EU-Grundrechte und Vertragsrecht 9783161549779, 9783161549786, 3161549775

Die Wirkung der Grundrechte der Europaischen Union reicht bis in alltagliche vertragsrechtliche Falle hinein. Vor dem Eu

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EU-Grundrechte und Vertragsrecht
 9783161549779, 9783161549786, 3161549775

Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Dynamiken und Dimensionen
2. Ziele und Begrenzungen
3. Methoden und Überblick
Teil 1. Grundlagen
§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht
I. Vertrag und Vertragsfunktionen
1. Tatbestand des Vertrages
2. Funktionen des Vertrages
a) Selbstbestimmung
b) Gerechter Austausch
c) Effizienz
d) Markt
e) Kooperation
II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen
1. Vertragsrecht im Rechtssystem
2. Funktionen des Vertragsrechts
a) Ermöglichung
b) Regulierung
III. Europäisches Vertragsrecht und seine Funktionen
1. Quellen und Erscheinungsform des europäischen Vertragsrechts
2. Funktionen des europäischen Vertragsrechts
IV. Zusammenfassung
§ 2 Bestand der EU-Grundrechte
I. Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union
II. Grundrechtecharta
1. Inhalt im Überblick
2. Grundrechte und Grundsätze
III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze und ihr Verhältnis zur Charta
1. Fortbestehende Relevanz in gerichtlichen Entscheidungen
2. Bewertung und Diskussion
IV. Grundfreiheiten als EU-Grundrechte?
V. Zusammenfassung
§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem
I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte
1. Anwendungsbereich der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze
a) Administrative und legislative Umsetzungsakte
b) Einschränkung von Grundfreiheiten
c) Weitere von spezifischem Unionsrecht geregelte Sachverhalte
2. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta
a) Die Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 GRC
b) Der Fall Åkerberg Fransson
c) Kritik daran
d) Konkretisierungen
3. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte im Vertragsrecht
II. Verhältnis zu nationalen Grundrechten
1. Alternativität zwischen nationalen und EU-Grundrechten
2. Überschneidung zwischen nationalen und EU-Grundrechten
a) Gründe für Überschneidungen
b) Verhältnis bei Überschneidungen
III. Verhältnis zur EMRK
1. Handlungen der Mitgliedstaaten
2. Handlungen der Union
IV. Zusammenfassung
Teil 2. Rechtsprechung
§ 4 Entscheidungen des EuGH zu EU-Grundrechten und Privatrecht
I. Antidiskriminierungsrecht
1. Mangold
2. Kücükdeveci
3. Test-Achats
4. Prigge
5. HK Danmark
II. Arbeitsrecht
1. Werhof
2. Viking
3. Laval
4. KHS
5. Dominguez
6. Heimann und Lock
7. Alemo Herron
8. AMS
9. Fenoll
III. Verbraucherrecht
1. McDonagh v. Ryanair
2. Kušionová
3. Einige kurz skizzierte Fälle außerhalb des materiellen Rechts: Aziz, Sánchez Morcillo und Pohotovost’
IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz
1. Promusicae
2. Scarlet Extended
3. SABAM v. Netlog
4. DR und TV2 Danmark
5. Sky Österreich
6. Telekabel
7. Google Spain
8. Deckmyn
V. Sonstiges
1. Kokopelli
2. Einige kurz genannte, doch schlussendlich nicht relevante Fälle
a) Rodríguez Caballero
b) Deutsches Weintor
c) Antidiskriminierungsfälle
Teil 3. Struktur
§ 5 Dogmatische Struktur der Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht
I. Direkte und indirekte Wirkung: Einordnung in die allgemeine Dogmatik der Wirkungen des Unionsrechts
1. Allgemeine europarechtliche Dogmatik der Wirkungen des Unions- und insbesondere des Primärrechts
a) Direkte Wirkung: unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des Primärrechts
aa) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit
bb) Vorrang des Primärrechts vor nationalem Recht und vor abgeleitetem Unionsrecht
b) Indirekte Wirkung: Einfluss auf die Auslegung anderer Rechtssätze
aa) Primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts
bb) Primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts
cc) Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts?
dd) Primärrecht als Argument jenseits der Konformitätsanforderung
2. Indirekte Wirkung der EU-Grundrechte: Einfluss auf die Auslegung anderer privatrechtlicher Rechtssätze
a) Objekte der Wirkung – Gegenstände der Auslegung
aa) Sekundärrechtliches Privatrecht
bb) Privatrechtsrelevantes Primärrecht
cc) Nationales Privatrecht
dd) Privates Recht: Verträge
b) Tiefenstufen der grundrechtlichen Argumentation bei der Auslegung anderer Normen
aa) Bloße Unterstreichung oder Betonung
bb) Zusätzliche Argumente und Wertungen in der Auslegung
cc) Vollständige Grundrechtsprüfung
3. Direkte Wirkung der EU-Grundrechte: Unmittelbare Anwendung im Privatrecht
a) Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Privatrecht durch den EuGH
b) Einschränkende Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit nach dem Urteil AMS
c) Unmittelbare Anwendbarkeit und die Offenheit der Adressatenfrage – die Missverständlichkeit des direct horizontal effect
II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte
1. Anhaltspunkte aus der Rechtsprechung des EuGH
2. Meinungsbild in der Literatur und bei den Generalanwälten
3. Bewertung und Bedeutung der Frage
III. Funktionen der EU-Grundrechte und ihre strukturelle Bedeutung im Vertragsrecht
1. Unterscheidung von Abwehr- und Schutzfunktion
a) Differenzierung im deutschen Recht und bei der EMRK
b) Funktionen der EU-Grundrechte
aa) Aussagen der Charta
bb) Rechtsprechung des EuGH
2. Abwehr- und Schutzfunktion der EU-Grundrechte und Privatrechtswirkung
a) Dogmatische Konstruktion nach Canaris für die Grundrechte des Grundgesetzes und für die Europäischen Grundfreiheiten
b) Übertragung auf die Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht
c) Spezifische Schwierigkeiten im Vertragsrecht
3. EU-Grundrechte und Vertragsrechtsfunktionen: Ermöglichung und Regulierung
IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte: Theorie ihrer inneren Struktur und deren Bedeutung im Vertragsrecht
1. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte
a) Die Theorie Alexys
b) Übertragbarkeit auf EU-Grundrechte
2. Prinzipiencharakter und Privatrechtswirkung der EU-Grundrechte
a) Das Modell Alexys
b) Übertragbarkeit auf EU-Grundrechte und ihre Privatrechtswirkung
V. Zusammenfassung
Teil 4. Inhalt
§ 6 Privatautonomie
I. Konzept der Privatautonomie und EU-Grundrechte
1. Formale und materiale Privatautonomie
2. Konzept der Privatautonomie und EU-Grundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH
a) Vertragsfreiheit und Chartagrundrechte
b) Vertragsfreiheit in der Rechtsprechung zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Grundsätzen des Zivilrechts
c) Regulated autonomy – ein neues Autonomiekonzept?
d) Schlussfolgerung
II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte
1. Vertragsfreiheit als Teil unternehmerischer Freiheit gem. Art. 16 GRC
2. Vertragsfreiheit als Teil weiterer Grundrechte
3. Vertragsfreiheit und allgemeiner Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
4. Vertragsfreiheit und Grundfreiheiten
III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte
1. Einschränkung der Vertragsfreiheit durch Wirkung der EU-Grundrechte selbst
a) Gleichbehandlungsrechte
b) Freiheitsrechte
c) Soziale Rechte des Solidaritäts-Titels der Charta
2. EU-Grundrechte und die Rechtfertigung von Regulierung
IV. Zusammenfassung
§ 7 Private Macht
I. Machttheorien
1. Klassische Machttheorie: Max Weber und Franz Böhm
2. Weitere Dimensionen der Macht: Bachrach, Baratz, Lukes
3. Macht ist überall: Foucault
4. Modaler Machtbegriff als Mittelweg: Luhmann
II. Macht und Vertragstheorie
1. Vertragstypen aus Sicht der Neuen Institutionenökonomik
a) Ökonomischer Hintergrund
b) Märkte, Hybride, Unternehmen
2. Typische Machtstrukturen in Vertragsverhältnissen
a) Austauschverträge
aa) Bedeutung vollkommenen Wettbewerbs
bb) Allgemeine Geschäftsbedingungen
cc) Vertragspflichten als Machtquellen
b) Langzeitverträge
c) Hierarchien
d) Einige Erkenntnisse
III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht
1. Ermöglichung von Macht als vertragsfunktionale Notwendigkeit
2. Regulierung von Macht in verschiedenen Vertragstypen und -phasen
a) Austauschverträge
b) Sonderfall AGB
c) Langzeitverträge
d) Hierarchien
IV. Macht und EU-Grundrechte im Vertragsrecht
1. Macht in der Rechtsprechung des EuGH
2. Macht als Kriterium bei der Anwendung der Grundrechte
a) Macht ist keine Voraussetzung für die Anwendung der Grundrechte im Vertragsrecht
b) Regulative Tendenzen der Berücksichtigung von Macht in der Abwägung
V. Zusammenfassung
§ 8 Einzelne Impulse und Potenziale in Teilgebieten des Vertragsrechts
I. Antidiskriminierungsrecht
1. Direkte Wirkung der Diskriminierungsverbote und Stärkung des Sekundärrechts
2. Dogmatisches Labor
II. Arbeitsrecht
1. Zweifelhaftigkeit der unmittelbaren Anwendung sozialer Grundrechte
2. Erweiternde und begrenzende Einflüsse auf regulative Vorschriften
3. Grundfreiheiten und Grundrechte im Individualarbeitsrecht
III. Verbraucherrecht, insbesondere Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen
1. Verstärkung des sekundärrechtlichen Schutzes
2. Keine Einschränkungen bisheriger Regulierung
IV. Datenschutzrecht, Handelsvertreterrecht, Versicherungsvertragsrecht
V. Zusammenfassung
§ 9 Allgemeine Tendenzen: Marktparadigma der EU-Grundrechte im Vertragsrecht
I. Narrative auf nationalstaatlicher Ebene
II. Einschätzungen allgemeiner Tendenzen der EU-Grundrechte
III. Dominanz der Marktlogik: ein Paradigma und seine Muster in der Rechtsprechung des EuGH
1. Idee des Markparadigmas
2. Kristallisationspunkte in der Rechtsprechung des EuGH
a) Betonung formaler Vertragsfreiheit
b) Fehlende Wirkung sozialer Grundrechte
c) Koinzidenz von grundrechtlicher Regulierung und Marktstörung
d) Begrenzung der Grundrechte durch Grundfreiheiten
3. Erklärungsansätze
IV. Zusammenfassung
Teil 5. Prozessuales
§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung bei der Verwirklichung der EU-Grundrechte
I. Aufgabenteilung zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten im Allgemeinen
1. Nationale Gerichte als Grundrechts-Anwender und Fallentscheider
2. EuGH als oberstes Gericht und Integrator
3. Variable Spezifizität der Vorgaben durch den EuGH
II. Spezifizität der EuGH-Vorgaben zu EU-Grundrechten im Privatrecht
1. Ergebnisvorgabe
2. Anleitung und punktuelle Vorgaben
3. Zurückhaltung und Überantwortung an das nationale Gericht
III. Vorhandene und nichtvorhandene Gestaltungsspielräume nationaler Gerichte: Gründe und Konsequenzen
1. Gründe
a) Einheitlichkeit des Unionsrechts
b) Information und Vorlagefragen
c) Normen und Verträge
d) Zurückhaltung des EuGH und sensible Rechtsmaterien
e) Führungsrolle des Unionsrechts
2. Implikationen und Bewertung
IV. Zusammenfassung
Schlüsse
1. Grundrechte
2. Breite
3. Tiefe
4. Ausgangspunkt
5. Maßstäbe
6. Vertragstheorie
7. Privatautonomie
8. Private Macht
9. Unterschiede
10. Paradigma
11. Gerichte
12. Pluralistisches Vertragsrecht
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister

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Studien zum Privatrecht Band 58

Max Fabian Starke

EU-Grundrechte und Vertragsrecht

Mohr Siebeck

Max Fabian Starke, geboren 1986; Studium in Münster und Sevilla; 2012 Erste juristische Prüfung; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin; 2014 LL.M. in Cambridge; 2016 Promotion; seit 2015 Referendar am Kammergericht Berlin.

e-ISBN PDF 978-3-16-154978-6 ISBN 978-3-16-154977-9 ISSN 1867-4275 (Studien zum Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und gebunden.

Vorwort Dies ist meine Dissertation, die im Wesentlichen zwischen November 2012 und Oktober 2015 in Berlin entstanden ist. Ich war in dieser Zeit Mitarbeiter an der Humboldt-Universität und durfte dieses Buch unter privilegierten Bedingungen schreiben. Hierfür bin ich sehr dankbar. Einen inspirierenderen Ort als die Juristische Fakultät Unter den Linden hätte ich mir nicht wünschen können. Prof. Dr. Dr. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley) hat mich interessiert und ermutigend betreut und mir dabei alle Freiheiten gelassen. 2013/14 konnte ich ein Masterstudium an der University of Cambridge absolvieren, wo ich von meinem dortigen Betreuer Professor Simon Deakin viel für diese Schrift gelernt habe. Von der Studienstiftung des deutschen Volkes erhielt ich ein großzügiges Promotionsstipendium. Meine Freundin Lisa hat mir Rückhalt und Unterstützung gegeben und meine geistigen Abwesenheiten geduldig ertragen. Dieses Buch behandelt ein Thema, in dem sich viele Diskurse treffen. Es soll helfen sie zu verknüpfen und auch den wirtschaftlichen und politischen Kontext der wesentlichen juristischen Aspekte zumindest in Ansätzen reflektieren. Sein Schwerpunkt liegt dabei im Privatrecht. Ein stärkerer Austausch über Fach- und Disziplingrenzen birgt sicher noch große Potenziale. Ich denke, dass man solch grundsätzliche Fragen der in unruhige Gewässer geratenen europäischen Integration mit dogmatischen Mitteln allein nicht angemessen bewältigen kann. Von Freunden und Kollegen habe ich viele hilfreiche Kommentare, Kritik und Anregungen erhalten. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Martin Eifert, LL.M. (Berkeley), Tim Engel, LL.M. (London), Philipp Hacker, LL.M. (Yale), Lisa Lueg, LL.M. (Cambridge), Prof. Dr. Hans-W. Micklitz, Michael W. Müller, LL.M. (Cambridge), Dr. Julius Städele, LL.M. (Cambridge), Paul Steinbach und Lars Tölke. Prof. Dr. Eva Inés Obergfell hat in kurzer Zeit das Zweitgutachten angefertigt. Prof. Dr. Nils Jansen hat während meines Studiums in Münster mein Interesse für das europäische Privatrecht geweckt. Dank gilt auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie den Kanzleien Freshfields Bruckhaus Deringer und GSK Stockmann + Kollegen, die mein Studium in Cambridge durch großzügige Stipendien ermöglicht haben. Für den Druck des Buches erhielt ich wertvolle finanzielle Unterstützung durch die Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg,

VI

Vorwort

und die Studienstiftung ius vivum, Kiel. Alle Unvollkommenheiten dieser Schrift gehen natürlich auf mich. Das Manuskript berücksichtigt Urteile und Literatur, die bis Oktober 2015 veröffentlicht wurden. Einzelne Quellen konnten bis Juni 2016 aufgenommen werden. Die Disputation des Dissertationsverfahrens an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin fand im Mai 2016 statt. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, die mich immer unterstützt haben und immer für mich da waren. Berlin, im Sommer 2016

Max Fabian Starke

Inhaltsübersicht Vorwort .......................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ......................................................................................... IX Einführung ...................................................................................................... 1

Teil 1. Grundlagen § 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht ..............................13 § 2 Bestand der EU-Grundrechte .................................................................57 § 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem ................................................78

Teil 2. Rechtsprechung § 4 Entscheidungen des EuGH zu EU-Grundrechten und Privatrecht ........119

Teil 3. Struktur § 5 Dogmatische Struktur der Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht .......................................................................................171

Teil 4. Inhalt § 6 Privatautonomie ...................................................................................243 § 7 Private Macht .......................................................................................276 § 8 Einzelne Impulse und Potenziale in Teilgebieten des Vertragsrechts ..330

VIII

Inhaltsübersicht

§ 9 Allgemeine Tendenzen: Marktparadigma der EU-Grundrechte im Vertragsrecht ...................................................................................350

Teil 5. Prozessuales § 10 Gerichtliche Aufgabenteilung bei der Verwirklichung der EU-Grundrechte .............................................................................373

Schlüsse .......................................................................................................397 Literaturverzeichnis .....................................................................................409 Sach- und Personenregister ..........................................................................443

Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... V Inhaltsübersicht ............................................................................................ VII Einführung ...................................................................................................... 1 1. Dynamiken und Dimensionen .............................................................. 1 2. Ziele und Begrenzungen ....................................................................... 3 3. Methoden und Überblick ...................................................................... 6

Teil 1. Grundlagen § 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht .............................13 I.

Vertrag und Vertragsfunktionen ..............................................................14 1. Tatbestand des Vertrages ..................................................................14 2. Funktionen des Vertrages .................................................................17 a) Selbstbestimmung .........................................................................18 b) Gerechter Austausch .....................................................................20 c) Effizienz .......................................................................................23 d) Markt ............................................................................................25 e) Kooperation ..................................................................................28

II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen ...........................................31 1. Vertragsrecht im Rechtssystem .........................................................32 2. Funktionen des Vertragsrechts ..........................................................35 a) Ermöglichung ...............................................................................36 b) Regulierung ..................................................................................38 III. Europäisches Vertragsrecht und seine Funktionen ..................................44 1. Quellen und Erscheinungsform des europäischen Vertragsrechts .....45 2. Funktionen des europäischen Vertragsrechts ....................................51 IV. Zusammenfassung ...................................................................................55

X

Inhaltsverzeichnis

§ 2 Bestand der EU-Grundrechte .................................................................57 I.

Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union .............58

II. Grundrechtecharta ...................................................................................62 1. Inhalt im Überblick ...........................................................................62 2. Grundrechte und Grundsätze ............................................................65 III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze und ihr Verhältnis zur Charta ................................................................................................67 1. Fortbestehende Relevanz in gerichtlichen Entscheidungen ..............67 2. Bewertung und Diskussion ...............................................................70 IV. Grundfreiheiten als EU-Grundrechte? .....................................................75 V. Zusammenfassung ...................................................................................77 § 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem .................................................78 I.

Anwendungsbereich der EU-Grundrechte ...............................................78 1. Anwendungsbereich der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze ............................................................81 a) Administrative und legislative Umsetzungsakte ...........................82 b) Einschränkung von Grundfreiheiten .............................................83 c) Weitere von spezifischem Unionsrecht geregelte Sachverhalte ....86 2. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta .....................................90 a) Die Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 GRC ........................................90 b) Der Fall Åkerberg Fransson .........................................................93 c) Kritik daran ..................................................................................95 d) Konkretisierungen ........................................................................96 3. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte im Vertragsrecht .............99

II. Verhältnis zu nationalen Grundrechten .................................................102 1. Alternativität zwischen nationalen und EU-Grundrechten ..............103 2. Überschneidung zwischen nationalen und EU-Grundrechten .........106 a) Gründe für Überschneidungen ....................................................106 b) Verhältnis bei Überschneidungen ...............................................107 III. Verhältnis zur EMRK ............................................................................111 1. Handlungen der Mitgliedstaaten .....................................................111 2. Handlungen der Union ....................................................................114

Inhaltsverzeichnis

XI

IV. Zusammenfassung .................................................................................115

Teil 2. Rechtsprechung § 4 Entscheidungen des EuGH zu EU-Grundrechten und Privatrecht .......119 I.

Antidiskriminierungsrecht .....................................................................121 1. Mangold ..........................................................................................121 2. Kücükdeveci ...................................................................................123 3. Test-Achats .....................................................................................125 4. Prigge .............................................................................................127 5. HK Danmark ..................................................................................128

II. Arbeitsrecht ...........................................................................................130 1. Werhof ............................................................................................130 2. Viking .............................................................................................132 3. Laval ...............................................................................................134 4. KHS ................................................................................................135 5. Dominguez .....................................................................................137 6. Heimann und Lock .........................................................................138 7. Alemo Herron .................................................................................140 8. AMS ...............................................................................................141 9. Fenoll ..............................................................................................143 III. Verbraucherrecht ...................................................................................145 1. McDonagh v. Ryanair .....................................................................145 2. Kušionová .......................................................................................147 3. Einige kurz skizzierte Fälle außerhalb des materiellen Rechts: Aziz, Sánchez Morcillo und Pohotovost’........................................149 IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz .....................................150 1. Promusicae .....................................................................................150 2. Scarlet Extended .............................................................................152 3. SABAM v. Netlog ..........................................................................154 4. DR und TV2 Danmark ....................................................................155 5. Sky Österreich ................................................................................156 6. Telekabel ........................................................................................158 7. Google Spain ..................................................................................160 8. Deckmyn ........................................................................................163 V. Sonstiges ...............................................................................................164 1. Kokopelli ........................................................................................164

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Einige kurz genannte, doch schlussendlich nicht relevante Fälle ...166 a) Rodríguez Caballero ...................................................................166 b) Deutsches Weintor .....................................................................167 c) Antidiskriminierungsfälle ...........................................................167

Teil 3. Struktur § 5 Dogmatische Struktur der Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht ......................................................................................171 I.

Direkte und indirekte Wirkung: Einordnung in die allgemeine Dogmatik der Wirkungen des Unionsrechts ..........................................173 1. Allgemeine europarechtliche Dogmatik der Wirkungen des Unions- und insbesondere des Primärrechts .............................173 a) Direkte Wirkung: unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des Primärrechts .........................................................................174 aa) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit ............175 bb) Vorrang des Primärrechts vor nationalem Recht und vor abgeleitetem Unionsrecht ....................................................177 b) Indirekte Wirkung: Einfluss auf die Auslegung anderer Rechtssätze .................................................................................179 aa) Primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts ...........179 bb) Primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts ........181 cc) Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts? ...........182 dd) Primärrecht als Argument jenseits der Konformitätsanforderung .....................................................182 2. Indirekte Wirkung der EU-Grundrechte: Einfluss auf die Auslegung anderer privatrechtlicher Rechtssätze ...........................183 a) Objekte der Wirkung – Gegenstände der Auslegung ..................183 aa) Sekundärrechtliches Privatrecht ...........................................183 bb) Privatrechtsrelevantes Primärrecht .......................................186 cc) Nationales Privatrecht ..........................................................187 dd) Privates Recht: Verträge ......................................................189 b) Tiefenstufen der grundrechtlichen Argumentation bei der Auslegung anderer Normen ........................................................192 aa) Bloße Unterstreichung oder Betonung ..................................192 bb) Zusätzliche Argumente und Wertungen in der Auslegung ...193 cc) Vollständige Grundrechtsprüfung .........................................194 3. Direkte Wirkung der EU-Grundrechte: Unmittelbare Anwendung im Privatrecht .................................................................................195 a) Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Privatrecht durch den EuGH ......................195

Inhaltsverzeichnis

XIII

b) Einschränkende Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit nach dem Urteil AMS .......................................198 c) Unmittelbare Anwendbarkeit und die Offenheit der Adressatenfrage – die Missverständlichkeit des direct horizontal effect ...............................................................200 II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte ..........................................202 1. Anhaltspunkte aus der Rechtsprechung des EuGH .........................202 2. Meinungsbild in der Literatur und bei den Generalanwälten ..........204 3. Bewertung und Bedeutung der Frage ..............................................207 III. Funktionen der EU-Grundrechte und ihre strukturelle Bedeutung im Vertragsrecht .........................................................................................209 1. Unterscheidung von Abwehr- und Schutzfunktion .........................210 a) Differenzierung im deutschen Recht und bei der EMRK ...........210 b) Funktionen der EU-Grundrechte ................................................213 aa) Aussagen der Charta .............................................................213 bb) Rechtsprechung des EuGH ...................................................214 2. Abwehr- und Schutzfunktion der EU-Grundrechte und Privatrechtswirkung ........................................................................217 a) Dogmatische Konstruktion nach Canaris für die Grundrechte des Grundgesetzes und für die Europäischen Grundfreiheiten ...217 b) Übertragung auf die Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht .............................................................................219 c) Spezifische Schwierigkeiten im Vertragsrecht ...........................221 3. EU-Grundrechte und Vertragsrechtsfunktionen: Ermöglichung und Regulierung ......................................................224 IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte: Theorie ihrer inneren Struktur und deren Bedeutung im Vertragsrecht ...................................227 1. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte ........................................228 a) Die Theorie Alexys .....................................................................228 b) Übertragbarkeit auf EU-Grundrechte .........................................231 2. Prinzipiencharakter und Privatrechtswirkung der EU-Grundrechte........................................................................233 a) Das Modell Alexys .....................................................................234 b) Übertragbarkeit auf EU-Grundrechte und ihre Privatrechtswirkung .................................................................236 V. Zusammenfassung .................................................................................238

XIV

Inhaltsverzeichnis

Teil 4. Inhalt § 6 Privatautonomie ...................................................................................243 I.

Konzept der Privatautonomie und EU-Grundrechte ..............................245 1. Formale und materiale Privatautonomie .........................................246 2. Konzept der Privatautonomie und EU-Grundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH .......................................................249 a) Vertragsfreiheit und Chartagrundrechte......................................249 b) Vertragsfreiheit in der Rechtsprechung zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Grundsätzen des Zivilrechts ..................251 c) Regulated autonomy – ein neues Autonomiekonzept? ...............253 d) Schlussfolgerung ........................................................................256

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte ..............................257 1. Vertragsfreiheit als Teil unternehmerischer Freiheit gem. Art. 16 GRC ...........................................................................257 2. Vertragsfreiheit als Teil weiterer Grundrechte ...............................260 3. Vertragsfreiheit und allgemeiner Grundsatz der Verhältnismäßigkeit..................................................................263 4. Vertragsfreiheit und Grundfreiheiten ..............................................264 III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte ..............266 1. Einschränkung der Vertragsfreiheit durch Wirkung der EU-Grundrechte selbst..............................................................267 a) Gleichbehandlungsrechte ............................................................267 b) Freiheitsrechte ............................................................................270 c) Soziale Rechte des Solidaritäts-Titels der Charta .......................272 2. EU-Grundrechte und die Rechtfertigung von Regulierung .............273 IV. Zusammenfassung .................................................................................274 § 7 Private Macht.......................................................................................276 I.

Machttheorien .......................................................................................279 1. Klassische Machttheorie: Max Weber und Franz Böhm .................280 2. Weitere Dimensionen der Macht: Bachrach, Baratz, Lukes ...........282 3. Macht ist überall: Foucault .............................................................283 4. Modaler Machtbegriff als Mittelweg: Luhmann .............................285

II. Macht und Vertragstheorie ....................................................................289 1. Vertragstypen aus Sicht der Neuen Institutionenökonomik ............292

Inhaltsverzeichnis

XV

a) Ökonomischer Hintergrund ........................................................292 b) Märkte, Hybride, Unternehmen ..................................................293 2. Typische Machtstrukturen in Vertragsverhältnissen .......................296 a) Austauschverträge ......................................................................297 aa) Bedeutung vollkommenen Wettbewerbs ..............................298 bb) Allgemeine Geschäftsbedingungen ......................................301 cc) Vertragspflichten als Machtquellen ......................................302 b) Langzeitverträge .........................................................................303 c) Hierarchien .................................................................................306 d) Einige Erkenntnisse ....................................................................309 III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht ...............................................310 1. Ermöglichung von Macht als vertragsfunktionale Notwendigkeit ..311 2. Regulierung von Macht in verschiedenen Vertragstypen und -phasen .............................................................312 a) Austauschverträge ......................................................................312 b) Sonderfall AGB ..........................................................................314 c) Langzeitverträge .........................................................................315 d) Hierarchien .................................................................................316 IV. Macht und EU-Grundrechte im Vertragsrecht .......................................318 1. Macht in der Rechtsprechung des EuGH ........................................319 2. Macht als Kriterium bei der Anwendung der Grundrechte .............323 a) Macht ist keine Voraussetzung für die Anwendung der Grundrechte im Vertragsrecht ....................................................323 b) Regulative Tendenzen der Berücksichtigung von Macht in der Abwägung ........................................................................324 V. Zusammenfassung .................................................................................328 § 8 Einzelne Impulse und Potenziale in Teilgebieten des Vertragsrechts ..330 I.

Antidiskriminierungsrecht .....................................................................330 1. Direkte Wirkung der Diskriminierungsverbote und Stärkung des Sekundärrechts .........................................................................331 2. Dogmatisches Labor .......................................................................333

II. Arbeitsrecht ...........................................................................................335 1. Zweifelhaftigkeit der unmittelbaren Anwendung sozialer Grundrechte ....................................................................................336 2. Erweiternde und begrenzende Einflüsse auf regulative Vorschriften .............................................................338

XVI

Inhaltsverzeichnis

3. Grundfreiheiten und Grundrechte im Individualarbeitsrecht ..........340 III. Verbraucherrecht, insbesondere Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen ................................................341 1. Verstärkung des sekundärrechtlichen Schutzes ..............................341 2. Keine Einschränkungen bisheriger Regulierung .............................344 IV. Datenschutzrecht, Handelsvertreterrecht, Versicherungsvertragsrecht ..346 V. Zusammenfassung...................................................................................349 § 9 Allgemeine Tendenzen: Marktparadigma der EU-Grundrechte im Vertragsrecht .......................................................................................350 I.

Narrative auf nationalstaatlicher Ebene .................................................351

II. Einschätzungen allgemeiner Tendenzen der EU-Grundrechte ..............355 III. Dominanz der Marktlogik: ein Paradigma und seine Muster in der Rechtsprechung des EuGH ....................................................................358 1. Idee des Markparadigmas ...............................................................358 2. Kristallisationspunkte in der Rechtsprechung des EuGH ...............360 a) Betonung formaler Vertragsfreiheit ............................................360 b) Fehlende Wirkung sozialer Grundrechte ....................................361 c) Koinzidenz von grundrechtlicher Regulierung und Marktstörung .......................................................................362 d) Begrenzung der Grundrechte durch Grundfreiheiten ..................365 3. Erklärungsansätze ...........................................................................366 IV. Zusammenfassung .................................................................................370

Teil 5. Prozessuales § 10 Gerichtliche Aufgabenteilung bei der Verwirklichung der EU-Grundrechte ..................................................................................373 I.

Aufgabenteilung zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten im Allgemeinen .....................................................................................374 1. Nationale Gerichte als Grundrechts-Anwender und Fallentscheider .........................................................................375 2. EuGH als oberstes Gericht und Integrator ......................................377

Inhaltsverzeichnis

XVII

3. Variable Spezifizität der Vorgaben durch den EuGH .....................381 II. Spezifizität der EuGH-Vorgaben zu EU-Grundrechten im Privatrecht .383 1. Ergebnisvorgabe .............................................................................383 2. Anleitung und punktuelle Vorgaben ...............................................385 3. Zurückhaltung und Überantwortung an das nationale Gericht ........387 III. Vorhandene und nichtvorhandene Gestaltungsspielräume nationaler Gerichte: Gründe und Konsequenzen ...................................387 1. Gründe ........................................................................................... 388 a) Einheitlichkeit des Unionsrechts ................................................388 b) Information und Vorlagefragen ..................................................389 c) Normen und Verträge .................................................................390 d) Zurückhaltung des EuGH und sensible Rechtsmaterien .............390 e) Führungsrolle des Unionsrechts ..................................................391 2. Implikationen und Bewertung.........................................................392 IV. Zusammenfassung .................................................................................395 Schlüsse .......................................................................................................397 1. Grundrechte .......................................................................................397 2. Breite .................................................................................................398 3. Tiefe ..................................................................................................399 4. Ausgangspunkt ..................................................................................399 5. Maßstäbe ...........................................................................................400 6. Vertragstheorie ..................................................................................401 7. Privatautonomie ................................................................................402 8. Private Macht ....................................................................................403 9. Unterschiede......................................................................................404 10. Paradigma........................................................................................405 11. Gerichte ...........................................................................................406 12. Pluralistisches Vertragsrecht ...........................................................407 Literaturverzeichnis .....................................................................................409 Sach- und Personenregister ..........................................................................443

Einführung 1. Dynamiken und Dimensionen Dynamiken und Dimensionen

Die marktgeleitete europäische Integration hat mit der Grundrechtecharta ein neues Gesicht erhalten, welches das Vertragsrecht nicht unberührt lässt. Die neuere Rechtsprechungstätigkeit des EuGH zeigt das deutlich: Sie geht zunehmend auf Grundrechte auch im vertragsrechtlichen Kontext ein, etwa auf das Wohnungsgrundrecht von Verbrauchern,1 das Urlaubsgrundrecht im Arbeitsverhältnis,2 Urheberrechte und Persönlichkeitsschutz im Online-Bereich3 und Gleichbehandlungsgebote in Versicherungsverträgen.4 Föderale, institutionelle und ökonomische Spannungsfelder tun sich auf. So wie sich mit neuen Normen und neuer Rechtsprechung neue Rechtsprobleme stellen, sind sie in diesem Fall doch Facetten bekannter Dynamiken.5 Bereits seit längerer Zeit prägt die Europäisierung die Entwicklung des Vertragsrechts. Die Europäische Union ist eng mit dem Projekt des Binnenmarktes verknüpft, der Vertrag „die juristische Seite der Marktgemeinschaft“6 und so verwundert es nicht, dass sich die Schaffung eines Binnenmarktes normsetzenderweise insbesondere im Vertragsrecht niedergeschlagen hat. Zu den großen Strömungen des vertragsrechtlichen Wandels zählt daneben die Konstitutionalisierung, im Sinne der Wirkung oder Ausstrahlung verfassungsrechtlicher Normen gerade auch in dieses Rechtsgebiet. Sie resultiert aus sich wandelnder Verfassungsauslegung, und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten.7 Schon früh sind diese beiden Dynamiken in 1

Etwa EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová). Etwa EuGH Rs. C-214/10 (KHS); EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll). 3 Etwa EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel). 4 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats). 5 Zu den großen, hier besprochenen Dynamiken, welche den Wandel des Vertragsrechts prägen, etwa S. Grundmann, Zukunft des Vertragsrechts, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (2010), 1015; U. Blaurock, Obligationenrecht im 21. Jahrhundert – Materialisierung, Konstitutionalisierung und Europäisierung, in: U. Blaurock/J. Hager (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 9. 6 So M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 401. 7 S. bloß die umfassende rechtsvergleichende Studie bei G. Brüggemeier et al. (Hg.), Fundamental Rights and Private Law in the European Union (2010). 2

2

Einführung

gebündelter Form aufgetreten: 1976 gab der EuGH im Fall Defrenne mit dem Gebot der Nichtdiskriminierung aufgrund des Geschlechts eine primärrechtliche Vorschrift als zwingendes Vertragsrecht vor.8 Spätestens seit den 1990er Jahren ist klar, dass auch die Grundfreiheiten privatrechtliche, inklusive vertragsrechtlicher, Implikationen besitzen. Der Einfluss europäischen Verfassungsrechts (wenn man das Primärrecht so nennen will)9 auf das Vertragsrecht ist Europäisierung und Konstitutionalisierung desselben zugleich. Durch die Grundrechtecharta haben sich die Potenziale einer solchen europäischen Konstitutionalisierung (oder: konstitutionellen Europäisierung) vervielfacht und hat sich eine neue Grundsatzfrage in der Rechtswissenschaft aufgetan: Wie halten es die EU-Grundrechte mit dem Vertragsrecht? 10 Formal bedeuten Europäisierung und Konstitutionalisierung, dass nunmehr Rechtsnormen im und als Vertragsrecht relevant sind, die es vormals nicht waren. Aus dogmatischer Perspektive verlangt dies, das Verhältnis dieser Regeln zum überkommenen Normbestand zu ordnen und in ein (möglichst) widerspruchsloses Ganzes zu bringen. Die Methoden verfassungskonformer und europarechtskonformer Auslegung sind ein Zeugnis davon. Insofern ist die Rechtswissenschaft vor allem als Ordnungswissenschaft gefordert.11 Die Neuartigkeit von Normen an sich sagt dabei nichts darüber aus, wie sich das Vertragsrecht inhaltlich verändert. In substanzieller Hinsicht sind Europäisierung und Konstitutionalisierung häufig mit einer dritten Dynamik, dem Prozess der Materialisierung des Vertragsrechts, verknüpft worden. 12 Damit meint man gemeinhin, an die Stelle eines rein formal-liberalen Vertragsrechts sei vermehrt ein material-ausgleichendes Vertragsrecht getreten, das tatsächlicher Entscheidungsfreiheit und gerechtem Interessenausgleich diene oder jedenfalls zu dienen suche, und dass gerade europa- und verfassungsrechtliche Einflüsse hierzu beigetragen haben.13 Es drängt sich die Frage auf, ob sich dieses Narrativ nun fortschreiben lässt, ob der Einfluss der EUGrundrechte also die nächste Zündstufe in einem anhaltenden Materialisierungsprozess auslöst oder ob die Entwicklung unter der Handschrift des 8

EuGH Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455. Etwa der EuGH will: Rs. 294/83 (Les Verts), Slg. 1986, 1339 Rn. 23 (Verträge als „Verfassungsurkunden“). 10 Von „Gretchenfrage“ und „Jahrhundertproblematik“ bezüglich des Zusammenhanges von (deutschen) Grundrechten und Privatrecht spricht K.-H. Fezer, Das Menschenbild der Verfassung im Wettbewerbsrecht, JZ 1998, 267. 11 Zur Rechtswissenschaft als Ordnungswissenschaft W. Ernst, Gelehrtes Recht. Jurisprudenz aus der Sicht des Zivilrechtslehrers, in: C. Engel/W. Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007), 3. 12 Dazu H.-W. Micklitz, Kapitel 8. Konstitutionalisierung, Regulierung und Privatrecht, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 623. 13 C.-W. Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273. 9

2. Ziele und Begrenzungen

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EuGH im Kontext der europäischen Marktintegration eine andere Richtung nimmt. Schlagworte wie Europäisierung, Konstitutionalisierung und Materialisierung stellen juristische Rekonstruktionen von Bewegungen innerhalb politischer, institutioneller und wirtschaftlicher Spannungsfelder dar. Im Falle der Europäisierung betrifft dies das Verhältnis zwischen nationaler und supranationaler Lenkungskompetenz. Die Konstitutionalisierung betrifft die Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichten. Materialisierung schließt Fragen der Wirtschaftsordnung ein, konkret das Verhältnis zwischen laissez faire und Regulierung.14 Verschiebungen in diesen Spannungsfeldern, Dynamiken innerhalb dieser Dimensionen, haben gleichzeitig politische, wirtschaftliche und juristische Implikationen. Dies ist der Grund dafür, dass die Frage der Wirkung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht eine Schnittstelle mehrerer Diskurse darstellt. Es begegnen sich hier nicht nur Privatrecht, öffentliches Recht und Europarecht, sondern es spielen auch vertragstheoretische, staatstheoretische und wirtschaftstheoretische Erwägungen in diese Thematik herein, mitsamt jeweilig widerstreitenden Interessen und Ideen. Diesem Hintergrund kann man sich auch als Jurist schwer verschließen, will man sich nicht zum formaljurisprudenziellen Instrument angeblich ausgeblendeter politischer Kräfte machen: „Die vermeintliche Wertfreiheit des juristischen Denkens ist notwendig ideologieanfälliger als die Freiheit des Richters zur Wertung [...].“15 Der Hintergrund solch großer Begriffe bedeutet keineswegs, dass die Wirkung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht lediglich von akademischem oder theoretischem Interesse sei. Die Frage, ob und wie diese Grundrechte anzuwenden sind, betrifft potentiell jeden Richter in Europa,16 der über vertragliche Streitigkeiten zu entscheiden hat, und jeden Rechtsberater, der alle Argumentationsmöglichkeiten ausschöpfen will. Die genannten Dynamiken erfassen unweigerlich alltägliche Einzelfälle und machen praktisch brauchbare Lösungsmuster erforderlich.

