Rasenflächen eine OrchestermuscheL Sechsmal im Jahr ergießt sich an Sommerabenden ein Strom von Tausenden von Menschen aus der Lower East Side in den Park, um eine Konzertreihe anzuhören. Für eine Gesamtzahl von ungefähr achtzehn Stunden jährlich wird also Corlears Hook Park von Leben erfüllt und von vielen Menschen genossen. Hier sehen wir, wie Bedarfsgüter wirken, obwohl sie offensichtlich zu begrenzt an Zahl sind und zu selten angeboten werden. Es zeigt sich an diesen Beispielen aber deutlich, daß die Menschen für besondere Bedarfsgüter sehr wohl in diese Parks kommen, auch wenn sie sie sonst einfach nicht allgemein nachbarschaftlieh nutzen. Kurz gesagt, wenn ein allgemein genutzter Park nicht durch eine natürliche, intensive Mannigfaltigkeit der Umgebung unterstützt werden kann, muß er von einem allgemeinen Park in einen Park für spezielle Nutzung umgewandelt werden. Wirksame Vielfalt der Nutzung, die einen Strom verschiedenster Benutzer an sich zieht, muß in den Park hineingebracht werden. Nur Erfahrung, Experimente und Irrtümer können lehren, welche Kombinationen von Möglichkeiten wirksam als Bedarfsgüter Erfolg haben können. Man kann jedoch versuchsweise einige allgemeine Regeln aufstellen. Zuerst eine negative Verallgemeinerung: Herrliche Aussichten und hübsche Landschaftsgestaltung versagen

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hierbei; vielleicht sollten sie Anziehungspunkte sein, sie sind es jedoch offenbar nicht. Sie können nur als Beigaben wirken. Andererseits wirkt sich Wassersport als Bedarfsartikel aus: Schwimmen, Angeln, besonders wenn gleichzeitig die Möglichkeit zum Kauf von Köder und zum Bootfahren besteht. Sportplätze und Vergnügungsplätze ziehen Benutzer an*. Musik (auch Schallplattenkonzerte) und Theater sind ebenfalls »Bedarfsgüter«. Es ist wirklich seltsam, daß auf diesem Gebiet so wenig in den Parks getan wird, denn schließlich ist der ungezwungene Kontakt mit dem kulturellen Leben Teil der historischen Mission von Großstädten. Es ist eine Mission, die noch immer in voller Kraft wirksam sein kann, wie der New Yorker 1958 in seinem Kommentar zu den eintrittsfreien Shakespeare-Aufführungen im Central Park hervorhob: »Die Atmosphäre, das Wetter, die Farben und die Lichter und schlichte Neugier brachten sie in den Park; einige von ihnen hatten noch niemals irgendein Stück auf einer richtigen Bühne gesehen. Hunderte kamen wieder; jemand, der uns gut bekannt ist, berichtet, daß er eine Gruppe Negerkinder traf, die ihm erzählten, daß sie Romeo und Julia schon fünfmal gesehen hätten. Das Leben einer Menge dieser neu zum Theater bekehrten Leute ist erweitert und bereichert worden und neues Publikum für das amerikanische Theater von morgen gewonnen. Aber Zuschauer wie diese, für die das Theater etwas Neues ist, gehören zu denen, die sich nicht mit einem oder zwei Dollar in der Hand vor einem Theater einfinden würden, um für etwas zu bezahlen, von dem sie nicht einmal wissen, ob es ihnen gefallen wird.« In jedem Fallließe sich hieraus ableiten, daß Universitäten mit Theaterabteilungen {und sehr oft gleichzeitig mit öden Parks voller Probleme in der Nachbarschaft) versuchen könnten, zwei und zwei zusanimenzuzählen, anstatt sich darauf zu verlegen, feindliche Turf-Politik zu betreiben. Die Columbia-Universität in New York unternimmt gerade einen konstruktiven Schritt. Sie plant Sportmöglichkeiten sowohl für die Universität als auch, für ihre Nachbarschaft im Morningside Park, der ebenfalls seit langem gefürchtet und gemieden ist. Ein paar mehr Anziehungspunkte, wie Musik oder Theater, könnten eine furchtbare Plage der Nachbarschaft in einen her-vorragenden Vorteil für die Nachbarschaft verwandeln. Es fehlt ganz allgemein in den Parks an kleineren Betätigungsmöglichkeiten, die .als »Bedarfsgüter« zählen könnten. Dabei steht so vieles zur Wahl: Orte, um Fahrräder zu mieten, zu fahren, die eigenen zu waschen; Orte, um Wigwams oder Buden aus altem Holz zu bauen; Orte, an denen man - eine Sitte aus Puerto Rico Schweine im Freien am Spieß braten und die dazugehörigen Partys abhalten kann; Drachensteigen, Eislaufen usw.

* Dr. Karl Menninger, Leiter der Menninger Psychiatrischen Klinik in Topeka, befaßte sich

bei einer Konferenz über städtische Probleme mit den Betätigungsformen, die den allgemei-nen Zerstörungstrieb bekämpfen können. Er führte als solche an: 1. verschiedenste Kontakte mit den verschiedensten Menschen; 2. Arbeit, sogar Schwerarbeit; und 5· derbe männliche Spiele. Menninger ist der Ansicht, daß Großstädte in schädlich geringem Maße Gelegenheit zu derben Spielen bieten. Die Formen derben Spiels, die er als nützliche Sportarten im Freien hervorhob, waren Bowling und Scheibenschießen, wie man es auf Rummelplätzen und in Vergnügungsparks, aber nur selten (am Times Square beispielsweise) in den Groß'· städten betreiben kann.

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All diese Einrichtungen kosten Geld. Statt dessen verschwenden die heutigen amerikanischen Großstädte, noch immer befangen in der lliusion, daß offenes Gelände automatisch eine Wohltat und Menge gleich Güte sei, riesige Summen für Parks, Spielplätze und viel zu viele und zu dicht beieinander gelegene Grünflächen, die zu langweilig und für intensivere Nutzung untauglich sind. Nichtspezialisierte Parks können einer Nachbarschaft, die von den Bewohnern sowieso schon aus vielen anderen Gründen anziehend gefunden wird, neue Anziehungspunkte hinzufügen. Eine Nachbarschaft aber, die aus den verschiedensten Gründen von ihren Bewohnern als unattraktiv empfunden wird, drücken sie nur noch mehr herunter, weil sie die Langeweile, die Unsicherheit und die Leere erhöhen. Je glücklicher sich in einer Stadt die tägliche Mannigfaltigkeit von Nutzung und Benutzern auf den normalen Straßen mischt, desto bereitwilliger und selbstverständlicher beleben und unterstützen ihre Bewohner gutgelegene Parks, die ihrer Umgebung nicht Leere, sondern Anmut und Entzücken zurückgeben.

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Funktion von städtischen Nachbarschaften

»Nachbarschaft« ist ein Wort, das den Klang einer Liebesbotschaft angenommen hat. In dieser sentimentalen Bedeutung ist jedoch der Begriff Nachbarschaft für die Stadtplanung ausgesprochen schädlich. Er verleitet dazu, das Großstadtleben zu Imitationen kleinstädtischen oder vorstädtischen Lebens zu verzerren. Sentimentalität treibt hier mit guten Absichten ein böses Spiel, für Vernunft bleibt wenig Raum. Eine Nachbarschaft mit guter Funktion ist ein Ort, der seiner Probleme einigermaßen Herr wird und ihnen nicht erliegt. Eine funktionsunfähige Nachbarschaft ist ein Ort, der von seinen Schwierigkeiten und Problemen erdrückt wird und ihnen immer hilfloser gegenübersteht. Alle Grade des Funktionierens und Versagens sind in unseren Großstädten zu beobachten. Im großen und ganzen aber zeigen wir Amerikaner uns nicht sehr begabt für die Behandlung von Nachbarschaftsproblemen. Das bezeugt einerseits die Massierung von Fehlentwicklungen in den großen grauen Randzonen unserer Städte, andererseits die bösen Beispiele der Turfs in den Wiederaufbaubezirken. Es ist Mode geworden zu behaupten, daß gewisse Prüfsteine gesunder Verhältnisse, wie Schulen, Parks, saubere Wohnungen und dergleichen, auch gute Nachbarschaften bewirkten. Wie einfach wäre das Leben, wenn das zuträfe! "Wie wunderbar ließe sich dann eine komplizierte und störrische Gesellschaft dadurch lenken, daß man ihr verhältnismäßig einfache materielle Wohltaten zukommen läßt! In der Realität sind leider die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung nicht so einfach. In einer Untersuchung über Pittsburgh, mit der man die angeblich eindeutige Beziehung zwischen besserem Wohnen und verbesserten sozialen Bedingungen beweisen wollte, verglich man die Verbrechensziffer noch nicht sanierter Slums mit

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derjenigen neuer Wohnsiedlungen. Man machte die peinliche Entdeckung, daß diese Ziffer in den besseren Wohnsiedlungen höher war. Heißt das nun, daß verbesserte Wohnstätten die Kriminalität erhöhen? Sicher nicht. Offensichtlich aber sind andere Faktoren wichtiger als gute Wohnungen, und man muß daraus schließen, daß kein einfaches, direktes Verhältnis zwischen gutem Wohnen und gutem Betragen existiert. Gutes Wohnen ist als solches selbstverständlich ein hoher Wert. Wenn wir aber zur eigenen Rechtfertigung an gutes Wohnen die anspruchsvolle Erwartung knüpfen, es solle Wunder auf sozialem Gebiet vollbringen, so betrügen wir uns selbst. Reinhold Niebuhr nannte diesen Selbstbetrug »Die Doktrin vom Heil durch Ziegelsteine«. Auf die Schulen trifft das gleiche zu. So wichtig auch gute Schulen sind, sie erweisen sich als völlig untauglich, das Niveau einer schlechten Nachbarschaft zu heben oder gar eine gute Nachbarschaft wachsen zu lassen. In schlechten Nachbarschafren verfallen die Schulen physisch wie sozial dem Ruin, während gute Nachbarschaften ihre Schulen verbessem und fortwährend für sie tätig sind*. Genausowenig läßt sich das Argument aufrechterhalten, Familien des Mittelstandes oder des gehobenen Mittelstandes bedingten gute, arme Familien hingegen schlechte Nachbarschaften. Innerhalb der armen Bezirke des North End von Boston, des West Greenwich Viilage und des Schlachthäuserbezirks in Chikago bildeten sich ausgesprochen gute Nachbarschaften, obwohl die Stadtplaner alle drei Bezirke als hoffnungslos abgeschrieben hatten; es sind Nachbarschaften, deren inteme Probleme sich im Laufe der Zeit vermindert und nicht vermehrt haben. Hingegen entstanden schlechte N achbarschaften in dem einst anmutigen und großzügigen Bezirk für die oberen Klassen in Baltimores schönem Eutaw Place, im früher so soliden Bezirk von Bostons South End, innerhalb der kulturell privilegierten Gegenden von New Yorks Momingside Heights und in unzähligen Gebieten öder, grauer, aber einst respektabler Mittelklassenbezirke; alles das sind Nachbarschaften, deren Apathie und intemes Versagen sich mit der Zeit vermehrten statt verminderten. Eine Nachbarschaft nach dem hohen Standard äußerer Annehmlichkeiten oder nach angeblich tüchtigen, unproblematischen Bevölkerungsschichten oder gar von sentimentalen Erinnerungen an kleinstädtisches Leben her beurteilen zu wollen, ist reine Zeitverschwendung. Man geht damit der Kemfrage aus dem Weg. Diese Frage heißt: Inwieweit und auf welche Weise sind Nachbarschafren fähig, soziale und wirtschaftliche Beiträge für die Gesamtstadt zu leisten? Das Problem nimmt Formen an, wenn wir uns die N achbarschaften als Organe der Selbstverwaltung vorstellen. Unser Versagen in städtischen Nachbarschafren ist letztlich ein Versagen lokaler

* Auf

der Upper West Side von Manhattan, in einem sehr heruntergekommenen Bezirk, dessen soziale Auflösung durch rücksichtslosen Abriß der Gebäude, durch Neubau von Siedlungen und Herumstoßen der Menschen verstärkt worden ist, betrug in den Jahren 1959/60 der jährliche Schülerwechsel über 50 Ofo. In sechzehn Schulen erreichte er einen Durchschnitt von g6 °/o. Es ist unsinnig, sich einzubilden, daß - ganz gleich mit wieviel offiziellen und inoffiziellen Bemühungen - eine auch nur einigermaßen gute Schule in einer derart unbeständigen Nachbarschaft Bestand haben könne. Gute Schulen sind in einer unbeständigen Nachbarschaft mit großem Schülerwechsel ein Ding der Unmöglichkeit. Diese unbeständigen Nachbarschaften können aber durchaus auch gute Wohnsiedlungen haben!

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Selbstverwaltung, und unsere Erfolge in der Handhabung des Nachbarschaftsproblems sind Erfolge örtlicher Selbstverwaltung. Ich gebrauche den Ausdruck »Selbstverwaltung« hier im weitesten Sinn und meine damit sowohl die inoffizielle als auch die offizielle Selbstverwaltung einer Gesellschaft. Selbstverwaltung und ihre Techniken müssen in Großstädten ganz anders aussehen als in kleineren Orten, die zum Beispiel das Problem der vielen Fremden gar nicht kennen. Um Nachbarschafren als Organe städtischer Selbstverwaltung zu verstehen, ·müssen wir zuerst mit einigen orthodoxen, aber unzutreffenden Begriffen über Nachbarschafren aufräumen. Da ist zuerst einmal die ideale Vorstellung, Nachbarschaften seien autarke, introvertierte Einheiten. In einer Kleinstadt mit fünf- bis zehntausend Einwohnern kreuzen sich die Beziehungen unter den Bewohnern auf viele Weise, das allein kann funktionsfähige zusammenhängende Gemeinden fördern. Aber die Bevölkerung eines großstädtischen Bezirks von fünf- bis zehntausend Einwohnern verfügt innerhalb ihres Bezirks keineswegs über einen gleichen Grad intensiver Querverbindungen, ganz ungewöhnliche Umstände ausgenommen. Keine Nachbarschaftsplanung kann diese Tatsachedurch irgendeine noch so ideale Absicht ändern. Wenn sie es könnte, würde das die Zerstörung der Großstadt durch ihre Aufteilung in eine Reihe von Kleinstädten bedeuten. So wie die Dinge liegen, ist der Preis für den Versuch, trotzdem dieses falsche Ziel zu erreichen, die Verwandlung einer Großstadt in ein Bündel sich gegenseitig feindlich und mißtrauisch gesinnter Turfs. Es gibt noch viele andere Mängel in diesem »Ideal« einer vorgeplanten Nachbarschaft und seinen verschiedenen Abwandlungen*. Vor kurzem begannen einige Stadtplaner, darunter vor allem Reginald lsaacs von der Harvard-Universität, kühn in Frage zu stellen, ob diese Vorstellung einer Nachbarschaft in Großstädten überhaupt einen Sinn hat. lsaacs weist darauf hin, daß Großstadtmenschen beweglich sind. Sie können aus der gesamten Stadt alles, was sie brauchen, auswählen; und sie tun das auch, angefangen von den Arbeitsplätzen und allem, was damit zusammenhängt, bis hin zum Zahnarzt und zu Freunden, Geschäften, Vergnügungen und, in vielen Fällen, den Schulen für ihre Kinder. Großstadtmenschen, sagt Isaacs, sind nicht auf das Provinzlerische einer Nachbarschaft angewiesen. Warum sollten sie auch? Liegt nicht gerade in der großen Aus· wahlund im Reichtum an Möglichkeiten die Daseinsberechtigung von Großstädten? Außerdem ist dieses Fluktuierende in der Nutzung und in der Auswahl seitens der

*

Selbst die seit Jahren übliche Begründung, eine ideale Nachbarschaftsgemeinde sei auf ungefähr siebentausend Menschen festzulegen - weil das nämlich ausreiche, eine Volksschule zu unterhalten -, ist in dem Augenblick Unsinn, in dem sie auf Großstädte angewandt wird. Das wird sofort klar, wenn wir fragen: Warum eine Volksschule? Wenn eine Schule der Maßstab sein soll, warum dann nicht die höhere Schule, eine Institution, die immer viel schwierigere Fragen aufwirft als die Volksschule? Die Frage: Welche Schule? wird nie gestellt, weil das »Schul«-ldeal auf genausowenig Realismus basiert wie alles andere. Die Schule ist nur eine scheinbar plausible und meistens abstrakte Entschuldigung für die Festlegung irgendeiner Größenordnung für eine Einheit, die aus Träumen über imaginäre Großstädte stammt.

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Bevölkerung die Grundlage fast aller kulturellen und sonstigen Unternehmungen in der Großstadt. Weil man Arbeitsleistungen, Material und Kunden aus einem Riesenreservoir beziehen kann, kann alles in ungewöhnlicher Mannigfaltigkeit vorhanden sein, und nicht nur in der Innenstadt, sondern auch in anderen Stadtbezirken, die eigene Spezialitäten entwickeln können. Und weil die Unternehmen in dieser Weise ihre Kunden im großen Reservoir der Stadt finden, können sie ihrerseits wieder die Auswahl an Arbeitsplätzen, Waren, Vergnügungen, Kontakten und Diensten für die Menschen dieses Reservoirs erweitern. Was auch immer Nachbarschafren in der Großstadt auszeichnen mag und welchen Nutzen sie haben mögen, ihre Qualitäten können der städtischen Mobilität und Flexibilität der Nutzung nicht zuwiderlaufen, ohne die Stadt - deren Teil sie sind - wirtschaftlich zu schwächen. Das Fehlen von wirtschaftlicher oder sozialer Unabhängigkeit ist in großstädtischen Nachbarschafren natürlich und notwendig, einfach weil sie nur Teile der Großstädte sind. lsaacs hat recht, wenn er fragt, ob der Begriff der Nachbarschaft in Großstädten nicht sinnlos sei. Er hat so lange recht, wie wir dieN achbarschaften nach kleinstädtischem Muster als unabhängige, bis zu einem hohen Grad autarke Einheiten auffassen. Bei all der naturgegebenen Extrovertierung großstädtischer Nachbarschafren ist jedoch nicht gesagt, daß Großstadtmenschen ganz selbstverständlich ohne jede Nachbarschaft leben könnten. Der städtischste Bürger ist an der Atmosphäre seines Bezirks und der Straße, in der er wohnt, interessiert, und zwar unabhängig von der Wahl seiner Möglichkeiten außerhalb dieses Bezirks; das Gros der Großstadtbewohner hängt im täglichen normalen Leben sogar sehr von seiner Nachbarschaft ab. Nehmen wir an, was so oft der Fall ist, daß Nachbarn in einem Bezirk nichts von Bedeutung miteinander gemeinsam haben, abgesehen davon, daß sie den gleichen geographischen Zipfel bewohnen. Immerhin wird dieser Zipfel versagen, wenn es ihnen nicht gelingt, ihn ordentlich zu verwalten. Denn es existiert kein tatkräftiges und allwissendes anonymes »Die-da-Oben«, das sich darum kümmern und die örtliche Selbstverwaltung ersetzen könnte. Städtische Nachbarschafren müssen von sich aus um eine funktionsfähige Selbstverwaltung bemüht sein. Das ist das Problem. Offenbar sind als Organe der Selbstverwaltung nur folgende Nachbarschaftstypen von Nutzen: 1. Die Großstadt als Ganzes, 2. Straßennachbarschaften und 5· Bezirke von der Größe eines Stadtteils mit hunderttausend oder, bei den größten Städten, von noch mehr Einwohnern. Jeder dieser Nachbarschaftstypen hat verschiedene Funktionen, aber alle drei ergänzen sich auf komplexe Art und Weise. Man kann unmöglich sagen, welcher von ihnen wichtiger ist als die anderen. Auf gute Dauer sind alle drei Typen notwendig, und es ist möglich, daß andere Nachbarschaftstypen nur im Wege stehen und eine erfolgreiche Selbstverwaltung schwierig oder unmöglich machen. Der eindeutigste Typ dieser drei ist, obwohl die Bezeichnung »Nachbarschaft« nur selten auf ihn angewendet wird, die Großstadt als Ganzes. Wir dürfen diese MutterGemeinschaft nie vergessen oder ihre Bedeutung verringern, wenn wir uns mit den kleineren Bestandteilen einer Großstadt befassen. Sie ist auch die Quelle, aus wel-

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eher die Hauptmasse der öffentlichen Gelder fließt, selbst wenn diese Gelder letztlich aus Bundes- oder Staatskassen stammen. Auf dieser Gemeinde-Ebene werden die meisten administrativen Entscheidungen gefällt, im Guteil wie im Bösen. Auf dieser Ebene bewegen sich auch die wichtigen Interessengemeinschaften. Die Nachbarschaft der gesamten Stadt ist dort aktiv, wo sich die besonders an Theater oder Musik oder an anderen Künsten interessierten Leute treffen und ungeachtet des Bezirks, in dem sie wohnen, zusammensetzen. Hier tauschen die Fachleute aus besti=ten Berufen oder Wirtschaftszweigen ihre Gedanken über besondere Probleme aus und schreiten manchmal zur Tat. Professor P. Sargant Florence, ein englischer Fachmann für städtische Wirtschaftsfragen, schrieb dazu: »Meine eigene Erfahrung ist, daß ich unabhängig von einer besonders großen Zahl Intellektueller, wie etwa in Oxford oder Cambridge, eine Millionenstadt brauche, um, sagen wir, die zwanzig oder dreißig kongenialen Freunde zu finden, die mir wichtig sind!« Das klingt zwar ziemlich blasiert, aber Professor Florence rührt an eine wichtige Wahrheit. Vermutlich liegt ihm etwas daran, daß seine Freunde begreifen, was er zu sagen hat. Wenn William Kirk vom Union Settlement und Helen Hall vom Henry Street Settlement sich über kilometerweite Entfernung treffen, um an der Consumer's Union, einer Zeitschrift, die wiederum kilometerweit woanders gedruckt wird, zu arbeiten und mit Forschern der Columbia-Universität und mit den Vorsitzenden einer Stiftung den drohenden Ruin für die Einzelnen und für die Gemeinschaft zu studieren, der durch das Treiben unreeller Geldverleiher in den Siedlungen für kleine Einkommen verursacht wird, dann versteht jeder, was der andere zu sagen hat. Die Vertreter der einzelnen Fachgebiete können, gestützt auf die besonderen Geldmittel, Wege suchen, solchen Übeln zu begegnen. So wie die Gesamtheit einer Großstadt wichtig ist in Hinsicht auf das Zusammenführen von Menschen mit gemeinsamen Interessen, so braucht auf der anderen Seite ein einzelner Stadtbezirk Leute, die Zugang zu den politischen, administrativen und anderen Sondergremien der Gesamtstadt haben. In den meisten Großstädten haben wir Amerikaner mit leidlich gutem Erfolg nützliche Nachbarschafren geschaffen, die in die Gesamtstadt eingebunden sind. Leute mit ähnlichen und sich ergänzenden Interessen finden sich gegenseitig relativ leicht; am leichtesten sogar in den Riesenstädten (mit Ausnahme von Los Angeles, das in dieser Richtung völlig versagt, und Boston, wo es ziemlich kläglich damit steht). Auch ist die soziale und wirtschaftliche Lenkung der gesamten Stadt in vielen Instanzen durchaus fähiger und tatkräftiger, als man aus der Betrachtung der sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten in den zahllosen heruntergeko=enen Nachbarschaften der gleichen Großstädte schließen würde. Seymour Freedgood von der Zeitschrift Fortune hat das in seinem Buch The Exploding Metropolis sehr anschaulich gemacht. Die unheilvollen Schwächen und die Unfähigkeiten, die bei uns zu finden sind, beziehen sich also offenbar nicht auf die Bildung von Nachbarschafren in der Spitze, auf die Großstädte als Gesamtheiten. Und nun zum entgegengesetzten Pol der Stufenleiter: zu den Straßen und den winzigen Nachbarschaften, die sie bilden. In den ersten Kapiteln dieses Buches habe ich mich ausführlich mit den Selbstver-

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waltungsfunktionen der Straßen befaßt: Netze öffentlicher Aufsicht zu weben und so die Fremden und sich selbst zu schützen; auf niedrigster Stufe ein öffentliches Leben hervorzubringen und damit Vertrauen und Kontrolle am sozialen Verhalten zu schaffen; Kinder in ein einigermaßen verantwortliches und tolerantes Großstadtdasein hineinwachsen zu lassen. Die Straßennachbarschaften einer Großstadt haben aber noch eine weitere Selbstverwaltungsfunktion, eine sehr wichtige: sie müssen wirksame Beziehungen zu hilfeleistenden Organen haben, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, die die Möglichkeiten dieser kleinen Selbstverwaltungszelle übersteigen. Diese Hilfe muß manchmal von der Großstadt als Ganzes kommen, also vom anderen Ende der Stufenleiter her. Welchen Umfang hat nun eine funktionsfähige Straßennachbarschaft in der Großstadt? Wenn man sich die funktionierenden Gewebe von Straßennachbarschaften im wirklichen Leben ansieht, kommt man zu dem Schluß, daß diese Frage sinnlos ist. Denn gerade die funktionsfähigsten Straßennachbarschaften haben weder Anfang noch Ende; sie setzen sich nicht als deutliche Einheit von ihrer Umgebung ab. Sogar für Leute desselben Bezirks ist die Größe dieser Nachbarschaft verschieden, weil der Aktionsradius der Menschen verschieden ist. Die gute Funktion von Straßennachbarschaften hängt zu großen Teilen direkt mit ihrem Übergreifen und Übergehen in die Umgebung zusammen. Das ist eine ihrer Möglichkeiten, den Bewohnern wirtschaftliche und sonstige Abwechslung zu bieten. Der Wohnbezirk an der Park Avenue in New York scheint ein extremes Beispiel für nachbarschaftliehe Monotonie zu sein, und er wäre es auch, wenn er als isolierter Streifen in der Nachbarschaft läge. Aber die Straßennachbarschaft fängt für einen Park-Avenue-Bewohner auf seiner Avenue nur an, sie geht sofort weiter um die Ecke und dann um die nächste. Sie ist Teil eines Gewebes ineinander übergehender Nachbarschaften von großer Mannigfaltigkeit und nicht ein isolierter Streifen. Isolierte Straßennachbarschaften mit klaren Grenzen gibt es ebenfalls in Hülle und Fülle. Sie sind typischerweise meistens an lange Baublocks (mit wenig Querstraßen) gebunden, denn lange Baublocks zeigen eine direkt greifbare Neigung zur Selbstisolierung. Klar abgetrennte Nachbarschaften sind nicht erstrebenswert, meistens sind sie Versager. Nach der Beschreibung der Schwierigkeiten eines Bezirks mit langen, öden, sich selbst isolierenden Baublocks auf der West Side von Manhattan kommt Dr. Dan W. Dodson vom Center für Human Relations Studies in New York zu dem Schluß: »Der gegenwärtige Zustand der Nachbarschaft läßt darauf schließen, daß die Leute hier jede Fähigkeit für kollektives Handeln verloren haben, sonst hätten sie längst einen Druck auf die Verwaltung der Stadt und die sozialen Behörden ausgeübt, um wenigstens einige der Unstimmigkeiten des Gemeindelebens zu beseitigen.« Dl)rt, wo auf unseren Straßen Handel und allgemeines Leben, Nutzung und Interesse in genügender Fülle vorhanden sind, dort sind die Amerikaner im allgemeinen ziemlich fähig, die Straßenselbstverwaltung zu pflegen. Diese Fähigkeit kann man am häufigsten in den Bezirken der armen oder ehemals armen Bevölkerungsschichten feststellen. Aber selbstverständliche und funktionsfähige Straßennachbarschaften gibt es ebenso in Wohnbezirken für höhere Einkommen, wenn sie eine dauerhafte

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und nicht nur vorübergehende Popularität genießen. Die East Side von Manhattan, von den Fünfziger bis zu den Achtziger Straßen, ist dafür ein Beispiel; und auch der Rittenhausc-Square-Bezirk in Philadelphia. Damit ko=en wir zum dritten Typ großstädtischer Nachbarschaften, der von Nutzen für die Selbstverwaltung ist: zum Bezirk. Hier versagen wir am häufigsten. Wir verfügen theoretisch über sehr viele Stadtbezirke, aber nur wenige sind funktionsfähig. Die Hauptfunktion eines guten Bezirks besteht im Vermitteln zwischen den unentbehrlichen, aber naturgemäß politisch schwachen Straßennachbarschaften und der naturgemäß starken Gesamtstadt. Bei den Verantwortlichen der Großstädte, bei denen, die an der Spitze der Regierung sitzen, herrscht viel Unkenntnis darüber. Das ist unvermeidlich, weil Großstädte einfach zu groß und zu komplex sind, um von irgendeinem Standpunkt aus, sei es auch von oben her, in allen Einzelheiten erfaßt werden zu können; im Detail aber liegt häufig das Wesentliche. Die Bezirke müssen dazu beitragen, die Kräfte einer Großstadt dort hinzulenken, wo sie von Straßennachbarschaften gebraucht werden. Andererseits müssen die Bezirke dafür sorgen, daß die Erfahrungen des wirklichen Lebens in den Straßennachbarschafren der Politik und den Absichten der Gesamtverwaltung zugänglich gemacht werden. Um diese Funktionen zu erfüllen, muß ein wirksamer Bezirk groß genug sein, um als eine Macht auf das Gesamtleben der Großstadt Einfluß nehmen zu können. Die »ldeal«-Nachbarschaft aus der Planungstheorie ist für diese Rolle gänzlich ungeeignet. Ein Bezirk muß so groß und mächtig sein, daß er im Rathaus Gewicht hat. Nichts anderes hat Sinn. Das ist, funktionell ausgedrückt, eine ganz gute Definition der Größe, weil ein Bezirk nicht nur diese eine Funktion hat. Ein Bezirk ohne die Macht und den Willen, im Rathaus aufzutreten (und zu gewinnen), wenn seine Bevölkerung sich von irgend etwas bedroht fühlt, ein solcher Bezirk wird auch kaum über die notwendige Macht und den Willen zum Kampf gegen andere Schwierigkeiten verfügen. Kehren wir noch einmal zur Straßennachbarschaft zurück, zu der wichtigen Funktion einer guten Straßennachbarschaft, Hilfe zu organisieren, wenn ein Problem auftaucht, das ihre Kräfte übersteigt. Nichts ist dann hilfloser als eine alleingelassene Straße. Als IDustration dazu mag dienen, was in einer Straße auf der äußeren West Side in Manhattao 1955 passierte. Rauschgifthändler nisteten sich in ihr ein. Die Bewohner der Straße arbeiteten über die ganze Stadt verstreut und hatten Freunde und Bekannte außerhalb und innerhalb der Straße. In der Straße selbst existierte zwar ein recht reges öffentliches Leben um die Eingangsterrassen herum, aber die Straße besaß keine Geschäfte in der Nachbarschaft und keine regulären öffentlichen Vertrauenspersonen. Sie verfügte auch über keine Verbindungen zu der Bezirksnachbarschaft; so etwas gab es in dieser Gegend nur dem Namen nach. Als der Heroinverkauf in einer der Wohnungen anfing, sickerte ein Strom von Rauschgiftsüchtigen in die Straße ein, nicht um dort zu wohnen, sondern nur, um Verbindungen untereinander zu knüpfen. Sie brauchten Geld für den Kauf des

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Heroins. Eine Epidemie von Überfällen und Diebstählen auf der Straße war die Folge. Die Anwohner bekamen Angst, am Freitag mit ihrem Gehalt nach Hause zu ko=en. Die meisten von ihnen waren gewissenhafte und respektable Bürger; sie taten, was sie konnten. Sie holten mehrere Male die Polizei. Einige übernahmen die Initiative und bekamen heraus, daß die verantwortliche Behörde Narcotics Squad war. Sie berichteten den Detektiven dort, wo und von wem und wann das Heroin verkauft wurde und an welchen Tagen die Ware hereinzukommen schien. Nichts geschah, außer daß die Dinge einen immer schli=eren Lauf nahmen. Es geschieht nie sehr viel, wenn eine einzige kleine Straße den Kampf gegen eines der ernstesten Probleme einer Großstadt allein aufnehmen muß. War die Polizei bestochen worden? Es gab keine Möglichkeit, das zu erfahren. Ohne eine Bezirksnachbarschaft, ohne irgendwelche andere Personen zu kennen, die sich um dieses Problem in der Gegend kümmerten und ihr Gewicht in die Waagschale werfen konnten, waren die Bewohner so weit gegangen, wie es ihnen nur möglich war. Warum haben sie nicht wenigstens ihren örtlichen Wahlmann angerufen oder sich mit dem politischen Klub in Verbindung gesetzt? Keiner in der Straße hatte Verbindung zu diesen Leuten (ein Wahlmann hat ungefähr hundertfünfzehntausend Wähler). Kurz und gut, die Straße verfügte über keinerlei Kontakt zu ihrer Bezirksnachbarschaft. Viele Bewohner, die es ermöglichen konnten, zogen aus, als sie erkannten, daß die Situation offensichtlich hoffnungslos war. Die Straße verfiel völlig dem Chaos und Verbrechen. New York hatte während dieser Geschehnisse einen durchaus fähigen und tatkräftigen Polizeikommissar. Aber nicht jeder hatte Zutritt zu ihm. Und ohne wirksame Unterrichtung aus den Straßen und ohne Druck vom Bezirk war auch er in einem gewissen Grade hilflos. Fehlen Bindeglieder, so ko=t selbst bei besten Absichten an der Spitze nur wenig für die Basis heraus; und umgekehrt. Manchmal ist aber auch die Stadt als Ganzes nicht der potentielle Helfer, sondern der Feind der Straße. Und auch in einem solchen Fall ist die Straße, wenn sie nicht ungewöhnlich einflußreiche Bürger hat, meistens hilflos. Das haben wir in der Hudson Street erfahren. Die Verkehrsplaner von Manhattau Borough beschlossen, unsere Bürgersteige um drei Meter zu beschneiden. Es war Teil eines gedankenlosen Routineprogra=s im Interesse der allgemeinen Erweiterung der Fahrbahnen. Wir Anwohner der Straße taten, was wir konnten. Wir sammelten ungefähr tausend Unterschriften von den Nachbarn und Benutzern der Straße, genug, um die meisten aller direkt betroffenen Erwachsenen zu repräsentieren. Es bildete sich eine große Delegation, die den Borough-Präsidenten, den gewählten offiziell Verantwortlichen, aufsuchte. Aber für uns allein hätten wir kaum eine Chance gehabt. Wir fochten eine allgemein sanktionierte Straßenpolitik an und bekämpften einen Plan, der für irgend jemanden eine Menge Geld bedeutete und dessen Vorbereitung schon weit vorangetrieben war. Wir hatten nur aus reinem Zufall von diesem Plan vorher erfahren, denn es hatte kein öffentlicher Beschluß stattgefunden, weil es sich nur um eine technische Regulierung der Bürgersteigskante handelte.

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Zuerst sagte man uns, die Pläne würden beibehalten, der Bürgersteig müsse weichen. Wir brauchten Macht, um unseren ohnmächtigen Protest zu unterstützen. Die Macht kam von unserem Bezirk, von Greenwich Village. Die raschen Resolutionen, die von bezirksweiten Organisationen verfaßt wurden, zählten für uns wesentlich mehr als alle straßennachbarschaftliehen Meinungskundgebungen. Sie hatten Gewicht, weil sie Meinung und Meinungseinflüsse auf Bezirksbasis repräsentierten. Mit ihrer Hilfe gewannen wir. Die Hilfe, die uns zuteil wurde, verpflichtete einige Personen unserer Straße selbstverständlich, anderen Straßen oder dem Bezirk zu helfen, wenn dort einmal Hilfe nötig ist. Wird das versäumt, dann werden wir vermutlich das nächstemal auch keine Hilfe mehr bekommen. Die Versuchung anzunehmen, daß man Bezirke gewissermaßen durch ein Bündnissystem zwischen klar abgegrenzten Nachbarschaften bilden könne, liegt nahe. Die Lower East Side von New York ist gerade dabei, auf dieser Basis einen funktionsfähigen Bezirk zusammenzubringen, und hat für diese Absicht bereits große philanthropische Zuschüsse eingeheimst. Das offizielle Bündnissystem scheint für Zwecke, über die sich praktisch jeder einig ist, gut zu funktionieren; es funktioniert beispielsweise, wenn es gilt, Druck auszuüben, damit ein neues Krankenhaus gebaut wird. Aber in vielen lebenswichtigen Fragen des lokalen Stadtlebens sind widerstreitende Interessen im Spiel. Auf der Lower East Side schließt die nach dem Bündnissystem zusammengesetzte Bezirksverwaltung zum Beispiel Leute ein, die versuchen, ihre Häuser und Nachbarschafren gegen ein Flachwalzen durch Bulldozer zu verteidigen, aber gleichzeitig gehören auch die Bauträger von genossenschaftlichen Siedlungen und andere geschäftlich Interessierte dazu, die eben diese Häuser ausradieren wollen und zu diesem Zweck einflußreiche Resolutionen verabschieden möchten. Das sind echte Interessenkon:flikte. In diesem Fall ist es der alte Konflikt zwischen Henker und Opfer. Die Leute, die sich zu retten versuchen, scheuen keine Mühen, um von einem Verwaltungsgremium, in dem ihre größten Feinde sitzen, Resolutionen genehmigt zu bekommen. Neben diesen Bündnis-Bezirken gibt es in unseren Großstädten die vielen inselartigen Nachbarschaften, die zu klein sind, um als Bezirke zu funktionieren; es sind nicht nur die von der Stadtplanung betroffenen Siedlungen, sondern auch viele nicht vorgeplante Nachbarschaften. Diese nicht vorgeplanten und zu kleinen Einheiten sind historisch gewachsen und häufig Enklaven bestimmter rassischer Gruppen. Sie erfüllen die nachbarschaftliehen Funktionen der Straßen sehr oft gut und wirksam und meistern im allgemeinen auch die sozialen Probleme und Niedergangssymptome, die etwa im Innern des Bezirks auftauchen. Nichtsdestoweniger stehen kleine Nachbarschaften Problemen, die von außen kommen, gleichermaßen hilflos gegenüber wie einzelne Straßen. Sie kommen zu kurz bei öffentlichen Baumaßnahmen und sonstigen Diensten, einfach weil ihnen Macht fehlt. Gewiß kann manchmal eine Nachbarschaft, die zu klein ist, um als Bezirk eine Funktion auszuüben, von der Zugehörigkeit eines besonders einflußreichen Bürgers oder einer wichtigen Institution profitieren. Aber die Bürger solch einer Nachbarschaft müssen dann für das Geschenk bezahlen, wenn der Tag kommt, an dem sich

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ihre Interessen mit denen der einflußreichen Person oder der Institution kreuzen. In dieser Klemme sind des öfteren N achbarschaften, in denen sich beispielsweise eine Universität befindet. Ob ein Bezirk von ausreichender potentieller Macht tatsächlich wirksam und nutzbringend als Organ demokratischer Selbstverwaltung funktioniert, hängt sehr davon ab, wie weit die Isolierung zu kleiner Nachbarschafren innerhalb des Bezirks überwunden wird. Das ist grundsätzlich zwar ein soziales und politisches Problem und als solches abhängig von den verschiedenen Parteien eines Bezirks, aber gleichzeitig auch eine praktische Frage. Funktionell und formal die Stadtplanung unter dem Aspekt anzulegen, daß voneinander geschiedene städtische N achbarschaften unter Bezirksgröße ein Ideal seien, unterminiert die Selbstverwaltung; daß die Motive dafür sentimental und patriarchalisch sind, macht die Sache auch nicht besser. Wenn gar die physische Isolierung zu kleiner Nachbarschafren durch eklatante soziale Unterschiede verhärtet wird, wie in jenen Siedlungen, deren Bewohner mit Preisschildern versehen sind, dann ist diese Politik von einem barbarisch destruktiven Einfluß auf eine wirksame Selbstverwaltung in den Großstädten. Der Wert von Stadtbezirken, die eine wirkliche Macht darstellen und in denen die Straßennachbarschaften nicht als winzige Einheiten verloren sind, ist nicht meine Entdeckung. Dieser Wert ist immer wieder von neuem entdeckt und empirisch demonstriert worden. Fast jede Großstadt hat mindestens einen solchen Bezirk mit guter Funktion, und viele andere Stadtgebiete versuchen in Krisenzeiten sporadisch, wie wirkliche Bezirke zu funktionieren. Es ist nicht weiter überraschend, daß einem einigermaßen funktionsfähigen Bezirk gewöhnlich mit der z~it beträchtliche Macht zuwächst. Er bildet eine ganze Anzahl von Persönlichkeiten aus, die imstande sind, gleichzeitig auf den Ebenen der Straßen- und der Bezirksnachbarschaft wie auf denen der Bezirke und der Großstadt als Ganzes zu wirken. Wenn die städtischen Nachbarschaften, die im wirklichen Leben Selbstverwaltung praktizieren, einzig die Großstadt als Ganzes, die Bezirke und die Straßen sind, dann sollte eine funktionelle Planung für wirksame Nachbarschafren folgende Ziele im Auge haben: 1. lebendige und interessante Straßen zu fördern; 2. das Gewebe dieser Straßen so kontinuierlich wie möglich als Netz über einen Bezirk von potentieller Teilstadt-Größe und -Macht zu legen; 0 . Parks, Anlagen und öffentliche Gebäude als Teil dieses Straßengewebes so vorzuplanen, daß die Mannigfaltigkeit des Gewebes verdichtet und die Nutzung vervielfacht werden. Parks, Anlagen und öffentliche Gebäude sollten also weder dazu dienen, die verschiedenen Nutzungen voneinander zu trennen, noch Teile von Bezirksnachbarschafren zu isolieren; 4· die funktionelle Eigenart von Gebieten zu stärken, die groß genug sind, ihre Aufgaben als Bezirke zu erfüllen. Wie groß, in absoluten Begriffen, muß ein leistungsfähiger Bezirk sein? Ich habe bereits eine funktionelle Definition seiner erwünschten Größe gegeben: groß genug,

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um im Rathaus Gewicht zu haben, aber wiederum nicht so groß, daß die Straßennachbarschafren unfähig werden, die Aufmerksamkeit des Bezirks auf sich zu ziehen und etwas zu gelten. Natürlich spielen neben der reinen Bevölkerungszahl noch andere Faktoren eine Rolle, doch ist diese Zahl äußerst wichtig, weil sie, wenn auch meist nur indirekt, Wählerstimmen repräsentiert. Es gibt in den amerikanischen Städten nur zwei wirklich gültige öffentliche Kräfte, die die amerikanischen Großstädte formen und regieren: die Wählerstimmen und die Kontrolle über das Geld. Vornehmer ausgedrückt: »die öffentliche Meinung« und die »Verteilung der Mittel«. Ein funktionsfähiger Bezirk- und durch seine Vermittlung auch die Straßennachbarschaft - verfügt über eine dieser Kräfte: über die Wählerstimmen. Dadurch, und nur dadurch, kann er wirksam die Macht beeinflussen, die im Guten oder im Bösen über die öffentlichen Mittel entscheidet. Der größte Bezirk einer Großstadt, den ich kenne und der als Bezirk in Funktion tritt, hat zweihunderttausend Einwohner. Aus der geographischen Ausdehnung ergeben sich gewisse empirische Bevölkerungsgrenzen. Erfahrungsgemäß umfassen natürlich gewachsene Bezirke ungefähr sechs Quadratkilometer. Vermutlich ist alles, was darüber hinausgeht, zu unbequem für die örtlichen Querverbindungen und für die funktionelle Einheit, die von der politischen Einheit eines Bezirks überlagert ist. Je größer die Großstadt, um so dichter muß die Bevölkerung angesiedelt sein, damit die Leistungsfähigkeit eines Bezirks garantiert ist; andernfalls steht seine politische Macht nicht in Einklang mit seiner geographischen Ausdehnung, die ihn lebensfähig macht. Diese Betonung der geographischen Ausdehnung eines Bezirks soll nun aber nicht bedeuten, daß man eine Großstadt einfach auf dem Plan in Segmente von zwei Quadratkilometern Fläche aufteilen kann. Der springende Punkt bei der Betrachtung des Umfangs und der Grenzen eines Bezirks ist folgender: alle jene Objekte, die - gleich ob natürlicher Herkunft oder Menschenwerk - physische Barrieren für den ungehinderten Querverkehr darstellen, sollten sich, da sie ja irgendwo bleiben müssen, an den Rändern von Gebieten befinden, die groß genug sind, um als Bezirke zu funktionieren. Die Randlage solcher Objekte ist besser als das Zerschneiden der Kontinuität, vorausgesetzt, die Bezirke sind in diesem Sinne zu organisieren. Nachbarschaften, die sich in erster Linie durch ein inneres Netz aus komplizierter Mischung von Nutzung und Leben auszeichnen, nicht aber durch äußerliche Grenzen, stehen selbstverständlich im Widerspruch zu den orthodoxen Planungsvorstellungen. Ausschlaggebend dabei ist der Unterschied zwischen lebendigen, komplexen Organismen, die fähig sind, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen, und starren, trägen Siedlungen, die höchstens dasjenige treuhänderisch verwalten können, was ihnen fertig beschert worden ist. Wenn in städtischen Nachbarschaften, in Straßen oder in Bezirken, zu viele der langsam gewachsenen öffentlichen Beziehungen plötzlich zerrissen werden, kann jede Art von Unheil hereinbrechen, können sich derart viel Unbeständigkeit und

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Hilflosigkeit ansammeln, daß anscheinend selbst die Zeit manchmal den Schaden nicht wieder zu heilen vermag. Häufig hat gerade die Sanierungsplanung dieses Resultat; zwar soll sie weitgehend die Gebäude und auch manche Teile der Bevölkerung erhalten, pflegt dafür aber den Rest der örtlichen Bevölkerung in alle Winde zu zerstreuen. Auch starke Konzentration privater Bauunternehmen, die ihr Kapital plötzlich- in einem Bauboom - in hohe Werte investieren, die durch eine stabile Nachbarschaft verursacht sind, kann zu Katastrophen führen. Auf diese Weise sind aus Yorkville in New York im Zeitraum zwischen 1951 und 1960 schätzungsweise fünfzehntausend Familien vertrieben worden, und so gut wie alle gegen ihren Willen. In Greenwich Viilage geschieht das gleiche. Es ist in der Tat ein Wunder, daß unsere Großstädte überhaupt noch Bezirke mit guter Funktion haben; kein Wunder ist, daß es nur so wenige sind. Dabei gibt es im Augenblick relativ wenig Stadtgebiete, die das Glück haben, rein materiell über die Voraussetzungen zu verfügen, die es möglich machen, daß sie als Bezirke mit vielfältiger Nutzung und Zusammengehörigkeit fungieren. Andere Bezirke, die sich gerade mühsam bilden oder etwas zu schwach sind, werden ständig amputiert, zerschnitten und durch falsch gerichtete Stadtplanungspolitik durchgeschüttelt. Und Bezirke, die stark genug sind, um sich gegen vorgeplante Zerreißmanöver zu verteidigen, werden schließlich in einem unplanmäßigen Goldrausch von Leuten zertrampelt, die auch eine Scheibe von den seltenen sozialen Schätzen haben wollen. Selbstverständlich kann eine leistungsfälrige Nachbarschaft Neuankömmlinge absorbieren, und zwar sowohl diejenigen, die aus freiem Entschluß kommen, als auch die, die sich der Not gehorchend in ihr niederlassen. Sie kann auch eine vernünftige Anzalll von Zugvögeln mit unter ihren Schutz nehmen. Aber ein derartiger Zuwachs oder Wechsel muß allmählich vor sich gehen. Wenn die Selbstverwaltung funktionieren soll, müssen bei aller ziellosen Fluktuation der Bevölkerung kontinuierlich Menschen vorhanden sein, die das nachbarschaftliehe Gewebe spinnen und festigen. Solche Gewebe sind das unersetzliche soziale Kapital einer Großstadt. Wenn dieses Kapital aus irgendeinem Grunde verlorengeht, dann versiegen auch die Einkünfte daraus; sie kehren nicht eher wieder, ehe sich nicht neues Kapital ebenso langsam und beiläufig angesmelt hat. Wir haben es hier offensichtlich mit einem paradoxen Phänomen zu tun: Um einer Nachbarschaft genügend Menschen zu erhalten, die am Ort bleiben, muß die Großstadt über jenes Fließende und jene Beweglichkeit verfügen, von denen Reginald Isaacs sprach, als er überlegte, ob Nachbarschaften überhaupt irgendeinen Sinn in Großstädten haben könnten. Im Laufe der Zeiten wechseln viele Menschen ihre Arbeitsplätze und die Örtlichkeiten ihrer Arbeitsstätten, sie wechseln und erweitern ihren Freundeskreis und ihre Interessen; die Größe ihrer Familie, ihr Einkommen ändern sich nach oben oder nach unten. Sie leben eben und existieren nicht nur. Wenn sie in Bezirken mit mannigfaltigen Möglichkeiten wohnen, in Bezirken, in denen viele kleinste Zellen einem Wandel der physischen Bedingungen angepaßt werden können, dann könBg

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nen sietrotzaller Wechsel von Tätigkeit oder Interesse dort wohnen bleiben. Anders die Menschen, die bei einer Veränderung ihrer Einkommen und ihrer Freizeitbeschäftigungen aus Vororten für die untere Mittelklasse in solche für die mittlere oder obere Mittelklasse umziehen müssen. Aus Kleinstädten muß man in andere Kleinstädte oder in die Großstadt ziehen, um andere Möglichkeiten des Lebens zu finden. Nur Großstadtmenschen brauchen sich aus solchen Gründen nicht vom Fleck zu rühren. Die Anhäufung von Möglichkeiten jeder Art in der Großstadt und ihre fließende Nutzung und Auswahl durch den Menschen sind positive und nicht negative Faktoren für die Bildung einer beständigen, seßhaften, großstädtischen Nachbarschaft. Aus diesen positiven Faktoren muß jedoch Kapital geschlagen werden. Sie werden dort vergeudet, so sich Bezirke infolge von Gleichförmigkeit nur für eine engbegrenzte Skala von Einkommensverhältnissen, Neigungen und Familienbedingungen eignen. Nachbarschafren mit Wohnbedingungen für eine festgelegte, abstrakte, statistisch erfaßte Bevölkerung sind Nachbarschaftender Unbeständigkeit. In statistischem Sinne mögen sich ihre Bewohner gleichen, als Menschen tun sie es nicht. Solche Orte werden immer nur Durchgangsstationen bleiben. Im ersten Teil dieses Buches, den ich hier abschließe, schilderte ich die wesentlichsten Faktoren der Großstadt, ihre besonderen Kräfte und ihre besonderen Schwächen. Wenn wir die Prinzipien begreifen, die sich im Verhalten von Großstädten verbergen, können wir auf den potentiellen positiven Wesensmerkmalen und Kräften aufbauen, anstatt ihnen entgegenzuwirken. Doch zuvor müssen wir uns über die Ziele klar sein, die wir erreichen wollen; wir müssen zum Beispiel wissen, ob wir lebendige, vielseitig genutzte Straßen und andere öffentliche Räume haben wollen, und wenn ja, warum wir sie haben wollen. Zu wissen, was wir wollen, ist jedoch noch längst nicht ausreichend. Der nächste Schritt muß sein, einige Funktionen von Großstädten auf einer anderen Ebene zu untersuchen: wir müssen nach den wirtschaftlichen Grundlagen fragen, auf denen jene lebendigen Straßen und Bezirke für die Nutznießer der Großstadt wachsen.