2. Ziele und Begrenzungen 2. Ziele und Begrenzungen

Es ist das Ziel dieser Schrift, sich Antworten auf die angedeuteten Fragen zu nähern und Aufschluss über die Wirkungen der EU-Grundrechte im Vertrags14

Schon voreingenommen wäre es, hier vom Verhältnis zwischen Freiheit und Regulierung zu sprechen. Je nach Freiheitsbegriff kann Regulierung auch zu mehr Freiheit führen – vgl. dazu auch § 6 I 1. 15 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), 119. 16 Für Bezugnahmen auf die Grundrechtecharta durch deutsche Gerichte s. z.B. BGH BeckRS 2011, 06487; BAG NZA 2011, 860.

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Einführung

recht zu gewinnen. Die Weite der behandelten Felder, EU-Grundrechte einerseits und Vertragsrecht andererseits, macht eine gewisse Beschränkung notwendig: Es kann nicht Anspruch sein, für alle denkbaren Probleme und Konflikte Lösungen anzubieten oder auch nur anzureißen. Die Abstraktheit der Fragestellung verlangt nach einer Abstrahierungshöhe auch in der Antwort, auf der spätere, konkretere Behandlungen aufbauen könnten. Das Ziel ist daher eine Darstellung mit Grundriss- beziehungsweise Modellcharakter.17 Diese Schrift soll sich soll auf jene Punkte konzentrieren, die entscheidend, aber auch hinreichend sind, um ein tiefgehenderes Verständnis der Thematik im Ganzen zu ermöglichen. Sie soll die zentralen strukturellen und inhaltlichen Fragen behandeln, sie aber nicht für jede mögliche Fallkonstellation ausführen. Im besten Fall bietet sie, bildlich gesprochen, gleichzeitig ein Raster zur Orientierung wie auch die argumentativen Bausteine, die in diesem Raster typischerweise relevant werden. Eine Herausarbeitung der dogmatischen Strukturen, beispielsweise anhand von Begriffen wie mittelbarer und unmittelbarer Drittwirkung, ist im Kontext von Grundrechten und Privatrecht keineswegs von allen herbeigesehnt, sondern durchaus schon als „rather superfluous“ bezeichnet worden.18 Selbstverständlich wird eine Dogmatik, eine Argumentationsstruktur der Grundrechte im Vertragsrecht, nicht allein entscheidend für die Lösung konkreter Fälle sein. Es kommt vielmehr immer darauf an, diesen Rahmen beziehungsweise dieses System mit inhaltlichen Argumenten zu füllen. Solche inhaltlichen Argumente werden sich von Fall zu Fall, von Vertrag zu Vertrag, von Grundrecht zu Grundrecht unterscheiden. Will man aber die Rechtsanwendung so weit es geht rationalisieren, dann ist eine Struktur jedenfalls insoweit nützlich, wie sie inhaltliche Argumente praktisch handhabbar macht. Selbst wenn verschiedene Argumentationsstrukturen im Endeffekt bloß zu wechselnder Anordnung gleicher inhaltlicher Argumente und sogar zum gleichen Ergebnis führen sollten, haben sie doch die Bedeutung, einen Diskurs jener Argumente zu ermöglichen und zu erleichtern. Ist der Boden für einen Diskurs geglättet, lassen sich Reibungsverluste und die Gefahr des Aneinander-Vorbei-Redens verringern, ja durch eine effizientere Diskussion womöglich vernünftigere Ergebnisse finden. Gerade im Kontext des Mehrebenensystems kann Dogmatik hilfreich sein. Hier scheint der Bedarf nach Rechtswissenschaft als Ordnungswissenschaft besonders akut, aufgrund der Neuartigkeit mancher Probleme und der verhältnismäßig geringen Dichte von Vorarbeiten.19 Insbeson17 Der Begriff des Modells beinhaltet in diesem Sinne die Idee der vereinfachten Darstellung, um das Verständnis von Zusammenhängen und Vorgängen zu verbessern. 18 G. Brüggemeier/A.C. Ciacchi, Introduction, in: G. Brüggemeier et al. (Hg.), Fundamental rights and private law in the European Union II (2010), 1, 8. 19 Das Zusammenwirken von nationalem und europäischem Recht mache „systematische wissenschaftliche Ordnung noch wichtiger“, O. Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 41. Nach Josef Esser ist die Aufgabe der

2. Ziele und Begrenzungen

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dere die Herkunft von Juristen aus unterschiedlichen Rechtsordnungen macht einen Austausch und eine Verständigung darüber, was mit und in verschiedenen dogmatischen Strukturen gemeint ist, wertvoll. Es ist darüber hinaus das ausdrückliche Ziel, zusätzlich zur dogmatischen Struktur auch die inhaltliche Wirkung der EU-Grundrechte zu untersuchen, also der Frage nachzugehen, inwiefern und in welche Richtungen EUGrundrechte das Vertragsrecht substanziell verändern. Das bedeutet insbesondere zu fragen, welche Positionen und Interessen durch EU-Grundrechte besonders geschützt werden. Es bedeutet zu fragen, welche Auswirkungen EU-Grundrechte auf das Verhältnis zwischen laissez faire und Regulierung vertraglichen Austauschs haben. Dabei kann es wiederum nicht der Anspruch sein, jedes denkbare inhaltliche Kriterium, jede mögliche inhaltliche Tendenz aufzuzeigen. Es ist jedoch möglich, sich typischen Argumenten und Spannungen zu widmen und auf jene Vertragsverhältnisse etwas näher einzugehen, für welche die EU-Grundrechte aktuell überhaupt anwendbar sind. Mit einer Untersuchung des Einflusses auf das Vertragsrecht anstatt des gesamten Privatrechts lässt sich ein Zuschnitt auf spezifisch vertragsrechtliche Probleme erreichen. So wie das Vertragsrecht Bedingungen und Möglichkeiten wirtschaftlichen Austauschs vorgibt, handelt es sich beim Einfluss der EUGrundrechte in dieser Hinsicht um Aspekte der Wirtschaftsverfassung. 20 Da Fragen der Wirtschaftsverfassung ideologienahe Grundsatzfragen berühren, soll die Herangehensweise in dieser Schrift diesbezüglich mehr analytisch als wertend sein. Es ist zwar unmöglich (und auch keineswegs erwünscht), die normativen Aspekte auf null zu reduzieren. Die primäre Zielsetzung ist aber zu untersuchen, wie sich der inhaltliche Einfluss nach der Rechtsprechung des EuGH bisher darstellt und nicht, diese Rechtsprechung von einer bestimmten normativen Prämisse aus von Grund auf zu kritisieren. Ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit ist eine Verknüpfung von Diskursen. Als Schnittstellenthematik kann die Wirkung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht weder rein vertragsrechtlich noch etwa rein europarechtlich behandelt werden. Auch eine rein dogmatische Arbeit würde, angesichts der weitreichenden wirtschaftlichen und politischen Implikationen, zu kurz greifen. Dies erfordert zwar bisweilen Ausführungen, die Experten spezifischer Diskurse selbstverständlich erscheinen mögen. Da jedoch Selbstverständlichkeiten jenseits von Expertenzirkeln rapide abbrechen, ist es gewinnbringend, auch derartige Dinge zu besprechen. Gerade in der Kombination und Konfrontation, im Zusammendenken und der verbundenen Fortentwicklung unDogmatik gerade „die Bemühung um Zusammenschau und Funktionsverbesserung innerhalb mehrerer Rechtsmaterien- und ebenen“, J. Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, in: F. Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 517, 519. 20 Zu zwingendem Vertragsrecht allgemein als Element der Wirtschaftsverfassung M. Renner, Zwingendes transnationales Recht (2010), 35 ff.

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Einführung

terschiedlicher theoretischer und dogmatischer Ansätze liegt eine Chance für ein verbessertes Verständnis und für konzeptionelle Innovation. Zur Klarstellung sei schließlich noch dargelegt, was nicht Ziel und Gegenstand dieser Arbeit ist: Es soll nicht versucht sein, rechtsvergleichende Erkenntnisse zu gewinnen – es geht lediglich um den Bereich der EUGrundrechte, nicht aber anderer Grundrechtsordnungen. Eine detaillierte Studie universaler oder historischer Grundrechtstheorie kann auch nicht geleistet werden. Die Bearbeitung ist auf die Grundrechte der Europäischen Union beschränkt, wie sie sich aus Verträgen und Rechtsprechung des EuGH ergeben. Die Schrift ist auch nicht darauf zugeschnitten, Vorschläge für die Gesetzgebung anzubieten, wie die EU-Grundrechte umzusetzen seien. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, wie die Grundrechte sich im geltenden Gesetzesstand auswirken, und mithin um die – in der deutschen Rechtswissenschaft übliche – Perspektive des Richters statt der des Gesetzgebers.21

3. Methoden und Überblick 3. Methoden und Überblick

Diese Schrift gliedert sich in fünf Teile: Grundlagen, Rechtsprechung, Struktur, Inhalt und Prozessuales. Sie ist zum Teil dogmatische Untersuchung, zum Teil sozial- und wirtschaftstheoretisch angereicherte Analyse. Nur eine solche perspektivische und methodische Mischung, so die These, erlaubt die Hoffnung, dem Thema der EU-Grundrechte im Vertragsrecht, einem Schnittstellenthema in so vieler Hinsicht, gerecht zu werden. Die Darstellung beginnt grundlegend mit den Eckpfeilern des Themas: dem Vertragsrecht, den EU-Grundrechten und deren Stellung im Mehrebenensystem. Dieser erste, drei Kapitel umfassende Teil sagt noch recht wenig über das Verhältnis zwischen EU-Grundrechten und Vertragsrecht aus, sondern beschäftigt sich vor allem mit jedem für sich. Das Ziel ist zunächst, Vertrag und Vertragsrecht als Untersuchungsgegenstände abzugrenzen und ihre funktionalen Grundlagen aufzuzeigen (§ 1). Die funktionale Untersuchung schafft eine Erkenntnisbasis, um die Wirkung der EU-Grundrechte auf diesem Gebiet auch über reine Begriffsdogmatik hinaus nachvollziehen zu können. Gleichzeitig produziert sie ein Analyseraster, um insbesondere die inhaltlichen Einflüsse der Grundrechte später einzuordnen. Besonders relevant sind die Eigenheiten des europäischen Vertragsrechts, also des Unionsrechts, das Verträge betrifft. Da die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte die Europäisierung von Sachverhalten durch sonstiges Europarecht voraussetzt, bildet dieses gewissermaßen den Boden für Wirkung der Grundrechte und

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Zur grundlegenden Unterscheidung, das Recht aus der Perspektive des Richters oder des Gesetzgebers zu betrachten: H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), 1.

3. Methoden und Überblick

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seine funktionalen Eigenheiten, wie sich später zeigen wird, einen entscheidenden Faktor. Es folgt ein Überblick der EU-Grundrechte (§ 2). Nach einer Beschreibung ihrer historischen Entwicklung beinhaltet diese Darstellung insbesondere eine Skizze der Grundrechtecharta und der vom EuGH entwickelten Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze sowie des Verhältnisses dieser beiden Normgruppen zueinander. Auch dieses Kapitel grenzt außerdem den Untersuchungsgegenstand weiter ab und begründet den Ausschluss der näheren Untersuchung von Grundfreiheiten und EMRK. Den Abschluss des ersten Teils bildet dann die Verortung der so umrissenen EU-Grundrechte im Mehrebenensystem (§ 3). Zuvorderst gilt es den Anwendungsbereich der EUGrundrechte zu bestimmen, der seit längerem umstritten und entscheidend für ihre praktische Relevanz im Vertragsrecht ist. Als nächstes ist von Interesse, in welchem Verhältnis EU-Grundrechte zu nationalen Grundrechten stehen und welche Bedeutung letzteren für das Vertragsrecht verbleibt. Schlussendlich ist auch noch das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK zu behandeln. Im Anschluss an diese grundlegenden Ausführungen widmet sich der darauf folgende Teil (§ 4) spezifisch der Rechtsprechung des EuGH zu Grundrechten in privatrechtlichen Streitigkeiten. Er geht damit über das Vertragsrecht ins sonstige Privatrecht hinaus, um für die allgemeinen dogmatischen Strukturen so viele aussagekräftige Quellen wie möglich zu sammeln. Sein Zweck ist lediglich die Schilderung der Fälle, nicht aber ihre Analyse, Rekonstruktion oder Extrapolation. Hiermit soll zum einen eine transparente Diskussions- und Forschungsgrundlage geschaffen werden, auf der spätere Arbeiten zu ähnlichen Themen aufbauen könnten – die relevanten Fälle sollen möglichst „unverfälscht“ einsehbar sein. Zum anderen ermöglicht eine solche Urteilskompilation es für diese Schrift, die Entscheidungen in den anschließenden Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven analytisch zu durchschneiden. Der dritte Teil (§ 5) ist die erste Stufe der analytischen Verwertung der EuGH-Rechtsprechung und behandelt die Struktur der EU-Grundrechte im Privat- und insbesondere im Vertragsrecht. Dies beinhaltet die Frage nach dem Verhältnis der EU-Grundrechte zu anderen privatrechtlichen Normen, gewissermaßen die Struktur nach außen, sowie ihren inneren Aufbau, also die Struktur nach innen. Die Darstellung geht von allgemeinen Kategorien der Wirkungen des Unionsrechts aus, um dann zu prüfen, ob und wie weit nationale – insbesondere deutsche – Grundrechtsdogmatik für die Unionsgrundrechte im Vertragsrecht sinnvoll und treffend ist. Letzteres rechtfertigt sich daraus, dass diese auch im europäischen Diskurs einflussreich sind. Bezüglich der Grundrechtsfunktionen ist eine erste Verknüpfung mit den Funktionen des Vertragsrechts aus § 1 möglich. Am Ende dieses Kapitels soll eine Art argumentatives Raster stehen, das zwar noch nicht viel über die inhaltli-

8

Einführung

chen Einflüsse der EU-Grundrechte aussagt, aber ihre Wirkungen im Zusammenhang mit anderen Normen doch zu ordnen vermag. Die inhaltlichen Wirkungen behandeln dann die folgenden Kapitel des vierten Teils. Zuerst geht es um zwei Topoi, die schon nationale Debatten um die Grundrechte im Privatrecht geprägt haben und nun auch im europäischen Diskurs wieder eine prominente Rolle spielen: Privatautonomie (§ 6) und private Macht (§ 7). Bedeutet die Wirkung der EU-Grundrechte einen Schutz der Privatautonomie, ihre Einschränkung, gar ihre Aufhebung? Bedeutet sie eine Begrenzung privater Macht, ihre Auflösung oder fördert sie solche womöglich vielmehr? Während man hinsichtlich der Privatautonomie vor allem verschiedene juristische Konzepte von Privatautonomie auf ihren Zusammenhang mit EU-Grundrechten zu hinterfragen hat, erfordert die Diskussion privater Macht eine interdisziplinäre Herangehensweise. Da Macht kein etablierter juristischer Begriff ist, sucht die Arbeit in diesem Kapitel Erkenntnisse und Inspiration in benachbarten Sozialtheorien und strebt an, diese mittels der Brücke der Vertragstheorie mit der rechtlichen Behandlung von Macht zu verknüpfen. Zusammengenommen behandeln die §§ 6 und 7 den Einfluss von EU-Grundrechten auf Grundfragen des Vertragsrechts. Auf diese Kapitel folgend betrifft § 8 die Frage, welche unterschiedlichen Auswirkungen die EU-Grundrechte nach dem EuGH bisher in einzelnen Teilgebieten des Vertragsrechts haben und inwiefern sich diese unterscheiden. Insbesondere im Antidiskriminierungsrecht, im Verbraucherrecht und im Arbeitsvertragsrecht liegen diesbezüglich Erkenntnisse vor. In anderen Gebieten drängen sich Potenziale auf. Im Anschluss daran schließt eine These über allgemeine Tendenzen des Einflusses der EU-Grundrechte den inhaltlichen Teil ab. Was sich abzeichnet ist nicht einfach eine weitere Tendenz zur „Sozialdemokratisierung“ oder „Materialisierung“ des Vertragsrechts. Vielmehr erfolgt die Grundrechtswirkung nach dem EuGH, so die These, ganz im Sinne von auf EU-Ebene gängiger Marktlogik. Das Kapitel beleuchtet die Ausdrucksmuster eines solchen Paradigmas der Marktlogik und versucht, seine Hintergründe und Ursachen herauszuarbeiten. Der abschließende Teil der Arbeit (§ 10) widmet sich der prozessualen Verwirklichung der EU-Grundrechte. Er soll Aufschluss darüber geben, welche Gerichte mit welcher Aufgabenteilung die EU-Grundrechte zu behandeln haben. Inwiefern der EuGH oder nationale Richter entscheiden, bestimmt auch darüber, ob und inwieweit es im Bereich der Grundrechte – und damit bei absoluten Grundwerten der Rechtsordnung – eine europaweite Vereinheitlichung oder nationale Eigenständigkeit gibt. Es wird daher untersucht, welche Rolle nationalen Richtern bei der Anwendung der EU-Grundrechte zukommt, inwieweit der EuGH die Letztentscheidungskompetenz besitzt sowie ob, wie und in welchen Fällen er nationalen Richtern einen gewissen Abwägungsspielraum lässt.

3. Methoden und Überblick

9

Jedes der Kapitel bis auf § 4 enthält an seinem Ende eine Zusammenfassung von Erkenntnissen und sonstigen wichtigen Punkten. Am Ende der Arbeit stehen Schlüsse, welche diese Ergebnisse kombinieren und in ihren gegenseitigen Implikationen zuspitzen sollen.

1. Teil

Grundlagen

§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht Vertrag und Vertragsrecht sind Teile der Rechtsordnung. Als solche kann man sie von anderen Teilen abgrenzen und somit den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit isolieren – dies ist eines der Ziele in diesem Kapitel. Vertrag und Vertragsrecht haben daneben bestimmte Funktionen, die sich aus einer solchen begrifflichen und systematischen Bestandsaufnahme nicht ohne Weiteres erschließen. Sie reichen über den Bedeutungsgehalt praktischer Rechtsbegriffe hinaus und erstrecken sich in den philosophischen, gesellschaftlichen, ökonomischen Bereich. Für ein so grundlegendes Thema wie das der Grundrechte im Vertragsrecht lohnt es, sich mit diesen Funktionen zu beschäftigen. 1 Dies verdeutlicht zum einen den Kontext der Problematik. Zum anderen schafft es ein Analyseraster, anhand dessen die Implikationen der Grundrechtswirkungen aus vertragstheoretischer Sicht eingeordnet und differenziert werden können. 2 Darin liegt eine Erweiterung gegenüber primär grundrechtstheoretischen Perspektiven, wie sie häufig bei der Drittwirkungs1

Ähnlich auch D. Wielsch, The Function of Fundamental Rights in EU Private Law – Perspectives for the Common European Sales Law, 10 European Review of Contract Law (2014), 365; D. Wielsch, Grundrechte als Rechtfertigungsgebote im Privatrecht, AcP 213 (2013), 718. S. Arnold, Zum Verhältnis von Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und europäischem Vertragsrecht, in: S. Arnold (Hg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2014), 1 meint: „Die Suche nach den Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts muss die Grenzen der vertragsrechtlichen Dogmatik verlassen.“ In eine ähnliche Richtung ging eine Forderung Hönns bereits 1982: „Die Privatrechtsdogmatik hat sich aber darauf einzustellen, daß ihr Bereich offenbar in zunehmendem Maße verfassungsrechtlichen Kontrollüberlegungen unterworfen wird. Will sie sich dabei nicht von den neueren Bestrebungen der Staatsrechtslehre überrollen lassen, so muß sie zunächst einmal eine umfassende Bestandsaufnahme ihres Vertragsrechts im weitesten Sinne machen und durch eine Herausarbeitung seiner funktionalen Bezüge die Eigengesetzlichkeiten der heutigen auf Privatautonomie gegründeten freiheitlichen Ordnung realitätsgerecht in die Diskussion einbringen.“ – G. Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), 55. Für eine funktionale Betrachtung sehr hilfreich etwa die Darstellung bei T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 41 ff. Kritisch zu einer funktionalen Sichtweise E.J. Weinrib, The idea of private law (1995), 6. 2 Zum Begriff der Vertragstheorie s. etwa B. Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 393 ff.; H. Unberath, Die Vertragsverletzung (2007), 6 ff.

14

§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

debatte in Deutschland eingenommen wurden.3 Das soll nicht heißen, dass letztere überflüssig wären oder verdrängt werden sollten. Es gilt aber, sie zu komplettieren und bei der theoretischen Untersuchung von Grundrechten und Vertragsrecht beide Seiten der Medaille zu betrachten.4 Die folgende Darstellung widmet sich, jeweils begrifflich-systematisch sowie funktional, zunächst dem Vertrag (dazu 1.) und dann dem Vertragsrecht (dazu 2.). Angesichts der europäischen Dimension des Themas ist außerdem konkretisierend das europäische Vertragsrecht solchermaßen zu skizzieren (dazu 3.).

I. Vertrag und Vertragsfunktionen I. Vertrag und Vertragsfunktionen

Die Aufmerksamkeit soll zuerst dem Kern des Vertragsrechts gelten, der auch als nucleus dieser ganzen Schrift verstanden wird: dem Vertrag. Der folgende Abschnitt behandelt zuerst die Frage, was ein Vertrag ist (dazu 1.). Anschließend geht es darum, welche Funktionen Verträge besitzen (dazu 2.). 1. Tatbestand des Vertrages Der Vertrag ist ein viel gebrauchter und vieldeutiger Begriff. Er findet sich als Forschungsgegenstand nicht bloß in der Rechtswissenschaft, sondern ebenso in Ökonomie, Soziologie und Philosophie, ja es gibt sogar den psychologischen Vertrag.5 Jede dieser Wissenschaften mag eine unterschiedliche Definition davon haben, was ein Vertrag ist. Für den Juristen ist der Vertrag zunächst einmal ein Tatbestand oder Tatbestandsmerkmal.6 Sind die Voraussetzungen des Tatbestandes „Vertrag“ erfüllt, liegt rechtlich ein Vertrag vor. Welche Voraussetzungen dies sind, hängt von der konkreten Rechtsordnung 3 Allgemein nahm sich die Staatsrechtwissenschaft der Problematik von Grundrechten und Privatrecht weit stärker an als die Privatrechtswissenschaft – s. dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band 3/I. Grundlagen und Geschichte, nationaler und internationaler Grundrechtskonstitutionalismus, juristische Bedeutung der Grundrechte, Grundrechtsberechtigte, Grundrechtsverpflichtete (1988), 1518 ff. Von privatrechtlicher Seite freilich insbesondere F. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), 385; C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999). 4 Gegenüber Weinrib, The idea of private law (1995) wendet etwa Arnold zurecht ein, dass es zu einer Komplettierung der Perspektiven nützlich ist, Privatrecht nicht nur als Selbstzweck zu betrachten – S. Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), 5 ff., 9. Genauso verhält es sich gegenüber Grundrechten und Grundrechtstheorie. 5 S. z.B. N. Conway/R.B. Briner, Fifty Years of Psychological Contract Research: What Do We Know and What Are the Main Challenges?, International Review of Industrial and Organizational Psychology 2009, 71. 6 Zur Unterscheidung der Betrachtung von Tatbestand einerseits und Funktion andererseits W. Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: F. Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 3, 7.

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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ab. Bei einem Blick auf die einflussreichsten Rechtsordnungen Europas lassen sich aber Übereinstimmungen feststellen, die es erlauben – jedenfalls für den europäischen Kontext – von einem im Wesentlichen einheitlichen Begriff des Vertrages auszugehen.7 Im deutschen Recht findet sich zwar keine gesetzliche Definition, aber ist man sich insoweit ausnahmsweise einig: Für einen Vertrag bedarf es „(mindestens) zweier übereinstimmender, aufeinander bezogener Willenserklärungen“.8 Notwendig ist mit anderen Worten ein „Konsens“.9 In Frankreich definiert Art. 1101 des französischen Code civil: „Le contrat est une convention par laquelle une ou plusieurs personnes s’obligent, envers une ou plusieurs autres, à donner, à faire ou à ne pas faire quelque chose.“ Ähnlich lautet Artículo 1254 des spanischen Código Civil: „El contrato existe desde que una o varias personas consienten en obligarse, respecto de otra u otras, a dar alguna cosa or prestar algún servicio“. Für Italien normiert Art. 1321 Codice civile: „Il contratto è l’accordo di due o più parti per costituire, regolare o estinguere tra loro un rapporto giuridico patrimoniale.“ Eine ähnliche Definition findet sich auch für das englische Recht: „A contract is an agreement between two or more persons which the law recognises as creating, altering or extinguishing legal rights and duties.“ 10 „Konsens“, „convention“, „personas [que] consienten“, „accordo“, „agreement“ – in allen genannten Rechtsordnungen ist Voraussetzung für einen Vertrag, dass mindestens zwei Parteien einen übereinstimmenden Willen gebildet haben. 11 Dieser Wille muss jeweils auf die Setzung bestimmter Rechtsfolgen gerichtet sein. Für Frankreich, Spanien und Italien ergibt sich

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So behandeln denn auch etwa folgende grundlegende Arbeiten den Vertrag unabhängig von der Definition einer konkreten Rechtsordnung: H. Collins, Regulating contracts (2002); Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002); T. Wilhelmsson, Varieties of Welfarism in European Contract Law, 10 European Law Journal (2004), 712. 8 Z.B. R. Bork, in: Staudinger, § 145 Rn. 1; O. Jauernig, in: Jauernig, BGB (2014), Vor § 145 Rn. 2. 9 Busche, in: Münchener Kommentar (2012), Vor § 145 Rn. 31. 10 H. McGregor, A Contract Code: Drawn up on Behalf of the English Law Commission (1994), Sec. 1. Im gleichen Kontext schon zitiert bei Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 44. Ganz ähnlich: G. Treitel, Contract: General Rules, in: P. Birks (Hg.), English Private Law (2000), 4: „A contract is an agreement which is either enforced by law or recognized by law as affecting the rights and duties of the parties.“ 11 S. etwa auch den Abschnitt bei H. Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), § 2 A., der mit „Konsens der Parteien“ überschrieben ist. Ähnlich Schmidt-Kessel, dem zufolge hinsichtlich „des Kerns des Vertragsbegriffs in Europa vermutlich Einigkeit besteht“, M. Schmidt-Kessel, Europäisches Vertragsrecht, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 373, 374.

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

dies aus dem Gesetz,12 für Deutschland aus der Bedeutung der Willenserklärung als eine auf eine Rechtsfolge gerichtete Erklärung.13 Dass man etwa in Deutschland auch einseitige Verpflichtungen als Vertrag sieht, in England aber immer ein gewisses synallagmatisches Element in Gestalt der consideration14 vorliegen muss, widerspricht der Gemeinsamkeit im Kern nicht. Auch ändert hieran nichts, dass man in Deutschland, anders als in den anderen genannten Rechtsordnungen, zwischen Verpflichtungs- und Verfügungsvertrag unterscheiden kann. Damit ist bloß eine Kategorisierung der Rechtsfolgen gemeint, die in den anderen Rechtsordnungen ebenso durch Vertragsschluss ausgelöst werden.15 Ähnlich liegt es im Unionsrecht, das sich schließlich auch aus der Erfahrung der nationalen Rechtsordnungen speist. In Richtlinien und Verordnungen findet sich zwar keine ausdrückliche allgemeingültige Bestimmung des Vertrages.16 Art. 10 Rom I-VO lässt sich aber immerhin entnehmen, dass es zum wirksamen Vertragsschluss ebenfalls einer Einigung mindestens zweier Parteien bedarf.17 Auf einem solchem Verständnis basieren auch die Definitionen des Fernabsatzvertrages und des außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrages in der Verbraucherrechterichtlinie, siehe Art. 2 Nr. 7 und 8. 18 Zurückgreifen lässt sich außerdem auf die Rechtsprechung des EuGH. Demnach ist Voraussetzung für einen Vertrag im Sinne des europäischen Kollisionsrechts eine „von einer Partei gegenüber einer anderen freiwillig eingegangenen Verpflichtung“ 19. Auch befand der Gerichtshof, dass 12

Nach dem bekannten Art. 1134 des französischen Code civil gilt für die Rechtsfolgen sogar: „Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites.“ 13 Statt aller: Armbrüster, in: Münchener Kommentar (2012), Vor §§ 116 ff., Rn. 2. 14 Hierzu etwa Treitel, Contract: General Rules, in: Birks (Hg.), English Private Law (2000), 4, 17 ff. 15 Auch H. Unberath, Vertrag, in: J. Basedow et al. (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), 1677, 1679 misst diesem Unterschied augenscheinlich keine größere Bedeutung bei. Er erwähnt lediglich, dass im deutschen Recht der Schuldvertrag keine dingliche Wirkung hat. 16 Die gleichlautende Aussage bei Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 45 f. ist noch gültig So enthält insbesondere die Verbraucherrechte-RL (2011/83/EU) keine Definition des Vertrages, ebenso wenig die Rom IVO. Vgl. denn auch R. Schulze/F. Zoll, Europäisches Vertragsrecht (2015), 50 ff. 17 Die Überschrift der Norm lautet „Einigung und materielle Wirksamkeit“; Abs. 2 statuiert: „Ergibt sich jedoch aus den Umständen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, die Wirkung des Verhaltens einer Partei nach dem in Absatz 1 bezeichneten Recht zu bestimmen, so kann sich diese Partei für die Behauptung, sie habe dem Vertrag nicht zugestimmt, auf das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts berufen.“ (Betonungen hinzugefügt). 18 Schulze/Zoll, Europäisches Vertragsrecht (2015), 52. 19 So für das europäische Kollisionsrecht EuGH Rs. 26/91 (Handte), Slg. 1998 I-6511, Rn. 17; später bestätigt z.B. in EuGH Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357, Rn. 23; ebenso Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003),

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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ein „Vertrag [...] durch das Prinzip der Privatautonomie [gekennzeichnet ist], wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen“.20 Voraussetzung für einen Vertrag ist also wie schon in den nationalen Rechten eine Einigung mit dem Ziel zwischen (mindestens) zwei Parteien Rechtsfolgen auszulösen.21 Der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht hätte den Vertrag denn auch genau so definiert, nämlich als „eine Vereinbarung, die darauf abzielt, Verpflichtungen oder andere rechtliche Wirkungen herbeizuführen“ (Art. 2 GEK-VO-E).22 2. Funktionen des Vertrages Der Vertrag ist freilich nicht bloß ein Tatbestand. Er erfüllt als Handlungsform, als „thing“,23 bestimmte Funktionen, und zwar nicht bloß rechtliche. Im Folgenden sollen Vertragsfunktionen vorgestellt werden, wie man sie aus vertragstheoretischer Literatur destillieren kann. Es geht dabei um einen allgemeinen Überblick über-positiver Vertragsfunktionen, es geht nicht darum, sie aus positivem Recht zu erschließen oder gar im Einzelnen gegeneinander auszuformulieren. Man muss sich im Klaren sein, dass auch eine solche Erörterung nicht bloß deskriptiv, sondern normativ in höchstem Maße aufgeladen ist – wer von Funktionen des Vertrags spricht, sagt mindestens im juristischen Kontext implizit auch, was ein Vertrag leisten soll.24 Der folgende Abschnitt kann nicht mehr leisten als mögliche Antworten zu skizzieren. Dies sind Selbstbestimmung (a), gerechter Austausch (b), Effizienz (c) sowie, in gewisser Weise auf die vorigen drei Punkte hinwirkend und sie verknüpfend, die institutionellen Funktionen des Marktes (d) und der Kooperation (e). Diese Darstellung ist einerseits eine Sammlung bestehender theoretischer Ansätze, fasst sie andererseits aber in einer bisher nicht explizit gemachten Taxonomie zusammen. Insbesondere durch die Verknüpfung mit den anschließend noch zu erörternden Funktionen des Vertragsrechts bringt dies einen analytischen Zugewinn.

46; zum Kriterium der Freiwilligkeit auch Martiny, in: Münchener Kommentar (2015), Art. 1 Rom I-VO Rn. 7; Spickhoff, in: Beck-OK (2013), Art. 1 Rom I-VO Rn. 21. 20 In der Entscheidung EuGH Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431. 21 Ebenso Schulze/Zoll, Europäisches Vertragsrecht (2015), 52; dieses Ergebnis im Wesentlichen auch bei L. Kähler, Zum Vertragsbegriff im Europarecht, in: S. Arnold (Hg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2014), 79, 98. 22 Stärkere Differenzierung bei Kähler, Zum Vertragsbegriff im Europarecht, in: Arnold (Hg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2014), 79, 89 ff. 23 R. Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006), 48. 24 Zu den „Wechselwirkungen“ von empirischer und normativer Funktion Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), 72, s.a. 17: „Soweit in der neueren Diskussion von der Funktion des Vertrages die Rede ist, ist damit in der Regel seine rechtliche, seine normative Funktion gemeint.“

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

a) Selbstbestimmung Zunächst einmal lässt sich der Vertrag als Instrument zur Verwirklichung von Selbstbestimmung begreifen.25 Im Prinzip der Privatautonomie erkennt man üblicherweise die Transponierung des philosophischen Ideals der Selbstbestimmung ins Rechtliche – Privatautonomie meint dann Selbstbestimmung im Rechtsleben.26 Zentraler Unterfall der Privatautonomie ist die Vertragsfreiheit. So gesehen findet sich die Selbstbestimmung auch im Tatbestand des Vertrages wieder. Die freiwillige Entscheidung zum Vertragsschluss ist schließlich das zentrale, kennzeichnende Merkmal des Vertrags in allen oben angesprochenen europäischen Rechtsordnungen. Der Vertrag beinhaltet die Möglichkeit der willensgesteuerten Vereinbarung und Koordinierung von Rechten und Pflichten. Er ermöglicht es, Strukturen privaten Rechts zu bilden, auszudifferenzieren und zu verknüpfen und so ein Geflecht von Rechtsbeziehungen zu erschaffen, um mit anderen selbstbestimmt zu interagieren.27 So gedacht ist der Vertrag ein Mittel zur Verwirklichung positiver Freiheit beziehungsweise der positiven Seite der Privatautonomie. Im Allgemeinen kann man, ähnlich wie Isaiah Berlin es allgemein philosophisch entwickelt hat,28 auch im Rechtlichen eine positive und eine negative Seite der Privatautonomie29 unterscheiden – also Freiheit zu und Freiheit von. Freiheit von meint dann Freiheit von Einschränkungen, Zwang und auferlegten „Verträgen“ durch Dritte oder den Staat. Freiheit zu ist die Freiheit zum gewünschten Vertragsschluss. Insofern ist es vor allem die Freiheit zu, die angesprochen ist, wenn man den Vertrag als Instrument der Selbstbestimmung behandelt. Sie wird übrigens auch besonders betont, wenn man von materialer Vertragsfreiheit oder materialer Privatautonomie in Abgrenzung zu den formalen Varianten derselben spricht. Damit meint man in der Regel, dass es für die Wirksamkeit und den Inhalt von Verträgen verstärkt auf die tatsächlich gege25

S. z.B. W. Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: E.v. Caemmerer et al. (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hunderjährigen Bestehen des deutschen Juristentages (1960), 135; G. Hönn, Zur Problematik der Privatautonomie, Jura 1984, 57; Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006), 49, 66. 26 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Caemmerer et al. (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hunderjährigen Bestehen des deutschen Juristentages (1960), 135, 136; Unberath, Die Vertragsverletzung (2007), 35 zur „Erweiterung der Freiheit durch das Postulat des Privatrechts“. 27 Das Bundesverfassungsgericht spricht etwa vom „Prinzip der eigenen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“ – BVerfG NJW 1994, 2749, 2750. 28 I. Berlin, Two concepts of liberty (1958), 169 ff. Zu positiver und negativer Freiheit auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 194. 29 Zu diesem Begriff z.B. J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), 14; H.C. Grigoleit/C. Herresthal, BGB Allgemeiner Teil (2015), Rn. 7; P. Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität (2016), im Erscheinen.

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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bene Möglichkeit der Selbstbestimmung und nicht bloß die rechtliche (formale) Möglichkeit ankommen soll.30 Für die rechtliche Behandlung konkreter Verträge bewirkt eine solche Auswechslung von Grundbegriffen natürlich erhebliche Veränderungen. Auf einer ganz abstrakten Ebene, wie sie hier behandelt wird, bringt sie aber eher Kontinuität. Denn sie ändert nichts daran, den Vertrag als Instrument zur Selbstbestimmung zu sehen – ja sie verstärkt diesen Gedanken geradezu noch! Der Zusammenhang von Vertrag und Selbstbestimmung wird präzisiert, aber keineswegs aufgegeben.31 Auf vertragstheoretischer Ebene sind unterschiedliche Vertragsfunktionen in verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß gewichtet und hervorgehoben worden. Wie insbesondere James Gordley herausgearbeitet hat, bildeten den Höhepunkt der Betonung der Privatautonomie in formaler Hinsicht die Willenstheorien des 19. Jahrhunderts.32 Nach diesen ist ein Vertrag darum, und nur darum wirksam, weil die Parteien ihn so gewollt haben.33 Andere mögliche Vertragsfunktionen träten damit vollständig in den Hintergrund. In der jüngeren deutschen Literatur wirkte diese Sichtweise etwa in der Lehre Flumes fort:34 „Der Geltungsgrund [des Vertrages] ist [...] nur die Selbstbestimmung und ihre Anerkennung durch die Rechtsordnung.“35 Seit 30

Etwa in der Diktion des BVerfG: „Privatautonomie setzt voraus, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben sind.“ – NJW 2005, 2376, 2377 f. Exemplarisch auch Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 277 ff. Zur Unterscheidung von rechtlichen und z.B. ökonomischen Hindernissen für bestimmte Handlungen und korrelierenden Freiheitsbegriffen Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 200 f. 31 Vgl. etwa M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 19 ff. 32 J. Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine (1991), 161 ff.; J. Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: P. Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265, 274 ff.; Unberath, Die Vertragsverletzung (2007), 19, 32 ff. Die philosophisch-ideengeschichtlichen Grundlagen bildeten insbesondere die Werke Kants sowie Hegels – etwa I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785); näher dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit: unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung (1967), 351 ff.; H. Kiefner, Der Einfluss Kants auf die Theorie und Praxis des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, in: J. Blühdorn/J. Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft: zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert (1969), 3. 33 Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265, 267. 34 Ähnliche Positionen vertreten im common law-Rechtskreis etwa L. Fuller, Consideration and Form, 41 Columbia Law Review (1941), 799, und jüngeren Datums R. Epstein, In Defernse of the Contract at Will, 51 University of Chicago Law Review (1984), 947 (nachdrücklich sogar bei Arbeitsverträgen). 35 W. Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts. 2. Das Rechtsgeschäft (1992), 5; hierzu kritisch Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982) 18 f., der von „Prinzipienmonismus“ Flumes spricht. Funktional gesprochen kann man darin Kritik an der Überbetonung einer einzelnen Funktion erkennen. Ähnlich einseitige („prinzipienmo-

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

geraumer Zeit sind allerdings andere Vertragsfunktionen (wieder) verstärkt hervorgehoben worden, gerade auch als Ergänzung zum materialen Verständnis von Vertragsfreiheit.36 Von ihnen soll im Folgenden die Rede sein. b) Gerechter Austausch Die Fokussierung auf Selbstbestimmung ist eine individualistische Betrachtungsweise, sie setzt den Einzelnen ins Zentrum der Überlegungen. Zu einem Vertrag gehören aber natürlich schon definitionsgemäß immer zwei – der Vertrag ist stets Teil einer sozialen Interaktion –, 37 und mindestens typischerweise erschafft er beiderseitige Pflichten. Auch dieses Verhältnis kann man funktional umschreiben, wiederum verknüpft mit grundsätzlichen philosophischen Konzepten: Ein Vertrag dient dem gerechten Austausch zwischen den Vertragsparteien. Dieser Gedanke bildet den Kern einer Lehre SchmidtRimplers, die, obschon modifiziert, auch in jüngerer vertragstheoretischer Literatur wirkmächtig ist: die der „Richtigkeitsgewähr“. 38 Ihren allgemeinphilosophischen Gehalt beziehen diese Lehre und die ihr folgenden Schriften insbesondere aus Erörterungen kommutativer Gerechtigkeit nach Aristoteles. Auf diese soll kurz ausgegriffen werden.39 Nach Aristoteles dient der Austausch in Form des Vertrages nicht lediglich der Ausübung eines freien Willens, sondern dem Erwerb der Mittel, die zur Führung eines tugendhaften, guten und glücklichen Lebens notwendig sind.40 Dies gilt für beide Vertragspartner. Sind die ausgetauschten Ressourcen oder Leistungen nicht gleichwertig, widerspricht die Vereinbarung der iustitia commutativa. Der Vertrag erfüllt dann seinen Zweck nicht und müsste – jedenfalls nach dem Verständnis Gordleys im Anschluss an Aristoteles – nicht nistische“) Sichtweise in jüngster Zeit z.B. bei C. Wendelstein, Zur Schadenshaftung für „Erfüllungs“-Gehilfen bei Verletzungen des Integritätsinteresses, AcP 215 (2015), 70, 93. 36 Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 31 ff.; s.a. Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265, 268. Zu Literatur jüngerer Zeit z.B. Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 370 ff. 37 Zum Vertrag im Kontext sozialer Beziehungen Collins, Regulating contracts (2002), 17 ff. 38 Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 284: „wirkungsmächtigste Theorie zum Verständnis der Vertragsgerechtigkeit“. Daran anknüpfend beispielsweise Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 69 ff.; L. Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), 51 ff. 39 Die Betrachtungen beschränken sich hier auf solche Publikationen, die bereits auf einen juristischen Kontext und Diskussionszirkel zugeschnitten sind und sind nicht als originäre Befassung mit der Philosophie Aritoteles’ zu verstehen. 40 Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265, 266.

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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erfüllt werden.41 Ein wirksamer Vertrag wäre also umgekehrt notwendig auf einen gerechten Austausch gerichtet. Jede Vertragspartei erhält durch ihn das, was zur Führung eines guten Lebens notwendig ist und was seinen Anteil an der Verteilung allen Vermögens (der iustitia distributiva) stabil hält. 42 Je weiter sich übrigens historisch die Arbeitsteilung gesellschaftlich ausdifferenziert hat, desto wichtiger ist Austausch geworden – die Frage nach der iustitia commutativa ist somit heute, gerade in Zeiten weitreichenden Freihandels, bedeutender denn je.43 Wieso aber sollte ein vereinbarter Austausch typischerweise zu einem gerechten Interessenausgleich zwischen den Vertragsparteien führen? Walter Schmidt-Rimpler hat hierzu 1941 einen Ansatz vorgeschlagen,44 den man als prozedurale Gerechtigkeitstheorie einordnen kann – eine bestimmte Prozedur führt danach zu einem (auch inhaltlich) richtigen Ergebnis. 45 Seiner Auffassung nach bietet die antagonistische Interessenlage der verhandelnden Parteien die Grundlage dafür, dass die richtige Rechtsfolge gefunden würde: Ent41 Nach Gordleys Analyse waren aristotelische Auffassungen in der westlichen Welt vorherrschend bis zum Aufkommen der Willenstheorien zu Beginn des 19. Jahrhundert. Bekannte Rechtsregel aus dem Gedanken der iustitia commutativa in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtswelt ist etwa die laesio enormis, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts verschwunden sei. Nach zwischenzeitlicher Dominanz der Willenstheorien und ihrer Anhänger erkennt Gordley inzwischen aber eine Rückkehr solchen zu solchen Regelungen für prägend, die einen gerechten Austausch für wirksame Verträge vorschreiben, s. ausführlich Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine (1991), zusammenfassend Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265; und zuvor schon J. Gordley, Equality in Exchange, 69 California Law Review (1981), 1587. 42 Die gerechte Verteilung des gesamten Vermögens einer Gesellschaft ist, was Aristoteles mit iustitia distributiva meint. Iustitia distributiva und commutativa sind insofern verknüpft, als dass ein gerechter Austausch (iustitia commutativa) die Bedingung der iustitia distributiva beibehält – näher dazu etwa Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265, 307 ff.; s.a. O. Küster, Über die beiden Erscheinungsformen der Gerechtigkeit, nach Aristoteles, in: F. Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 541. 43 Zu Arbeitsteilung und Austausch grundlegend J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’negalité parmi les hommes (1755); A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), Book I Chapter 1. Im WTO-Regime, das wesentlich zur Zunahme internationalen Freihandels beigetragen hat, spielt kommutative Gerechtigkeit allerdings kaum eine Rolle, vgl. A. Brown/R. Stern, Fairness in the WTO Trading System, in: A. Narlikar et al. (Hg.), The Oxford handbook on the World Trade Organization (2014), 677. 44 W. Schmidt-Rimpler, Grundfragen der Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 141 (1941), 132; Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 3. 45 So z.B. Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 284.

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

scheidend sei, dass sich in einem Vertrag Vorteil und Nachteil auf beiden Seiten gegenüberstünden, aufeinander einwirkten und sich schlussendlich ausglichen – jede Seite käme der anderen entgegen. In den Worten SchmidtRimplers ist Sinn des Vertrages „nicht Willensherrschaft, nicht Ermächtigung zur Selbstrechtsetzung [...], sondern der Vertrag ist ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung [...] herbeizuführen“.46 In einer späteren Abhandlung begründet er diese einseitige Stellungnahme mit den Umständen des Nationalsozialismus, schwächt sie ab und präzisiert: „So sehe ich die Freiheit der Persönlichkeit als eine Grundlage des Vertrages an, aber nicht als alleinige, sondern, da der Wille niemals Gerechtigkeit gewährleistet, nur in einer Bindung an die Gerechtigkeit, wie sie eben der Vertragsmechanismus mit der Übereinstimmung zweier gegenteilig interessierter Willen bietet.“47 So oder so soll der Vertrag also jedenfalls nicht nur der Umsetzung eines Willens, nicht nur der Selbstbestimmung des einen dienen, sondern auch der Gerechtigkeit zwischen den beiden Vertragspartnern.48 Schon Schmidt-Rimpler selbst knüpfte die Einlösung der Richtigkeitsgewähr allerdings an tatsächliche Voraussetzungen, nämlich dass beispielsweise die Parteien zur Abwägung der Rechtsfolgen in der Lage seien und nicht eine von der anderen abhängig sei.49 Infolgedessen hat es sich inzwischen eingebürgert, von „Richtigkeitschance“ anstatt „Richtigkeitsgewähr“ zu sprechen.50 Was die Funktion des Vertrages anbelangt, einen gerechten, richtigen Austausch herbeizuführen, macht dies allerdings nur bedingt einen Unterschied. Mit dem Begriff der Chance wird die Unsi46

Schmidt-Rimpler, Grundfragen der Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 141 (1941), 132, 156. 47 Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 3, 10. 48 Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 3, auf S. 9 nennt er ausdrücklich den Vertrag „als Mittel gerechter Ordnung“. S. auch C.-W. Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: P. Badura/R. Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873, 883. Vertragstheoretische Ansätze jüngerer Zeit, welche die Gerechtigkeitsaspekte jenseits von Vertragsfreiheit und Selbstbestimmung betonen und teilweise weiterentwickeln finden sich etwa bei T. Wilhelmsson, Social contract law and European integration (1995); Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 353 („Prinzip der Rücksichtnahme und Fairness“), 457 ff. mit einem Überblick über eine Reihe vertragstheoretischer Ansätze. 49 Schmidt-Rimpler, Grundfragen der Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 141 (1941), 132, 158. 50 Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 74; C.-W. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht (1997), 49. Zur „Gestaltungschance“ statt Gestaltungsfreiheit schon zuvor F. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1963), 13

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cherheit der Verwirklichung der Funktion des gerechten Austauschs angesprochen, während grundsätzlich an ihr festgehalten, ja ihre Bedeutung betont wird. Je geringer man die Chance freilich einschätzt, je geringer die tatsächliche Erfüllung der Funktion ist, umso eher wird man ein regulatives Vertragsrecht für nötig halten (dazu noch unten II. 2.). In einer Kritik SchmidtRimplers fordert etwa Ludwig Raiser, das Vertragsrecht habe „die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Vertragsgerechtigkeit im Einzelfall verwirklicht wird“.51 Insbesondere soweit es an tatsächlicher Selbstbestimmung fehlt, ist die Richtigkeitschance gering.52 Insofern geht die Sprache von Richtigkeitschance anstatt Richtigkeitsgewähr Hand in Hand mit der Begrifflichkeit von materialer anstatt formaler Vertragsfreiheit.53 c) Effizienz Während man mit der Funktion der Selbstbestimmung den einzelnen und mit der des gerechten Austausch die beiden Vertragspartner betrachtet, richtet sich eine effizienzgeleitete Sichtweise grundsätzlich auf die Gesellschaft im Ganzen. Kaldor-Hicks-Effizienz, die üblicherweise den normativen Fluchtpunkt der law and economics-Bewegung bildet,54 bezieht sich auf gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt. Effizient in diesem Sinn ist, was die aggregierte, gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt maximiert, unabhängig davon, ob Einzelne einen Nachteil erleiden.55 Verträge kann man als wesentliches Mittel zur Herbeiführung möglichst hoher Wohlfahrt ansehen. Mit Verträgen können Individuen – jedenfalls theoretisch – Güter so verteilen, wie es ihren Präferenzen entspricht, und somit einen Zustand herbeiführen, der die Präferenzerfüllung aller Gesellschaftsmitglieder optimiert.56 Verträge schaffen Vertrauen 51

L. Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: E. von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960 (1960), 101, 131. 52 Vgl. etwa BVerfGE 81, 242, 254 f. dazu, dass „nur wenn die Bedingungen der Selbstbestimmung auch tatsächlich gegeben sind“ davon ausgegangen werden könnte, dass ein gerechter Austausch gefunden wird. Dazu auch G. Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: U. Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 69. 53 So ja auch bei Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), insbes. 31 ff. 54 R. Posner, Economic analysis of law (2011), 15 („when an economist says [...] efficient, nine times out of ten he means Kaldor-Hicks efficient“); Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), 52. Zurückgehend auf N. Kaldor, Welfare Propositions of Economics and Interpersonal Comparisons of Utility, 49 The Economic Journal (1939), 549; J.R. Hicks, The Foundations of Welfare Economics, 49 The Economic Journal (1939), 696. 55 vgl. etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), 41 ff., insbes. 51 ff. 56 s. z.B. H.-B. Schäfer/C. Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2012), 423 ff.; A. Schwartz/R.E. Scott, Contract Theory and the Limits of Contract Law,

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

dafür, dass Zusagen eingehalten und Transaktionen durchgeführt werden, und tragen somit zu einem möglichst reibungslosen Austausch bei. Nach den gängigen Wohlfahrtstheorien geht man davon aus, dass individueller Nutzen anhand individueller Präferenzen, und nicht etwa objektiver Kriterien zu bestimmen sei.57 Eine Ressourcenverteilung, welche die Präferenzen der Einzelnen optimal erfüllt, ist danach also auch wohlfahrtstheoretisch gesehen effizient. Ökonomisch gesehen ermöglichen Verträge, situationsadäquat optimale institutionelle Strukturen zu gestalten, um unterschiedliche persönliche Präferenzen zu verfolgen. Vertragliche Transaktionen, welche die Summe der individuellen Nutzen verbessern, sind also effizient. So gesehen lässt sich Verträgen die Funktion der Effizienzsteigerung zuschreiben. Die ethischen Grundlagen des Effizienzdenkens verortet man üblicherweise im Utilitarismus.58 Neben der insbesondere durch Kant und Hegel inspirierten Betonung von Selbstbestimmung und der aristotelisch fundierten Hervorhebung des gerechten Austauschs wäre damit ein dritter philosophisch begründeter Ansatz angesprochen. Auf die zugrunde liegende Ideengeschichte braucht hier jedoch jenseits solch holzschnittartiger Einteilungen nicht näher eingegangen zu werden.59 Dass Verträgen im vertragsrechtlichen und vertragstheoretischen Diskurs die genannten Funktionen zugeschrieben werden, steht jedenfalls außer Zweifel, unabhängig von der dahinter stehenden 113 Yale Law Journal (2003), 541; vgl. auch Hönn, Zur Problematik der Privatautonomie, Jura 1984, 57, 60; H. Kötz, Vertragsrecht (2012), 11. Dieser Gedanke liegt auch schon dem Coase-Theorem zugrunde: R. Coase, The Problem of Social Cost, 3 Journal of Law and Economics (1960), 1. 57 Vgl. z.B. K.U. Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht (2014), 90 ff.; zur Präferenzautonomie Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), 326 ff. 58 S. z.B. K. Arrow, Some Ordinalist-Utilitarian Notes on Rawls’s Theory of Justice, 70 The Journal of Philosophy (1973), 245; ausführlich Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), 22 ff., 173 ff.; Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht (2014), 96 ff. Eine abweichende Sichtweise vertritt R. Posner, Utilitarianism, Economics, and Legal Theory, 8 The Journal of Legal Studies (1979), 103, der zwischen ulitiarianism und wealth maximization unterscheidet. Ob dies tatsächlich eine so grundlegende Unterscheidung wie behauptet ist, scheint allerdings zweifelhaft – dazu näher Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität (2016), im Erscheinen, auch ausführlicher zur Ideengeschichte zurückreichend bis Epikur, weit vor dem üblicherweise als Gründungsvater des Utilitarismus angesehenen Jeremy Bentham. 59 Zur Ideengeschichte insbesondere die vorige Fn. sowie, eine ähnliche Dreiteilung vornehmend, Gordley, Contract Law in the Aristotelian Tradition, in: Benson (Hg.), The Theory of Contract Law (2001), 265. Ebenfalls diese drei Stränge nennt Unberath, Vertrag, in: Basedow et al. (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), 1677 zur Begründung der Vertragsbindung.

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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philosophischen Genealogie. Eine umfassende Beschreibung der zentralen Vertragsfunktionen ist damit allerdings noch nicht erreicht. Im Folgenden werden mit Markt und Kooperation zwei institutionelle Vertragsfunktionen beschrieben, die bisweilen als bloße Unterfunktionen des Effizienzziels betrachtet werden. Tatsächlich können Austausch am Markt und vertraglich strukturierte Kooperation dazu beitragen, die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt im Kaldor-Hicks-Sinne zu steigern. Markt und Kooperation sind allerdings in ihrer Bedeutung komplexer und besitzen ebenso Relevanz für die inhaltlichen Ziele der Selbstbestimmung und gerechten Austauschs. Auch aufgrund ihrer Prägnanz, welche Grundcharakteristika möglicher Verträge auf den Punkt bringt, erscheint es daher gerechtfertigt, sie als eigene Funktionen zu begreifen. d) Markt Verträge sind essentieller Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. 60 Sie ermöglichen den dezentral gesteuerten Austausch knapper Wirtschaftsgüter. Eine Gesellschaft, in der wirtschaftliche Prozesse nicht zentral durch den Staat geplant werden, ist darauf angewiesen, dass ihre einzelnen Mitglieder ihr Wirtschaften selbst in die Hand nehmen und regeln können.61 Wie bereits gesagt, sah schon Max Weber den Vertrag als „die rechtliche Seite der Marktgemeinschaft“.62 Die Vielzahl vertraglicher Austauschvorgänge schafft in ihrer Gesamtheit Markt und Wettbewerb. Besonders prägnant fungiert eine solche Sichtweise in der Idee der Privatrechtsgesellschaft Franz Böhms.63 Mit diesem Begriff meint Böhm eine ge-

60

Vgl. etwa Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Caemmerer et al. (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hunderjährigen Bestehen des deutschen Juristentages (1960), 135, 144; Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960 (1960), 101, 133; H. Collins, Regulating Contracts (1999), 3 ff.; Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), 16. 61 S. z.B. E.-J. Mestmäcker, Über die normative Kraft privatrechtlicher Verträge, JZ 1964, 441; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2012), 423 ff.; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 10 ff. 62 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 401. 63 F. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 1966, 75; im Anschluss daran aus jüngerer Literatur etwa S. Grundmann, The Concept of the Private Law Society: After 50 Years of European and European Business Law, 16 European Review of Private Law (2008), 553; K. Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft: Leistungsfähigkeit und Wirkkraft im deutschen und Europäischen Recht, in: K. Riesenhuber (Hg.), Privatrechtsgesellschaft (2007), 1 sowie die weiteren Beiträge in diesem Band. Kritisch etwa

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sellschaftliche Ordnung, die statt auf Hierarchie auf Koordination zwischen Gleichberechtigten gründet, die den Markt als ihren zentralen wirtschaftlichen Mechanismus begreift, wo Angebot und Nachfrage, also im Kern der Preismechanismus, den Wirtschaftskreislauf bestimmen. Da der Austausch und seine Bedingungen auf diesem Markt mittels privatrechtlicher Vereinbarungen durchgeführt werden, ist es nach Böhm treffend und konsequent von der Privatrechtsgesellschaft zu sprechen. Der Vertrag als Handlungsform ist für eine solche Gesellschaft schlechthin unabdingbar,64 er ist damit praktischer Kern einer ganzen Gesellschaftstheorie – und nicht bloß, wie etwa bei Hobbes und Locke, als Grundlage des Staates über der Gesellschaft hypothetisiert.65 Das kennzeichnende Element für diese Gesellschaftsordnung lässt sich auch im Vergleich zu den durch Böhm von der Privatrechtsgesellschaft abgegrenzten Modellen erkennen, namentlich dem Feudalsystem und dem zu Böhms Zeiten kontemporären real existierenden Sozialismus beziehungsweise Kommunismus.66 In diesen spielten Verträge eine wesentlich geringere Rolle.67 In rechtsökonomischen Schriften jüngeren Datums wird der Markt vor allem als effiziente ökonomische Institution behandelt.68 Er sei prinzipiell staatWielsch, The Function of Fundamental Rights in EU Private Law – Perspectives for the Common European Sales Law, 10 European Review of Contract Law (2014), 365. 64 Dazu auch schon F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, SJZ 1946, 141. Aus Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 1966, 75, 95: „Man kann sagen, daß der voll-entgeltliche Austauschvertrag und seine Erfüllung die für den Verkehr zwischen gleichberechtigten autonomen Willensträgern kennzeichnende Weise der Kooperation ist.“ 65 T. Hobbes, Leviathan, or, The matter, forme, and power of a common wealth, ecclesiasticall and civil (1651); J. Locke, Two treatises of government: in the former, the false principles and foundation of Sir Robert Filmer, and his followers, are detected and overthrown; the latter is an essay concerning the true original, extent, and end of civilgovernment (1690). Zugänglich zu Theorien des Gesellschaftsvertrages bzw. Sozialkontraktes W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (1996). Zu Berührungspunkten von Privatrechtswissenschaft und Gesellschaftstheorie, und insbesondere auch zu Böhm: R. Wiehölter, Privatrecht als Gesellschaftstheorie, in: F. Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 645. 66 S. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 1966, 75, 76 ff.; E.-J. Mestmäcker, Aufklärung durch Recht, in: H.F. Fulda (Hg.), Vernunftbegriffe in der Moderne (1994), 55. 67 Dazu etwa Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 12 ff. 68 Vgl. etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2012), 423 ff.; O.E. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985); im Grunde beruht hierauf auch der more economic approach der EU-Kommission im Kartellrecht, bei dem insbesondere Marktregulierung unter dem Endziel der Effizienz gesehen wird; s. dazu etwa umfassend J. Drexl et al. (Hg.), Competition policy and the economic approach: foundations and limitations (2011).

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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lich geplanter Wirtschaftssteuerung aus Effizienzgesichtspunkten überlegen.69 Insoweit könnte man sagen, dass Verträge als funktionaler Bestandteil der Institution Markt im Endeffekt doch nur dem Ziel der Effizienz dienten. Insbesondere in der ordoliberalen Konzeption Böhms ist der Markt aber einerseits Ziel an sich und andererseits Mittel zur Schaffung von Selbstbestimmung und gerechtem Austausch. Selbstbestimmung werde auf dem Markt insbesondere dadurch verwirklicht, dass Wettbewerb Machtpositionen zwischen Privaten aushebelt und somit verhindert, dass ein Marktteilnehmer dem anderen Preise und Bedingungen diktiert. Bei funktionierendem Wettbewerb sei eine selbstbestimmte Entscheidung zwischen verschiedenen Vertragspartnern möglich. Gleichzeitig schaffe der Mechanismus aus Angebot und Nachfrage mit dem Marktpreis einen gerechten Maßstab des Austausches.70 Wettbewerb kann man daher, so ist schon von Schmidt-Rimpler selbst ausgeführt worden, als Verfahren begreifen, das die Richtigkeitsgewähr des Vertrages überhaupt erst begründet. 71 In der Theorie Böhms ist der funktionierende Markt jedenfalls auch ein Ziel an sich. Regulierungsbedarf entsteht bei Böhm schließlich gerade bei Marktstörungen – und gerade das Kartellrecht biete die passende Antwort – nicht etwa bei einzelnen Beeinträchtigungen von Selbstbestimmung.72 Nach institutionenökonomischer Sicht ist allerdings der Markt im real existierenden Kapitalismus keineswegs die einzig relevante Institution. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist vielschichtiger als es der Begriff der Marktwirtschaft insinuiert, denn zahlreiche Transaktionen finden nicht am 69

Zu dieser These etwa Überblick bei C. Hill/T. Jones, Stakeholder-Agency Theory, 29 Journal of Management Studies (1992), 131, 134 ff.; für Kapitalmärkte z.B. B. Malkiel, The Efficient Market Hypothesis and its Critics, 17 Journal of Economic Perspectives (2003), 59. 70 Zum Marktpreis als gerechtem Preis (in Abwesenheit von Marktversagen) F. Rödl, Contractual Freedom, Contractual Justice and Contract Law (Theory), 76 Law and Contemporary Problems (2013), 57, 65 ff. 71 Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 3, 14 f., 25 f. im Anschluss an Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960 (1960), 101, insbes. z.B. 130. Aus jüngerer Zeit z.B. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 47 f.; kritisch etwa Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/ Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873, 883 – „doch liefe dies letztlich auf die kaum haltbare These hinaus, dass auch der Wettbewerb Gewähr für die Richtigkeit der durch ihn herbeigeführten Ergebnisse (!) bietet“. 72 Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 1966, 75; F. Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht (Karlsruhe, C.F. Müller, 1960), 1, 23 ff.; dazu noch ausführlicher unten II. 2. b).

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

Markt statt.73 Verträge lediglich in Bezug zum Markt zu setzen, wie es noch zu Böhms Zeiten üblich war,74 erscheint inzwischen zu eng und unterschlägt Wesentliches.75 Der nächste Abschnitt soll daher versuchen, mit einem institutionell aktualisierten Blickwinkel eine weitere Vertragsfunktion zu skizzieren. e) Kooperation Verträge dienen der Kooperation zwischen Individuen. Sie ermöglichen die Gestaltung komplexer Beziehungen zwischen denselben Parteien über einen längeren Zeitraum. Verträge können ein situationsadäquates Geflecht von Rechten und Pflichten etablieren, die ein bewegliches und kooperatives Miteinander strukturieren. Ludwig Raisers schrieb Verträgen eine Funktion zu, die man genau in diesem Sinne lesen kann: „Verträge dienen der rechtlichen Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Selbstbestimmung der Beteiligten im herrschaftsfreien Raum.“76 Neuere vertragstheoretische Literatur lässt sich so verstehen, dass sie diesen grundsätzlichen Gedanken anreichert und präzisiert. Sowohl aus ökonomischer wie aus sozialtheoretischer Sicht dienen Verträge nämlich der Ordnung menschlicher Beziehungen jenseits einfachen Warenaustauschs am Markt. Aus wirtschaftlicher Sicht verdeutlichen dies die Erkenntnisse der Neuen Institutionenökonomik. Diese rückt neben dem Markt auch Unternehmen und Hybride als Institutionen wirtschaftlicher Transaktionen in den Fokus. Den Grundstein für diese Forschungsrichtung legte Ronald Coase 1937 mit einer innovativen Erklärung dafür, warum manche wirtschaftlichen Vorgänge innerhalb eines Unternehmens (firm) durchgeführt werden und manche zwischen unabhängigen Akteuren auf einem Markt (market) abgewickelt.77 Sei73

Vielsagend der Titel Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), von denen der Markt eben nur eine ist. 74 Der grundlegende Text der Institutionenökonomie erschien zwar schon zuvor (R. Coase, The Nature of the Firm, 4 Econometrica (1937), 386), aber erst seit den 1970er Jahren, insbesondere den Arbeiten Williamsons hat es sich etabliert, Transaktionen auch jenseits des Marktes wirtschaftstheoretisch zu behandeln, dazu im Folgenden e). 75 Aus juristischer Literatur lediglich die Institution Markt berücksichtigend: Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Caemmerer et al. (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hunderjährigen Bestehen des deutschen Juristentages (1960), 135, 144; D. Schmidtchen, Marktmacht und Wettbewerb: zu einer wertschöpfungsbasierten Re-Formulierung beider Konzeptionen, Jahrbuch normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik 2008, 51. Auch kritische Stellungnahmen konzentrieren sich teils auf den Markt: z.B. Hönn, Zur Problematik der Privatautonomie, Jura 1984, 57, 60. 76 Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960 (1960), 101, 104. In anderer Terminologie könnte man sagen: Private ordering durch Verträge also als Teil der sozialen Ordnung. 77 Coase, The Nature of the Firm, 4 Econometrica (1937), 386.