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Teil II

Voraussetzungen für eine Mannigfaltigkeit in der Großstadt

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Ursachen der Mannigfaltigkeit

»Ich habe mich oft damit unterhalten«, schrieb James Boswell im Jahre 1791, »mir vorzustellen, was für ein verschiedenes Ding doch ein Ort wie London für die verschiedenen Menschen ist. Diejenigen, deren beschränkter Geist durch die Sicht irgendeiner besonderen Tätigkeit eingeengt ist, sehen es nur durch dieses eine Medium ... Aber der geistige Mensch steht staunend davor, weil der Ort die Gesamtheit des menschlichen Lebens in all der Mannigfaltigkeit umfaßt, deren Betrachtung unerschöpflich ist.« Boswell hat hiermit nicht nur eine gute Definition von Großstädten überhaupt gegeben, er hat außerdem den Finger auf eine der größten Schwierigkeiten, mit ihnen fertig zu werden, gelegt. Man erliegt allzu leicht der Verführung, die Funktionen einer Großstadt nach Kategorien, jede für sich, zu betrachten. Genau dies - Analyse von Großstädten nach iliren einzelnen Funktionen - ist zur üblichen Methode funktioneller Stadtplanung geworden. Die Ergebnisse der Einzelanalysen innerhalb der verschiedenen Kategorien werden dann zu »umfassenden Gesamtbildern« zusammengestellt. Um die Großstädte wirklich zu verstehen, müssen wir jedoch von vomherein als wesentlichstes Phänomen die Verkettungen oder Mischungen der Funktionen erkennen, wir dürfen nicht die einzelnen Funktionen getrennt behandeln. Eine Mischung von Nutzungen, die komplex genug ist, um Sicherheit, öffentliche Kontakte und vielseitige Dienste zu ermöglichen, hängt von den verschiedensten Faktoren ab. Daher lautet die erste und wichtigste Frage funktioneller Stadtplanung: Wie können Großstädte eine ausreichende Mischung von Nutzungen über ilir gesamtes Territorium hinweg erzeugen, um ilire großstädtische Kultur zu erhalten? Es ist zwar schön und gut, immer wieder das sogenannte große Übel der Öde verantwortlich zu machen und zu begreifen, warum sie so zerstörensehe Einflüsse auf das Großstadtleben hat. Aber damit allein kommen wir nicht sehr weit. Denken wir an das Problem, das die Straße mit der hübschen Promenade in Baltimore aufwirft. Mrs. Kostritsky hat völlig recht, wenn sie meint, daß die Straße Handel und Wandel als Treffpunkt für die Bewohner brauche, um dem Mangel an öffentlichem Leben und der Monotonie dieses Wohnviertels zu begegnen. Leider sprießt die fehlende Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit nicht spontan aus der einfachen Tatsache, daß die Straße diese Vorteile dringend braucht. Jeder, der 91

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dort beispielsweise ein Detailgeschäft eröffnen würde, wäre dumm. Er könnte dort nicht existieren. Zu wünschen, daß sich großstädtisches Leben dort irgendwie von selbst ergebe, wäre Illusion. Die Gegend ist eine ökonomische Wüste. Wenn man die öden grauen Gebiete und Wohnsiedlungen oder die Verwaltungszentren betrachtet, ist es schwer zu glauben, daß Großstädte von Natur aus dazu prädestiniert sind, Mannigfaltigkeit und neue Unternehmen und Ideen jeder Art zu erzeugen und auszubilden. Und daß sie darüber hinaus die naturgegebenen Rahmen für Unmengen verschiedenster kleinerer Unternehmen darstellen. Die wichtigsten Untersuchungen über die Mannigfaltigkeit und die Größe großstädtischer Unternehmen sind Arbeiten über Fertigungsbetriebe; und hier vor allem die Arbeiten von Raymond Vernon, Autor von Anatomy of a Metropolis, und von P. Sargant Florence, der die Auswirkungen der Großstadt auf Fertigungsbetriebe in Amerika und England untersucht hat. Aus diesen Arbeiten geht hervor, daß die Mannigfaltigkeit unter Fertigungsbetrieben und die Anzahl und der Umfang kleinerer Unternehmen um so größer sind, je größer auch die Stadt ist. Das hat darin seinen Grund, daß große Unternehmen über eine größere Unabhängigkeit verfügen als kleinere; sie können den größten Teil ihres Bedarfs an Arbeit und Ausrüstung selbst decken, sie können alle Bedürfnisse autark regeln und einen weiten Markt beliefern, den sie unabhängig von ihrer örtlichen Lage erreichen können. Sie brauchen nicht in den Großstädten zu liegen. Die kleineren Fertigungsbetriebe befmden sich in der gegenteiligen Situation. Sie sind stets von verschiedensten Belieferungen und Leistungen von außen abhängig, und sie selbst müssen einen begrenzten Markt beliefern, und zwar an Ort und Stelle, denn sie müssen auf die raschen Veränderungen ihres kleinen Marktes reagieren können. Ohne Großstädte gäbe es sie einfach nicht. Abhängig von einer riesigen Vielfalt anderer Unternehmen, tragen sie selbst zur Erweiterung dieser Vielfalt bei. Dieser Punkt ist wichtig: Die Mannigfaltigkeit der Großstadt gestattet und fördert wiederum größere Mannigfaltigkeit. Die Situation ist für viele andere Branchen und Berufe ähnlich. Die Vorteile det Großstadt für kleine Unternehmen gelten ebenso für den Einzelhandel wie auf den Gebieten des Kulturellen und der Unterhaltungsindustrie. Eine Großstadtbevölkerung ist eben groß genug, um eine umfangreiche Skala an Abwechslung und Auswahl in all diesen Dingen zu tragen. Große Unternehmen haben größere Vorteile in kleineren Siedlungen; Kleinstädte und Vororte sind beispielsweise die natürlichen Absatzgebiete für riesige Supermarkets und haben dafür kaum Raum für andere Lebensmittelläden; sie sind zuständig für große Lichtspielhäuser und Autokinos, aber kaum für anderes auf dem Gebiet des Theaters. Es sind einfach nicht genügend Menschen vorhanden, um einem Mehr an Abwechslung eine Existenzgrundlage zu geben, obwohl es wahrscheinlich viele Leute in diesen Siedlungen gibt, welche die Abwechslung in Anspruch nehmen würden; aber es wären nicht genug. Großstädte hingegen sind natürliche Absatzmärkte für Supermarkets, Großkinos und für Delikatessengeschäfte, Wiener Bäckereien, Filmklubs usw.; alles existiert nebeneinander, die Standard- neben den Spezialangeboten. Typisch ist, daß in lebendigen und beliebten Gegenden die kleinen Unternehmen

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das Obergewicht haben*. vVenn diese kleinen Unternehmen einmal nicht mehr von ihrer nächsten Nachbarschaft leben können, dann geht ihnen der Vorteil der Großstadt verloren. Denn es ist nicht etwa so, daß in einem gegebenen geographischen Gebiet die Hälfte der Bewohner auch die Hälfte solcher Unternehmen tragen, wenn diese Unternehmen in doppelter Entfernung liegen. Sobald Entfernungsprobleme ins Spiel kommen, gehen die kleinen individuelleren Spezialbetriebe zugrunde. Da wir uns aus einem landwirtschaftlichen und kleinstädtischen Staat in einen großstädtischen verwandelt haben, sind die geschäftlichen Unternehmen zahlreicher geworden, und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch in Relationsbegriffen ausgedrückt. Im Jahre 1900 gab es einundzwanzig nichtländliche Unternehmen auf je tausend Personen der gesamten Bevölkerung in den USA. Im Jahre 1959 kamen, obwohl sich in der Zwischenzeit die Riesenunternehmen ungeheuer vermehrt hatten, 26% unabhängige nichtländliche Unternehmen auf je tausend Personen der Bevölkerung. Mit der Verstädterung wachsen die Großen, aber die Kleinen werden zahlreicher. Die meisten Faktoren der Mannigfaltigkeit, die ich im ersten Teil dieses Buches ausführlich behandelt habe, hängen direkt oder indirekt von dem Vorhandensein eines reichlichen, bequem gelegenen und vielfältigen Handels ab. Es gehört aber noch mehr dazu: überall, wo man einen Stadtbezirk mit reichlicher Abwechslung an Geschäften erlebt, pflegt man außerdem noch eine ganze Reihe anderer Arten von Mannigfaltigkeit festzustellen; vielfältige kulturelle Möglichkeiten, Theater aller Art, eine vielschichtig zusammengesetzte Bevölkerung und unterschiedlichste Besucher. Das ist kein Zufall. Die gleichen physischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die Mannigfaltigkeit im Handel erzeugen, hängen eng zusammen mit dem Vorhandensein anderer Arten großstädtischer Vielfalt. Daß man Großstädte als die natürlichen wirtschaftlichen Urheber und Förderer der Mannigfaltigkeit bezeichnen kann, heißt nun nicht, daß Großstädte automatisch, allein durch ihre Existenz, Mannigfaltigkeit hervorbringen. Sie bringen sie hervor auf Grund des leistungsfähigen Reservoirs an Möglichkeiten, das sie bilden. Wo es ihnen nicht gelingt derartige Reservoirs zu bilden, versagen sie, was die Mannigfaltigkeit betrifft, kaum weniger als kleine Siedlungen. Für uns ist in diesem Zusanrmenhang das erstaunliche Faktum wichtig, daß Großstädte Mannigfaltigkeit außerordentlich ungleich erzeugen. So genießen zum Beispiel die Menschen, die in Bostons North End, auf der Upper East Side in New York oder in San Franziska auf dem North Beach-Telegraph Hili wohnen, durchaus eine beträchtliche Mannigfaltigkeit. Die Besucher von außen tragen eine Menge dazu bei. Aber nicht die Besucher haben ursprünglich die Grundlagen für die Vielseitigkeit solcher Bezirke gelegt, sie haben lediglich herausbekam-

* Im Einzelhandel zeigt sich diese Tendenz immer mehr. Richard Nelson, der den Grundstücksmarkt in Chikago analysierte, untersuchte die Nachkriegsentwicklung im Einzelhandel in ungefähr zwanzig Bezirken der Innenstadt 1md stellte fest, daß der Umsatz der größeren Warenhäuser zurückgegangen, der der markengebundenen Einzelhändler ungefähr gleichgeblieben ist, während der Umsatz der kleinen und Spezialgeschäfte (deren Anzahl sich erhöhte) zugenommen hat. 93

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men, daß sie dort bereits vorhanden war, und sind gekommen, um an ihr teilzuhaben und sie damit noch zu intensivieren. Anderseits gibt es in riesigen städtischen Siedlungen Menschen, deren Leben kaum mehr als Stagnation aufweist und die schließlich in einer tödlichen Unzufriedenheit mit ihrer Umgebung hadern. Es sind nicht etwa Menschen, die anders sind als andere, irgendwie langweiliger oder unempfänglicher für Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit. Häufig sind unter ihnen sogar ganze Gruppen, die krampfhaft versuchen, diese wichtigen Eigenschaften irgendwo zu entdecken. Nein, irgend etwas stimmt einfach nicht an diesen Bezirken, irgend etwas fehlt, das die Fähigkeiten der Bevölkerung eines solchen Bezirks anspornen kann, wirtschaftlich anregend zu wirken und leistungsfähige Reservoirs für die verschiedensten Funktionen zu bilden. Anscheinend ist der Zahl von Menschen, deren potentielle großstädtische Eigenschaften vergeudet werden können, keine Grenze gesetzt. Da ist zum Beispiel der Bezirk Bronx in New York mit an die eineinhalb Millionen Einwohnern. Bronx ist in beklagenswertem Ausmaß bar jeder großstädtischen Lebendigkeit, Vielseitigkeit und Anziehungskraft. Es hat gewiß seine treuen Stammeinwohner; die wohnen meistens in der Nähe kleiner, schüchterner Versuche von Straßenleben, hier und dort in der »alten Nachbarschaft« verstreut; aber viel sind es nicht. An so simplen städtischen Annehmlichkeiten, wie einigermaßen interessanten oder netten Restaurants, haben die eineinhalb Millionen Menschen in Bronx nichts vorzuweisen. Kate Simon, Verfassetin eines Führers für New York, New York Places and Pleasures, beschreibt Hunderte von Restaurants und andere geschäftliche Unternehmen, vor allem in überraschenden und abseits vom Wege liegenden Bezirken von New York. Sie ist kein Snob und möchte ihren Lesern sehr gern preiswerte Entdeckungen vorstellen. Aber obwohl Miss Sirnon sich sehr bemüht, mußte sie diesen ganzen großen Bronx-Bezirk als hoffnungslos weglassen; sie hat in keiner Preislage etwas Empfehlenswertes gefunden. Nachdem sie den zwei echt großstädtischen Attraktionen in diesem Bezirk, dem Zoo und dem Botanischen Garten, ihre Reverenz erwiesen hat, weiß sie kaum einen Ort außerhalb des Zoogeländes zu nennen, an dem man essen kann. Die einzige Gelegenheit, die sie anzubieten wagt, begleitet sie mit folgender Entschuldigung: »Die Umgebung verliert sich traurig in einem Niemandsland, und das Restaurant könnte ein wenig Renovierung vertragen, aber zum Trost kann man das Bewußtsein haben ... daß vermutlich die gesamte ärztliche Kunst von Bronx versammelt um einen herum sitzt.« Wenn schon der Bronx-Bezirk eine klägliche Verschwendung großstädtischer Möglichkeiten darstellt, dann mache man sich die noch viel traurigere Tatsache klar, daß es sogar ganzen Großstädten möglich ist, mit kümmerlich wenig Mannigfaltigkeit und Auswahl an Möglichkeiten zu existieren. Ganz Detroit ist praktisch genauso bar jeglicher Lebendigkeit und Vielfalt wie der Bronx-Bezirk in New York. Es besteht aus aneinandergereihten Ringen grauer, funktionsunfähiger Gürtel. Nicht einmal die Innenstadt von Detroit kann ein einigermaßen ansehnliches Maß an Mannigfaltigkeit bieten. Es ist trostlos und langweilig und nach sieben Uhr abends so gut wie ausgestorben. Dabei sind die Voraussetzungen für eine Großstadtvielfalt sehr leicht zu ermitteln;

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man braucht lediglich die Orte zu beobachten, an denen sie gedeiht, und den wirtschaftlichen Gründen für ihr Gedeihen an solchen Orten nachzugehen. Die Ergebnisse sind zwar verwickelt, und die Faktoren, aus denen sie sich zusammensetzen, können höchst unterschiedlich sein - das Komplexe der Ergebnisse basiert jedoch immer auf greifbaren wirtschaftlichen Beziehungen, die im Prinzip wesentlich einfacher zu verstehen sind als ihre komplexen Ergebnisse. Um eine reiche Mannigfaltigkeit in den Straßen und Bezirken einer Großstadt zu erzeugen, sind vier Voraussetzungen unerläßlich: 1. Der Bezirk als Ganzes (und so viel seiner inneren Teile wie möglich) muß mehr als einer primären Funktion dienen, möglichst mehr als zweien. Diese müssen die Gegenwart von Menschen sichern, welche sich nach verschiedenen Tagesplänen und zu verschiedenen Zwecken auf den Straßen bewegen, aber gemeinsam viele Dienste in Anspruch nehmen. 2. Die meisten Baublocks müssen kurz sein, das heißt, es muß zahlreiche Gelegenheiten für Lang- und Querverkehr geben. 3· Der Bezirk muß Gebäude mischen, deren Alter und Zustand verschieden ist; auch alte Gebäude müssen in vernünftigem Verhältnis darunter sein, damit alle Gebäude zusammen hinsichtlich der wirtschaftlichen Rente, die sie einzubringen haben, variieren. Diese Mischung muß ziemlich feinkörnig sein. 4· In einem Bezirk müssen genügend Menschen konzentriert sein, ganz gleich, aus welchem Anlaß sich diese Menschen dort aufhalten; das schließt dichte Konzentration der Bewohner ein. Die Notwendigkeit dieser vier Voraussetzungen ist die wichtigste These dieses Buches. In der Kombination erzeugen diese Voraussetzungen wirksame wirtschaftliche Funktionsreservoirs. Alle vier sind gleichzeitig notwendig, um großstädtische Mannigfaltigkeit zu erzeugen; wenn eine der vier Bedingungen fehlt, bleibt die potentielle Leistungsfähigkeit eines Bezirks unausgeschöpft. Sind alle vier Bedingungen gegeben, dann werden deshalb noch lange nicht alle Stadtbezirke die gleiche Art von Mannigfaltigkeit aufweisen. Die Möglichkeiten der verschiedenen Bezirke unterscheiden sich aus vielen Gründen; aber mit diesen vier Bedingungen (oder der bestmöglichen Annäherung an ihre volle Entwicklung) sollte ein Bezirk in der Großstadt fähig sein, seine besonderen Möglichkeiten zu realisieren, in welcher Richtung diese auch liegen mögen. Die Skala mag sich nicht immer bis zu afrikanischer Plastik, zu Schauspielschulen oder exotischen Restaurants ausdehnen, aber normale Unternehmen, wie Geschäfte der verschiedensten Art, Gewerbeschulen, Kinos, Einwandererklubs, Restaurants usw., sollte es geben können; und mit ihnen auch wirkliches Großstadtleben.

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Die Notwendigkeit gemischter primärer Nutzung

Bedingung 1: Der Bezirk als Ganzes (und so viel seiner inneren Teile wie möglich) muß mehr als einer primären Funktion dienen, möglichst mehr als zweien. Diese müssen die Gegenwart von Menschen sichern, welche sich auf den Straßen nach verschiedenen Tagesplänen und zu verschiedenen Zwecken bewegen, aber gemeinsam viele Dienste in Anspruch nehmen. Auf Straßen mit guter Funktion müssen Menschen zu den verschiedensten Zeiten vorhanden sein (Zeiten hier in kleinster Einheit mit den Stunden des Tages gleichgesetzt). Diese Notwendigkeit stand schon zur Diskussion, als wir nach der Sicherheit von Straßen und nachbarschaftlieh genutzten Parks fragten; dort ging es dabei um soziale Gesichtspunkte. Hier nun handelt es sich um die wirtschaftlichen Auswirkungen. Nachbarschaftlieh genutzte Parks brauchen, wie wir uns erinnern, Menschen, die aus den verschiedensten Gründen in unmittelbarer Nähe zu tun haben; andernfalls werden die Parks nur sporadisch genutzt. Die meisten Unternehmen der Konsunlindustrie sind genauso wie die Parks abhängig von Menschen, die sie den ganzen Tag über besuchen. Der Unterschied ist nur der: Wenn Parks ungenutzt bleiben, ist das für sie und ihre Umgebung zwar schlecht, doch sie verschwinden deshalb noch nicht vom Erdboden; wenn Konsumunternehmen aber während eines großen Teils des Tages ungenutzt bleiben, dann müssen sie verschwinden, oder genauer: sie tauchen erst gar nicht auf. Geschäfte brauchen, wie Parks, Menschen. Als bescheidenes Beispiel für die wirtschaftliche Wirkung, die Menschen ausüben, wenn sie den ganzen Tag über da sind, möchte ich zurückkommen auf das Ballett der Hudson Street, von dem ich zu Beginn dieses Buches berichtete. Die Kontinuität der Menschenbewegung auf dieser Straße (welche der Straße Sicherheit garantiert), gründet auf der wirtschaftlichen Basis einer gemischten primären Nutzung. Die Werktätigen aus den Laboratorien, den Konservenfabriken, den Warenhäusern und aus der Riesenanzahl kleiner Fertigungsbetriebe, wie Druckereien und aus anderen kleinen Unternehmen und Büros, stellen mittags für alle Restaurants und Geschäfte ein großes Kundenkontingent. Wir Bewohner der Straße und der angrenzenden reinen Wohnviertel können dem Handel zwar auch ein gewisses Maß an Unterstützung geben, aber doch nur verhältnismäßig wenig. ·wir - die Bewohner des Bezirks - genießen mehr Annehmlichkeiten, Vielfalt, Lebendigkeit und Auswahl, als uns an sich »zusteht«. Die Leute, die in der Nachbarschaft arbeiten, genießen ebenfalls, der Bewohner wegen, mehr Vielfalt, als ihnen eigentlich »zusteht«. Wir unterstützen die Unternehmen deshalb gemeinsam, weil wir uns unbewußt vom g6

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wirtschaftlichen Standpunkt aus ergänzen. Verlöre die Nachbarschaft ihre Industrien, wäre das eine Katastrophe für uns Bewohner. Viele Unternehmen, die nicht vom Handel mit den Bewohnern allein leben könnten, würden verschwinden. Ebenso würden, wenn die Industrien uns Bewohner verlören, jene Unternehmen verschwinden, die nicht nur von den arbeitenden Menschen existieren könnten. So, wie es jetzt ist, können die Arbeitenden und die Bewohner zusammen mehr als die Summe ihrer jeweiligen Beiträge leisten. Denn die Unternehmen, die wir ge· meinsam tragen, ziehen abends weit mehr Bewohner aus der Nachbarschaft an, als etwa kommen würden, wenn es sich um eine kranke Gegend handelte. Dazu kommt in bescheidenen Maßen noch eine weitere Gruppe von Menschen, nämlich einfache Leute aus anderen Bezirken, die Abwechslung suchen. Diese zusätzliche, vielfältig zusammengesetzte Kundschaft gestattet wiederum weitere Ausdehnung und größere Mannigfaltigkeit der Unternehmen, die jetzt von drei Bevölkerungstypen leben können. So haben sich neuerdings ein Geschäft, das Kunstdrucke, eines, das Tauchersportartikel verkauft, eine erstklassige Pizzaküche und ein hübsches Cafe in der Straße installiert. Aber es kommt also nicht nur auf die Anzahl der Menschen an, welche die Straßen benutzen. Die Anzahl allein kann nie ein Äquivalent für kontinuierliche Benutzung sein. Wie wichtig es ist, daß das Publikum sich über alle Zeiten des Tages hinweg verteilt, kann man besonders deutlich in der Innenstadt von Manhattan beobachten, weil dieser Bezirk besonders schwer unter äußerster Unausgeglichenheit der Benutzung zu leiden hat. An die vierhunderttausend Menschen sind beschäftigt in diesem Bezirk, der die WallStreet, die angrenzenden Gerichts- und Versicherungskomplexe, städtische Behörden, ein paar staatliche Büros und eine Reihe anderer Arbeitsstätten umfaßt. Eine unbestimmbare, aber beträchtliche Anzahl von Menschen besucht zusätzlich den Bezirk während der Bürostunden, meistens aus geschäftlichen oder dienstlichen Gründen. Das alles ergibt eine ungeheure Menge von Benutzern für ein Gebiet, welches so dicht besiedelt ist, daß in ihm jeder Teilleicht zu Fuß von jedem anderen Teil erreichbar ist. Diese Benutzer stellen täglich riesige Anforderungen an Restaurants und an andere Dienste, von kulturellen ganz zu schweigen. Dennoch entspricht der Bezirk dieser Nachfrage nach Diensten und Annehmlichkeiten nur in kläglicher Weise. Seine Gaststätten und Textilgeschäfte sind nach Zahl und Auswahl den Anforderungen völlig unangemessen. Der Bezirk hatte einmal eines der besten und größten alteingesessenen Delikatessengeschäfte für Spezialitäten in der Stadt; es mußte vor kurzem schließen. Der Bezirk verfügte über ein paar Kinos, die sich aber zu Schlafstätten für arbeitsscheue Elemente entwickelten und schließlich verschwanden. Die kulturellen Möglichkeiten des Bezirks sind heute gleich Null. Alle diese Mängel, die oberflächlich betrachtet unwesentlich sein mögen, sind ein ernstes Handikap. Firma über Firma verließ den Bezirk und zog nach Mittel-Manhattan, das jetzt zur Innenstadt von Manhattan geworden ist und eine Mischung der Nutzungen aufweist. Diese Abwanderungen haben wiederum die einst aus97

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gezeichneten Möglichkeiten für direkte geschäftliche Kontakte im alten Bezir~ unterminiert, so daß nun auch die Rechtsanwaltsfirmen und die Banken umziehen, um wieder in die Nähe ihrer abgewanderten Kunden zu gelangen. Der Bezirk ist für die ihm zugedachte Funktion zweitrangig geworden; er sollte ursprünglich ein Verwaltungshauptquartier sein; heute hat er die Grundlage seines Rufs und seiner Zweckmäßigkeit, hat er seine Daseinsberechtigung verloren. Unterdessen bildete sich außen um die großen Bürogebäude, die Manhattans atemberaubende Silhouette bestimmen, eine Zone von Verfall, leeren Gebäuden und ein paar Spuren von Industrie. Es ist wirklich paradox: Es gibt auf der einen Seite viel Menschen, die so sehr eine großstädtische Mannigfaltigkeit wünschen, daß es manchmal schwierig oder gar unmöglich ist, sie vom Umzug zu anderen lebendigeren Orten abzuhalten, und zur gleichen Zeit gibt es dicht daneben mehr als genug passende und sogar leere Räumlichkeiten, die jedes Ausmaß an vielfältiger Nutzung ermöglichen könnten. Was stimmt da nicht? Um das herauszufinden, braucht man lediglich irgendein gewöhnliches Geschäft in diesem Bezirk zu besuchen und den Kontrast zwischen dem Gedränge zur Mittagszeit und der Ode zu anderen Zeiten zu beobachten. Man braucht nur die Totenstille zu erleben, die nach halb sechs Uhr nachmittags und während des ganzen Wochenendes über dem Bezirk liegt. »Die Leute brechen herein wie eine Sturmflut«, zitiert die N ew Y ork Times eine Verkäuferin aus einem Textilgeschäft. »Ich weiß immer, wenn es ein paar Minuten nach zwölf ist.« Die Times fügt erläuternd hinzu: »Die erste Gruppe überflutet das Geschäft von zwölf bis kurz vor ein Uhr mittags, dann folgt eine kurze Atempause, und ein paar Minuten nach ein Uhr strömt die zweite Gruppe herein.« Und ein paar Minuten vor zwei Uhr stirbt das Geschäft völlig aus. Was die Zeitung verschweigt. Die Geschäfte, die der Verbraucherhandel hier macht, müssen auf zwei oder drei Stunden täglich, auf zehn oder fünfzehn Stunden in der Woche, zusammengedrängt werden. Dieses Ausmaß unzureichender Nutzung bedeutet für jedes Unternehmen ein trauriges Fiasko. Einige Unternehmen können das zwar dadurch ausgleichen, daß sie die Mittagssturmflut bis zum letzten ausnutzen. Bedingung dafür ist aber, daß ihre Anzahl beschränkt ist, damit jedes Geschäft in dieser Zeit völlig ausgelastet ist und das Gedränge abschöpfen kann. Die Restaurants können ebenfalls nur von Mittags- und Kaffeepausen leben, statt von Mittag- und Abendessen. Auch hier ist Voraussetzung, daß es ihrer verhältnismäßig wenige sind, damit sich in den wenigen Stunden der Hochkonjunktur schnelle Massengeschäfte machen lassen. Und wie verträgt sich alles das mit dem Bedarf der vierhunderttausend Arbeitenden des Bezirks? Sehr schlecht. Es ist kein Zufall, daß die New York Public Library mehr verzweifelte Anrufe aus diesem Bezirk - mittags natürlich - als aus irgendeinem anderen Bezirk bekommt: »Wo ist die Zweigstelle der Bibliothek hier? Ich kann sie nicht finden.« Es gibt selbstverständlich gar keine. Gäbe es sie, könnte ihr Umfang kaum groß genug sein, um den plötzlichen Anforderungen der zur Mittagszeit und vielleicht noch nach fünf Uhr schlangestehenden Menschen zu genügen, und sie könnte nicht klein genug gehalten werden, um über die übrigen Zeiten hinwegzukommen. g8

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Abgesehen von den auf Stoßzeiten eingerichteten Unternehmen, können sich andere Verteilerdienste nur so behelfen, daß sie ihre festen Kosten unter der Norm halten. Auf diese Weise existieren die meisten der interessanteren und ungewöhnlicheren Unternehmen, die noch nicht abgewandert sind, und das ist auch der Grund dafür, warum sie sich in besonders heruntergekommenen Räumlichkeiten befinden. Geschäftliche und finanzielle Interessengruppen aus Lower Manhattau haben sich seit Jahren in Zusammenarbeit mit der Stadt New York sehr darum bemüht, neue Pläne auszuarbeiten und eine Sanierung dieses Bezirks in die Wege zu leiten. Sie sind dabei nach orthodoxen Planungsvorstellungen und Prinzipien vorgegangen. Ihr erstes Argument ist richtig, es trägt den Schwierigkeiten und ihren allgemeinen Ursachen Rechnung. Die von der Downtown-Lower Manhattau Association herausgegebene Planungsbroschüre führt dazu aus: »Wenn man die Faktoren, welche die wirtschaftliche Gesundung von Lower Manhattau zur Folge haben, ignoriert, akzeptiert man den weiteren Exodus der seit langem ansässigen Unternehmen und Geschäfte in Gebiete, in denen sie mit besseren Arbeitsbedingungen und angemessener Umgebung für ihre Angestellten rechnen können.« Die Broschüre zeigt darüber hinaus einen Schimmer von Verständnis für die Notwendigkeit, den ganzen Tag über Menschen in den Bezirk zu streuen, denn sie stellt fest: »Eine dort ansässige Bevölkerung würde die Entwicklung von Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants, Vergnügungsstätten und Garagen fördern, Unternehmen also, deren Vorhandensein zwecks Mitbenutzung durch die tagsüber dort Arbeitenden höchst wünschenswert wäre.« Es ist jedoch nur ein Schimmer von Einsicht, und die· Pläne selbst sind ein Schulbeispiel für untaugliche Heilmethoden. Eine dort ansässige Bevölkerung ist allerdings tatsächlich vorgesehen in der Planung. Sie wird eine Menge Grundfläche für Siedlungen, Parkplätze und freies Gelände beanspruchen, jedoch nur ein Prozent der täglich dort arbeitenden Bevölkerung darstellen. Was für herkulische Kräfte muß dieser kleine Trupp beweisen! Welche Leistungen an Hedonismus muß er zeigen, um »die Entwicklung von Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants, Vergnügungsstätten ... « zu fördern, deren Vorhandensein zur Mitbenutzung der tagsüber dort Arbeitenden höchst wünschenswert wäre. Die neu anzusiedelnde Bevölkerung ist natürlich nur ein Teilproblem des Plans. Der Rest des Plans wird die jetzigen Schwierigkeiten nur noch verstärken, und zwar auf zweierlei Weise. Erstens ist der Plan darauf ausgerichtet, noch mehr Einrichtungen für den Tag-Gebrauch einzuführen: Fertigungsbetriebe, internationale Handelsbüros und unter anderem ein riesiges Gebäude für bundesstaatliche Behörden. Zweitens wird die Landbereinigung zugunsten dieser zusätzlichen Unternehmen und zugunsten der Wohnsiedlungen und der damit zusammenhängenden Autobahnen nicht nur leere und verfallene Gebäude, sondern auch viele der bescheidenen Dienste und Geschäfte ausräumen, die noch für die arbeitende Bevölkerung vorhanden sind. Die bereits zu mageren und zu beschränkten Möglichkeiten für die Arbeitenden werden sich - Nebenergebnis der Raumbeschaffung für noch mehr 99

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Werktätige und für eine gänzlich belanglose Anzahl ständiger Bewohner - nod1 verringern. Die bereits heute unangemessenen Verhältnisse werden untragbar werden. Außerdem schieben die Pläne jeglicher später möglichen Entwicklung von angemessener weiterer Nutzung einen Riegel vor: sie lassen keinen Raum übrig, der für aufkeimende geschäftliche Unternehmen bezahlbar wäre. Lower Manhattau ist wirklich in ernsthafter Bedrängnis, und das routinemäßige Denken und die sogenannten Heilmethoden der orthodoxen Stadtplanung verstärken lediglich diese Bedrängnis. Was aber könnte man denn tun, um der extrem unausgeglichenen Benutzung des Bezirks, also der Wurzel aller Schwierigkeiten, wirksam zu begegnen? Wohnsiedlungen können, ganz gleich, wie sie angelegt sind, keine wirksame Hilfe sein. Die Nutzung des Distrikts am Tage ist so intensiv, daß Einwohner auch in höchstmöglicher Dichte immer eine verhältnismäßig wenig ins Gewicht fallende Schicht darstellen werden, wobei sie ein Gebiet mit Beschlag belegen, dessen Umfang in äußerstem Mißverhältnis zu ihrem möglichen wirtschaftlichen Beitrag steht. Das Ergebnis der Einführung neuer Nutzungsmöglichkeiten müßte zweifellos die Gegenwart einer maximalen Anzahl Menschen während der Zeiten sein, in denen sie der Bezirk als Ausgleich am meisten braucht: am frühen Nachmittag zwischen zwei und fünf Uhr, an den Abenden und Wochenenden. Die einzigen Konzentrierungen von Menschen, die dafür ausreichend erscheinen, sind große Besuchermengen, und das heißt also große Mengen von Touristen, angereichert mit vielen Leuten aus der Stadt selbst, die in ihren Mußestunden hierherkommen. Das, was diese Menschen anziehen soll, muß auch anziehend auf die Menschen wirken, die im Bezirk arbeiten; es darf sie jedenfalls nicht abstoßen oder langweilen. Die neuen Nutzungen dürfen darüber hinaus auf keinen Fall ausgerechnet jene Gebäude und jene Gebiete fest belegen, die von neuen, spontan aufblühenden Unternehmen - angeregt durch das neue Publikum - zu ihrer freien Entwicklung und Anpassung gebraucht werden können. Und schließlich müßten die neuen Nutzungen im Einklang mit dem Charakter des Bezirks stehen, ihm jedenfalls nicht direkt entgegengesetzt sein. Das Charakteristikum von Lower Manhattau ist Intensität, Aufregung, Drama; es sind seine Hauptanziehungsmerkmale. Es gibt nichts Dramatischeres, Romantischeres als die aufeinandergetürmten Wolkenkratzer von Lower Manhattan, die wie ein vom Meer umringtes Zauberschloß abrupt in den Himmel steigen. Es wäre absolutes Vandalentum, diese herrliche Großstadtatmosphäre durch Ode und Gleichförmigkeit (wie es die gegenwärtigen Pläne für die Wohnsiedlungen vorsehen) zu verwässern. Fragen wir uns, was bereits vorhanden ist, um Besucher in Mußezeiten oder an den Wochenenden anzuziehen: Im Lauf der Zeit ist leider ungefähr der einzige Anziehungspunkt für Besucher, der überhaupt vorhanden war, ausgemerzt worden: das Aquarium, das sich an der Inselspitze im Battery Park befand und dessen Hauptattraktion war. Man hat es nach Coney Island verpflanzt, an den letzten Ort, wo es am Platze ist. Eine sonderbare kleine armenische Kolonie (das waren Be100

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wohner, die durch ihre Einmaligkeit als anziehendes Element ins Gewicht fielen) wurde mit Kind und Kegel ausgesiedelt, um einer Zufahrtsstraße für den Tunnel Platz zu machen; jetzt schicken die Fremdenführer und Frauenmagazine die Besucher nach Brooklyn, um die dorthin verpflanzten Reste dieser Kolonie und ihre außergewöhnlichen Geschäfte zu bewundern. Die Pracht der Ausflugboote und des Weges zur Liberty-Statue ist kaum der Pracht von Supermarket-Besuchen vergleichbar. Die Snack-Bar im Battery Park ist ebenso attraktiv wie die Kantine einer Schule. Battery Park selbst, der die aufregendste Lage in ganz New York hat und wie ein Bug in den Hafen hinausragt, ähnelt dem heruntergekommenen Gelände eines Altersheims. Alles, was diesem Bezirk durch die Planung angetan worden ist, ruft den Menschen zu: »Geht fort, laßt mich in Ruhe!« Und es könnte so viel getan werden. Der größte vergeudete Aktivposten des Bezirks ist das Ufergelände. Einen Teil davon sollte man als großes Marinemuseum benutzen und Modelle und Sondertypen von Schiffen hier ständig vor Anker legen. Das würde an Wochen- und Ferientagen und an Sommerabenden Touristen und Besucher aus der ganzen Stadt anziehen. Anlegeplätze für Vergnügungsfahrten, ein Aquarium mit freiem Eintritt könnten gebaut werden. Nicht direkt am Ufergelände, eher im Straßennetz dahinter, sollte man die fehlende Zweigstelle der öffentlichen Bibliothek mit je einer Fachabteilung für Marine- und Finanzliteratur einrichten und preiswerte Theater usw. gründen. Wenn dann der Bezirk sich an den Abenden und Wochenenden belebt, kann man auch erwarten, daß sich spontan zusätzliche Wohnnutzungen entwickeln. Aber das Wohnen in solch einem Bezirk wird, so notwendig es ist, immer nur Ausdruck einer vorhandenen Vitalität und nie ihre Ursache sein. Diese Anregungen, die auf zusätzliche Nutzung des Bezirks auf Schaffung von Anziehungspunkten für Mußezeiten zielen, sind nicht so frivol und mit gar nicht so hohen Kosten verbunden, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Man bedenke, wie hoch die zu erwartenden Kosten für die Ausführung der von der Downtown-Lower Manhattau Association vorbereiteten Pläne sein werden. Die Bauvorhaben für weitere Arbeitsplätze, für Siedlungen und Parkplätze und für die Autostraßen, welche die Siedlungsbewohner an den Wochenenden aus dem Bezirk hinausbringen sollen, werden nach den Schätzungen der Planer eine Milliarde öffentlicher und privater Mittel in Anspruch nehmen! Die extreme Situation des ständig unausgeglichenen Betriebs in Lower Manhattau macht eine Reihe von ernüchternden Prinzipien anschaulich, die auch auf andere Bezirke anwendbar sind. Kein Bezirk kommt - ganz gleich, wie solide er an sich ist, wie gut sein Ruf, wie dicht seine Bevölkerung für irgendeinen bestimmten Zweck ist- um die Notwendigkeit herum, daß Menschen ihn den ganzen Tag über benutzen, sollen nicht seine potentiellen Möglichkeiten, Mannigfaltigkeit zu erzeugen, behindert werden. Mehr noch: selbst wenn ein Bezirk von vornherein für eine bestimmte Funktion bestimmt ist, ob nun für Arbeit oder für Wohnen, und wenn alles, was dieser Funktion dient, vorhanden zu sein scheint, so ist er, wenn er auf diese eine Funktion beschränkt bleibt, praktisch außerstande, alles Notwendige zu bieten. 101

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Es sollte im vorigen deutlich geworden sein, daß es zwei verschiedene Arten von Mannigfaltigkeit gibt. Primäre Mannigfaltigkeit ist Mannigfaltigkeit derjenigen primären Funktionen, die Menschen an einen bestimmten Ort bringen oder dort verankern. Büros und Fabriken sind primäre Funktionen. Auch Wohnungen. Manche Orte für Unterhaltung, Bildung und Erholung sind primäre Funktionen. In einem gewissen Grade, d. h. für einen beträchtlichen Teil ihrer Benutzer, gehören auch viele Museen, Bibliotheken und Kunstgalerien dazu, aber nicht alle. Vom äußeren Eindruck her oder aus anderen Anzeichen möglicher Wichtigkeit kann man nie beurteilen, wie wirksam eine primäre Funktion als Anziehungspunkt für die Menschen ist. So hat beispielsweise das Hauptgebäude der öffentlichen Bibliothek in Philadelphia, das in einem monumentalen Kulturzentrum eingekeilt ist, weniger Benutzer als drei seiner Zweigstellen zusammengenommen. Bibliotheken sind wie zahlreiche andere kulturelle Unternehmen eine Kombination von primärer und Gelegenheitsnutzung und leisten am meisten, wenn sie diese beiden Attribute auch besitzen. Nach Größe und äußerer Erscheinung und in bezug auf die Bücherzahl ist das Hauptgebäude der Bibliothek wesentlich bedeutender als eine Nebenstelle. Aber als Funktion der Großstadt ist die kleine Nebenstelle entgegen allem äußeren Anschejn wichtiger. Man muß den Begriff Leistung vom Benutzer aus verstehen, wenn man die Funktion primärer Nutzung ermessen will. Jede primäre Nutzung ist von sich aus im Erzeugen von Mannigfaltigkeit verhältnismäßig unwirksam. Fällt sie mit einer anderen primären Nutzung zusammen, die während des gleichen Zeitraums Menschen in die Straßen bringt, ist nichts erreicht. Ist sie aber mit einer anderen primären Nutzung kombiniert, welche die Menschen zu anderen Zeiten in die Straßen bringt, dann können die Wirkungen wirtschaftlich anregend und fördernd sein: eine fruchtbare Umgebung für sekundäre Mannigfaltigkeit. Sekundäre Mannigfaltigkeit ist eine Bezeichnung für Unternehmensgruppen, die als Reaktion auf das Vorhandensein primärer Funktionen entstanden sind. Wenn diese sekundäre Mannigfaltigkeit nur einzelnen primären Funktionen dient, trägt sie den Keim des Versagens in sich*. Wenn sie gemischten primären Funktionen dient, hat sie die Möglichkeit der Leistungsfähigkeit und kann unter. günstigen Umständen zur höchsten Blüte kommen. Darum muß hier eine weitere Unterscheidung getroffen werden. Je intensiver gemischt und daher leistungsfähiger die Reservoire der Benutzer sind, desto mehr Dienste und Geschäfte können existieren, die ihre Kundschaft aus allen möglichen Schichten der Bevölkerung beziehen. Wenn eine sekundäre Mannigfaltigkeit in genügendem Maße gedeiht und über ausreichend Attraktionen an Einmaligem oder Ungewöhnlichem verfügt, kann sie selbst durch ihre Häufung zu einer primären Funktion werden; das kommt jedoch selten vor. Wenn sie von Dauer sein und ihre Lebendigkeit wachsen und sich wan*Einkaufszentren, die nur für den primären Nutzen von Wohngebieten da sind, haben mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie der Handel in Lower Manhattan. Die Situation ist nur hinsichtlich der Verkaufszeiten umgekehrt. Viele Einkaufszentren schließen daher am Ende des Vormittags und haben abends geöffnet. lO!l

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dein soll, muß sie ihre ursprüngliche Basis von gemischten primären Funktionen behalten, also die Nutzung durch Leute, die aus gegebenen Anlässen den ganzen Tag über vorhanden sind. Das trifft sogar auf die Geschäfte der Innenstädte zu, die ja in erster Linie wegen der gemischten primären Funktion dort sind und die, wenn auch nur allmählich, an Boden verlieren, sobald das Gleichgewicht mit diesen primären Funktionen ernsthaft bedroht ist. Die Mischungen primärer Funktionen, wenn sie Mannigfaltigkeit erzeugen sollen, müssen wirksam sein. »Wirksamkeit« bedeutet zunächst, daß die Menschen, welche die Straßen zu verschiedenen Zeiten des Tages benutzen, tatsächlich dieselben Straßen benutzen müssen. Wenn ihre Wege verschieden sind oder voneinander getrennt werden, besteht in Wirklichkeit keinerlei Mischung. Wirksamkeit setzt außerdem voraus, daß die Menschen, die dieselben Straßen zu verschiedenen Zeiten benutzen, zum Teil auch dieselben Dienste und Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen wollen. Unter allen diesen Menschen dürfen die einen, die aus dem einen Grund da sind, nicht mit denen, die aus einem anderen Grund da sind, vollkommen unvereinbar sein. Ein extremes Beispiel ist die neue Lage der Metropolitan Opera in New York. An der Straße, an der sie liegen soll, liegt außerdem eine Siedlung für niedere Einkommen; eine solche Straße als Berührungsort ist ausgesprochen sinnlos für eine Förderung von Mannigfaltigkeit. Als letztes bedeutet Wirksamkeit noch, daß die gemischte Menge von Menschen auf der Straße während einer bestimmten Zeit in einem vernünftigen Verhältnis zu den Menschen stehen muß, die zu anderen Tageszeiten da sind. Es ist oft beobachtet worden, daß lebendige Bezirke der Innenstadt häufig mit Wohnungen durchsetzt oder ihnen eng benachbart sind und daß sie Unternehmen für den Nachtbetrieb enthalten, die von den Bewohnern frequentiert und gestützt werden. So etwas gibt es, und auf Grund solcher Beobachtungen erwarten viele Großstädte Wunder von Wohnsiedlungen in der Innenstadt; so etwa die Planer von Lower Manhattan. In Wirklichkeit bilden aber die Bewohner lebendiger Bezirke nur den Bruchteil eines sehr komplexen Reservoirs mit einem kontinuierlichen Betrieb, der tagsüber und nachts vernünftig ausgeglichen ist. Genausowenig stellen ein paar tausend Arbeiter, die in Bezirke von zehn- oder hunderttausend Einwohnern gestreut werden, einen wirksamen Ausgleich dar, weder zahlenmäßig noch in anderer Beziehung. Ein einsames Bürogebäude mitten unter Theatern hat praktisch kein Gewicht. Bei der Mischung primärer Funktionen zählt die tägliche, die gewöhnliche Mischung von Menschen. Darauf allein kommt es an. Und das ist ein konkretes wirtschaftliches Problem und nicht eine Frage unbestimmter »atmosphärischer« Wirkung. Die eingehende Behandlung der Probleme von Innenstädten war aus zwei Gründen notwendig. Die unzureichende Mischung primärer Nutzungen ist ein typischer Mangel der Innenstädte und häufig ihr einziges Grundübel. Die meisten Innenstädte erfüllten in der Vergangenheit alle vier genannten Voraussetzungen für eine Mannigfaltigkeit. Deshalb sind sie ja auch zu Innenstädten geworden. Heute erfüllen viele nur noch drei dieser Voraussetzungen, sie haben (aus Gründen, die in Kapitel 13 behandelt werden) das Gewicht überwiegend auf den Faktor Arbeit ge-

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legt und halten nach Arbeitsschluß zuwenig Menschen. Das Ergebnis ist das, was im offiziellen Planungsjargon, der nicht mehr von »Innenstädten« spricht, allgemein »Hauptgeschäftsviertel« heißt. Ein Hauptgeschäftsviertel, das seinen Namen verdient und erfüllt, ist eine Niete. Zwar haben nur wenige Innenstädte (bislang) jenen Grad an Unausgeglichenheit erreicht, der in Lower Manhattan vorhanden ist. Die meisten haben außer den dort arbeitenden Menschen noch ein ansehnliches Publikum, das dort während der Arbeitszeit und an Sonnabenden einkauft. Dennoch befinden sich die meisten unserer Innenstädte bereits auf dem Weg zur Unausgeglichenheit und besitzen weniger potentielle Möglichkeiten, dem zu steuern, als Lower Manhattan. Der zweite Grund dafür, die Notwendigkeit gemischter primärer Nutzung in den Innenstädten mit Nachdruck hervorzuheben, ist die direkte Auswirkung der Innenstädte auf andere Stadtteile. Wahrscheinlich ist sich jeder über eine gewisse allgemeine Wechselbeziehung zwischen dem Herz der Großstadt und ihren übrigen Organen klar. Wenn das Herz einer Großstadt geschwächt oder gar zerrissen wird, leidet die ganze Stadt als soziale Nachbarschaft darunter. Menschen, die zusammenkommen sollten, tun es bei fehlenden Möglichkeiten nicht; Ideen und Menschen, die zusammengehören, treffen häufig nur durch die Vermittlung eines Zentrums öffentlicher Vitalität zusammen. Das Gewebe des öffentlichen Lebens entwickelt Lücken, die sich eine Großstadt nicht leisten kann. Ohne eine kräftiges zentrales Herz, das alles belebt, neigt die Großstadt dazu, eine Ansammlung isolierter Interessen zu werden. Sie ist zu schwach, um soziale, kulturelle und wirtschaftliche Möglichkeiten zu eröffnen, die größer sind als die Summe ihrer einzelnen Teile. Diese Betrachtungen sind wichtig, aber hier geht es im Augenblick um die spezifisch wirtschaftliche Wirkung, die von einem kraftvollen Stadtzentrum auf die anderen Stadtbezirke ausstrahlt. Die besonderen Vorteile der Großstädte wirken sich am intensivsten und zuverlässigsten dort aus, wo sich die komplexesten Reservoire an Nutzungen bilden. Aus solchen fruchtbaren Bezirken entwickeln sich wirtschaftliche Möglichkeiten, die später ihren Einfluß auch auf die anderen Teile der Stadt ausdehnen können. Dieser Kraftstrom ist sehr gut von Richard Ratcliff, Professor für Bau- und Bodenwirtschaft an der Universität Wisconsin, beschrieben worden: »Dezentralisation ist ein Symptom von Degeneration und Verfall nur dann, wenn sie ein Vakuum zurückläßt. Wenn Dezentralisation Ergebnis zentripetaler Kräfte ist, ist sie gesund. Manche der nach außen strebenden Bewegungen gewisser großstädtischer Funktionen finden deshalb statt, weil diese Funktionen aus dem Zentrum hinausgestoßen werden, und nicht, weil sie einem Sog der äußeren Bezirke nachgeben.« In einer gesunden Stadt, stellt Professor Ratcliff fest, werden ständig die weniger intensiven Funktionen durch die intensiveren ersetzt. »Künstliche Streuung ist ein anderes Problem. Es birgt die Gefahr gänzlichen Verlustes von Leistungsfähigkeit und Produktivität.« In New York hat, wie Raymond Vernon in Anatomy of a Metropolis nachweist, die intensive Entwicklung mancher Teile von Manhattan zu Angestelltenbezirken viele Fertigungsbetriebe in andere Bezirke hinausgestoßen. 104

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Es gibt zwei verschiedene Kategorien von Funktionen, die aus anregenden und vitalen Bezirken hinausgedrängt zu werden pflegen. Handelt es sich um Nutzungen sekundärer Mannigfaltigkeit, die den Menschen dient, die durch Mischungen primärer Nutzung angezogen worden sind, so müssen sie andere Orte finden, an denen eine ähnliche sekundäre Mannigfaltigkeit gedeihen kann; das müssen wieder Orte mit Mischungen primärer Nutzung sein, oder diese Unternehmen werden eingehen. Ihre Ortsveränderung kann für die Großstadt neue Chancen bedeuten, denn sie trägt zu größerer und schnellerer Heranbildung eines weiteren komplexen Großstadtlebens bei. Obwohl diese Bewegung für die Stadt wertvoll ist, wenn sie nicht mangels eines ausreichenden wirtschaftlichen Nährbodens verlorengeht, so ist sie doch weniger wichtig und entscheidend als das Hinausdrängen primärer Mannigfaltigkeit aus intensiven Stadtbezirken. Wenn primäre Nutzungen, wie Fabriken oder Fertigungsbetriebe, über die Ränder von Reservoiren drängen, die nicht mehr alles, was sie erzeugen, absorbieren können, dann können sie in anderen Bezirken wieder zu primären Nutzungen werden. Ihre Gegenwart kann dann wieder zur Bildung neuer Reservoire beitragen. Larry Smith, ein anderer Bodenwirtschaftler, hat sehr treffend die riesigen Bürogebäude einer Stadt als Schachfiguren bezeichnet. »Sie haben Ihre Schachfiguren doch schon alle verbraucht«, soll er einem Planer gesagt haben, der versuchte, eine unrealistische Anzahl von Orten mit Phantasieplänen für neue Bürogebäude zu beleben. Jede primäre Nutzung, ob es sich um Büros, Wohnungen oder Konzertgebäude handelt, ist eine Schachfigur. Die Figuren müssen im Einklang miteinander bewegt werden. Wie beim Schachspielen kann ein Bauer zu einer Königin werden. Aber Städtebau unterscheidet sich vom Schachspiel: die Anzahl der Figuren ist nicht durch Regeln festgelegt, und wenn die Figuren gut eingesetzt werden, kann ihre Zahl zunehmen. Die öffentliche Baupolitik kann nicht einfach Privatunternehmen, die für die Menschen nach Arbeitsschluß da sind und die Gegend beleben, in die Innenstädte hineinstecken, noch kann sie in irgendeiner Weise diese Dienste in der Innenstadt festhalten. Aber indirekt kann die Baupolitik das Wachstum solcher Unternehmen durch einen klugen Einsatz ihrer eigenen Schachfiguren beeinflussen. Carnegie Hall auf der Siebenundfünfzigsten Straße West in New York ist ein schlagendes Beispiel dafür. Sie hat sich trotz des ernsthaften Handikaps zu langer Baublocks auf dieser Straße als Anreiz bemerkenswert gut bewährt. Die Gegenwart von Carnegie Hall, die der Straße nachts intensive Nutzung bringt, hat im Laufe der Zeit andere Unternehmen angezogen, die auf den Nachtbetrieb angewiesen sind: zwei Filmtheater. Und weil Carnegie Hall ein musikalischer Mittelpunkt ist, hat sie die Niederlassung vieler kleiner Musik-, Tanz- und Schauspielschulen gefördert. All dies ist mit Wohnungen gemischt. Der kleinen und größeren Bürogebäude wegen hat die Straße auch tagsüber Betrieb, und schließlich ermöglichte sie auf Grund dieses Zwei-Schichten-Verkehrs eine beträchtliche sekundäre Mannigfaltigkeit, die wiederum selbst zu einem Anziehungspunkt geworden ist. Die gleichmäßige Verteilung der Besucher hat eine ganze Skala verschiedenster Restaurants 105