I. Vertrag und Vertragsfunktionen

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ner Theorie nach lag der Grund in einem Posten, den die klassische Ökonomie vernachlässigt hatte: Transaktionskosten.78 Aufgrund dieser können je nach Situation unterschiedliche institutionelle Formen effizient sein – und sich damit durchsetzen. Nach einigen Dekaden relativ geringer Beschäftigung wurde dieser Ansatz seit den 1970er Jahren insbesondere durch Oliver Williamson weiterentwickelt. Er arbeitete wesentliche Faktoren von Transaktionskosten heraus – nämlich Häufigkeit, Unsicherheit und spezifische Investitionen bei Transaktionen – und erweiterte das binäre market-firm Modell zu einem Kontinuum möglicher Institutionen zwischen Markt und Unternehmen mit Hybriden (hybrids) in der Mitte.79 Diesen ordnete er verschiedene Vertragstypen zu: spot contracts (Austauschverträge) und auf dem Markt, long term contracts (Langzeitverträge) bei Hybriden und hierarchies (Hierarchien) im Unternehmen.80 Unter hybride Governancestrukturen sind etwa FranchiseVerträge, Rahmenverträge für Lieferungen über einen längeren Zeitraum oder auch Handelsvertreter-Verträge zu fassen. Mit hierarchies sind Unternehmen gemeint, die sich durch ein Über-Unterordnungsverhältnis auszeichnen. Zentrales vertragliches Instrument hierin ist der Arbeitsvertrag mit dem in ihm verankerten Weisungsrecht. 81 Williamson spricht von „fiat“, das hier besteht. 82 Insofern müsste man das Modell der Privatrechtsgesellschaft von

78 Williamson selbst spricht im Anschluss daran für die ganze Forschungsrichtung auch von transaction cost economics – O.E. Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233. 79 O.E. Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications (1975); Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233; Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), mit 239 ff. zu Hybriden. Überblick (auch ideenhistorisch) bei O.E. Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1. Vgl. auch etwa H.B. Thorelli, Networks: Between markets and hierarchies, 7 Strategic Management Journal (1986), 37. Abweichende Taxonomie bei – W.W. Powell, Neiter Market nor Hierarchy: Netowrk Forms of Organization, Research in Organizational Behavior 1990, 295 mit networks nicht als einer Organisationsform auf dem Kontinuum zwischen market und firm, sondern einer verschiedenen Institution. 80 S. Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233; Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1. 81 Vgl. etwa S. Grundmann, Kapitel 17. Zwischen Vertrag und Gesellschaft, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1293unter III.; Powell, Neiter Market nor Hierarchy: Netowrk Forms of Organization, Research in Organizational Behavior 1990, 295, 300. 82 O.E. Williamson, Efficiency, Power, Authority and Economic Organization, in: J. Groenewegen (Hg.), Transaction Cost Economics and Beyond (1996), 11, 33: „The argument that the firm ‘...has now power of fiat, no authority, no disciplinary action any different in the slightest degree from ordinary market contracting between any two people’ (Alchian and Demsetz, 1972, p. 777) is exactly wrong: firms can and do exercise fiat that

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

Böhm ergänzen: Auch wenn sich vor Vertragsschluss gleichgestellte Individuen gegenüber ständen, könnten gerade durch privatrechtliche Vereinbarungen wieder Hierarchien entstehen – nicht umsonst spricht Williamson hier von der „fundamental transformation“. 83 Nicht bloß die unsichtbare Hand allgemeiner wirtschaftlicher Dynamiken, nicht nur die sichtbare Hand des Gesetzgebers, 84 sondern auch gestaltende, planende Hände der Einzelnen machen die Wirtschaftsordnung aus. Verträge verbinden Akteure zur Zusammenarbeit jenseits des Wettbewerbs am Markt und dienen so der Kooperation – sowohl in Hybriden wie in Hierarchien.85 Die treibende Kraft, die Williamson hinter verschiedenen institutionellen Formen sieht, ist Effizienz – es ginge beim institutionellen Design stets darum, Transaktionskosten zu minimieren. Selbst wenn eine solche Sichtweise zu einseitig erscheint,86 lässt sich die Relevanz der Einsichten der Neuen Institutionenökonomie für die Vertragsfunktionen nicht leugnen. Sie schärft den Blick dafür, dass Verträge regelmäßig nicht dem Idealtypus des einfachen Austauschvertrags entsprechen, welcher den vertragstheoretischen Diskurs immer noch prägt. Eine ähnliche Einsicht ergibt sich, ohne Effizienzfokussierung, aus dem Konzept des relational contract.87 Mit diesem betonten Macneil und Macauly die Bedeutung längerfristiger sozialer Beziehungen und die übermäßige Verkürzung durch das klassische idealtypische Modell des Vertrages. Über Verträge strukturierte Kooperation dient im Übrigen markets cannot.“ – in Bezug auf A. Alchian/H. Demsetz, Production, Information Costs, and Economic Organization, 62 The American Economic Review (1972), 777. 83 Z.B. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), 61 ff. – „Rivals cannot be presumed to operate on a parity, however, once substantial investments in transaction-specific assets are put in place.“ (61); Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1, 8 f.; vgl. auch Collins, Regulating Contracts (1999), 24: „Markets and hierarchies are therefore not opposites, as they are sometimes presented, but rather markets create their own hierarchies through contracts.“ 84 H.-W. Micklitz, The Visible Hand of European Regulatory Private Law – The Transformation of European Private Law from Autonomy to Functionalism in Competition and Regulation, Yearbook of European Law 2009, 3. 85 A. Arrighetti et al., Contract law, social norms and inter-firm cooperation, 21 Cambridge Journal of Economics (1997), 171, 172; vgl. auch S.F. Deakin/F. Wilkinson, Contracts, cooperation and trust: the role of the institutional framework, Working paper/ ESRC Centre for Business Research, University of Cambridge, 1995 WP 10. 86 Kritisch etwa M. Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, 91 American Journal of Sociology (1985), 481, 502 ff. 87 Entwickelt von S. Macaulay, Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study, 28 American Sociological Review (1963), 55; I. Macneil, Contracts: Adjustment of Long-Term Economic Relations under Classical, Neoclassical, and Relational Contract Law, 72 Northwestern University Law Review (1978), 854. Näher dazu Grundmann, Kapitel 17. Zwischen Vertrag und Gesellschaft, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1293, unter II.

II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen

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auch durchaus der iustitia commutativa (und nicht nur Effizienz), etwa wenn sie opportunistisches Verhalten zulasten des anderen Vertragspartners unterbindet. Für die Vertragsrechtswissenschaft ist jedenfalls jüngst in grundsätzlicher Hinsicht angeregt worden, den theoretischen Schritt „from exchange to cooperation“ konsequent nachzuvollziehen: „cooperation supplementing exchanges and common activities as a second paradigm of contract law“.88 In einem etwas anderen, aber verwandten Ansatz hat Thomas Wilhelmsson ausgeführt, Verträge seien nicht mehr bloß antagonistisch, sondern kooperativ zu verstehen.89 Das antagonistische, kompetitive Element, das mit der Idee des Marktes einhergeht, ist jedenfalls tatsächlich keine zutreffende Beschreibung sämtlicher vertraglicher Beziehungen. Um diesen Gedanken mit anderen hier genannten Aspekten zusammenzuführen, lässt sich sagen: Verträge dienen nicht bloß der Richtigkeitsgewähr durch Ausgleich gegenläufiger Interessen, sondern ermöglichen Verfolgung und Gestaltung gemeinsamer Interessen. Für die späteren Teile dieser Arbeit, insbesondere die Frage von Machtverhältnissen zwischen Privaten und der Wirkung der EU-Grundrechte in dieser Hinsicht, wird eine wie hier skizzierte institutionell erweiterte Betrachtungsweise der Vertragslandschaft noch entscheidend werden.

II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen

Als oben die rechtliche Definition des Vertrages besprochen wurde, ging es genau genommen bereits um Vertragsrecht. Vertrag und Vertragsrecht sind insofern nicht scharf zu trennen.90 Dennoch kann man von der grundlegenden Institution Vertrag, vom Kern des Rechtsgebiets, jene Regeln unterscheiden, die mit ihm verbundene Fragen behandeln. Jene Regeln kann man begrifflich zum Vertragsrecht zusammenfassen. Im Folgenden soll dieses Vertragsrecht zunächst als Teil des Rechtssystems verortet und abgegrenzt werden (dazu 1.), um dann auf seine Funktionen zu sprechen zu kommen (dazu 2.).

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S. Grundmann et al., The Contractual Basis of Long-Term Organization – The Overall Architecture, in: S. Grundmann et al. (Hg.), The organizational contract: from exchange to long-term network cooperation in European contract law (2013), 3, 5. Vgl. auch schon Collins, Regulating contracts (2002). 89 So T. Wilhelmsson, Questions for a Critical Contract Law – and a Contradictory Answer: Contract as Social Cooperation, in: T. Wilhelmsson (Hg.), Perspectives of Critical Contract Law (1993), 9; dazu Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 429. 90 Dies klingt auch bei Hönn durch, wenn er fehlende Genauigkeit bei der Unterscheidung von Funktionen des Vertrags und des Vertragsrechts bemerkt, Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), 17 ff.

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

1. Vertragsrecht im Rechtssystem Das Vertragsrecht ist Teil des Privatrechts. Zwar gibt es – jedenfalls in Deutschland – auch öffentlich-rechtliche Verträge und ein öffentlichrechtliches Vertragsrecht, aber jedenfalls in dieser Schrift sollen diese außen vor bleiben und ausschließlich privatrechtliche Verträge behandelt werden. Von Interesse ist in systematischer Hinsicht vor allem die Position des Vertragsrechts innerhalb des Privatrechts. Während das Vertragsrecht in Deutschland klassischerweise nicht als eigenes Rechtsgebiet, sondern als Teil des Schuldrechts behandelt wird,91 hat es sich auf europäischer Ebene etabliert, von Vertragsrecht zu sprechen. So gibt es nicht nur die European Review of Contract Law, sondern auch eine Reihe von Standardwerken und Monographien, die das Vertragsrecht im Namen tragen.92 Kaum jemand spricht dagegen von europäischem Schuldrecht.93 Insofern folgt man der englischen Tradition, nach der es üblich ist, contract law als Gebiet für sich zu betrachten,94 während in anderen kontinentalen Rechtsordnungen durchaus Obligationenrecht den dominanten Oberbegriff bildet.95 Die Prominenz des Vertragsrechts hängt damit zusammen, dass der europäische Gesetzgeber den Vertrag als zentrale Kategorie in 91

Schließlich kennt das BGB nicht etwa ein Buch des Vertragsrechts. Im 1. Buch werden unter der Überschrift „Vertrag“ in den §§ 145 ff. lediglich Angebot und Annahme geregelt. Das 2. Buch behandelt das gesamte Schuldrecht, dessen allgemeiner Teil sowohl für Vertrag wie auch für gesetzliche Schuldverhältnisse gilt. Kritisch zur daraus folgenden mangelnden Fokussierung auf Verträge schon Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960 (1960), 101. Man vergleiche nur die Lehrbuchliteratur in Deutschland, statt aller D. Looschelders, Schuldrecht, Allgemeiner Teil (2014), D. Medicus/S. Lorenz, Schuldrecht: ein Studienbuch. 1. Allgemeiner Teil (2015). Anderer Ansatz, der das Vertragsrecht ins Zentrum, stellt bei S. Grundmann, On the Unity of Private Law from a Formal to a SubstanceBased Concept of Private Law, 18 European Review of Private Law (2010), 1055. 92 Beispielsweise K. Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013) für Unionsrecht; C. TwiggFlesner, The Europeanisation of contract law: current controversies in law (2013) für das Zusammenspiel zwischen nationalem und Unionsrecht sowie Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015) rechtsvergleichend; s.a. Schmidt-Kessel, Europäisches Vertragsrecht, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 373 oder Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003). 93 Mit Ausnahme mancher rechtsvergleichender Arbeiten, z.B. F. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht: Ein Handbuch mit Texten und Materialien (2009). 94 Vgl. die Standardwerke J. Chitty/H.G. Beale, Chitty on contracts (2012), E. McKendrick, Contract law: text, cases, and materials (2014) oder H. Collins, The law of contract (2003), Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006). 95 Dazu Schmidt-Kessel, Europäisches Vertragsrecht, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 373, 375; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 2 ff. Vgl. z.B. für Frankreich P. Malaurie et al., Les obligations (2013); F. Terré et al., Droit civil. Les obligations (2013).

II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen

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diversen Richtlinien und Verordnungen nutzt, nicht aber das Rechtsgeschäft oder die Obligation.96Allgemein ist festzustellen, dass die Taxonomie mit dem Vertragsrecht als eigenständigen Rechtsgebiet sich auf transnationaler und internationaler Ebene im Vordringen befindet.97 Im deutschen Recht deutet die Stellung des Vertragsrechts innerhalb der allgemeineren Kategorie des Schuldrechts § 311 Abs. 1 BGB an: Es gibt Schuldverhältnisse aus Vertrag und Schuldverhältnisse aus Gesetz. Damit folgt man einer schon im römischen Recht bekannten Systematik, die im allgemeinen auf Gaius zurückgeführt und in dessen Worten als summa divisio innerhalb der Obligationen bezeichnet wird.98 Unabhängig ihrer Genealogie hat diese grundlegende Unterscheidung von Schuldverhältnissen eine hohe Überzeugungskraft für sich.99 Die Abgrenzung hängt mit dem Tatbestand des Vertrages am Merkmal der Freiwilligkeit.100 Im Kern kommt es darauf an, ob ein Schuldverhältnis durch Vertragsschluss freiwillig eingegangen oder per Gesetz auferlegt wurde – eine Unterscheidung, die ähnlich schon Aristoteles mit der Rede von freiwilligen und unfreiwilligen Transaktionen traf.101 Inhaltlich begründet diese Zweiteilung einen ganz unterschiedlichen Charakter und Zweck der sich aufteilenden Rechtsgebiete: einerseits Regeln über freiwillig eingegangene Schuldverhältnisse, die konsensualen Austausch und Kooperation ermöglichen, andererseits gesetzlich auferlegte Pflichten. Zwar wurde insbesondere in anglo-amerikanischer Literatur in den 1970er Jahren der Fortbestand dieser Abgrenzung angezweifelt: Gilmore behauptete den „Death of Contract“,102 und sprach dabei nicht nur vom Vertrag, sondern vor allem auch vom Vertragsrecht, das nach seiner Sicht in einer Verflechtung mit torts aufginge. Bei allem Widerhall, den seine Schrift fand, darf sie in-

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Dazu Schulze/Zoll, Europäisches Vertragsrecht (2015), 50 ff. Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003). Belege dafür sind nicht nur im europäischen Raum die Principles of European Contract Law (PECL), sondern etwa auch die UNIDROIT Principles of Commercial Contracts (PICC). 98 Gai III 88: „Nunc transeamus ad obligationes. Quarum summa divisio in duas species diducitur: omnis enim obligatio vel ex contractu nascitur vel ex delicto.“ 99 Dazu auch P. Birks, Introduction, in: P. Birks (Hg.), English Private Law (2000), xxxv, insbes. xli f. 100 Darauf hinweisend auch Schmidt-Kessel, Europäisches Vertragsrecht, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 373, 375. 101 Hierzu sowie zur Entstehung der Unterteilung im römischen Recht R. Zimmermann, The law of obligations: Roman foundations of the civilian tradition (1996), 3 ff., 10 ff., der vermutet, Gaius wolle damit der aristotelischen Unterscheidung folgen. 102 G. Gilmore, The death of contract (1974); ähnliche Stoßrichtung bei P.S. Atiyah, The rise and fall of freedom of contract (1979). 97

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

zwischen als überholt gelten – wie eben ausgeführt erfreut sich das Vertragsrecht als Rechtsgebiet sogar einer größeren Prominenz als zuvor.103 Die genauen Trennlinien zwischen noch als Vertragsrecht begriffenem Recht und gesetzlichen Schuldverhältnissen verlaufen aber, trotz gemeinsamer römischer Wurzeln und dem recht klaren Unterscheidungskriterium, keineswegs in allen europäischen Rechtsordnungen einheitlich.104 Insbesondere bei vorvertraglicher Haftung bestehen Unterschiede. Geht man vom unionsrechtlichen Vertragsrechtsbegriff aus, dann gehört sie jedenfalls nicht zum Vertragsrecht, Art. 1 Abs. 2 i) Rom I-VO. Sieht man die Trennlinie durch die Freiwilligkeit der Verpflichtung begründet, so ist dies überzeugend: Bei Haftung vor Vertragsschluss liegt eben noch kein Konsens über Obligationen vor. Neben den äußeren lassen sich auch innere Grenzen des Vertragsrechts abstecken. Unterscheiden kann man insbesondere zwischen allgemeinem sowie besonderem Vertragsrecht. 105 Zum allgemeinen Vertragsrecht zählen demnach gemeinhin die Regeln, die grundsätzlich für alle Verträge gelten. Besonderes Vertragsrecht enthält dagegen Regeln, die nur bestimmte Vertragsarten betreffen – man kann dann etwa von Arbeitsvertragsrecht, Mietvertragsrecht oder Bankvertragsrecht sprechen. Diese Schrift ist weder auf eins solcher Teilgebiete noch ausschließlich auf das allgemeine Vertragsrecht ausgerichtet. Es geht bei der Wirkung von Grundrechten im Vertragsrecht um Grundfragen, die sich grundsätzlich für alle Verträge stellen können. Gleichzeitig muss ihre Wirkung aber nicht auf einen allgemeinen Teil des Vertragsrechts begrenzt sein. Vielmehr können sie sich auf bestimmte Vertragstypen in besonderem Maße auswirken. Dies wird noch unten in § 8 relevant werden.

103 So schon Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 4 – „durch die Renaissance des Vertrages überholt“. Gilmore behauptete auch nie, dass der Tod ein endgültiger sei – „Contract is dead – but who knows what unlikely resurrection the Easter-tide may bring?“ – Gilmore, The death of contract (1974), 103. 104 Dazu kursorisch Schmidt-Kessel, Europäisches Vertragsrecht, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 373, 376 f. 105 In Deutschland spricht man in der Regel von allgemeinem und besonderen Schuldrecht – vgl. statt aller Medicus/Lorenz, Schuldrecht: ein Studienbuch. 1. Allgemeiner Teil (2015); D. Medicus/S. Lorenz, Schuldrecht: ein Studienbuch. 2. Besonderer Teil (2014) Eine Unterteilung in allgemeines und besonderes Vertragsrecht gibt es für England beispielsweise bei P. Birks, English private law (2000), Volume II: zunächst „Contract: General Rules“, anschließend besondere Vertragsverhältnisse, etwa „Sale of Goods“, „Employment“, „Bailment“. Auch Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013) unterscheidet etwa „Allgemeine und übergreifende Regelungen“ (Teil 2) und „Regelungen zu einzelnen Vertragstypen“ (Teil 3); Unberath, Vertrag, in: Basedow et al. (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), 1677, 1678 unterscheidet „allgemeines Vertragsrecht“ und „spezielle Vertragstypen“.

II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen

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2. Funktionen des Vertragsrechts Oben wurde schon von den Funktionen des Vertrages gesprochen. Davon unterscheiden kann man die Funktionen des Vertragsrechts.106 Mit einer funktionalen Betrachtungsweise lässt sich von den einzelnen Vertragsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten abstrahieren, und sich womöglich ein allgemeingültiges, von nationaler Dogmatik unabhängiges Analyseraster finden. Auf einer Meta-Ebene besitzt das Vertragsrecht die Funktionen der Ermöglichung (1.) und der Regulierung (2.).107 Es ermöglicht Vertragsschlüsse sowie den korrespondierenden Austausch und somit auch die Verwirklichung der Ver106

Es wird oft von Funktionen des Vertrages, oft von Funktionen des Vertragsrechts gesprochen, ohne diese zu unterscheiden oder ausdrücklich in ein Verhältnis zu setzen. Zu Vertragsfunktionen etwa Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), 21 ff. (allerdings durchaus im Bewusstsein der Unterscheidung) und Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 59 ff. Von Funktionen des Vertragsrechts sprechen etwa K. Zweigert, „Rechtsgeschäft“ und „Vertrag“ heute, in: E. Caemmerer/M. Rheinstein (Hg.), Ius privatum gentium: Festschrift für Max Rheinstein zum 70. Geburtstag am 5. Juli 1969 (1969), 493, 501; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 41 ff. Vgl. auch Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960 (1960), 101 – Raiser, der zunächst von Funktionen des Vertrages spricht, behandelt später im Text auch, welche Ziele dem Vertragsrecht zukommen, spricht aber nicht ausdrücklich von Vertragsrechtsfunktionen, und setzt sie jedenfalls nicht genauer ins Verhältnis zu den Funktionen des Vertrages. 107 Eine ähnliche Unterteilung der Funktionen des Wirtschaftsprivatrechts findet sich schon bei E. Steindorff, Wirtschaftsordnung und -steuerung durch Privatrecht?, in: F. Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 621, 625 (Gewährung und Einschränkung von Freiheit; bezüglich Vertragsrecht); Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 14 f.; für Vertrags- und Gesellschaftsrecht Grundmann, On the Unity of Private Law from a Formal to a Substance-Based Concept of Private Law, 18 European Review of Private Law (2010), 1055 = S. Grundmann, Welche Einheit des Privatrechts? Von einer formalen zu einer inhaltlichen Konzeption des Privatrechts, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Festschrift für Klaus J. Hopt zum 70. Geburtstag am 24. August 2010: Unternehmen, Markt und Verantwortung (2010), 61. Privatrecht sei „von der Privatund Parteiautonomie her zu konzipieren, außerdem von der Regulierung, die ihre Funktionsbedingungen erhält“, 90 (letztere Quelle). Von Ermöglichung und Regulierung als Funktionen des Privatrechts (im Binnenmarkt) spricht auch Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 41. Im Kern auch schon É. Durkheim, De la division du travail social (1991), 193 (erste Aufl. 1893); dazu M. Renner, Kapitel 2. Privatrecht und Soziologie, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 121, 129 f. Andere funktionale Einteilung etwa bei D. Schmidtchen/R. Kirstein, Störung der Vertragsparität, in: C. Ott/H.B. Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse des Sozialschutzprinzips im Zivilrecht (2004), 1 f.: regelt (1.), „welche Vereinbarungen rechtsverbindlich sind“, (2.) „Liefert Anhaltspunkte, zur Definition von Rechten und Pflichten in unvollständigen oder nicht eindeutigen Verträgen“, (3.) Regelt die Konsequenzen von Leistungsstörungen.

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tragsfunktionen. Auf der anderen Seite reguliert es vertraglichen Abreden, stellt Bedingungen, Begrenzungen und Inhalte wirksamer Verträge auf – und auch dies, wie noch auszuführen ist, in erster Linie zugunsten besagter Vertragsfunktionen. Die Unterscheidung von Funktionen und Unterfunktionen des Vertragsrechts muss nicht bedeuten, dass sich jede Norm zweifelsfrei bloß einer bestimmten Funktion oder Unterfunktion zuordnen ließe.108 Vielmehr geht es hier darum herauszustellen, welche Zwecke dem Vertragsrecht insgesamt zugeschrieben werden. Es ist eine grundlegende Frage des Vertragsrechts, inwieweit es vertraglichen Austausch ermöglicht oder es ihn aber reguliert und begrenzt, ob es freie Kräfte walten lässt oder Spielregeln vorgibt. Auf grundsätzlicher Ebene ist es höchst umstritten, welche Funktionen oder Prinzipien und welches Verhältnis zwischen ihnen hierfür entscheidend sein sollen.109 Das Folgende ist als Annäherung an diese Problematik – nicht als Antwort – zu verstehen. Die Wirkung der Grundrechte entfaltet sich in diesem Spannungsfeld, was manchmal ausdrücklich, manchmal unterschwellig den Diskurs um ihre vertragsrechtliche Relevanz prägt. Für analytische und für argumentative Zwecke ist es vorteilhaft, diese Dimension explizit zu machen. a) Ermöglichung Vertragsrecht schafft ein Fundament, welches das Individuum für die selbstständige Organisation seines Rechtslebens nutzen kann. Das Privatrecht als Ganzes etabliert die Anerkennung von Personen als Rechtssubjekten und die Zuordnung von Gütern zu diesen Personen.110 Transaktionen zwischen den Personen über Güter sowie über persönliche Leistungen ermöglicht das Vertragsrecht.111 Grundlegend hierfür sind das Prinzip der Privatautonomie ei108 Nach Körber ist dies „oft schwierig, wenn nicht unmöglich“ – Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 41. 109 Überblicke z.B. bei D. Wielsch/B. Lomfeld, Foreword. The Public Dimension of Contract: Contractual Pluralism beyond Privity, Law and Contemporary Problems 2013, i; Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), 15 ff.; ausführlich Unberath, Die Vertragsverletzung (2007), 1. Teil. Für das europäische Vertragsrecht s. z.B. die Beiträge in R. Brownsword et al. (Hg.), The foundations of European private law (2011), insbesondere etwa M. Hesselink, If You Don’t Like Our Principles We Have Others – On Core Values and Underlying Principles in European Private Law: A Critical Discussion of the New “Principles” Section in the Draft Common Frame of Reference, in: R. Brownsword et al. (Hg.), The foundations of European private law (2011), 59. 110 Hierzu eingehender Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 41 ff.; vgl. auch Unberath, Die Vertragsverletzung (2007), 32 ff., 71 ff. 111 Zur Ermöglichungsfunktion etwa Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 14 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 41 ff.

II. Vertragsrecht und Vertragsrechtsfunktionen

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nerseits und der Grundsatz pacta sunt servanda andererseits. Privat gestaltete Regelungen werden von der Rechtsordnung anerkannt und als bindend durchgesetzt. Auch wenn Verträge unabhängig von (staatlichem) Recht faktisch effektiv sein können,112 so hat der staatliche Durchsetzungsmechanismus wenigstens eine bedeutende Förderungsfunktion. Er schafft Vertrauen in getätigte Versprechen, und Vertrauen ist ein „wichtiges, Transaktionskosten sparendes Bindemittel“.113 Indem Vertragsrecht verbindliche private Abreden ermöglicht, ermöglicht es (jedenfalls theoretisch) Selbstbestimmung, den gerechten Austausch von Wirtschaftsgütern, eine effiziente Ressourcenallokation, den Marktmechanismus und Kooperation. Es dient also mittelbar den Funktionen des Vertrages. Mit Blick auf den wirtschaftlichen Austausch sprechen manche bisweilen auch von „Tauschrecht“114 oder von „Transaktionsrecht“115 – zu ergänzen wäre nach der hier vertretenen Auffassung die Idee eines „Kooperationsrechts“. Zu dieser Ermöglichung bzw. Förderung vertraglicher Versprechen tragen aber keineswegs nur die genannten Prinzipien von Vertragsfreiheit und Vertragsbindung bei. Vielmehr sind hierfür insbesondere zahlreiche dispositive Vorschriften, default rules (dieser Begriff trifft die Sache griffiger),116 von entscheidender Bedeutung.117 Default rules bieten Auffangregelungen für alle Fälle und Sachverhalte, für welche die Vertragsparteien keine ausdrückliche Regelung getroffen haben. Naheliegend ist dies bei alltäglichen Geschäften, in denen keine AGB verwendet werden. Sind beim Brötchenkauf die Brötchen schlecht, dann greift das gesetzliche Gewährleistungsrecht, 112

Im Geschäftsleben kann die Sorge, seinen guten Ruf bei Vertragsbruch zu verlieren, als Zwangsmittel oft ausreichen, Verträge sind dann „self-enforcing“, Schwartz/Scott, Contract Theory and the Limits of Contract Law, 113 Yale Law Journal (2003), 541, 546. Allgemein zu sich selbst durchsetzenden Verträgen: A.T. Kronman, Contract Law and the Law of Nature, 1 Journal of Law, Economics, and Organization (1985), 5. 113 Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 403. Zur Schaffung von Vertrauen als Ausgangspunkt des Vertragsrechts Collins, Regulating Contracts (1999), 3 ff. 114 E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz: über die Grenzen von Staat, Gesellschaft und Privatautonomie (1984), 403 ff. (zuvor der entsprechende Abschnitt schon veröffentlicht als Mestmäcker, Über die normative Kraft privatrechtlicher Verträge, JZ 1964, 441). Der Begriff soll vor allem den Unterschied plastisch machen zwischen Vertragsrecht, das den konkreten Austausch betrifft, und Kartell- bzw. Wettbewerbsrecht, dass Wettbewerb in den Tauschverhältnissen sicherzustellen hat, also das große Ganze betrifft. 115 M. Renner, Transnationale Wirtschaftsverfassung, RabelsZ 78 (2014), 750, 761. 116 Der Begriff dispositives Recht betont die Abdingbarkeit von Regeln; der Begriff default rules betont die Reserveordnungsfunktion. 117 Steindorff, Wirtschaftsordnung und -steuerung durch Privatrecht?, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 621, 627; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004).

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wenn die Parteien es – wie wohl üblich – nicht für notwendig hielten, ein abweichendes Vertragswerk zu vereinbaren. Aber auch bei längeren Vertragstexten, die ausführlich ausgehandelt und anwaltlich durchdacht sind, bleiben regelmäßig Lücken, ja sind wohl Lücken unvermeidbar.118 Williamson geht so weit zu sagen: „All complex contracts are unavoidably incomplete.“119 Dispositives Recht spart Transaktionskosten, indem es Parteien abnimmt, sich über alles und jede mögliche Zukunft Gedanken machen zu müssen.120 Insofern kann es dem Effizienzziel dienen. Genauso sehr ermöglicht es hiermit aber auch Selbstbestimmung. Es erlaubt es, sich auf wesentliche Entscheidungen zu konzentrieren, unter der Annahme, dass der Gesetzgeber hilfsweise Regeln zur Verfügung stellt. Insofern es bei Lücken darauf zielt, einen angemessenen Interessenausgleich herzustellen, dient es kommutativer Gerechtigkeit. Freilich können dabei Spannungen zwischen verschiedenen Unterfunktionen entstehen. Die Vorschrift, welche kommutative Gerechtigkeit am ehesten verwirklicht, muss nicht gleichzeitig die effizienteste sein, und ebenso können andere Friktionen auftreten. Verschiedene positive Vertragsrechtsordnungen können hier unterschiedliche Akzente setzen – ob gezielt oder ungezielt –, welche die eine oder andere Funktion weitergehend verwirklichen. Hintergrund hierfür können insbesondere auch divergierende theoretische Paradigmen (etwa Betonung von formaler Autonomie, Austauschgerechtigkeit oder Effizienz) sein. Insofern lässt sich keineswegs sagen, dass vollständiges Einvernehmen über die Funktionen des dispositiven Vertragsrechts und seine Kapillaren bestünde.121 Deutlich umstrittener ist im vertragstheoretischen Diskurs aber die Thematik zwingender Normen und ihrer Funktionen. b) Regulierung Vertragsrecht reguliert den vertraglichen Austausch, indem es Bedingungen für die Wirksamkeit von Verträgen jenseits der bloßen Einigung aufstellt und indem es mögliche Vertragsinhalte begrenzt und bestimmte Vertragsinhalte vorgibt. 122 Der Regulierungsfunktion lassen sich die Normen zwingenden 118

F. Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 33. O.E. Williamson, The Theory of the Firm as Governance Structure: From Choice to Contract, 16 The Journal of Economic Perspectives (2002), 171, 174; Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), 70 ff. 120 s. etwa Schwartz/Scott, Contract Theory and the Limits of Contract Law, 113 Yale Law Journal (2003), 541, 594 ff.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 44. 121 Ausführliche Diskussion bei Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 31 ff. 122 Von „Begrenzungsfunktion“ spricht Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 14; von „Regulierungsfunktion“ etwa Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 46. 119

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Vertragsrechts zuordnen. Auch default rules können zwar Steuerungseffekte haben,123 doch fasst man sie üblicherweise nicht unter regulatives Recht.124 Sie sind gewissermaßen ein Angebot für den Inhalt privaten Rechts, aber nicht seine Grenze. Dass zwingendes Recht überhaupt einen wesentlichen, ja kennzeichnenden Teil des Privatrechts ausmacht, wurde nicht immer so gesehen. Zur Zeit der Pandektenwissenschaft wurden zwingende Regeln weithin noch zum öffentlichen Recht gezählt, während das Privatrecht die staatlich unregulierte Sphäre betreffen sollte.125 Windscheid sprach zwingende Regeln als Ausnahme vom Grundsatz der Privatautonomie immerhin ausdrücklich an,126 doch nahmen sie auch aus seiner Sicht bestenfalls eine Randstellung ein. 127 Heute kann man dagegen nicht mehr abstreiten, dass zwingendes Recht einen erheblichen Teil des Privatrechts ausmacht – man denke nur an Verbraucherrecht, Mietrecht, Arbeitsrecht.128 Regulatory private law ist auf 123 Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 38 ff. mwN. Zur Wirkmacht dispositiven Rechts: R. Korobkin, The Status Quo Bias and Contract Default Rules, 83 Cornell Law Review (1998), 608; und darauf aufbauend R. Korobkin, The Endowment Effect and Legal Analysis, 97 Northwestern University Law Review (2003), 1227; außerdem: O. Ben-Shahar/J. Pottow, On the Stickiness of Default Rules, 33 Florida State University Law Review (2006), 651. Im Grunde auch schon Durkheim, De la division du travail social (1991), 193 (erste Aufl. 1893). 124 S. z.B. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 46 ff. 125 Hierzu Renner, Zwingendes transnationales Recht (2010), 25. Der zwingende Charakter wäre danach von manchen Autoren mit dem öffentlich-rechtlichen Charakter von Normen gleichgesetzt worden. Aus jüngerer Zeit eher skeptisch gegenüber zwingendem Vertragsrecht z.B. N. Jansen, Revision des Acquis communautaire?, ZEuP 2012, 741, 767. 126 B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1906), § 30: „Es gibt Rechtssätze, welche jede Privatwillkür ausschließen: Sie kommen zur Anwendung, auch wenn die Personen, für welche sie gegeben sind, erklären, daß sie nicht zur Anwendung kommen sollen.“ 127 Renner, Zwingendes transnationales Recht (2010), 26; Steindorff, Wirtschaftsordnung und -steuerung durch Privatrecht?, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 621, 625; W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts: eine Einführung in die Nationalökonomie (1954), 130 f. 128 Ausführlich zu zwingenden Normen A. Abegg, Die zwingenden Inhaltsnormen des Schuldvertragsrechts: ein Beitrag zu Geschichte und Funktion der Vertragsfreiheit (2004); s. auch Renner, Zwingendes transnationales Recht (2010), 28 ff. Dieser betrachtet zwingendes Recht auch aus dem Blickwinkel der Systemtheorie: Die eigentlich getrennten Systeme Recht, Wirtschaft und Politik träfen beim Phänomen der zwingenden Normen aufeinander (strukturelle Kopplung) – die Politik griffe also mit Mitteln des Rechts in die Wirtschaft ein, S. 36 ff. Zwingende Regeln bildeten den Kern dessen, was man als Wirtschaftsverfassung bezeichnete, S. 43. Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), unterscheidet zwingendes Recht anhand dreier Kategorien von Schutzfunktionen: Funktions-, Beteiligten-, und Drittschutz, s. S. 19. Funktionsschutz ziele dabei auf die Funktionsfähigkeit von Märkten und Organisationen ab, S. 172 ff. Mit Beteiligtenschutz meint er vor allem den Schutz der Selbstbestimmung, und zwar ausdrücklich einer-

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EU-Ebene zu einem ganzen Rechts- und Forschungsgebiet geworden.129 Regulatory contract law könnte man als einen wesentlichen Teil hiervon sehen.130 Regulierende Vorschriften dienen, wie im Folgenden gezeigt werden soll, zum größten Teil den Funktionen des Vertrages. Die Rationalität des Rechtsgebietes Vertragsrecht lässt sich also im Wesentlichen auf die Funktionen seines Kerns zurückführen. Die Fragen, welche Funktionen dabei im Konfliktfall vorgehen und auf welchem Wege die Vertragsfunktionen zu unterstützen sind, bilden freilich den Gegenstand erheblicher Kontroversen – auf theoretischer Ebene, wie sie hier behandelt wird, aber auch bei der Auslegung des geltenden Rechts.131 Es ginge zu weit, hier nach dem theoretisch richtigen Verhältnis konfligierender Funktionen zu fragen oder ihre Auflösung auch nur für eine Rechtsordnung praktisch untersuchen zu wollen. Eine funktionale Übersicht reicht aus, um aufzuzeigen, in welchem Rahmen und innerhalb welchen Spannungsfeldes EU-Grundrechte wirken und eingeordnet werden können. seits auf den konkreten Vertrag, andererseits langfristig bezogen, S. 168 ff. Drittschutz meint den Schutz von allen am Vertrag Unbeteiligten, S. 165 ff. 129 H.-W. Micklitz et al., European Regulatory Private Law – The Paradigms Tested, EUI Working Paper Law No. 2014/04. Dieser Beitrag ist Teil eines ganzen Forschungsprojektes „European Regulatory Private Law“ – s. https://blogs.eui.eu/erc-erpl/. Grundlegend Micklitz, The Visible Hand of European Regulatory Private Law – The Transformation of European Private Law from Autonomy to Functionalism in Competition and Regulation, Yearbook of European Law 2009, 3. 130 H.-W. Micklitz, Introduction, in: H.-W. Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 1, 7 („regulatory role of contract law“). Zum Vertragsrecht als (zusammen mit Gesellschaftsrecht) Kern des Privatrechts, der sich aus dem Spannungsfeld zwischen privatautonomer Regelung und Regulierung konstituiert Grundmann, On the Unity of Private Law from a Formal to a Substance-Based Concept of Private Law, 18 European Review of Private Law (2010), 1055. 131 Diskussionen verschiedener Vertragsrechtskonzepte, die sich aufgrund der Offenheit der Entwicklungsmöglichkeiten in jüngerer Zeit vor allem auf europäischer Ebene entwickelt hat, etwa bei K. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), 579 ff.; Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 370 ff., 393 ff., 427 ff.; Wilhelmsson, Varieties of Welfarism in European Contract Law, 10 European Law Journal (2004), 712; S. Grundmann, European Contract Law(s) of What Colour?, 1 European Review of Contract Law (2005), 184; Hesselink, If You Don’t Like Our Principles We Have Others – On Core Values and Underlying Principles in European Private Law: A Critical Discussion of the New “Principles” Section in the Draft Common Frame of Reference, in: Brownsword et al. (Hg.), The foundations of European private law (2011), 59. Aus der deutschen Diskussion grundlegend zu Regulierungszielen des Vertragsrechts Raiser, Vertragsfunktion und Verrtagsfreiheit, in: von Caemmerer (Hg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 18601960 (1960), 101; Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982); Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht (1997).

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Zunächst zur Förderung der Vertragsfunktionen und hier zur Funktion der Selbstbestimmung: Eine Reihe von Vorschriften gibt typischerweise vor, dass Verträge nicht wirksam sind, bei welchen es an einer freien, selbstbestimmten Willensbildung mangelt. Ganz klassische Normen lassen sich hier unterordnen, welche die Nichtigkeit bei Drohung, Täuschung oder Minderjährigkeit begründen. 132 Andere Vorschriften haben den Zweck, Selbstbestimmung positiv zu fördern. Hierzu zählen insbesondere die dem Informationsmodell verpflichteten Normen, die auf ein Mehr an bewusster, möglichst rationaler Entscheidung zielen.133 Informationspflichten und die sonstigen bisher angesprochenen Regeln betreffen Selbstbestimmung in der vorvertraglichen Phase. Möglich sind daneben regulatorische Eingriffe jenseits des Vertragsschlusses, insbesondere in Verträgen mit Langzeitwirkung. Dazu gehört etwa die Begrenzung von Weisungsrechten oder Wettbewerbsverboten. Auch das bekannte Bürgschafts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann man so lesen, dass es die langfristige Selbstbestimmung der Bürgin schützen wollte, die bei Wirksamkeit der Bürgschaft auf lange Jahre hinaus in ihrer wirtschaftlichen Selbstbestimmung eingeschränkt wäre.134 Es geht dann also auch um zukünftige Selbstbestimmung über den Vertrag hinaus. 135 Ein materiales Konzept von Vertragsfreiheit wird im Allgemeinen zu mehr regulativen Normen führen als ein formales, laissez faire begünstigendes Autonomieverständnis. Denn ein materiales Konzept betont die Überprüfungsbedürftigkeit vertraglicher Entscheidungen im Hinblick auf tatsächliche Selbstbestimmung. Vertragsrecht kann außerdem das Ziel gerechten Austauschs fördern. Es kann einerseits die Richtigkeitschance durch prozedurale Vorgaben in der vorvertraglichen Phase erhöhen, und es kann andererseits ein inhaltlichregulatives Sicherheitsnetz schaffen, das zur Stelle ist, wenn die Richtigkeitschance versagt. Was die Vorgaben für die Phase des Vertragsschlusses angeht, lassen sich etwa Formvorschriften und auch Informationspflichten, insbesondere gegenüber Verbrauchern hier ebenfalls einordnen. Werden rechtliche Konsequenzen etwa durch ein Schriftformerfordernis deutlich 132

Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 24 ff. 133 K. Riesenhuber, Party Autonomy and Information in the Sales Directive, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), 348, 366 ff.; S. Grundmann et al. (Hg.), Contract Governance (2015), 23; Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 25 ff.; kritisch Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität (2016), im Erscheinen. 134 BVerfGE 89, 214. 135 Zu dieser Unterscheidung auch Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 168 ff.

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gemacht oder die genauen Vertragsfolgen informativ spezifiziert, kann das dazu führen, dass man nachteilhaften Vertragsbedingungen jedenfalls tendenziell seltener zustimmt.136 Deutlich weiter geht der regulative Einfluss bei Normen, die den Vertragsinhalt betreffen. Insbesondere die AGB-Kontrolle, die auf ein angemessenes Gleichgewicht der Vertragspflichten zielt, ist hier zu nennen, ein anderes Beispiel ist die Unwirksamkeit von Wuchergeschäften. Außerdem kann man beispielsweise Arbeitsschutzvorschriften so verstehen, dass sie unangemessene Gefährlichkeit von Leistungshandlungen von Arbeitnehmern begrenzen. Regulatorisches Vertragsrecht kann außerdem einer effizienten Ressourcenallokation dienen.137 Es kann Transaktionen zu unterbinden suchen, die nachteilhaft für die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt sind.138 So ist etwa die Unwirksamkeit von Verträgen, die unter Drohung oder Täuschung zustande gekommen sind, grundsätzlich effizienzökonomisch sinnvoll – schließlich werden mit solchen „Verträgen“ auch gerade nicht die eigentlichen Präferenzen verfolgt.139 Des Weiteren können Vorschriften, die auf begrenzt rationales Verhalten regulatorisch reagieren, hier eingeordnet werden.140 Dazu gehören z.B. Warnungen oder Vorgaben zur Produktsicherheit. Die Forschungsrichtung der behavioural law and economics, die sich mit solchen Vorschriften beschäftigt, ist schließlich zu einem Großteil unter der Annahme auf rationales Verhalten ausgerichtet, dass es effizient sei.141 Da sich ineffizienter Austausch etwa aus Informationsasymmetrien ergeben kann, können Informationspflichten (jedenfalls theoretisch) auch als effizienzsteigernde Normen eingeordnet werden.142

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Riesenhuber spricht von der „chance to make an informed decision“, Riesenhuber, Party Autonomy and Information in the Sales Directive, in: Grundmann et al. (Hg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), 348, 367. 137 Ökonomische Analyse des Vertragsrechts in dieser Hinsicht z.B. bei R. Cooter/T. Ulen, Law & economics (2012); für dieses Ziel argumentieren z.B. Schwartz/Scott, Contract Theory and the Limits of Contract Law, 113 Yale Law Journal (2003), 541, 555 ff. 138 Zusammenfassend etwa Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht (2014), 915 ff. 139 S. z.B. Cooter/Ulen, Law & economics (2012), 343 ff., 361, Übersicht auf 371. 140 Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht (2014), 919; grundlegend R. Thaler/C.R. Sunstein, Libertarian Paternalism, 93 The American Economic Review (2003), 175. 141 Z.B. Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht (2014), 919. 142 Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht (2014), 918.

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Gerade in rechtsökonomischer Literatur wird außerdem die marktfunktionale Ausrichtung des Vertragsrechts betont oder gefordert. Zwar beruht der Markt nach (neo)-klassischem Verständnis gerade auf der Abwesenheit von Regulierung, auf laissez faire und entfesseltem Austausch. Andererseits ist in der Realität Marktversagen unbestreitbar, und regulatorisches Recht kann Abhilfe schaffen und teils zu mehr Wettbewerb beitragen. Wie schon oben angedeutet, besteht insofern eine erhebliche Überschneidung zum Effizienzziel.143 Heute wird beispielsweise das AGB-Recht in diesen Zusammenhang gestellt. Regelmäßig führt man als Grundlage für die Klauselkontrolle an, dass es überhaupt keinen „market for terms“ gibt, oder dieser jedenfalls ganz erheblich gestört ist.144Auch Antidiskriminierungsrecht kann Marktstörungen korrigieren. Diskriminierung aufgrund von Merkmalen wie Rasse oder Geschlecht beinhaltet schließlich, sich auf ökonomisch an sich irrelevante Faktoren zu stützen. Man kann behaupten, dass es in einem vollkommenen Markt keine Diskriminierung gäbe und Antidiskriminierungsrecht somit auf ein Marktversagen reagiert.145 Schlussendlich kann Vertragsrecht auch der Regulierung zugunsten von Kooperation dienen. Zahlreiche Vorschriften zielen fraglos auf die Regulierung von Langzeitverträgen und Hierarchien. Kaum irgendwo ist die Regulierungsdichte so hoch wie im Arbeitsrecht, das mit dem Arbeitsvertrag einen Kernbestandteil hierarchischer Institutionen betrifft. Dass es dabei um Regulierung zugunsten von Kooperation geht, wird allerdings kaum diskutiert. Tatsächlich kann man in der zwingenden Ausgestaltung von Langzeitverhältnissen aber den Sinn erkennen, eine kooperativ fruchtbare Plattform zu schaffen, von der beide profitieren und auf der nicht einer den anderen opportunistisch ausnutzt. Insofern läge diese Regulierungsfunktion nah bei Thomas Wilhelmssons vertragstheoretischem Konzept, nach dem Vertragsrecht Kooperation statt antagonistischem Widerstreit dient, sowie bei Lurgers Vertragsrechtsmodell, das Fairness und Rücksichtnahme betont.146 Schlussendlich kann Regulierung Zwecken dienen, die über die Verwirklichung der Vertragsfunktionen hinausgehen. Man könnte insoweit von „privatrechtsfremden Zwecken“ sprechen, oder konkreter von vertragsrechtsfremden.147 Eine solche Bezeichnung könnte man so verstehen, dass diese Funktionen für das Vertragsrecht verhältnismäßig neu und noch nicht assimi143

S. § 1 I 2. d). S. schon F. Kessler, Contracts of Adhesion – Some Thoughts about Freedom of Contract, 43 Columbia Law Review (1943), 629; aus kontemporärer Literatur etwa Collins, Regulating contracts (2002), 228; J. Basedow, in: Münchener Kommentar (2012), Rn. 5; teils kritisch L. Leuschner, Gebotenheit und Grenzen der AGB-Kontrolle, AcP 207 (2007), 491. 145 Hierzu noch unten § 9 II. 2. c). 146 Zu diesen beiden schon oben § 1 I. 2. e) mit Nachweisen in Fn. 89. 147 So Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 52. 144

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liert sind, oder man mag ihnen entnehmen, dass sie eigentlich nicht ins Privatrecht gehören. Eine solche Bewertung ist hier, in dieser allgemeinen analytischen Übersicht, jedoch nicht beabsichtigt. Als Kandidaten für solche sonstigen Zwecke werden jedenfalls etwa umweltschützende oder sozialpolitische Normen ausgemacht.148 Insbesondere ließe sich auch eine distributive Zielsetzung, eine Umverteilung mit regulativem Vertragsrecht verfolgen. Inwieweit dies eine Funktion des Vertragsrechts sein sollte oder geltende Rechtsnormen in solchem Sinne auszulegen sind, ist freilich eine höchst umstrittene Frage.149 Zu regulativen Normen mit „vertragsrechtsfremder“ Funktion könnte man im Übrigen auch etwa Vorschriften zählen, die bestimmen, dass Verträge über den Handel mit verbotenen Substanzen unwirksam sind – im Fall von Drogen handelte es sich dann um eine gesundheitspolitische Zielrichtung.150

III. Europäisches Vertragsrecht und seine Funktionen III. Europäisches Vertragsrecht und seine Funktionen

Dem Begriff des europäischen Vertragsrechts kann man heutzutage verschiedene Bedeutungen zuschreiben: Einmal kann man es als akademisches Arbeitsfeld begreifen und hierunter jene Arbeiten fassen, die sich rechtsvergleichend mit Aufdeckung von Gemeinsamkeiten und Entwicklungslinien der verschiedenen nationalen Rechte beschäftigen.151 Hierzu gehören zuvorderst auch Regelwerke von Gelehrtenkommissionen, namentlich die Principles of European Contract Law der Lando-Kommission und später der (Draft) Common Frame of Reference.152 Für dieses Gebiet spricht man häufig aber

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Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 52. Dazu z.B. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht (1997); L. Kaplow/S. Shavell, Should Legal Rules Favor the Poor? Clarifying the Role of Legal Rules and the Income Tax in Redistributing Income, 29 Journal of Legal Studies (2000), 821; R. Markovits, Why Kaplow and Shavell’s “Double Distortion Argument” articles are wrong, 13 George Mason Law Review (2005), 511. 150 Dazu schon Steindorff, Wirtschaftsordnung und -steuerung durch Privatrecht?, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 621, 638 f. 151 S. etwa das Werk Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015). 152 Überblick bei K. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 27 ff.; N. Jansen, Dogmatising Non-legislative Codifications: Non-legislative Reference Texts in European Legal Discourse, in: R. Brownsword et al. (Hg.), The Foundations of European Private Law (2011), 31. Zu einem Kommentar-Projekt aus jüngster Zeit, das dieser Richtung zugeordnet werden kann N. Jansen, Commenting upon European Contract Law, GPR 2015, 2. 149

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auch nicht von europäischem, sondern gemeineuropäischem Privatrecht.153 Es ist nicht positives Recht einer europäischen Institution, sondern es speist sich aus (wissenschaftlich ermittelten) Gemeinsamkeiten der europäischen Rechtsordnungen. In dieser Arbeit wird unter europäischem Vertragsrecht etwas anderes verstanden: Das Recht der Europäischen Union, das Verträge betrifft. Im Bereich der richterlichen Rechtsfortbildung mögen die Grenzen zum gemeineuropäischen Recht verschwimmen, etwa wenn der EuGH von der Methode der wertenden Rechtsvergleichung Gebrauch macht.154 Im Kern aber geht es um deutlich abgrenzbares, positiv geltendes Recht einer konkreten Rechtsordnung. Dieses unterscheidet sich in Form und Inhalt deutlich von nationalen Vertragsrechten. Im Folgenden werden zunächst Quellen und Erscheinungsformen des europäischen Vertragsrechts skizziert (dazu 1.), um dann – getreu dem bisherigen Ansatz – auf seine Funktionalität zu sprechen zu kommen (dazu 2.). Diese weicht ebenfalls von nationalen Vertragsrechten ab. Sowohl in struktureller wie auch in inhaltlicher Sicht ist die Wirkung der EUGrundrechte nicht ohne Berücksichtigung dieser Eigenarten korrekt zu erfassen. 1. Quellen und Erscheinungsform des europäischen Vertragsrechts Das Vertragsrecht der Europäischen Union ist bekanntlich nicht in einem einheitlichen Regelwerk niedergelegt, sondern in zahlreichen verschiedenen Rechtsakten verteilt. Diese Rechtsakte umfassen auch nicht das Vertragsrechts als Ganzes, sondern regeln lediglich, gewissermaßen inselweise,155 verschiedene einzelne „Lebensausschnitte“ 156 und ergeben so ein „Archipel“157 von Normen. Die in den vergangenen Jahren durch den EuGH entwickelte Figur der „allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts“ 158 kann zwar eini153

Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 27; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 39 ff.; vgl. z.B. auch den Titel C. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht (1996). 154 Gegen deren Gebrauch im Bereich des Schuldvertragsrechts S. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht: das europäische Recht der Unternehmensgeschäfte (nebst Texten und Materialien zur Rechtsangleichung) (1999), Rn. 182, 184 ff.; vgl. aber auch die Rechtsprechung zu allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts, unten Fn. 158. 155 F. Rittner, Das Gemeinschaftsprivatrecht und die europäische Integration, JZ 1995, 849, 851. 156 So der Begriff, den Riesenhuber nutzt, Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 1. 157 Dieses Bild bei J. Basedow, Das BGB im künftigen europäischen Privatrecht: Der hybride Kodex, AcP 200 (2000), 445. 158 Zu dieser Figur die Urteile EuGH Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I6415, Rn. 24; C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383, Rn. 42; C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315, Rn. 26 (hier in der deutschen Fassung zwar „Grundsätze bürgerlichen

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ge Lücken innerhalb des Unionsrechts schließen und ein Mittel systematischer Pflege sein, aber sie ändert nichts an dem grundsätzlich archipelartigen Charakter des EU-Vertragsrechts. Ebenso wenig ändert daran die – ohnehin bisher nicht sonderlich weitgehende – Revision des acquis communautaire, den die Kommission 2004 zwecks der Beseitigung von Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen unionsrechtlichen Normen und zur richtlinienübergreifenden Standardisierung angestoßen hatte. 159 Jüngst ist außerdem ein wesentliches Vorhaben aus dem damals begonnen Prozess, das zu mehr supranationaler Vereinheitlichung führen sollte, gescheitert: der Verordnungsvorschlag für ein (optionales) Gemeinsames Europäisches Kaufrecht.160 Fehlt schon für ein solches nur optional konzipiertes Instrument die politische Überzeugung, dürfte sich an der fragmentarischen Erscheinungsform des europäischen Vertragsrechts mindestens mittelfristig nichts ändern. Diese fragmentarische Natur ist für den Anwendungsbereich der EUGrundrechte von entscheidender Bedeutung, weswegen es sich lohnt, die wichtigsten Rechtsquellen überblicksartig darzustellen. 161 EU-Grundrechte sind nämlich jedenfalls nicht anwendbar in Vertragsverhältnissen, die in keiner Weise durch Europarecht geregelt sind.162 Europäisches Vertragsrecht ist vor allem Sekundärrecht, es ergibt sich zum größten Teil aus Richtlinien Rechts“, in der englischen allerdings wie sonst auch „principles of civil law“ und in der französischen „principes de droit civil“); C-215/08 (Friz), Slg. 2010, I-2974. Diese haben eine Reihe von Stellungnahmen und Analysen ausgelöst, s. etwa A. Hartkamp, The General Principles of EU Law and Private Law, RabelsZ 75 (2011), 241; M. Hesselink, The General Principles of Civil Law: Their Nature, Roles and Legitimacy, in: D. Leczykiewicz/S. Weatherill (Hg.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), 131; S. Weatherill, The ‘principles of civil law’ as a basis for interpreting the legislative acquis, 6 European Review of Contract Law (2010), 74; und zur Frage der Privatautonomie in diesem Kontext G. Comparato/H.-W. Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: U. Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 125 f.; den Ansatz monographisch weiterentwickelnd N. Reich, General principles of EU civil law (2014). 159 Vgl. Communication from the Commission to the European Parliament and the Council (11.10.2004), European Contract Law and the revision of the acquis. The way forward, COM (2004) 651 final. Überblick bei Jansen, Revision des Acquis communautaire?, ZEuP 2012, 741, 743 ff. 160 E. Clive, Proposal for a Common European Sales Law withdrawn (2015) – http:// epln.law.ed.ac.uk/2015/01/07/proposal-for-a-common-european-sales-law-withdrawn, zum Vorschlag in: Mitteilung der Kommission: Ein gemeinsames europäisches Kaufrecht zur Erleichterung grenzübergreifender Geschäfte im Binnenmarkt – KOM 2011/0636 endgültig. 161 Ähnliche Überblicke wie der folgende bei Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 2 ff.; Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), 8 ff.; Schulze/Zoll, Europäisches Vertragsrecht (2015), 35 ff. 162 Dazu noch ausführlich unten § 3 I., dort insbesondere 3.

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sowie einigen Verordnungen. Für Verträge relevant sind daneben auch einige Vorschriften des Primärrechts, namentlich Grundfreiheiten,163 die Art. 101 ff. AEUV sowie das Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV. Auch EUGrundrechte könnte man, soweit sie für Verträge von Bedeutung sind, zum Europäischen Vertragsrecht als solchem zählen.164 Da sie den Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Schrift bilden und gerade ihr Verhältnis zum Europäischen Vertragsrecht im Übrigen interessiert, bleiben sie bei der folgenden überblickartigen Bestandsaufnahme aber außen vor.165 Bei manchen der erwähnten Richtlinien mag man sich fragen, ob sie überhaupt dem Privatrecht zuzuordnen sind – schließlich lassen Richtlinien ihrer Konzeption nach Umsetzungsspielräume, lassen teilweise offen, ob öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Formen zu wählen sind. Ohnehin könnte man fragen, nach welchem Kriterium man privates von öffentlichem Recht auf europäischer Ebene abgrenzen sollte.166 Hier sollen, in einem Ansatz, wie ihn auch Riesenhuber verfolgt, 167 im Folgenden jene Vorschriften aufgezählt werden, bei denen eine privatrechtliche (insbesondere vertragsrechtliche) Umsetzung jedenfalls in Frage kommt. Für die Qualifizierung als vertragsrechtlich soll ausreichen, dass eine Vorschrift Inhalt, Folgen und Wirksamkeit von Verträgen beeinflussen kann. Von besonderer Prominenz und Relevanz ist europäisches Antidiskriminierungsrecht.168 Schon früh im Integrationsprozess wurden die Vorgängerregelungen des heutigen Art. 157 AEUV über den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen vor dem EuGH als zwingendes Vertragsrecht praktisch relevant.169 Auch die Grundfreiheiten verbieten in ihren jeweiligen Anwendungsbereich Diskriminierungen. 170 Spricht man heute von EUAntidiskriminierungsrecht, meint man aber vor allem Sekundärrecht. Nach der Jahrtausendwende nahm der europäische Gesetzgeber eine Vorreiterrolle 163 Hierzu ausführlich etwa Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003); Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004). 164 Daher auch die Erwähnung bei Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), 25 ff. 165 Ausführlichere Darstellungen des Europäischen Vertragsrechts bei Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 89 ff.; dies fortführend, aber ganz neu konzipiert Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013) sowie bei B. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2012), 126 ff. 166 Hierzu Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 24 f.; N. Reich, The Public/Private Divide in European Law, in: H.-W. Micklitz/F. Cafaggi (Hg.), European private law after the Common Frame of Reference (2010), 56; H.-W. Micklitz, Rethinking the public/private divide, in: M. Maduro et al. (Hg.), Transnational law: rethinking European law and legal thinking (2014), 271. 167 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 24 ff. 168 S. etwa eingehend R. Schulze, Non-discrimination in European private law (2011); Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), 98 ff. 169 S. EuGH Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455. 170 S.a. Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), 99.

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auf dem Gebiet des Gleichbehandlungsrechts ein, auf Grundlage neu geschaffener Kompetenzen durch den Amsterdamer Vertrag. Es ergingen die Rassendiskriminierungsrichtlinie, 171 welche Diskriminierung aus rassistischen oder ethnischen Gründen betrifft, die Geschlechterdiskriminierungsrichtlinie,172 die Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter auch außerhalb der Arbeitswelt173 sowie die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie,174 die sich auf Diskriminierungen wegen der Religion, der Weltanschauung, Behinderungen, des Alters oder der sexuellen Orientierung bezieht. Eine besondere Breite und Tiefe besitzt Unionsrecht außerdem auf dem Gebiet des Verbrauchervertragsrechts. 175 Jüngst vereinte die Verbraucherrechte-Richtlinie 176 zuvor verstreute Regelwerke, und enthält nunmehr sowohl allgemeine Informationspflichten für Verbraucherverträge177 als auch spezielle, weitergehende Vorgaben für Fernabsatzgeschäfte und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge.178 Daneben ist die Klauselrichtlinie179 von besonderer Bedeutung: Sie betrifft die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, die Verbrauchern gestellt werden. Außerdem zu nennen sind Vorschriften zu besonderen Verbraucherverträgen, namentlich die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie,180 die insbesondere Gewährleistungsrechte des Verbrauchers sowie Rückgriffsrechte in der Lieferkette enthält, sowie die

171 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft. 172 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. 173 Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. 174 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. 175 Ausführlich z.B. H.-W. Micklitz et al., Cases, materials and text on consumer law (2010); N. Reich et al., European consumer law (2014); S. Weatherill, EU Consumer Law and Policy (2013). 176 Die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates. 177 Art. 5 der Richtlinie. 178 Art. 6 ff. der Richtlinie. 179 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. 180 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter.

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Verbraucherkreditrichtlinie181 und die Fernabsatz-Finanzdienstleistungsrichtlinie.182 Eine Verbraucherschutzrichtung haben ebenfalls die Pauschalreiserichtlinie, 183 die Fluggastrechteverordnung 184 und die Timesharingrichtlinie,185 welche Teilzeitwohnrechte betrifft. Weitreichende Vorschriften hat der europäische Gesetzgeber außerdem auch für Arbeitsverträge erlassen.186 Einerseits gelten die bereits genannten sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbote insbesondere auch im Arbeitsrecht. Spezifisch arbeitsrechtlich ist daneben unter anderem die Arbeitszeitrichtlinie,187 welche nicht nur tägliche und wöchentliche Ruhe- und Höchstarbeitszeiten, sondern auch Urlaubsansprüche betrifft. Dazu kommen die Teilzeitrichtlinie, 188 die Befristungsrichtlinie, 189 die Leiharbeitsrichtlinie, 190 die Mutterschutzrichtlinie, 191 die Elternurlaubsrichtlinie 192 und die Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie,193 um nur einige zu nennen.

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Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates. 182 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG. 183 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen. 184 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91. 185 Nunmehr Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen; zuvor Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien. 186 Entsprechend gibt es auch für dieses Gebiet eine Reihe von monographischen Aufbereitungen: C. Barnard, EU Employment Law (2012); K. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht: eine systematische Darstellung (2009); K. Riesenhuber, European employment law: a systematic exposition (2012); G. Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht (2011). 187 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung. 188 Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. 189 Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEPRahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge. 190 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit. 191 Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwange-

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Des Weiteren sind Regelwerke geschaffen worden, die Verträge aus dem Bereich der Bank- und Finanzdienstleistungen betreffen: Neben mancher der oben genannten Regeln des Verbraucherrechts sind dies namentlich die Zahlungsdiensterichtlinie194 und die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente195 (vielfach kurz MiFiD II genannt). Eine Reihe von Richtlinien betrifft außerdem Versicherungsverträge. Hierzu zählen die Schadensversicherungsrichtlinien, 196 die Lebensversicherungsrichtlinie 197 und die Versicherungsvermittlerrichtlinie.198 Ansonsten kann man die Zahlungsverzugsrichtlinie 199 dem Bereich des allgemeinen Vertragsrechts zuordnen – schließlich gilt sie unabhängig spezifischer Vertragsinhalte. Wesentliche Vorgaben macht außerdem für das Handelsvertreterrecht die Handelsvertreterrichtlinie. 200 Für den elektronischen ren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG). 192 Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub. 193 Richtlinie 89/391/EWG des Rate vom 12. Juni 1986 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit. 194 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG. 195 Richtlinie 2014/65 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU. Zuvor: Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates. 196 Ersten Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung; Zweite Richtlinie 88/357/EWG des Rates vom 22. Juni 1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG; Dritte Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG. 197 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen. 198 Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Dezember 2002 über Versicherungsvermittlung. 199 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. 200 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter.

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Geschäftsverkehr enthält die E-Commerce-Richtlinie 201 unter anderem Informationsvorschriften und die Signaturverordnung Regeln über die Verwendung elektronischer Signaturen.202 Schlussendlich können datenschutzrechtliche Regelungen für Verträge relevant werden – denn zahlreiche Verträge betreffen, insbesondere im Online-Bereich, persönliche Daten. Hier ist die Datenschutzrichtlinie (in Zukunft nach Plan die Datenschutzgrundverordnung) einschlägig.203 Je nachdem wie weit man den Blick in benachbarte Rechtsgebiete schweifen lassen will, die potenziell Auswirkungen auch für Verträge haben, könnte man außerdem Richtlinien aus dem Bereich des unlauteren Wettbewerbs oder der Produktsicherheit nennen.204 Über die Ränder des europäischen Vertragsrechts mag man in diesen Fällen diskutieren. Hier ist eine genauere Abgrenzung entbehrlich. Deutlich wird, dass europäisches Recht für eine Vielzahl von Fällen problem- und themenspezifische Regeln enthält, damit einerseits vormals abgeschlossene nationale Vertragsrechte wesentlich prägt und andererseits erhebliche Anwendungsbereiche für EUGrundrechte eröffnet – von letzterem handelt dann unten näher § 3 I. 2. Funktionen des europäischen Vertragsrechts Europäisches Vertragsrecht unterscheidet sich funktional grundlegend von nationalen Vertragsrechten. Während nationale Vertragsrechte im Ausgangspunkt ihrer Fassungen aus dem 19. Jahrhundert vor allem ermöglichend konzipiert waren, primär aus dispositivem Recht mit einigen zwingenden Normen bestanden, ist europäisches Vertragsrecht von vorneherein regulativ angelegt – „function-oriented regulatory private law“.205 Auch dies ist ein 201 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs. 202 VO (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt. 203 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr; s.a. noch unten § 8 IV. 204 In Zusammenhang mit Vertragsrecht bringt diese etwa Micklitz, The Visible Hand of European Regulatory Private Law – The Transformation of European Private Law from Autonomy to Functionalism in Competition and Regulation, Yearbook of European Law 2009, 3, 21 ff. 205 Diese Beschreibung bei Reich, General principles of EU civil law (2014), 13; ähnlich schon Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 387; Micklitz, The Visible Hand of European Regulatory Private Law – The Transformation of European Private Law from Autonomy to Functionalism in Competition and Regulation, Yearbook of European Law 2009, 3; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2012), 96. Erklärung bei Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 148: „Ein Grund für die

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

Grund dafür, dass die Grenzen zwischen privatem und öffentlichen Recht auf europäischer Ebene verschwimmen.206 Berücksichtigt man die Grundfreiheiten mit, kann man zwar auch eine bedeutende ermöglichende Richtung des Unionsrechts ausmachen – allerdings mit einer dem Europarecht eigenen Akzentuierung. Die Grundfreiheiten sind primär (und in ihrer ursprünglichen Konzeption ohnehin) an die Mitgliedstaaten gerichtet.207 Sie zielten und zielen damit auf den Abbau staatlicherseits geschaffener Handelshemmnisse, zu denen insbesondere regulatorisches Recht, und darunter gerade auch zwingendes Vertragsrecht fällt.208 Der Abbau rechtlicher Schranken ermöglicht mehr vertraglichen Austausch beziehungsweise freien Handel. Dies führt dazu, dass die Grundfreiheiten bisweilen als „wahre Privatautonomie“ des Unionsrechts bezeichnet wurden.209 Die Funktionsrichtung ist allerdings genau genommen anders als bei Ermöglichung und Privatautonomie im nationalen Recht: Zum einen entfaltet sich die Ermöglichung nur mittelbar – über den Intermediär Mitgliedstaaten –, zum anderen gilt sie nur für bestimmte, nämlich grenzüberschreitende Geschäfte. Im Übrigen können auch von Grundfreiheiten regulatorische Wirkungen ausgehen, wenn man ihnen Vorgaben für Private entnimmt.210 Normen mit regulierender Funktion machen allgemein den Schwerpunkt europäischen Vertragsrechts aus. Was die Ziele angeht, zugunsten derer reguliert wird, schlagen die Grundcharakteristika der Wirtschaftsverfassung der EU durch. Anders als die nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts neutrale Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik, 211 ist die EU ausdrücklich

europäischen zwingenden Normen ist ein spezieller integrationstechnischer: Für dispositives Recht drängt sich ein Vereinheitlichungsbedarf nicht auf.“ 206 Dazu näher etwa A. Dieckmann, Öffentlich-rechtliche Normen im Vertragsrecht AcP 213 (2013), 1, 7 mit weiteren Nachweisen; Reich, The Public/Private Divide in European Law, in: Micklitz/Cafaggi (Hg.), European private law after the Common Frame of Reference (2010), 56. 207 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 79; T. Oppermann et al., Europarecht (2014), 384. 208 Vgl. P.O. Mülbert, Privatrecht, die EG-Freiheiten und der Binnenmarkt – Zwingendes Privatrecht als Grundfreiheitsbeschränkung im EG-Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), 2; umfassend Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003). 209 Mülbert, Privatrecht, die EG-Freiheiten und der Binnenmarkt – Zwingendes Privatrecht als Grundfreiheitsbeschränkung im EG-Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), 2, 8.; dazu noch unten § 6 II. 3. 210 Auch dazu noch unten § 6 II. 3. 211 BVerfGE 4, 7, 16. Überblick über die Diskussion der 1950er Jahre um die Wirtschaftsverfassung der BRD etwa bei F. Rittner/M. Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht: eine systematische Darstellung (2008), 49 ff.