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angelockt, und zwischen den Restaurants liegen Geschäfte, in denen man seltene Münzen, alten Schmuck, Bücher, Schuhe, Kunstbedarf, Hüte, Blumen, Feinschmekker-Spezialitäten kaufen kann. Carnegie Hall ist somit eine zugkräftige Schachfigur, die in Harmonie mit anderen Schachfiguren wirksam ist. Das Destruktivste, was man sich für die gesamte Nachbarschaft vorstellen könnte, wäre, Carnegie Hall zu entfernen und sie durch ein weiteres Bürogebäude zu ersetzen. Und doch ist es genau das, was man in Verfolg einer umfassenderen Planung vorhatte. Der Plan lief darauf hinaus, sämtliche eindrucksvollen oder potentiell wirksamen kulturellen Schachfiguren aus dem Gesamtspiel der Stadt herauszunehmen und sie auf einer Planungsinselnamens Lincoln Center for Performing Arts zu isolieren. Carnegie Hall ist im letzten Augenblick dank zäher Einsprüche seitens der Bürgerschaft gerettet worden; sie wird allerdings nicht mehr das New York Philharmonie Orchester beherbergen, das sich damit von der »gewöhnlichen« Stadt absetzt. Es ist wirklich eine klägliche Planungsmethode, die im Zuge gedankenloser Verwirklichung von Traumvorstellungen blind ein vorhandenes Nutzungsreservoir zerstören und automatisch neue Stagnierungsprobleme auslösen würde. Es gibt viele Orte in New Yorks inneren Stadtbezirken, die intensiven Tagesbetrieb haben und nachts geradezu unheimlich ausgestorben sind und die jene Schachfiguren dringend brauchen, die jetzt mit dem neuen Plan gänzlich aus dem Spiel herausgenommen und im Lincoln Center konzentriert werden. Das Gebiet um das neue Bürozentrum auf der Park Avenue, zwischen Grand Central Station und der Neunundfünfzigsten Straße, ist eine solche Gegend; das Einkaufszentrum auf der Vierunddreißigsten Straße und dieStraBen südlich von derGrandCentralStation sind eine andere. Viele Bezirke, die früher lebendig waren, verloren ihre einstige Mischung primärer Nutzung und damit deren Anziehungskraft und wirtschaftliche Vorteile und sind heute in traurigem Maße heruntergekommen. Aus diesem Grunde haben Pläne für Kultur- oder Verwaltungszentren, abgesehen davon, daß sie im allgemeinen auch noch in sich selbst unausgeglichen sind, geradezu tragische Konsequenzen für die Städte. Sie entfernen Funktionen aus Stadtteilen, für die sie notwendig sind und die ohne sie krank werden. Die erste amerikacisehe Großstadt, die einen vom Stadtleben abgetrennten kulturellen Bezirk geplant hatte, ist Boston. Im Jahre 1859 rief ein Committee of Institutes nach einer »Cultural Conservation«, einer Art Kultur-Museum; ein bestimmter Teil der Stadt sollte »einzig für Institutionen bildungsmäßigen, wissenschaftlichen und künstlerischen Charakters« bestimmt sein. Es war eine Bewegung, die ziemlich genau mit dem Beginn von Bostons langem, allmählichem Niedergang als kulturell führender Stadt unter den amerikanischen Großstädten zusammenfiel. Sicher ist jedenfalls, daß Bostons Innenstadt ungeheuer unter dem Mangel einer guten Mischung primärer Funktionen gelitten hat, vor allem unter dem Ausfall jeglichen Nachtbetriebs und unter dem Fehlen lebendiger (nicht musealer oder vergangenheitsbeflissener) kultureller Funktionen. Von Leuten, die sich um die Beschaffung von Mitteln für große kulturelle Unternehmen bemühen, wird immer wieder behauptet, die reichen Geldgeber seien viel 106

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eher bereit, für große abgetrennte Inseln mit Kulturmonumenten großzügig zu spenden als für einzelne kulturelle Institutionen innerhalb des Stadtgeflechts. Dieses Argument hatte auch bei den Planungen für New Yorks Lincoln Center for Performing Arts Gewicht. Vielleicht entspricht dieses Argument dem Sachverhalt; überraschend wäre es nicht, denn auch die Reichen sind heutzutage wohlinformiert und hören seit Jahren von den Fachleuten, daß Siedlungsplanung die einzig lohnende Stadtplanung sei. Unter den Planern von Innenstädten und den Wirtschaftsgruppen, die mit ihnen zusammenarbeiten, kursiert das Märchen (oder Alibi) von den Amerikanern, die alle abends zu Hause bleiben, um vor dem Fernsehapparat zu sitzen. Es wird einem unter anderem auch in Cincinnati erzählt, wenn man sich dort nach der Innenstadt erkundigt, die abends tot ist und daher auch tagsüber nur mit halber Kraft lebt. Aber die Leute aus Cincinnati besuchen jährlich ungefähr ein halbes millionmal das meist teure Nachtleben auf der anderen Seite des Flusses, in Covington, Kentucky; Covington hat dafür seine eigene Art schlimmer funktioneller Unausgeglichenheit. Auch in Pittsburgh will man mit dieser Entschuldigung die tödliche Leere der Innenstadt erklären. In Pittsburghs Innenstadt sind die Parkplätze nach acht Uhr abends durchschnittlich nur zu 10 bis 20 Prozent ihrer Kapazität besetzt, während nur ein paar Kilometer weiter, im Bezirk Oakland, das Parkproblem teuflisch ist. »Kaum ist eine Schicht draußen, kommt die nächste«, stöhnt ein Parkplatzwächter dort. Das ist begreiflich. Das Pittsburgher Symphonieorchester, eine Operettenbühne, kleine Theater, ein elegantes Restaurant, zwei größere Klubs, die Hauptabteilung der Carnegie-Bibliothek, ein Museum, mehrere Kunstgalerien und andere Institutionen mehr sind sämtlich in Oakland. Weil Oakland aber seinerseits ein großes Maß an Unausgeglichenheit zugunsten der arbeitsfreien Zeiten hat, steht es vor entgegengesetzten Problemen. So hat Pittsburgh weder in Oakland noch in der Innenstadt irgendeinen wirklich guten Boden für die Entwicklung der wichtigen großstädtischen Mannigfaltigkeit sekundärer Art. Es gibt Standardgeschäfte und Abwechslung auf billiger Stufe in der Innenstadt, und das wenige, was überhaupt an etwas interessanterer wirtschaftlicher Vielfalt vorhanden ist, hat sich für Oakland entschieden; aber auch Oakland ist blutleer und belanglos, weil es weit davon entfernt ist, ein wirksames Reservoir vielfältiger Nutzung zu bieten. Die amerikanischen Innenstädte kommen nicht etwa deshalb herunter, weil sie Anachronismen darstellen oder weil die Menschen durch die Autos aus ihnen herausgezogen worden sind - sie werden vielmehr gedankenlos gemordet. Teilweise ist das planmäßige Baupolitik, die unter dem Mißverständnis arbeitet, die Trennung von Funktionen für Arbeit und Muße sei ordnungsgemäße, gute Stadtplanung. Schachfiguren von primärer Funktion können natürlich nicht einfach künstlich über die Stadt verstreut werden; man darf auch nicht nur die Notwendigkeit der Verteilung von Menschen auf den Straßen zu allen Zeiten des Tages im Auge haben, man muß ebenso die besonderen Funktionen und Bedürfnisse dieser Figuren selbst berücksichtigen und ihre Lage danach beurteilen, was für sie gut ist. 107

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Ein anschauliches Beispiel für die bösen Folgen, die sich aus der Nichtbeachtung des Notwendigen ergeben können, hat gerade der, wie wir ihn nennen wollen, Streitfall zwischen dem Opernhaus und dem Gerichtsgebäude in San Franzisko geliefert. Vor fünfundvierzig Jahren fing man in San Franzisko an, ein bürgerliches Verwaltungszentrum zu bauen, das seither ständig Schwierigkeiten gemacht hat. Das Zentrum liegt in der Nähe der Innenstadt und sollte natürlich als Anziehungspunkt für die Innenstadt gelten; statt dessen hat es alle Vitalität um sich herum abgestoßen und jene Leere um sich verbreitet, die alle abgestorbenen und künstlichen Orte kennzeichnet. Das Zentrum schließt unter anderen ziemlich willkürlich in Parks gelegenen Objekten das Opernhaus, das Rathaus, die öffentliche Bibliothek und verschiedene Bürohäuser städtischer Behörden ein. Wenn wir die Oper und die Bibliothek als Schachfiguren betrachten - in welcher Weise hätten sie der Stadt am besten nützen können? Beide wären intensiv genutzt worden, wenn sie in enger Verbindung mit dem lebhaften Büro- und Geschäftsbetrieb der Innenstadt hätten wirken können. Diese Wirkung und damit auch die sekundäre Mannigfaltigkeit, die durch sie gefördert worden wäre, hätten auch für sie selbst eine angemessene Umgebung hergestellt. Aber die Oper befindet sich zusammenhanglos in nächster Nachbarschaft des Städtischen Arbeitsamts, und die Bibliothek dient als Anlehnwand für Tagediebe. Leider führt bei solchem Stand der Dinge der erste Fehler stets zum nächsten. Im Jahre 1958 mußte ein Ort für ein Gerichtsgebäude gefunden werden. Der logische Ort wäre, wie man sofort erkannte, irgendwo in der Nähe der übrigen städtischen Behörden gewesen; den Rechtsanwälten und allem, was mit ihren Geschäften zusammenhängt, wäre mit dieser Nachbarschaft gedient gewesen. Aber man erkannte auch, daß ein Gerichtsgebäude mit Sicherheit eine Nachbarschaft von abbruchreifen Gebäuden und zweitklassigen Kneipen mit sich bringt. Das wiederum wäre kaum eine angemessene Nachbarschaft für die Oper gewesen. Man hat die Frage dadurch gelöst, daß man das Gerichtsgebäude in gehörigem Abstand von den Behörden baute, womit die Oper vor weiterer Befleckung durch das Alltagsleben bewahrt wurde. Solche überflüssigen Schwierigkeiten entstehen keineswegs durch Widersprüche zwischen den Erfordernissen der Stadt als Organismus und den Ansprüchen der zur Diskussion stehenden Objekte. Sie haben ihre Ursache meistens in willkürlichen Theorien, die in Widerspruch zu den Interessen beider Seiten stehen, zu denen der Stadt und zu denen der Objekte. In diesem Fall handelte es sich um eine vorwiegend ästhetische Theorie, aber gerade diese Art unangemessener Theorien spielt eine wichtige und ständige Rolle bei der Lahmlegung der ureigensten Funktion der Großstadt: der Mannigfaltigkeit primärer Nutzung. Mehrere Visionen pflegen in diesem Zusanimenhang aufzutauchen. Die eine - die Vision isolierter »Ehrenmonumente« - widerspricht den funktionellen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der Großstädte und ebenfalls den Funktionen der Objekte. Die andere Vision - die Stadt mit individuellen Brennpunkten zu mischen, um die herum sich das tägliche Gewebe der Stadt angliedert - steht im Einklang mit den wirtschaftlichen und anderen funktionellen Verhaltensweisen der Großstadt. 108

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Jede primäre Nutzung der Großstadt, ob sie nun monumental oder nicht maskiert ist, braucht das intime Geflecht der »profanen« Stadt für die bestmögliche Ausübung der eigenen Funktion. Das Gerichtsgebäude in San Franziska braucht um sich herum die eine Art von Geflecht sekundärer Nutzung, die Oper braucht eine andere Art. Und das Gewebe der Stadt als Ganzes braucht beide primären Funktionen selbst und außerdem noch ein weniger spektakuläres Gemisch von Nutzungen, sonst ist sie kein Gewebe, sondern, wie unsere Wohnsiedlungen, »profane« Monotonie, die nicht sinnvoller ist als die »geheiligte« Monotonie des Verwaltungszentrums von San Francisco. Für Stadtbezirke, die vorwiegend oder zum großen Teil aus Wohnungen bestehen, gilt die gleiche Regel vom Vorteil sekundärer Mannigfaltigkeit wie für Innenstädte. Aber die wichtigste Schachfigur, die in diesen Bezirken gebraucht wird, ist die primäre Funktion von Arbeitsstätten. Nur beide Funktionen gemeinsam können, wie wir am Beispiel von Rittenhause Square in Philadelphia und der Hudson Street in New York sahen, Straßen zu allen Tageszeiten lebendig erhalten. Wie kann man bereits vorhandene Arbeitsplätze erfolgreich ausnutzen und darauf aufbauen? Hier müssen wir zwischen typischen Innenstädten und typischen Wohnbezirken unterscheiden. In den Innenstädten stellt der Mangel an genügender Mischung primärer Nutzung meistens den schwerstwiegenden Grundfehler dar. In den meisten Wohnbezirken, zumal in den grauen Zonen, ist der Mangel an primärer Nutzung im allgemeinen nur einer von mehreren Grundfehlern, wenn auch der wichtigste. Es gibt sogar Beispiele dafür, daß die vorhandene Mischung der Funktionen Arbeiten und Wohnen kaum dazu beiträgt, Vielfältigkeit oder Vitalität hervorzubringen. Sehr viel Schuld daran haben die zu langen Baublocks in den Wohnbezirken, und manchmal sind diese Gegenden auch einfach rein zahlenmäßig nicht dicht genug besiedelt. Es fehlen ihnen also mehr als nur eine der vier Voraussetzungen für die notwendige Mannigfaltigkeit. Ohne den nächsten drei Kapiteln zu sehr vorzugreifen, ist schon hier folgendes festzustellen: Von den vier Voraussetzungen für eine Mannigfaltigkeit sind zwei relativ einfach herzustellen bei der Heilung grauer Zonen: alte Gebäude sind gewöhnlich bereits vorhanden, und zusätzliche Straßen einzuführen, stellt keine unüberwindliche Schwierigkeit dar. Die anderen beiden notwendigen Voraussetzungen - Mischung primärer Mannigfaltigkeit und ausreichende Häufung von Wohnungen - sind jedoch, wenn sie einmal fehlen, wesentlich schwerer herzustellen. Vernünftigerweise soll man dort beginnen, wo eine der beiden Bedingungen bereits erfüllt oder ausbaufähig ist. Die Bezirke, denen am schwersten zu helfen ist, sind die grauen Wohnzonen ohne ausbaufähige Arbeitsstätten und ohne ausreichende Bevölkerungsdichte. Sie können kaum anders zu Kräften kommen als im Zuge der Sanierung anderer grauer Zonen, in denen eine Mischung primärer Nutzung bereits im Keim vorhanden ist. Außerdem können sie von einer Kräftigung der Innenstädte profitieren. Man sollte annehmen, daß Straßen oder Bezirke mit guter Mischung von primären Nutzungen, also Straßen und Bezirke mit großstädtischer Mannigfaltigkeit, als Kostbarkeiten behandelt und nicht durch Herausziehen ihrer Hauptfunktionen 109

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zerstört werden. Leider jedoch scheinen die Planer gerade solche beliebten und anziehenden Bezirke als unwiderstehliche Einladung zur Anwendung der zerstörensehen Methoden orthodoxer Stadtplanung aufzufassen. Mit genügend Bundesmitteln und Macht ausgestattet, kann man die Mischung primärer Nutzung sehr leicht planmäßig ausrotten, schneller als sie von selbst gewachsen ist. Darauf stößt man in der Tat heute allerorten.

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Die Notwendigkeit kurzer Baublocks

Bedingung 2: Die meisten Baublocks müssen kurz sein; das heißt, es muß zahlreiche Möglichkeiten für Lang- und Querverkehr geben. Die Vorteile kurzer Baublocks sind einfach einzusehen. Jemandem, der zum Beispiel in einem langen Baublock auf der Achtundachtzigsten Straße West in Manhattan wohnt, zwischen Central Park West und Columbus Avenue, stehen immer nur zwei mögliche Wege zur Verfügung: entweder geht er an seinem zweihundertfünfzig Meter langen Block entlang nach Westen, Ull1 dort zur Bushaltestelle oder zu den Geschäften auf der Columbus Avenue zu ko=en, oder er geht den gleichen langen Block entlang nach Osten. Es ist gut möglich, daß er jahrelang niemals in die Parallelstraßen nebenan ko=t, in die Siebenundachtzigste und Neunundachtzigste Straße (Bild 1). 17

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Diese Situation hat ernste Folgen. In sich abgeschlossene Straßennachbarschaften sind, wie wir wissen, sozial gesehen häufig hilflos. Ein Einwohner der Achtundachtzigsten Straße hätte allen Grund zu bezweifeln, daß die Siebenundachtzigste oder die Neunundachtzigste Straße mit ihren Bewohnern irgend etwas mit ihm zu tun hätten. Wirtschaftlich gesehen, ist diese Nachbarschaft in gleicher Weise eingeengt. Die Leute auf diesen Straßen können ein Reservoir wirtschaftlicher Nutzung nur dort 110

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bilden, wo ihre langen, voneinander getrennten Wege zu einem gemeinsamen Strom zusa=enkommen, in diesem Fall in der Columbus Avenue. Und weil die Columbus Avenue der einzige Ort in der Nähe ist, auf dem Zehntausende von Leuten aus diesen stagnierenden, langen NebenstraßenbloCks zusammentreffen und ein Nutzungsreservoir bilden können, zeigt die Columbus Avenue auch die Monotonie endloser Warenhäuser und das deprimierende Vorherrschen ko=erzieller Standardisierung. In dieser Nachbarschaft gibt es geographisch derart wenig Straßenfronten, an denen Handel überhaupt existieren kann, daß er ungeachtet der Branche oder des eigentlichen Nahbedarfs einfach genormt sein muß. Einzige Umgebung sind nach allen Seiten hin trostlose lange Streifen von Ode und von (abends) Dunkelheit. Eine typische Konstellation in Bezirken mit schlechter Funktion. Die strenge physische Trennung der regulären Benutzer der einzelnen Straßen trifft natürlich ebenso auf die fremden Besucher zu, die auch i=er nur die gleichen Straßen benutzen. Diese Situation ändert sich schlagartig, wenn man diese langen BaubloCks durch eine Querstraße zerschneidet; das dürfte aber keine dieser sterilen »Promenaden« sein, an denen SiedlungsbloCks so reich sind, sondern eine Straße mit Gebäuden, in denen sich an günstigen Plätzen Handelsunternehmen oder Restaurants und Bars entwickeln könnten. Wäre eine solche zusätzliche Straße vorhanden, dann wären die Bewohner der Achtundachtzigsten Straße nicht mehr nur auf den gleichen eintönigen Weg zu einem gegebenen Ziel angewiesen. Sie hätten mehrere mögliche Wege zur Auswahl. Die Nachbarschaft hätte sich ihnen im wortwörtlichen Sinne erschlossen.

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Das gleiche würde für die übrigen Parallelstraßen gelten. Statt einzelner isolierter Wege gäbe es dann Wege, die sich kreuzen und mischen (Bilder 2 und 0 ). Das Angebot an brauchbaren Orten für Geschäfte würde beträchtlich zunehmen. Vermutlich genügte ein Drittel der Bewohner jeder dieser Straßen, um Unternehmen wie einem Zeitungsverkauf und einer Bar als öffentlichem Treffpunkt die Existenzgrundlage zu geben. Aber solange die Leute der verschiedenen Straßen nie anders ihre Kaufkraft zusa=enlegen können als in dem einzigen Strom auf der Colum111

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bus Avenue, ist jede Vielfalt an Diensten und wirtschaftlichen Möglichkeiten, ist ein öffentliches Leben ausgeschlossen. In solchen langen Baublocks werden die Menschen, die aus Gründen gleicher primärer Funktionen in der Nachbarschaft wohnen, zu sehr voneinander getrennt gehalten, um eine vernünftige großstädtische Mischung der Nutzung zu bewirken. Gleiches gilt für die Menschen, die auf Grund einer Mischung primärer Funktionen diese Straßen bevölkern. Die langen Blocks zwingen die Menschen, die sich gemeinsam in kleinem Umkreis aufhalten, in Straßen, die in sich selbst abgeschlossen sind, so daß die verschiedenen Nutzungen praktisch alle voneinander getrennt bleiben. Daß eine Querstraße die gemischte Nutzung provozieren kann, zeigt sich am RockefeUer Center, das drei lange Baublocks zwischen der Fünften und Sechsten Avenue einnimmt. RockefeUer Center hat jene zusätzliche Querverbindung (Bild 4).

Wenn die Gebäude als Reihenbauten zwischen der Fünften und Sechsten Avenue in einem Zuge durchgingen, ergäben sich abgeschlossene Straßen, die nur über die beiden Avenuen hinweg an ihren Endpunkten Berührung miteinander hätten. Es ist jedoch die verbindende Querstraße vorhanden, und nach Norden zu wird der dadurch fließende Straßenbetrieb in verminderter Form noch weitergeführt durch eine Passage. Nach Süden zu endet das Nutzungsreservoir des fließenden Betriebs abrupt auf der Achtundvierzigsten Straße. Bereits die nächste Straße dahinter, die Siebenundvierzigste Straße, ist in sich abgeschlossen und besteht nur aus Großhandelsbetrieben, was für eine Straße in unmittelbarer Nachbarschaft eines der größten Anziehungspunkte der Stadt eine einigermaßen erstaunliche und unangemessene Nutzung ist. Aber ebenso wie die Benutzer der Siebenundachtzigsten und Achtundachtzigsten Straße können die Benutzer der Siebenundvierzigsten und Achtund11~

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vierzigsten Straße jahrelang in der Nachbarschaft leben, ohne ihre Straßen gegenseitig jemals zu betreten. Lange Baublocks behindern von Natur aus die potentiellen Möglichkeiten der Großstadt in Hinsicht auf Unternehmen und Experimente, die auf größere Sammelbecken für das vorbeigehende Publikum angewiesen sind. Lange Baublocks entsprechen nicht dem Prinzip, daß die großstädtische Mischung von Nutzungen die Gegenwart vieler Menschen aus verschiedenem Anlaß zu verschiedenen Zeiten des Tages, aber auf denselben Straßen voraussetzt. Von den Hunderten langer Baublocks in Manhattan sind nicht mehr als zehn im Laufe der ganzen Zeit lebendiger oder attraktiver geworden. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich zu beobachten, welchen Weg beispielsweise die Ausbreitung der Mannigfaltigkeit und Popularität von Greenwich Viilage geno=en hat und wo beides zum Stillstand geko=en ist. In Greenwich Viilage sind die Mieten seit Jahren stetig gestiegen, und man hat deshalb seit mindestens fiinfundzwanzig Jahren eine Renaissance des direkt nördlich gelegenen, einst eleganten Bezirks Chelsea vorausgesagt. Abgesehen von der Nachbarschaft zu Greenwich Village, verfügte Chelsea über eine ähnliche Mischung der Gebäudetypen und der Wohnungsdichten, und außerdem waren dort ebenfalls Wohnungen und Arbeitsstätten gemischt. Aber die Renaissance blieb aus. Statt dessen stirbt Chelsea langsam hinter Barrieren langer, in sich abgeschlossener Baublocks ab, und sein Abstieg geht schneller voran als seine Sanierung. Heute wird es in großem Umfang abgebrochen und neu aufgebaut und auf diese Weise mit noch größeren und noch monotoneren Baublocks beglückt. Zu gleicher Zeit hat sich Greenwich Viilage weiter ausgedehnt und seine Mannigfaltigkeit und Popularität nach Osten vorgeschoben, wobei der Weg zwischen industriellen Komplexen hindurch unbeirrbar den kurzen Baublocks und der fließenden Straßennutzung folgte; dabei sind die Gebäude in dieser östlichen Richtung weniger schön und scheinbar von geringerem Wohnwert wie die im wiederaufgebauten Chelsea. Dieser Vorgang hat nichts Geheimnisvolles an sich, er ist nichts als eine nüchterne Reaktion auf das, was erfahrungsgemäß für großstädtische Mannigfaltigkeit geeignet ist und was nicht. Ebensowenig geheimnisvoll ist, warum die Entfernung der Hochbahn an der Sechsten Avenue auf der West Side so wenig Veränderung gebracht und so wenig zur Hebung der Popularität der Straße beigetragen hat und warum die Entfernung der Hochbahn an der Dritten Avenue auf der East Side das genaue Gegenteil bewirkte. Die West Side ist durch die langen Baublocks zu einer wirtschaftlichen Monstrosität geworden, zumal die Baublocks in der Nähe des Zentrums liegen, genau dort also, wo sich sonst die wirksamsten Nutzungsreservoire bilden würden. Auf der East Side hingegen, ebenfalls nahe am Zentrum der Insel, gibt es kurze Baublocks und damit viele Straßen. Der Mythos, daß zu viele Straßen »Verschwendung« seien, ko=t natürlich von den Theoretikern der Gartenstadt- und Cite-Radieuse-Planung. Die Leute verdammten die Bodennutzung für Straßenzwecke, weil sie diesen Boden statt dessen für ihre Siedlungswüsten haben wollten. 113

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Ganze Superblock-Siedlungen pflegen sämtliche negativen Eigenschaften der langen Baublocks in oft übersteigerter Form aufzuweisen, obwohl sie meistens reich an Promenadenwegen sind und damit theoretisch Straßen in ausreichender Menge besitzen. Diese Straßen jedoch sind bedeutungslos, da es selten dringende Gründe dafür gibt, daß viele Menschen sie gleichzeitig benutzen. Auch als einfache Alternativmöglichkeiten im Interesse einer Abwechslung der Szenerie versagen sie, weil die Szenerie ja im wesentlichen an jedem Ort einer solchen Siedlung die gleiche ist. Kurze Baublocks und zahlreiche Straßen sind wertvoll, da sie ein Gewebe gemischter Nutzungen für die Bewohner und Besucher einer Nachbarschaft fördern; aber sie sind kein Zweck an sich. Sie sind nur Mittel. Wie die Mischungen primärer Nutzung, können auch kurze Baublocks und zahlreiche Straßen nur durch die Art und Weise ihrer Auswirkungen zu einet Entwicklung großstädtischer Mannigfaltigkeit beitragen.

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Die Notwendigkeit alter Gebäude

Bedingung 0 : In einem Bezirk müssen sich Gebäude verschiedenen Alters und Zustands mischen; darunter müssen sich in einem vernünftigen Verhältnis auch alte Gebäude befinden. In Großstädten können sich funktionsfähige Straßen und Bezirke kaum ohne alte Gebäude entwickeln. Mit alten Gebäuden sind weder Baudenkmäler noch ausgezeichnet und aufwendig renovierte Bauten gemeint, obwohl auch diese sehr brauchbare Elemente sind, sondern einfach ganz gewöhnliche alte Gebäude von minderem Wert und auch heruntergewirtschaftete Gebäude. Wenn ein Stadtbezirk ausschließlich neue Gebäude hat, werden die Unternehmen, die dort existieren können, automatisch auf solche begrenzt, die die hohen Kosten neuer Gebäude tragen können. Die hohen Kosten für bezugsfertige neue Gebäude können entweder durch hohe Mieten eingespielt werden, oder sie werden aufgebracht in Form einer Selbstbeteiligung des Eigentümers und durch Amortisation der Kapitalkosten des Baus. Aufgebracht müssen diese Kosten werden, ganz gleich in welcher Weise. Aus diesem Grund müssen Unternehmen, welche die Kosten für Neubauten aufbringen, verhältnismäßig hohe Zinslasten tragen - hoch im Verhältnis zu denen, die alte Gebäude erfordern. Nur Unternehmen, die gut eingeführt sind, einen großen Umsatz haben oder von der öffentlichen Hand unterstützt werden, können sich im allgemeinen die hohen Kosten für bezugsfertige neue Gebäude leisten: markengebundene Kettenläden und Kettenrestaurants, Banken, Supermarkets usw. Aber nachbarschaftlieh genutzte Bars, kleinere oder exotische Re114

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staurants und bescheidenere Unternehmen brauchen ältere Gebäude. Vielleicht ist es anders noch wichtiger: Hunderte gewöhnlicher Unternehmen, die für die Sicherheit und das öffentliche Leben auf den Straßen und in den Bezirken wichtig sind, können in alten Gebäuden gut existieren, werden aber unerbittlich ruiniert, sobald sie einen hohen Zinsendienst für einen Neubau leisten müssen. Selbst Unternehmen, die sich Neubauten in Großstädten leisten können, brauchen alte Gebäude in ihrer unmittelbaren Nähe. Sonst sind sie nur Teil einer undifferen· zierten Umgebung, die wirtschaftlich zu begrenzt und damit in ihrer Funktion zu beschränkt ist, um lebendig und interessant zu sein. Wenn Mannigfaltigkeit gedeihen soll, müssen Unternehmen hoher, mittlerer und niederer Rendite gemischt sein. Der einzige Nachteil, den alte Gebäude für einen Bezirk wirklich bedeuten können, ist der Schaden, der entsteht, wenn schließlich nur noch alte Gebäude vorhanden sind. Ein Stadtbezirk in solcher Situation ist jedoch kein Versager des Alters wegen. Es ist umgekehrt. Der Bezirk ist im ganzen überaltert, weil er versagt hat. Aus irgendwelchen anderen Gründen sind seine Unternehmen oder seine Bewohner nicht in der Lage, Neubauten eine Existenzgrundlage zu geben. Manchmal ist es einem solchen Bezirk nicht gelungen, Unternehmen zu halten, deren geschäftliche Entwicklung es ihnen durchaus erlaubt hätte, Neubauten oder Sanierungen zu finanzieren. Diese Unternehmen verließen den Bezirk, sobald sie sich hochgearbeitet hatten, weil der Bezirk eben nicht fähig war, interessante neue Unternehmen zu tragen. Er konnte ihnen keine wirtschaftlichen Chancen bieten. Ein funktionsfähiger Stadtbezirk pflegt sich zu einer Art Speicher für Bauten zu entwickeln. Einige der alten Gebäude werden jedes Jahr durch neue ersetzt oder renoviert; im Laufe der ·Zeit entsteht so eine ständige Mischung von Gebäuden vieler Altersgruppen und Typen. In einem dynamischen Prozeß wird das einst Neue zum alten Bestand der neuen Mischung. Im Laufe der Zeit eröffnen die hohen Baukosten, die die erste Generation investiert hat, günstige Gelegenheiten für die nächste. Die ursprünglichen Kapitalkosten sind amortisiert, und dieses Sinken im Wert schlägt sich in den geringeren Renditen nieder, die ein Gebäude einbringen muß. Die wirtschaftliche Notwendigkeit, alte Gebäude mit neuen zu mischen, besteht nicht erst seit dem überstürzten Ansteigen der Baukosten nach dem Krieg, vor allem in den fünfziger Jahren. Allerdings ist der Unterschied zwischen der Rendite, welche die meisten Nachkriegsbauten bringen müssen, und der, welche die Bauten aus der Zeit vor der Depression bringen, besonders kraß. Aber schon in den zwanziger Jahren und sogar schon um 18go herum waren alte Gebäude notwendiger Bestandteil großstädtischer Mannigfaltigkeit, und das wird auch dann noch so sein, wenn die heutigen Neubauten einmal zu alten Gebäuden geworden sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Baukosten selbst sich schwankend oder konstant entwickelten, denn ein im Wert gesunkenes Gebäude, dessen Baukosten amortisiert sind, braucht in jedem Fall weniger Zinsen zu bringen als ein Gebäude, dessen Kapitalkosten noch nicht amortisiert sind. Ständig steigende Baukosten verschärfen die Notwendigkeit eines größeren Anteils alter Bauten in der gesamten Straßen-

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oder Bezirksmischung, und zwar deshalb, weil die steigenden Baukosten das allgemeine Niveau finanziellen Erfolgs in Hinsicht auf die zu errichtenden Neubauten zwangsläufig in die Höhe treiben. Ausgedehnte Gebiete mit Gebäuden, die alle zur gleichen Zeit entstanden sind, eignen sich naturgemäß nicht dazu, eine breite Skala von kulturellen oder wirtschaftlichen Einrichtungen oder von verschiedenen Bevölkerungsschichten zu beherbergen. Das kann man in der Stuyvesant Town in New York gut verfolgen. Im Jahre 1959, mehr als ein Jahrzehnt nach Beginn der Siedlung, waren von den zweiunddreißig Geschäften sieben entweder leer oder unwirtschaftlich genutzt (als Warenlager oder nur für Reklame), das sind 22 Prozent von Stuyvesant Towns Ladenlokalen. Gleichzeitig standen auf der anderen Seite der Grenzstraßen, wo Gebäude jedes Alters und jedes Zustandes gemischt waren, von hundertvierzig Geschäftsräumen nur elf, also nur 7 Prozent, leer. Die Kundschaft der Läden in diesen Straßen mit Gebäuden verschiedenen Alters besteht übrigens zum großen Teil aus Bewohnern von Stuyvesant Town, obwohl diese eine breite und gefährliche Verkehrsstraße überqueren müssen. Diesen Sachverhalt haben sich prompt Kettenläden und Supermarkets zunutze gemacht; anstatt die leeren Ladenlokale der Siedlung zu mieten, bauten sie sich neue Geschäfte in der Umgebung von Gebäuden gemischten Alters. Bezirke, die insgesamt zur gleichen Zeit gebaut worden sind, werden heutzutage oft planmäßig vor der Bedrohung durch einen lebendigeren wirtschaftlichen Wettbewerb geschützt. Ein solcher Schutz bedeutet nicht mehr und nicht weniger als wirtschaftliche Monopolpolitik und wird in Stadtplanungskreisen als sehr >>fortschrittlich« angesehen. Monopolpolitik kann zwar in funktionsunfähigen und stagnierenden Bezirken, wie sie Siedlungen darstellen, finanziell erfolgreich sein. Aber sie kann nicht auf irgendeine wunderbare Art ein Äquivalent für städtische Vielseitigkeit schaffen. Genausowenig kann sie als Ersatz dienen für lebendige wirtschaftliche Tüchtigkeit, die in Stadtbezirken gemischten Alters und gemischter finanzieller Belastungen vorhanden ist. Das Alter von Gebäuden ist ein sehr relativer Begriff im Hinblick auf die erwünschte Nutzbarkeit. Sie ist nicht einfach eine Frage architektonischer Kunst oder ästhetischer Wohlgefälligkeit. Im Back-of-the-Yards-Bezirk von Chicago scheint kein Haus verwittert genug zu sein, kein Haus langweilig, heruntergekommen oder veraltet genug, um nicht Spareinlagen herauszulocken oder Anleihen zu rechtfertigen; da handelt es sich eben um eine Nachbarschaft, die die Leute auch dann nicht verlassen, wenn sie reich genug geworden sind, um wählerisch sein zu können. In Greenwich Village denken Familien der Mittelklasse, die nach einer günstigen Wohnung in einem lebendigen Bezirk suchen, oder Baufirmen, die Gebäude wieder instand setzen und nach Goldgruben fahnden, ebenfalls nicht daran, ein altes Gebäude zu verachten. In funktionsfähigen Bezirken wird den alten Gebäuden eben ihr Wert »zurückgegeben«. Das andere Extrem ist Miami Beach, wo Neuheit Königin ist. Hotels, die zehn Jahre alt sind, werden bereits als veraltet angesehen und für andere, die neuer

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sind, aufgegeben. Neuheit und ihr oberflächlicher luxuriöser Glanz sind höchst vergängliche Vorzüge. Viele Bewohner der Großstadt und viele Unternehmen brauchen keine neuen Gebäude, abgesehen davon, daß neue Wohnbauten in den Städten keineswegs ein ungetrübtes Vergnügen sind. Sie bringen viele Nachteile mit sich. Manche Leute ziehen beispielsweise für ihr gutes Geld mehr Raum (oder ebensoviel Raum für weniger Geld) einer neumodischen (für Zwerge entworfenen) Eßküche vor; manche Menschen schätzen 'Wände, durch die sie nicht alles hören. In Slums, die sich spontan sanieren und in denen die Leute aus freiem Willen wohnen bleiben, kann man sehr gut beobachten, daß viele einfache Bürger schon längst von Farbzusammenstellungen und Beleuchtungs- und Einrichtungskniffen gehört haben, mit denen man ungeeignete oder düstere Räume in angenehme und nützliche umwandeln kann; sie kennen auch nichttragende Zwischenwände und haben gelernt, wie man aus zwei zu kleinen Wohnungen eine große macht. Zu den bewundernswertesten und angenehmsten Anblicken, die man am Rande der Bürgersteige in großen Städten haben kann, gehören die geschickten Umwandlungen alter Gebäude für neue Zwecke: ein alter Stadthaus-Salon, der zur Auslage eines Handwerkers geworden ist, ein Stall, der sich zum modernen Haus gemausert hat, ein alter Keller, aus dem ein Klub geworden ist, oder ein Theater, das aus einer Garage oder Brauerei entstanden ist. Diese ständigen Wandlungen und Veränderungen alter städtischer Gebäude könnte nur ein Pedant als Notbehelf bezeichnen. In Wirklichkeit hat hier eine Art Rohmaterial die richtige Verwendung gefunden. Ein wirklicher Notbehelf ist es und ein trauriger Anblick dazu, wenn städtische Mannigfaltigkeit auf schnellstem Weg aus der Stadt verbannt wird. Außerhalb von Parkchester mit seinen riesigen Siedlungen für mittlere Einkommen, in denen der standardisierte Handel (mit der üblichen Begleiterscheinung leerer Ladenlokale) vor unerlaubtem Wettbewerb geschützt ist, finden wir solch eine Ansammlung von mannigfaltigen verbannten Unternehmen, denen aber die Bewohner von Parkchester die Existenzgrundlage geben. Von Geldverleihinstituten, Tauschhandel mit Fotoapparaten und Musikinstrumenten bis zu chinesischen Restaurants bieten diese exmittierten Unternehmen offenbar den Bewohnern der Siedlungen vieles, was sie brauchen. Was brauchten sie sonst noch alles? Die Frage wird rein theoretisch, sobald man Gebäude gemischten Alters ersetzt durch die wirtschaftliche Todesstarre gleichaltriger Gebäude mit ihren zwangsläufigen Funktionsmängeln und dem daraus folgenden Protektionismus in dieser oder jener Form. Große Städte brauchen einen gewissen Anteil an alten Gebäuden, um Mischungen primärer Nutzung zu gewährleisten. Sie brauchen die alten Gebäude, um neue primäre Nutzungen »auszubrüten«. Ist ein solches »Jungen« erfolgreich, dann kann die Rendite der alten Gebäude steigen, und sie tut es häufig. Bezirke, in denen die primäre Nutzung besser gemischt werden muß, werden immer sehr von dem Vorhandensein alter Gebäude abhängig sein, vor allem zu Beginn irgendwelcher planmäßiger Versuche, eine Vielfalt zu fördern. Wenn zum Beispiel Brooklyn in New York wirklich jemals das 117

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Ausmaß an Mru.migfaltigkeit und den Grad von Anziehungskraft und Lebendigkeit erreichen will, die es dringend braucht, muß es aus der vorhandenen Kombination von Wohnbauten und Arbeitsplätzen den größtmöglichen wirtschaftlichen Vorteil ziehen. Brooklyn kann nicht mit Vororten wetteifern, um großen, gut eingeführten Unternehmen die notwendigen Räumlichkeiten zu bieten. Wenn es aus dem vorhandenen Gemisch von Wohnungen und Arbeitsplätzen den größten Vorteil ziehen will, muß es vor allem neue Unternehmen hegen und pflegen und sie dann möglichst lange im Bezirk festhalten. Damit diese neuen Arbeitsstätten florieren können, braucht Brooklyn seine alten Gebäude für eben die Zwecke, die sie jetzt dort erfüllen. Brooklyn ist nämlich bereits sehr fruchtbar als Brutstätte neuer Unternehmen. Zwar verlassen jedes Jahr mehr Fertigungsbetriebe Brooklyn, um sich woanders niederzulassen, als neue Betriebe nach Brooklyn kommen. Und trotzdem steigt die Zahl der Fabriken in Brooklyn ständig. Warum ziehen derartige Unternehmen in dem Augenblick. fort, in dem sie auf Grund ihrer Erfolge selbst bauen könnten? Das hat zwei Gründe: Einmal bietet Brooklyn zuwenig Vorteile über dasjenige hinaus, was ein neuer Industriebetrieb notwendig braucht (alte Gebäude und viele Dienste und Möglichkeiten für die Nahbedarfsdeckung kleiner Unternehmen). Es sind zwar riesige Summen ausgegeben worden für Autobahnen, die mit Privatautos verstopft sind, aber nichts dergleichen ist geplant oder getan für Lastwagen-Schnellstraßen, die die Fabriken in den alten Gebäuden mit den Hafenanlagen und den Eisenbahnen verbinden könnten. Zum anderen hat Brooklyn wie die meisten unserer im Abstieg begriffenen Stadtbezirke mehr alte Gebäude, als es braucht. Anders ausgedrückt: vielen seiner Nachbarschafren fehlt seit langer Zeit die allmähliche Ergänzung durch Neubauten. Dennoch, wenn Brooklyn jemals auf seinen vorhandenen Vorzügen aufbauen sollwas der einzige Weg einer erfolgreichen Sanierung ist -, dann werden viele dieser alten Gebäude, gut über den Bezirk verteilt, von größter Wichtigkeit für das Gelingen sein. Wir haben aus den Zeiten, die dem Siedlungsbau großen Stils vorangegangen sind, noch genügend Beispiele um uns herum für abgleitende städtische Nachbarschaften, die als Ganzes zu gleicher Zeit errichtet worden sind. Meistens sind gerade solche Nachbarschafren ·von Anfang an in jeder Weise daran verhindert gewesen, irgendeine städtische Vielfalt zu entwickeln. Zwar kann man ihre klägliche Durchhaltekraft und ihr Stagnieren nicht allein auf ihr augenfälligstes Unglück zurückführen: daß sie insgesamt im gleichen Zeitpunkt gebaut wurden. Immerhin aber ist das eines der wichtigsten Hindernisse für die Entwicklung einer Vielfalt in solchen Bezirken, und leider dauert seine Wirkung an, auch wenn die Gebäude längst alt geworden sind. Wenn so ein Bezirk neu ist, bietet er städtischer Vielfalt keinerlei Möglichkeiten. Die praktischen Begleiterscheinungen von Langeweile stempeln die Nachbarschaft schon früh ab. Er wird rasch zu einem Bezirk, aus dem man auszieht. Wenn dann die Gebäude wirklich alt geworden sind, ist ihr einziger, leider nicht genügender Vorteil für die Stadt ihr minderer Wert. 118

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Nachbarschaften, die als Ganzes zu gleicher Zeit gebaut worden sind, verändern sich materiell im allgemeinen nur wenig im Lauf der Zeit. Die kleine Veränderung, die mit Sicherheit stattfindet, ist eine Veränderung zum Schlechten: allmähliche Verwahrlosung, ab und zu ein paar schäbige neue Nutzungsversuche; das ist alles. Die Menschen sehen sich dann diese wenigen, sporadischen Veränderungen mißtrauisch an und betrachten sie als Beweis, vielleicht sogar als Ursache der drastischen Veränderung zum Schlechten. In der Regel hat sich jedoch die Nachbarschaft materiell auffallend wenig verändert. Es sind die Gefühle der Menschen, die sich verändert haben. Die Nachbarschaft selbst zeigt eine seltsame Unfähigkeit, sich zu erneuern und zu beleben, und in Wirklichkeit war sie von Anfang an tot. Nur wurde es von kaum jemandem bemerkt, bevor die Leiche anfmg zu stinken. Am Ende steht dann unweigerlich der Beschluß, daß die ganze Geschichte ausradiert und der gleiche Vorgang wiederholt werden soll. Vielleicht läßt man sogar ein paar von den alten Gebäuden stehen, wenn sie so saniert werden können, daß sie in wirtschaftlicher Hinsicht neuwertig werden. Eine neue Leiche wird aufgebahrt, sie stinkt noch nicht, ist aber genauso tot, genauso unfähig zur ständigen Erneuerung, zur Anpassung an Zeiten und Wandel. Es gibt absolut keinen Grund dafür, daß dieser traurige, mit Sicherheit zum Untergang führende Ablauf immerzu wiederholt werden muß. Wenn ein solcher Bezirk einmal daraufhin untersucht wird, welche der anderen drei Bedingungen zum Wachstum großstädtischer Mannigfaltigkeit noch fehlen, und wenn diese fehlenden Bedingungen so gut wie möglich hergestellt werden, dann braucht man meist nur einige der alten Gebäude abzureißen; aber es müssen zusätzliche Straßen gebaut werden, die Bevölkerungsdichte muß erhöht und Raum für neue private und öffentliche primäre Nutzung gefunden werden. Ein gewisser Anteil an alten Gebäuden aber wird bleiben müssen, und diese alten Gebäude werden dann mehr sein als Überbleibsel des Verfalls in der Vergangenheit oder als Beweise für früheres Versagen. Sie werden den vielen für den Bezirk notwendigen und wertvollen Wandlungen der Geschäftstätigkeit mittleren oder niederen Ertrags Obdach bieten können. Der wirtschaftliche Wert neuer Gebäude ist zu heben, indem man zusätzliches Kapital investiert. Nicht ersetzt werden kann der wirtschaftliche Wert alter Gebäude, denn er ist durch die Zeit entstanden. Dieses wirtschaftliche Requisit städtischer Mannigfaltigkeit können lebendige Nachbarschafren nur erben und sich dann über die Jahre hinweg erhalten. ·

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Die Notwendigkeit einer Bevölkerungskonzentration

Bedingung 4: In einem Bezirk müssen genügend Menschen konzentriert sein, ganz gleich, aus welchem Anlaß sich diese Menschen dort aufhalten; dazu gehören auch die Bewohner des Bezirks. Seit es Großstädte gibt, ist wahrscheinlich jedem, der jemals über sie nachgedacht hat, aufgefallen, daß ein bestimmter Zusammenhang zu bestehen scheint zwischen der Konzentration von Menschen und den speziellen Diensten und Leistungen, für die sie die Existenzgrundlage abgeben. Samuel Johnson jedenfalls stellte bereits 1785 Betrachtungen über diese Beziehung an: »Wenn Menschen dünn verteilt sind«, sagte er zu Boswell, »können sie sich behelfen, jedoch nur in bescheidenem Rahmen, es entgeht ihnen vieles ... Nur die Konzentration von Menschen schafft Möglichkeiten.« Diese Verbindung wird inimer wieder neu entdeckt in jeder Zeit und an inimer anderen Orten. So kam 1959 John H. Denton, Professor für Betriebswirtschaft an der Universität von Arizona, nachdem er amerikanische Vororte und die englischen »neuen Städte« studiert hatte, zu dem Schluß, daß die kulturellen Möglichkeiten solcher Orte von dem leichten Zugang zu einer Großstadt abhängen. »Er führte seine Ergebnisse«, berichtete die New York Times, »auf das Unvermögen ungenügender Bevölkerungsdichte zurück, kulturellen Möglichkeiten eine wirtschaftliche Grundlage zu geben. Mr. Denton ... sagte, daß Dezentralisierung eine derart dünne Bevölkerungsdichte verursache, daß in Vororten der einzig wirksame wirtschaftliche Bedarf nur der der Majorität sein kann. Wie die wirtschaftlichen Bedarfsgüter, müßten auch die einzigen kulturellen Möglichkeiten immer der Nachfrage der Majorität entsprechen.« Beide, Johnson und Professor Denton, sprachen von den wirtschaftlichen Folgen dessen, was wir hohe und niedrige Bevölkerungsdichte nennen. Die direkte Beziehung zwischen hoher Bevölkerungsdichte und vielfältigen Diensten sowie anderen Arten von Vielfalt leuchtet im allgemeinen ein, wenn es sich um Innenstädte handelt. Jeder ist sich darüber klar, daß in den Innenstädten eine riesige Anzahl von Menschen konzentriert ist und daß es keine Innenstädte von Belang gäbe, wenn das nicht so wäre. Sobald es sich aber rm Bezirke handelt, die überwiegend Wohngebiete sind, beachtet man diese Beziehung nur selten. Dabei bestehen die meisten Stadtbezirke zum großen Teil aus Wohnbauten. Die Menschen, die in einem Bezirk leben und wohnen, bilden gewöhnlich einen großen Teil der Gesamtbevölkerung, welche die Straßen, Parks und Unternehmen des Gebietes nutzt. Ohne eine gewisse Konzentration von Menschen, die in einem Bezirk direkt wohnen, kann sich Mannigfaltigkeit schlecht halten. 120

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Selbstverständlich müssen die Wohnbauten (wie jede andere Inanspruchnahme des Bodens) durch andere primäre Nutzungen ergänzt werden, damit, wie wir in Kapitel 8 sahen, die Menschen auf den Straßen über alle Tageszeiten hinweg gut verteilt sind. Außerdem müssen Wohnbauten in der Stadt auch mit Rücksicht auf den Bodenbedarf nahe aneinandergerückt sein, und das nicht nur wegen der Grundstückskosten. Das heißt jedoch nicht, daß nun möglichst jeder in hohe Apartmenthäuser gesteckt werden sollte. Eine solche Lösung würde die mögliche Mannigfaltigkeit dann aus anderen Gründen behindern. Hohe Wohnungsdichten sind in orthodoxen Planungs- und Wohnungstheorien schlecht angesehen. Angeblich führen sie zu jeder Art von Schwierigkeiten und Hemmnissen. Aber auf unsere großen Städte trifft diese angebliche Wechselbeziehung zwischen hohen Wohnungsdichten einerseits und Schwierigkeiten oder Slumsbildungen andererseits einfach nicht zu. Jeder, der sich die Mühe macht, die tatsächlichen Verhältnisse zu prüfen, kann das feststellen. Hier ein paar Beispiele: San Franziskos Bezirk mit der höchsten Wohnungsdichte und der höchsten überbauung des Wohngebietes mit Gebäuden überhaupt ist der North Beach-Telegraph Hili; er ist ein ausgesprochen beliebter Bezirk, der sich selbständig und stetig in den Jahren nach der Depression und dem zweiten Weltkrieg aus einem Slum emporentwickelt hat. San Franziskos größtes Slum-Problem ist hingegen der Bezirk Western Addition, ein Gebiet, mit dem es ständig bergab gegangen ist und das jetzt auf breiter Basis neu aufgebaut wird. Western Addition galt einst, als der Bezirk neu war, als gute Adresse; es hat heute eine Wohnungsdichte, die beträchtlich niedriger ist als North Beach-Telegraph Hill und übrigens auch niedriger als die beiden noch immer eleganten Bezirke Russian Hill und Nob Hili. In Philadelphia ist Rittenhause Square der einzige Bezirk, der spontan seine Grenzbezirke im Wert heben und ausdehnen konnte; und das einzige innerstädtische Gebiet, das weder für Erneuerung noch für Abbruch vorgemerkt ist. Er hat die höchste Wohnungsdichte in ganz Philadelphia. Dagegen bereiten der Stadt die Slums in North Philadelphia die ernstesten sozialen Sorgen; die Wohnungsdichten dieser Slums liegen im Durchschnitt bei der Hälfte der Wohnungsdichte von Rittenhause Square. Andere ausgedehnte Gebiete Philadelphias, die im Abstieg begriffen sind, belastet mit allen sozialen Schwierigkeiten, haben Wohnungsdichten, die noch darunter liegen. Die gemeinhin am höchsten geschätzte und beliebteste, aufstrebende Nachbarschaft in Brooklyn, New York, ist Brooklyn Heights; sie hat die höchste \Vohnungsdichte in ganz Brooklyn. Weite Gebiete der funktionsunfähigen und verfallenden grauen Zonen in Brooklyn haben hingegen nur die Hälfte der Wohnungsdichte von Brooklyn Heights. In Manhattau haben der eleganteste Zipfel der Innenstadt auf der East Side und das eleganteste Gebiet von Greenwich Village Wohnungsdichten, die denen im Innern von Brooklyn Heights entsprechen. Dabei gibt es jedoch einen interessanten Unterschied: in Manhattan sind diese elegantesten Gebiete von sehr beliebten dyl!U

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namischen Bezirken mit großer Mannigfaltigkeit umgeben, deren Wohnungsdichten noch höher liegen, während Brooklyn Heights von Nachbarschafren eingeschlossen ist, die nicht nur im Hinblick auf die Wohnungsdichten, sondern auch in ihrer Lebendigkeit und Popularität abfallen*. Die überfüllten Slums der Planungsliteratur sind lebensvolle Gebiete mit hohen Wohndichten. Die überfüllten Slums der amepkanischen Wirklichkeit sind jedoch eher typischerweise langweilige Zonen mit geringer Dichte. In Oakland, Kalifornien, hat ein Gebiet von zweihundert und einigen Grundstücken mit freistehenden Einund Zweifamilienhäusern die schlimmsten und größten Slum-Probleme; es hat eine Wohnungsdichte, die kaum als echte städtische Dichte gelten kann. Clevelands schlimmste Slum-Sargen gelten mehreren Quadratkilometern mit der gleichen Wohnungsdichte. Detroit besteht heute weitgehend aus scheinbar endlosen Quadratkilometern funktionsunfähiger Wohngebiete mit ähnlich niedrigen Dichten. Aus diesen Beispielen kann man jedoch nicht voreilig den Schluß ziehen, daß alle Gebiete mit hoher Wohnungsdichte in den großen Städten erfolgreich funktionierten. Das tun sie nicht. So haben beispielsweise Chelsea, große Teile der schlimm heruntergekommenen West Side und Harlem (alle in Manhattan) die gleichen hohen Wohnungsdichten wie Greenwich Village, Yorkville und die mittlere East Side. Der früher hochelegante Riverside Drive, der heute so in Schwierigkeiten steckt, hat eine noch höhere Wohnungsdichte. Die Wirkungen hoher und geringer Wohnungsdichten kann man nicht erfassen, wenn man allein von der These ausgeht, die Beziehung zwischen einer Bevölkerungskonzentration und der Erzeugung großstädtischer Mannigfaltigkeit sei eine direkte, mathematisch zu errechnende. Die Resultate, die sich aus dieser Beziehung ergeben (von der Dr. Johnson und Professor Denton beide in einfachster, undifferenzierter Form sprachen), werden in stärkstem Maße auch von anderen Faktoren beeinflußt; drei davon haben wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln behandelt. Nicht die Konzentration der Bewohner ist allein entscheidend. Ein extremes Beispiel dafür sind Siedlungen; keine noch so hohe Konzentration von Wohnungen dort ist ausreichend, um irgendeine Mannigfaltigkeit zu erzeugen, weil in den Siedlungen jegliche Mannigfaltigkeit von vornherein durch Vorschriften ausgeschlossen ist. Ähnlich liegen die Dinge in nicht planmäßig angelegten Nachbarschaften, in

* Obwohl alle großen Städte mit Vorliebe genaueste Analysen über die Wohnungsdichte in Siedlungsgebieten anfertigen, verfügen die wenigsten unter ihnen über genaue Angaben für Wohnungsdichten inandem Bezirken. Keine mir bekannte große Stadt hat sich jemals die Mühe gemacht, zu ergründen, welche Wohnungsdichten und welche Variationen der Dichte in den verschiedenen Gebäuden funktionsfähige und beliebte Nachbarschaft aufweisen. »Bei solchen Bezirken ist das zu schwierig festzustellen«, klagte ein Planungsdirektor, als ich ihn nach den genauen Variationen der Wohnungsdichte in einem solchen Bezirk fragte. Es ist offenbar schwierig oder unmöglich, allgemeine Regeln für solche Bezirke aufzustellen, eben weil sie in sich selbst so gar nicht zu »verallgemeinern« oder in ihrem Aufbau nicht standardisiert sind. Diese Abwechslung und Vielfalt unter den einzelnen Komponenten solcher erfolgreichen Bezirke gehören in der Tat noch zu den Unbekannten, deren Kenntnis aber unabdingbar ist, will man die Durchschnittswerte der Wohndichte für funktionsfähige Stadtgebiete ermitteln. l!l!l

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denen die Gebäude zu sehr standardisiert oder die Baublocks zu lang sind, oder dort, wo keinerlei Mischung primärer Nutzung vorhanden ist. Dessenungeachtet ist jedoch die dichte Konzentration von Menschen eine der notwendigen Voraussetzungen für städtische Mannigfaltigkeit. Es ist einfach so, daß in Bezirken, die zur Hauptsache Wohnbezirke sind, der für den Wohnungsbau bestimmte Boden dicht mit Wohnungen bebaut sein muß. Die übrigen Faktoren, die noch Einfluß darauf haben, wieviel Mannigfaltigkeit erzeugt wird und wo, können sich kaum auswirken, wenn nicht erst einmal genug Menschen vorhanden sind. Einer der Gründe dafür, warum geringe städtische Dichten üblicherweise einen guten Ruf haben, auch wenn er keineswegs durch Tatsachen gerechtfertigt wird, und warum hohe städtische Dichten in einem genausowenig gerechtfertigten schlechten Ruf stehen, ist der, daß hohe Wohnungsdichte und die Überbelegung von Wohnungen oft miteinander verwechselt werden. Hohe Wohnungsdichte bedeutet: eine große Anzahl von Wohnungen auf den Hektar Land. Überbelegung heißt, daß zu viele Menschen in der einzelnen Wohnung leben im Verhältnis zu der Anzahl von Räumen, die diese Wohnung enthält. Unsere Norm für Überbelegung liegt bei etwa 1,5 oder mehr Personen pro einzelnen Raum. Sie hat nichts zu tun mit der Anzahl der Wohnungen pro Hektar. Auch diese Verwirrung der Begriffe haben wir von der Gartenstadtplanung geerbt. Die Gartenstadtplaner und ihre Jünger hatten sich Slums angesehen, die sowohl viele Wohnungseinheiten pro Hektar (hohe Wohnungsdichte) als auch zuviel Menschen innerhalb der einzelnen Wohnungen (Überbelegung) hatten; und sie hatten unterlassen, irgendeinen Unterschied zwischen der Tatsache überbelegter Wohnungen und der gänzlich andersgearteten Tatsache dicht bebauten Bodens zu treffen. Sie haßten ja in jedem Fall beides und warfen beides in einen Topf, so daß bis auf den heutigen Tag die Städtebauer und Stadtplaner die Wendung »Wohnungsdichte und Überbelegung« gebrauchen, als wäre es ein einziges, zusammenhängendes Wort. Zu dieser Verwirrung der Begriffe kam noch eine statistische Ungeheuerlichkeit hinzu, mit der Reformer gem arbeiten, um ihre Siedlungsban-Kreuzzüge durchzufechten: eine undifferenzierte Zahlenangabe von Personen pro Hektar Boden. Dabei kommen bedrohliche Zahlen heraus, die niemandem verraten, wie viele Wohnungen oder wie viele Räume sich denn auf der betreffenden Bodenfläche befinden. So ist zufällig in Bostons North End bei 2382 Personen je Hektar Nettobauland die Sterblichkeitsrate (Stand 1956) 8,8 pro mille, die Tb-Todesrate liegt bei o,6 pro zehntausend Bewohner. Bostons South End hat hingegen bei 893 Personen je Hektar Nettobauland eine Sterblichkeitsrate von 21,6 pro milleund eine Tb-Todesrate von 12 pro zehntausend Bewohner. Es wäre lächerlich zu sagen, dieser für das South End negative Tatbestand wäre darauf zurückzuführen, daß in South End nur 893 Personen und nicht wie im North End fast 2500 Personen einen Hektar Nettobauland bewohnen. Die Zusammenhänge sind wesentlich komplizierter. Aber es ist in gleicher Weise lächerlich, aus einem Einzelfall ungünstiger Verhältnisse bei einer Bevölkerungsdichte von 2500 Personen je Hektar schließen zu wollen, daß diese Zahl von Natur aus schlimm sei.

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Typisch für die Verwirrung der Begriffe Wohnungsdichte und Überbelegung ist auch der Titel einer Schrift, die einer der großen Gartenstadtplaner, Sir Raymond Unwin, herausgegeben hat: Nothing Gained by Overcrowding (Durch Überfüllung wird nichts gewonnen), denn diese Schrift hat absolut nichts mit Überbelegung von Wohnungen, sondern mit Superblockbauten von geringer Wohnungsdichte zu tun. Um 1930 herum wurde eben kaum je zwischen der Überbelegung von Wohnungen mit Menschen und der angeblichen » Überbelegung« des Bodens mit Gebäuden (d. h. Wohnungsdichte und Überbebauung des Bodens) ein Unterschied gemacht. Überbelegung von Wohnungen und hohe Überbauung trifft man kaum jemals zusammen an. Das North End in Boston, Greenwich Viilage in New York, Rittenhouse Square in Philadelphia und Brooklyn Heights in Manhattan haben im Verhältnis zu ihren jeweiligen Städten eine große Wohnungsdichte, aber die Wohnungen selbst sind durchaus nicht überbelegt. Das South End in Boston, North Philadelphia und Bedford-Stuyvesant in New York haben eine viel geringere Wohnungsdichte, hingegen sind die Wohnungen dort häufig überbelegt. Heute tritt eine Überbelegung öfter bei geringen als bei hohen Wohnungsdichten ein. Auch die Sanierung von Slums, wie sie heute gewöhnlich in unseren Großstädten durchgeführt wird, trägt kaum etwas zur Lösung des Überbelegungs-Problems bei. Slumsanierung und Wiederaufbau erhöhen meist nur die Schwierigkeiten, die dieses Problem mit sich bringt. Wenn alte Gebäude durch neue Siedlungen ersetzt werden, verringern sich häufig die Wohnungsdichten, so daß dann weniger Wohnungen in dem entsprechenden Bezirk vorhanden sind als vorher. Selbst wenn die gleichen Wohnungsdichten wiederkehren oder ein wenig angehoben werden, werden dennoch meist weniger Menschen untergebracht, als ausquartiert worden sind, .weil die umgesiedelte Bevölkerung im allgemeinen zu groß für den verfügbaren Raum gewesen war. Das Ergebnis ist lediglich, daß die Überbelegung nun woanders zunimmt, vor allem, wenn farbige Bevölkerungsschichten, denen weniger Bezirke zum Wohnen offenstehen, ausgesiedelt worden sind. Theoretisch könnte man annehmen, daß es gleich sei, ob die Bevölkerungskonzentration, die notwendig ist, um in einer Nachbarschaft Vielfalt hervorzubringen, in einer genügend hohen Dichte von Wohnungen lebt oder ob sie bei geringerer Wohnungsdichte die Räume überbelegt. Die Anzalll von Menschen in einem Gebiet gegebenen Umfangs könnte theoretisch unter beiden Bedingungen die gleiche sein, jedoch sind im wirklichen Leben die Ergebnisse in beiden Fällen durchaus verschieden. Mannigfaltigkeit und ihre Vorzüge sind nun einmal gekoppelt mit erträglichen Lebensbedingungen; es müssen genügend Wohnungen für genügend Menschen vorhanden sein, damit die Menschen, die wählerisch sind, an Ort und Stelle bleiben können. Jeder haßt Überbelegung, und diejenigen, die ihr ausgesetzt sind, hassen sie am meisten. Kaum einer führt freiwillig Überbelegungen herbei. Andererseits leben viele Menschen gern in Nachbarschafren mit hoher Wohnungsdichte. Überbelegte Nachbarschafren sind, ob nun von hoher oder geringer Wohnungsdichte, gewöhnlich Nachbarschaften, die sich als nicht funktionsfähig erwiesen haben, solange sie nor124

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mal belegt und von Menschen bewohnt waren, die noch wählen konnten. Diese Menschen mit freier Wahlmöglichkeit haben dann den Bezirk verlassen. Nachbar.schaften, die im Laufe der Zeit durch eigene Kraft ihre Überbelegung gemindert oder ihre ursprüngliche Bewohnerzahl über verschiedene Generationen hinweg konstant gehalten haben, sind häufig Nachbarschaften, die sich als funktionsfähig erwiesen haben und die sich die Treue von Menschen mit freien Wahlmöglichkeiten erhalten konnten. Die riesigen grauen Zonen mit relativ geringer Wohnungsdichte, die im Abstieg begriffen sind und entweder verlassen oder überbelegt werden, sind bezeichnende Signale für das typische Versagen bei geringer Wohnungsdichte in unseren großen Städten. Was wäre nun eine angemessene Dichte für den städtischen Wohnungsbau? Das ist eine Frage der jeweiligen tatsächlichen Ergebnisse. Wohnungsdichten in einer richtigen Großstadt sind zu niedrig oder zu hoch, wenn sie großstädtische Mannigfaltigkeit behindern, statt sie zu fördern. Diese negative Wirkung ist dann der Grund dafür, warum sie zu niedrig oder zu hoch sind. Fangen wir an mit der Betrachtung der untersten Stufe der Skala, um erst einmal zu verstehen, warum eine Wohnungsdichte, die sich an einem Ort günstig auswirkt, an einem anderen versagt. Sehr geringe Wohnungsdichten - zum Beispiel: 15 Wohnungen auf den NettoHektar - können für Vororte das Richtige sein. In manchen Vororten sind die Wohnungsdichten natürlich höher; 25 Wohnungen auf den Netto-Hektar stellen zwar im Verhältnis zu den üblichen Raumverhältnissen in Vororten eine ziemlich hohe Bebauung dar, können aber bei guter Planung und echter Vorortslage vertretbar für Vororte oder entsprechende Siedlungen sein. Zwischen 25 und 50 Wohnungen auf den Netto-Hektar ergeben eine Art »Beinahe«-Vorort, der entweder aus freistehenden Ein- oder Zweifamilienhäusern auf Handtuchgrundstücken besteht, oder aber aus großzügig angelegten Reihenhäusern mit relativ großzügigen Hof- und Grünflächen. In großen Städten, die nicht wie Vorstädte oder Kleinstädte lokal autark sind, bedeuten Wohnungsdichten von 50 Wohnungen und mehr auf den Netto-Hektar, daß viele Menschen, die geographisch nahe beieinander wohnen, füreinander Fremde sind und bleiben werden. Nicht nur das, auch Fremde von anderswo werden sich in solchen Gebieten aufhalten, wenn andere Nachbarschaften gleicher oder höherer Wohnungsdichte in der Nähe sind. Wenn einmal eine Vorortdichte überschritten ist oder ein Vorortgebiet von der anwachsenden übrigen Stadt umschlossen ist, wird das Gebiet zu einem ganz anderen städtischen Siedlungstyp, der auch andere Aufgaben hat. Deshalb braucht so ein Gebiet in dem Moment auch städtische Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit. Häufig bilden sich zwischen dem Punkt, in dem der Charakter und die Funktion einer »Beinahe«-Vorstadt verlorengeht, und dem Punkt, von dem aus sich großstädtische Mannigfaltigkeit und ein öffentliches Leben entwickeln können, Wohnungsdichten, die man als »Zwischen«-Dichten bezeichnen kann. Sie sind weder für Vororte noch für echte Stadtbezirke geeignet. Sie bringen im allgemeinen nichts als Schwierigkeiten.

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Die »Zwischen«-Dichten reichen bis zu dem Grad an Konzentration, der wirkliches großstädtisches Leben hervorbringen und erhalten kann, bis zu dem Punkt also, an dem die möglichen konstruktiven Kräfte einsetzen können. Dieser Punkt ist nicht genau festzulegen. Er liegt anders in den verschiedenen Städten, und auch innerhalb der gleichen Großstadt sind andere Faktoren (primäre Nutzungen und Benutzer des Gebietes von außerhalb) mitentscheidend. Bezirke wie Rittenhause Square in Philadelphia und North Beach-Telegraph Hili in San Franziska, die beide das Glück haben, durch ihre Mischung der Nutzungen und ihre übrigen Vorzüge auf Besucher von außerhalb anziehend zu wirken, sind offensichtlich imstande, die Lebendigkeit ihres Bezirks bei einer Wohnungsdichte von ungefähr 250 Wohnungen auf den Netto-Hektar aufrechtzuerhalten. Andererseits ist diese Dichte für Brooklyn Heights anscheinend nicht ausreichend. Wo dort der Durchschnitt auf 250 Wohnungen je Netto-Hektar zurückgeht, läßt gleichzeitig die Dynamik nach. Als Antwort in funktionellem Sinn auf die Frage, wo diese »Zwischen«-Dichten aufhören, kann man nur sagen, daß ein Bezirk dann über sie hinausgewachsen ist, wenn sein für den Wohnungsbau besti=ter Boden hoch genug überbaut ist, um die Entwicklung von primärer Vielfalt und allgemeiner Lebendigkeit zu fördern. Der Grad der Dichte, der in dieser Hinsicht an dem einen Ort richtig ist, kann für einen anderen noch zu niedrig sein. An sich hat eine in Zahlen ausgedrückte Antwort weniger Sinn als eine funktionelle Antwort; zur Not könnte man unverbindlich 250 Wohnungen auf den NettoHektar als Richtzahl für den Punkt nehmen, in dem meist die Gefahr der »Zwischen«-Dichte gebannt ist. Für eine allgemeine Regel wird jedoch diese Norm als zu niedrig befunden werden. Wie hoch sollte die Wohnungsdichte in großen Städten sein? Welches ist ihre obere Grenze? Wenn das Ziel ein dynamisches Großstadtleben ist, dann muß die Wohnungsdichte hoch genug sein, um ein Maximum an potentieller Mannigfaltigkeit aus einem Bezirk herauszuholen. Es ist jedoch so, daß sie auch zu hoch werden kann und dann aus mancherlei Gründen eine Vielfalt zu behindern beginnt, anstatt sie zu fördern. Wohnungsdichten können deshalb zu hoch werden, weil mit der Unterbringung zu vieler Wohnungen je Bodenfläche zwangsläufig eine Typisierung der Gebäude einsetzt. Und die ist entscheidend, da die Unterschiedlichkeit der Gebäude im Alter und Typus in direkter Beziehung zur Unterschiedlichkeit der Bevölkerung und der Unternehmen und damit auch zur Mannigfaltigkeit des öffentlichen Lebens steht. Unter den verschiedenen Gebäuden (alten oder neuen) einer Stadt sind stets einige Typen weniger geeignet, die Zahl der Wohnungen je Bodenfläche zu erhöhen als andere. Ein dreigeschossiges Haus wird, bezogen auf Quadratmeter Land, weniger Wohnungen enthalten als ein zehnstöckiges. Die Anzahl von Wohnungen, die auf ein gegebenes Baugelände gebaut werden kann, ist phantastisch. Le Corbusier hat es mit seinen Plänen für eine Stadt von Reihenhochhäusern im Park demonstriert.

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Aber diese Methode, Wohnungen aufeinanderzupacken, ist niemals unbedingt brauchbar gewesen. Es müßte Raum bleiben für Abwechslung unter den verschiedenen Gebäuden; aber alle anderen Gebäudetypen, die weniger als das Maximum an Wohnungen beherbergen können, werden im allgemeinen verbannt. Ein Maximum aber ist eben immer gleichbedeutend mit Standardisierung. Für jeden bestimmten Ort, für jede bestimmte Zeit pflegt bei dem gegebenen Stand der Konstruktionstechnik und Finanzverhältnisse irgendein ganz bestimmtes Verfahren, viele Wohnungen auf dem Gelände unterzubringen, besonders gut geeignet zu sein. An einigen Orten und zu einem bestimmten Zeitpunkt waren zum Beispiel dreigeschossige Reihenhäuser offenbar die Lösung für maximale Ausnutzung des Baugeländes in der Stadt. Wo solche Reihenhäuser dann alle anderen Gebäudetypen verdrängten, entstand nichts als Monotonie. Zu einer anderen Zeit schienen fünf- oder sechsgeschossige Mietshäuser offenbar die ideale Lösung zu sein. Als Riverside Drive in Manhattau aufgebaut wurde, waren zwölf- und vierzehngeschossige Apartmentblocks offenbar der beste Weg, maximale Wohnungsdichten zu erreichen. Auf der Basis dieser besonderen Typisierung ist dann die Zone mit der höchsten VVohnungsdichte in Manhattau entstanden. Der Bau von Apartmenthäusern mit Fahrstühlen ist heutzutage der einfachste Weg, möglichst viele Wohnungen auf einem gegebenen Baugelände unterzubringen. Bei diesem Wohnbautyp gibt es noch gewisse Abweichungen, so etwa die Typen für maximale Höhen von zwölf Geschossen mit langsam laufenden Fahrstühlen und diejenigen, deren Geschoßzahl von der Wirtschaftlichkeit der Stahlbetonkonstruktion abhängt. (Derartige Maximalhöhen hängen ihrerseits wieder von der technischen Verbesserung der Baukräne ab, so daß die Anzahl der Stockwerke von Jahr zu Jahr wächst. Im Augenblick liegt sie bei zweiundzwanzig.) Da auch die Hochhäuser einer Typisierung unterworfen sind, wird die Skala der unterschiedlichen Lösungen eingeengt. Damit vermindert sich gleichzeitig und ungeachtet aller erreichbaren Wohnungs- und Bevölkerungsdichte die Mannigfaltigkeit der Bevölkerungsschichten. Beliebte Stadtbezirke mit hoher Dichte verfügen stets über beträchtliche Abwechslungen unter ihren Gebäuden. Greenwich Viilage ist solch ein Bezirk. Hier gelang es, die Bevölkerung in Dichten zwischen 310 bis 5oo Wohnungseinheiten je Hektar anzusiedeln, ohne daß eine Standardisierung eingetreten ist. Diese Durchschnittswerte ergeben sich durch die Mischung sämtlicher Gebäudetypen, angefangen von Einfamilienhäusern über Miethäuser und jede Art Apartmenthäuser bis zu Hochhäusern verschiedensten Alters und aller Größenordnungen. Daß Greenwich Village so hohe Wohnungsdichten mit einer derart großen Vielfalt der Gebäudetypen vereinen kann, liegt daran, daß ein großer Prozentsatz des Bodens, der für Wohnungen vorgesehen ist (man nennt das Nettowohnungsbauland), auch tatsächlich mit Wohngebäuden überbaut ist. Schätzungsweise sind in den meisten Fällen zwischen 6o und So Prozent des Bodens überbaut und nur 40 bis 20 Prozent als Höfe und dergleichen frei gelassen. Das ist ein sehr hoher Prozentsatz. Eine so intensive Nutzung des Bodens erlaubt eine gewisse Großzügigkeit in der Nutzung der Gebäude selbst. Die meisten brauchen unter diesen Umständen 127

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nicht bis ins letzte für Wohnungen ausgenutzt zu werden. Trotzdem werden hohe Wohnungsdichten erreicht. Wenn nur 15 oder 25 Prozent des für Wohnbauten bestimmten Bodens überbaut werden, die andern 75 bis 85 Prozent aber offenbleiben, ko=en wir auf die Zahlenverhältnisse, die durchweg für die heutigen Siedlungen mit ihren großen Freiflächen gültig sind. Wenn nur 20 bis 25 Prozent des Bodens überbaut werden dürfen, ist die Zwangsjacke bereits sehr eng. Man muß dann die Wohnungsdichte entweder sehr niedrig halten, oder aber die Wohnbauten auf dem geringen Raum mit Wohnungen vollpacken. Unter solchen Umständen ist es ausgeschlossen, hohe Wohnungsdichten mit irgendeiner Mannigfaltigkeit zu vereinen. Apartmenthäuser, häufig sehr hohe, sind in diesen Fällen unvermeidlich. Die Stuyvesant-Town-Siedlung in Manhattan hat eine Wohnungsdichte von 310 Wohnungen je Netto-Hektar; diese Dichte stellt in Greenwich Viilage die unterste Grenze dar. Um aber diese Dichte in Stuyvesant Town, wo die überbaute Fläche nur 25 Prozent beträgt, überhaupt zu erreichen, müssen die Wohnungen in den Apartmenthäusern aufs strengste typisiert und praktisch alle gleich sein. Vielleicht hätten etwas phantasiebegabtere Architekten die Gebäude in einer anderen Art und Weise anordnen können, aber es wäre auch dabei wahrscheinlich kaum mehr als eine oberflächliche Differenzierung herausgeko=en. Die rein mathematische Unmöglichkeit wird selbst ein Genie daran hindern, eine echte und wirksame Vielfalt bei einer so niedrigen Überbauungsziffer und einer derart hohen Wohnungsdichte zu erzielen. Henry Whitney, ein Architekt und Siedlungsbauexperte, hat viele theoretisch mögliche Kombinationen von Hochhäusern mit niedrigen Gebäuden ausgearbeitet. Er ging dabei von dem niedrigen Prozentsatz aus, der für die Überbauung des Bodens bei öffentlichen Siedlungsbauvorhaben und bei fast allen staatlich unterstützten Wiederaufbauprojekten festgelegt ist. Whitney stellte fest, daß es - ganz gleich, wie man aufteilt - einfach unmöglich ist, die geringen Wohnungsdichten (etwa 100 Wohnungen je Hektar) ohne Standardisierung zu überschreiten, wenn man nicht die Bebauung des Bodens intensiviert, also die Freiflächen reduziert. 250 Wohnungen je Hektar bei niedriger Bebauung ergeben nicht einmal die unbedeutendste Abwechslung, und dabei ist diese Dichte wahrscheinlich bereits das Minimum, wenn man die ungeeigneten »Zwischen«-Dichten vermeiden will. Wenn bei niedriger Bebauungsziffer die Wohnungsdichten hoch genug sind, um städtische Vielfalt hervorzubringen, dann sind die Wohnungsdichten leider automatisch zu hoch, um Vielfalt zu gestatten. Es ist ein »eingebauter« Widerspruch. Angeno=en, die Überbauung ist hoch: wie hoch genau kann man dann mit der Wohnungsdichte einer Nachbarschaft gehen, ohne die Nachbarschaft einer Typisierung zu opfern? Die Beantwortung dieser Frage hängt zum großen Teil davon ab, wieviel Abwechslungsmöglichkeiten schon von den Gegebenheiten her vorhanden sind und welcher Art sie sind; denn sie sind die Grundlage für neue Möglichkeiten. So wird man für eine bereits typisierte Nachbarschaft von drei- oder fünfgeschossigen Häusern niemals eine breitere Abwechslungsskala dadurch erreichen können, daß 128

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man einen neuen Bautyp hinzufügt; dadurch schafft man nur eine höhere Wohnungsdichte und sonst nichts. Am schlimmsten ist es jedoch, wenn von der Vergangenheit her keinerlei Grundlage für Vielfalt, sondem nur freies Gelände vorhanden ist, denn man kann ja kaum erwarten, daß echte Vielfalt von Wohnungs- und Gebäudetypen entstehen wird, wenn alle Bauten zum gleichen Zeitpunkt aufgeführt werden. In Bezirken, in denen die Wohnungsdichte zu gering ist, können Dichte und Abwechslung erhöht werden, indem man neue Gebäude gleichzeitig an verschiedenen, voneinander getrennten Orten errichtet. Kurz gesagt, nicht im Verlauf irgendeines plötzlichen, überstürzten Riesenuntemehmens, sondem ganz allmählich sollten die Wohnungsdichten erhöht und neue Gebäude errichtet werden. Der Prozeß einer allmählichen, aber stetigen Erhöhung der Dichte kann für sich bereits Vielfalt ergeben und auf diese Weise schließlich höchste Wohnungsdichten ohne Typisierung bringen. Die äußerste Grenze für Wohnungsdichten ohne den Zwang zur Typisierung ist letzten Endes auch durch den Boden selbst bedingt. Im North End von Boston schließen die hohen Wohnungsdichten von 68o Wohnungen je Hektar beträchtliche Abwechslung ein; aber diese im ganzen gute Kombination von Gebäuden ist teilweise auf Kosten einer zu weitgehenden Überbauung der rückwärtigen Freiflächen entstanden. Man hat dort früher zu oft eine zweite Gebäudereihe in die rückwärtigen Höfe und innerhalb der kleinen Baublocks gebaut. Praktisch tragen diese Innengebäude nur wenig zur Wohnungsdichte bei, denn sie sind im allgemeinen klein und niedrig gehalten. An sich ist das kein großer Fehler, kuriose Objekte sind immer sehr reizvoll. Nur sind es ihrer hier zu viele. Wenn man in dem Bezirk ein paar Apartmenthochhäuser baute- etwas, was dem North End gänzlich fehlt-, dann könnte man innerhalb der Baublocks den freien Raum etwas vermehren, ohne daß die Wohnungsdichte des Bezirks gemindert würde. Gleichzeitig würde die Variationsbreite der Wohnungen im Bezirk erhöht. Es dürfte kaum möglich sein, höhere Wohnungsdichten als die vom North End in Boston (68o Wohnungen je Hektar) ohne Typisierung zu erreichen. Für die meisten Bezirke, die nicht über ein althergebrachtes Erbe an verschiedenen Gebäudetypen verfügen wie das North End, wird die Gefahr einer zwingenden Standardisierung vermutlich bei soo Wohnungen je Hektar beginnen. Jetzt kommen wieder die Straßen ins Spiel. Eine starke Überbauung, so notwendig sie im Hinblick auf Abwechslung und W,ohnungsdichte ist, kann auch untragbar werden, vor allem dann, wenn sie sich 70 Prozent nähert. Sie wird untragbar, wenn das Siedlungsgelände nicht von vielen Straßen durchzogen ist. Lange Baublocks sind bei intensiver Überbauung in jedem Fall erdrückend. Es bedarf zahlreicher Straßen, die als Offnungen zwischen den Gebäuden fungieren, um eine intensive Überbauung des Nettowohnbaulandes zu kompensieren. Wir sahen schon, wie wichtig die Straßen für die Mannigfaltigkeit eines Stadtbezirks sind; ihre ausgleichende Rolle gegenüber starker Überbauung läßt sie noch wichtiger erscheinen. Andererseits ist jedoch klar, daß sich durch den Bau vieler Straßen der Freiraum, 129

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eben in Form von Straßen, vermehrt. Wenn man in lebendigen Bezirken öffentliche Parks anlegt, entsteht ebenfalls Freiraum. Und wenn man in Wohnbezirke da und dort Gebäude einfügt, die nicht für Wohnzwecke bestimmt sind, was man zugunsten einer Mischung der primären Nutzung tun muß, wird die Gesamtzahl der Wohnungen und Bewohner eines Bezirks vermindert. Die Kombination dieser Methoden - mehr Straßen und Parks in lebendigen Ge· bieten und verschiedenartige Nutzung außer der des reinen Wohnens, zusammen mit großer baulicher Abwechslung - bringt eine Reihe von Wirkungen hervor, die sich sehr unterscheiden von den Auswirkungen »aufgelockerter« Wohnbezirke mit hoher Wohnungsdichte bei ungeheuren Mengen unbebauter Flächen. Die Dinge haben sich sehr gewandelt seit den Tagen, in denen sich Ebenezer Howard die Slums von London besah und den Schluß zog, daß die Großstadt zur Rettung der Menschheit verlassen werden müßte. Die Fortschritte auf Gebieten, die weniger zum Sterben verurteilt sind als Stadtplanung und Wohnungsreform, die Fortschritte der Medizin, des Gesundheitswesens, der Nahrungsmittel- und Arbeitsgesetzgebung, haben die gefährlichen und entwürdigenden Verhältnisse, die einst untrennbar mit hohen Wohnungsdichten in Großstädten verbunden waren, gründlich revolutioniert. Außerdem hat sich inzwischen die Bevölkerung in den Stadtregionen (Innenstädte zusa=en mit Vororten und Trabantenstädten) ständig vermehrt, so daß heute 97 Prozent unseres gesamten Bevölkerungszuwachses auf sie entfallen. »Man kann annehmen, daß diese Tendenz fortdauert«, sagt Dr. Philipp M. Hauser, Leiter des Zentrums für Bevölkerungsforschung an der Universität Chikago, »weil derartige Bevölkerungsballungen die besten Produktions- und Konsumeinheiten darstellen, die unsere Gesellschaft bisher ausgebildet hat. Gerade die Größe, Dichte und Konzentration unserer Stadtregionen, gegen die manche Stadtplaner Einwendungen erheben, gehören zu unseren kostbarsten wirtschaftlichen Vorzügen.« Zwischen 1958 und 1980 wird sich, wie Dr. Hauser betont, die Bevölkerung der Vereinigten Staaten um ungefähr 57 bis 99 Millionen vermehren, und praktisch der gesamte Bevölkerungszuwachs wird in die großen Städte fließen. Der Hauptteil des Zuwachses wird selbstverständlich aus den großen Städten selbst kommen, denn die großen Städte sind nicht länger mehr Menschenfresser wie vor nicht allzulanger Zeit; sie sind dazu übergegangen, Menschen zu erzeugen. Der Zuwachs kann in die Vorstädte und in die langweiligen »Zwischen«-Zonen gestreut werden. Man kann sich aber auch dieses Zuwachses bedienen, um chronisch funktionsunfähige Stadtbezirke zu regenerieren und sie (in Verbindung mit den anderen Voraussetzungen für großstädtische Mannigfaltigkeit) bis zu dem Punkt voranzubringen, an dem die Bevölkerungskonzentration ein Großstadtleben mit Charakter und Dynamik ermöglicht. Das Problem ist für uns heute nicht mehr, wie man Menschen ohne die schlimmen Folgen von ansteckenden Krankheiten, schlechten sanitären Verhältnissen und Kinderarbeit in Großstadtgebieten konzentrieren kann. Wir stehen heute vielmehr vor der Frage, wie man Menschen in Großstadtgebieten halten und die schli=en Konsequenzen von apathischen und hilflosen Nachbarschafren vermeiden will. 130

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Weil die großstädtische Bevölkerung noch anwachsen wird, ist es unsere Aufgabe, ein echtes Großstadtleben zu entwickeln und die wirtschaftliche Kraft der großen Städte zu stärken. Amerikaner sind Großstadtmenschen, die in einer großstädtischen Wirtschaftsordnung leben, dieses Faktum jedoch seit langem störrisch leugnen und nun dabei sind, jeden noch echt ländlichen Zipfel Bodens im Gebiet der Stadtregionen zu verlieren. Wir opfern seit den letzten zehn Jahren unseren ländlichen Boden in einem konstanten Tempo von etwa 1200 Hektar pro Tag. Die Konzentration der Menschen in den großen Städten wird gern a priori als ein wenn auch notwendiges- Übel empfunden. Die landläufige Ansicht ist ja die, daß menschliche Wesen in kleiner Anzahl reizend, in großer Zahl aber äußerst schädlich sind. Daraus wird gefolgert, daß man diese verwirrenden Wesen, diese vielen zusammengepferchten Menschen, sortieren müsse, um sie so anständig und ruhig wie möglich anderweitig verstauen zu können. Ungefähr wie die Küken in einer Hühnerfarm. Man kann aber die Menschen, die in großen und dichten Städten konzentriert sind, durchaus auch mit positivem Vorzeichen betrachten. Man braucht nur von der Oberzeugung auszugehen, daß diese Stadtmenschen höchst wünschenswert sind, weil sie die Quelle ungeheurer Vitalität und auf engem Raum ein riesiges und blühendes Reservoir von Unterschiedlichkeit und von vielfältigen Möglichkeiten darstellen. Man sollte also die Gegenwart der großen Menschenmengen in den großen Städten nicht nur einfach als naturgegebene Tatsache hinnehmen, sondern diese Stadtmenschen als Gewinn für unsere Entwicklung betrachten und ihre Existenz begrüßen; ihre Konzentration sollte dort, wo es für ein gedeihliches großstädtisches Leben notwendig ist, noch verstärkt werden; man sollte dabei ein Höchstmaß an wirtschaftlicher und optischer Mannigfaltigkeit erstreben.

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Legenden über die Nachteile von Mannigfaltigkeit

»Gemischte Nutzungen sehen häßlich aus. Sie verursachen Verkehrsstauungen. Sie provozieren Zerstörerische Nutzung.« Dies sind einige der Fiktionen, die schuld daran sind, daß in den großen Städten Mannigfaltigkeit geradezu bekämpft wird. Dabei ist ein Gewebe von verschiedenen Nutzungen keineswegs gleichbedeutend mit Chaos. Es bildet ganz im Gegenteil eine komplexe und hochentwickelte Form von Ordnung aus. Prüfen wir als erstes das Vorurteil, Mannigfaltigkeit sei häßlich: alles ist häßlich, wenn es schlecht gemacht ist. Das Vorurteil schließt jedoch noch etwas anderes mit ein. Es will gleichzeitig besagen, daß das Erscheinungsbild großstädtischer Mannigfaltigkeit von Natur aus ein Durcheinander sei und daß Orte, die den Stempel der Homogenität tragen, besser aussehen oder sich jedenfalls besser für eine angenehme oder ordentliche ästhetische Gestaltung eignen. Im wirklichen Leben der Städte jedoch werfen gerade die homogenen Ordnungen

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oder eine sehr enge Verwandtschaft unter den verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten höchst merkwürdige ästhetische Probleme auf. Die Gleichheit der Nutzung tritt auch in ihrer äußeren Erscheinung als das auf, was sie ist - als Gleichförmigkeit nämlich; sie ist monoton, öde. Oberfliichlich betrachtet, könnte man Monotonie für eine Art Ordnung, wenn auch eine langweilige, halten. Aber ästhetisch bringt sie leider eine tiefgreifende Unordnung mit sich: die Unordnung der Richtungslosigkeit. An Orten, die mit Monotonie und immer wiederkehrender Gleichförmigkeit geschlagen sind, scheint keine Bewegung irgendwohin zu führen. Da ist der Norden genau wie der Süden oder genau wie Ost und West. Unterschiede - viele Unterschiede -, die in verschiedenen Richtungen Akzente setzen, sind notwendig, um uns eine Orientierung zu ermöglichen. Gegenden von durchgängiger Gleichförmigkeit entbehren entweder jeglicher natürlichen Richtungsweiser, oder aber ihre richtunggebenden Akzente sind derart ungenügend, daß sie nur verwirren. Damit haben wir dann das, was man als eine Art Chaos bezeichnen könnte. Monotonie solcher Art ist schlechthin einfach zu deprimierend, um für irgend jemanden, ausgenommen Siedlungsplaner oder abgebrühteste Grundstücksmakler, ein Ideal darstellen zu können. An Stelle lebendiger Vielfalt finden wir dort, wo die Nutzungen eines Bezirks tatsächlich homogen sind, häufig absichtsvolle Formspielereien an den Gebäuden. Diese künstlichen Abwechslungen werfen wieder andere ästhetische Probleme auf: das künstlich verschieden Gemachte zeugt eben nur von dem Wunsch, anders zu erscheinen. Einige der eklatantesten Beispiele für dieses Phänomen sind von Douglas Haskell, dem Herausgeber von Architectural Forum 1952, mit dem Begriff »googie architecture« (Schaum-Architektur) sehr gut umschrieben worden. Solche »googie«Architektur kann man in schönster Blüte an den Bauten der im wesentlichen gleichförmigen und standardisierten Unternehmen bewundern, die Erfrischungen an Oberlandstraßen feilbieten; da gibt es Würstchenstände in Form eines Würstchens, Eisstände in Form eines Eisbechers usw. Entgegen dem Anschein sind das deutliche Beispiele für die praktisch existierende Gleichförmigkeit; gewissermaßen auf exhibitionistischem Wege versucht man, diesen Läden ein einmaliges Aussehen zu geben, weil man sich von den benachbarten ähnlichen Läden unterscheiden möchte. Kürzlich hat Mr. Raskeil beobachtet, daß Anzeichen von ähnlichem Exhibitionismus nun auch an angeblich würdigen Einrichtungen auftauchen: an Bürogebäuden, Einkaufszentren, Verwaltungsgebäuden, Flughafengebäuden. Eugine Raskin, Professor für Architektur an der Columbia-Universität, schrieb über dieses Phänomen einen Essay mit dem Titel »Üher die Natur der Abwechslung«, der in der Sommerausgabe 1960 des Columbia University Forum enthalten ist. Echte architektonische Abwechslung, sagt Raskin, besteht nicht darin, verschiedene Farben oder Materialien zu benutzen. »Besteht sie vielleicht in der Anwendung kontrastierender Formen? Ein Besuch in einem der größeren Einkaufszentren wird Klarheit verschaffen. Obwohl glatte Flächen, Türme, Kreise und Rolltreppen über das Ganze in Hülle und Fülle verstreut sind, sind das Ergebnis niederschmetternde Gleichförmigkeit und

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Höllenqualen für die Besucher. Mögen einen die Einzelheiten auch mit verschiedenen Instrumenten foltern, die Qual ist immer die gleiche ... Wenn wir beispielsweise ein Geschäftsviertel bauen, in dem alle (oder praktisch alle) mit dem Verdienen ihres Lebensunterhalts beschäftigt sind, oder einen Wohnbezirk, in dem jeder tief in den Pflichten der Familie steckt, oder eine Ladenzone, in der alles für den Tausch von Dienstleistungen gegen Geld bestimmt ist - kurz, wenn das Muster menschlicher Aktivität nur aus einem einzigen Element besteht, dann ist es der Architektur unmöglich, eine überzeugende Abwechslung hervorzubringen; wobei >überzeugend< hier im Sinne der bekannten Tatsachen menschlicher Differenzierung gemeint ist. Der Architekt mag Farbe, Material und Form abwandeln, bis seine Instrumente unter den Anforderungen rebellieren - er kann damit nur einmal mehr beweisen, daß Kunst ein Medium ist, in dem man nicht mit Erfolg lügen kann.« Je homogener die Nutzung einer Straße oder einer Nachbarschaft ist, desto größer ist die Versuchung, auf irgendeine Art und Weise künstliche Differenzierungen vorzunehmen. Wilshire Boulevard in Los Angeles ist ein Beispiel für die ständige Anstrengung, auf einer kilometerlangen Strecke monotoner Bürogebäude äußerliche Unterscheidungsmerkmale zu schaffen. Los Angeles steht jedoch nicht allein da mit Anblicken dieser Art. San Franziska sieht, sosehr man dort auch diese Differenzierungsversuche in Los Angeles verachtet, sehr ähnlich aus in seinen neuen Randgebieten mit Siedlungen und Einkaufszentren, und ungefähr aus den gleichen Gründen. Euclid Avenue in Cleveland, die von vielen Kritikern einmal als eine der schönsten Avenuen in Amerika (aber da war sie im wesentlichen noch eine Vorortallee mit großen, schönen Häusern auf großen, schönen Grundstücken) gerühmt wurde, ist heute zu Recht von Richard A. Miller im Architectural Forum zu einer der häßlichsten und unübersichtlichsten Straßen erklärt worden. Als sich Euclid Avenue in eine richtige Stadtstraße verwandelte, hat sie sich zur Monotonie gewandelt: Bürogebäude und nichts als eine auf Wirkung berechnete oberflächliche Abwechslung. Homogenität der Nutzung führt zwangsläufig zu einem ästhetischen Dilemma: Soll das Homogene so homogen aussehen, wie es ist, und darum schlicht öde sein? Oder soll man versuchen, es nicht so homogen aussehen zu lassen, wie es ist, und es darauf anlegen, ins Auge springende belanglose Variierungen ohne inneres Ordnungsprinzip zu erzielen? Eben dies ist, auf die Großstadt angewandt, das altbekannte Problem der formellen Planung von Vororten. Soll man die Planung auf Gleichförmigkeit der Erscheinung ausrichten, oder soll man Gleichförmigkeit verbieten? Und wenn Gleichförmigkeit verboten wird, wo wird dann die Grenzlinie gezogen gegen das, was vielleicht zu individuell im Entwurf ist? Eine Mannigfaltigkeit der Nutzung bietet hingegen vernünftige Möglichkeiten für echte Abwechslung im wesentlichen, in der Gestalt. Deshalb kann eine solche ungekünstelte und nicht nur auf optische Wirkung berechnete Abwechslung auch interessant und anregend für das Auge sein. So ist die Fifth Avenue in New York zwischen der Vierzigsten und der Neunundfünfzigsten Straße außerordentlich abwechslungsreich an großen und kleinen Ge133

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schäften, Banken, Bürogebäuden, Kirchen und öffentlichen Institutionen. Ihre Architektur drückt diese verschiedenen Nutzungen aus, und die Abwechslung wird gefördert durch die Altersunterschiede der Gebäude und ihre verschiedenartigen und historisch gebundenen Bauweisen. Aber Fifth Avenue sieht deshalb nicht im geringsten zerstückelt oder zerrissen aus. Es gibt viele Beispiele dafür, daß großstädtische Mannigfaltigkeit Wohngebäude einschließen und dabei gut fahren kann: Rittenhouse-Square-Bezirk in Philadelphia, Telegraph Hill in San Franzisko, Teile vom North End in Boston. Kleinere Gruppen von Wohnhäusern können einander durchaus ähnlich und sogar in der gleichen Bauweise errichtet sein, ohne daß sie einem Bezirk das Leichentuch der Monotonie überwerfen, wenn sie nicht mehr als einen kurzen Baublock umfassen und sich nicht unmittelbar wiederholen. Unter solchen Voraussetzungen bilden die Gruppen eine Einheit, die sich nach Inhalt und Erscheinung von der angrenzenden Nutzung oder Wohnbebauung absetzt. Manchmal kann eine Mannigfaltigkeit der Nutzung im Verein mit unterschiedlichem Gebäudealter sogar Baublocks von übermäßiger Länge ihre Monotonie nehmen. Ein Beispiel dafür bietet die Elfte Straße zwischen der Fünften und der Sechsten Avenue in New York, eine Straße, die würdig und interessant ist, auf der man gem geht. Wohnbauten sind mit zehn verschiedenen anderen Nutzungen vermischt, die Bauweisen der Wohnungsbauten stammen aus verschiedenen Zeiten und Geschmacksrichtungen, haben mancherlei Stile und stehen für verschiedene Lebensstandards. Sie haben ungezählte simple, unbedeutende Unterschiede, beispielsweise verschiedene Sockelhöhen und abwechslungsreiche Eingänge. Diese Unzahl kleiner Variationen leitet sich ganz natürlich von der Tatsache her, daß die Gebäude tatsächlich verschieden an Art und Alter sind. Die Wirkung ist heiter und ungekünstelt. Noch interessantere optische Effekte, die ebenfalls ein Sichzurschaustellen oder andere Scheinwirkungen unnötig machen, ergeben sich bei noch radikalerer Mischung von Gebäuden- radikaler deshalb, weil die Unterschiede radikaler sind. Die meisten Marksteine und Wahrzeichen in großen Städten gründen sich auf eine Nutzung, die sich extrem von der ihrer Umgebung unterscheidet; deshalb sind sie prädestiniert dazu, besonders hervorzutreten und bei glücklicher Lage dramatische und kontrastierende Wirkungen hervorzubringen. Genau davon sprach Peets (vgl. Kapitel 8), als er dafür eintrat, monumentale oder besonders schöne Gebäude innerhalb des normalen Stadtnetzes zu verteilen, statt sie zusammen mit anderen im wesentlichen gleichartigen Nachbarn in »Ehrenhöfe« zu verbannen. Echte Abwechslung in der Szenerie einer Stadt drückt, wie Raskin treffend formuliert, »das Gewebe menschlicher Ordnungen« aus. »Eine Stadt ist voller Menschen, die verschiedene Dinge aus verschiedenen Gründen und mit verschiedenen Zielen betreiben. Die Architektur spiegelt diese Unterschiede wider. Dabei entsteht eine Abwechslung, die sich mehr aus dem Gehalt als aus der Form ergibt. Da wir Menschen sind, interessieren uns vor allem die Menschen. In der Architektur wie in der Literatur und im Drama ist es die Fülle an menschlicher Differenziertheit, welche der menschlichen Umgebung Dynamik und Farbe verleiht ... Was die Gefahr der Monotonie angeht, so haben unsere Gesetze für die Schaffung

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homogener Zonen vor allem den Fehler, daß sie es überhaupt zulassen, einen ganzen Bezirk einer einzigen Nutzung zu widmen.« In ihrem Streben nach optischer Ordnung können die großen Städte unter drei Alternativen wählen, von denen zwei hoffnungslos ungeeignet sind, während man an die eine Hoffnungen auf Erfolg knüpfen kann. Sie können homogene Bezirke planen, die homogen aussehen- die Ergebnisse werden deprimierend und chaotisch sein. Sie können homogene Bezirke anstreben, die nicht homogen aussehen, und werden vulgäre und unehrliche Wirkungen erzielen. Oder aber sie können sich bemühen, Bezirke von großer Mannigfaltigkeit zu schaffen - dann können sie, weil echte Mannigfaltigkeit auch ihren architektonischen Ausdruck finden wird, Resultate erzielen, die schlimmstenfalls nichts als interessant sind und bestenfalls auch das Auge entzücken. Halten wir als wichtigen Punkt fest, daß großstädtische Mannigfaltigkeit in keiner Weise von Natur aus häßlich ist. Stimmt es, daß Mannigfaltigkeit zu Verkehrsstauungen führt? Verkehrsstauungen werden zunächst einmal durch die Fahrzeuge und nicht durch die Menschen selbst verursacht. Wo Menschen nur dünn gesiedelt sind oder wo es nur wenig verschiedene Nutzungen gibt, zieht jede besondere Attraktion eine Verkehrsstauung nach sich. Attraktionen dieser Art sind Kliniken, Einkaufszentren oder Kinos; sie bedingen eine Konzentration des Verkehrs und belasten die Zufahrtsstraßen schwer. Jeder, der diese Orte aufsuchen will oder muß, kann es nur mit dem Auto tun. Selbst Schulen können Verkehrsstauungen in ihrer Umgebung verursachen, wenn die Kinder in die Schule gebracht werden müssen. Der Mangel an konzentrierter Mannigfaltigkeit kann bewirken, daß die Menschen für ihre sämtlichen Bedürfnisse auf ihre Autos angewiesen sind. Der Raum, der für Straßen und Parkplätze benötigt wird, zieht dann alles noch mehr auseinander und erzwingt einen erhöhten Gebrauch von Fahrzeugen. Das ist tragbar, solange die Bevölkerung wirklich weit verstreut wohnt. Es wird untragbar und zerstört viele andere Werte und fast alle übrigen Bequemlichkeiten dort, wo die Bevölkerung dicht oder kontinuierlich angesiedelt ist. In dichtbebauten, dynamischen Stadtbezirken gehen die Leute nämlich noch zu Fuß, wählen also eine Fortbewegungsart, die in den Vororten und in den meisten grauen Zonen nicht ratsam ist. Und selbst diejenigen Menschen, die mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln in solch einen lebendigen Bezirk kommen, gehen zu Fuß, sobald sie angekommen sind. Stimmt es, daß großstädtische Mannigfaltigkeit Zerstörerische Nutzung provoziert? Ist die Zulässigkeil einer jeden Nutzungsart in einem Bezirk schädlich? Dazu müssen wir auf verschiedene Nutzungsmöglichkeiten eingehen, von denen einige tatsächlich schädlich sind, während andere nur gemeinhin als schädlich betrachtet werden, es aber nicht sind. Altwarenmärkte sind ein Beispiel für destruktive Nutzungsmöglichkeiten, die nichts zum allgemeinen Gedeihen eines Bezirks, zu seiner Anziehungskraft oder zu einer Förderung seiner Bevölkerungskonzentration beitragen. Ohne echte Gegenleistung 135