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einer marktwirtschaftlichen Ordnung verpflichtet. 212 Dies ist an zahlreichen Normen der Verträge abzulesen. Gemäß Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV errichtet die Union einen Binnenmarkt, was noch einmal in Art. 26 f. AEUV ausdrücklich als Ziel festgeschrieben ist. Daneben haben insbesondere auch die Grundfreiheiten eine marktwirtschaftliche Zielrichtung. Art. 120 AEUV gibt außerdem den Mitgliedsstaaten auf, im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu handeln. Europäisches Vertragsrecht beruht auch kompetenziell zu wesentlichen Teilen auf dieser Grundentscheidungen: Art. 114 AEUV ist die Ermächtigungsgrundlage für einen großen Teil des Verträge betreffenden Sekundärrechts. 213 Dieses hat nach jener Vorschrift notwendigerweise die Funktion, einen gemeinsamen Markt zu verwirklichen. Auswirkungen hat das Marktdenken dabei nicht bloß auf spot contracts, also einfache Austauschvorgänge, sondern durchaus auch auf kooperative langfristige Beziehungen. Arbeitsrechtliche Vorschriften oder etwa das Handelsvertreterrecht können mit dem Ziel gestaltet werden, Wettbewerb zwischen Unternehmen, Prinzipalen oder Handelsvertretern zu fördern.214 Notwendigerweise haben sie aber auch gleichzeitig einen Einfluss auf Beziehungen, die – im institutionenökonomischen Sinn – gerade nicht marktförmig sind. Zusammenfassend kann man daher von einer „marktorientierte[n] Sicht des europäischen Privatrechts“ sprechen.215 Safjan geht so weit zu sagen: „[P]rivate law mechanisms seem to be deprived of their own autonomous objectives and they are becoming a necessary instrument to achieve the superior aims of the common market.“216 212

Dies schließt soziale Elemente der Wirtschaftsordnung keineswegs aus – schließlich spricht Art. 3 Abs. 3 EUV auch von einer „sozialen Marktwirtschaft“ – ist aber eine grundsätzliche Festlegung auf ein marktwirtschaftliches anstelle eines sozialistischen Wirtschaftsmodells. Vgl. auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht: eine systematische Darstellung (2009): „Marktverfassung und Sozialverfassung sind [...] die grundlegenden primärrechtlichen Vorgaben für das Europäische Privatrecht“ (36) sowie „[Die] Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft [geht] zuerst vom Prinzip der Marktwirtschaft und einem unverfälschten Wettbewerb aus [...] und [lässt] erst auf dieser Grundlage Interventionen zu“ (ebd., 12). 213 A.-C. Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht: Methode, Implikationen und Durchführung (2013), 99 mit weiteren Nachweisen. 214 Zur Idee des market making durch europäisches Arbeitsrecht s. Barnard, EU Employment Law (2012), 35 ff. 215 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2012), 96. Zur Marktrationalität des europäischen Vertragsrechts auch M. Bartl, Internal Market Rationality, Private Law and the Direction of the Union: Resuscitating the Market as the Object of the Political, 21 European Law Journal (2015), 572. 216 M. Safjan, European Law versus Private Law: Transformation or Deformation of the Paradigm, in: U. Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 155, 164. Kritisch zu einem „Marktpurismus“ der EU (weit über das Vertragsrecht hinaus) auch etwa R. Stürner, Privatautonomie und Wettbewerb unter der Hegemonie der angloamerikanischen Rechtskultur?, AcP 210 (2010), 105, 140 ff. Mangelnde Reflexi-

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

Bildet das marktfunktionale Element somit den gemeinsamen Nenner eines großen Teils des europäischen Vertragsrechts, so würde es doch zu kurz greifen, dieses darauf zu beschränken. Es beruhen schließlich keineswegs alle vertragsrechtlich relevanten Vorschriften auf der Binnenmarktkompetenz – gerade für arbeitsvertragliche Normen ist heute insbesondere die Kompetenzgrundlage des Art. 153 AEUV bedeutend,217 für Antidiskriminierungsrecht Art. 19 AEUV.218 Aber auch Vorschriften auf Grundlage der Binnenmarktkompetenz verfolgen weitere Ziele. Zahlreiche verbraucherrechtliche Richtlinien nennen ausdrücklich das Ziel des Verbraucherschutzes neben dem Ziel des Binnenmarktes.219 Der Klauselrichtlinie etwa kann man etwa sehr wohl auch das Ziel eines gerechten Austausch entnehmen: Sie sanktioniert schließlich gem. Art. 3 Abs. 1 ein „erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner“. Informationsvorschriften, etwa Art. 5 ff. der Verbraucherrechte-Richtlinie dienen außerdem der Selbstbestimmung. Des Weiteren kann man europäischem Vertragsrecht eine Funktion zuschreiben, die es gegenüber nationalen Vertragsrechten exklusiv hat (und die man entsprechend der oben genannten Taxonomie, „vertragsrechtsfremd“ nennen könnte): 220 die der Vereinheitlichung. Gemeint ist damit nicht Vereinheitlichung zugunsten eines anderen Ziels, etwa eines funktionierenden Marktes oder gerechten Austauschs, sondern Vereinheitlichung als Zweck an sich, als integrationspolitisches Ideal. Das Ziel des „immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker“ kann eben auch verfolgt werden durch ein (jedenfalls teilweise) gemeinsames Vertragsrecht für diese Völker.221 Man kann dies die Integrationsfunktion des

on über die politische Dimension des europäischen Vertragsrechts attestiert die Study Group on Social Justice in European Private Law, Social Justice in European Contract Law: a Manifesto, 10 European Law Journal 653 (2004). 217 Zuvor Kompetenzgrundlagen in Art. 118a EGV (ab der Einheitlichen Europäischen Akte 1986), das Abkommen über Sozialpolitik (ab dem Maastrichter Vertrag 1992), Art. 137 EGV (ab dem Amsterdamer Vertrag, geändert durch den Vertrag von Nizza). 218 Überblick zu Grundlagen arbeitsrechtlicher Normen bei Barnard, EU Employment Law (2012), 47 ff.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht: eine systematische Darstellung (2009), 103 ff. 219 Vgl. etwa Art. 1 Verbraucherrechte-Richtlinie: Ziel „hohes Verbraucherschutzniveau zu erreichen und damit zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen“. 220 § 1 II. 2. aE. 221 Zitiert etwa in Erwägungsgrund (1) der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutzrichtlinie). Allgemein ist dieser Gedanke Grundlage der Europäischen Union überhaupt, vgl. aus den Entschließungsgründe vor dem EUV: „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“.

IV. Zusammenfassung

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Europäischen Vertragsrechts nennen.222 Solche Ziele können Vorschriften auf der Grundlage von Art. 114 AEUV freilich immer nur dann zulässigerweise verfolgen, wenn sie auch binnenmarktlogisch zu begründen sind.

IV. Zusammenfassung IV. Zusammenfassung

Der juristische Begriff des Vertrages wird in seinem Kern in Europa einheitlich verstanden. Er setzt einen übereinstimmenden Willen, einen Konsens mindestens zweier Parteien voraus, die sich mit rechtlichen Folgen binden wollen. Er ist der nucleus des Rechtsgebiets Vertragsrecht, welches die Voraussetzungen seiner rechtlichen Wirksamkeit und seine Folgen regelt. Während in Deutschland traditionell das Obligationenrecht die dominante Kategorie bildet, von dem vertragliche Verpflichtungen nur einen Teil darstellen, hat es sich auf europäischer Ebene eingebürgert, von Vertragsrecht zu sprechen. Mit europäischem Vertragsrecht ist üblicherweise und in dieser Schrift positives Recht der Europäischen Union gemeint, das Verträge betrifft. Seine Normen ergeben sich vor allem aus diversen Richtlinien zu einzelnen Sachgebieten – europäisches Vertragsrecht hat daher einen inselartigen oder bruchstückhaften Charakter. Auch Teile des Primärrechts, insbesondere Grundfreiheiten, sowie einige Verordnungen kann man aber zum europäischen Vertragsrecht zählen. Funktional gesehen dient der Vertrag der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben, einem gerechten Ausgleich zwischen den Vertragspartnern und gesamtgesellschaftlich einer effizienten Ressourcenallokation. Institutionell gesehen ist er einerseits notwendiger Bestandteil funktionierender Märkte, andererseits aber auch Instrument zur Ausgestaltung kooperativer Beziehungen jenseits des Marktes, nämlich zur Konstruktion von Unternehmen und Hybriden. Funktion des Vertragsrechts ist es, solches dezentrale Wirtschaften, Austausch und Organisation, zu ermöglichen, und mithin auch zu Selbstbestimmung, gerechtem Austausch und Effizienz beizutragen. Andererseits reguliert es die Möglichkeiten privatrechtlicher Vereinbarungen, gibt Voraussetzungen für ihre Wirksamkeit sowie Grenzen und teils auch Inhalte vor. Regulative Normen tragen ebenfalls zum größten Teil zur Verfolgung der Vertragsfunktionen bei, können aber auch darüber hinaus gehen und etwa distributive Ziele verfolgen. Europäisches Vertragsrecht hat über die Grundfreiheiten zwar auch einen ermöglichenden Charakter, die meisten Normen sind aber regulativer Art. Hervorgehoben ist dabei schon aufgrund der kompetenziellen Grundlagen der EU die markfunktionale Zielrichtung dieser 222

Zu Privatrecht und Integration Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 52 f.; mit der Spannung zwischen supranationaler und nationaler Gestaltung des Privatrechts beschäftigt sich etwa die Sonderausgabe ERCL 2012, 241 ff.

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§ 1 Vertrag, Vertragsrecht, Europäisches Vertragsrecht

Regulierung. Sie ist vor allem auf einen Markt im geographischen Sinn ausgerichtet, nämlich den einheitlichen europäischen Binnenmarkt. Daneben lässt sich aber feststellen, dass europäisches Vertragsrecht auch anderen Vertragsfunktionen dient, insbesondere Selbstbestimmung und gerechtem Austausch.

§ 2 Bestand der EU-Grundrechte An die Grundlagen des Vertragsrechts schließen sich logischerweise die Grundlagen der EU-Grundrechte an. Das Tor zur Welt der Grundrechte der Europäischen Union ist Art. 6 EUV. Seine drei Absätze eröffnen quasi drei sich auftuende Pfade, sie konstituieren die Mehrgliedrigkeit des Grundrechtsschutzes im Unionsrecht.1 Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV steht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf einer Stufe mit den Verträgen – ihr kommt also primärrechtliche Geltung zu. In Abs. 2 ist der Beitritt der EU zur EMRK angeordnet. Gemäß Abs. 3 sind die Grundrechte der EMRK und aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Art. 6 EUV erweckt also den Eindruck, dass der Grundrechtsschutz der EU dreigliedrig ausgestaltet ist: Charta, EMRK, allgemeine Grundsätze. In diesem Kapitel werden jedoch nur zwei Schichten vorgestellt, welche für die Schrift im Ganzen und nach aktueller Rechtslage die entscheidenden sind: die Charta sowie die Grundrechte als allgemeine Grundsätze. Nicht näher behandelt werden die EMRKGrundrechte sowie ihre Wirkungen. Diese sind zum einen nicht für die EU spezifisch, sondern ein Thema für sich – insofern ist es eine thematische Entscheidung, sie nicht zu behandeln. Zum anderen ist der in Art. 6 Abs. 2 EUV versprochene Beitritt der EU zur EMRK weiterhin nicht vollzogen und wohl mindestens mittelfristig nicht zu erwarten. Dies liegt an den kritischen Äußerungen des EuGH in seinem Gutachten zum bisherigen Beitrittsentwurf.2 Nach aktueller Rechtslage ist der Grundrechtsschutz der Union also nur zweigliedrig.3 Dieses Kapitel soll einen Überblick bieten über den Bestand der EUGrundrechte. Es soll insbesondere die Inhalte der Charta skizzieren (dazu II.) 1

Von den „drei Säulen des Grundrechtsschutzes in der Union“ spricht M. Borowski, in: J. Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2014), Vor Titel VII, Rn. 12. 2 Gutachten 2/13 des Gerichtshofs (Plenum) vom 18. Dezember 2014. Hierzu etwa M. Wendel, Der EMRK-Beitritt als Unionsrechtsverstoß. Zur völkerrechtlichen Öffnung der EU und ihren Grenzen, NJW 2015, 921; T. Lock, Oops! We did it again – das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt der EU (2014) – http://www.verfassungsblog.de/oops-dasgutachten-des-eugh-zum-emrk-beitritt-der-eu/#.VTTEH2aqxpk sowie die weiteren Beiträge des Verfassungsblog-Schwerpunktes „Die EU als Mitglied der Menschenrechtskonvention“. 3 Zum Verhältnis der EU-Grundrechte zu denen der EMRK aber unten § 3 III.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

und Auskunft geben über das Verhältnis von Charta und allgemeinen Grundsätzen (dazu III.). Somit wird abgegrenzt, welche Grundrechte überhaupt mit Blick auf ihre Wirkungen für das Vertragsrecht hinterfragt werden. Die Grundfreiheiten sollen nicht zu den Grundrechten in diesem Sinne zählen (dazu IV.). Ein Schlüssel des Verständnisses des EU-Grundrechtsschutzes und des Art. 6 EUV liegt in ihrer historischen Entwicklung. Mit einem Überblick dieser beginnt daher im Folgenden die Darstellung (dazu I.).

I. Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union I. Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union

Art. 6 EUV gewann seine heutige Fassung erst durch den Vertrag von Lissabon. Vorher, in Art. 6 EUV aF,4 waren lediglich die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Grundrechte der Union geregelt, und noch weiter zurück, vor dem Maastrichter Vertrag, enthielten die EG-Verträge gar keinen Hinweis auf Grundrechte. 5 Als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 gegründet wurde, fehlte zum einen der politische Wille, Grundrechte in die Vereinbarung mitaufzunehmen. 6 Zum anderen erschien dies auch gar nicht notwendig. Rechtlich gesehen war der Zusammenschluss der sechs Gründungsstaaten ein normaler völkerrechtlicher Vertrag.7 Ein solcher entfaltete, jedenfalls in dualistischen Systemen, seine Wirkung lediglich zwischen den Vertragspartnern, den Staaten, nicht aber gegenüber Privatpersonen.8 Von daher sah man wohl keinen Anlass, diese besonders zu schützen. Auch die Römischen Verträge von 1957, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) gegründet sowie mit der EGKS zu den Europäischen Gemeinschaften zusammen gefasst wurden, änderten hieran nichts.9 Sowohl die Notwendigkeit wie auch die Entstehung eines Grundrechtsschutzes auf Ebene der EG gingen vom EuGH aus. Die Notwendigkeit ergab 4

Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992. 5 C. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 13. 6 Kingreen, in C. Calliess/M. Ruffert, EUV, AEUV: das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta (2011), Art. 6 EUV Rn. 4 – spricht schon für damals von Angst vor „zentripetalen Wirkungen“. 7 M.H. Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2005), 39. 8 D. Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: D. Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 513; J. Weiler, The Transformation of Europe, 100 The Yale Law Journal (1991), 2403, 2413; G.J. Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta (2007), 5. 9 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 EUV, Rn. 4; Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2005), 39.

I. Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union

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sich daraus, dass der Gerichtshof 1963 in van Gend en Loos10 entschied, dass Gemeinschaftsrecht auch für Privatpersonen unmittelbare Wirkung entfalten, also ohne weiteren Umsetzungsakt Rechte und Pflichten begründen könne. Außerdem stellte er in Costa/ENEL11 fest, dass Gemeinschaftsrecht nationalem Recht vorgehe, und bestätigte in Internationale Handelsgesellschaft12 den Vorrang auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht. Bei einem solchen Vorrang des Unionsrechts vor nationalen Grundrechten und gleichzeitiger Bindungswirkung gegenüber Privatpersonen bestand ohne europäische Grundrechte eine Schutzlücke.13 Nachdem der EuGH zunächst noch zögerlich agiert hatte,14 befand er 1969 in Stauder15 erstmals, dass „die allgemeinen Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung [...] Grundrechte [enthalten]“, die er zu sichern habe. Nationale Grundrechtshüter konnte er so zunächst allerdings nicht überzeugen. In Solange I beanspruchte das Bundesverfassungsgericht 1974 für sich, Unionsrecht auf Grundrechtskonformität zu überprüfen, solange auf europäischer Ebene kein adäquater Grundrechtsschutz bestünde. 16 Ähnlich äußerte sich der italienische Corte Constituzionale in Frontini.17 Solchermaßen incentiviert, forcierte der EuGH in den Folgejahren seine Rechtsprechung zu Grundrechten, die er rechtsfortbildend als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickelte.18 Aus zweierlei Recht-

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EuGH Rs. 26/62 (van Gend en Loos), Slg. 1963, 1. Zur Bedeutung dieser Entscheidung z.B. Weiler, The Transformation of Europe, 100 The Yale Law Journal (1991), 2403, 2413 f. 11 EuGH Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1141. 12 EuGH Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125. 13 Dazu z.B. J. Weiler, Fundamental rights and fundamental boundaries, in: ders., The constitution of Europe (1999), 102, 107 f. 14 In Rs. 36/59 (Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft), Slg. 1960, 885 stellte er fest, dass das Gemeinschaftsrecht „weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts [enthält], dass ein erworbener Besitzstand nicht angetastet werden darf“. Hierzu auch Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 10 f.; F. Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: A. Hatje/P.-C. Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 4. 15 EuGH Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419; zur Bedeutung dieser Entscheidung etwa Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 11. 16 BVerfGE 37, 271. 17 Frontini v Ministero delle Finanze, 2 Common Market Law Review 372 (1974). 18 Nach dem EuGH-Richter G.F. Mancini, The Making of a Constitution of Europe, 26 Common Market Law Review (1989), 595, 611 war die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes „forced on the Court by the outside, by the German and, later, the Italian constitutional courts“.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

serkenntnisquellen sprudelte dabei seine Inspiration: 19 den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten“ 20 sowie der EMRK. 21 Er nutzte eine Methode, für die sich der Begriff der „wertenden Rechtsvergleichung“ etabliert hat.22 Der EuGH ergründete nicht bloß Mindest- oder Maximalstandards der mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen oder der EMRK, sondern schaffte innerhalb des Spielraums zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen in einer kreativen Weise Recht.23 Nicht bloß als Gestaltungskompetenz war dieses Vorgehen für ihn attraktiv, sondern weil es ermöglichte, auf unterschiedliche nationale Traditionen Rücksicht zu nehmen und gleichzeitig eigenständig zu sein – entsprechend der Ideen von Einheit und Vielfalt, Grundfesten der europäischen Integration. Auf diese Weise entwickelte der EuGH zahlreiche Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze.24 Diese richterliche Rechtsfortbildung ging so weit, dass das Bundesverfassungsgericht 1986 entschied, dass der vom EuGH entwickelte Grundrechtsbestand dem des Grundgesetzes „im wesentlichen gleichzuachten ist“ (Solange II).25 Die Entscheidung van Gend & Loos löste somit im Rückblick ein geradezu logisches Ping-Pong zwischen einigen der höchsten Gerichte Europas aus, an dessen Ende ein deutliches Mehr an Integration und grundrechtlichen Normen stand. Trotz solcherlei Fortschritts beim Grundrechtsschutz fehlten den allgemeinen Rechtsgrundsätzen Konturen, wie sie ein geschriebener Grundrechtskatalog aufweist. Die Folge waren seit Ende der 1970er Jahre verschiedene Bestrebungen, einen solchen Katalog zu schaffen oder zumindest der EMRK

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In Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 15 drückte der EuGH dies selbst so aus: „draw inspiration“. Zum Begriff der Rechtserkenntnisquelle Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 11 f.; vgl. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Rn. 6 f., der von einer lediglich „graduelle[n] Unterscheidung“ zur Rechtsquelle spricht. Diese Unterscheidung sei auch in anderen Mitgliedsstaaten gebräuchlich. 20 EuGH Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125. 21 Beginnend mit der Entscheidung EuGH Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 12. 22 Diese Terminologie findet sich schon im Schlussantrag des GA Schröder im Fall Stauder wieder, EuGH Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419, 427. 23 Vgl. etwa Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 513, 515; W. Frenz, Handbuch Europarecht: Band 4: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2 ff. 24 Ausführlich D. Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2009), §§ 15 ff. 25 BVerfGE 73, 339.

I. Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union

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beizutreten.26 Es dauerte allerdings einige Zeit bis man sich, jenseits rein politischer Erklärungen, tatsächlich an die Ausarbeitung konkreter Grundrechte der Europäischen Union machte: Der Europäischen Rat entschied auf seiner Tagung in Köln im Juni 1999, ein Konvent solle eine „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ entwerfen.27 Die Erwägung des Rates hierzu war knapp gehalten: „Der Europäische Rat ist der Auffassung, dass im gegenwärtigen Entwicklungsstand der Europäischen Union die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte in einer Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht werden sollen.“ Dieses Ziel der Sichtbarmachung findet sich nunmehr auch in der Präambel der GRC (Abs. 4 ) wieder. Nimmt man die Erklärung beim Wort, war die Zusammenfassung und Sichtbarmachung von Grundrechten einziger Zweck, wobei offen bleibt, ob sie primär dem Bürger oder ebenso den anwendenden Gerichten sichtbar gemacht werden sollten. Der Präambel der fertigen Charta zufolge ist die Charta allerdings auch notwendig, um „angesichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen den Schutz der Grundrechte zu stärken“. Der im Dezember 1999 in Brüssel konstituierte Konvent erarbeitete innerhalb weniger als eines Jahres eine Charta der Grundrechte, welche am 7. Dezember 2000 in Nizza durch den Europäischen Rat feierlich proklamiert wurde.28 Rechtsverbindlich war diese Proklamation allerdings nicht, und so bestand einige Jahre Unklarheit über den genauen Status der Charta.29 Diese hätte der Verfassungsvertrag behoben– die Charta wäre als Teil II des Verfassungsvertrages inkorporiert worden.30 Dies scheiterte an den ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Durch den Vertrag 26

Hierzu Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 13 ff. Bereits 1977 gaben Parlament, Rat und Kommission eine gemeinsame Erklärung ab, nach der sie unterstrichen, dass sie „der Achtung der Grundrechte [eine vorrangige Bedeutung] beimessen, wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedsstaaten sowie aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehen“, ABl. EG 1977 Nr. C 103, S. 1. Zwar war dies Unterstützung und Legitimitätsschub für die Rechtsprechung des EuGH, inhaltlich brachte die Erklärung aber keine Neuerung. Einen inhaltlich umfassenden Grundrechtskatalog, dem aber rechtliche Verbindlichkeit fehlte, verabschiedete das Europäische Parlament 1989, ABl. EG 1989 Nr. C 120/51. Ein ähnlicher Grundrechtskatalog fand sich auch in der Entschließung des Parlamentes zur Verfassung der Europäischen Union von 1994, ABl. EG 1994 Nr. C 61/155. 27 N. Bernsdorff/M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Handreichungen und Sitzungsprotokolle (2002), 46. 28 Abl. EU 2000 Nr. C 364/1. 29 Statt vieler: M. Knecht, in: H.v.d. Groeben et al., Europäisches Unionsrecht (2015), Präambel GRC Rn. 11. 30 Art. II-61-114 EVV; hierzu Knecht, in: Groeben et al., Europäisches Unionsrecht (2015), Präambel GRC Rn. 14.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

von Lissabon wurde die Charta zwar nicht Bestandteil der Verträge, aber erlangte doch primärrechtliche Geltung – gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV. Seit dem 1. Dezember 2009 ist sie als zentrales grundrechtliches Dokument der EU verbindlich.

II. Grundrechtecharta II. Grundrechtecharta

Die Grundrechtecharta gliedert sich in sieben Titel, denen eine Präambel voran gestellt ist. Die ersten sechs Titel betreffen einzelne grundrechtliche Regelungen, die im Folgenden kurz eingeordnet und vorgestellt werden, und zwar bereits mit Blickrichtung auf das Vertragsrecht (1.). Der siebte Titel beinhaltet allgemeine Bestimmungen, die für alle vorigen Grundrechte gelten – teilweise spricht man auch von „horizontalen“ Normen.31 Zum Verständnis der Charta ist aus diesem siebten Titel insbesondere die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen bedeutsam, welche hier folglich erläutert wird (2.). Der Charta beigefügt sind Erklärungen, welche gemäß Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV bei der Auslegung der Charta gebührend zu berücksichtigen sind.32 Bei diesen handelt es sich um Ausführungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, also den Verfassern der Charta. 1. Inhalt im Überblick Am Anfang steht die Menschenwürde – auch in der Grundrechtecharta. Nicht nur Titel I, sondern auch Art. 1 GRC ist mit „Würde des Menschen“ überschrieben. Art. 1 GRC bildet gewissermaßen die grundlegende, generalklauselartige Formulierung der Menschenwürde – „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ – während die Art. 2 bis 5 GRC als besondere Ausformulierungen zu lesen sind.33 Schließlich stehen auch sie noch unter der Überschrift des Titel I. Enthalten sind darin etwa das Verbot der Todesstrafe, Art. 2 Abs. 1 GRC, und das Verbot der Folter, Art. 4 GRC. Daneben finden sich Vorschriften, denen man prima facie Relevanz für das Privatrecht und insbesondere vertragliche Vereinbarungen entnehmen kann: Gemäß Art. 3 Abs. 2 c) GRC ist es verboten, menschliche Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen. Gemäß Art. 5 Abs. 1 GRC ist Sklaverei und gemäß Art. 5 Abs. 3 GRC ist Menschenhandel 31

Z.B. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 1. Zur Frage der Bedeutung dieser Erklärungen z.B. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 52 Rn. 47 ff.; H.D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2013), Art. 52 Rn. 87 f. 33 Näher dazu Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 1 Rn. 2, 4 f.; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Vor Art. 51 Rn. 1, der Art. 1 in diesem Kontext als Art. 1 als „Grundnorm“ bezeichnet (Rn. 4). 32

II. Grundrechtecharta

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verboten. Insbesondere Organhandel und Menschenhandel sind offensichtlich Sachverhalte, die Verträge betreffen könnten.34 Im Anschluss an den ersten Titel folgen drei Abschnitte zur Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des 21. Jahrhunderts: Es handelt sich um Freiheiten (Titel II), Gleichheit (Titel III) und Solidarität (Titel IV).35 Der Abschnitt zu Freiheiten enthält größtenteils klassische Freiheitsgrundrechte – häufig spricht man auch von Grundrechten der „ersten Generation“ –, wie man sie auch im deutschen Grundgesetz findet. Beispielsweise enthalten sind dort die Religionsfreiheit, Art. 10 Abs. 1 S. 1 GRC, die Versammlungsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GRC, und die Kunstfreiheit, Art. 13 S. 1 GRC. Die erste Norm des Abschnittes, Art. 6 GRC, beinhaltet eine allgemein formulierte Vorschrift,36 die man als eine Art allgemeines Freiheitsrecht verstehen könnte, welche nach herrschender Sichtweise aber nur die körperliche Bewegungsfreiheit meint.37 Ansonsten geht die Charta auch schon in diesem Titel über den Wortlaut den Grundgesetzes hinaus, namentlich mit dem Datenschutzrecht, Art. 8 GRC, sowie dem Recht auf Bildung, Art. 14 GRC. Relevant für Verträge erscheinen prima facie insbesondere die unternehmerische Freiheit, Art. 16 GRC, und die Berufsfreiheit, Art. 15 GRC.38 Der dritte Titel, zur Gleichheit, beginnt wie schon die beiden vorigen mit einer allgemein gefassten Vorschrift, nämlich Art. 20 GRC: „Alle Personen 34 Rechtshistorisch gesehen ist die Problematik der Sklavenhaltung in den USA der wohl früheste Fall des Einflusses von Grundrechten auf privatrechtliche Beziehungen. Zu einem diesbezüglichen Rechtsstreit, den der Supreme Judicial Court Massachusetts’ 1781 bzw. 1783 entschied: A. Zilversmit, Quok Walker, Mumbet, and the Abolition of Slavery in Massachusetts, 25 The William and Mary Quarterly (1968), 614; G. Stourzh, Die Konstitutionalisierung der Individualrechte, JZ 1976, 397, 401. Dabei dürfte es sich allerdings um eine Ausnahme gehandelt haben, die im Übrigen historisch nicht unumstritten ist (dazu Zilversmit, aaO). Was Organhandel angeht, ist die heutige Relevanz wohl höher als die der Sklaverei. Auch hierfür kann man aber illustrierend ein historisch(-literarisches) Beispiel zitieren, auf das schon Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), 364 hinwies: In Shakespeares Merchant of Venice (entstanden 1596-1598) verspricht Antonio Shylock ein Pfund Fleisch seines Körpers als Haftung für einen Kredit. Schon in Venedig, bei Shakespeare durch Balthasar ausgefeilt begründet, ist ein solcher Vertrag rechtswidrig – wenn auch ohne grundrechtliche Argumentation. Heute wäre er mit Art. 3 Abs. 2 c) GRC – so dieser denn anwendbar wäre – nicht zu vereinbaren. 35 Diese Parallele zum Leitsatz der französischen Revolution schon bei A. Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 99. 36 „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ 37 So Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 6 Rn. 11; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 6 Rn. 6; T. Schmitz, Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, EuR 2004, 691, 708; dagegen Callies, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 GRC Rn. 11 f.; s.a. noch unten § 6 II. 2. 38 Ausführlicher unten § 6 II.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

sind vor dem Gesetz gleich.“ Im Anschluss daran folgen verschiedene speziellere Vorschriften, vor allem Art. 21 GRC, welcher eine Reihe von Kriterien auflistet, aufgrund derer Diskriminierungen verboten sind: wegen „des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“. Artikel 23 GRC hebt die Gleichheit von Männern und Frauen besonders hervor, Art. 24 GRC betrifft „Rechte des Kindes“, Art. 25 GRC „Rechte älterer Menschen“. Besonders bemerkenswert im Vergleich zum Text des Grundgesetzes ist Titel IV der Charta zur Solidarität. Er geht weit über die deutsche Verfassung hinaus und enthält insbesondere so genannte Grundrechte der „zweiten Generation“.39 Damit vollzieht er den Inhalt jüngerer Verfassungen, wie der spanischen und portugiesischen Konstitutionen nach, sowie die Entwicklung im internationalen Grundrechtsschutz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.40 Auf UN-Ebene gibt es schließlich seit 1966 neben dem International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR), der vor allem klassische liberale Grundrechte der ersten Generation beinhaltet, den weitergehenden, progressiven International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (ICESCR) (in Kraft sind beide seit 1976).41 Titel IV der Charta enthält etwa in Art. 27 GRC ein Recht auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern im Unternehmen, Art. 30 GRC handelt von Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art. 32 GRC betrifft das Verbot der Kinderarbeit und Art. 38 GRC den Verbraucherschutz. Es geht in diesem Abschnitt also offensichtlich nicht mehr bloß um eine dem Staat abgerungene Freiheitssphäre, sondern um Grundstrukturen der Ordnung der Gesellschaft und insbesondere um Grundmuster der Organisation des Wirtschaftssystems zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Die Regeln betreffen gerade auch hierarchische Institutionen beziehungsweise Verhältnisse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.42 Mit 39

Zur Einteilung von Grundrechten in Generationen erstmals K. Vasak, Human Rights: A Thirty-Year Struggle – The Sustained Efforts to Give Force of Law to the Universal Declaration of Human Rights, UNESCO Courier 1977, 29; kritisch zu dieser Terminologie etwa E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, 9, 11, der stattdessen von verschiedenen Dimensionen und etwa „Zweitdimensionsrechten“ spricht. 40 Näher B. Rudolf, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Vor Titel IV Rn. 1 ff. 41 Hierzu näher z.B. P. Alston et al., International human rights (2013), 277 ff. Zum ICCPR als ICESR und Grundrechten der „ersten“ und „zweiten Generation“ z.B. T. Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz (2010), 11 f. 42 Dazu etwa Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 99 f. (insbesondere Fn. 54).

II. Grundrechtecharta

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Blick auf die vertragstheoretischen Erörterungen im vorigen Kapitel scheint Titel IV vor allem eine Regulierungsrichtung zu haben, insbesondere zugunsten von Kooperation. Ob er damit auch tatsächlich Wirkungen in einzelnen Rechtsverhältnissen entfaltet, ist freilich eine andere Frage, auf die es später zurückzukommen gilt. In Titel V sind Bürgerrechte und in Titel VI justizielle Rechte geregelt. Im ersteren sind etwa Wahlrechte (Art. 39, 40 GRC), das Recht auf gute Verwaltung (Art. 41 GRC) und das Petitionsrecht (Art. 44) aufgeführt, letzterer betrifft vor allem Rechte im Strafverfahren – etwa die Unschuldsvermutung (Art. 48 Abs. 1) und den Grundsatz ne bis in idem (Art. 50). Für das Vertragsrecht dürften diese Vorschriften kaum Relevanz besitzen, geht es in besagten Titeln doch größtenteils um Rechte in Verfahren der politischen Willensbildung und Strafprozessrecht. Eine Ausnahme könnte allerdings Art. 47 GRC sein, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht.43 Insgesamt bietet die Charta eine moderne und weitreichende Festschreibung grundrechtlicher Normen, die etwa über den Bestand des Grundgesetzes jedenfalls quantitativ weit hinausgeht. Sie führt zu einer Zunahme der Grundrechtsdichte sowie zu erhöhter Komplexität, indem sie eine weitere grundrechtliche Schicht jenseits nationaler Grundrechte, EMRK-Grundrechte und der Grundrechte als allgemeiner Grundsätzen des Unionsrechts etabliert.44 2. Grundrechte und Grundsätze Die Normen der Grundrechtecharta teilen sich in zwei Gruppen, die sich in ihrer Wirkung unterscheiden: in Grundrechte und Grundsätze. Dieser Unterscheidung kann auch für den Bereich des Vertragsrechts Bedeutung zukommen. Mit Grundsätzen sind hierbei nicht die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Art. 6 Abs. 3 EUV gemeint, sondern die Charta enthält ihren eigenen Begriff der Grundsätze. Angedeutet ist dies schon in der Präambel, die von „Rechten, Freiheiten und Grundsätzen“ spricht. Die Differenzierung zwischen Rechten und Freiheiten gründet sich auf französische Dogmatik, unionsrechtlich kann man Freiheiten als Unterfall der Rechte verstehen.45 In Art. 51 GRC werden denn Freiheiten auch nicht extra genannt, in Art. 52 Abs. 1 GRC unterschiedslos Freiheiten und Rechte nebeneinander gestellt. Zwischen Rechten und Grundsätzen bestehen dagegen nach den Horizontalvorschriften 43

S. noch z.B. unten § 7 IV. 1. zur Entscheidung EuGH Rs. C-243/09 (Fuß). Kritisch zu zunehmender Komplexität z.B. S. Douglas-Scott, The European Union and Human Rights after the Treaty of Lisbon, 11 Human Rights Law Review (2011), 645; D. Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53. 45 Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Einleitung Rn. 46. Zur iberischfranzösischen Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen Borowski, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 33. 44

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

Art. 51 und 52 GRC bedeutende Unterschiede. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC bleibt noch etwas vage – ihm ist nur zu entnehmen, dass Rechte zu „achten“ sind und die Adressaten sich an Grundsätze zu „halten“ haben. Art. 52 Abs. 5 GRC normiert dagegen eine weniger weitreichende Wirkung der Grundsätze. Sie „können“ gemäß Art. 51 Abs. 5 S. 1 durch Akte der Gesetzgebung und Verwaltung der Unionsorgane sowie durch Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Sie sind vor Gericht „nur“ bei der Auslegung solcher Umsetzungsakte sowie bei der Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit heranzuziehen. Nicht als solche können Grundsätze also subjektive Rechte begründen, sondern erst im Falle bestehender Umsetzungsakte können für den Einzelnen Rechtspositionen entstehen. 46 Grundrechte dagegen sind als solche einklagbar.47 Dies heißt nicht, dass Grundsätze nicht justiziabel wären – ihre Justiziabilität ist aber an die Voraussetzung von Durchführungsmaßnahmen gebunden.48 Welche Normen der Grundrechtecharta Grundrechte und welche Grundsätze sind, wird von der Charta nicht ausdrücklich geregelt. Vielmehr ist jede Norm auf diese Frage hin auszulegen.49 In einigen Fällen kann man auf die Erläuterungen und damit die Sicht des Präsidiums des Europäischen Konvents zurückgreifen. Demnach sind „beispielsweise die Artikel 25, 26 und 37“ – also die Rechte älterer Menschen, die Integration von Menschen mit Behinderung und der Umweltschutz – Grundsätze.50 Aus den Erläuterungen ergibt sich außerdem, dass ein und derselbe Artikel „Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten“51 kann. Welche Normen Rechte und 46

Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004, Nr. C 310/458 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 52 GRC Rn. 15; H.D. Jarass, EU-Grundrechte: ein Studien- und Handbuch (2005), 99. Diskutiert wird allerdings, ob Grundsätze darüber hinaus eine Rechtsposition dagegen verleihen, dass etwa eine „Herunterharmonisierung“ nationaler Sozialstandards geschieht – dazu Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 52 Rn. 45 a; K. Lenaerts, Exploring the Limits of the EU Charter of Fundamental Rights, 8 European Constitutional Law Review (2012), 375, 400 f.; T.v. Danwitz/K. Paraschas, A Fresh Start for the Charter: Fundamental Questions on the Application of the European Charter of Fundamental Rights, 35 Fordham International Law Journal (2012), 1396. 47 Jarass, EU-Grundrechte (2005), 92 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 52 Rn. 70a; Borowski, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 33. 48 Nach weitergehender Ansicht unter Umständen auch darüber hinaus, s. dazu die Nachweise am Ende von Fn. 46. Zur Justiziabilität der Grundsätze Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 34. 49 Jarass, EU-Grundrechte (2005), 100 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 52 GRC Rn. 16. 50 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004, Nr. C 310/ 459. 51 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004, Nr. C 310/ 459.