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stellen solche Nutzungsarten gewissermaßen unverhältnismäßig hohe Ansprüche an Raum und an ästhetische Toleranz. Gebrauchtwagen-Verkauf und leerstehende oder zu gering genutzte Gebäude fallen ebenfalls unter diese Kategorie. Wahrscheinlich sind sich alle (außer den Eigentümern solcher Objekte) darüber einig, daß diese Nutzungskategorie nachteilig ist. Daraus folgt jedoch nicht, daß Altwarenmärkte und dergleichen von Natur aus Bedrohungen für großstädtische Mannigfaltigkeit darstellen. Funktionsfähige Bezirke sind niemals übersät mit Altwarenmärkten oder Gebrauchtwagenhöfen, aber das ist keineswegs der Grund dafür, daß diese Bezirke funktionsfähig sind. Diese Nutzungskategorie ist in ihnen nicht oder kaum vertreten, weil sie funktionsfähig sind. Die Schwierigkeiten, von denen eine derartige nachteilige Nutzung zeugt, liegen tiefer als die Stadtplaner annehmen. Mit der Forderung »Weg mit ihnen, sie gehören nicht hierher!« ist es nicht getan. Das Problem ist vielmehr, eine wirtschaftliche Umgebung im Bezirk zu schaffen, die eine dynamischere, vorteilhaftere und logischere Nutzung des Raumes einschließt. Wenn das nicht geschieht, kann der vorhandene Raum ebensogut für derartige Dinge wie Gebrauchtwagenhandel benutzt werden, weil dann anderes kaum aussichtsreicher ist; auch nicht Parks oder öffentliche Plätze, die, wie wir sahen, in katastrophaler Weise verkommen, sobald ihre wirtschaftliche Umgebung eine andere Nutzung nicht tragen kann. Weitere Nutzungskategorien, die allgemein von den Stadtplanern als schädlich betrachtet werden, besonders wenn sie in Wohnbezirke eindringen, sind Bars, Theater, Kliniken und Fabriken. Es sind Kategorien, die an sich keineswegs schädlich sind. Die Einwände gegen sie und die Forderung, solche Unternehmen sollten streng kontrolliert und aus \;vohnbezirken verbannt werden, kommen aus entsprechenden Erfahrungen in Vororten und grauen, an sich schon gefährlichen Zonen, beziehen sich aber in keiner Weise auf ihre Auswirkungen in lebendigen Stadtbezirken. '"enn solche Unternehmen nur dünn über graue Zonen verteilt sind, können sie schaden, weil diese Zonen nicht geeignet sind, mit Fremden fertig zu werden- oder sie zu schützen. In lebendigen Bezirken, in denen eine Fülle von Vielfalt zu einer Ordnung gelangt ist, können derartige Nutzungen nichts schaden. Sie sind im Gegenteil notwendig. Arbeitsstätten rufen ein weiteres Vorurteil auf den Plan: es bezieht sich auf rauchende Schornsteine und herumfliegende Asche. Natürlich schadet so etwas, aber das besagt noch lange nicht, daß städtische Fertigungsbetriebe (die zumeist gar nicht von solchen Nebenerscheinungen begleitet sind) oder andere ähnliche Nutzungen aus Wohnbezirken verbannt werden müßten. Wesentlich angebrachter wäre es, sich um die Beseitigung der Belästigungen zu bemühen. Das entsprechende Losungswort der Planer war früher die berühmte Leimfabrik: »Hätten Sie gern eine Leimfabrik in Ihrer Nachbarschaft?« Das war die Stichfrage. Warum eine Leimfabrik? Anscheinend war der Begriff verbunden mit toten Pferden und alten Fischen, und man konnte sich darauf verlassen, daß sich die l\1enschen bei dieser Assoziation schaudem von der Möglichkeit abwenden und von vomherein auf jedes Nachdenken verzichten würden. Heutzutage ist die Leimfabrik durch das Stichwort »Beerdigungsinstitut« ersetzt

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worden, das immer wieder aufgetischt wird, sobald man die Schrecken einer Nachbarschaft anschaulich machen will, deren Nutzungen nicht durch die funktionelle Stadtplanung kontrolliert werden. Dabei wirken aber Beerdigungsinstitute mit ihrer Erinnerung an den Tod inmitten dynamischer Stadtbezirke vielleicht weniger erschreckend als in traurigen Vorortstraßen. Der einzige Hinweis auf den Schaden, den angeblich Beerdigungsinstitute Stadtbezirken zufügen, findet sich in The Selection of Retail Locations von Richard Nelson. Nelson beweist mit statistischen Daten, daß Leute, die Beerdigungsinstitute aufsuchen, diesen Besuch gewöhnlich nicht mit normalen Einkaufsgängen verbinden. Deshalb ist es kein zusätzlicher Vorteil für den Einzelhandel, neben solchen Instituten zu liegen. Zum Schluß nun noch die eine Kategorie von Nutzungen, die sich auf blühende und lebendige Bezirke tatsächlich schädlich auswirken kann, wenn ihre Lage nicht kontrolliert wird. Sie umfaßt Parkplätze, Lastwagen-Depots, Tankstellen, übermäßig große Reklame im Freien und Unternehmen, die an sich nicht schädlich sind, sondern nur in gewissen Straßen unangebracht sind. Alle fünf Nutzungsarten können (im Gegensatz zu Altwarenmärkten) einträglich genug sein, um in lebendigen und funktionsfähigen Bezirken zu existieren. Gleichzeitig jedoch wirken sie sich verödend auf die Straßen aus. Vom Optischen her zerreißen sie - dominierend, wie sie meistens sind - das Straßenbild, so daß es manchmal unmöglich, immer aber schwierig ist, wirksame Gegengewichte im Interesse der anderen Nutzungen und im Hinblick auf die äußere Erscheinung zu finden. Im Fall der ersten vier Nutzungen ist das eindeutig, im Fall des fünften Beispiels jedoch handelt es sich mehr um die reine Größe von Unternehmen als um die Art der Nutzung. In gewissen Straßen wirkt jedes Unternehmen, das einen übermäßig großen Teil der Straßenfront einnimmt, zerstörerisch und tötend, auch wenn das gleiche Unternehmen in kleinerem Rahmen vom Nutzungsstandpunkt aus der Straße durchaus zum Vorteil gereichen würde. Wenn zum Beispiel typische Wohnstraßen alle möglichen Arten von Geschäften haben, müssen diese Geschäfte sich hinsichtlich ihrer Größe dem allgemeinen Rahmen anpassen. Wenn aber auf einer solchen Straße eine einzelne Nutzung plötzlich eine riesige Straßenfront für sich beansprucht, kann sie die ganze Ordnung der Straße sprengen. Das heißt auf keinen Fall, daß nun alle Straßen in den großen Städten in Hinsicht auf das Ausmaß der Unternehmen an den Straßenfronten kontrolliert werden sollten. Viele Straßen, in denen große oder breite Gebäude vorherrschen, ob für Wohnoder andere Zwecke, können Unternehmen mit riesigen Fronten durchaus verkraften und sie noch dazu mit kleineren vermischen, ohne daß die Straßen gesprengt und ohne daß sie vom Funktionellen her durch eine bestimmte Nutzung gänzlich beherrscht werden. Fifth Avenue hat eine solche Mischung von Unternehmen großen und kleinen Umfangs. Straßen jedoch, die eine derartige Kontrolle nötig haben, haben sie dann auch besonders nötig, und zwar nicht nur im eigenen Interesse, sondern weil es die charaktervollen Straßen sind, die dem Stadtbild Vielfalt verleihen. 137

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Raskin schreibt, wie erwähnt, in seinem Essay über die Abwechslung, daß der größte Fehler den die heutige funktionelle Stadtplanung macht, der ist, daß sie Monotonie überhaupt zuläßt. Vielleicht ist der nächstgrößte Fehler der, daß ihr das Problem des Umfangs der Nutzung nicht klar ist oder daß sie es mit dem Problem der Nutzungsart verwechselt. Gerade dies führt jedoch zu optischer (und manchmal funktioneller) Sprengung der Straßen oder zu undifferenzierten Versuchen, alle möglichen Nutzungen aus den Straßen herauszuziehen, ohne ihre Größe und ihre tatsächlichen funktionellen Wirkungen zu berücksichtigen. Auf solche Art und Weise wird manche vorhandene Mannigfaltigkeit ganz unnötig zerstört. Gewiß gedeihen in Stadtbezirken mit blühender Vielfalt auch seltsame und unvorhersehbare Nutzungen und Erscheinungen. Aber das muß nicht unbedingt ein negativer Faktor für die städtische Mannigfaltigkeit sein. Es gehört dazu, es gehört zu den Bestimmungen der Großstadt. Paul J. Tillich, Professor für Theologie in Harvard, schrieb dazu: »Ihrer Natur nach bietet die Metropole das, was sonst nur Reisen bieten, nämlich das Fremde. Da das Auftreten von Fremdartigem zu Fragen anleitet und an altvertrauten Traditionen rüttelt, dient es dazu, den Verstand anzuregen ... Es gibt keinen besseren Beweis für diese Tatsache als die Versuche aller totalitaristischen Regierungen, das Fremde ihren Untertanen fernzuhalten . . . Man schneidet große Städte in Stücke, 'von denen jedes kontrolliert, gesäubert und gleichgeschaltet wird. Auf diese Weise wird beides, das Geheimnisvolle des Fremden und die kritische Vernunft der Menschen, aus den großen Städten entfernt.«

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Teil ll

Ursachen für Verfall und Regeneration

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Die Selbstzerstörung großstädtischer Mannigfaltigkeit

Zusammenfassend kann man sagen, daß die amerikanischen großen Städte alle möglichen Formen von sich gegenseitig fördernder Mannigfaltigkeit brauchen. Sie brauchen sie für eine gute und konstruktive Funktion und für das Fortschreiten der gesellschaftlichen Entwicklung. Für einige Institutionen, die zu großstädtischer Vielfalt beitragen, wie zum Beispiel für Parks, Museen, Schulen, Vortragssäle, Krankenhäuser, manche Büros und manche Wohnbauten, sind offizielle und halboffizielle Stellen verantwortlich. Jedoch wird der Hauptteil großstädtischer Mannigfaltigkeit von einer Unzahl verschiedener Menschen und verschiedener privater Organisationen außerhalb des offiziellen Rahmens gemeindlicher Verwaltungspolitik geschaffen. Das wichtigste Ziel der Stadtplanung sollte daher sein, Städte zu schaffen, deren Atmosphäre der Entwicklung solcher inoffizieller Pläne, Gedanken und Möglichkeiten ebenso förderlich ist wie dem Gedeihen öffentlicher Einrichtungen. In den Kapiteln des dritten Teils dieses Buchs sollen nun verschiedene machtvolle Faktoren behandelt werden, die das Ausschlagen von Mannigfaltigkeit und Dynamik zum Guten oder zum Bösen beeinflussen. Dabei werden nur Stadtbezirke ins Auge gefaßt, in denen keine der vier Voraussetzungen zur Ausbildung von Mannigfaltigkeit fehlt, die also in der Ausbildung von Vielfalt nicht behindert sind. Bei den negativen Kräften handelt es sich um folgende: die Tendenz besonders dynamischer Bezirke, ihre eigene Mannigfaltigkeit zu zerstören; die Tendenz, durch massives Auftreten einzelner Elemente (von denen viele notwendig und an sich wünschenswert sind) abstumpfend zu wirken; die Tendenz, die Bildung von Mannigfaltigkeit durch die Unstabilität der Bevölkerung zu behindern; die Tendenz öffentlicher und privater Gelder, Entwicklungen und Differenzierungen entweder zu überfüttern oder verhungern zu lassen. Diese Faktoren stehen selbstverständlich alle miteinander in wechselseitiger Beziehung. Es ist aber angebracht und nützlich, jeden dieser Faktoren einzeln für sich zu behandeln, um ihn in seiner Wirkung zu durchschauen. Erst wenn das gelungen ist, kann man versuchen, ihn zu bekämpfen oder, besser noch, konstruktiv zu lenken. Da ist also als erstes die Tendenz, daß sich überdurchschnittlich funktionsfähige Stadtbezirke als reine Folge ihrer Funktionsfähigkeit selbst abdrosseln. Solche Selbstzerstörung der Mannigfaltigkeit ist beispielsweise der Grund dafür, daß unsere Innenstädte ständig ihr Zentrum verlegen und selbst umherwandern. Was 159

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wiederum viele Bezirke veröden läßt und der Grund für sehr viel Stagnation und Niedergang in den Innenstädten ist. Eine Selbstzerstörung dieser Art kann in einzelnen Straßen, an einzelnen kleinen Brennpunkten, in Straßengruppen oder auch in ganzen Bezirken vor sich gehen. Der letzte Fall ist der schwerstwiegende. Ganz gleich, welche Form die Selbstzerstörung annimmt, in großen Zügen spielt sich immer das gleiche ab: Eine differenziertere Nutzungsmischung irgendwo in der Stadt gewinnt besondere Popularität und ist besonders funktionsfähig im ganzen. Auf Grund des Erfolgs der Lokalität, der stets auf blühende und dynamische Mannigfaltigkeit zurückzuführen ist, entwickelt sich ein heftiger Wettbewerb um den Raum an diesem Ort, der schließlich zu Liebhaberpreisen gehandelt wird. Die Gewinner in diesem Wettbewerb um den Raum können immer nur einem engbegrenzten Teil der vielen verschiedenen Nutzungen obliegen, welche zusammen den Erfolg des Bezirks ausmachen. Die wenigen Unternehmen, die sich als ertragreichste erwiesen haben, werden sich ständig vermehren und zum Schluß die anderen weniger ertragreichen Nutzungen aus dem Bezirk verdrängen. Das gleiche gilt für Wohnungen in solchen Bezirken. Die Gewinner im Wettbewerb werden nur einer ganz bestimmten Kategorie der Gesamtbevölkerung angehören; sie sind klassifiziert durch die während des Wettbewerbs hochgetriebenen Kosten. Einzelne Straßen sind im allgemeinen mehr dem Wettbewerb des Einzelhandels ausgeliefert, ganze Bezirke mehr dem Wettkampf, der sich aus der Anziehungskraft von Arbeits- und Wohnstätten ergibt. Der Vorgang ist stets der gleiche: eine alles beherrschende Nutzung geht schließlich siegreich aus derartigen Wettbewerben hervor; oder es sind nur einige wenige. Der Sieg steht jedoch auf tönernen Füßen, im Verlauf des Kampfes ist der funktionsfähige Organismus meist zerstört worden. Von diesem Augenblick an wird ein Bezirk dann allmählich vonallden Menschen verlassen, die ihn anderer als der siegreichen Nutzungen wegen besuchten oder bewohnten, denn die anderen Nutzungen sind nun im Hintertreffen oder ganz verschwunden. Der Ort wird sowohl optisch wie funktionell monoton. Daraus folgen alle wirtschaftlichen Nachteile der ungenügenden Verteilung von Menschen über die Tag- und Nachtstunden in den Straßen, und der Ort ist in Kürze nicht einmal mehr für die beherrschende Nutzung geeignet. Ganz so ist es der Innenstadt von Manhattan ergangen. Es gibt in unseren Städten viele Straßen, die auf diese Weise bereits heruntergekommen sind und im Zustand der Stagnation verharren. An anderen wiederum kann man den Ablauf des Prozesses genau beobachten; sie stecken noch mitten drin. So befindet sich gerade eine Straße in Greenwich, die Dritte Straße, in derartigen Schwierigkeiten. Die Dritte Straße war auf eine mehrere Baublocks umfassende Strecke ungemein beliebt geworden; sie zog viele Touristen an durch die lokale Boheme-Atmosphäre ihrer Cafes und kleinen Wirtschaften, unter welche sich- zuerst - einige wenige Nachtbars gemischt hatten. Es war eine interessante Gegend mit allen möglichen Geschäften und ein Wohnbezirk für eine stabile italienische Bevölkerung und für Künstler. Vor fünfzehn Jahren noch stellten die abendlichen

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Besucher einen konstruktiven Teil des gemischten öffentlichen Lebens in diesem Gebiet dar. Die allgemeine Lebendigkeit, zu der sie beitrugen, gehörte auch für die Bewohner zu den Anziehungspunkten. Heute sind die Nachtlokale in der Straße vorherrschend, also auch im öffentlichen Leben der Straße. Sie haben in den Bezirk, der bis dahin ausgezeichnet mit seinen fremden Besuchern fertig geworden war, viel zuviel Fremde gezogen, die im allgemeinen zu unsichere Kantonisten sind, als daß die ansässige Bevölkerung ihnen Widerpart bieten könnte. Die Vermehrung der einträglichsten Nutzung ist auch hier im Begriff, die Grundlage ihrer eigenen Anziehungskraft zu unterminieren. Man kann die gleiche Selbstzerstörung der Mannigfaltigkeit auch an besonders anziehenden Brennpunkten und Straßenabschnitten beobachten. So in Philadelphia an der Kreuzung von Chestnut und Broad Street. Die Kreuzung war vor ein paar I ahren Brennpunkt der abwechslungreichen Geschäftsgegend von Chestnut Street, und die Ecken der Kreuzung waren das, was Grundstücksmakler eine »Hundertprozent«-Lage nennen. Eine der Ecken wurde von einer Bank eingenommen. Drei andere Banken wollten offenbar ebenfalls an dieser Hundertprozent-Ecke sitzen und kauften sich dort ein. Von dem Augenblick an war es jedoch mit der HundertprozentLage vorbei. Heute ist die Kreuzung ein lebloser Riegel, und die dynamische Vielfalt an Geschäften und Betrieben ist von der Kreuzung fort in die Straßen zurückgedrängt worden. Manchmal, und besonders dann, wenn die Baublocks nicht zu lang sind, können einzelne Straßen eine ganze Menge an Vermehrung erfolgreicher Nutzungen absorbieren oder sich nach vorübergehender Stagnierung wieder regenerieren. Wenn sich jedoch die ganze Nachbarschaft der Straßen und ganze Bezirke auf übertriebene Einseitigkeit der nun einmal ertragreichsten Nutzung einstellen, dann ist das Problem wesentlich ernster. Schlagende Beweise für derartige Auswirkungen von Einseitigkeit kann man in vielen Innenstädten beobachten. Die einstigen historischen Stätten von Bostons Innenstadt zum Beispiellassen sich wie Versteinerungen von Schichten und Schichten einzelner isolierter Nutzungen verfolgen. Die Planungsbehörde in Boston hat sie einmal, als sie die Nutzung ihrer Innenstadt analysieren wollte, auf der Karte mit verschiedenen Farben gekennzeichnet: je eine bestimmte Farbe für Verwaltungsund Finanzbüros, für Regierungsgebäude, Vergnügungsstätten usw. Die stagnierenden Bezirke erscheinen auf dieser Karte praktisch als eine Serie einfarbiger Flecke. Andererseits gibt es auf der Karte dort, wo die Back Bay auf eine Ecke der öffentlichen Promenade trifft, ein »gestreiftes« Gebiet. Dieses Gebiet war zu komplex zusammengesetzt, um die einzelnen Nutzungen genau festzuhalten, also lief es unter »gemischt«. Und es ist der einzige Teil von Bostons Innenstadt, der im Augenblick dynamische Tendenzen zeigt, sich wandelt, wächst und sich einer lebendigen Stadt entsprechend verhält. Derartige Gebiete »assortierter« Nachbarschafren wie in Boston werden gemeinhin etwas vage für die Folge-Erscheinungen von umherwandemden Innenstadtzentren gehalten. Das sind sie aber keineswegs. Diese Klumpen von übertrieben einseitiger 141

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Nutzung sind die Ursache dafür, daß die Zentren der Innenstädte sich woandershin verlegt haben. Die ursprüngliche Mannigfaltigkeit ist durch die hemmungslose Ausnutzung eines Erfolges aus den Bezirken hinausgedrängt worden. Ein umherwandemdes Innenstadtzentrum läßt meist, zusammen mit den Klumpen einseitiger Nutzung, noch Gebiete zurück, die vollkommen nichtssagend sind; es sind die Orte, die von der intensiven allgemeinen Mannigfaltigkeit der Umgebung ausgelassen wurden und die von der neuen spezifischen Nutzung auch nicht profitieren können, da diese eine zu geringe und begrenzte Verteilung des Publikums auf den Straßen mit sich bringt. Anscheinend spielt sich die gleiche Selbstzerstörung von Mannigfaltigkeit als Folge einseitiger Nutzung auch in London ab. Ein Artikel vom 9· Januar 1959 über Probleme der Planung von Londons Innenstadt im Journal of the Town Planning Institute berichtet folgendes: »Seit vielen Jahren ist jede Mannigfaltigkeit aus der City (dem Bank- und FinanzZentrum) verschwunden. Das wimmelnde Tagespublikum dort steht in großem Kontrast zu den nur fünftausend Personen in der Nacht. Was in der City geschehen ist, geschieht jetzt im West End. Viele, die Büros im West End haben, behaupten, daß sie sich dort ihrer Kunden wegen niedergelassen haben, wegen der Hotels, Klubs, Restaurants, und um ihren Angestellten die Benutzung der Geschäfte und der Parks zu ermöglichen. ·wenn jedoch dieser Prozeß weitergeht, werden eben diese Vorzüge von den Bürogebäuden aufgeschluckt werden, und aus dem West End wird ein ödes Meer von Büroblocks werden.« Wir haben nur kümmerlich wenig wirklich funktionsfähige Wohnbezirke in unseren amerikanischen Städten. Die meisten Wohnbezirke haben niemals über die vier grundlegenden Voraussetzungen zur Förderung von Abwechslung verfügt. Wenn aber die relativ wenigen lebendigen Wohnbezirke einmal wirklich .eine besondere Anziehungskraft ausstrahlen, dann unterliegen sie den gleichen Gefahren der Selbstzerstörung wie die lnnenstädte. In solchen Bezirken wird es dann für Bauunternehmer einträglich, in großem Umfang für gutzahlende Mieter zu bauen. Das sind meistens kinderlose Leute, die Unsummen für den kleinsten Raum zahlen wollen und können. Die Unterbringung engbegrenzter Bevölkerungsschichten verdrängt dann wieder das Gewebe der Mannigfaltigkeit und damit andere Bevölkerungsschichten. Genau dies geht im Augenblick in rasantem Tempo in großen Teilen von Greenwich Village, Yorkville und auf der East Side von Manhattau vor sich. Das, was so bewundert wurde und magnetisch wirkte, wird durch neu Hinzuziehende vernichtet- mit dem Akt des Zuzuges selbst. Der hier geschilderte Prozeß findet immer nur in Gebieten begrenzten Umfangs statt, da er sich nur als Folge ungewöhnlicher Anziehungskraft eines Gebietes einstellt. Trotzdem ist die Zerstörerische Macht des Prozesses größer und emster, als die jeweilige geografische Begrenzung annehmen ließe. Die reine Tatsache, daß der Prozeß nur in ungewöhnlich funktionsfähigen Gebieten stattfindet, erschwert es unseren Städten, auf einer einmal vorhandenen ungewöhnlichen Funktionsfähigkeit aufzubauen, sie auszubauen. Allzuoft tritt die gegenteilige Wirkung ein. Hinzu kommt, daß die Mittel, mit denen eine ungewöhnliche Funktionsfähigkeit

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vemichtet wird, für die Städte doppelt destruktiv sind. Zu derselben Zeit nämlich, in der neue Bauten und übertriebene einseitige Nutzungen irgendeinen Ort zerstören, werden die gleichen Bauten und Nutzungen anderen Bereichen entzogen, wo sie die Mannigfaltigkeit erhöhen und stärken würden. Aus irgendwelchen Gründen sind Banken, Versicherungsgesellschaften und Repräsentationsbüros immer die gefräßigsten Zerstörer in dieser Hinsicht. Man sehe sich an, wo Banken oder Versicherungsgebäude aufeinandersitzen, und man wird nur zu oft feststellen, daß dort ein früher dynamisches Zentrum durch diese Institutionen ersetzt, daß dort ein Brennpunkt von Lebendigkeit nivelliert worden ist. Vermutlich ist dieser merkwürdige Umstand auf zwei Ursachen zurückzuführen. Solche Organisationen sind konservativ. In Hinsicht auf die Wahl des Geschäftssitzes innerhalb der Stadt heißt das, daß man dort investiert, wo die Situation bereits als stabil gilt. Und dann haben diese Organisationen Geld und können so die Mehrzahl aller Wettbewerber für den Raum, den sie haben wollen, überbieten. Wunsch und Möglichkeit, sich in erfolgreich funktionierenden Bezirken niederzulassen, werden auf diese Weise bei Banken und Versicherungen in Einklang gebracht, ebenso von Gesellschaften, die Repräsentationsbüros brauchen und die keine Schwierigkeiten haben, bei Banken und Versicherungen Geld aufzunehmen. Es wäre jedoch irreführend, wollte man sich auf einzelne Schuldige unter den verschiedenen Nutzungen festlegen. Zu viele andere Nutzungen üben den gleichen wirtschaftlichen Druck aus und landen bei den gleichen Pyrrhussiegen. Vernünftiger ist es, das Problem als Folge der schlechten Funktion der Städte selbst zu begreifen. Erstens ist ja der Erfolg die Ursache für die Selbstzerstörung der Mannigfaltigkeit und nicht das Versagen. Zweitens ist dieser Prozeß nur eine Fortsetzung des gleichen wirtschaftlichen Prozesses, der vorher selbst zu dem Erfolg geführt hat und wesentlich für ihn war. Mannigfaltigkeit bildet sich in einem Bezirk immer auf Grund wirtschaftlicher Möglichkeiten und wirtschaftlicher Anziehungskraft. Vielleicht sind schon während der Wachstumsperiode einige einmalige Nutzungen hinausgedrängt worden, weil sie eine geringe wirtschaftliche Rendite für den bebauten Boden ergaben. Andererseits aber bildet sich während der Wachstumsperiode die neue Mannigfaltigkeit nicht nur auf Kosten einmaliger Unternehmen von geringem Ertrag, sendem zugleich auf Kosten einer bereits existierenden Einseitigkeit der Nutzung. Die gleichgearteten Nutzungen werden im Verhältnis zum Wachstum der Mannigfaltigkeit hinausgedrängt. Auch dies ist Resultat des rein wirtschaftlichen Wettbewerbs um Raum, aber gleichbedeutend mit einer Vermehrung der Vielfalt. An irgendeinem Punkt hat sich dann die Mannigfaltigkeit so weit entwickelt, daß neue Elemente in der Hauptsache nur im Wettbewerb mit den bereits vorhandenen hinzukommen können. Dabei wird nur relativ wenig der gleichen Nutzung, vielleicht überhaupt keine, hinausgedrängt. Dieser Zustand bedeutet dann den Höhepunkt der möglichen Mannigfaltigkeit. Die Frage ist also, wie man übertriebenen Zuwachs an dem einen Ort bremsen und ihn statt dessen an andere Orte leiten kann, wo er sich nicht als übertriebener, son143

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dern als gesunder Zuwachs auswirkt. Solche Orte dürfen nicht gedankenlos bestimmt werden, es müssen Orte sein, an denen die zur Diskussion stehende Nutzung gute Möglichkeiten für dauerhafte Funktion haben wird. Das ist auch im Interesse der Nutzung selbst besser als das Niederlassen an einem Ort, dessen Selbstzerstörung vorauszusehen wäre. Eine Lenkung in dieser Form könnte durch eine Kombination von drei Maßnahmen möglich gemacht werden: Anweisung der Nutzungsarten im Sinne der Mannigfaltigkeit, feste Linien in der öffentlichen Baupolitik und Förderung des Wettbewerbs im Interesse einer großstädtischen Vielfalt. Eine Anweisung der Nutzungsarten im Sinne der Mannigfaltigkeit ist zwar gänzlich verschieden von der üblichen Kontrolle und Planung mit dem Ziel der Konformität, hat aber wie jede Nutzungsbindung eine einschränkende Funktion. In einer bestimmten Form existiert eine solche Kontrolle im Interesse der Mannigfaltigkeit bereits: Vorschriften zur Rettung historisch wertvoller Gebäude, die sich weiterhin von ihrer neuen Umgebung absetzen sollen. Eine etwas weiter entwickelte Form dieser Kontrolle wurde von den Interessengemeinschaften der Bürger von Greenwich Viilage vorgeschlagen und von der Stadt New York 1959 genehmigt: Auf gewissen Straßen wurden die Gebäudehöhen drastisch reduziert. Dabei gab es auf den meisten der betroffenen Straßen bereits zahlreiche Gebäude von exzessiver Höhe. Das ist jedoch keineswegs unlogisch, sondern genau der Grund dafür, daß man neue Begrenzungen forderte: damit eben die niedrigeren Gebäude nicht weiterhin durch übertriebenen Zuwachs an hohen ersetzt werden sollten. Der Gleichheit wurde eine Schranke gesetzt und damit eine Kontrolle im Interesse der Abwechslung, wenn auch nur in relativ wenigen Straßen und in sehr begrenzter Hinsicht, eingeführt. Eine Anweisung der Nutzungsarten im Sinne der Mannigfaltigkeit sollte nicht dazu führen, die vorhandenen Bedingungen und Nutzungen auf einem Status quo zu halten. Vielmehr bestünde ihre Aufgabe darin, dafür zu sorgen, daß Änderungen nicht wie so oft von nur einer einzigen Nutzung und noch dazu in zu großem Umfang in Szene gesetzt werden. Häufig gewönne man mit dieser Kontrolle gleichzeitig Schutz gegen Auswechslung zu vieler Gebäude auf einmal. Im übrigen ist eine Kontrolle, die direkt auf eine Vielfalt an Gebäudegrößen und Gebäudetypen zielt, schon an sich ein vernünftiger Weg, weil in der Vielfalt der Gebäude sich bereits die Vielfalt der Nutzungen und Bevölkerungsschichten widerspiegelt. Bei einem Park, der von zu vielen übermäßig hohen Bürogebäuden umgeben ist, müßte zum Beispiel dafür gesorgt werden, daß mindestens an der Südseite die Gebäude niedriger sind, um auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Wintersonnenschein im Park und in gewissem Ausmaß Möglichkeit für vielfähigere Nutzung. Alle Maßnahmen dieser Art zum Schutz einer bestehenden Mannigfaltigkeit mit dem ausgesprochenen Ziel, übertriebenen Zuwachs der ertragreichsten Nutzung in einem Gebiet zu verhindern, müßte von entsprechenden steuerlichen Ausgleichsgesetzen begleitet werden. Wenn Grund und Boden daran gehindert werden, die höchste Rendite zu erreichen, muß sich das in ·entsprechenden Steuergesetzen niederschlagen. Es ist vollkommen unrealistisch gedacht, der Ertragsmöglichkeit eines 144

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Grundstücks einen Riegel vorzuschieben und die Steuerabgaben für ein solches Grundstück so zu belassen, daß aus der Besteuerung erst ersichtlich ist, wie unergiebig ein Grundstück im Verhältnis zu den wesentlich intensiver genutzten Nachbargrundstücken ist. Die Methode, Steuerabgaben für Grundstücke auf Grund des erhöhten Ertrags in seiner Nachbarschaft zu erhöhen, ist in der Tat heute wesentlich mit schuld an den Auswüchsen von einseitiger (und ertragreicher) Nutzung. Gegen diesen Druck wären die wohlmeinendsten, gegen einseitige Nutzung gerichteten Kontrollen machtlos. Es ist überdies nicht sehr vernünftig, das steuerliche Ertragsniveau einer Stadt zu heben, um die kurzfristigen Steuereinnahmen einzelner Gebiete bis zur äußersten Grenze auszunutzen. Die Methode unterhöhlt dabei die langfristigen Steuermöglichkeiten ganzer Nachbarschaften. Um das steuerliche Ertragsniveau einer Stadt zu heben, sollte man die Gebiete mit guter Funktion in einer Stadt zu vermehren trachten, denn ein festes steuerliches Ertragsniveau ist ein Pluspunkt der Anziehungskraft einer Stadt. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist eine gewisse räumlich engmaschige und wohldurchdachte Variation in den Steuererträgen, um Mannigfaltigkeit zu verankern und ihre Selbstzerstörung zu verhindern. Das zweite Mittel, hemmungslos einseitige Nutzung zu bremsen, ist eine feste Linie in der öffentlichen Baupolitik. Öffentliche und halboffizielle Institutionen sollten ihre Gebäude und Einrichtungen an die Punkte bauen, wo sie wirksam zu einer Vielfalt der jeweiligen Umgebung beitragen. In ihrer Rolle einer bestimmten Nutzung sollten diese Gebäude und Einrichtungen dann dort bleiben und nicht weichen, ganz gleich, wie wertvoll die Grundstücke der Umgebung werden, zu deren Blüte sie mit beigetragen haben. Sie sollten dort bleiben ohne Rücksicht auf eventuelle hohe Angebote seitens anderer Nutzungen, die in das Gebiet eindringen wollen. Öffentliche Gebäude und Einrichtungen können sehr viel dazu tun, Mannigfaltigkeit zu fördern und zu verankern, wenn sie unverrückbar in der Mitte andersartiger Nutzungen stehenbleiben, während um sie herum der Rubel rollt und hohe Angebote sie aufschlucken möchten. Beide Mittel - die Kontrolle zum Schutz der Mannigfaltigkeit und die Standortfestigkeit öffentlicher Gebäude - sind aber sozusagen nur Windbrecher, die zwar wirtschaftlichem Druck, aber kaum wilden Stürmen standhalten können und zumeist in einem wirklich harten wirtschaftlichen Ringen am Ende doch nachgeben. Deshalb muß ein drittes Mittel benutzt werden: Förderung des Wettbewerbs in Hinsicht auf die Mannigfaltigkeit mehrerer Gebiete. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Meinung, die Amerikaner haßten große Städte, hassen sie offenbar jedoch keineswegs lebendige Stadtbezirke von wirklich guter Funktion. Die Selbstzerstörung solcher Bezirke spricht jedenfalls dafür. Kurz gesagt: die Nachfrage nach dynamischen und abwechslungsreichen Stadtbezirken ist größer als das Angebot. Wenn überdurchschnittlich funktionsfähige Bezirke den Mächten der Selbstzerstörung widerstehen sollen, muß das Angebot an derartigen Bezirken erhöht werden. Und damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt, bei der Notwendigkeit viel mehr Straßen und Nachbarschafren zu schaffen, die über die vier Grundeigenschaften oder Voraussetzungen von vorstädtischer Vielfalt verfügen. 145

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Selbstverständlich wird es immer Bezirke geben, die in irgendeinem bestimmten Augenblick reicher an Vielfalt, beliebter und für Selbstzerstörung anfälliger sind als andere. Wenn aber andere Bezirke dann nicht sosehr gegen die umworbenen Gebiete abfallen und wenn andere dabei sind, sich in diesem Sinne zu entwickeln, dann tritt ein gewisser Wettbewerb unter den beliebtesten Bezirken ein, der durch gleichzeitige wirksame Maßnahmen gegen Auswüchse einseitiger Nutzung in den beliebtesten Gebieten sehr gefördert werden kann. Aber zunächst einmal müssen eben überhaupt ausreichend Anreize für einen Wettbewerb vorhanden sein. Im Grunde läuft also die ganze Frage der Selbstzerstörung auf das alte Problem hinaus, das Angebot an Bezirken mit interessanten und dynamischen Möglichkeiten zu erhöhen.

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Das Vakuum der Grenzzonen- Ein Fluch

Massiert auftretende einseitige Nutzungen haben immer eines gemeinsam: sie bilden Grenzen, und Grenzen stellen in den großen Städten eine gefährliche Nachbarschaft dar. Eine Grenze, d. h. die Peripherie eines Gebietes mit intensiver einseitiger Nutzung, ist gleichzeitig die Grenze zum »gewöhnlichen« Stadtgebiet. Solche Grenzen werden oft gleichmütig als passive Faktoren hingenommen, gewissermaßen nur als »Randerscheinungen«. Eine Grenze dieser Art übt jedoch einen ausgesprochen aktiven Einfluß aus. Ein klassisches Beispiel für Grenzen sind Eisenbahnstrecken. Sie sind es so sehr, daß sie vor langer Zeit auch als Grenzen in sozialem Sinn galten; »jenseits der Bahnlinie« war allerdings ein Begriff, der an sich eher in kleinen als in großen Städten eine bestimmte soziale Bedeutung hatte. Es geht uns hier aber weniger um die soziale Bedeutung von Grenzbezirken als vielmehr um die materiellen und funktionellen Wirkungen von Grenzen auf ihre unmittelbare Umgebung. Im Fall einer Bahnlinie kann das Gebiet auf der einen Seite besser als das auf der anderen sein. Auf beiden Seiten jedoch sind die direkt an der Linie liegenden Straßen ihrer Natur nach bezeichnenderweise am schlechtesten dran. Jede mögliche Lebendigkeit der Bezirke auf beiden Seiten der Linie beginnt erst hinter der direkten Grenzzone, ist nach innen, fort von der Grenzlinie gerichtet. Das ist an sich schon seltsam, denn an den Gebäuden, die inzwischen die deutlichen Anzeichen von Verfall oder Niedergang zeigen, sieht man deutlich, daß es irgendwann einmal die Menschen für vorteilhaft gehalten haben müssen, dort neue - und manchmal anspruchsvolle - Gebäude hinzustellen. Die Anfälligkeit solcher Zonen entlang der Bahnlinien für Verödung und Verfall ist häufig als Resultat von Belästigung durch Lärm und Ruß erklärt worden; als Resultat auch der allgemein geringen Attraktion einer Bahnlinie als Nachbarschaft überhaupt. Diese Nachteile sind aber vermutlich nur Teilursachen und vielleicht 146

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die unwesentlichsten. Warum haben sie denn die Entwicklung solcher Straßen nicht von vomherein unterbunden? Die gleiche Art von Verödung findet man entlang der Wasserfronten in den Städten. Meistens ist es dort noch schlimmer als an den Bahnlinien, obwohl Wasserfronten im allgemeinen nicht mit Krach, Schmutz oder unangenehmer Umgebung verbunden sind. Es ist auch merkwürdig, wie häufig die unmittelbaren Nachbarschafren von Universitätsgeländen, von Verwaltungszentren im City-Beautiful-Stil, von großen Krankenhausbereichen und sogar von großen Parks sehr anfällig für Verödung sind und wie häufig sie, wenn sie schon nicht mit materiellem Verfall geschlagen sind, stagnieren - ein Zustand, der dem Verfall vorauszugehen pflegt. Wenn die herkömmlichen Planungs- und Bodennutzungs-Theorien stimmten und wenn Ruhe und Sauberkeit so viel positive Wirkung ausstrahlten, wie sie angeblich tun, dann müßten gerade die eben genannten Zonen wirtschaftlich und gesellschaftlich überdurchschnittlich funktionsfähig sein. Wenn man andererseits die Stadtteile betrachtet, die wirklich anziehend sind, die also wirklich Menschen zu sich heranziehen, so stellt man fest, daß sich diese glücklichen Orte nur sehr selten in Zonen befinden, die unmittelbar an Gebiete von massiver einseitiger Nutzung angrenzen. Die Wurzel des Ubels der benachbarten Grenzzonen ist, daß sie für die Mehrzahl der Straßenbenutzer als Sackgassen wirken. Sie stellen für die meisten Menschen Grenzpfähle dar. Infolgedessen ist die Straße neben einem Grenzbereich gewissermaßen eine Endstation für die allgemeine Nutzung. Wenn dann eine solche Straße wenig oder kaum von den Menschen des angrenzenden Gebiets einseitiger Nutzung begangen wird, muß sie zur toten Zone werden. Das übel frißt sich weiter, wenn die benachbarten Straßen ebenfalls leerer und gemieden werden. Der Vorgang pflanzt sich weiter fort, bis irgendwo einmal die Dynamik eines Gebiets von guter Funktion als Gegengewicht auftritt. Grenzen neigen dazu, Leerräume in ihrer Umgebung zu erzeugen. Anders ausgedrückt hat die übertriebene Vereinfachung der Nutzung an dem einen Ort die Tendenz, auch diejenige Nutzung zu vereinfachen, die die Menschen dem Nachbargebiet zuteil werden lassen - weniger Benutzer, weniger verschiedene Ziele usw. Eine Art genereller Abbau setzt ein. Manchmal zeichnen sich die einleitenden Stufen zu diesem Prozeß deutlich ab. Das ist in einigen Gebieten der Lower East Side von New York der Fall; besonders spürbar ist es nachts. Um die dunklen und leeren Grünflächen der Siedlungen herum sind die Straßen ebenfalls dunkel und leer, die Läden, mit Ausnahme der für die Siedlungsbewohner bestimmten, haben geschlossen, und je weiter man sich von den Siedlungsgrenzen entfemt, desto mehr Leben und Helle ko=en wieder in die Straßen. Auch in den Zeitungen kann man zuweilen von irgendeinem Geschehnis lesen, das von einem solchen Abbauprozeß zeugt. So zum Beispiel der Bericht aus der New York Post vom Februar 1g6o: 147

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Der Mord in Cohens Schlächterei in der 174. Straße 164 Ost am Montagabend war kein einmaliges Ereignis, sondern Höhepunkt einer Serie von Einbrüchen und Oberfällen auf der Straße ... Ein Lebensmittelhändler sagte aus, daß sofort nach Beginn der Arbeiten an der Cross-Bronx-Schnellstraße die Schwierigkeiten in diesem Gebiet begonnen hätten . . . Geschäfte, die früher bis g oder 10 Uhr abends geöffnet hatten, schließen jetzt um 7 Uhr. Nur wenige Menschen wagen sich nach Anbruch der Dunkelheit zum Einkaufen auf die Straßen; daher sind die Geschäftsinhaber der Ansicht, daß der kleine Verdienstausfall, den sie haben, kaum das Risiko rechtfertige, ihre Geschäfte geöffnet zu lassen . . . Der Mord hat die größte Auswirkung auf einen Drugstore, der noch bis 10 Uhr abends auf ist. »Wir haben einen Todesschrecken bekommen", sagte der Inhaber. "Wir sind das einzige Geschäft, das noch so spät geöffnet ist.« Dann wieder kann man auf die Bildung solcher Leerräume schließen, wenn eine Anzeige in der Zeitung ein erstaunlich günstiges Angebot annonciert, wie den Verkauf eines Ziegelsteinhauses mit zehn Räumen für 12 ooo Dollar, renoviert und mit neuen Installationen. Die Adresse spricht dann für die Lage: sehr oft zwischen einer riesigen Siedlung und einer Schnellstraße. In der Regel ist ein Grenzvakuum weniger mit Dramen als mit Leere und nicht vorhandener Vitalität verbunden. In dem Roman The Wapshot Chronicle von John Cheever findet sich eine ausgezeichnete Charakterisierung: »Nördlich des Parks kommt man in eine Nachbarschaft, die von einem Fluch befallen scheint- nicht so sehr irgendwie verfolgt, nur unbeliebt, als litte sie unter schlechter Haut oder unter schlechtem Atem, und sie hat auch tatsächlich eine schlechte Haut: farblos und zerfranst und schlaff.« Die genauen Gründe für die flaue Nutzung von Grenzgebieten sind von Fall zu Fall andere. Einige Grenzzonen töten die Benutzung ihrer Straßen dadurch ab, daß der Verkehr gewissermaßen eine Einbahnrichtung hat. Siedlungen wirken sich auf diese Weise aus. Die Bewohner der angrenzenden Straßen bleiben auf ihrer Seite der Grenze und behandeln sie als Sackgasse für jede Nutzung. Andere Grenzen stoppen Querverbindungen von beiden Richtungen her ab: Eisenbahnstrecken oder Schnellstraßen oder Wasserstraßen sind die bekanntesten Beispiele dafür. Wieder andere Grenzbereiche haben zwar einen »kleinen Grenzverkehr«, aber er ist auf den Tag beschränkt oder läßt zu gewissen Jahreszeiten abrupt nach: große Parks. Und wieder andere Grenzzonen werden nur flau genutzt, weil die einseitige Nutzung die Ursache dafür ist, eine im Verhältnis zu ihrem Umkreis zu geringfügige Bodennutzung hat: bürgerliche Verwaltungszentren mit weiten Grünflächen. Die New Yorker Planungskommission ist in diesem Augenblick dabei, einen IndustriePark in Brooklyn anzulegen. Er soll 40 Hektar umfassen und wird Firmen auf148

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nehmen, die zusammen ungefähr 0ooo Arbeiter beschäftigen. 75 Arbeiter je Hektar ist eine äußerst niedrige Nutzung des Stadtbodens, und eine Fläche von 40 Hektar bedingt eine so ausgedehnte Randzone, daß durch dieses Unternehmen im gesamten Umkreis jede Nutzung abflauen muß. Es spielt keine Rolle, was nun genau die Wirkung erzeugt - wesentlich ist, daß an der Peripherie eines Gebiets in einem großen Umkreis die Nutzung abflaut (weniger Benutzer). Das Phänomen der öden Grenzbereiche ist für die Stadtplaner verwirrend, vor allem für diejenigen, die ehrlich städtische Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit zu schätzen wissen und Öde und charakterlose Wüste hassen. Ihr Argument ist sehr oft, daß Grenzen ein brauchbares Mittel zur Erhöhung der Intensität sind und daß sie der Stadt eine klar definierte Form geben, ähnlich den Mauem mittelalterlicher Städte. Das ist an sich ein diskutabler Gedanke, weil Grenzen zweifellos dazu dienen, zu konzentrieren und damit Stadtbezirke zu intensivieren. Die Wassergrenzen von San Franziska und von Manhattan haben auch tasächlich diese Auswirkung. Und doch ist es so, daß selbst, wenn eine wichtige Grenzlinie die Intensität des Bezirks verstärkt hat, die Zonen direkt an der Grenze selten diese Intentität zeigen oder an ihr teilhaben. Vielleicht hilft es uns, dieses »perverse« Verhalten zu verstehen, wenn wir einmal den Grund und Boden einer Stadt in zwei Typen aufteilen. Ein erster Typ wäre dann das, was man allgemein genutztes Land nennen könnte, d. h. Land, das allgemein und öffentlich von Menschen zu Fuß genutzt wird. Es ist Land, auf dem sich die Menschen frei und freiwillig bewegen. Das sind Straßen, kleinere Parks und manchmal die Vorplätze der Häuser, wenn sie der öffentlichen Benutzung freistehen. Den zweiten Typ Land könnte man als speziell genutztes Land bezeichnen; es ist Gelände, das nicht gemeinhin als öffentliche Gehfläche benutzt wird, also Land, um das die Menschen herum- oder an dem sie entlanggehen, das sie aber nicht überqueren. Ein so speziell genutztes Land wäre dann ein topographisches Hindernis, entweder weil es den Menschen direkt versperrt ist, oder weil sie wenig Interesse an ihm haben. So gesehen befindet sich jede speziell genutzte Fläche einer großen Stadt in einer gewissen Konfliktsituation mit dem allgemeinen Stadtgelände. Von einer anderen Warte aus gesehen trägt das speziell genutzte Gelände wiederum zur Nutzung des allgemeinen Stadtbodens bei, indem es Menschen herbeischafft. Es schafft sie herbei entweder, indem es die Stätten beherbergt, in denen die Menschen wohnen oder arbeiten, oder indem es sie aus anderen Gründen anlockt. Zwischen beiden Typen besteht stets eine gewisse Spannung. Als Prinzip und Tatsache ist diese Spannung beispielsweise den Geschäftsleuten von Innenstädten durchaus geläufig und vielleicht am besten mit ihren Begriffen zu erläutern. Sobald ein wichtiger »toter« Ort irgendwo in einer Straße der Innenstadt auftaucht, bewirkt er ein Nachlassen des Fußgängerverkehrs und ein Nachlassen der Straßenbenutzung. Manchmal ist das Nachlassen wirtschaftlich so ernst zu nehmen, daß auf der einen Seite des toten Ortes der Geschäftsgang spürbar absinkt. Ein toter Ort kann 149

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vieles sein; er kann ein tatsächlich leerstehendes oder ein zuwenig genutztes Gebäude sein oder ein Parkplatz oder auch nur eine Reihe von Banken, die nach drei Uhr nachmittags ausgestorben sind. In jedem Fall ist bei einem solchen toten Ort die Rolle des Zubringers von Menschen durch die Funktion eines topographischen Hindernisses inmitten des allgemeinen städtischen Landes abgelöst worden. Die Spannung ist verlorengegangen. Das allgemein genutzte Gelände kann, zumal in geringem Umfang, die Wirkungen von speziell genutzten Flächen im allgemeinen absorbieren und verdauen. Wenn die Spannung zwischen den beiden Typen jedoch völlig verschwindet, dann kann sie im allgemeinen nicht mehr kompensiert werden; dann ist das speziell genutzte Gelände zu einem riesigen Hindernis geworden. Wie schwer wiegt nun das Hindernis? Wieviel Wert hat es - im Interesse einer Konzentrierung von Benutzern - für das allgemein genutzte Gelände? Durch falsche Antworten auf diese Fragen werden praktisch die Leerräume der allgemein genutzten Flächen bedingt. Es geht also nicht um die Frage, warum die Intensität der Nutzung sich so »pervers« verhält, nicht bis an die Grenzen heranzugehen, sondern um die Frage, warum wir erwarten, daß sie es tun sollte. Grenzen neigen dazu, in dem nahe gelegenen allgemein genutzten Gebiet Leerräume zu bilden; Grenzen jeder Art zerschneiden die Stadt in Stücke. Sie trennen die Nachbarschafren der »gewöhnlichen« Stadt und verhalten sich somit entgegengesetzt zu kleinen Parks oder Straßen, die die Gebiete und Nutzungen zu beiden Seiten miteinander verknüpfen. Die Aufteilung der Stadt als Wirkung von Grenzen ist nicht immer unbedingt schädlich. Wenn jedes der durch eine Grenze voneinander geschiedenen Gebiete groß genug ist, um einen lebensfähigen Stadtbezirk abzugeben, kann das Aufteilen sogar sehr nützlich sein, es kann ein Mittel zu Orientierung und Charakterisierung sein. Schwierig wird es erst, wenn die Bezirke in schwache, funktionsunfähige Gebiete zerstückelt werden. Das Wissen um die Nachteile von überflüssigen Grenzzonen sollte uns in Zukunft davor bewahren, unnötige Grenzen neu aufzurichten. Allerdings sind nicht alle Institutionen oder Dienste, die in unseren Städten Grenzbezirke schaffen und die Neigung zeigen, sich mit Leerräumen zu umgeben, die natürlichen Feinde der Stadt. Viele von ihnen sind wünschenswert und wichtig. Eine große Stadt braucht Universitäten, braucht große Krankenhäuser und Parks; sie braucht Eisenbahnlinien, kann Wasserfronten wirtschaftlich und gestalterisch vorteilhaft verwerten und braucht Schnellstraßen. Wichtig ist nur zu wissen, daß dies Dinge sind, die zweischneidige Wirkungen haben können. Am einfachsten läßt sich solchen Grenzen beikommen, die ihrer Natur nach eine intensivere Nutzung ihrer Umgebung fördern könnten. Der Central Park in New York City böte dafür eine gute Gelegenheit. An seiner Ostseite und auch gleich innerhalb seines Gebietes sind viele Möglichkeiten intensiver Nutzung (tagsüber) vorhanden: der Zoo, das Metropalitau Museum of Art, der Teich mit den Modellschiffen. Auf der Westseite gibt es eine merkwürdige 150

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Durchbrechung des Geländes, die von den Anwohnern für nächtliche Nutzung geschaffen worden ist; es ist ein besonderer Weg in den Park hinein, der im allgemeinen Einvernehmen zum offiziellen Weg für Abendspaziergänge und für das nächtliche Ausführen der Hunde geworden ist - wodurch wieder andere Spaziergänger angezogen werden, die sich hier ebenfalls sicher fühlen können. Jedoch gibt es am Rande des Parks, besonders auf der Westseite, noch große leere Strecken. Dabei hat der Park im Ionern viele Einrichtungen, die aber nur am Tag genutzt werden können, und das nicht etwa auf Grund ihrer jeweiligen Bestimmung, sondern auf Grund ihrer örtlichen Lage. Das Karussell und das Schachspielhaus zum Beispiel. Die Parkwächter sorgen im Interesse der Besucher dafür, daß diese Lokalitäten im Winter schon um halb fünf Uhr verlassen werden. Solche Nutzungsmöglichkeiten der Parks sollten direkt an ihren Rändern angelegt werden, sie könnten dann Verbindungspunkte zwischen den Parks und den angrenzenden Straßen bilden. Auch die nächtliche Nutzung sollte gefördert werden. Ebenso sollten die gegenüberliegenden Straßenseiten aktiv dazu beitragen, dem Vakuum eines Parks entgegenzuwirken. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Nachbarschaft zum Park hin wirtschaftlich auszuwerten: Cafes (dieser Fall hat in New York eine große Kontroverse ausgelöst, als es sich um den Central Park handelte), Eislaufbahnen, die bis in die Nacht hinein benutzt werden könnten. Man müßte also nach »Grenzfällen« Ausschau halten, welche der Stadt und dem Park gerecht würden und mit deren Hilfe beide eine durchaus fruchtbare Partnerschaft miteinander eingehen könnten. In einem anderen Zusammenhang ist das gleiche Prinzip ausgezeichnet dargestellt worden von Kevin Lynch, Professor für Stadtplanung im Massachusetts Institute of Technology, Autor des Buches The Image of the City: »Ein Rand kann mehr sein als nur eine alles beherrschende Grenze, sobald irgendein optischer oder verkehrsmäßiger Durchbruch möglich ist. Das kann der Fall sein, wenn eine solche Grenze bis zu einem gewissen Grad im Zusammenhang mit den Gebieten auf beiden Seiten konstruiert wird. Dann wird sie zu einem Saum und nicht zu einer Grenze; dann wird sie zu einer Nahtstelle, die zwei Gebiete zusammenhält.« Lynch sprach über die ästhetischen Probleme von Grenzzonen, aber das gleiche Prinzip liegt den vielen funktionellen Problemen zugrunde. Universitäten beispielsweise sollten wenigstens Teile ihrer Geländegrenzen zu Nahtstellen machen, indem sie gewisse Nutzungen, die auch für die Öffentlichkeit bestimmt sind, an strategische Punkte verlegen. Sie sollten außerdem vom landschaftlichen Gesichtspunkt her ihre Gelände an gewissen Stellen »öffnen« für eben solche öffentlichen Nutzungen. In sehr kleinem Maßstab ist das bei dem pittoresk gelegenen Bau der neuen Bibliothek von der New York School for Social Research in New York geschehen. Leider jedoch scheinen die Universitäten eher ins Gegenteil zu tendieren; sie wollen entweder klösterliche oder ländliche Orte sein, womit sie sehnsuchtsvoll ihre Verpflanzung in die Stadt leugnen möchten, oder sie geben sich den Ansebein von Bürogebäuden; natürlich sind sie keines von beiden. Wasserfronten sind ein anderes der vielen Beispiele für heute ungenutzte Möglichkeiten. Auch sie könnten sehr viel mehr zu Nahtstellen werden, als sie es heute

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sind. Heute ersetzt man das an sie angrenzende Vakuum gewöhnlich durch Parks, die dann ebenfalls zu Grenzzonen werden und mit ihrer zu geringen Nutzung dann die Vakuumwirkung weiter in die Stadt hineintragen. Dabei ist die Anziehung, die eine echte Mischung der Nutzung an den Wasserfronten (Werften, Anlegepiers mit Bootsverleihen, Angel- und Schwimmsport) hat, groß, und sie kann die Grenze zu einer Kontaktzone zwischen Wasser und Land machen. Für manche Grenzlinien jedoch besteht praktisch keinerlei Aussicht, in Nahtstellen verwandelt zu werden: Schnellstraßen und ihre Rampen zum Beispiel. Und auch im Falle großer Parks, Universitätsgelände und Wasserfronten können wahrscheinlich die negativen Wirkungen der Grenzzonen wirksam nur stellenweise ins Gegenteil gewandelt werden. Starke Gegengewichte zu schaffen dürfte die einzige Möglichkeit sein, in solchen Fällen die Vakuumwirkung zu bekämpfen. Das heißt, daß man in der Nähe solcher Grenzlinien planmäßig Konzentrierungspunkte schaffen und die Bezirke nach den Richtlinien der erwähnten vier Voraussetzungen so lebendig wie möglich gestalten sollte. Dadurch würde eine mögliche Vielfalt zwar nicht bis genau an die Grenzen herangetragen, die Leerräume aber auf kleinsten Raum beschränkt werden. In Greenwich Viilage ist beispielsweise das Vakuum an der Wasserfront auf allmählichem, aber kontinuierlichem Rückzug, weil die Baublocks dort so kurz gehalten sind - in einzelnen Fällen sind sie nur 50 Meter lang -, daß die Dynamik des Bezirks von Fall zu Fallleicht vorstoßen kann. Andererseits können planmäßig angelegte reine Fußgängerstraßen, wenn sie riesige Flächen um sich herum zu Parkplätzen machen, mehr Probleme schaffen als lösen. Inzwischen ist diese Einrichtung für Innenstädte und für »Stadtzentren« von Wiederaufbaugebieten Mode geworden - häufig mitsamt den problematischen Begleiterscheinungen. Nach den besten Theorien, mit den besten Absichten können eben endlose Gebiete oder Grenzzonen, kann ein Absterben jeder funktionsfähigen Nutzung provoziert werden, wenn die Grundprinzipien des Funktionierens einer großen Stadt nicht erkannt sind.

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Slums - Entstehung und Sanierung

Slums und ihre Bewohner sind die Opfer von scheinbar endlosen Mißständen, die alle miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig noch verschärfen. Ein Slum ist ein Circulus vitiosus, und im Laufe der Zeit gefährden die Slums das gesamte Gewebe der Stadt. Sie verschlingen, wenn sie sich ausbreiten, immer mehr und mehr öffentliche Gelder. Denn nicht nur Verbesserungen oder Aufhaltemaßnahmen müssen von der öffentlichen Hand finanziert werden, sondern vor allem auch der Kampf gegen das Zurückweichen ihrer noch gesunden Umgebung. 152

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Unsere gegenwärtigen Stadterneuerungs-Gesetze sind ein Versuch, dieser Verkettung der Umstände durch drastisches Ausradieren der Slums und Umsiedlung ihrer Be· wohner zu begegnen; an ihre Stelle werden Siedlungen gesetzt, die höhere Steuern einbringen oder leichter zu dirigierende Bevölkerungsschichten anziehen sollen. Diese Methode versagt völlig. Im besten Fall werden die Slums (mit der Zugabe einer Extrahärte für die zerstreuten Bewohner) von einer Stelle an die andere verlegt. Im schlimmsten Fall zerstört diese Methode N achbarschaften, deren Mitglieder sich bereits konstruktiv um Verbesserungen bemühten und sie auch erreicht haben und infolgedessen Ermutigung und nicht Zerstörung verdienten. Ähnlich wie die Feldzüge gegen die grauen Zonen in Nachbarschaften, die Slumtendenzen zeigen, versagt die Methode der einfachen Verlagerung von Slums in erster Linie deshalb, weil sie nicht die Ursachen, sondern nur die Symptome bekämpft und weil die Symptome, gegen die sich die Maßnahmen richten, häufig nur von Relikten früherer Schwierigkeiten herrühren und gar nicht so sehr Anzeichen für gegenwärtige oder vorauszusehende Übel sind. Die Vertreter konventioneller Planung sind den Slums und den Slumbewohnem gegenüber durch und durch patriarchalisch eingestellt. Angestrebt werden zwar tiefschürfende Veränderungen, jedoch mit unglaublich oberflächlichen Mitteln. Um mit Slums wirklich fertig zu werden, muß man aber die Slumbewohner erst einmal als Menschen betrachten, die durchaus in der Lage sind, in ihrem eigenen Interesse zu handeln. Man muß die Regenerationskräfte in den Slums selbst zu erkennen suchen, sie respektieren und auf ihnen aufbauen. Das ist etwas ganz anderes, als die Menschen zu patronisieren und sie zu einem besseren Leben zwingen zu wollen; und es ist etwas ganz anderes als alles, was heute auf diesem Gebiet geschieht. Das Dilemma chronischer Slums ist auch darauf zurückzuführen, daß ständig zuviel Menschen zu schnell aus ihnen ausziehen oder aber vorher nichts anderes tun, als an ihren Auszug zu denken. Diesen Tatbestand gilt es zu ändern, wenn irgendwelche sonstigen Anstrengungen, der Slum-Probleme Herr zu werden, Erfolg haben sollen. Wir haben solche Änderungen beobachten können an Orten wie dem North End in Boston, dem Back-of-the-Yards-Bezirk in Chicago und dem North Beach in San Franzisko. Wichtig ist zu wissen, daß viele Slum-Nachbarschaften bereits von sich aus begonnen hatten, die üblichen Verhältnisse unauffällig zu bessern, als man ihnen oft mitten in ihren Bemühungen den Mut nahm oder sie gar rigoros zerstörte. Diejenigen Teile von East Harlem zum Beispiel, die schon sehr weit in ihren Anstrengungen gediehen waren, aus den Slum-Verhältnissen herauszukommen, wurden plötzlich dadurch entmutigt, daß man es ihnen unmöglich machte, Gelder für Sanierungszwecke bewilligt zu bekommen; und als schließlich alles nichts nützte, wurden die meisten der Nachbarschaften zerstört und durch Siedlungen ersetzt, die nun erst recht alle Slum-Probleme beherbergen. Herbert Gans, ein Soziologe von der University of Pennsylvania, hat im Februar 1959 in der Zeitschrift des American Institut of Planners ein nüchternes, aber treffendes Bild entworfen von den Bemühungen eines Slums, sich selbst zu regenerieren; es handelte sich um das West End in Boston kurz vor der Ausradierung des Bezirks. Das West End, so berichtet er, gelte zwar in offizieller Sicht als Slum, 153

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müsse aber praz1ser als »ein stabiles Gebiet mit billigen Mietswohnungen« bezeichnet werden. Wenn ein Slum ein Gebiet ist, das »auf Grund seiner sozialen Verhältnisse nachweisbar Probleme und Übel mit sich bringt«, dann sei das West End kein Slum. Gans spricht von der starken Anhänglichkeit der Bewohner an ihren Bezirk, berichtet von seinem hoch entwickelten inoffiziellen öffentlichen Leben und weist darauf hin, daß viele Bewohner des Bezirks bereits ilire Wohnungen renoviert hätten - alles typische Zeichen für die Selbstsanierung eines Slums. Der mögliche Erfolg einer Slumsanierung hängt sehr davon ab, ob ein beträchtlicher Teil der Bewohner dort wohnen bleiben möchte. Er hängt weiter davon ab, ob ein beträchtlicher Teil der Geschäftsleute es für wünschenswert und für ihre Pläne förderlich hält, sich in dieser Umgebung einzurichten, oder ob sie sich veranlaßt sehen auszuziehen. Die Bezeichnung »chronischer« Slum soll im folgenden für Slums gelten, die kein~rlei Anzeichen für soziale oder wirtschaftliche Verbesserung aufweisen oder nach kurzer Regeneration wieder zurückfallen. Wenn es je gelingen kann, die Voraussetzungen für großstädtische Mannigfaltigkeit in einer Nachbarschaft herzustellen, die noch ein Slum ist, und wenn dann jede Andeutung von Regeneration ausgebaut und nicht behindert würde, dann gäbe es eigentlich überhaupt keinen Grund mehr dafür, daß irgendein Slum »chronisch« sein muß. Die Unfähigkeit chronischer Slums, genügend Menschen an sich zu fesseln, ist ein Charakteristikum, das bereits auftritt, bevor die direkte Entwicklung zum Slum einsetzt. Es ist eine absolute Fiktion, daß Slums Gewebe zersetzten, die zuvor gesund waren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Erste Symptome für eine beginnende Entwicklung zum Slum sind, lange bevor das Übel selbst sichtbar wird, Stagnation und Ode. Ode Nachbarschafren sind außerstande, neue Bewohner, die frei wählen können, anzuziehen. Alle dynamischen Elemente wandern aus; und häufig setzt plötzlich eine Massenauswanderung aller derjenigen ein, die keine Slumbewohner werden wollen. Die Massenauswanderung dieser Bevölkerungsteile - mit der dann meistens die Entwicklung zum wirklichen Slum einsetzt - bucht man heute oft auf das Konto eines weiteren Slums in der Nähe (vor allem, wenn es ein Negerslum ist), oder man schiebt die Schuld auf die Existenz einiger Neger- oder andere Minoritäten-Familien. Dann wieder schreibt man die Massenauswanderung dem Alter und dem verwohnten Zustand der Gebäude zu oder irgendwelchen anderen vagen und allgemeinen Nachteilen, wie dem Mangel an Spielplätzen und dergleichen. Diese Faktoren spielen jedoch kaum eine Rolle. In Chicago gibt es Nachbarschaften, die nur um ein oder zwei Baublocks von einem Park und weit entfernt von Minoritäten-Siedlungen liegen, also wundervoll im Griinen und so ruhig, daß man eine Gänsehaut beko=t; sie sind ausgestattet mit anspruchsvollen, sehr ordentlichen Gebäuden, auf denen dann zu lesen steht: »Zu vermieten«, »Leer«, »Zimmer frei«, »Gäste willkommen« usw. Diese Gebäude finden offenbar in einer Stadt, in der die Wohnungen der farbigen Bürger grausam überbelegt und überteuert sind, keine Mieter. Sie sind schlecht dran, weil sie lediglich an Weiße verkauft oder vermietet werden können, und Weiße legen keinen Wert darauf, in ilinen zu wohnen. 154

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Daraus ergibt sich dann manchmal die ideale Gelegenheit für Grundstücksmakler, eine Aktion großen Stils aufzuziehen: sie kaufen die von den Weißen panikartig verlassenen Häuser billig auf und verkaufen sie dann für Unsummen an die wohnungsmäßig stets benachteiligten und herumgestoßenen Farbigen. Aber auch diese Methode funktioniert nur in bereits heruntergekommenen N achbarschaften. Auch wenn es keine Slumbewohner oder arme Einwanderer gäbe, die solche heruntergekommenen Gebiete erben, bestünde das Problem stagnierender Nachbarschaften, die von den Bewohnern mit Wahlmöglichkeiten verlassen werden, nach wie vor. So steht eine Unzahl von »ordentlichen, gesunden« Wohnungen in gewissen Bezirken von Philadelphia leer; die ehemaligen Bewohner dieser stagnierenden N achbarschaften sind in eine Nachbarschaft gezogen, die sich im Prinzip nur darin von der verlassenen unterscheidet, daß sie noch nicht von der wachsenden Stadt umschlossen ist. Es ist so einfach festzustellen, wo genau sich heute die neuen Slums entwickeln und wie öde, dunkel und monoton die Straßen sind, an denen sie sich charakteristischerweise bilden. Sehr viel schwerer - weil durch die vorangegangene Zeit bedingt ist zu erkennen, daß der Grund für die Bildung von Slums im allgemeinen ein von Anfang an bestehender Mangel an lebendigem Großstadtleben ist. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die Ursachen für die Bildung von Slums und der Verlauf ihrer Entwicklung überraschend wenig gewandelt. Der einzige Unterschied ist wohl, daß heute funktionsunfähige Nachbarschafren schneller verlassen werden und daß sich Slums heute dünner und weiter ausbreiten können als zu den Zeiten, in denen Motorisierung und Ausfallbürgschaften für Vorortplanung noch nicht ganz so üblich waren; es waren eben noch Zeiten, in denen es für Familien mit Auswahlmöglichkeiten nicht unbedingt praktisch war, sofort aus jenen Nachbarschafren wegzuziehen, die ihnen zwar nicht hundertprozentig gefielen, aber doch noch ein erträgliches Leben ermöglichten. Im Zeitpunkt der Slumbildung nimmt die Bevölkerung des Bezirks manchmal in nicht zu übersehender Weise zu. Das ist jedoch kein Zeichen von Popularität, sondern bedeutet im Gegenteil, daß die meisten Wohnungen überbelegt werden; und das geschieht, weil Menschen mit den geringsten Auswahlmöglichkeiten (Armut oder sonstige Diskriminierung) gezwungen sind, in einen unbeliebten Bezirk zu ziehen. Die Wohnungsdichte als solche braucht deshalb nicht zuzunehmen. In den alten Slums hat sie meistens zugenommen, weil früher dort neue Mietshäuser gebaut wurden. Aber auch die Erhöhung der Wohnungsdichte pflegte die überbelegung kaum auszugleichen. Die Gesamtbevölkerung wuchs nur noch mehr an. Hat sich einmal der Slum gebildet, es setzt sich der Vorgang, der zu seiner Entstehung führte, meistens fort. Zwar ziehen die erfolgreicheren Leute, die wenigstens bescheidene Fortschritte machen konnten, aus, manchmal sogar in Massen. Aber der Zustand der überbelegung besteht weiter. Und nicht etwa, weil die zu dicht aufeinander wohnenden Menschen bleiben, sondern weil sie ausziehen, anstatt durch ihr Bleiben zur Verbesserung der Nachbarschaft beizutragen. Dafür rücken nun andere mit genauso geringen wirtschaftlichen Möglichkeiten immer wieder nach. Die 155

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Gebäude verkommen bei einem solch ständigen Wechsel natürlich unverhältnismäßig rasch. Das sind die typischen Verhältnisse in »chronischen« Slums. Manchmal erregt solch ein typischer Bevölkerungswechsel die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit; dann beispielsweise, wenn die wirtschaftlich bedingten Aus- und Einwanderungen einen rassischen Wechsel mit sich bringen. Die Fluktuation als solche finden wir jedoch auch in den chronischen Slums, die sich rassisch nicht verändern. So ist beispielsweise ein Negerslum wie Mittel-Harlem in New York über einen sehr langen Zeitraum hinweg ein Negerslum geblieben und hat dabei enorme Bevölkerungsverschiebungen erlebt. Der ständige Wegzug aus dem Quartier läßt natürlich mehr als nur leere Wohnungen zurück, er hinterläßt vor allem eine Gemeinde in chronisch embryonalem Stadium. Trotzdem ist es sogar in scheinbar unrettbaren Milieus mit sozialen Mißständen aller Art noch möglich, allmählich Verbesserungen zu erreichen, wenn man die Bevölkerung am Ort festhalten kann, aber - das ist unter den ungünstigen Umständen naturgemäß äußerst schwierig. Die Entwicklung zu einem chronischen Slum ist keineswegs auf gewachsene Gebiete beschränkt; wir finden sie ebenso in planmäßig angelegten Stadtgebieten. Der Hauptunterschied ist nur der, daß in planmäßig angelegten Bezirken das Symptom Überbelegung ausbleibt, weil hier die Anzahl der Personen pro Wohnung genau festgelegt ist. In der New York Times hat Harrison Salisbury in seiner Artikelserie über das Verbrecherturn die Zwickmühle, in der sich Siedlungen für niedrige Einkommen befmden, beschrieben: »In nur allzu vielen Fällen ... sind die alten Slums jetzt hinter neuen Ziegelsteinen und Stahlbeton verschwunden. Das Grauen und die Entbehrung sind in diese kalten neuen Wände eingemauert worden. Mit den von den besten Absichten getragenen Bemühungen, dem einen Übel ein Ende zu machen, hat es die Gemeinde erreicht, andere Übel zu verstärken und neue zu schaffen. Die Wohnberechtigung in den Siedlungen für niedrige Einkommen wird im Allgemeinen vom Einkommensniveau abhängig gemacht. Hier werden also Menschen nicht wegen ihrer Religion oder Hautfarbe abgesondert, sondern durch die scharfe Unterscheidung der Einkommen beziehungsweise der mangelnden Einkommen. Was das für das soziale Gewebe einer Gemeinde bedeutet, muß man gesehen haben, um es glauben zu können. Die tüchtigen, sich hocharbeitenden Familien werden laufend hinausgestoßen, das wirtschaftliche und soziale Niveau sinkt immer tiefer; es bildet sich ein menschlicher Ansteckungsherd, der soziale Übel ausbrütet und endlose Hilfe von außen benötigt.« Die Erbauer solcher planmäßig angelegten Siedlungen, die Slums werden oder bleiben müssen, setzen ihre große Hoffnung darein, daß sich die Verhältnisse ganz gewiß bessern werden, »sobald sich im Laufe der Zeit eine Gemeinschaft gebildet hat.« Aber wie in einem normal gewachsenen chronischen Slum wirkt sich auch hier die Zeit zerstörerisch und nicht aufbauend aus. Und wie zu erwarten, bieten diejenigen Siedlungen für niedrige Einkommen, in denen die stetige Rückentwicklung am meisten Zeit gehabt hat sich auszuwirken, unweigerlich auch die schlimmsten Beispiele für »eingemauerte« Slums.

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Hinzugekommen ist ein unheilvolles neues Moment. Durch die zunehmende Beseitigung alter Slums haben die neuen Siedlungen einen wachsenden Anteil "umgesiedelter« Bewohner und mit ihnen von Anfang an jene mürrische und entmutigende Atmosphäre, die für die alten chronischen Slums kennzeichnend war; sämtliche Gefahren und Leiden früherer Entwurzelung und Zerstörung scheinen in die Neubauten einzuziehen. Zu viele ihrer Bewohner haben diese Erfahrungen schon hinter sich und bringen sie nun als Gepäck in die neue Umgebung mit. Mrs. Ellen Lurie vom Union Settlement kommentiert die Verhältnisse in einerneuen Siedlung folgendermaßen: »Als Ergebnis aller Besuche bei denen, die zwangsweise in die öffentlich fmanzierten Siedlungen umgesiedelt worden sind, weil ihre alten Wohnungen im Verlauf eines städtischen Wiederaufbauprogramms abgerissen wurden, läßt sich eins feststellen: Es ist für die Hausverwaltung äußerst schwierig, eine große Siedlung zu leiten, in welcher der Hauptteil der Bewohner grundsätzlich unglücklich und wütend auf das Wohnungsamt ist, das sie zwangsweise ausquartiert hat; diese Leute sehen die Gründe dafür nicht ein und fühlen sich verlassen und unsicher in der fremden neuen Umgebung. Solche Familien bedeuten für die Verwaltung der Siedlung eine schlimme Erschwerung ihrer Aufgaben.« Weder das einfache Verschieben oder Verlegen der Slums also, noch die »Einmauerung« in neue Siedlungen durchbricht den Circulus vitiosus chronischer Slums, der darin besteht, daß zuviel Menschen in zu raschem Tempo ausziehen. Die einzige Möglichkeit, der Slums wirklich Herr zu werden, liegt in echter Sanierung. Gäbe es die nicht, müßten wir sie erfinden. Aber es gibt sie, und sie funktioniert sogar. Man muß sie nur an viel mehr Orten und viel entschlossener in Angriff nehmen. Voraussetzung für jede Sanierung ist ein Slum, der lebendig genug ist, um ein öffentliches Leben und Sicherheit auf den Bürgersteigen zu gewährleisten. Schlechteste Grundlage ist jene Ode, in der sich die Slums erst bilden. Daß Slum-Bewohner es überhaupt wünschen könnten, in den Slums wohnen zu bleiben, wenn es wirtschaftlich gesehen nicht mehr zwingend ist, kann nur aus einer ganz persönlichen Zufriedenheit mit ihrer Umgebung kommen. Der freie Entschluß zum Bleiben hängt sehr eng zusammen mit den persönlichen Beziehungen zu anderen Menschen, mit der Achtung, welche die Leute in ihrer Nachbarschaft genießen, und mit der persönlichen Einschätzung dessen, was ihnen für ihr Leben wichtig erscheint. Die Anhänglichkeit der Menschen an ihre Straßennachbarschaft gehört zu ihrem Leben. Eine Nachbarschaft kann in den Augen der Menschen ungeachtet ihrer Nachteile einmalig und unersetzlich sein. Dann haben sie recht, denn eine vielfältige und lebendige Straßennachbarschaft ist in ihrer Art einmalig. Indirekt wird der Wunsch zu bleiben offenbar auch durch äußere Faktoren der Umgebung beeinflußt. Die wichtige »Sicherheit« der häuslichen Basis ist zum Teil Sicherheit vor physischer Gefahr; Slums, in denen die Straßen leer und unheimlich sind, sanieren sich einfach nicht aus eigener Kraft. Das besagt jedoch nicht, daß sich nun jeder Slum mit genügender Mannigfaltigkeit und mit einigermaßen interessantem öffentlichem Betrieb automatisch selbst sanieren könnte. Wo die Anhänglichkeit an einen Slum stark genug ist, um Anreiz für 157

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eine Sanierung zu sein, da ist die Anghänglichkeit an den Bezirk bereits vor der Sanierung vorhanden. Sonst ist es für die Sanierung zu spät. Ein früh auftretendes Anzeichen dafür, daß Menschen in einem Slum aus freier Wahl wohnen bleiben, ist die Verringerung der Bevölkerungsdichte, die nicht von einer Vermehrung leerer Wohnungen begleitet ist. Eine gegebene Anzahl von Wohnungen wird dann von weniger Menschen bewohnt. Paradoxerweise ist gerade dies ein Signal für die wachsende Popularität des Bezirks. Es bedeutet, daß es den früher zu dicht aufeinander wohnenden Einwohnem jetzt wirtschaftlich möglich wurde, ihren Wohnraum zu erweitem und daß sie das innerhalb der alten Nachbarschaft getan haben, anstatt die Räume aufzugeben und einerneuen Welle von Überbelegung auszusetzen. Gleichzeitig bedeutet die Verringerung der Bevölkerungsdichte natürlich auch das Abwandem von Menschen; das ist ebenfalls wichtig, wie wir noch sehen werden. Aber der wichtigste Punkt ist zunächst, daß die Wohnungen der abgewanderten Menschen zu einem beträchtlichen Teil von denjenigen übernommen werden, die aus freier Wahl im Bezirk wohnen bleiben. Eine solche Verringerung der Bevölkerungsdichte ist in allden Nachbarschafleu von Greenwich Viilage zu beobachten, die dabei sind, sich aus eigener Kraft zu regenerieren. In den früher in unglaublichem Maß überbelegten Mietskasemen im South Village, die zu einem Slum für Italiener geworden waren, verringerte sich die Bevölkerung in einem der genormten Trakte von beinahe 19 ooo Menschen im Jahre 1910 auf 12 ooo Menschen im Jahre 1920; während der Depression stieg die Dichte wieder etwas an und fiel dann mit steigendem Wohlstand auf 9500. Die Abnahme der Bevölkerungsdichte bedeutet indessen nicht, daß die früheren Slum-Bewohner gegen eine andere Bevölkerungsschicht, eine Mittelklassen-Bevölkerung etwa, ausgewechselt wurden. Das Abnehmen bedeutet viehnehr, daß ein großer Teil der alten Bevölkerung in die Mittelklasse aufgestiegen war. Die Wohnungseinheiten blieben sich an Zahl gleich, und die Kinderzahl verringerte sich relativ weniger als die Gesamtbevölkerung, da es sich meistens um Familien handelte, die wohnen blieben. In genau den gleichen Bahnen ist auch die Regeneration des North End in Boston verlaufen. Es läßt sich sehr einfach feststellen, ob sich die Belegung normalisiert hat oder normalisiert und ob das Nachlassen der Bevölkerungsdichte ein Zeichen von Beliebtheit der Nachbarschaft ist. Man braucht lediglich zu prüfen, ob das Nachlassen der Bevölkerungsdichte mit einem nennenswerten Prozentsatz leerer Wohnungen verbunden ist oder nicht. So bedeutete die Verminderung der Bevölkerungsdichte in großen Teilen der Lower East Side in den dreißiger Jahren nur zum Teil eine echte Auflockerung. Sie hing mit dem gleichzeitigen Auftreten von Leerwohnungen zusammen, die später, wie zu erwarten, wieder überbelegt wurden. Wenn erst einmal genügend Menschen aus freier Wahl in einem Slum wohnen bleiben, gehen verschiedene Dinge vor sich: Die Gemeinde gewinnt an Funktionsfähigkeit und Kraft, teils durch Erfahrung und durch wachsendes allseitiges Vertrauen, teils - was sehr viel länger dauert - auch dadurch, daß sie das Provinzielle abstreift (vgl. Kapitel 6 über die Nachbarschaften). In diesem Zeitpunkt beginnt dann eine allmähliche Wandlung in Richtung auf eine 158

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Differenzierung der Bevölkerung. Dabei ist der Grad des wirtschaftlichen und Bildungs-Fortschritts unter denen, die in einem sich regenerierenden Slum wohnen bleiben, durchaus verschieden. Die Mehrheit wird nur bescheidene, unauffällige Fortschritte machen, und einige werden auf der alten Stufe verharren. Sie gehen verschiedenen Berufen nach, ihre Interessen und Bekanntschaften außerhalb der Nachbarschaft sind verschieden und gehen mit der Zeit verschiedene Wege. Die Verwaltungsbeamten der großen Städte argumentieren ständig mit dem Slogan von der »Rückführung der Mittelklassen«, als ob niemand zur Mittelklasse gehörte, solange er nicht die Stadt verlassen und ein Landhaus gekauft hat und dadurch »wertvoll« geworden ist. Die großen Städte verlieren zwar große Teile ihrer Mittelklassenbevölkerung, aber sie brauchen sie deswegen noch nicht »zurückzuführen« und wie in einem Treibhaus vorsichtig zu schützen. Die großen Städte bringen ja selbst immer wieder neue Mittelklassen hervor. Diese aber, während sie sich bilden, als stabilisierende Kräfte in einer sich differenzierenden Bevölkerung zu halten, setzt voraus, daß man die Menschen in der Großstadt genügend respektiert, also genau dort, wo sie sich gerade befinden, ehe sie »Mittelklasse« werden. In der Regel kommen immer wieder neue arme Einwandererwellen in Bezirke herein, die gerade dabei sind, ihre Slumzustände zu sanieren. Der Bankier in Boston, der zu Beginn dieses Buches zitiert wurde, spottete über das North End, weil sich dort immer noch Einwanderer niederlassen. In unserer Nachbarschaft auch. Auch das ist ein Vorzug des Regenerationsprozesses; die Einwanderer werden nicht in unverdaulichen Mengen, sondern als allmählicher Zuwachs untergebracht und assimiliert, und in halbwegs gesunden Bezirken assimilieren sie sich sehr schnell und werden zu wichtigen und brauchbaren Teilnehmern am öffentlichen Straßenleben. Den gleichen Menschen wäre das kaum möglich - und sie würden auch kaum lange genug dafür an einem Ort bleiben -, wenn sie nur Teil des üblichen chaotischen Schichtwechsels in chronischen Slums wären. Weitere Gewinner der echten Sanierung eines Bezirks sind diejenigen, die aus freier Wahl hinzuziehen. Sie finden einen Ort zum Wohnen vor, an dem sich großstädtisches Leben ereignen kann. Beide Arten von Neuankömmlingen steigern die Differenzierung der Bevölkerung einer sich regenerierenden oder bereits sanierten Nachbarschaft. Aber die unabdingbare Voraussetzung für diesen Zuwachs an bevölkerungsmäßiger Vielfalt ist die Selbstdifferenzierung und Stabilität der eigentlichen ehemaligen Slumbewohner. Zu Beginn des Sanierungsprozesses werden von den erfolgreichsten Bewohnern (oder ihren nach oben strebenden Kindern) nur wenige oder niemand bleiben. Den Prozeß leiten meistens diejenigen ein, die nur bescheidene Fortschritte machen und die aus persönlichen Gründen am Ort hängen. Erst später, wenn bereits eine Besserung eingetreten ist, heben sich mit dem Niveau auch die Erfolgsaussichten und der Ehrgeiz weiterer Schichten. Der Wegzug der Erfolgreichsten oder Unternehmendsten wirkt sich jedoch in anderer Beziehung auch positiv auf die Regeneration eines Slums aus. Denn einige unter denen, die den Bezirk verlassen, tragen dazu bei, eines der schrecklichsten Probleme der meisten Slumbewohner zu überwinden: die Diskriminierung. 159

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Wenn durch die erfolgreichsten Mitglieder eines Slums (oder Gettos) die Diskriminierung gewissermaßen draußen durchbrachen ist, fühlt sich auch die alte Nachbarschaft erleichtert: die Zugehörigkeit zu dem Bezirk ist nicht länger mehr ein Kainszeichen der Minderwertigkeit. Im North End von Boston erklärte ein Metzger sorgfältig eine ähnliche Wandlung der Dinge, daß es nämlich nicht mehr »erniedrigend« sei, dort zu wohnen. Er zeigte auf ein dreigeschossiges Haus, das gerade vom Eigentümer für 20 ooo Dollar renoviert worden war, und sagte: »Dieser Mann könnte überall wohnen. Er könnte in einen eleganten Vorort ziehen, wenn er wollte. Aber er will hier bleiben. Die Leute, die jetzt hier bleiben, tun es freiwillig; es gefällt ihnen hier.« Die Durchbrechung der Diskriminierung eines Slums nach außen hin und die weniger dramatische Selbstdifferenzierung einer Slumbevölkerung gehen Hand in Hand. Wenn heute in Amerika im Fall von Negerslums eine Stagnierung dieses Prozesses eingetreten ist, dann vermutlich deshalb, weil Negerslums nicht die gleichen Möglichkeiten haben, sich wie andere rassische oder völkische Slums aus eigener Kraft aufzulockern. Die Sanierung wird in ihrem Fall direkt wie indirekt durch die Diskriminierung behindert. Die allmähliche Differenzierung einer Bevölkerung spiegelt sich in der Differenzierung wirtschaftlicher und kultureller Unternehmen. Bereits die Differenzierung des Einkommens beeinflußt, oft nur auf bescheidenster Basis, die wirtschaftliche Vielfalt. So blieb beispielsweise ein Schuhmacher in New York in seinem Bezirk wohnen, während der größte Teil der Nachbarschaft von den Bewohnern verlassen und eine neue Siedlung für niedrige Einkommen gebaut wurde. Nach langem und hoffnungsvollem Warten auf die neuen Kunden mußte nun auch er diese Gegend verlassen, denn früher bekam er gute, ordentliche Schuhe zum Reparieren, »aber die neuen Leute, selbst die Arbeiter, sind alle arm. Ihre Schuhe sind so schlecht und billig, daß sie in Stücke zerfallen.« Man hätte an sich auch die frühere Nachbarschaft als arm bezeichnen müssen, aber offenbar verfügt sie wenigstens über einige Bewohner, die in bescheidenem Maße verdienten. Erfolgreiche Sanierung von Slums setzt voraus, daß genügend Menschen in ihnen wohnen bleiben wollen; das hinwiederum setzt in erster Linie voraus, daß es günstig für die Menschen ist zu bleiben. Das Gegenteilläuft meist auf die Unmöglichkeit hinaus, Geld aufzunehmen, um neue Gebäude zu errichten und neuenUnternehmen in der kritischen Anfangszeit zu helfen. Abgesehen von solchen kleineren (aber wesentlichen) Behinderungen der Sanierung, wird heutzutage der Regenerationsprozeß vielfach durch die allerletzte Entmutigung verhindert: durch die totale Vernichtung ganzer Nachbarschaften. Besonders und ausgerechnet die Tatsache, daß ein Slum seine Bevölkerungsdichte bereits gemindert hat (als erste Stufe der Sanierung aus eigener Kraft), läßt den Ort zu einer großen Versuchung für Stadtplaner werden; ihn kann man leicht zu einem teilweisen und kompletten »Erneuerungs-Objekt« machen. Das Umsiedlungsproblem sieht ja im Vergleich zu dem der entsetzlich überfüllten »chronischen« Slums so wunderbar einfach aus. Außerdem verlockt eine relative Gesundheit eines Gebietes dazu, eine Bevölkerung mit höheren Einkommen dort anzusetzen. 160

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Er erscheint geradezu ideal für den Zweck der »Rückführung der Mittelklassen«. Im Unterschied zum chronischen Slum ist das Gebiet »reif für Stadtemeuerung«, so als ob im Boden selbst irgendeine geheimnisvolle zivilisatorische Kraft steckte, die übertragen werden könnte. Als Herbert Gans die Vernichtung des dynamischen, stabilen West Ends in Boston beschrieb, machte er eine Beobachtung, die auch für andere Städte gilt, die mit Sanierungsproblemen beschäftigt sind: »Unterdessen sind andere Gebiete mit älteren, viel heruntergekommeneren und sogar gesundheits· schädlichen Wohnbauten im Erneuerungsprogramm zurückgestellt, weil für sie kein Interesse bei den potentiellen Sanierungsträgem und anderen mächtigen Interessen· gruppenvorhanden ist.« Und noch etwas: an einem Slum, der sich mitten im Regenerationsprozeß befindet, verdient niemand. Die beiden großen Geldquellen in den Städten sind einerseits funktionsunfähige chronische Slums und andererseits Gebiete mit hohen Miet· renditen. Eine Nachbarschaft, die sich regeneriert, bringt den ausbeutensehen Haus· besitzem nicht mehr die Unsummen an Mieten ein, die sie ihnen einst gebracht hat. Sie ist auch kein so wunderbares Pflaster mehr für Rauschgifthändler und Pro· tektionsgeschäfte wie früher, noch bringt sie den Gewinn jungfräulichen Baulands oder von Bodenpreisen, die durch den Selbstzerstörungsprozeß der Mannigfaltigkeit in wirklich funktionsfähigen Bezirken in die Höhe getrieben wurden. Die sich rege· nerierende Nachbarschaft ist nichts als ein ordentliches, lebendiges Gebiet, in dem vorwiegend Menschen in bescheidenen Verhältnissen leben, die den Eigentümern vieler kleiner Unternehmen eine ebenfalls bescheidene Existenzgrundlage geben. Auf diese Weise sind die einzigen Menschen, die gegen eine Vernichtung des sich regenerierenden Bezirks Sturm laufen - vor allem, wenn er noch keine neuen Be· wohner von Gewicht an sich ziehen konnte-, diejenigen, die dort bescheidene Unter· nehmen haben, und diejenigen, die dort wohnen. Wenn sie den verständnislosen Fachleuten erklären wollen, warum der Ort in Ordnung und im Aufstieg begriffen sei, hört niemand zu. In jeder großen Stadt werden solche Proteste als Geheul eng· stirniger Leute abgetan, die lediglich dem Fortschritt und den höheren Steuererträ· gen im Wege stehen. Was wirklich in den sich regenerierenden Slums vor sich geht, hängt mit der Tatsache zusammen, daß das Wirtschaftsleben einer Stadtregion, wenn es floriert, stetig viele arme Familien der Mittelklasse zuführt, viele Analphabeten zu gelernten Arbeitern, manchmal zu gebildeten Bürgern, und viele Einwanderer zu tüchtigen Bürgern macht. In Boston sahen viele Leute, die außerhalb des North End wohnten, die Verbesserung dieses Bezirks als etwas eher Merkwürdiges und Anrüchiges an; ihre Kommentare mündeten in den Satz »Die Leute im North End sind eben Sizilianer«. Selbst· verständlich hat die Sanierung und Selbstdifferenzierung innerhalb des North Ends absolut nichts mit Sizilien zu tun; sie hat lediglich zu tun mit der Dynamik de:r wirtschaftlichen Möglichkeiten der Metropole. Die Dynamik und ihre Auswirkungen, die es im ländlichen Dasein uralter Zeiten nicht gegeben hat, sind derart augenfällig geworden und werden heute so selbst· verständlich vorausgesetzt, daß es wirklich höchst seltsam ist, wie unsere Planung 161

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diese wichtigen und auffälligen Tatsachen ignoriert. Es ist seltsam, daß die Stadtplanung anscheinend die dynamische Kraft der Selbstdifferenzierung völlig verkennt und sich in keiner Weise von dem ästhetischen Problem angezogen fühlt, sie zum Ausdruck zu bringen. Dieses merkwürdige Desinteresse geht wahrscheinlich ebenfalls auf die GartenstadtMythologie zurück. Ebenezer Howards Vision der Gartenstadt scheint uns heute fast feudal inspiriert. Er hat offensichtlich angenommen, daß die Angehörigen der industriellen Arbeiterklasse ihr Leben lang brav innerhalb ihrer Klasse und womöglich auch am selben Arbeitsplatz bleiben würden, daß Landarbeiter immer in der Land· arbeitbleiben würden usw. Geschäftsleute (der große Feind) hatten ja sowieso kaum einen nennenswerten Platz in seinem Utopia. Es war ja gerade das Fließende der neuen industriellen und großstädtischen Gesellschaft mit ihren tiefgreifenden Verschiebungen von Macht, Menschen und Geld ge· wesen, das Howard so sehr erregte; wie auch seine eifrigen Jünger (die amerikanischen Dezeutralisten und regionalen Planer). Howard wollte Macht, Menschen und wachsende Geldmittel in ein einfach zu handhabendes statisches System bannen. Er versuchte, die beunruhigenden neuen städtischen Geschäftsleute zu überlisten; er versuchte, ihnen den Spielraum für ihre anrüchigen Machenschaften zu nehmen, und er fand die engen Richtlinien einer monopolisierten Genossenschaftswirtschaft. Sie war eines seiner wichtigsten Ziele. Howard fürchtete geradezu die dynamischen Kräfte, die durch die Verbindung von Stadt und Industrialisierung frei wurden; er gestattete ihnen keinen Anteil an seiner Lösung des Slum-Problems. Die Restauration einer statischen Gesellschaftsordnung, die in allem Wesentlichen von einer neuen Aristokratie altruistisch denkender Planungsexperten gelenkt wer· den sollte, mag zwar auf den ersten Blick den modernen amerikanischen Methoden der Slum-Sanierung sehr fern liegen. Die Planung jedoch, die sich aus solchermaßen halbfeudalistisch inspirierten Zielen entwickelt hat, ist niemals wirklich revidiert worden. Und deshalb sanieren sich amerikanische Slums, wenn sie es überhaupt tun, nur trotz dieser Stadtplanung und im ausgesprochenem Gegensatz zu diesen Idealen. Im Dämmerlicht orthodoxer Planung und Wiederaufbau-Weisheit bedeuten Slums, die sich aus eigener Kraft regenerieren und differenzieren, lediglich soziale Unordnung und wirtschaftliche Verwirrung. Und entsprechend geht man mit ihnen um.

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Baufinanzierung - sintflutartig oder in kleinen Dosen

Geld hat seine Grenzen. Nicht immer ist Erfolg zu kaufen. Auch nicht in den Städten, wenn die Vorbedingungen für echten Erfolg nicht vorhanden sind. Geld kann sogar ausgesprochen schädliche Wirkungen haben, wenn es die Bedingungen für das richtige Funktionieren der Stadt zerstört. Andererseits kann es natürlich mit den Bedingungen auch die gute Funktion fördern. Aus diesen Gründen ist Geld eine mächtige Kraft sowohl für die Zerstörung wie für die Neubildung der Städte. 162

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Im wesentlichen sind es drei Kategorien der Finanzierung, auf die die häufigsten Wechsel in den Eigentumsverhältnissen von Wohn- und Geschäftsbauten in unseren Städten zurückzuführen sind. Unter die erste Kategorie fallen Hypotheken, die von den privaten Kreditanstalten gegeben werden. Gemessen an ihrem Anteil an Rentenpapieren, sind die drei wichtigsten Arten dieser Institutionen die Spar- und Darlehenskassen, die Lebensversicherungsgesellschaften und die Handels- und Gewerbebanken. Hinzu kommen noch verschiedene kleinere Hypothekengeber; manche sind gerade in einem rapiden Aufstieg begriffen, wie z. B. die Pensionsfonds. Jedenfalls wird der Löwenanteil an Finanzierungen von Neubauten, Wiederaufbau, Renovierungen und Erweiterungen in den Städten (und Vororten) von diesen Institutionen geleistet. Bei der zweiten Kategorie von Finanzierungen handelt es sich um öffentliche Mittel aus Steuern oder Anleihen. Außer den städtebaulichen Einrichtungen (Schulen, Autostraßen usw.), die sowieso immer mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, werden in einigen Fällen auch Wohn- und Geschäftsbauten mit diesen Mitteln gebaut. Wichtiger ist jedoch, daß man sie auch für Teilfinanzierungen oder als Rückversicherung anderer Geldhergaben in Anspruch nehmen kann. Mittel zur Bodenerschließung aus bundesstaatliehen und städtischen Fonds, um privat finanzierte Erneuerungs- und Wiederaufbauprojekte finanziell zu ermöglichen, fallen ebenfalls unter diese Kategorie; ebenso Mittel für Wohnsiedlungen, die durch staatliche oder städtische Verwaltungen genehmigt sind. Die Staatsverwaltung garantiert bis zu go 0/o des Wertes der Wohnbauhypotheken, die durch die privaten Geldgeber finanziert werden; sie kauft sogar garantierte Hypotheken von Geldgebern auf, vorausgesetzt, daß die betroffenen Bauvorhaben den Vorschriften der bundesstaatliehen Wohnungsbaubehörde entsprechen. Die dritte Kategorie der Baufinanzierung kommt aus einer Schattenwelt, aus einer Unterwelt von »gib-und-nimm«. Woher dieses Geld letzten Endes stammt und durch welche Kanäle es läuft, ist verborgen oder kompliziert. Dieses Geld wird zu Raten verzinst, die bei 20 °/o anfangen und, zusammen mit Maklerhonoraren und -gewinnen, bis zu Wucherpreisen von manchmal8o 0/o steigen. Diese Art der Finanzierung wird viel, auch für tatsächlich nützliche Zwecke, in Anspruch genommen; hauptsächlich aber gilt sie der Finanzierung von heruntergekommenen Gebäuden, die zu Slum-Gebäuden mit unmäßigem Gewinn umgewandelt werden. Alle drei Arten der Baufinanzierung tragen, jede auf ihre Art, dazu bei, die städtischen Grundbesitzverhältnisse zu verändern. In einer einzigen Beziehung ähneln sich ihre sonst grundverschiedenen Auswirkungen: alle rufen überstürzte drastische Wandlungen in den Städten hervor; nur ein relativ kleiner Prozentsatz fließt in die allmählichen Veränderungen der Stadt und fördert ein kontinuierliches Wachstum. Sie verhalten sich wie böse Wetterstürze, denen der Mensch machtlos gegenübersteht, und bringen entweder hoffnungslose Dürre oder reißende Überschwemmungen. Das ist selbstverständlich kaum der richtige Weg, die Städte zu nähren. Ein solider Städtebau wächst und wandelt sich allmählich, differenziert sich auf komplexe Art und Weise. Mannigfaltigkeit entsteht durch die Wandlungen, die sich durch die Kombinationen von Nutzungen im Lauf der Zeit entwickeln. Die Sanierung der 163

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Slums ist ein langsamer, allmählicher Vorgang. Alle Stadtbezirke, die- auch wenn ihr baulicher Reiz der Neuheit verflogen ist- dauerhafte Qualitäten haben sollen, sind darauf angewiesen, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, sich den jeweiligen Erfordernissen anzupassen; und das verlangt Tausende von allmählichen, ständigen Veränderungen. Die Kategorie von Finanzierungen, die man also pflegen muß, um das Bestehende zu ergänzen, ist schrittweise verfügbares Geld. Aber dies unentbehrliche Instrument fehlt. Das ist nun keineswegs eine Situation, die unvermeidbar war. Im Gegenteil, es hat ziemlich viel Geschick und von besten Absichten getragene Anstrengungen gebraucht, uns in diese Sackgasse zu bringen. Die Bemühungen, Finanzierungen auf breitester Basis zu fördern, mußten immer wieder und erneut angefacht werden. Wie Arthur H. Moteley, Präsident des U. S. Chamber of Commerce, 1960 in einer Konferenz über den Wiederaufbau sagte, haben »einige große Städte mit Hilfe von bundesstaatliehen Mitteln derartige Mengen von Land erworben, ohne es für den Wiederaufbau zu nutzen, daß die bundesstaatliche Wahnbauförderungsbehörde zu den größten Züchtern von Unkraut im Staate geworden ist«. Moteleys düsterer Realismus paßte nicht recht zu dem Geist einer Konferenz, die so weise Platitüden von sich gab wie: »Der Schlüssel für künftige Investitionen auf diesem Gebiet ist der Gewinnfaktor.« Natürlich steckt in der Hergabe von Hypotheken- und Baugeldern auch ein Gewinnfaktor, meistens zu Recht. Aber es spielen doch auch bestimmte Vorstellungen über das Wohl der Städte selbst eine Rolle; und von diesen Vorstellungen hängt es schließlich ab, wie das Geld in den Städten angelegt wird. Hypothekengeber können genausowenig wie Grünflächenplaner und Stadtplaner in einem ideologischen oder gesetzlichen Vakuum arbeiten. Betrachten wir zunächst die Wirkungen der Geldaufnahme an sich, denn ursächlich löst die Art der Geldaufnahme für Hypotheken zu ihrem großen Teil den sonst unmotivierten Niedergang der Städte aus. »Wenn die Macht der Steuer gleichzusetzen ist mit der Macht zu zerstören ... , dann haben die Finanzierungsämter nicht nur die Macht zu zerstören, sondern auch die Macht, schöpferisch zu wirken und Freude zu bringen«, sagte Professor Charles M. Haar von der Harvard Law School in einer Studie über bundesstaatliche Initiativen für Wohnungsinvestierungen. Die Macht zu zerstören, über die die Behörden durch die Aufsicht über das Kreditwesen verfügen, ist vor allem die Macht, Kredite zu verweigern. Vielleicht sind die Wirkungen dieser Macht am einleuchtendsten dort zu erfassen, wo es möglich war, dieser Macht zu trotzen; was ein reines Wunder ist. Das North End in Boston steht für eine solche wunderbare Rettung. Nach der großen Depression und nach dem Krieg, nach Zeiten also, in denen sowieso kaum gebaut wurde, geriet das North End auf die schwarze Liste der Kreditinstitute. Damit war das North End für den normalen Städtebau abgeschrieben. Es hätte hinsichtlich 164

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Erweiterung oder Wiederaufbau für das amerikanische Kreditsystem im Tasmanien liegen können. Seit dreißig Jahren, seit der Depression, haben die größten Hypothekenhergaben in diesem Gebiet nicht mehr als 3000 Dollar betragen, und das waren seltene Fälle. Auch der aufstrebendste Vorort, sollte man meinen, hätte es kaum fertiggebracht, sich, ohne Wunder zu vollbringen, über eine derart lange Zeit hinweg unter solchen Bedingungen zu halten. Dank besonders glücklicher Umstände hat das North End das Wunder vollbracht. Bewohner und Geschäftsleute griffen zur Selbsthilfe, reine Kosten waren in der Hauptsache nur die Materialkosten, und die wurden mit Sparguthaben aufgebracht. Das North End griff also auf die primitiven Methoden von Tauschgeschäften und auf Reserven zurück, die, bevor die Banksysteme eine Vorfinanzierung ermöglichten, allgemein üblich waren. Damit sanierte sich der Bezirk, und die Gemeinde überlebte. Mit diesen Methoden kann jedoch nicht auch noch die Finanzierung von Neubauten gedeckt werden, die wie in jeder anderen Nachbarschaft auch im North End allmählich hätten aufgeführt werden müssen. Das North End kann, wie die Dinge einmal liegen, nur Neubauten erhalten, wenn es Finanzierungen im großen Stil, das heißt Wiederaufbau und Stadterneuerung auf breiter Basis über sich ergehen ließe; damit würde das Komplexe der Nachbarschaft zerstört; die Bewohner und Geschäftsleute würden ruiniert. Außerdem wären die Kosten dafür in diesem Fall wesentlich höher im Verhältnis zur allmählichen Finanzierung der Verbesserungen und des Ersatzes für abgewohnte Gebäude, deren der Bezirk bedarf. Auch der Back-of-the-Yards-Bezirk in Chicago überlebte und verbesserte seine Bedingungen, nachdem sein Tod anscheinend schon beschlossen war. Hier wurde eine andere ungewöhnliche Heilmethode angewendet. Soweit mir bekannt ist, ist dies der einzige Bezirk in unseren großen Städten, der das übliche Problem der schwarzen Kreditliste mit direkten Mitteln bekämpft hat. Der Bezirk war einst ein bekannter Slum. Als der Schriftsteller Upton Sinclair, der gern den Dreck der Menschheit zusammenharkte, den Abschaum des Stadtlebens und menschlicher Ausbeutung in seinem Buch The Jungle schildern wollte, wählte er als Vorbild den Back-of-the-Yards-Bezirk. Die Bewohner dieses Bezirks gaben, wenn sie auf Arbeitssuche außerhalb waren, bis in die dreißiger Jahre hinein falsche Adressen an, um einer Diskriminierung zu entgehen. Bis 1953 war der bauliche Zustand des Bezirks denkbar schlecht; eine Ansammlung von verwitterten und heruntergekommenen Häusern entsprach genau dem, was üblicherweise mit Bulldozern beseitigt werden soll. In den dreißiger Jahren pflegten die Brotverdiener des Gebietes zur Hauptsache in den Schlachthöfen zu arbeiten, und viele von ihnen hatten großen Anteil an der Bildung der Gewerkschaften in den Konservenfabriken. Auf diesen neuen Organisationen bauten dann ein paar sehr fähige Männer auf und gründeten den schon erwähnten Back-of-the-Yards-Council, der heute fast mit Regierungsvollmacht funktioniert. Während des Zeitraums, der zwischen der Bildung des Bürgerrats und 165