III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze

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welche Grundsätze sein sollen, braucht hier nicht vertieft zu werden.52 Es genügt, im Einzelnen darauf später zurückzukommen, soweit es relevant ist. Festzuhalten ist hier vorerst, dass Grundsätze in ihrer Wirkung auch im Vertragsrecht weniger weit reichen, nämlich ausdrücklich nur Umsetzungsakte betreffen. Wenn im Folgenden oft pauschal von „den Grundrechten“ der Charta die Rede ist, so sollen damit der Einfachheit und der Ästhetik halber auch die Grundsätze gemeint sein, wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt oder gegenübergestellt werden.53

III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze und ihr Verhältnis zur Charta III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze

Mit dem Inkrafttreten der Charta stellt sich die Frage nach der verbliebenen Bedeutung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Unbefangen könnte man annehmen, sie seien nun obsolet, nachdem die Charta die Grundrechte textlich zusammengefasst und sichtbar gemacht hat. Allerdings sind die Grundrechte als Grundsätze in Art. 6 Abs. 3 EUV weiter aufgeführt und jedenfalls nicht offensichtlich abgeschafft. Im Folgenden soll zunächst anhand einiger Entscheidungen des EuGH sowie des EuG nachverfolgt werden, dass sie weiterhin praktische Relevanz besitzen (1.). Anschließend gilt es zu diskutieren und zu begründen, welche Rolle für richterrechtlich begründete allgemeine Grundsätze neben der Charta überzeugend ist (2.). 1. Fortbestehende Relevanz in gerichtlichen Entscheidungen Seit der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, stieg die Zahl der EuGHEntscheidungen mit Grundrechtsbezug, und gerade mit Bezug zur Charta, deutlich an.54 Man könnte vermuten, auch für den EuGH selbst seien die 52

Ausführliche Behandlungen der Frage bei J. Schmidt, Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta (2010), 212 ff.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta (2007), 63 ff.; H.M. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta: zugleich ein Beitrag zum subjektiv-öffentlichen Recht im Gemeinschaftsrecht (2010). Überblick bei Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 52 Rn. 72. 53 Jarass nutzt für Grundrechte und Grundsätze gemeinsam den Oberbegriff der „Grundrechte im weiteren Sinne“ – Jarass, EU-Grundrechte (2005), 93. 54 W. Weiß, Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, EuZW 2013, 287; S. Iglesias Sánchez, The Court and the Charter: The Impact of the Entry into Force of the Lisbon Treaty on the ECJ’s Approach to Fundamental Rights, 49 Common Market Law Review (2012), 1565. Laut FRA, Fundamental rights: challenges and achievements in 2013 (2014), 21, ist die Zahl der Entscheidungen mit Verweis auf die Charta von 27 im Jahr 2010 auf 47 im Jahr 2011, 87 im Jahr 2012 und 114 im Jahr 2013 gestiegen.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

Grundrechte durch die Charta sichtbarer geworden. Jedenfalls geht die vermehrte Befassung mit Grundrechten aber zu einem guten Teil auch auf vermehrte Vorlagefragen nationaler Gerichte mit Grundrechtsbezug zurück.55 Insoweit hat die Sichtbarkeit der Grundrechte durchaus schon einen (jedenfalls quantitativ) bedeutenden Effekt gehabt. Die Grundrechte als allgemeine Grundsätze spielen darunter weiterhin eine Rolle. Dies kann man einer Reihe von Urteilen entnehmen, die Hofmann und Mihaescu diesbezüglich untersucht haben,56 ergänzt durch einige hier besonders relevante Entscheidungen aus dem Bereich der Grundrechtswirkungen in Privatrechtsverhältnissen. Abschließende oder genaue Aussagen über das allgemeine Verhältnis von Charta und allgemeinen Grundsätzen enthalten diese Entscheidungen allerdings nicht. Im Fall AJD Tuna verstand der EuGH beispielsweise eine Vorschrift der Charta lediglich als Bekräftigung eines allgemeinen Grundsatzes. Er befand nämlich: „Darüber hinaus bekräftigt Art. 47 der Charta [...] den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt.“57 Eine ähnliche Auffassung lassen auch die Urteile zu den Fällen Winner Wetten 58 und Fulmen59 (EuG) erkennen, welche ebenfalls Art. 47 GRC betrafen.60 Im Fall Interseroh stellte der Gerichtshof Charta und allgemeine Grundsätze scheinbar gleichwertig nebeneinander. Die Vorlagefrage zielte hier darauf ab, inwieweit Geschäftsgeheimnisse primärrechtlich geschützt seien. Ausgehend von dem Hinweis, dass im deutschen Recht die Berufsfreiheit des Grundgesetzes Geschäftsgeheimnisse schütze, setzte sich der EuGH mit der Frage des Schutzes im Primärrecht wie folgt auseinander: „Hierzu ist festzustellen, dass in den Art. 15 Abs. 1, 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht verankert sind. Außerdem gehören nach ständiger Rechtsprechung sowohl die freie Berufsausübung als auch das Eigentumsrecht zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts [...]. Auch der Schutz von Geschäftsgeheimnissen ist nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung ein allge55

FRA, Fundamental rights: challenges and achievements in 2013 (2014), 22. H. Hofmann/C. Mihaescu, The Relation between the Charter’s Fundmanental Rights and the Unwritten General Principles of EU Law: Good Administration as the Test Case, 9 European Constitutional Law Review (2013), 73. 57 EuGH Rs. C-221/09 (AJD Tuna), Rn. 54. 58 EuGH Rs. C-409/06 (Winner Wetten), Rn. 58. 59 EuG verb. Rs. T-439/10 und T-440/10 (Fulmen), Rn. 87. 60 Näher dazu Hofmann/Mihaescu, The Relation between the Charter’s Fundmanental Rights and the Unwritten General Principles of EU Law: Good Administration as the Test Case, 9 European Constitutional Law Review (2013), 73, 75. 56

III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze

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meiner Grundsatz des Unionsrechts.“61 Diesen Ausführungen liegt erkennbar die Auffassung zugrunde, die allgemeinen Grundsätze seien weiter rechtlich wirksam. Im Übrigen lässt sich aus dem Urteil allerdings wenig ableiten – der Gerichtshof erkannte im Weiteren keine Beeinträchtigung des „Recht[s] auf Schutz von Geschäftsgeheimnissen“62 und setzte dies nicht näher in Beziehung zu Grundrechten. Im Fall Slovak Telekom schließlich verquickte das EuG Chartagrundrecht und allgemeinen Grundsatz zu einer Art hybriden Prüfung. Wörtlich führte es aus: „Art. 41 (‚Recht auf eine gute Verwaltung‘) der Charta bestimmt in seinem Abs. 1, dass ‚[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden‘. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts zum Grundsatz der guten Verwaltung kommt in den Fällen, in denen die Organe der Union über einen Beurteilungsspielraum verfügen, der Beachtung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt, eine umso grundlegendere Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört u. a. die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen.“63 Der Rückgriff auf die Rechtsprechung zum allgemeinen Grundsatz diente hier augenscheinlich also dazu, das offen gefasste Chartagrundrecht auszulegen. Im Anschluss daran prüfte das Gericht allerdings, ob die untersuchte KommissionsEntscheidung gegen den „Grundsatz der guten Verwaltung“, nicht etwa gegen das „Recht auf gute Verwaltung“ verstieß – und hielt sich damit scheinbar an den Grundsatz, nicht die Chartanorm. Aus den Entscheidungen zu EU-Grundrechten in Privatrechtsverhältnissen, die unten noch ausführlich besprochen werden, fällt insbesondere das Urteil im Fall Kokopelli auf. Darin behandelte der EuGH das „Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit“, das zu den „allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts“ gehöre.64 Auf die in Art. 16 GRC verankerte unternehmerische Freiheit kam er dagegen gar nicht zu sprechen, obwohl Generalanwältin Kokott diese in ihren Schlussanträgen behandelt hatte.65 Die Einschlägigkeit eines Chartagrundrechts scheint daher Grundrechte als allgemeine Grundsätze nicht zu verdrängen – die Wahl, was von beiden geprüft wird, scheint fast beliebig. Insbesondere an EuGH-Entscheidungen zum Grundsatz der Nichtdiskriminierung wegen des Alters lässt sich allerdings auch ablesen, 61 EuGH Rs. C-1/11 (Interseroh), Rn. 43, mit Nachweisen vorheriger EuGHRechtsprechung zu genannten allgemeinen Grundsätzen. 62 EuGH Rs. C-1/11 (Interseroh), Rn. 47. 63 EuG verb. Rs. T-458/09 und T-171/10 (Slovak Telekom), Rn. 67 f. 64 EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 77. 65 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 19. Januar 2012, Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 105 ff.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

dass die Charta nach und nach zulasten der allgemeinen Grundsätze in den Vordergrund getreten ist. So behandelte der EuGH 2005 im Fall Mangold noch ausschließlich den Gleichbehandlungsgrundsatz als „allgemeine[n] Grundsatz der Gemeinschaftsrechts“.66 2007 bezog er sich im Fall Kücükdeveci noch schwerpunktmäßig ebenfalls auf ihn, wies aber auch schon darauf hin, dass „nach Art. 21 Abs. 1 [der] Charta [...] ,Diskriminierungen insbesondere wegen... des Alters verboten‘ [sind]“.67 In Prigge stellte er 2011 nach der Nennung des allgemeinen Grundsatzes bereits schlicht fest, dass das Diskriminierungsverbot in Art. 21 GRC enthalten ist und umschrieb dies nicht bloß mit einem „Hinweis“. In HK Danmark 2013 äußerte er sich zunächst wortgleich, 68 führte aber später im Urteil auch aus, dass die Richtlinie 2000/78/EG den Art. 21 GRC konkretisierte und nicht – wie noch in den Urteilen zuvor geäußert – den allgemeinen Grundsatz.69 In AMS im Jahr 2014 handelte der Kern des Falls zwar nicht vom Gleichbehandlungsgrundsatz, aber der EuGH bezog sich doch ausdrücklich auf den Fall Kücükdeveci und ging dabei ausschließlich auf Art. 21 GRC ein, äußerte sich gar nicht mehr zum allgemeinen Grundsatz – als hätte es ihn nie gegeben.70 Auch in Bio Philippe Auguste nannte der Gerichtshof ausschließlich Art. 21 GRC.71 Festhalten lässt sich danach, dass die europäische Gerichtsbarkeit die Charta und die Grundrechte als allgemeine Grundsätze flexibel handhabt, nicht als zwei konfligierende, sondern sich gegenseitig ergänzende und stützende Normgruppen behandelt. Problematisch kann dies allerdings spätestens dann werden, wenn tatsächlich unterschiedliche Konturen zwischen in der Vergangenheit entwickelten Grundsätzen und Chartagrundrechten bestehen oder wenn mittels allgemeiner Grundsätze über die Charta hinaus Grundrechtsschutz geschaffen wird. Dies gilt es im Folgenden zu hinterfragen. 2. Bewertung und Diskussion Wie erörtert, entwickelte der EuGH den Grundrechtsschutz über allgemeine Grundsätze, um eine Schutzlücke zu schließen. Nachdem die Charta die Lücke auch gesetzestextlich geschlossen hat, mag die seinerzeit gewählte Methode über allgemeine Grundsätze überflüssig erscheinen. Die europäischen Verfassungsgeber, die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge, sahen dies allerdings ausweislich des Art. 6 Abs. 3 EUV nicht so. Man kann daher nicht überzeugend argumentieren, der EuGH solle sich als rechtsprechende Gewalt ausschließlich an den gesetzlichen Normtext der Charta halten, ohne in ir66

EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 75. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 22. 68 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 19. 69 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 31. 70 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 47. 71 EuGH Rs. C-432/14 (Bio Philippe Auguste). 67

III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze

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gendeiner Weise auf allgemeine Grundsätze zurückzugreifen. Da er primärrechtlich (also „gesetzlich“) geradezu dazu aufgerufen ist, wäre dies in sich widersprüchlich. Die Grundrechte, wie sie sich aus EMRK und gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, sind Teil des Unionsrechts, Art. 6 Abs. 3 EUV. Es fragt sich aber, wie genau sie zur Charta stehen, ob sie schlicht gleichberechtigt neben ihr gelten,72 nur subsidiär anzuwenden73 oder in einem Geflecht sonstiger Art mit ihr verbunden sind.74 Der heutigen Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 EUV war bereits eine kontroverse Diskussion im Verfassungskonvent des Jahres 2002 vorausgegangen. Kritisch wurde dort bemerkt, der Verweis wäre „überflüssig und würde rechtliche Verwirrung schaffen, da die Charta bereits Rechte enthält, die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ableiten“.75 Als Argument für den Verweis wurde dagegen festgehalten, dass dieser „dazu dienen könnte, den durch die Charta gegebenen Schutz zu ergänzen und zu verdeutlichen, dass künftige Entwicklungen der EMRK und der Menschenrechtsgesetzgebung der Mitgliedstaaten in das Unionsrecht einfließen können“.76 Diese Sicht setzte sich schließlich durch. Das genannte Argument ist vor allem auf die Zukunft gerichtet. Es zielt auf einen flexiblen Grundrechts72

So Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Einl. Rn. 33 („gleichberechtigt nebeneinander“); Hofmann/Mihaescu, The Relation between the Charter’s Fundmanental Rights and the Unwritten General Principles of EU Law: Good Administration as the Test Case, 9 European Constitutional Law Review (2013), 73; E. Pache/F. Rösch, Der Vertrag von Lissabon, NVwZ 2008, 473, 475; C. Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238; Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 127. 73 Schorkopf, in: E. Grabitz et al., Das Recht der Europäischen Union (2014), Art. 6 EUV Rn. 56: „Die Charta ist gegenüber den allgemeinen Grundsätzen vorrangig anzuwenden.“ Ähnlich T. Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und allgemeinen Grundsätzen, EuR 2011, 715; E. Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2009, 343 Für eine bestenfalls subsidiäre Anwendung der Grundsätze P. Oliver, What Purpose Does Article 16 of the Charter Serve?, in: U. Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 281: die Grundsätze seien eine „residual category“ (284) und „purely and simply replaced“ (285) durch die Charta. Generalanwalt Cruz Villalón ging in Prigge davon aus, dass etwa Art. 21 GRC den entsprechenden Grundsatz ersetzt hat, Schlussanträge Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 26. 74 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 EUV Rn. 15 ff., sieht die zu Grundsätzen ergangene Rechtsprechung lediglich als Auslegungshilfe für die Charta an, Rn. 18. Ausgehend von der oben in § 2 III. 1. aufgeführten Rechtsprechung sind auch flexible, sich gegenseitig ergänzende Konstruktionen denkbar, vgl. insbes. den Fall EuG verb. Rs. T-458/09 und T-171/10 (Slovak Telekom), Rn. 67 f. 75 CONV 354/02 vom 22. Oktober 2002, Schlussbericht der Gruppe II über die Charta, S. 9. 76 CONV 354/02 vom 22. Oktober 2002, Schlussbericht der Gruppe II über die Charta, S. 9.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

schutz ab, der auf Entwicklungen eingehen kann, die heute möglicherweise noch nicht abzusehen sind.77 Es erinnert an Argumente aus Kodifikationsdebatten, die besagen, dass Codices auch zu einer Erstarrung führen können, indem sie einen gewissen Rechtsstand bis auf Weiteres festschreiben.78 Die Möglichkeit der Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Verfassungstraditionen und Entwicklungen der EMRK hat dagegen etwas organisches, sie ermöglicht ein induktives bottom-up Verfahren juristischer Argumentation. So kann der Grundrechtsbestand der Charta über Art. 6 Abs. 3 EUV ergänzt werden.79 Zwar ist es fraglich, ob Fortentwicklungen des Grundrechtsschutzes auf Art. 6 Abs. 3 EUV angewiesen wären.80 Schließlich lehrt die Erfahrung, dass auch der „starre“ Text des Grundgesetzes das Bundesverfassungsgericht nicht davon abgehalten hat, Recht fort zu bilden und beispielsweise das bei Schaffung des Grundgesetzes noch gar nicht denkbare Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme zu entwickeln.81 Art. 6 Abs. 3 EUV schafft jedoch eine besondere Legitimitätsgrundlage für innovativen Grundrechtsschutz. Auch kann man sagen, dass die Vorschrift der besonderen föderalen Struktur der Union Rechnung trägt. Insbesondere der Verweis auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ermöglicht es, Entwicklung auf Ebene der Mitgliedstaaten nachzuvollziehen, also von ihnen ausgehende Impulse auch auf supranationale Ebene zu transmittieren.82 So gesehen kann Fortbildung des unionalen Grundrechtsschutzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV paradoxerweise dazu beitragen, durch europaeinheitliche Rechtsprechung des EuGH der eigenen Charakteristik der mitgliedstaat77

17.

Kritisch dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 EUV Rn.

78 So ein Argument bei F.C. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814); zum damaligen Kodifikationsstreit z.B. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967), 390 ff. mwN; zur anhaltenden Bedeutung Savignyscher Ideen in der europäischen Kodifikationsdebatte des vergangenen Jahrzehnts s. z.B. N. Jansen, The authority of an academic ‘Draft Common Frame of Reference’, in: H.-W. Micklitz/F. Cafaggi (Hg.), European private law after the Common Frame of Reference (2010), 147. 79 So im Ergebnis auch, Schorkopf, in: Grabitz et al., Das Recht der Europäischen Union (2014), Art. 6 EUV Rn. 56; Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und allgemeinen Grundsätzen, EuR 2011, 715; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 53 Rn. 16; Hofmann/Mihaescu, The Relation between the Charter’s Fundmanental Rights and the Unwritten General Principles of EU Law: Good Administration as the Test Case, 9 European Constitutional Law Review (2013), 73; anders Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 EUV Rn. 17. 80 s. V. Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der Europäischen Union, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte (2010), § 157, insbes. Rn. 49 ff. 81 BVerfGE 120, 274. Weitere Beispiele bei Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der Europäischen Union, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte (2010), § 157, Rn. 50 ff. 82 Dazu auch Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53.

III. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze

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lichen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen. Eine „deduktive“ rechtliche Argumentation, die ein neues Grundrecht aus einer einzelnen bestehenden Vorschrift entwickelte, hätte auf mitgliedstaatliche Rechtslagen (mindestens tendenziell) weniger einzugehen als die Methode der wertenden Rechtsvergleichung nach Art. 6 Abs. 3.83 Ging es soeben um die Zukunft des Grundrechtsschutzes, so kann man den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen auch eine Funktion in Richtung der Vergangenheit zuschreiben. Es ist über sie weiterhin möglich, auf frühere Urteile des EuGH zurückzugreifen, und zwar insbesondere auch zur Auslegung der Charta.84 Dies ergibt sich im Übrigen darüber hinaus aus Abs. 5 der Präambel der Charta.85 Gerade bei besonders offenen Normen wie Grundrechten kommt konkretisierender Rechtsprechung schließlich eine besondere Bedeutung zu. Sie schafft wichtige Anhaltspunkte, sie schafft eine konkretisierte Struktur86 und Tiefe hinter allgemeinen grundrechtlichen Bestimmungen. Die befassten Gerichte konnten beispielsweise in den Fällen Slovak Telekom und Kokopelli auf frühere Rechtsprechung zurückgreifen. Freilich ging der EuGH in Kokopelli dabei aber über die bloße Auslegung einer Chartanorm mithilfe vorheriger Rechtsprechung zu einem allgemeinen Grundsatz hinaus, und wandte den Grundsatz selbst an. Die weiter bestehende Relevanz früherer Urteile schafft jedenfalls so oder so eine gewisse Kontinuität und im besten Fall mehr Rechtssicherheit. Solange sich frühere Entscheidungen zu Grundsätzen und der Inhalt der Charta nicht widersprechen, macht es auch in der Sache keinen Unterschied, ob die Charta unter Rückgriff auf die frühere Rechtsprechung ausgelegt oder die Grundsätze direkt angewandt werden. Andererseits ist nicht zu bestreiten, wie schon im Verfassungskonvent bemerkt, dass das Nebeneinander von Grundsätzen und Charta auch zu Unsicherheit führen kann.87 Dies gilt insbesondere dann, wenn die frühere Rechtsprechung des EuGH zu allgemeinen Grundsätzen Grundrechtskonturen geschaffen hat, von denen die Charta nunmehr abweicht. Dem Ziel der Charta zufolge, den seinerzeit bestehenden Grundrechtsstand zusammenzufassen 83

Zu dieser schon oben § 2 I. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 EUV Rn. 18. 85 Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Einl. Rn. 34. 86 Griffiger als die Rede von konkretisierter Struktur trifft es noch das englische Wort texture. 87 So Oliver, What Purpose Does Article 16 of the Charter Serve?, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 281, nach dem die Grundsätze „purely and simply replaced“ seien durch die Charta. Dessen Verweis in Fn. 15 auf Lenaerts, Exploring the Limits of the EU Charter of Fundamental Rights, 8 European Constitutional Law Review (2012), 375, 402 geht allerdings fehl: Lenaerts argumentiert lediglich, dass unterschiedliche Anwendungsbereiche abzulehnen sind, geht aber gerade von der fortbestehenden Relevanz der allgemeinen Grundsätze aus. 84

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

(also nicht zu ändern), sollte dies zwar eigentlich gar nicht vorkommen. Tatsächlich scheint es aber mitunter, namentlich beim Recht auf gute Verwaltung, geschehen zu sein.88 Für solche Fälle sollte man von einem Vorrang der Charta ausgehen, die als lex posterior und mit der Autorität und demokratischen Legitimität der Verfassungsgeber ausgestattet, einzelnen Urteilen vorgehen muss.89 Schließlich beinhaltet der Zweck der Zusammenfassung auch, eine bindende Festschreibung möglicherweise widersprüchlicher zuvor ergangener Urteile. Andernfalls könnte auch keine Rede davon sein, die Charta mache die geltenden Grundrechte „sichtbarer“ – vielmehr würde sie weiter geltende Grundrechte als allgemeine Grundsätze für Bürger wie auch nationale Gerichte verdecken und damit geradezu unsichtbar machen. Der EuGH könnte zwar durchaus in Zukunft über Art. 6 Abs. 3 EUV einen Grundrechtsschutz entwickeln, der neue Entwicklungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und der EMRK aufgreift und auf deren Grundlage über die Charta hinausgehen. Er kann aber nicht durch schlichten Verweis auf seine frühere Rechtsprechung von der Charta abweichen. Im Übrigen ist noch zu bemerken, dass, anders als teilweise vorgebracht,90 kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Charta und allgemeinen Grundsätzen hinsichtlich des Anwendungsbereichs besteht – dazu noch unten ausführlich § 3 I. Insofern folgt aus der Frage des Anwendungsbereichs keine weitere Bedeutung für die Frage nach der Fortgeltung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze. Festzuhalten bleibt daher, dass Grundrechte als allgemeine Grundsätze zum einen insofern relevant sind, als dass sie eine Brücke in die Vergangenheit schlagen, bereits entwickelte Grundsätze weiter gelten, und insbesondere frühere Rechtsprechung bei der Auslegung der Charta herangezogen werden kann. Dies gilt allerdings nicht, soweit Chartagrundrechte restriktiver beziehungsweise enger sind. Daneben können Grundrechte als allgemeine Grundsätze außerdem ein Instrument der Rechtsfortbildung und Aktualisierung des unionalen Grundrechtsschutzes in der Zukunft sein. Voraussetzung zur Feststellung eines neuen oder erweiterten Grundrechts wird freilich eine überzeugende, auch methodisch schlüssige

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Dazu Hofmann/Mihaescu, The Relation between the Charter’s Fundmanental Rights and the Unwritten General Principles of EU Law: Good Administration as the Test Case, 9 European Constitutional Law Review (2013), 73; s.a. T. Kingreen, Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, 570, 571. 89 So im Ergebnis z.B. auch Schorkopf, in: Grabitz et al., Das Recht der Europäischen Union (2014), Art. 6 EUV Rn. 56; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 EUV Rn. 17; anders etwa Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Einl. Rn. 34 90 Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und allgemeinen Grundsätzen, EuR 2011, 715, 717.

IV. Grundfreiheiten als EU-Grundrechte?

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Begründung des Gerichtshofs sein.91 Die recht kursorischen Betrachtungen in Mangold etwa wären diesbezüglich ein eher besorgniserregende Vorbild.92 Hoffnungsvoller stimmt die Analyse in Audiolux.93 Schlussendlich ist zu bemerken, dass es für eine praktische Beschäftigung mit EU-Grundrechten geradezu zwingend notwendig erscheint, weiterhin auf Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts einzugehen. Dies gilt gerade auch für den weiteren Verlauf dieser Schrift. Selbst wenn man zu einem restriktiveren als dem hier vertretenen Ergebnis kommen würde, käme man schließlich nicht um die Rechtsprechung der Unionsgerichte herum, die sich teilweise weiterhin auf allgemeine Grundsätze bezieht, und die es zu berücksichtigen gilt.

IV. Grundfreiheiten als EU-Grundrechte? IV. Grundfreiheiten als EU-Grundrechte?

Eine umstrittene Frage ist, ob auch die Grundfreiheiten des AEUV zu den Grundrechten zu zählen sind. Diese Problematik soll im Folgenden kurz geschildert werden, um dann die Grundfreiheiten jedenfalls für diese Schrift aus der Kategorie der Grundrechte auszuschließen. Dass man Grundfreiheiten als Grundrechte überhaupt diskutiert,94 geht zu einem guten Teil auf den EuGH selbst zurück. Dieser bezeichnet nämlich erstere bisweilen als letztere und stellte etwa für die Arbeitnehmerfreizügigkeit fest, dass sie ein „Grundrecht [ist], dass jedem Arbeitnehmer der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist“.95 Auch in der französischen Fassung des Urteils heißt es an der entsprechenden Stelle „droit fondamental“, in der englischen „fundamental right“ – eine Übersetzungszufälligkeit ist also auszuschließen. Grundfreiheiten erfüllen durchaus eine Reihe von Kriterien, die man mit Grundrechten üblicherweise verbinden würde: Sie sind subjektive Rechte des Einzelnen und stehen als Teil des Primärrechts auf der höchsten Stufe der Unionsrechtsordnung. Auch ihre mehrstufige Prü-

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Dies betont auch schon Schorkopf, in: Grabitz et al., Das Recht der Europäischen Union (2014), Art. 6 EUV Rn. 56. 92 Zu Mangold unten ausführlich § 4 I. 1., mit zahlreichen Nachweisen zu kritischen Erörterungen der Entscheidung auch in methodischer Hinsicht. 93 EuGH Rs. C-108/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823. 94 S. z.B. R. Streinz, Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte (2010), § 151, Rn. 11 ff.; Überblick bei Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Einl. Rn. 23 ff.; ausführlich J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte (2004). 95 EuGH, Rs. 222/86 (Unectef/Heylens), Slg. 1987, 4097 Rn. 14; s.a. z.B. EuGH Rs. C415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 Rn. 129.

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§ 2 Bestand der EU-Grundrechte

fungsdogmatik ist ähnlich.96 Andererseits fehlt ihnen ein universelles Element, denn sie verfolgen die spezifische Funktion der Schaffung eines Marktes in einem bestimmten geographischen Raum.97 Auch gelten sie nur bei grenzübergreifenden Geschäften.98 Was genau ein Grundrecht ausmacht, ob es etwa tatsächlich ein universelles Element ankommt, ist weder allgemein anerkannt noch gibt es hierfür übergeordnete Autoritäten.99 Die Frage ist auch, ob es eine allgemeine Antwort überhaupt geben muss und welche Konsequenzen aus einer solchen folgen würde. Für diese Arbeit jedenfalls ist es vorzuziehen, Grundfreiheiten nicht als Grundrechte zu verstehen. Hierfür spricht insbesondere das pragmatische Argument, dass die Wirkungen der Grundfreiheiten auf das Vertragsrecht andernorts umfassend behandelt worden sind,100 während es sich bei den Wirkungen der Grundrechte um eine neuere, noch weniger bearbeitete Problematik handelt. Die Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten ist im Übrigen nicht nur problemlos möglich, sie ist auch weithin üblich. Abseits der spezifischen Grundfreiheiten-als-Grundrechte-Diskussion werden diese beiden Kategorien von Rechten regelmäßig gegenübergestellt.101 Schlussendlich erscheint es auch ausgehend von Art. 6 EUV überzeugender, Grundfreiheiten nicht als Grundrechte zu begreifen. Diese Norm, als Schnittstelle des EU-Grundrechtsschutzes konzipiert, verweist schließlich nicht auf sie. Werden die Grundfreiheiten des AEUV damit hier nicht zu den Grundrechten gezählt, heißt das nicht, dass sie im Weiteren gar keine Rolle mehr spielen. Sie werden, vor allem dann, wenn ihr Verhältnis zu Grundrechten auch privatrechtlich relevant ist, behandelt, und lediglich nicht ins Zentrum der Untersuchung gestellt.

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R. Streinz, EUV, AEUV: Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2012). Näher zu dogmatischen Parallelen Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 1, 18 ff. 97 So etwa H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union: Charta der Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze (2004), 87; Streinz, EUV, AEUV (2012), Art. 6 EUV Rn. 34. 98 Streinz, EUV, AEUV (2012), Art. 6 EUV Rn. 34. 99 Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 513. 100 P.-C. Müller-Graf, Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten, EuR 2014, 3, 4 zählt allein aus der deutschsprachigen Literatur 16 Monographien zu diesem Thema. 101 Z.B. schon im Titel D. Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014); N. Matz-Lück/M. Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012). Gerade auch im Bezug zum Privatrecht z.B. S. Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013); S. de Vries, Balancing Fundamental Rights with Economic Freedoms According to the European Court of Justice, 9 Utrecht Law Review (2013), 169.

V. Zusammenfassung

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V. Zusammenfassung V. Zusammenfassung

Der Grundrechtsschutz der EU ist dreigliedrig konzipiert, doch sind nur zwei Normgruppen derzeit, und für die Thematik dieser Schrift ohnehin, von Relevanz: die Grundrechtecharta sowie die Grundrechte als allgemeine Grundsätze. Die Charta nimmt nunmehr die zentrale Rolle ein, sie steht gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV im Rang des Primärrechts und enthält einen umfassenden Katalog an Grundrechten, der deutlich über den Text des deutschen Grundgesetzes hinausgeht. Insbesondere enthält sie so genannte Grundrechte der zweiten Generation, namentlich im Abschnitt über Solidarität, aber auch moderne Freiheitsrechte wie etwa ein Grundrecht auf Datenschutz. Ihre Zielrichtung ist bei einer unbefangenen Lektüre sowohl eine Zügelung staatlichen Handelns wie auch eine Vorgabe positiver staatlicher Normsetzung. Prima facie betreffen mehrere ihrer Vorschriften auch Rechtsbeziehungen zwischen Privaten und insbesondere auch vertragliche Verhältnisse. Zu berücksichtigen ist im Allgemeinen, dass die Charta zwischen Grundrechten und Grundsätzen unterscheidet, wobei letztere einen weniger weitreichenden Schutz gewähren, aber sehr wohl justiziabel sind. Daneben werden Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, die vor Inkrafttreten der Charta durch den EuGH entwickelt wurden, nicht bedeutungslos, sondern sind gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV weiter geltendes Recht. Damit bleibt die Rechtsprechung des EuGH seit Stauder weiter relevant, mit der er auf der Grundlage nationaler Grundrechte und der EMRK im Wege wertender Rechtsvergleichung einen Grundrechtsschutz auf supranationaler Ebene schuf. Gleichzeitig sind Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze aber auch ein Instrument, um Grundrechtsschutz in Zukunft fortzuentwickeln, und dabei insbesondere auf Entwicklungen in den Mitgliedstaaten eingehen zu können. Nicht unter den Begriff der EU-Grundrechte sollen in dieser Schrift die Grundfreiheiten des AEUV gefasst werden.

§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem Der im vorherigen Kapitel gefundene Bestand der EU-Grundrechte soll im Folgenden im Mehrebenensystem verortet und in Beziehung zu anderen Grundrechtsschichten gesetzt werden. Damit geht es um die Architektur des Grundrechtsschutzes in Europa,1 deren Berücksichtigung unerlässlich ist, um die Bedeutung der EU-Grundrechte für das Vertragsrecht angemessen zu erfassen. Zunächst ist es notwendig, den Anwendungsbereich der EUGrundrechte zu bestimmen (I.). Dieser ist, anders als bei mitgliedsstaatlichen Grundrechtskatalogen, entscheidend begrenzt. Anschließend gilt es, das Verhältnis zu nationalen Grundrechten vorzustellen (II.). Dies ist bedeutend für die Frage, welche Bedeutung in Zukunft überhaupt noch nationale Grundrechte im Vertragsrecht haben. Schließlich soll in diesem Kapitel das Verhältnis zu den in der EMRK normierten Grundrechten skizziert werden (III.). Bei all dem soll es nicht um eine ganzheitliche Bestandsaufnahme der verschiedenen europäischen Grundrechtsebenen und ihres Verhältnisses gehen, sondern die Behandlung reicht nur so weit, wie es für die hier primär interessierende Auswirkung der EU-Grundrechte auf das Vertragsrecht relevant es. Der Schwerpunkt liegt daher bei deren Anwendungsbereich, mit dem dieses Kapitel beginnt.