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dem Beginn der fünfziger Jahre lag, hatten die Bewohner des Gebiets und ihre Kinder Fortschritte gemacht. Viele waren zu gelernten Arbeitern und Angestellten geworden oder hatten andere berufliche Ausbildungen genossen. Der »unvermeidliche« nächste Schritt wäre an sich die Massenauswanderung in einen besseren Bezirk oder in Vororte gewesen, wonach dann genauso unvermeidlich eine neue Welle von anderen Menschen mit wenig Wahlmöglichkeiten in den Bezirk gekommen wäre. Der chronische Slum wäre dagewesen. Aber die Bewohner wollten bleiben, und auch die vorhandenen Institutionen, vor allem die Kirchen, legten Wert auf ihr Bleiben. Gleichzeitig allerdings wollten Tausende ihre Wohnungsverhältnisse verbessern, und zwar nicht nur durch Renovierung oder Auflockerung der Überbelegung, die sie zum größten Teil schon hinter sich hatten. Sie fühlten sich nicht mehr als Slum-Bewohner, und sie wollten entsprechend leben. Die beiden Wünsche - bleiben und sich verbessern - waren jedoch unvereinbar, weil niemand Kredite für Verbesserungen erhielt. Der Bezirk stand auf der schwarzen Liste der Kreditinstitute. In diesem Fall nun war eine Organisation vorhanden, die mit dem Problem fertig wurde. Eine Umfrage des Bürgerrats ergab, daß die Geschäfte, Bewohner und Institutionen des Bezirks Bankeinlagen in ungefähr dreißig Kreditbanken und Sparkassen von Chicago hatten. Man einigte sich darauf, alle diese Einlagen - die der Geschäfte und Institutionen wie auch die der Privatleute - zurückzuziehen, wenn die entsprechenden Kreditinstitute den Bezirk weiterhin auf der schwarzen Liste behielten. Eine Konferenz mit den Bankiers wurde einberufen, und bald darauf konnten die am meisten verwahrlosten Reihenhäuser renoviert werden; 1959 begann man mit den ersten Apartment-Neubauten. Niemand wurde umgesiedelt, keine Geschäfte wurden zerstört, und die Bankinstitute sprechen heute mit Achtung von diesem Bezirk als einem Ort für gesunde Investierungen. Das System der schwarzen Listen für Kredite wird ganz unpersönlich gehandhabt. Es richtet sich keinesfalls gegen die Bewohner oder Geschäftsleute als Personen, es richtet sich nur gegen ihre Straßennachbarschaft als Ganzes. Bevor man sich darüber empört, sollte man sich vergegenwärtigen, daß die Banken und die anderen Kreditinstitute, die bestimmte Bezirke auf ihre schwarzen Listen setzen, nichts anderes tun, als die orthodoxen Lehren der Stadtplanung ernst zu nehmen. Die schwarzen Listen sind meistens identisch mit den Karten, in denen die Slum-Sanierungen der Städte aufgeführt sind. Diese Karten haben ja unter anderem geradezu den Zweck, den Kreditinstituten zu zeigen, wo es nicht günstig ist zu investieren. Diese zwei Instrumente - schwarze. Listen und Slum-Sanierungskarten - sind in den vierziger Jahren in Gebrauch gekommen. Bei den Geldgebern gab es als erstes Karten, in denen Gebiete mit vielen abbruchreifen Gebäuden aus den Zeiten der Depression kenntlich gemacht waren, jene Gebiete also, die vermutlich schlechte lnvestierungsobjekte für künftige Geldhergaben darstellen. Dieses Kriterium trat dann in den Hintergrund. Das Kriterium heute ist die allgemeine Feststellung, dieses oder jenes Gebiet sei bereits ein Slum oder auf dem besten Wege eines zu

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werden. Seine Zukunft ist damit nach den Begriffen der üblichen Planung besiegelt: Ausradierung und bis dahin - Abstieg. Die Geldgeber folgen also nur den Prophezeiungen. Gewöhnlich stimmen die Prophezeiungen auch. Sie stimmen deshalb, weil sie sich zwangsweise erfüllen müssen. Wenn das im North End von Boston und im Back-inthe-Yards in Chicago nicht geschehen ist, so nur dank der erstaunlichen Fähigkeit dieser Orte, ihren Todesurteilen zu entgehen. Es ist kaum zu erfassen, wie viele Stadtbezirke durch solche schwarzen Listen zerstört worden sind. Am schlimmsten sind diejenigen Nachbarschaften dran, die bereits stagnieren und in denen schon vieles nicht mehr stimmt. Solche Orte verlieren ihre Bewohner sowieso; und innerhalb kurzer Zeit, sobald die Orte auf die schwarze Liste gesetzt werden, kommt der Geldregen aus der Schattenwelt der Finanzierungen; alle die Gebäude werden aufgekauft, auf welche die Bewohner keinen gesteigerten Wert mehr legen. Es folgt die rasche Umwandlung in Slum-Wohnungen, die man bequem ausbeuten kann. Das Geld aus der Schattenwelt hat wieder einmal die Lücke geschlossen, die durch das übliche Kreditsystem entstanden war. Dieser Gang der Dinge scheint in den meisten großen Städten als selbstverständlich hingenommen zu werden, obwohl es schon ein paar kritische Untersuchungen darüber gibt. Eine davon, ein Forschungsbericht über ein durch Finanzierungsüberschwemmung heruntergewirtschaftetes Gebiet in New York, stammt von Dr. Chester A. Rapkin, einem Nationalökonomen und Planer. Rapkins Bericht schildert die Unmöglichkeit einer Geldaufnahme bei den üblichen Kreditinstituten, das Auftauchen von hochverzinslichen und skrupellos angelegten Geldem und die Unfähigkeit der Grundeigentümer, sich dieser Zwangslage zu erwehren außer durch Verkauf. Die New York Times zitierte den Vorsitzenden der städtischen Planungskommission, James Felt, für den dieser Bericht gemacht worden war, und faßte das Ergebnis klar und leidenschaftslos in folgenden Sätzen zusammen: »Er (Felt) sagte, der Bericht beweise die fast völlige Stillegung jedes Neubaus in dem Bezirk. Er zeige außerdem einen Stop des Fließens von Hypothekenhergaben seitens der Banken und anderer Kreditinstitute, einen Eigentumsübergang an eine andere Art von Investoren, ein Anwachsen des Anteils von nicht auf dem Grundstück wohnenden Eigentümern und die Umwandlung vieler Mietshäuser in möblierte Wohnungen.« Alle drei Arten plötzlich wegbleibender oder sturzartig auftretender Finanzierungen haben zu diesem Zusammenbruch beigetragen. Erst der Entzug des üblichen privaten Kreditgeldes, dann der Ruin durch Finanzierungen aus der Schattenwelt und schließlich die Klassifizierung des Gebiets als Kandidat für den Wiederaufbau auf breiter Basis, mithin als Kandidat für öffentliche Finanzierung mit Regierungsmitteln. Mit dem letzten Stadium kommt dann wieder die übliche Form der Geldnergabe zur Finanzierung städtischen Wiederaufbaus zum Zuge. Dieses reibungslose Zusammenspiel der drei Finanzierungsarten könnte fast eine Verschwörung sein. Es ist aber lediglich das logische Ergebnis gängiger, aber unsinniger Planungstheorien. Gebiete, die auf den schwarzen Listen der Kreditinstitute stehen, können also erst

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wieder zu Finanzierungshilfen kommen, wenn sie zu Großbauvorhaben geworden sind und man mit Hilfe von Gartenstadt-Cite-Radiense-Projekten dazu beiträgt, Einkommen und Nutzungen zu klassifizieren. Als in Harlem eine privat finanzierte Siedlung dieses Stils entstand, begrüßte dez Verwaltungspräsident des Bezirks dies als hochbedeutsames Ereignis: dadurch, »daß die Siedlung auf privaten Wegen finanziert worden ist, sind die Schranken, welche die Banken seit langem gegen substantielle Investierungen für den Wohnungsneubau in Harlem aufgerichtet haben, niedergerissen worden«. Die Schranken sind jedoch in Harlem nur in einer einzigen Beziehung niedergerissen worden, einzig und allein im Interesse des Siedlungshaus. Einem Bezirk, der auf der schwarzen Liste steht, öffnen sich die üblichen Kreditwege nur dann wieder, wenn die Bundesverwaltung die Hypotheken garantiert, was sie großzügig nur für die vorstädtische Entwicklung und für Gartenstadt-Cite-RadienseSiedlungen tut. Für Einzelgebäude (Neubauten oder Sanierungen) wird die Bundesverwaltung keine Hypotheken in genügender Menge garantieren, außer für Gebiete, die einem genehmigten Plan entsprechen. Ein genehmigter Plan bedeutet wiederum, daß die vorhandenen Gebäude dazu beitragen sollen, das Gebiet in eine ideale Siedlung zu verwandeln, wobei: diese Erneuerungspläne meistens vorsehen, daß selbst aus gering bewohnten Gebieten ungefähr die Hälfte oder zwei Drittel der Bevölkerung auszusiedeln sind. Noch eine weitere Form der Baufinanzierung kann in Bezirke fließen, die auf der schwarzen Liste stehen: Geldhergaben für den öffentlich geförderten Wohnungsbau. Auch diese Finanzierung erfolgt fast unweigerlich als Sturzflut und immer mit der Begleiterscheinung, daß die Menschen nach ihrem Einkommensniveau klassifiziert werden. Durch den Mangel an fallweisen Finanzierungsmöglichkeiten verfallen ganze Bezirke, die an sich durchaus lebensfähig sind. Wo bleibt nun das Geld, das für allmähliche Finanzierungen angewendet werden könnte, und wohin fließt es statt dessen? Einiges fließt in die Stadterneuerung- und Wiederaufbau-Projekte, anderes fließt in die Bezirke mit besonders guter Funktion und bewirkt dort die Selbstzerstörung der Mannigfaltigkeit, und sehr viel Geld kommt überhaupt nicht den Städten selbst zugute, sondern fließt in die Vororte und Außenbezirke. Die ungeheure Auswucherung der amerikanischen Städte in das Vorland ist nicht durch reinen Zufall ausgelöst worden, und noch weniger durch eine angebliche Entscheidung gegen die Stadt und für die Vorstadt. Die endlose Ausbreitung wurde möglich gemacht und ist für viele Familien zur Notlösung geworden, weil etwas geschaffen worden ist, das vor der Mitte der dreißiger Jahre in Amerika nicht existiert hat: der nationale Hypothekenmarkt, der ausdrücklich dafür da ist, den Wohnungsbau in den Vororten zu fördern. Die Sicherheit, welche staatliche Hypothekengarantien gewährleisten, führt nun dazu, daß eine Bank in New Haven Hypotheken für den Wohnungsbau in kalifornischen Vororten aufkauft, eine Bank in Chicago Hypotheken für Vororte von Indianapolis und eine Bank aus Indianapolis dafür Hypotheken für Vororte in Chicago oder Buffalo erwirbt.

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Dabei bestehen, wie die Bewohner des Back-of-the-Yards-Bezirks in Chicago feststellten, oft keinerlei Beziehungen zwischen den Spargeldem, die aus der Stadt kommen, und dem Baufinanzierungsbedarf der Stadt selbst. Die Beziehung ist so fern und abstrakt, daß es eine Sensation ist, wenn der Weg des Geldes einmal im Ort selbst verläuft. So kündigte 1959 eine der Sparkassen in Brooklyn an, daß sie 70 °/o ihrer Hypothekengelder für Baufinanzierungen in der eigenen Umgebung angelegt hätte. Die New York Times erachtete diese Tatsache als bemerkenswert genug, um sie im Handelsteil groß herauszustellen. >In der eigenen Umgebung< erwies sich indessen als dehnbarer Begriff. Die 70 °/o waren in Nassau County, einem riesigen Durcheinander von Vororten auf Long Island, investiert worden, weit weg von Brooklyn. In Brooklyn selbst stehen dafür einige Gebiete auf der schwarzen Liste. Ein nationaler Hypothekenmarkt hat Vorteile, die auf der Hand liegen. Er bringt die Nachfrage nach Baufinanzierungen und das Angebot über jede Entfernung schnell und reibungslos zueinander. Aber er hat auch durchaus seine Nachteile, vor allem, wenn er sich so intensiv auf eine bestimmte Art des Städtebaues festlegt. Die Stadtbewohner finanzieren also in erster Linie den Wohnungbau in den Vororten, wobei man gerechterweise zugeben muß, daß es zu den historischen Missionen der Städte gehört, Kolonisation zu finanzieren. Man kann alles übertreiben. Während der letzten dreißig Jahre hat es viele Wandlungen auf dem Gebiet der städtischen Baufinanzierung gegeben. Viele Privatpersonen, die noch in den zwanziger Jahren selbst als Geldgeber fungiert hätten, stecken heute ihr Geld in Steuerund Lebensversicherungen, die ihrerseits dann als Geldgeber in Funktion treten. Kleine lokale Banken verschwanden während der Depression oder fusionierten später. Heißt das nun, daß unsere institutionalisierten Gelder nur noch in breitem Strom ausgeschüttet werden können? Kann in einem System, in dem es einerseits möglich ist, für den Kauf von Nachschlagewerken und für Privatreisen Kredit zu bekommen, kann dort andererseits die Baufinanzierung ausschließlich in Ausverkaufsquantitäten vor sich gehen? Dieses städtebauliche Finanzierungsgeld läuft nicht im eigenen Interesse auf solchen Touren, es kommt deshalb wolkenbruchartig über uns, weil wir es als Gesellschaft so gewollt haben. Wir hatten geglaubt, das sei eine ideale Lösung, wir haben sie bekommen, und jetzt akzeptieren wir sie als eine göttliche Einrichtung. Der Gedanke, riesige Summen in die dünnbesiedelten Vororte zu stecken, auf Kosten der bedürftigen Stadtbezirke, war keine Erfindung jener Hypotheken-Institute, die jetzt ganz legitim an dieser Routine beteiligt sind. Am Beginn dieser Entwicklung standen hochgesinnte Sozialreformer mit ihrem Feldzug gegen die moralische Minderwertigkeit der Städte und mit ihrem Lob einfacher Hütten im Grünen. Die Überschwemmung der Vororte mit Geldem und die gleichzeitige Aushungerung aller Gebiete, die von der Stadtplanung als Slums abgestempelt werden, entsprechen durchaus diesen allgemeinen Idealen.

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Hinzu kommt, daß die Gesellschaft eigene öffentliche Gelder aus den Bodenerschließungsfonds in die Vororte hineinsteckt, um damit wieder andere jähe Finanzierungswellen auszulösen. Sie übersieht, daß sie damit nur Pseudo-Gebilde des Städtebaues schafft und die städtische Vitalität unterminiert. Wenn Land zwecks Neuerschließung oder für städtische Erneuerung erworben wird, wird es kraft der Enteignungsgesetze erworben. Nur die Regierung kann diese Gesetze in Anspruch nehmen. Die Drohung der Enteignung wird gleichzeitig dazu benutzt, einen Druck auch auf diejenigen Grundeigentümer auszuüben, deren Eigentum nicht direkt erworben wird; sie sollen sich entsprechenden WiederaufbauPlänen anpassen. Die Enteignungsgesetze haben sich für den Erwerb von Grundeigentum für öffentliche Nutzung schon seit langem sehr bewährt; jetzt werden sie mit Hilfe der neueren Gesetze für den städtischen Wiederaufbau auch auf den Erwerb von Grundeigentum ausgedehnt, das für private Zwecke und privaten Gewinn genutzt wird. Um diesen Punkt ging auch der Kampf, als das Gesetz durchgebracht wurde. Die Anwendung der Enteignungsgesetze ermöglicht nicht allein den Bau der großen Siedlungen, sie ermöglicht vor allem deren sogenannte Wirtschaftlichkeit. Die unfreiwilligen Leidtragenden, auf deren Kosten das geschieht, sind diejenigen, die zum Verkauf gezwungen werden. Anthony J. Panuch, ein Verwaltungsfachmann, kommentierte in einem Bericht, den er 1g6o für den Bürgermeister von New York zusammenstellte, die Ergebnisse folgendermaßen: »Die direkten Folgen der Anwendung von Enteignungsgesetzen auf geschäftliche Unternehmen sind drastisch und bedeuten oft den Ruin. Wenn die Regierung ein Eigentum enteignet, muß sie nur das bezahlen, was sie effektiv envirbt und nicht das, was sie dem Eigentümer nimmt. Die Regierung braucht einem Geschäftsinhaber nur die Geschäftsräume zu bezahlen, sie braucht nicht für den Geschäftsbetrieb aufzukommen. Der Eigentümer bekommt keine Entschädigung für den Geschäftsverlust oder den Goodwill, auch nicht für nicht abgelaufene Pachtverträge, weil diese meistens vorsehen, daß im Falle einer Enteignung der Vertrag ohne jede Entschädigung an den Pächter hinfällig ist. Obwohl ihm also sein gesamtes Eigentum und seine sämtlichen Investierungen genommen werden, erhält der Geschäftsinhaber praktisch nichts dafür.« Das sind die wohlvertrauten und alltäglichen Begleiterscheinungen beim Kauf von Grundstücken für Wohnungsbau und Stadterneuerung. Die Geschäftsleute des Gebietes bezahlen diese Projekte unfreiwillig mit; nicht mit ihren Steuergeldern, sondern mit ihrem Eigentum, ihren Erwerbsmöglichkeiten, mit fast allem, was sie haben. Der Panuch-Bericht regte dann an, was unzählige Briefe an die Herausgeber von Zeitungen und zahlreiche Bürger in öffentlichen Verhandlungen vorgebracht haben, daß nämlich die gesamte Gemeinde die Kosten eines angeblichen Fortschritts zugunsten der Gemeinde tragen sollte, und nicht nur die unglücklichen Opfer. Die Gemeinde als Ganzes hat sich noch nicht dazu bereit gefunden, und sie wird es wohl auch kaum tun. Wiederaufbau- und Wohnungsbauexperten erbleichen, wenn ihnen so etwas nahegelegt wird. Die Ausgaben für die Gesamtkosten würden die 170

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Anteile der öffentlichen Geldhergabe für solche Projekte zu sehr in die Höhe treiben. Bezöge man die unfreiwilligen Beiträge, durch die viele der Projekte erst ermöglicht werden, in die öffentlichen Kosten ein, dann stünden die öffentlichen Ausgaben in keinem Verhältnis mehr zu den höheren Steuereinnahmen, welche die Stadt von den Wiederaufbaugebieten erwartet. Finanziell gesehen ist also der städtische Siedlungsbau genausowenig sinnvoll wie in sozialer Hinsicht. Wenn eine Lebensversicherung oder ein gewerkschaftlicher Pensionsfonds Riesensummen in eine eintönige Siedlung für eine mit Preisschildern versehene Bevölkerung steckt, verhält sie sich kaum den Richtlinien entsprechend, die im zwanzigsten Jahrhundert gelten sollten. Sie unterstützt eine ungeheure soziale Rücksichtslosigkeit. Auch die üblichen Geldhergaben, die in unmäßigem Umfang in erfolgreiche Bezirke hineingesteckt werden und deren Dynamik dann zerstören, sind an sich ein Ausverkauf des Kredits. Nur daß die Finanzierungsüberschwemmung sich in einem solchen Fall aus vielen einzelnen Transaktionen zusammensetzt, die auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert sind. Die unmäßige Ausschüttung öffentlicher Gelder für Wohnungsbau hat noch andere sehr unangenehme Nebenerscheinungen; sie bietet beste Gelegenheiten für Profite seitens der Schattenwelt des Geldes. Im Gegensatz zu enteigneten Geschäftsleuten profitieren Eigentümer von Slum-Wohnungen zum Beispiel glänzend vom Blankogebrauch der Enteignungsgesetze. Wenn ein Gebäude enteignet wird, werden im allgemeinen drei Faktoren bei der Festsetzung des Kaufpreises berücksichtigt: der Schätzpreis des Grundstücks, der Ersatzwert für das Gebäude und die laufenden Einnahmen des Gebäudes (im Unterschied zu den Einnahmen des Geschäfts, das darin enthalten sein mag). Je mehr also ein solches Gebäude ausgebeutet wird, desto höher sind seine laufenden Einnahmen und desto mehr Entschädigung bekommt der Eigentümer. Das Geschäft ist so lohnend, daß es schon Sitte geworden ist, in Gebieten, die zur Enteignung vorgesehen sind, Häuser zu kaufen, sie überzubelegen und die Mieten zu erhöhen, um dann beim Verkauf an die Öffentlichkeit den Profit zu haben. Einige Städte haben bereits, um diesen Methoden ein Ende zu machen, gewisse »Sofort-Aneignungs«-Gesetze erlassen, durch die das Eigentum in dem Augenblick, in dem seine Enteignung von der Stadt genehmigt ist, an die Öffentlichkeit übergeht, bevor noch sein Wert geschätzt worden ist. Man könnte die Gelder aus der Schattenwelt auch durch Besteuerung eindämmen. Der Panuch-Bericht führt dazu folgendes aus: »Keine Gesetze und keine Steuernachlässe für Erneuerung im Wohnungsbau seitens der Wohnungsbaubehörde von New York City werden jemals Schritt halten können mit der Bildung von Slums, solange die Gewinne in den Slums nicht durch steuerliche Maßnahmen aufgehoben werden. Die Besteuerung der Gewinne ist notwendig, um die Auswirkungen der Einkommensteuerstruktur auszugleichen, deren Abschreibungs- und Kapitalgewinnbestimmungen das Grundeigentum in Slums zu einer höchst ergiebigen Spekulation für die Eigentümer machen. Ein Hausbesitzer in einer überfüllten Gegend, in der eine verzweifelte Nachfrage 171

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nach Wohnungen herrscht und in der die Mieten so hoch sind, wie es der Markt aushält, braucht sein Eigentum nicht zu unterhalten. Er steckt seine jährlichen Abschreibungsgewinne ein, und nachdem er den Buchwert seines Eigentums bis auf Null abgeschrieben hat, verkauft er es zu einem Preis, der sein hohes Mieteinkommen kapitalisiert. Nachdem er den Kauf getätigt hat, zahlt er 25 °/o Kapitalgewinnsteuer für die Differenz zwischen dem Buchwert und dem Kaufwert, dann erwirbt er ein neues Grundeigentum in einem anderen Slum und fängt das Geschäft wieder von vom an. Es ist so einfach, den Niedergang der Städte dem Verkehr oder den Einwand~rem oder den Launen des Mittelstandes zuzuschreiben. Der Niedergang der Städte ist tiefer und komplexer begründet. Er hängt mit dem zusammen, was wir zu wünschen meinen, und mit unserer Unkenntnis vom Wesen der Städte. Die Formen, in denen die Geldmittel heutzutage beim Wiederaufbau der Städte ausgegeben - oder ihm entzogen - werden, sind ·mächtige Instrumente der Zerstörung. Sie müssen zu Mitteln der Erneuerung umgewandelt werden. Die heftigen, alles mit sich reißenden Finanzierungsströme müssen langsamer fließen, um die allmähliche, komplexe und flexible Entwicklung der Stadt zu gewährleisten.

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Teil IV

Taktische Möglichkeiten

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Öffentlich geförderter Wohnungsbau

Die meisten der in diesem Buch diskutierten Ziele, wie Förderung städtischer Dynamik und Schaffung lebendiger Nachbarschaften, werden gegenwärtig von der Stadtplanung nicht als Ziele anerkannt, und daher verfügen weder die Städtebauer noch die ausführenden Organe über strategische und taktische Pläne, diese Ziele zu verwirklichen. In diesem letzten Teil des Buches sollen nun verschiedene Ziele behandelt werden, die als solche sehr wohl von der Stadtplanung anerkannt werden: öffentlich geförderter Wohnungsbau, Verkehrsplanung, ästhetischer Städtebau. Es sind Dinge, für die sich die Stadtplanung einsetzt und für die sie daher auch über taktische Möglichkeiten verfügt, allerdings über so viele, daß die Strategie dahinter häufig aus den Augen verloren wird. Beginnen wir mit den Methoden des öffentlich geförderten Wohnungsbaues. Die Praktiken, die im Laufe der Jahre entwickelt wurden, um Siedlungsgemeinden für die Armen zu ermöglichen, haben ja unsere Praktiken auch auf allen anderen Gebieten tief beeinflußt. »Hat der öffentliche Wohnungsbau restlos versagt?« fragte der Wohnungsbaufachmann Charles Abrams, nachdem er ihn als schlecht geeignet für den Zweck und als »absurd« im Zusammenhang mit städtischen Erneuerungsmethoden erklärt hatte. Seine Antwort lautete indessen: »Nein. Er hat viele Dinge bewiesen ... Er hat bewiesen, daß es möglich ist, große heruntergekommene Gebiete zu erfassen, neu zu planen und wiederaufzubauen. Die städtische Sanierung auf breiter Basis hat durch ihn allgemeine Billigung erfahren und eine gesetzliche Grundlage bekommen. Er hat bewiesen, daß ...Wohnungsbauobligationen erstklassige Investierungen sind, daß die Schaffung von Unterkünften eine Pflicht der Regierung ist, daß der Apparat der Wohnungsbaubehörde jedenfalls ohne Korruption funktionieren kann. All das ist nicht wenig.« All das ist in der Tat nicht wenig. In unseren Städten wohnen Menschen, die zu arm sind, um das Geld für den Wohnungsstandard aufzubringen, den das öffentliche Gewissen für notwendig hält. Außerdem ist in vielen Städten das Angebot an Sozial-Wohnungen zu klein, um die Bevölkerung ohne Überbelegung unterzubringen, und die meisten der zusätzlich gebrauchten Wohnungen stehen nicht unbedingt im richtigen Verhältnis zu der 173

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Zahlungsfähigkeit der betroffenen Menschen. Aus diesen Gründen brauchen wir finanzielle Unterstützung für einen gewissen Anteil städtischer Wohnungen. Das scheinen einfache und einleuchtende Gründe für die öffentliche Förderung des Wohnungsbaus zu sein. Aber sie lassen offen, in welcher Form die Unterstützung vor sich gehen soll, sowohl finanziell als auch baulich. Es gibt aber noch eine andere scheinbar einfache und etwas andere Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen der Wohnungsbau öffentlich unterstützt werden soll. Die Antwort, die wir schon seit langem akzeptiert haben, war folgende: um für jenen Teil der Bevölkerung Wohnungen zu beschaffen, der nicht im Rahmen des privaten Wohnungsbaues untergebracht werden kann. Und außerdem sollte, so· lange die Unterstützung notwendig ist, der öffentlich geförderte Wohnungsbau die Prinzipien wirklich guter Stadtplanung und wirklich guten Wohnungsbaues illustrieren. Das nun ist eine schreckliche Antwort mit schlimmen Folgen. Eine kleine semantische Drehung, und wir haben es mit Menschen zu tun, die nicht vom privaten Wohnungsbau untergebracht werden können und die daher von jemand anderem untergebracht werden müssen. Die Wohnbedürfnisse dieser Menschen sind jedoch als solche in keiner Weise so besonders, daß sie deshalb aus dem Rahmen der üblichen Möglichkeiten des privaten Wohnungsbaues fielen. Für ungefähr jeden unter ihnen könnten normale VVohnungen durch den privaten Wohnungsbau beschafft werden. Das einzig Besondere an diesen Menschen ist lediglich, daß sie es nicht bezahlen können. Im Handumdrehen ist also aus den »Menschen, die nicht vom privaten Wohnungsbau untergebracht werden können«, eine statistische Gruppe mit besonderen Wohnbedürfnissen geworden; Grundlage der Statistik ist ihr Einkonunen. Zur Durchführung des zweiten Teils der Antwort (gute Stadtplanung) wird dann aus der statistischen Gruppe ein Haufen Meerschweinchen, mit denen die Utopisten herumexperimentieren können. Selbst wenn die Utopisten wirklich über Methoden verfügten, die, auf die Stadt bezogen, sozial vernünftig wären, ist es grundverkehrt, einen großen Teil der Bevölkerung auf der Einkommensbasis einer sonst anders organisierten Gesellschaft zu isolieren. Trennung zwischen Gleichen pflegt einer Gesellschaft, die nicht gelernt hat, daß Kasten zur göttlichen Ordnung gehören, nur Schwierigkeiten zu bringen. Die große Verirrung beginnt mit der Vorstellung, daß die Menschen, deren Unterbringung öffentlich unterstützt werden muß, von jemand anderem als von normalen Unternehmen oder normalen Hausbesitzern untergebracht werden müßten. Die Regierung tritt in anderen Fällen ja auch nicht gleich als Eigentümer auf, weder bei öffentlich unterstützten Farmen noch bei öffentlich unterstützten Flugverkehrslinien oder Museen. Einzig und allein der Wohnungsbau ist also die Ausnahme unter vielen anderen Fällen von analogen kapitalistischen Partnerschaften mit der Regierung. Weil nun die Regierung zum Hauseigentümer geworden ist, befindet sie sich in potentiellem Wettbewerb mit privaten Hauseigentümern, und um den Wettbewerbs174

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bedingungenaus dem Wege zu gehen, sind unfaire Kartell-Regelungen notwendig. Dazu muß als allererstes die Bevölkerung selbst kartelliert werden, was dann durch ihre Umsiedlung geschieht, sobald sie die Einkommensgruppen wechselt. Das Beste, was über diese Einrichtung zu sagen wäre, ist, daß sie tatsächlich eine Chance geboten hat, einige bauliche und soziale Planungstheorien auszuprobieren, die sich nicht bewährt haben. Das Problem der öffentlichen Unterstützung für Menschen, die ihre Wohnungskosten nicht selbst tragen können, läuft auf die einfache Frage hinaus, wie man den Unterschied zwischen dem, was sie zahlen können, und dem, was ihre Wohnungen kosten, ausgleicht. Die Unterbringung kann durch private Hauseigentümer besorgt und die Differenz dem Eigentümer bezahlt werden; entweder kann das direkt geschehen in Form von Finanzierungsgeldern an den Eigentümer oder indirekt in Form von Mietbeihilfen an die Mieter. Es gibt ungezählte Möglichkeiten, öffentliche Unterstützungsgelder in alte, neue oder renovierte Gebäude zu stecken. Die Methode, die ich hier zur Sprache bringen möchte, ist keinesfalls die einzig mögliche Lösung, aber sie ist geeignet, gleich mehrere der landläufigen Probleme des städtischen Wiederaufbaues zu lösen. Im besonderen wäre sie ein Weg, Neubauten nur von Fall zu Fall anstaU in großem Stil aufzuführen, zumal private Neubauten in Bezirken, die kreditmäßig auf der schwarzen Liste stehen; womit man auch die Selbstsanierung der Slums fördern würde. Man kann diese Methode ein System der garantierten Mieten nennen. Sie betrifft Einzelgebäude, die zwischen anderen, alten und neuen Gebäuden auf einer normalen städtischen Straße stehen; sie betrifft ausdrücklich keine Siedlungen. Solche Gebäude mit garantierter Miete wären nach Größe und Aussehen unterschiedlich, sie würden sich den gleichen Gesichtspunkten anpassen wie ihre Nachbarschaft aus normalen Wohnhäusern. Um nun privaten Bauunternehmern oder Hauseigentümern einen Anreiz zu geben, die benötigten Gebäude in den Stadtteilen, in denen sie gebraucht werden, zu errichten, müßte die Regierungsbehörde (die wir Förderungsamt für Wohnungsbau nennen wollen, FAW) zwei Arten von Garantien geben. Als erstes müßte das FAW dem Bauherrn die notwendige Baufinanzierung garantieren. Bekommt der Bauherr einen Kredit von einem privaten Geldinstitut, dann garantiert das FAW die Hypotheken. Zweitens müßte das FAW dem Bauherrn (oder Eigentümer) eine Miete für die Wohnungen garantieren, die ausreicht, um das Gebäude wirtschaftlich zu tragen. Als Gegenleistung für Finanzierungshilfe und Mietgarantie würde das FAW von dem Eigentümer zwei Dinge verlangen: erstens muß er sein Gebäude innerhalb einer bestimmten Nachbarschaft errichten und dort manchmal auch an einem bestimmten Ort, und zweitens muß er seine Mieter unter denjenigen Bewerbern aussuchen, die aus einem bestimmten Gebiet oder einem besti=ten Gebäudekomplex kommen. Im allgemeinen wäre das ein Gebiet in der Nähe, aber nicht immer. Erst nachdem der Eigentümer seine Mieter unter den Bewerbern ausgesucht hat, befaßt sich das FAW mit den Einkommensverhältnissen der ausgewählten Mieter. Es hätte keine Befugnis, irgendwelche anderen persönlichen Dinge außer ihrem 175

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Einkommen und außer der Bedingung, ob sie tatsäeblich aus den vorgeschriebenen Gebieten kommen, zu prüfen. Das wäre dann eine würdige, rein geschäftliche Transaktion im Interesse des Mieteinkommens- nicht mehr und nicht weniger. Diejenigen Mieter, die nicht die volle Miete (den vollen Kostenanteil) zahlen können, wären jedenfalls zu Anfang bei einem solchen Plan in der Überzahl. Das FAW müßte die Differenz übernehmen. Die Überprüfung der Einkommen (unter Berücksichtigung der Familiengröße) sollte wie die Steuererklärungen einmal jährlich vorgenommen werden. Nach diesem Muster geht man bereits in den öffentlich geförderten Siedlungen vor, und auch Schulen und Universitäten verfahren ähnlich, wenn sie Stipendien vergeben. Steigt das Einkommen eines Haushalts, steigt automatisch der Anteil des Mieters an den Kosten. Wenn der Haushalt dann in der Lage ist, die volle Miete zu zahlen, hat er mit dem FAW nichts mehr zu tun, kann aber (im Unterschied zu den Siedlungen für niedrige Einkommen) bei voller Mietleistung wohnen bleiben. Je mehr solche Gebäude mit garantierter Rente sich ihre Mieter unter verbesserten finanziellen Bedingungen erhalten können, desto mehr Mietgarantien würden für weitere Gebäude und für weitere Haushalte frei. Das Tempo, mit dem sich dieses Bauprogramm erweiterte, stünde in direktem Verhältnis zur Selbstdifferenzierung der Bevölkerung und würde die Stabilität wirksam fördern. Eine Erweiterung des Programms würde keinerlei Bedrohung für Privatunternehmen darstellen (wie beim öffentlichen Siedlungsbau), weil die Erweiterung ja privaten Eigentümern zugute käme. Ebenso entfiele der unfaire Wettbewerb mit privaten Geldinstituten, weil diese nur dann ausscheiden, wenn sie sich selbst nicht an der Aufbringung der Kapitalkosten beteiligen wollen. Die Garantie einer Kostenmiete für den Eigentümer erstreckt sich über die Tilgungszeit für die Hypotheken. Sie mag schwanken zwischen dreißig und fünfzig Jahren, und solche Varianten haben den Vorteil, daß die Gebäude dann später einmal in unterschiedlichen Altersstufen abgerissen oder für andere Nutzungen umgewandelt würden. Die Kostenmiete würde einschließen: einen festen Amortisationssatz, Unterhaltungskosten und die laufenden Ausgaben, die der Kaufkraft des Geldes augepaßt sein müssen; des weiteren die Gewinn- und Verwaltungskosten und die Grundsteuern. Letzten Endes bestünde der Hauptteil der finanziellen Unterstützung durch das FAW in der Finanzierung der Kapitalkosten, wie das auch im öffentlichen Siedlungsbau der Fall ist. Praktisch verliefe die Entwicklung jedoch in umgekehrter Richtung. Beim öffentlichen Siedlungsbau werden die Kapitalkosten von der Regierung mitgetragen. Die Behörden geben Zertifikate mit langer Laufzeit heraus, um die Baukosten zu decken: bundesstaatliche Zuschüsse decken die Zertifikate. Die Mietzahlungen seitens der Mieter mit geringem Einkommen decken lediglich die lokalen Verwaltungskosten, Unterhalt und laufende Ausgaben, die übrigens in öffentlich geförderten Siedlungen besonders hoch sind. Die Mieter dieser Siedlungen bezahlen mit ihrer Miete wesentlich mehr Aktenpapier und Konferenzen und Bekämpfungsfeldzüge gegen Vandalismus, als es Mieter jemals zuvor getan haben. Die Miet176

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beihilfen in den Siedlungen gehen in der Form vor sich, daß die Kapitalkosten direkt subventioniert und damit aus der Mietrechnung herausgenommen werden. Im System der garantierten Mieten nun wären die Kapitalkosten in der Mietkalkulation enthalten. Der Kapitaldienst ist Teil der Miete, und soweit die Miete subventioniert wird, werden automatisch die Kapitalkosten mit subventioniert. Der Vorteil, sie durch Mietgarantie zu sichern, ist der, daß sie nicht zur Aussortierung der Mieter nach dem Einkommen führen muß. Ein weiterer fester Faktor, der sonst die Menschen heutzutage nach verschiedenen Wohnungskategorien einteilt, entfiele ebenfalls. Es handelt sich um Grundsteuersenkung oder Steuererlaß. Als Eigentum der Wohnbaubehörden zahlen die meisten Siedlungen für niedrige Einkommen keine Grundsteuern. Siedlungen für mittlere Einkommen wird vielfach Steuernachlaß oder -aufschub zugebilligt, um entweder ihre Mieten niedrig zu halten, oder, wie im Falle einer Genossenschaft, die Kosten zu tragen. All das sind Formen öffentlicher Unterstützung. In dem System der garantierten Renten werden die Grundsteuern bezahlt. Sie sind als fester Faktor in der Miete genauso enthalten wie die Kapitalkosten. Außer daß das FAW gewisse Forderungen hinsichtlich der Anzahl der Räume stellt, um zu verhindern, daß nicht zuviel Wohnungen die gleiche Größe haben, hätte das Amt keinerlei Befugnis, eigene architektonische Vorstellungen durchzusetzen. Die Gebäude unterliegen lediglich wie alle anderen nicht öffentlich geförderten Gebäude am glei:chen Ort den allgemeinen städtischen Bauvorschriften. Wenn der Eigentümer eines solchen Gebäudes Gewerbebetriebe oder andere Nutzungen außerhalb der Wohnfunktion im Erd- oder im Untergeschoß unterbringen will, würden die hierbei anfallenden Kosten nicht in die Miet- oder Kapitalgarantie eingeschlossen. Da diese Art geförderten Bauens keine Großbauvorhaben beträfe, brauchten in den meisten Fällen für die einzelnen Bauplätze kaum die Enteignungsgesetze in Anspruch genommen zu werden. Die Grundstückkäufe innerhalb der Nachbarschaft würden ebenso normal vor sich gehen wie beim privaten Wohnungsbau, sie würden sich nach dem Angebot richten. In den Fällen, in denen das Enteignungsgesetz beansprucht würde, sollte der Kaufpreis die vollen, effektiven Kosten einschließen (nichtabgelaufene Pachtverträge usw.), wie es auch bei privaten Verkäufen Sitte ist. Und weil diese Methode keine Großbauvorhaben einschließt, ist sie für Tausende von Objekten anwendbar. Es ist einfach lächerlich, anzunehmen, daß unsere großen, wandlungsfähigen und dynamischen Städte in Sachen Wohnungsbau ausschließlich von einer Handvoll Behörden und Riesenunternehmern abhängen müßten. Wenn wir nun über solche taktischen Möglichkeiten für Wohnbauten mit garantierter Rente verfügten- in welcher Weise würden wir sie anwenden? Wie schon gesagt, müßten die Gebäude in vorgeschriebenen Stadtteilen errichtet und in den meisten Fällen die Mieter unter den Bewerbern aus vorgeschriebenen Bezirken, Straßen oder Gebäuden ausgesucht werden. Mit Hilfe dieser beiden einfachen Forderungen an die Eigentümer wäre es möglich, gleichzeitig mehrere Probleme in den einzelnen Bezirken zu lösen. 177

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Es wäre möglich, Neubauten in Gebieten zu errichten, die kreditmäßig auf der schwarzen Liste stehen, und auf diese Weise die Menschen in der alten Nachbarschaft festzuhalten. Es wäre weiterhin möglich, die Nettowohnungsziffern in Nachbarschafren zu er· höhen und diese Erhöhung mit einer Auflockerung überbelegter älterer Gebäude in der Nähe zu verbinden, wobei man dann endlich einmal die gesetzlichen Wohndichten durchsetzen könnte. Man könnte mit diesen Methoden das Wohnen als primäre Nutzung in Gebiete einführen (oder sie erhöhen), in denen das als Ergänzung zu anderen Nutzungen, im Interesse lebensfähigerer Mischung erwünscht wäre. Man könnte die Lücken in den Straßenfronten füllen, die dort entstehen, wo neue Straßen durch vorher zu lange Baublocks gelegt worden sind. Die vorhandenen Gebäudetypen eines Bezirks würden durch weitere Typen verschiedenen Alters und verschiedener Bauweise abwechslungsreich ergänzt. Und es wäre möglich, all diese Dinge zu erreichen und gleichzeitig das Einkommens· niveau der Bewohner eines Gebietes zu mischen und diese Mischung im Laufe der Zeit noch weiter zu differenzieren. Alles sind Mittel und Wege, um die Stabilität der Bevölkerung und ihre Vielfalt zu fördern. Man darf natürlich nicht übersehen, daß dieses System mit garantierten Renten viel Gelegenheit für Korruption und Bestechung bietet. Aber Korruption, Bestechung und Schiebereien kann man einigermaßen in Schach halten, wenn man auf der Hut ist. Voraussetzung ist jedenfalls, daß man sich darüber klar ist, wie sehr sich jede dieser Methoden allmählich zur Routine entwickeln und die anfängliche phantasievolle Handhabung unweigerlich verlorengehen wird. Und fest steht gleichzeitig, daß sich Korruption genau umgekehrt wie engherzige bürokratische Methoden entwickeln. Korruption wird um so einfallsreicher, je länger sie ihr Spiel mit dem betreffenden Objekt treiben kann. Beides, Erstarrung in Routine und Korruption, wird man eben bekämpfen müssen, indem man mindestens alle acht oder zehn Jahre wieder neue Methoden ausarbeitet oder die alten, die sich bewährt haben, abwandelt. Solange solche Methoden flexibel als Finanzierungen von Fall zu Fall und nicht als plötzliche Ergüsse auf breiter Basis erfolgen, gibt es viele Abwandlungsmethoden. J ames Rouse, ein Hypothekenvermittler aus Baltimore und ein leitender Kopf bei. verschiedenen Stadtemeuerungs- und Wiederaufbauprojekten, hat zum Beispiel eine Variante vorgeschlagen, die allmählich zu Eigentumswohnungen führen soll, - ein Gedanke, der dort sehr angebracht ist, wo Reihenhäuser die vorherrschenden Wohnbautypen sind. Charles Platt, ein Architekt aus New York, ist ebenfalls seit langem schon dafür eingetreten, die öffentliche Förderung des Wohnungsbaues als Instrument zur Auflockerung der Überbelegung zu benutzen. William Wheaton, Professor für Stadtplanung an der University of Pennsylvania, hat mit großer Beredsamkeit gefordert, daß die Unterstützung des öffentlichen Wohnungsbaues kontinuierlich erfolge und daß der öffentlich unterstützte Wohnungsbau sich in keiner Weise vom 178

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privaten unterscheide. Vemon de Mars, ein kaliforniseher Architekt, hat ein System von privaten Wohnungsbauten vorgeschlagen, das ungefähr dem hier beschriebenen System mit garantierten Renten entspricht; es sollen Bauten sein, die von jedem in Anspruch genommen werden können, einschließlich der Wohnungsbauämter, die dort sozial unterstützte Mieter einweisen könnten. Und Stanly Tanker, Stadtplaner in der Regional Plan Association von New York, stellte diejenige Frage, die alles in sich einschließt: »Warum fragen wir uns eigentlich erst jetzt, ob die Slums nicht selbst über einige der Faktoren guter Wohnbaupolitik verfügen? Wir entdecken plötzlich ... , daß Slum-Familien gar nicht unbedingt ausziehen müssen, wenn ihr Einkommen steigt; daß die Unabhängigkeit in Slums nicht um jeden Preis durch patriarchalische Verwaltungspolitik erstickt werden muß; und schließlich (es ist geradezu unglaublich!), daß Slum-Bewohner ganz wie andere Menschen es nicht sehr schätzen, wenn sie aus ihrer Nachbarschaft mit Gewalt vertrieben werden ... Der nächste Schritt wird große Demut erfordem, da wir alle zu sehr geneigt sind, riesige Siedlungsbauten mit großen sozialen Errungenschaften zu verwechseln. Wir werden zugeben müssen, daß es die Vorstellungskraft eines jeden Menschen übersteigt, künstlich Gemeinden züchten zu wollen. Wir müssen lemen die Gemeinden, die wir haben, zu hegen und zu pflegen, denn sie sind schwer zu ersetzen. Sorgt für die Gebäude, aber laßt die Menschen in Ruhe.- Keine Umsiedlung nach außerhalb der Nachbarschaft. Elies müssen die künftigen Leitsätze sein, wenn der öffentliche Wohnungsbau allgemeine Achtung genießen soll.« Praktisch haben sich heute alle Beobachter der öffentlichen Wohnbaupolitik früher oder später gegen die Zerstörerische Politik der Einkommensbegrenzungen ausgesprochen und dafür plädiert, diese Begrenzungen aufzugeben. Die Vorschläge für Wohnbauten mit garantierter Rente sind an sich nicht neu, ich habe nur die von vielen anderen vorgebrachten Gedanken zu diesem Thema in ein zusammenhängendes System gebracht. Warum aber sind solche Gedanken nicht schon längst von der öffentlichen Wohnbaupolitik aufgegriffen worden? Die Antwort liegt in der Frage beschlossen. Die Gedanken werden deshalb nicht aufgegriffen, weil sie vorgebracht werden als Abwandlungen, die weder die gegenwärtige Siedlungsbaupolitik noch die bestehende Regelung voraussetzen, daß die öffentlichen Wohnbaubehörden als Eigentümer der von ihnen geförderten Bauten auftreten. Und diese beiden Grundpfeiler unseres öffentlich geförderten Wohnungsbaues sind in unserer Gesellschaft einfach unvereinbar mit guter Stadtplanung. Wir brauchen neue Methoden für die Unterstützung des Wohnungsbaues, weil es um andere Ziele in der Stadtplanung geht, und eine neue Strategie, um die Sanierung der Slums zu ermöglichen. Die neuen Ziele und die neue Strategie verlangen eine eigene, gänzlich von den orthodoxen Methoden verschiedene Taktik.

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Verödung der Städte oder Abwürgen des Kraftwagenverkehrs

Allen, denen die Städte am Herzen liegen, ist der Kraftwagenverkehr ein Dom im Auge. Schnellstraßen, Parkplätze, Tankstellen und Autokinos sind wirkungsvolle und zuverlässige Instrumente zur Zerstörung der Städte. Um sie unterzubringen, werden die Straßenräume in ein unübersichtliches Durcheinander aufgelöst, sie werden für den Fußgänger weitläufig und zusammenhanglos. Innenstädte und andere Nachbarschaften, die Wunder an Mannigfaltigkeit auf engem Raum waren, werden ohne Sinn und Verstand ausgeweidet. Bauliche Akzente fallen der Spitzhacke zum Opfer oder werden aus dem Zusammenhang mit dem Stadtgewebe gerissen und zu Belanglosigkeiten abgeweitet. Der Charakter der Stadt wird verwischt, und zum Schluß gleicht ein Ort dem anderen. Niemandsland. Aber man macht die Autos für zu vieles verantwortlich. Angenommen, Autos wären niemals erfunden oder nicht so konsequent entwickelt worden, und wir reisten statt dessen in leistungsfähigen, schnellen und bequemen Massenverkehrsmitteln. Angenommen, wir hätten im übrigen den Umbau der Städte genauso betrieben, uns genauso ausgebreitet und die Städte nach genau dem gleichen Siedlungsvorbild und den anderen Anti-Städte-Idealen der orthodoxen Planung neu organisiert. Wir stünden im wesentlichen vor den gleichen Resultaten. Und die Autos müßten entweder schleunigst erfunden oder entsprechend weiterentwickelt werden. Denn Menschen, die in derart unbrauchbaren Städten leben und arbeiten, haben Kraftwagen nötig, um sich vor der Leere, der Gefahr und vor gänzlicher lnstitutionalisierung zu retten. Es ist sehr fraglich, wieviel von der Zerstörung, die den Städten durch die Autos beigebracht wird, tatsächlich auf das Konto der Transport- und Verkehrsbedürfnisse geht und welcher Anteil der ausgesprochenen Mißachtung anderer städtischer Bedürfnisse, Nutzungen und Funktionen zugeschrieben werden muß. Gute Transport- und Verkehrsmittel sind nicht nur sehr schwierig zu beschaffen, sie gehören auch zu den grundlegenden Notwendigkeiten. Der komplexe Sinn einer großen Stadt liegt in der Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten. Ohne sich bequem innerhalb der Stadt bewegen zu können, ist es aber unmöglich, die Vorteile dieser Vielzahl zu genießen. Außerdem ist ständiger Kontakt zwischen allen Teilen der Stadt unabdingbare Voraussetzung für die große Auswahl an Möglichkeiten. Dazu kommt, daß die wirtschaftliche Grundlage jeder großen Stadt der auf die Zügigkeit des Verkehrs angewiesene Handel ist. Beides jedoch, Vielfalt der Auswahl und städtischer Handel, hängt gleichzeitig von hohen Bevölkerungskonzentrationen, dichter Nutzungsmischung und ständigen Kontakten ab. Wie soll man also den städtischen Verkehr unterbringen, ohne die betroffene engmaschige und konzentrierte Bodennutzung zu gefährden? Darum geht es. Anders herum lautet die Frage, wie man die engmaschige und konzentrierte Nutzung des 180

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städtischen Raumes gewährleisten soll, ohne dem notwendigen Transportbetrieb den Boden zu entziehen. Es rankt sich bereits ein Mythos um die Klage, unsere Straßen seien einfach offenkundig ungeeignet für die jetzigen Kraftwagenströme, sie seien antiquierte Oberreste aus Pferdedroschkenzeiten, damals durchaus nützlich, aber heute ... Nichts könnte weniger wahr sein. Zwar waren die Straßen der Städte im 18. und 19. Jahrhundert gewöhnlich gut für den Fußgängerverkehr, aber als Straßen für den Verkehr der Pferde-Fuhrwerke waren sie ganz schlecht geeignet; was wiederum in vieler Hinsicht auf den Fußgängerverkehr zurückwirkte. Victor Gruen, der einen berühmten Plan für eine reine Fußgänger-Innenstadt in Fort Worth, Texas, vorlegte, auf den wir noch zurückkommen werden, kam mit einer überraschung heraus: nach einem Bild von der normalen und vertrauten Verkehrsstauung in Fort Worth zeigte er eine alte Fotografie aus Fort Worth mit ungefähr dem gleichen schlimmen Verkehrschaos - nur handelte es sich da um Pferdefuhrwerke. Wie das Straßenleben sich in den wirklich großen und lebendigen Städten abspielte in den goldenen Zeiten von Pferd und Wagen, was es für die Straßenbenutzer bedeutete, ist von einem englischen Architekten, dem verstorbenen H. B. Creswell, sehr anschaulich in der englischen Zeitschrift Architectural Review vom Dezember 1958 beschrieben worden. Er schilderte das London von 18go, das er als junger Mann erlebte: »Der Strand war in jenen Tagen ... für die Bewohner der Stadt das Herz von London. Umgeben von einem Irrgarten von Promenaden und Höfen, besaß der Strand eine Unzahl kleiner Restaurants, in deren Fenstern ausgezeichnetes Essen angepriesen wurde; es gab Tavernen, Kneipen, Austern- und Weinstuben, Schinkenund Rindfleisch-Geschäfte und kleine Läden, die eine kuriose Auswahl an Seltsamkeiten oder Alltäglichkeiten zum Kauf anboten. All das stand Schulter an Schulter zwischen den vielen Theatern ... Aber der Dreck! Und der Krach! Und der Gestank! Es waren alles Kennzeichen des Pferdes. Der gesamte ungeheure Fahrverkehr Londons - der in einigen Teilen der Stadt manchmal im Gewühl steckenblieb-hing vom Pferd ab: Güterwagen, Busse, zweirädrige Kabrioletts und Kutschen und Wagen und Privatfahrzeuge jeder Art ... Das charakteristische Aroma Londons, das die Nase mit vergnügter Erregung erkannte, war das der unzähligen Pferdeställe. Ein noch konkreteres Merkmal des Pferdes aber war der Dreck, trotz der Aktivität eines Bataillons von rotbejackten Jungens, die zwischen den Rädern und Hufen mit Eimer und Besen wirkten; die Eimer wurden in eiserne Behälter am Gehsteigrand ausgeleert, aber der Dreck überflutete trotzdem die Straßen über den Rinnstein hinaus mit butterbrauner »Erbsensuppe« oder überzog die Straßenoberfläche wie mit Schmieröl oder Kleie - zur Freude der Fußgänger ... Und zu dem Dreck kam der Krach, der wiederum vom Pferd herrührte und wie ein mächtiger Herzschlag die inneren Bezirke von Londons Leben durchpulste. Es war etwas Unvorstellbares. Die Straßen in London waren gleichmäßig mit »Granit«Steinen gepflastert ... und das Hämmern einer Unzahl von eisenbeschlagenen Hu181

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fen, der betäubende, trommelnde Rhythmus der Wagenräder, die zwischen den Scheitelpunkten der Pflastetsteine wie Stöcke, die man an einem Zaun entlang· schliddem läßt, hin- und herschlugen; das Gekreisch und Gedröhne und Geklirr und Geratter der Fahrzeuge, leichter und schwerer; das Scheppem des Pferdegeschirrs ..., verstärkt durch das Geschrei und Gebrüll derjenigen unter den Kreaturen Gottes, die sich noch igendwie verständlich machen wollten, verursachten einen Radau ... der jenseits jedes Fassungsvermögens ist ... « Das war also das London Ebenezer Howards, und es ist kaum überraschend, daß er Stadtstraßen für menschliche Wesen ungeeignet fand. Als Le Corbusier in den zwanziger Jahren seine Cite Radieuse als eine Park-, Wol· kenkratzer- und Schnellstraßen-Version von Howards kleinstädtischer Gartenstadt entwarf, schmeichelte er sich, daß er für ein neues Zeitalter und damit für ein neues Verkehrssystem plante. Das tat er nicht. Was das neue Zeitalter anging, paßte er sich lediglich in oberflächlicher Manier gewissen Reformen an, die sehnsuchts· voll ein vergangenes einfacheres Leben, das Jahrhundert des Pferdes, zurückwünschten. Er häkelte einfach Schnellstraßen und Verkehrsmöglichkeiten in seinen Entwurf hinein, so wie es seinem künstlerischen Gefühl entsprach, jedoch ohne Beziehung zu den unmäßig größer werdenden Mengen an Autos, Straßen und Park· plätzen, die tatsächlich für seine Reihenhochhäuser mit ihrer Bevölkerungskonzen· tration notwendig gewesen wären. Seine Vision von Wolkenkratzern im Park schrumpft in der Wirklichkeit zu Wolkenkratzern inmitten von Parkplätzen zu· sammen. Und es sind niemals genug Parkplätze vorhanden. Die gegenwärtige Beziehung zwischen Städten und Autos ist einer jener Treppen· witze der Geschichte des Fortschritts. Die Zeit, in der sich das Auto zum täglichen Transportmittel entwickelt hat, entspricht genau der Zeit, in der sich architekto· nisch, soziologisch und administrativ das Ideal der Vorortverstädterung entwickelte. Trotzdem sind Autos kaum von Natur her Zerstörer der Städte. Wenn wir uns von dem Märchen über die Brauchbarkeit und den Reiz der Straßen im 19. Jahr· hundert für Pferd und Wagen einmal lösen könnten, würden wir einsehen, daß der Vergasermotor potentiell bei seinem Auftreten ein ausgezeichnetes Instru· ment bot, großstädtische Vielfalt zu fördern und gleichzeitig die Städte von einer ihrer schädlichsten Schwächen zu befreien. Nicht nur sind Motoren ruhiger und sauberer als Pferde, viel wichtiger ist, daß weniger Motoren für ein gegebenes Maß an Arbeit gebraucht werden als Pferde. Wir gingen vom Wege ab, als wir jedes einzelne Pferd in den überfüllten Stadt· straßen durch ein halbes Dutzend mechanisierter Fahrzeuge ersetzten, anstatt ein halbes Dutzend Pferde gegen ein mechanisiertes Fahrzeug auszuwechseln. In der Oberfülle arbeiten mechanisierte Fahrzeuge schlecht und sind zu wenig ausgenutzt. Eine der Folgen so niedriger Leistungsnutzung ist, daß die neuen, starken und schnellen Fahrzeuge, behindert durch ihre eigene Menge, kaum schneller voran· kommen als früher die Pferde. Wohl bewältigen Lastwagen im allgemeinen das, was man von dieser Art Kraft· 182

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verkehr für die Städte gehofft haben mag. Sie übernehmen die Arbeit einer viel größeren Anzahl von Pferdefuhrwerken oder Lastträgern, aber weil die Personenwagen das eben nicht tun, wird - wiederum als Konsequenz der Verkehrsdichte der Erfolg der Lastwagen stark beschnitten. Man neigt gegenwärtig sehr dazu, den verzweifelten Krieg zwischen den an sich potentiellen Verbündeten - Autos und Städten - als Krieg zwischen Autos und Fußgängern auszugeben. Es ist Mode geworden, die Lösung darin zu suchen, daß man gewisse Orte den · Fußgängern und gewisse andere Orte den Autos vorbehält. Man kann solche Trennungen vornehmen, wenn sie tatsächlich wünschenswert sind. Aber solche Pläne sind in jedem Fall nur dann praktisch, wenn sie einen drastischen Rückgang der absoluten Anzahl von Autos in der Stadt voraussetzen. Sonst erreichen die notwendigen Parkplätze und Zufahrtsstraßen um die Fußgängerreservate herum derart ausgedehnte und mörderische Proportionen, daß sie nur dem Zerfall und nicht d~r Rettung der Stadt dienen können. Der berühmteste Plan dieser Art ist der Plan von Gruen für die Innenstadt von Fort Worth. Gruens Architektur- und Planungsbüro schlug vor, daß ein Gebiet von ungefähr zweieinhalb Quadratkilometern mit einer Ringstraße umgeben wird, an welcher sechs riesige längliche Garagen mit einer Kapazität von je zehntausend Wagen liegen sollen; von den Garagen aus soll dann die Innenstadt leicht und direkt erreichbar sein. Das übrige Gebiet bleibt frei vom Kraftverkehr und wird intensiv als Innenstadt mit gemischter Nutzung behandelt. Dieser Plan ist in Fort Worth auf Widerstand gestoßen, aber mehr als neunzig andere Städte haben ihn nachgeahmt, und ein paar darunter haben ihn auch ausprobiert. Leider ist aber den Nachahmern die entscheidende Tatsache nicht klargeworden: der Planumfaßte das ganze Gebiet von Fort Worth, das man als großstädtisch im Sinne eines komplexen, zusammenhängenden Ganzen bezeichnen kann, und auf dieser Basis war er sinnvoll, diente er mehr der Konzentration als der Abtrennung, förderte er - die Vielfalt; er simplifizierte nicht. Bei den Nachahmungen wird der Gedanke fast regelmäßig in spießige, schüchterne Entwürfe umgewandelt, die lediglich ein paar Einkaufsstraßen nach dem Vorbild der Einkaufstraßen in den Vorstädten isolieren und sie mit toten Zonen von Parkplätzen und Zufahrtswegen umgeben. Mehr kann man wohl auch nicht tun, wenn man sich nicht einem sehr viel schwierigeren Problem stellt: dem Beschneiden der absoluten Zahl von Fahrzeugen in der Stadt. Auch Gruen hatte für Fort Worth eine derartige Minderung des Verkehrs voraussetzen müssen, obwohl die Stadt relativ klein und einfach ist im Verhältnis zu unseren Riesenstädten und obwohl die Unterbringung der Autos großzügig und sorgfältig geplant war. Ein anderer Teil von Gruens Plan befaßte sich nämlich mit Expreßbussen, welche die Innenstadt dann mit der gesamten Stadt und ihren Vororten verbinden und eine größere Zahl von Innenstadt-Besuchern aufnehmen sollte als die gegenwärtigen öffentlichen Verkehrsmittel. Andere Abwandlungen von Verkehrstrennung für stark verstopfte Innenstädte sehen nicht eine horizontale, sondern eine vertikale Trennung vor, wobei sich entweder

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die Fußgänger oder die Autos auf einem zweiten gehobenen Straßenniveau bewegen sollen. Mit der Entfernung der Fußgänger von den Straßen ist für den Kraftverkehr aber nur wenig an Raum gewonnen. Um Straßen zu schaffen von einer Größe, die für alle Fahrzeuge ausreicht, die von den Fußgängern in die Innenstädte hineingebracht werden- was der Grund für die Verkehrstrennung und die Ursache der Verstopfung ist -, müßten die entsprechenden Fußgängerebenen so ausgeweitet werden, daß jede Annehmlichkeit für die Fußgänger entfiele. Und auch diese Pläne müßten, um für Wagen und Fußgänger praktikabel zu sein, eine drastische Einschränkung der absoluten Anzahl von Autos und eine viel stärkere Inanspruchnahme der öffentlichen Transportmittel voraussetzen. Noch eine andere Schwierigkeit taucht bei diesen Fußgängerstraßen auf: die meisten städtischen Unternehmen, die Anlaß für den Fußgängerbetrieb auf den Straßen sind, müssen für ihren eigenen Bedarf an Gütern oder für deren Abtransport ihrerseits bequem durch Fahrzeuge erreichbar sein. Zwei Alternativlösungen bieten sich da an. In Fußgängerreservaten dürfen solche Unternehmen nicht enthalten sein - eine Absurdität, die jedoch bereits in einigen Fällen Wirklichkeit geworden ist; das Resultat ist selbstverständlich, daß die Fußgängerreservate leer sind und daß sich die Fußgänger weiterhin in den Straßen für Fahrzeugbetrieb aufhalten, denn da befinden sich ja auch die von ihnen gesuchten Unternehmen. Die zweite Lösung wäre, ein System zu erarbeiten, das den Unternehmen Zufahrtswege sichert, die von dem Fußgängerraum getrennt sind. Gruens Plan für Fort Worth sah für diese Zubringerdienste, also für Lastwagen und für Hoteltaxis, ein System von unterirdischen Tunneln vor; an diesen Tunnelwegen liegen dann Zugänge zu den Kellergeschossen. Als Variante hierzu hat ein New Yorker Architekt, Simon Breines, vorvielen Jahren ein hochdifferenziertes »Post«-System vorgeschlagen. Es soll alle Frachten und alle Lieferungen innerhalb eines Gebiets zentral vorsortieren und ihre Verteilung rationalisieren. Hierbei geht es nun um eine drastische Beschneidung des Lastwagenverkehrs; die verminderten Auslieferungsfahrten würden nur dann vorgenommen, wenn wenig Fußgänger unterwegs sind, also vorzugsweise nachts. Die Verkehrstrennung Fußgänger - Lastwagenverkehr wäre dann im Prinzip mehr eine zeitliche als eine räumliche. Sie bedingt aber wegen der vermehrten Arbeitsgänge und komplizierten Vorsortierung beträchtliche Mehrausgaben. Bei all den fußgängerfreundlichen Plänen geht es immer um das gleiche Problem. Die Kernfrage sämtlicher Verkehrsschwierigkeiten ist die, wie man die absolute Zahl der Kraftwagen auf der Straßenoberfläche reduzieren kann und es den übrigen damit ermöglicht, leistungsfähiger zu arbeiten. Eine zu starke Abhängigkeit von Privatautos ist mit konzentrierter großstädtischer Nutzung unvereinbar. Eins von beiden muß weichen. So ist es denn auch in der Praxis. Je nachdem wer Sieger bleibt, verödet entweder die Stadt der Autos wegen, oder der Kraftverkehr wird um der Städte willen abgewürgt. Die Verödung der Städte durch den Kraftverkehr zieht derart wohlvertraute Resultate nach sich, daß sie kaum noch aufgezählt werden müssen. Der Prozeß beginnt 184

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gewissermaßen vorsichtig nagend und endet mit gewaltiger Gefräßigkeit. Wegen Verkehrsverstopfungen werden die Straßen hier und da ein bißchen verbreitert, begradigt, breite Avenuen als Einbahnstraßen erklärt; Verkehrsampeln, Grüne Wellen werden eingeführt, um den Verkehr flüssiger zu machen; eine Brücke bekommt einen Oberstock, später noch eine Schnellstraße darunter, und schließlich schneiden ganze Gewebe von Schnellstraßen die Städte in Stücke. Mehr und mehr Land wird zu Parkplätzen, um die ständig wachsende Anzahl der Fahrzeuge während ihrer Nichtnutzung unterzubringen. Keiner der Schritte in dieser Entwicklung ist in sich allein verhängnisvoll, erst zusammen sind sie von durchschlagender Wirkung. Eine aufschlußreiche Rechnung stellte Victor Gruen 1955 im Zusan1menhang mit seinem Plan für Fort Worth auf. Um sich einen genauenBegriff von der zahlenmäßigen Größe des Problems zu bilden, an dem er arbeitete, begann er, den Geschäftsumfang auszurechnen, den Fort Worths ständig unterentwickelte und stagnierende (aber verstopfte) Innenstadt im Jahre 1970 haben würde; er legte dabei :lie in seinem Plan vorgesehene Bevölkerungs- und Handels-Konzentration zugrunde. Dann übersetzte er die ihm geläufige Anzahl von Fahrzeugen der gegenwärtigen Innenstadtbenutzer auf die der künftigen Benutzer und rechnete aus, wieviel Straßenraum notwendig sei, um die Anzahl dieser Fahrzeuge zu irgendeiner Tageszeit in den Straßen unterzubringen. Er kam auf die unwahrscheinliche Zahl von anderthalb Millionen Quadratmeter Straßenraum (ohne Parkplätze). Heute verfügt die unterentwickelte Innenstadt über ein Drittel davon. In dem Augenblick aber, als Gruen seine anderthalb Millionen Quadratmeter ausgerechnet hatte, stimmte diese Zahl schon nicht mehr, sie war bereits wieder viel zu klein. Denn um diesen Fahrbahnraum zu erhalten, müßte die Innenstadt enorm ausgedehnt werden; eine gewisse Anzahl wirtschaftlicher Nutzungen würde dadurch nur sehr dünn gestreut. Das wiederum würde die Benutzer der Straßen noch mehr als bisher vom Fahrzeug abhängig machen, womit weiterer Fahbahnraum erforderlich würde. Das Resultat wäre also keineswegs eine zusan1menhängende Innenstadt, sondern ein riesiger, dünner Fladen von Nutzungen, der in Hinsicht auf jene großstädtische Vielfalt, die an sich seiner Bevölkerungsdichte und Wirtschaft entspräche, versagen muß. Wie Gruen ausführte, wächst der Bedarf an Kraftverkehr automatisch, je mehr Raum ihm zur Verfügung gestellt wird. Im wirklichen Leben pflegt man die Fahrbahnfläche in einer Stadt nicht mit einemmal aufs Dreifache zu steigern. Deshalb sind die Folgen der kleineren Anpassungen an immer nur wenig mehr Verkehr nicht so augenfällig. Aber, allnlählich oder rasch, das Resultat ist das gleiche. Die paradoxe Situation, daß sich aus der Vermehrung der Zugangswege für Autos eine Verminderung der Benutzerzahl von städtischen Straßen ergibt, kann man, extrem ausgebildet, in Los Angeles und fast so deutlich in Detroit beobachten. Aber sie tritt genauso unweigerlich als Verödungserscheinung in früheren Stadien auf, nämlich immer dann, wenn eine Vermehrung des Verkehrs mit einer schrumpfenden 185

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l\1inorität von Straßenbenutzern beantwortet wird. Manhattau ist gerade an diesem Punkt angelangt. Um die Fahrzeugverstopfung abzumildern und den Verkehr wieder in Fluß zu bringen, ist man hier dazu übergegangen, die breiten Nord-SüdAvenuen zu Einbahnstraßen zu erklären. Selbstverständlich müssen sich auch die Busse danach richten, und das bedeutet für die Benutzer der Busse oft weitere Fußwege zu den Haltestellen für die richtige Richtung. Sobald eine neue Straße in New York zur Einbahnstraße erklärt worden ist, beobachtet man daher regelmäßig einen Rückgang der Fahrgäste. Wo diese Fahrgäste bleiben, weiß niemand; aber die Busgesellschaften meinen, dieser Prozentsatz an Fahrgästen habe nun die Möglichkeit, eigene Fahrzeuge zu benutzen. Fest steht jedenfalls, daß der flüssigere Verkehr eine Vermehrung der Privatfahrzeuge mit sich bringt, während - als Nebenerscheinung - die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zurückgeht. Die Rückgänge der Fahrgastzahl öffentlicher Verkehrsmitttel sind jedoch immer größer als die Zunahmen der Insassenzahl privater Fahrzeuge. Damit geht unweigerlich auch die Intensität der Gesamtnutzung des Bezirks zurück, und das ist eine ernst zu nehmende Sache in großen Städten, in denen ja die wichtigste Aufgabe des Verkehrs darin liegt, eine umfassende Nutzung und Verflechtung zu gestatten und zu fördern. Solche Ergebnisse erfüllen gewisse Gemüter mit Panik. Als Standardmittel, das dem Nachlassen der Nutzung abhelfen soll, pflegt man regelmäßig weitere Erleichterungen für den Fahrzeugverkehr zu schaffen, zunächst meistens in Form von Parkplätzen. Um bei Manhattau zu bleiben, wird hier als Beruhigungsmittel für die um ihre Kunden besorgten Kaufhäuser vom Verkehrsamt eine Reihe von städtischen Parkhochhäusern eifrig empfohlen. Diesem Beruhigungsmittel würden dann eben mal an die zehn Baublocks mitten in Manhattau zum Opfer fallen, in denen sich viele Hunderte von kleinen Unternehmen befinden. Je konzentrierter und großstädtischer ein Gebiet nutzungsfähig ist, desto größer ist der Kontrast zwischen det Geringfügigkeit dessen, was mit der Verödung gewonnen wird, und dem Gewicht dessen, was durch sie verlorengeht. Trotz alledem sollte sich wenigstens eine theoretische Lösung finden, gewissermaßen ein Stadium erreichen lassen, in dem die größere verkehrsmäßige Zugänglichkeit eines Gebietes im Gleichgewicht bleibt mit der verminderten Dynamik. Mit dem Fortschreiten der Verödung sollte man den Druck des Verkehrs auf gewisse Gebiete der Stadt allmählich ausgleichen. Denn wenn eine Stadt erst mal genügend auseinandergezogen und nutzungsmäßig gleichförmig geworden ist, sollte sie jedenfalls mit dem Verkehrsproblem fertig werden können. Ein Stadium des Gleichge· wichtsist die einzig logische Antwort auf einen städtischen Verödungsprozeß. Dieses Gleichgewicht ist bisher in keiner großen amerikanischen Stadt auch nur an· nähernd erreicht worden. Die Verödungsbeispiele, die uns geboten werden, sind Städte, die sich erst im Stadium eines ständig wachsenden Verkehrsdrucks befinden. Man sollte meinen, daß Los Angeles bald an dem Punkt des Gleichgewichts angekommen sei, weil heute bereits 95 °/o des gesamten Verkehrs innerhalb der Stadt mit Privatautos abgewickelt wird. Indessen ist auch dort der Druck noch nicht ge-

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nügend ausgeglichen, denn 66 °/o der Benutzer von Los Angeles' langweiliger und verödeter Innenstadt kommen noch immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Außerdem wächst der Bedarf an Parkplätzen weiterhin. Vor ein paar Jahren noch wurden Parkplätze für zwei Autos je Wohnung als großzügig betrachtet. Heute stellen die neuen Apartmenthäuser in der Stadt je drei Parkplätze zur Verfügung, zwei pro Haushalt und im Durchschnitt je einen zusätzlichen für Besucher. Und das ist auch die Mindestzahl, die man in einer Stadt braucht, in der man kaum ein Päckchen Zigaretten ohne fahrbaren Untersatz erstehen kann. Jeder von uns weiß, wie notwendig Autos in den Vororten sind. Im allgemeinen verfahren dort die Frauen mehr Kilometer für ihre Besorgungen als ihre Männer auf den Wegen zur AFbeit. Man weiß ebenfalls, wie notwendig die vielen Parkplätze dort sind: Schulen, Supermarkets, Kirchen, Einkaufszentren, Krankenhäuser, Kinos, sämtliche Wohnbauten brauchen ihre eigenen Parkplätze, und die meisten von ihnen liegen den überwiegenden Teil des Tages unbenutzt. Vororte können sich auf Grund der dünnen Besiedlung diese Landverschwendung leisten. Der gleiche Bedarf an Autos und damit an zahlreichen Parkplätzen kann nun auch in den großen Städten auftreten, in denen die Voraussetzungen für großstädtische Mannigfaltigkeit fehlen (u. a. wegen unzureichender Bevölkerungskonzentration). Solche Gebiete haben zwar den gleichen Bedarf an Verkehrserleichterungen, sind aber im Gegensatz zu Vororten zu dicht besiedelt, um all die Autos und Parkplätze raummäßig in sich aufzunehmen. »Zwischen«-Dichten - für Städte zu niedrig und für Vororte zu hoch - sind hinsichtlich ihrer Verkehrsprobleme genauso unpraktisch wie in jeder anderen Hinsicht. Das übliche Schicksal solcher Bezirke ist heutzutage, daß sie einfach von den Menschen, die andere Möglichkeiten haben, verlassen werden. Wenn diese Orte dann ausdrücklich zu dem Zweck, »die Mittelklassen zurückzuführen«, neu aufgebaut oder aber konserviert werden, um nicht auch noch die letzten Bewohner zu verlieren, dann wird die Notwendigkeit, Parkplätze auf breiter Basis zu schaffen, zu einem der größten und fast unlösbaren Probleme; die bereits vorhandene Ode und dünne Nutzung werden weiter vorgetrieben. Die große Plage der Ode geht Hand in Hand mit der Plage der Verkehrsverstopfung. Glücklicherweise greifen auch andere Nutzungen und Interessen verschiedenster Art in den Verödungsprozeß ein. Einer der Gründe dafür, daß die Verödung in den meisten Städten nur allmählich vor sich geht, ist in den unmäßigen Kosten zu suchen, die durch den Aufkauf von soviel Stadtboden, der bereits anderweitig genutzt ist, entstehen. Weitere Bremsklötze für das Fließen des Verkehrs sind auch die vielen Ecken, an denen sich Fußgängerübergänge befmden. Jede öffentliche Verhandlung, in der es um eine Straßenverbreiterung, eine Zufahrtsstraße zu einer Brücke oder eine Straße durch einen Park geht, zeigt die ganze Schärfe des Konflikts zwischen dem Druck des Verkehrs und dem Druck, den andere Nutzungen ausüben. Den Bürgern geht es dabei immer um die spezifische Verheerung, die ihren Häusern, Straßen, Geschäften und ihrer Gemeinde mit jeder neuen Verödungsmaßnahme gebracht werden. Und was die Bürger dann vorbringen, ist wert angehört zu werden. 187

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Aus der Realistik und Direktheit ihrer Begründungen leuchten die konkreten lokalen Wirkungen auf, deren Kern gleichzeitig Ansatz für jede Rettungsaktion sein könnte. Außerdem beweisen diese Proteste, daß die Verödung aus den verschiedensten Gründen bei sehr vielen Bürgern der Stadt unbeliebt ist. Proteste sind nützlich, und die direkten Kosten vieler verödender Maßnahmen sind in der Tat Hindernisse, die von der Stadt gegen den Erosionsprozeß an sich selbst errichtet werden. Sie sind aber keine wirksamen Maßnahmen zur Umkehrung des Prozesses, im besten Fall gewähren sie Aufschub. Wenn andere Interessen es erreichen, einen Schritt mehr zu tun: wenn der Fahrverkehr wirklich verringert wird, dann erst ist eine echte Beschränkung des Verkehrs durch die Städte eingetreten. Heutzutage gibt es das nur vereinzelt oder zufällig, es gibt es aber immerhin tatsächlich. So wurde 1958 der Washington Square Park in New York für Autos gesperrt, ein Beispiel, das eine Untersuchung wert ist. Washington Square Park ist knapp drei Hektar groß und endet am südlichen Ausgang der Fifth Avenue. Bis 1958 bedeutete das für den Verkehr der Fifth Avenue noch keinen Schlußpunkt, denn eine kleine Straße, ursprünglich ein Kutschweg, leitete den Verkehr von der Fifth Avenue zu den anderen Nord-SüdStraßen durch den Park hindurch. Natürlich wuchs der Verkehr auf diesem Verbindungsweg durch den Park im Laufe de:t: Zeit allmählich an und wurde zum Ärgernis für die vielen Parkbesucher. In den dreißiger Jahren schon versuchte der städtische Beauftragte für die Grünplanung, Robert Moses, die Straße zu entfernen. Dafür wollte er aber den Park seitlich beschneiden und die Randstraßen verbreitern, um den Park mit einer großen Schnellstraße zu umgehen. Dieser Plan, den man prompt als Fußmatten-Plan bezeichnete - um auszudrücken, was vom Park noch übrigbleiben würde -, kam nicht durch. Das war ein Aufschub. Dann, in der Mitte der fünfziger Jahre, kam Robert Moses mit einem neuen Verödungsplan. Eine große Autobahn sollte mitten durch den Park gelegt werden. Zuerst rechneten sich viele der Bürger des Bezirks, als sie den Vorschlag bekämpften, nichts als die Chance eines weiteren Aufschubs aus. Aber zwei Frauen, Mrs. Shirley Hayes und Mrs. Edith Lyons, ergriffen die Initiative und schlugen im Hinblick auf die übrigen Nutzungsmöglichkeiten des vielbesuchten Parks vor, den Park überhaupt für jeden Automobilverkehr zu sperren, ohne die Randstraßen zu verbreitern. Sie wollten vielmehr die eine Fahrbahn beseitigen, ohne dafür Ersatz zu schaffen. Der Gedanke leuchtete ein, die Vorteile lagen für jeden, der den Park benutzte, auf der Hand. Die Planungskommission lehnte den Vorschlag ab und gestattete dann eine sogenannte »Kleinststraße« durch den Park, wobei sie prophezeite, daß man diese Lösung einmal sehr bedauern würde, denn der Verkehr werde die Randstraßen überschwemmen und verstopfen. Diese finsteren Voraussagen wären vermutlich eingetroffen, wenn ein Ersatz für die vom Park abgelenkten Autos geschaffen worden wäre. Bevor aber derartige Dinge 188

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ins Werk gesetzt werden konnten, erreichte es die Gemeinde, die Durchgangsstraße zuerst versuchsweise und dann ganz zu schließen. Nichts von der prophezeiten Verkehrsdichte um den Park herum ist eingetreten. Die Randstraßen sind eng, haben viele Verkehrsampeln, überall stehen parkende Wagen, die zahllosen unbequemen Ecken können nur langsam von den Autos umfahren werden. Jede Verkehrszählung, die in zeitlichem Abstand auf den Randstraßen vorgeno=en wurde, zeigte einen leichten Rückgang an. Auch auf dem unteren Ende der Fifth Avenue ließ der Verkehr spürbar nach; anscheinend war ein großer Prozentsatz des Verkehrs reiner Durchgangsverkehr gewesen. Das Hindernis, die Schließung der Straße, erwies sich also keineswegs als Instrument zur Verstopfung, im Gegenteil: es lockert die vorherige Verstopfung. Wo sind nun die vielen Autos geblieben? Das ist der interessanteste Teil der Geschichte. Sie sind nirgends woanders fühlbar aufgetaucht. Die durchgehenden OstWest-Straßen der Fifth Avenue, die einen Teil der umgeleiteten Fahrzeuge hätten aufnehmen müssen, scheinen keine zusätzliche Belastung erfahren zu haben. Und auch die Fahrzeiten der Busse - ein sicheres Kennzeichen für erhöhte Verkehrsdichte- zeigten keine Veränderung. Genau wie die verschwundenen Fahrgäste der Busse auf den Einbahnstraßen, hat sich eine große Anzahl von Wagen in nichts aufgelöst. Ihr Verschwinden ist nicht mysteriöser und nicht überraschender als das der Bus-Fahrgäste. Denn genausowenig, wie es eine absolute Anzahl von Fahrgästen öffentlicher Verkehrsmittel gibt, gibt es eine absolute Anzahl von Privatautofahrern. Die Zahlen ändern sich gemäß den laufenden Schwankungen hinsichtlich Geschwindigkeit und Bequemlichkeit der Fortbewegungsmöglichkeiten. Minderung des Verkehrs tritt ein, wenn man die Bedingungen für den Verkehr weniger bequem macht. Bei langsamem und allmählichem Vorgehen würde man auf diese Weise auch die Anzahl der Personen, die in einer Stadt Privatautos benutzen, verringern. Wenn der Prozeß vernünftig gelenkt wird, würde solch langsames Abwürgen auch die Notwendigkeit mindern, mit Privatautos zu fahren. Wie umgekehrt eine Verödung der Stadt deren Benutzung nur immer notwendiger macht. Welche Methoden sind zum Ziel einer Verkehrsminderung anwendbar? Viele leuchten in dem Moment ein, in dem man voraussetzt, daß es nicht darum geht, den Verkehr in den Städten abzuwürgen, sondern den Verkehr durch die Städte selbst zu entmutigen. Grundsätzlich sind sämtliche Methoden geeignet, die anderen notwendigen und wünschenswerten Nutzungen der Stadt Raum geben, und zwar solchen, die mit den Bedürfnissen des Verkehrs im Widerstreit stehen. Wenn die Städte einmal lernen, sich um die vier Voraussetzungen für städtische Mannigfaltigkeit zu kü=ern, wird es i=er mehr beliebte und interessante Straßen geben. Und sobald die intensive Nutzung derartiger Straßen eine Verbreiterung der Bürgersteige verdient, sollte man sie ihnen nicht streitig machen. Es gibt so viel Gründe, den Fahrbahnraum zugunsten anderer Nutzungen zu verengen. Alle Orte, an denen sich regelmäßig viele Menschen versa=eln, wie Schulen, Theater, gewisse Gruppierungen von Geschäften, sollten Freiraum vor sich ha-

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ben, der zum Teil in die Fahrbahnen hinausragt. Kleine Parks können quer über die Straßen gelegt werden, um Sackgassen zu erzielen, wobei man für dringende Fälle engste Durchfahrtsmöglichkeiten offenlassen müßte. Auch die kurzen Baublocks wirken sich hemmend auf das Fließen des Verkehrs aus. Bei all dem ist aber Voraussetzung, daß man solche Verbesserungen nur dort anbringt, wo es wirklich notwendig ist. Sie sind nur zu vertreten in Bezirken, in denen sie dem Wunsch und Wohl der überwiegenden Zahl von Benutzern dienen. Eine strenge Auslesepolitik muß oberstes Gesetz sein. Gänzlich wahllose Abwürgung des Verkehrs könnte sich in vielen Straßen auch auf die Lastwagen und Busse auswirken, und nicht nur auf Privatautos, um die es ja in erster Linie geht. Lastwagen und Busse sind wichtig, und ihre Leistungsfähigkeit muß gefördert werden. Diese Gedanken stammen von William McGrath, dem Traffic Commissioner von New Haven, der verschiedene Mittel und Wege vorgeschlagen hat, um mit dem Mittel bereits vorhandener Verkehrstechniken bewußt den Privatverkehr einzudämmen. Eins von McGraths Zielen ist, eine höhere Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verkehrsmittel zu erreichen. Das bezieht sich im Falle von New Haven vor allem auf Busse. Die Busse in der Stadt müssen schneller fahren können. Das ist nach McGraths schon mit Hilfe der Verkehrsampeln zu ermöglichen, wenn man sie auf kurze Frequenzen umschaltet. Weil die Busse ihre Fahrgäste stets an Ecken aufnehmen, werden sie bei kurzen Laufzeiten der Signale weniger aufgehalten als bei langen. Die gleichen kurzen Laufzeiten aber hemmen den Privatverkehr ständig und würden ihn gewiß von einigen Straßen ablenken. Davon würden dann die Busse profitieren; sie könnten schneller fahren. Dieses System könnte man so weit treiben, daß, wie McGrath meint, nur ein »Fahrer mit Stroh im Kopf« eine derartige Straße freiwillig befahren würde. Wenn dann die Straße das Stadium erreicht hat, in dem sie so gut wie ausschließlich nur noch Lastwagen und Bussen dient, dann kann man sie ohne irgendwelche Hindernisse in eine Fußgängerstraße umwandeln, und zwar ohne Ersatz für die sowieso schon kaum mehr von Privatautos benutzten Fahrbahnen zu schaffen, zumal andere Straßen dann systematisch zu Straßen für parkende Wagen gemacht würden. Die Gewohnheiten haben dann bereits zur Abwürgung des Verkehrs geführt. Theoretisch sollten die Schnellstraßen innerhalb der Städte die übrigen Straßen vom Verkehr entlasten. In Wirklichkeit funktioniert das nur dann, wenn die Schnellstraßen nicht bis zu ihrer vollen Kapazität ausgenutzt werden. Anstatt Umgehungsstraßen für den Durchgangsverkehr zu sein, sind sie gegenwärtig meist Hindernisse. McGrath meint nun, daß man ihre eigentliche Aufgabe stärker berücksichtigen müsse. Es dürften zum Beispiel mit ihrer Hilfe keine größeren Parkplätze erreichbar sein. Straßen, die im Innenverkehr als Ausweichstraßen für verstopfte Schnellstraßen dienen könnten, sollten sorgfältig mit Sackgassen versehen werden, damit sie nicht zusammen mit den Schnellstraßen automatisch ein innerstädtisches Verbindungsnetz abgeben. Die Schnellstraßen sollten eben tatsächlich einzig und allein als Umge· hungsstraßen benutzt werden können. Auch den Lastwagen sollte man mehr entgegenkommen. Sie sind lebensnotwendig 190

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für die Städte; sie bedeuten Dienstleistungen. Im Augenblick haben wir nur Rege· lungen, die ihren Interessen entgegenstehen, d. h., viele Straßen sind für den Lastwagenverkehr verboten, außer wenn sie an die Anlieger ausliefern. Das ist für manche Straßen durchaus vernünftig, in anderen Fällen wieder kann man bei den Abwürgungsmaßnahmen für den Gesamtverkehr Regelungen vor· sehen, welche den Lastwagen Vorrang lassen und den anderen Fahrzeugen nur dann die Durchfahrt gestatten, wenn diese Anliegerdienste (an Personen) leisten. Inzwischen sollte man dazu übergehen, die schnellsten Fahrbahnen auf MehrhahnSchnellstraßen den Lastwagen vorzubehalten. Das ist nichts als eine Umkehrung der erstaunlich unverantwortlichen Maßnahme der New Yorker Verkehrsverwaltung, welche die schnellsten Autobahnen in den am dichtesten besiedelten Stadtbezirken nur für Personenautos reserviert hat und damit selbst Fernlaster dazu zwingt, sich durch das Gewühl der Innenstädte zu quälen. Dann besteht ein grundsätzliches Mißverhältnis zwischen den Parkplätzen für Privatautos und den Taxiständen. Auch hier kann eine nützliche Auslesepolitik ein· setzen, denn Taxis leisten ein Vielfaches für die Personenbeförderung als die ent· sprechende Anzahl von Privatautos. Als Chruschtschow in Amerika war, begriff er dieses Mißverhältnis sofort. Nachdem er den Verkehr in San Franziska eine Weile beobachtet hatte, wunderte er sich über die Verschwendung und dachte anscheinend noch länger darüber nach. Denn als er in Wladiwostok ankam, verkündete er, daß er es sich zur Aufgabe machen würde, statt Privatautos lieber ganze Geschwader von Taxis in den russischen Städten zu propagieren. Man muß die Gewohnheiten ändern und den Verkehr ganz allmählich abwürgen. Eine allmähliche Entwicklung ist auch im Hinblick auf die öffentlichen Verkehrs· mittel geboten. Im Augenblick sind die öffentlichen Verkehrsmittel noch sehr im Rückstand. Das liegt nicht an technischen Dingen. Unmengen von möglichen Verbesserungen warten nur darauf, realisiert zu werden, wenn es sich einmal lohnt. Aber selbst wenn die öffentlichen Verkehrsmittel durch vermehrte Benutzung in ihrer Entwicklung gefördert würden, wäre es absolut unrealistisch, sofortige revolutionäre Wandlungen zu erwarten. Auch die Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel im 20. Jahrhundert (die Amerika nie richtig mitgemacht hat) muß sich, wie ihr jetziger Niedergang, langsam den Gewohnheiten der Menschen anpassen. Das wichtigste Gesetz, nach dem all diese Maßnahmen getroffen werden müssen: man muß ausgesprochen positive Gesichtspunkte bei der Abwürgung des Verkehrs walten lassen. Die Maßnahmen dürfen nur auf einleuchtende und wünschenswerte Verbesserungen gerichtet sein, die im Interesse einer Mehrheit von Bürgern liegen. Nicht nur sind positive Ausgangspunkte im allgemeinen überzeugender als negative, sondern das greifbare und konkrete Ziel muß in jedem Fall sein, an den einzelnen, ganz bestimmten Orten der Stadt die notwendige Dynamik und Mannigfaltigkeit zu erhöhen.

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Ästhetischer Städtebau - Möglichkeiten und Grenzen

Wenn wir uns mit Städten befassen, befassen wir uns mit dem Leben in seiner komplexesten und intensivsten Form. Und weil dies so ist, besteht von vornherein eine grundsätzliche Einschränkung in ästhetischer Hinsicht: eine große Stadt kann niemals ein reines Kunstwerk sein. Kunst hat ihre eigenen Ordnungsgesetze, und die sind sehr streng. In jedem Medium muß der Künstler aus der Fülle des Materials, das ihm das Leben zur Verfügung stellt, seine Auswahl treffen und in Werke umsetzen, die seinen Gesetzen entsprechen. Der Künstler hat dabei natürlich das Bewußtsein, daß er selbst bei seiner Arbeit (das heißt bei der Auswahl des Materials) den Gesetzen unterliegt. Das beinahe erstaunliche Resultat dieses Vorgangs kann dann Kunst sein. Aber das eigentliche Wesen des Vorgangs ist die diszipliniert und sorgfältig abwägend getroffene Wahl aus dem Leben. Im Verhältnis zu der im wahrsten Sinne des Wortes unendlichen Komplexität des Lebens ist Kunst willkürlich und abgezogen. Darin liegt ihr Wert, und das ist die Quelle ihrer eigenen Form von Ordnung und Zusammenhang. Ginge man nun an eine Großstadt oder auch nur an eine einzelne Straßennachbarschaft mit der Vorstellung heran, sie könnten wie reine Architekturprobleme durch eine disziplinierte Kunstleistung eine Ordnung erhalten, dann machte man den Fehler, Kunst an die Stelle von Leben zu setzen. Es wäre ein leben- (und kunst-)tötender Mißbrauch der Kunst. Die Ergebnisse könnten das Leben nur ärmer statt reicher machen. Unter gewissen Umständen kann Kunst anscheinend durch allgemeine und anonyme Ubereinkunft entstehen. In einer geschlossenen Gesellschaft zum Beispiel, oder in einer technisch rückständigen oder allgemein erstarrten Gesellschaft können sowohl harte Notwendigkeiten wie Tradition und Sitte jedem einzelnen eine Beschränkung auf bestimmte Ziele und Materialien abfordern. Auf diese Weise können Dörfer und Städte entstehen, die uns in ihrer physischen Geschlossenheit heute wie Kunstwerke anmuten. Bei uns liegen die Dinge anders. Solche Gesellschaften mögen interessant für uns sein, und wir mögen ihre harmonischen Leistungen mit Bewunderung und einer gewissen Sehnsucht betrachten und uns bedauernd fragen, warum denn wir nicht so sein können. Aber bei all unserem Hang zur Konformität sind wir viel zu abenteuerlich, neugierig, egoistisch und ehrgeizig veranlagt, um eine harmonische Kunst, die auf allgemeinem Einvernehmen beruht, hervorzubringen; und vor allem legen wir hohen Wert auf genau das, was uns daran hindert, einer geschlossenen Gesellschaft zu ähneln. Auch ist unsere konstruktive Nutzung von Städten und der Wert, den wir ihnen beimessen, gänzlich anders: die Städte sollen ja gar keine Tradition verkörpern oder eine allgemeine harmonische Ubereinkunft ausdrücken (beziehungsweise: einfrieren). Für die Utopisten des 19. Jahrhunderts mit ihrer Ablehnung einer städtischen Gesellschaft und mit ihrem romantischen Erbe aus dem 18. Jahrhundert- vom Adel und von der Einfachheit des »natürlichen« oder primitiven Menschen - war die Vorstellung von einer einfachen Umg.ebung, die ein Kunstwerk ist durch harmo192

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nische Übereinkunft, sehr anziehend. Zu diesem Stadium wieder zurückzukehren, ist eine der großen Hoffnungen gewesen, die alle Traditionen utopistischer Reformideen durchzieht. Diese unnütze (und tief reaktionäre) Hoffnung färbte auch auf die Utopismen der Gartenstadtplanung ab und hat sich weiterhin in ihnen gehalten, soweit sie frei von den Einflüssen der Cite-Radieuse- und City-Beautiful-Planung blieben. Noch in den dreißiger Jahren legte Lewis Mumford in seinem Buch The Culture of Cities einen ohne Kenntnis dieser Tradition nicht zu verstehenden Wert auf Dinge wie Korbflechten und Töpferhandwerk für jene geplanten Gemeinden, die er ins Auge faßte. Und vor noch kürzerer Zeit suchte Clarence Stein, der führende amerikanische Gartenstadt-Planer, nach irgendeinem Objekt, das sich dazu eignen würde, die harmonischen künstlerischen Übereinkünfte einer idealen Gemeinde zu verkörpern. Er regte an, daß die Bürger einen Kindergarten- selbstverständlich mit ihrer eigenen Hände Arbeit- bauen sollten. Aber das Wesentliche an Steins Botschaft war, daß, abgesehen von dem Kindergartenbau, die gesamte materielle Umgebung einer Gemeinde und alles, was dazu gehört, absolut und uneingeschränkt der Kontrolle durch die Architekten der entsprechenden Siedlung unterliegen sollte. So etwas unterscheidet sich kaum von den Postulaten, welche die Cite-Radieuseund die City-Beautiful-Planung aufstellten. Es handelte sich hier wie dort immer primär um einen architektonischen Kult und weniger um soziale Reformen. Indirekt durch die Utopistische Tradition des 19. Jahrhunderts und direkt durch die realistische Doktrin einer aufgezwungenen Kunst ist also die moderne Stadtplanung von Anfang an sehr belastet gewesen mit dem unangebrachten Bestreben, Städte in Kunstwerke zu verwandeln. Wie Wohnungsbauer, die hilflos sind, wenn sie an etwas anderes denken sollen als an Siedlungsbauten, oder wie Straßenbauer, die nichts anderes im Kopf haben, als auf Mittel und Wege für die Unterbringung von noch stärkerem Verkehr zu sinnen, so sind auch Architekten, die sich mit Städtebau befassen, hilflos, wenn sie sich eine sichtbare Ordnung der Stadt anders vorstellen sollen als in der Form des Ersatzes von Leben durch Kunst. Die Städtebauer sollten statt dessen zu einer Methode zurückkehren, die beides, Kunst und Leben, veredelt, die das Leben in der Stadt versinnbildlicht und dazu beiträgt, klärend auf die innere Ordnung einzuwirken. Es werden einfältige Lügen über die Ordnung in den Städten verbreitet, die darauf hinauslaufen, daß Eintönigkeit gleich Ordnung sei. Es ist das einfachste in der Welt, ein paar Formen herauszugreifen, sie in eine reglementierte Einförmigkeit zu bringen und das dann als Ordnung anzubieten. Einfache Reglementierung ist in dieser Welt aber höchst selten mit echter funktioneller Ordnung zu vereinen. Weil wir in großen Städten leben und daher unsere Erfahrungen mit ihnen gemacht haben, verfügen die meisten von uns bereits über eine gute Grundlage zum Verständnis für ihre innere Ordnung. Einige unserer Schwierigkeiten, sie zu verstehen, und viele der chaotischen Wirkungen sind darin begründet, daß die funktionelle Ordnung ästhetisch nicht genügend unterstützt oder - noch schlimmer - ihr in vielen Fällen visuell widersprochen wird. 193

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Wenn Stadtplaner nach einer Planungsmethode suchen, die in klarer und schlichter Manier das »Gerüst« der Stadtstruktur ausdrücken soll (Schnellstraßen und Grünanlagen sind beliebte Objekte für diesen Zweck), befinden sie sich bereits auf dem Holzweg. Eine große Stadt setzt sich nicht zusammen wie ein Säugetier oder ein Stahlskelettbau oder ein Wabensystem. Struktur und Form erhält ein Stadtgebiet lediglich durch Dynamik und Mannigfaltigkeit der Nutzung. Kevin Lynch führt in seinem Buch The Image of the City etwas sehr Bezeichnendes an. Er spricht von »verlorenen« Gebieten; das sind Stadtgebiete, die den Menschen, die er interviewte, einfach aus dem Gedächtnis entschwunden waren, obwohl die reine Lage der »verlorenen« Gebiete es gar nicht rechtfertigte, daß sie in Vergessenheit gerieten und obwohl die interviewten Menschen sie manchmal gerade durchquert hatten. Es waren eben anonyme Orte. Stadtgestaltung muß der wesenhaften Ordnung einer Stadt dienen. Vitale Bezirke brauchen eine Akzentuierung ihrer funktionellen Ordnung; je mehr solcher lebendiger Bezirke in den Städten entstehen und je mehr graue Zonen verschwinden werden, desto größer wird der Bedarf an visueller Klarheit. Um die innere Ordnung klärend nach außen kenntlich zu machen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Akzentuierung und Andeutung. Andeutung, das will sagen, daß hier ein Teil für das Ganze steht; sie ist ein wichtiges Kunstmittel; sie ermöglicht die Sparsamkeit, das» Weglassen« in der Kunst. Die wichtigsten optischen Szenerien, die wichtigsten Bilder, bieten die Straßen. Viele unserer Straßen bieten jedoch unseren Augen nur verwirrende Widersprüche. Im Vordergrund zeigen sie uns jede Art von Einzelheiten und Betrieb. Sie sagen optisch, woraus sie bestehen, weil wir den verschiedenen Gebäudetypen, Schildern, Ladenfronten und anderen Unternehmen die materiellen Beweise für Betrieb und Mannigfaltigkeit entnehmen. Wenn solch eine Straße sich aber dann endlos hinzieht, wenn die Intensität und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im Vordergrund sich endlos wiederholen und sich schließlich in der Anonymität der Ferne verlieren, lautet die optische Botschaft gleichzeitig mit aller Klarheit: Endlosigkeit. Intensität und Endlosigkeit sind schwer miteinander in vernünftigen Einklang zu bringen. Einer der beiden Eindrücke muß den Vorrang haben. Weisen zuviel Straßen diesen Konflikt auf, stempeln sie den ganzen Bezirk oder schließlich die ganze Stadt mit dieser Zwiespältigkeit, und das Resultat ist Chaos. Die funktionelle Ordnung der Stadt erfordert, daß Intensität und Mannigfaltigkeit vorhanden sind; die Beweise dafür können nur auf Kosten dieser Ordnung aus der Straße entfernt werden. Andererseits ist der Eindruck von Endlosigkeit aber keinesfalls ein Erfordernis im Interesse der Stadt; dieser Eindruck kann auf ein Mindestmaß zurückgeführt werden, ohne daß in die funktionelle Ordnung eingegriffen wird. Darum brauchen viele städtische Straßen optische Unterbrechungen, die den Blick in die Ferne abschneiden und gleichzeitig die Dynamik der Straße optisch erhöhen und feiern, indem sie ihr einen Rahmen, eine Geschlossenheit, geben. Alte Stadtteile mit unregelmäßigem Straßennetz verfügen häufig über derartige 194

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Unterbrechungen. Sie haben dafür aber den Nachteil, daß sie als Straßensysteme schwerer zu erfassen sind; man verläuft sich leicht in ihnen und verliert ihr Muster aus dem Sinn. Bei Straßen, die ein rechtwinkliges Raster bilden, was ja viele Vorteile hat, gibt es nur zwei Wege, um genügend optische Unregelmäßigkeit und Abwechslung in das Straßenbild zu bringen. Der erste Weg ist, zusätzliche Straßen dort einzuführen, wo die Straßen des Schachbretts zu weit auseinander gelegt wurden, wie beispielsweise auf der West Side von Manhattan. Wenn solche neuen Straßen in vernünftigem Maß, mit angemessenem Respekt und angemessener Zurückhaltung im Interesse der Erhaltung der schönsten oder auch nur der besonderen Gebäude, die auf ihrem vorgeplanten Wege liegen, ausgelegt werden, können diese Straßen kaum auf lange Strecken ganz gerade sein. Sie werden zwangsläufig Biegungen haben und auch manchmal sehr eng werden. Wenn eine an sich gerade Straße durch mehrere Blocks hindurchgelegt wird, wird man nicht urnhinkönnen, sie von Fall zu Fall parallel zu verschieben. Jedenfalls sollte versucht werden, die geringste Zerstörung mit größtmöglichem optischem Gewinn zu verbinden. Zusätzliche, untergeordnete Abwechslung innerhalb eines Schachbrettmusters bleibt im allgemeinen übersichtlich. Die neuen, in das Raster eingefügten Straßen könnten leicht nach dem Hauptstraßensystem benannt werden. Die Kombination eines grundsätzlich leicht zu begreifenden Schachbrettmusters mit absichtlich unregelmäßigen Straßen an den Stellen, an denen das Raster für eine gute Stadtfunktion zu weit ist, könnte einen wertvollen amerikanischen Beitrag zu neuen Planungsmethoden abgeben. Der zweite Weg, Unregelmäßigkeiten und optische Unterbrechungen einzuführen, betrifft die vorhandenen Straßen selbst. San Franzisko ist eine Stadt, die über viel natürliche optische Unterbrechungen in ihrem Schachbrettsystem verfügt. Die Straßen sind an sich zweidimensional im regelmäßigen Rechteckraster ausgelegt, dabei aber in dreidimensionaler Hinsicht Meisterwerke visueller Abwechslung. Die vielen, zum Teil steilen Hügel schaffen die nötigen Unterbrechungen zwischen dem Vordergrund der Straße und der weiteren Entfernung. Dadurch wird das Intime des unmittelbaren Straßenbildes betont, ohne daß die Klarheit des Schachbrettmusters darunter leidet. Städte ohne derartige Vorteile topographischer Art können auf natürlichem Wege leider nicht zu so glücklichen Ergebnissen gelangen. Sie können aber ebenfalls Abwechslungen und Unterbrechungen auf ihren Schachbrettstraßen anbringen, ohne deren Klarheit und Aufbau zu opfern. Brücken, die zwei Gebäude oberhalb der Straße miteinander verbinden, leisten diesen Dienst. Gelegentlich können große Gebäude (vorzugsweise öffentlichen Charakters) auch erdgeschossig mitten in die Straße hineingebaut werden. Grand Central Terminal in New York ist ein gutes Beispiel dafür. Schnurgerade, »endlose« Straßen können weiterhin dadurch belebt werden, daß die Straßen selbst um einen kleinen Platz herumgeführt werden. Dort, wo es mög195

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lieh ist, den Fahrzeugverkehr zu unterbrechen, kann man kleine Parks von einem Bürgersteig zum anderen quer über die Straße legen. In wieder anderen Fällen braucht die optische Abwechslung nicht quer über die Straße zu gehen; man kann einzelne Gebäude vor die vordere Bauflucht vorschieben und eine Arkade schaffen, unter welcher der Bürgersteig hindurchführt. Auch ein Platz auf einer der Straßenseiten, durch die das Gebäude gegenüber dann eine Betonung erfahren würde, tut den gleichen Dienst. Bezirke mit zahlreichen optischen Straßenakzenten werden eigentlich immer als »freundlich« empfunden und tragen nur dazu bei, dem Viertel ein Gesicht zu geben. Die Schaffung von Bli