I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte

Die Frage des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechte ist nicht bloß dogmatisch-systematischer Natur, sondern hat erhebliche kompetenzielle Implikationen.2 Denn je weiter der Anwendungsbereich, desto weiter die Recht1 Den Begriff der Architektur nutzen etwa Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53; J. Masing, Einheit und Vielfalt des europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477. 2 Zur Lesart als föderale Frage insbesondere P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, 39 Common Market Law Review (2002), 945; außerdem z.B. K. Lenaerts, Fundamental Rights to be included in a Community Catalogue, 16 European Law Review (1991), 367, 389 (Grundrechtekatalog als „federalizing device“); A. Knook, The Court, the Charter, and the Vertical Dimension of Powers in the European Union, 42 Common Market Law Review (2005), 367; P. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR

I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte

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sprechungszuständigkeit des EuGH, und desto geringer die Bedeutung nationaler Grundrechtskataloge und Verfassungsgerichte. Je mehr Situationen die Jurisdiktion des EuGH umfasst, desto mehr supranational einheitliche Lenkung. So wie die genauen Konturen des Anwendungsbereichs Auswirkungen auf die föderale Balance haben, so hat aber auch von vorneherein die Grundstruktur des europäischen Mehrebenensystems Bedeutung für den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte. Sie ist der Grund dafür, dass er überhaupt, anders als bei den nationalen Grundrechtsordnungen, begrenzt ist. 3 Denn nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf die Union nur dort Recht setzen, wo ihr Kompetenzen übertragen wurden, Art. 5 Abs. 1 EUV. Bei aller Expansion beschränkt sich europäisches Recht weiterhin auf bestimmte Materien und ist keineswegs allumfassend. Zwar ist legislative nicht mit judikativer Kompetenz gleichzusetzen,4 doch ist es klar, dass der EuGH nicht einfach in Fällen Recht sprechen darf, die keinerlei Bezug zum Unionsrecht aufweisen. 5 Als er rechtsfortbildend einen Grundrechtsschutz aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen schuf, konnte er diesen daher nicht auf jegliche Akte der Mitgliedstaaten erstrecken – dazu fehlte ihm schlicht die 2008, 190; Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/MüllerGraff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8. 3 So zum Zusammenhang zwischen Anwendungsbereich und Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung auch K. Lenaerts, Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, EuR 2012, 3. 4 Der EuGH selbst verneint dies wohl – Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759; dazu Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 40; auch D. Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889, 891; X. Groussot et al., The Scope of Application of EU Fundamental Rights and Member States’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication, Eric Stein Working Paper 1/2011, 22 ff.; S. Weatherill, From Economic to Fundamental Rights, in: S. de Vries et al. (Hg.), The Protection of Fundamental Rights in the EU After Lisbon (2013), 11, 16 ff.; wohl aA bezüglich der Grundrechte Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston Rs. C-34/09 (Zambrano), Rn. 163. 5 Vgl. heute Art. 19 EUV (Abs. 1: „Auslegung und Anwendung der Verträge“; Abs. 3 lit. b: „Auslegung des Unionsrechts“, „Gültigkeit der Handlungen der Organe“); ebenso F. Mayer, in: Grabitz et al., Das Recht der Europäischen Union (2014), Art. 51 GRC Rn. 49; auch EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 21. Im allgemeinen Völkerrecht unterscheidet man vergleichbar zwischen jurisdiction der (Schieds)Gerichte und applicable law. Jurisdiction meint die grundsätzliche Zuständigkeit für eine konkrete Streitigkeit – dem EuGH fehlt diese, wenn in einem Sachverhalt allein nationale Normen relevant sind. Unter applicable law fällt die Frage, welche Normen anwendbar sind, und mithin auch, wie weit ihr Anwendungsbereich reicht. Dies kann seinerseits durch die Fassung der konkreten jurisdiction begrenzt sein, s. dazu etwa L. Bartels, Jurisdiction and Applicable Law Clauses: where does a Tribunal Find the Principal Norms Applicable to the Case Before it?, in: T. Broude/Y. Shany (Hg.), Multi-sourced equivalent norms in international law (2011), 115. Auf die Stellung des EuGH kann man dies übertragen: Seine jurisdiction stellt Grenzen auch für den Anwendungsbereich des Rechts auf.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

Zuständigkeit.6 Zwar enthält die Charta nun, wie erörtert, einen umfassenden Katalog von Grundrechten, der wesentlich über die im Grundgesetz verankerten hinausgeht – sie scheint eine weitreichende Blaupause einer Gesellschaftsordnung zu zeichnen und jedes denkbare staatliche Handeln betreffen zu können. Tatsächlich ist ihre Wirkung aber jedenfalls auf jene Sachverhalte begrenzt, die einen Zusammenhang mit Unionsrecht aufweisen.7 Der EuGH erkannte selbst ausdrücklich an, dass er „im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragen Zuständigkeiten zu prüfen [hat]“.8 Die genaue Bestimmung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechte ist seit Jahrzehnten Gegenstand erheblicher rechtswissenschaftlicher und inzwischen auch inter-gerichtlicher Kontroversen. Diese betrafen und betreffen vor allem die Frage, wann auch mitgliedstaatliche Maßnahmen an Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Union zu messen sind. Die vom EuGH entwickelte Formel der Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ war keineswegs eindeutig. Mit dem Vertrag von Lissabon stellte sich außerdem das Problem, ob die Chartagrundrechte den gleichen oder einen abweichenden Anwendungsbereich besitzen. Denn gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC gelten die Chartagrundrechte „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips“, sowie „für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Um den konkreten Zustand des Spannungsfeldes zwischen nationaler und supranationaler Lenkungskompetenz in Grundrechtsfragen auszuloten, wird im Folgenden zunächst die Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen nachgezeichnet und eingeordnet (1.). Diese ist zum einen relevant, da die allgemeinen Rechtsgrundsätze nach wie vor (wie erörtert) über Art. 6 Abs. 3 EUV ihre Bedeutung haben. Zum anderen schafft dies den notwendigen Hintergrund, um anschließend (2.) den für die Grundrechtecharta einschlägigen Art. 51 Abs. 1 GRC und die zu ihm ergangene Rechtsprechung zu untersuchen. Diese allgemeinen Ausführungen sollen schließlich als Grundlage dienen, um den Anwendungsbereich auf das Vertragsrecht hin etwas zu konkretisieren (3.).

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So stellte der EuGH 1984 fest, er habe nur „für die Einhaltung der Grundrechte auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts zu sorgen“ – EuGH Rs. 60-61/84 (Cinéthèque), Slg. 1984, 2618, Rn. 26. 7 Zu diesem „Paradox“ Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, 39 Common Market Law Review (2002), 945, 952 ff. auch mit Beispielen. Zu den Gründen für eine umfassende Charta und der Diskussion darum Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 40 ff. 8 EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa) Rn. 20.

I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte

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1. Anwendungsbereich der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Wie erörtert, entwickelte der EuGH den europarechtlichen Grundrechtsschutz zur Schließung einer Schutzlücke. Am Anfang seiner Grundrechtsrechtsprechung ab Stauder stand die Überprüfung supranationaler Rechtsakte9 – zur Schließung der Schutzlücke folgerichtig, denn schließlich waren diese seiner Ansicht nach gerade nicht an nationalen Grundrechten zu messen. Bezüglich der Prüfung mitgliedstaatlicher Handlungen und Rechtsakte anhand der Gemeinschaftsgrundrechte agierte der Gerichtshof zunächst äußerst vorsichtig.10 Erst 1989, zwanzig Jahre nach Stauder, stellte er erstmals in Wachauf fest,11 dass auch Akte der Mitgliedsstaaten unter bestimmten Umständen an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen wären. Soweit Mitgliedstaaten in ihrem Handeln zwingend Unionsrecht zu befolgen hatten, lag schließlich auch hier eine Schutzlücke vor.12 Der EuGH ging im Weiteren allerdings über bloßes Lückenstopfen hinaus.13 Er entwickelte die allgemeine Formel der Anwendbarkeit der Grundrechte „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ und wandte sie auch bei Maßnahmen an, bei denen das Unionsrecht ein Ergebnis nicht detailliert vorgab. Neben die bloße Schutzrationalität trat spätestens jetzt eine Vereinheitlichungsrationalität. Während die Anwendung von EU-Grundrechten auf unionsrechtliche Akte kaum Abgrenzungsschwierigkeiten bereitet, ist die Lage bei Handlungen der Mitgliedstaaten problematisch. Unter mitgliedstaatliches Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts fasst man verbreitet zwei Fallgruppen:14 zum einen mitgliedstaatliche Akte, die Unionsrecht administrativ oder legislativ umsetzen – dies wird als „agency situation“, 15 „Vertretungsfall“ 16 oder „Durchführungskonstellation“ 17 bezeichnet (dazu a)). Zum anderen fasst man 9

Im ersten Urteil, in dem der EuGH den Grundrechtsschutz über allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannte, ging es um eine Entscheidung der Kommission: s. Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419. 10 S. z.B. EuGH Rs. 60-61/84 (Cinéthèque), Slg. 1984, 2618. 11 EuGH Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609. 12 Schließlich geht auch einfaches Unionsrecht nationalem Verfassungsrecht vor, EuGH Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125. Insofern hat auch das BVerfG die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte akzeptiert, s. BVerfGE 118, 79; BVerfGE 121, 1. 13 Dazu kritisch Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190. 14 So etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 8; D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162. 15 J. Weiler/N. Lockhart, “Taking rights seriously” seriously: The European Court and its fundamental rights jurisprudence – part I, 32 Common Market Law Review (1995), 51, 73. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 8. 16 Lenaerts, Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, EuR 2012, 3. 17 Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162, 163; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 8 ff., 16.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

unter „derogation situation“,18 „Ausnahmefall“19 oder „Einschränkungskonstellation“ 20 jene Maßnahmen, die eine Beschränkung von Grundfreiheiten bewirken (dazu b)). Allerdings geben diese Fallgruppen, wie immer noch bisweilen übersehen wird, nicht abschließend die Rechtsprechung des Gerichtshofs wieder. Mehrere Urteile bezogen sich auf sonstige Konstellationen, bei denen spezifische unionsrechtliche Regelungen auf einen Sachverhalt anwendbar waren (dazu c)).21 a) Administrative und legislative Umsetzungsakte Administrative und legislative Umsetzung von Unionsrecht fasste man im deutschen Schrifttum jedenfalls bis zum Inkrafttreten der Charta häufig unter den Begriff der Durchführungskonstellation. Die Terminologie beruht auf der ersten Entscheidung, die überhaupt die Bindung der Mitgliedstaaten bejahte: Wachauf.22 Der EuGH stellte darin fest, dass die „Mitgliedstaaten [die] Erfordernisse [des Grundrechtsschutzes] bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten haben“ und diese daher „soweit irgend möglich, in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden [müssen]“.23 Das später in ERT entwickelte Kriterium des Anwendungsbereichs des Unionsrechts erwähnte der Gerichtshof noch nicht. Konkret ging es in Wachauf um die Grundrechtskonformität administrativen Vollzugs, nämlich der Durchführung einer europäischen Verordnung durch eine deutsche Behörde. Die Bindung mitgliedstaatlicher Behörden kann man damit begründen, dass sie funktional als verlängerter Arm der Union handeln.24

18 K. Lenaerts/J. Gutiérrez-Fons, The Constitutional Allocation of Powers and General Principles of EU Law, 47 Common Market Law Review (2010), 1629. 19 Lenaerts, Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, EuR 2012, 3. 20 Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162. 21 So auch Schlussanträge Generalanwältin Sharpston, Rs. C-427/06 (Bartsch), Rn. 69; Lenaerts, Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, EuR 2012, 3; dazu näher Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8; auch Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 20, geht für die Charta über die klassischen Fallgruppen hinaus, wenn er auch „judikative Durchführung“ als erfasst sieht. In der Sache entspricht dies der hier vertretenen Sichtweise, auch wenn er die Zweiteilung in „Durchführung“ und „Einschränkung“ nicht aufgibt. Dazu noch unten c) aE. 22 EuGH Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609. 23 EuGH Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609, Rn. 19. 24 Weiler/Lockhart, “Taking rights seriously” seriously: The European Court and its fundamental rights jurisprudence – part I, 32 Common Market Law Review (1995), 51, 74; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 11; H. Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: N. Matz-Lück/M. Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 24.

I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte

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Von Durchführung kann man – mit dem EuGH – auch bei legislativer Umsetzung von Unionsrecht, insbesondere von Richtlinien sprechen. Wie im Fall Caballero ausgeführt, sind auch in dieser Konstellation die Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte gebunden. Konkret ging es in dieser Sache um die Umsetzung der Richtlinie 80/987/EWG durch ein spanisches Gesetz. In diesem Fall argumentierte der Gerichtshof allerdings ebenso mit dem Kriterium des Anwendungsbereichs des Unionsrechts, ohne klar zu machen, in welchem Verhältnis dieser zum Begriff der Durchführung steht. Er sagte zunächst, dass „die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung beachten müssten“.25 Er führte dann aber unmittelbar danach auch aus, dass er die für die zur Beantwortung der Vorlagefrage wesentlichen Auslegungskriterien zu bestimmen habe, „[wenn] eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts [fällt]“.26 Dieses Kriterium war zum Zeitpunkt des Urteils bereits durch ERT etabliert (dazu unten b)). In welcher logischen Relation beide zueinander standen, erläuterte er nicht. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum verstanden viele das Urteil so, dass legislative Umsetzungsakte der Kategorie „Durchführung“ unterfielen, welche ihrerseits ein Unterfall des Begriffs „im Anwendungsbereich“ sei.27 Dies ist allerdings keineswegs eindeutig. Die Reihenfolge, erst das Kriterium der Durchführung, dann das des Anwendungsbereichs zu nennen, würde sogar eher ein umgekehrtes Verhältnis nahe legen. Mit Sicherheit festhalten kann man lediglich, dass in der Terminologie des EuGH legislative Umsetzungsakte als Durchführung von Unionsrecht gelten, sich in dessen Anwendungsbereich befinden und somit EU-Grundrechte anwendbar sind. b) Einschränkung von Grundfreiheiten Die zweite Fallgruppe der Anwendung von Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen betrifft die Einschränkung von Grundfreiheiten. In ihrer Begründung und in ihren Auswirkungen ist sie umstrittener als die genannten Umsetzungsakte. 28 Eröffnet hat diesen Rechtsprechungspfad das bereits ge25

EuGH Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915, Rn. 30. EuGH Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915, Rn. 31. 27 Etwa P. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385; Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 24 ff. 28 Kritisch etwa Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385, 2386; T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, 3, 34; Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: Matz-Lück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 28 ff.; positiv etwa Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, 39 Common Market Law Review (2002), 945, 992 f.; 26

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

nannte Urteil in der Sache ERT.29 In dieser stellte der EuGH erstmals fest, dass es für die Anwendbarkeit der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze auf eine nationale Regelung darauf ankomme, ob diese sich im „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ befinde. In diesem Fall habe der Gerichtshof „dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können“.30 Nach Ansicht des EuGH traf dies auf Regelungen zu, die Grundfreiheiten einschränkten – wie im Fall ERT die Festschreibung eines griechischen Fernsehmonopols die Dienstleistungsfreiheit. Bei der Prüfung der Rechtfertigung solcher Einschränkungen seien die Grundrechte heranzuziehen. Die primärrechtlichen Vorschriften, die ausnahmsweise Einschränkungen zulassen (in deutscher Terminologie häufig: Schrankenregelungen) „können [...] für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht [...].“ 31 Die eine primärrechtliche Vorschrift wird demzufolge also unter Berücksichtigung der anderen ausgelegt (im konkreten Fall des damaligen Art. 66 in Verbindung mit Art. 56 EGV).32 Grundrechte fallen hier in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, da die Auslegung des Primärrechts betroffen ist. Sie stellen eine zusätzliche Anforderung für die Rechtfertigung der Beschränkung von Grundfreiheiten auf, weswegen man im deutschen Schrifttum bisweilen von „Schranken-Schranke“ spricht.33 In der Sache, wenn auch nicht dogmatisch, läuft dies auf eine kumulative Prüfung von Grundfreiheit und Grundrecht hinaus. Insofern wird eine weitere Anforderungsschicht an mitgliedstaatliches Handeln gestellt, die mitgliedstaatliche Autonomie zulasten europagrundrechtlicher Vereinheitlichung begrenzt. Es ist nicht verwunderlich bei einem solchen Spannungsfeld verti-

Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162, 183; F. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte: die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Fortentwicklung (2005); Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 26. 29 EuGH Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2963. 30 EuGH Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2963, Rn. 42 31 EuGH Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2963, Rn. 43. 32 Zur Möglichkeit einer „primärrechtskonformen Auslegung des Primärrechts“ s.u. § 5 I 1. b) cc). 33 S. etwa Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190, 194; J. Bergmann, in: J.M. Bergmann et al., Ausländerrecht (2013), Art. 51 GRC Rn. 1; Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 25.

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kaler Kompetenz-Dimension, dass dies ebenso kritisiert wie begrüßt worden ist.34 Während im Fall ERT die Anwendbarkeit der Grundsätze jedenfalls keine entscheidenden integrativen Konsequenzen hatte – der EuGH überließ die Grundrechtsprüfung dem mitgliedstaatlichen Gericht – zeigte sich die Reichweite dieser Logik besonders anschaulich im Fall Carpenter.35 In diesem machte der britische Mr. Carpenter geltend, dass die Ausweisung seiner philippinischen Frau aus dem Vereinigten Königreich gegen seine Dienstleistungsfreiheit verstieße, da er ohne ihre Unterstützung (unter anderem bei der Kindererziehung) nicht mehr zu Geschäftsreisen in andere Mitgliedsstaaten in der Lage sei. Der EuGH nahm in der Tat an, dass die Ausweisung Mrs. Carpenters in Mr. Carpenters Dienstleistungsfreiheit eingreife, und unterstellte anschließend auch die diesbezügliche Rechtfertigung der Grundrechtsprüfung. Er wiederholte, dass eine solche mitgliedstaatliche Regelung nach europarechtlichen Vorschriften nur dann gerechtfertigt sein könne, wenn sie „mit den Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht“.36 Dies nahm er zum Ausgangspunkt für eine detaillierte Grundrechtsprüfung, bei der er feststellte, dass die Ausweisung einen unangemessenen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens des Mr. Carpenter darstellte. Sachlich gesehen entfernte sich der Gerichtshof damit erheblich von der ökonomischen Funktionsrichtung der Grundfreiheiten. Die Auslegung im Lichte des Rechts auf Achtung des Familienlebens führte dazu, einen ungerechtfertigten Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit anzunehmen. Ein ganz erhebliche Ausweitung des Anwendungsbereichs der EUGrundrechte hätte sich außerdem aus dem Fall Karner ergeben können.37 Nachdem dieser schon seit längerem als singulär oder ausreißender Fehler einer ansonsten konsistenten Rechtsprechung qualifiziert wurde,38 dürfte sich sein Expansionspotenzial aber durch die Entscheidung Pelckmans39 erledigt haben. In Karner ging es um die Vereinbarkeit einer Vorschrift des österreichischen UWG mit der Warenverkehrsfreiheit. Obwohl der Gerichtshof an34

S. die Nachweise in Fn. 28. EuGH Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002, I-6279. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190, geht sogar zu weit zu sagen, dass es in Konsequenz der ERTRechsprechung „praktisch keinen Lebensbereich mehr gibt, der nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts läge“. 36 EuGH Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002, I-6279, Rn. 40. 37 EuGH Rs. C-71/02 (Karner), Slg. 2004, I-3025. 38 Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162, 174 („sprich manches dafür, dass dem EuGH hier ein Versehen unterlaufen sein könnte“); F. Wollenschläger, Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Rahmen einer Beschränkung von Grundfreiheiten, EuZW 2014, 577, 580 („singulär“); kritisch auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 GRC Rn. 16. 39 EuGH Rs. C-483/12 (Pelckmans). 35

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nahm, dass diese eine Verkaufsmodalität darstelle,40 die also im Sinne der Keck-Rechtsprechung keine Einschränkung der Grundfreiheit darstelle, 41 prüfte er ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten. 42 Dies ist deshalb so verwunderlich, da die Rechtfertigungsvorschriften des EGV mangels Beschränkung gar nicht zu prüfen waren, also nicht den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffneten. Man hätte daraus folgern können, dass nach Sicht des EuGH auch Verkaufsmodalitäten, warum auch immer, grundsätzlich den EUGrundrechten unterfielen.43 Dies wäre nah an der Annahme, die Grundrechte gälten für alle Regeln, die für grenzüberschreitenden Handel auch nur irgendwie relevant sind. Dem hat der Gerichtshof jedoch in Pelckmans eine Absage erteilt: Er stellte fest, dass die Ladenschlussregelungen (ein typischer Fall einer Verkaufsmodalität)44 nicht der Warenverkehrsfreiheit unterfallen,45 und folglich nicht „vom Unionsrecht erfasst“ seien.46 Selbst wenn der EuGH in Pelckmans nur von Ladenschlusszeiten und nicht von Verkaufsmodalitäten im Allgemeinen sprach: Den Fall Karner kann man nun als Ausreißer ohne große Konsequenzen einordnen. c) Weitere von spezifischem Unionsrecht geregelte Sachverhalte Der EuGH hat in weiteren Fällen Grundrechte als allgemeine Grundsätze angewandt, bei denen es weder um Umsetzungsakte noch um die Einschränkung von Grundfreiheiten ging. Zusammenfassend kann man, wie erstmals Generalanwältin Sharpston in Bartsch ausführte, diese als Sachverhalte bezeichnen, auf die spezifische materielle Unionsregelungen anzuwenden sind.47 Die Terminologie ist dabei wohl dem Urteil Annibaldi entliehen, in dem der EuGH die Anwendbarkeit eines Grundsatzes verneinte, unter ande-

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EuGH Rs. C-71/02 (Karner), Slg. 2004, I-3025, Rn. 37-40. EuGH verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck), Slg. 1993, I-6097. 42 EuGH Rs. C-71/02 (Karner), Slg. 2004, I-3025, Rn. 44 ff. 43 So Groussot et al., The Scope of Application of EU Fundamental Rights and Member States’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication, Eric Stein Working Pape 1/2011, 14. 44 S. schon EuGH Rs. C-69/93 (Punto Casa), Slg. 1994, I-2355; dazu etwa Oppermann et al., Europarecht (2014), 394; P.-C. Müller Graf, in: Groeben et al., Europäisches Unionsrecht (2015), Art. 34 Rn. 161. 45 EuGH Rs. C-483/12 (Pelckmans), Rn. 24. 46 EuGH Rs. C-483/12 (Pelckmans), Rn. 22. 47 Schlussanträge Generalanwältin Sharpston, Rs. C-427/06 (Bartsch), Rn. 69; ebenso Lenaerts/Gutiérrez-Fons, The Constitutional Allocation of Powers and General Principles of EU Law, 47 Common Market Law Review (2010), 1629, 1639; Lenaerts, Die EUGrundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, EuR 2012, 3, 4. Hierzu auch Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 29 ff. 41

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rem, weil keine „spezifische Gemeinschaftsregelung“ einschlägig sei.48 Ein allgemeines Prüfungskriterium machte er seinerzeit allerdings nicht daraus. Während die Anwendung der allgemeinen Grundsätze bei Umsetzungsakten weitestgehend unbestritten ist, und sich bei der Einschränkungskonstellation kritische Stimmen mehren, ist diese dritte Fallgruppe die umstrittenste.49 Dies liegt insbesondere auch an ihrem beachtlichen Unitarisierungspotenzial,50 wie unter anderem die im Folgenden beschriebenen Fälle zeigen. Die genauen Konturen der Fallgruppe befinden sich noch in der Entwicklung.51 So sie denn überhaupt angesprochen wird, fordert man beispielsweise einschränkend, „die Anwendbarkeit allgemeiner Rechtsgrundsätze konkret nach dem jeweiligen Gegenstand und den Zielen einer Gemeinschaftsregelung sowie dem spezifischen Schutzzweck der fraglichen Bestimmung auszurichten, die das mitgliedstaatliche Recht dem Gemeinschaftsrecht unterstellt.“ 52 Die Grundsätze sollten nach dieser Sicht Danwitz’ nicht in umfassender Weise, sondern nur mit Richtung der Zielsätze des sonstigen supranationalen Rechts angewandt werden, auch soll etwa zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten unterschieden werden.53 An anderer Stelle stellt Danwitz außerdem darauf ab, ob ein Rechtsverhältnis sich „ausschließlich oder jedenfalls hauptsächlich aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt“.54 Solche Ansätze sind sinnvoll, um eine sehr amorphe Fallgruppe operationabel zu machen, lassen aber freilich selbst eine erhebliche Unsicherheit. Geht man vom Maßstab des Anwendungsbereichs des Unionsrechts aus, ist es jedenfalls folgerichtig, EU-Grundrechte auch über konkrete Umset48

EuGH Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, I-7498, Rn. 23. Sharpston zitierte dies in Rs. C-427/06 (Bartsch), Rn. 69 allerdings nicht, sondern das seinerzeit am gleichen Tag entschiedene Urteil in den verb. Rs. C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96 (Molenheide), Slg. 1997, I-7281; zu beiden Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 29. 49 Überblick bei Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8 Rn. 29 mwN in Fn. 140. 50 Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 29. 51 Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 29. Gegen die Annahme einer solchen Fallgruppe etwa noch Groussot et al., The Scope of Application of EU Fundamental Rights and Member States’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication, Eric Stein Working Paper 1/2011, 14. 52 T.v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (2008), 225. 53 Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (2008), 225. 54 T.v. Danwitz, Grundrechtsschutz im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nach der Charta der Grundrechte, in: M. Herdegen/R. Herzog (Hg.), Staatsrecht und Politik: Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag (2009), 19, 28.

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zungsakte hinaus anzuwenden. Denn schließlich haben insbesondere Richtlinien im Allgemeinen Konsequenzen über jene gesetzlichen Vorschriften hinaus, die ihrer Umsetzung in nationales Recht dienen.55 Wie der EuGH beispielsweise in Pfeiffer entschied, müssen nationale Gerichte „das gesamte nationale Recht berücksichtig[en], um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt [...].“56 Der Anwendungsbereich von Richtlinien (und damit der des Unionsrechts) ergibt sich damit nicht aus der Intention mitgliedstaatlicher Gesetzgeber bei der Schaffung einzelner Normen, sondern aus der im Unionsrecht geregelte Sachmaterie. Die sachmaterielle Relevanz bereitet dann den Boden für EU-Grundrechte. Nationales Recht ist nämlich nach Sicht des EuGH (in Lindqvist) allgemein nicht nur im „Einklang mit der Richtlinie [...] auszulegen, sondern [man darf sich dabei auch] nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinie stützen, die mit den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten [...] kollidiert“.57 Die Konsequenz hieraus lässt sich etwa am Fall ORF58 ablesen. In diesem ging es um die Europarechtskonformität einer Verpflichtung nach österreichischem Recht zur Offenlegung der Gehälter von Spitzenfunktionären gegenüber dem Rechnungshof.59 Laut dem EuGH war im vorgelegten Fall die Datenschutzrichtlinie60 anwendbar,61 auch wenn die entscheidenden Normen zur Offenlegungspflicht nicht als ihre Umsetzung beabsichtigt waren. Es reichte aus, dass die Offenlegung als Sachverhalt der Richtlinie unterfiel.62 Zur Prüfung der Vereinbarkeit der österreichischen Veröffentlichungspflicht mit Europarecht ging der Gerichtshof zunächst auf die Richtlinie ein. Diese sei, so führte er dann aus, „im Licht der Grundrechte auszulegen“.63 Im Folgenden setzte er aber die Grundrechte nicht bloß in Bezug zu einzelnen Richtlinienbestimmungen, sondern prüfte, „ob eine Regelung wie die den Ausgangsverfahren zugrunde liegende“ grundrechtskonform ist. Dieses Vorgehen lief auf eine ausführliche Überprüfung österreichischen Rechts anhand des Grundrechts auf Schutz der Privatsphäre hinaus. In der Konsequenz waren 55

Hierzu für den Kontext des Anwendungsbereichs auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 8; s.a. noch unten § 5 I. 1. b) aa). 56 EuGH Rs. C-397/01-C-403/01 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835, Rn. 115. 57 EuGH Rs. C-101/01 (Lindqvist), Slg. 2003, I-13023, Rn. 87. 58 EuGH verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01 (ORF), Slg. 2003, I-4989. 59 EuGH verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01 (ORF), Slg. 2003, I-4989; hierzu z.B. im Bezug auf den Anwendungsbereich Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 8. 60 Richtlinie 95/46/EG. 61 EuGH verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01 (ORF), Slg. 2003, I-4989, Rn. 47. Anders übrigens die Schlussanträge des Generalanwalts Tizziano vom 14. Novemer 2002, Slg. 2003, I-4994, Rn. 56. 62 D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162, 171. 63 EuGH verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01 (ORF), Slg. 2003, I-4989, Rn. 68.

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die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts über das Vehikel „grundrechtskonforme Auslegung der Richtlinie – richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts“ auch relevant für Regelungen, die nicht Umsetzungsakte darstellten. Der Fall Kücükdeveci, der unter § 4 noch ausführlicher besprochen wird, stellte einen weiteren dogmatischen Schritt bei der Ausweitung der Anwendung der EU-Grundrechte dar. Wieder ging es darum, ob eine nationale Regelung, die keinen Umsetzungsakt darstellte, an EU-Grundrechten zu messen war. Der EuGH stellte fest, dass der allgemeine Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung in einem „Fall wie dem des Ausgangsverfahrens“ nur dann gelten könnte, „wenn dieser in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt“.64 Dies bejahte er, da die nationale Regelung einen Sachverhalt betraf, den die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie regelte: „[Die] Richtlinie [hat] bewirkt, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung, die einen von der Richtlinie geregelten Bereich erfasst, nämlich die Entlassungsbedingungen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.“65 Konkret machte die unionsrechtlich geregelte Sachmaterie der Ungleichbehandlung bei Entlassungsbedingungen den Weg für die Anwendung eines allgemeinen Grundsatzes frei. Dabei handelte es sich, anders als in ORF, nicht um eine grundrechtskonforme Auslegung der Richtlinie (immerhin der dogmatische Einstieg war dort so gewählt), sondern die nationale Vorschrift wurde direkt am allgemeinen Grundsatz gemessen. Am Fall Steffensen schließlich zeigt sich, dass Grundrechte als allgemeine Grundsätze auch auf Prozessrecht und Verfahren zur Rechtsdurchsetzung anzuwenden sein können, sofern die Durchsetzung von Unionsrecht betroffen ist.66 In diesem Fall ging es um eine Lebensmittelprüfung von Landbockwürsten, bei der richtlinienwidrig keine Gelegenheit zur Einholung eines Gegengutachtens gegeben wurde. Die Vorlagefrage zielte darauf ab, ob aus Unionsrecht ein Beweisverwertungsverbot für die genommene Probe folgte. Aus der Richtlinie ergab sich dies zwar nicht.67 Nach Sicht des EuGH konnte dies aber aus EU-Grundrechte folgen. Die nationalen Beweisregeln fielen in „den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts“, da „es im vorliegenden Fall um die Beachtung des durch das Gemeinschaftsrecht garantierten Rechts auf Einholung eines Gegengutachten und die Frage geht, welche Auswirkungen eine Verletzung dieses Rechts auf die Zulässigkeit eines Beweismittels im Rahmen eines Rechtsbehelfs hat“.68 Als allgemeinen Grundsatz prüfte der EuGH daraufhin das Recht auf ein faires Verfahren. Festhalten kann man aus 64

EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 2. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 25. 66 EuGH Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3756. 67 EuGH Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3756, Rn. 62. 68 EuGH Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3756, Rn. 71. 65

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diesem Fall, dass prozessuale EU-Grundrechte selbst dann einschlägig sein können, wenn eine Richtlinie für den relevanten Sachverhalt nur materielle Regeln enthält, ohne die gerichtliche Durchsetzung irgendwie anzusprechen. In allen genannten Fällen – ORF, Kücükdeveci, Steffensen – wäre es mit Jarass im Übrigen möglich, ebenfalls von einer Durchführungskonstellation zu sprechen. Die Durchführung des Unionsrechts würde in diesem Fall durch die Gerichte erfolgen – diese wenden Unionsrecht schließlich an.69 Sind für die Lösung eines Falles unionsrechtliche Normen relevant, und sei es nur zur potenziell richtlinienkonforme Auslegung, ist die rechtliche Argumentation und Urteilsfindung eine Durchführung dieses Rechts. Dies würde in der Konsequenz allerdings dazu führen, dass der Begriff der Durchführung mit dem des Anwendungsbereichs des Unionsrechts identisch ist. Denn auch die gerichtliche Auslegung der Grundfreiheiten wäre schließlich eine Durchführung des Unionsrechts.70 Für die Grundrechte als allgemeine Grundsätze handelt es sich hierbei um eine Frage der Binnensystematik ihres Anwendungsbereichs, die eine primär dogmatische Dimension hat. Ob man einen Fall in die Gruppe der Durchführung oder jene des spezifischen Unionsrechts einordnet, betrifft die innere Ordnung des Anwendungsbereiches, nicht aber seine äußeren Grenzen. Ganz anders verhält es sich bei der Charta, wo die Weite des Begriffs der Durchführung die äußeren Grenzen des Anwendungsbereichs entscheidend beeinflusst. Hiervon handelt der nächste Abschnitt. 2. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta Den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta regelt Art. 51 GRC. Von Anfang an gab es eine Kontroverse um seine Bedeutung (dazu a)). In der Entscheidung Åkerberg Fransson hat der EuGH hierzu Stellung genommen (dazu b)), was wiederum nicht unerhebliche Kritik hervorgerufen hat (dazu c)). Entscheidungen im Anschluss daran brachten behutsame Konkretisierungen, können aber die weiter schwierige Frage des Anwendungsbereichs nur unvollständig klären (dazu d)). a) Die Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 GRC Im Konvent des Jahres 2000 war man sich der kompetenziellen und politischen Bedeutung des Anwendungsbereichs der Charta sehr bewusst. Tatsächlich war der Anwendungsbereich Gegenstand einer der umstrittensten Vorschriften überhaupt. 71 Hintergrund hierfür war einerseits die kontroverse 69

So Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 20, der für Auslegung und Anwendung des EU-Rechts von „judikativer Durchführung“ spricht. 70 Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 21 spricht von „Durchführung im weiteren Sinne“. 71 Zu den Diskussionen sowie verschiedenen Textstufen Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014)Art. 51 GRC Rn. 2 ff.

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rechtwissenschaftliche Diskussion der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen (insbesondere ERT),72 andererseits die Sorge vor einer ausgreifenden Unitarisierung durch eine kodifizierte supranationale Grundrechteordnung. 73 Denn die Erfahrungen aus anderen föderalen Gebilden hatten gezeigt, dass Grundrechtsordnungen und -gerichte der Teilstaaten durch eine einheitliche oberste Grundrechtsjudikatur erheblich an Relevanz verlieren. Dies galt für das US-amerikanische Grundrechtsgefüge ebenso wie für die deutschen Landesverfassungsgerichte, seit 1949 weit überragt vom Bundesverfassungsgericht.74 Nach der Formel, auf die man sich schlussendlich einigte, gilt die Charta zum einen „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips“, zum anderen „für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Vor dem Hintergrund der oben diskutierten Fallgruppen ist hieraus teilweise gefolgert worden, der Anwendungsbereich der Charta sei gegenüber den Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen deutlich eingeschränkt. 75 Dies könne man aus den Protokollen der Konventssitzungen auch als Intention des Konventes

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S.o. Fn. 28, 49. Dazu etwa Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385. Die Diskussionen im Konvent gingen allerdings nicht darauf ein, dass die Einschränkungskonstellation ausgeschlossen werden sollte, Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162. 74 Dazu etwa Knook, The Court, the Charter, and the Vertical Dimension of Powers in the European Union, 42 Common Market Law Review (2005), 367; Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190, 191; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 24a; Groussot et al., The Scope of Application of EU Fundamental Rights and Member States’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication, Eric Stein Working Pape 1/2011, 22 ff.; s.a. K. Lenaerts, Respect for Fundamental Rights as a Constitutional Principle of the European Union, 6 Columbia Journal of European Law (2006), 1; zum US-amerikanischen Beispiel W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika (1987), 45 ff. Auf die deutsche Erfahrung mit dem Sitz des niedersächsischen Verfassungsgerichts anspielend D. Thym, Von Karlsruhe nach Bückeburg – auf dem Weg zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft (2013) – http://www.verfassungsblog.de/von-karlsruhe-nach-buckeburg-aufdem-weg-zur-europaischen-grundrechtsgemeinschaft/#.VRV142b-Npk. 75 Z.B. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 24a; Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385, 2387. Zu allgemeinen Diskussionen des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift s. außerdem z.B. A. Rosas, When Is the EU Charter of Fundamental Rights Applicable at National Level, Jurisprudence 2012, 1269; M. Safjan, Areas of Application of the Charter of Fundamental Rights of the European Union: Fields of Conflict?, EUI Working Papers Law 2012/22; Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889. 73

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ableiten.76 „Durchführung“ meine lediglich die oben genannten Umsetzungsakte. Jedoch ist das Wortlautargument, allgemein nicht das stärkste im vielsprachigen Europarecht,77 keineswegs zwingend. Denn etwa in der spanischen Fassung heißt es statt „durchführen“ „apliquen“, entsprechend in der portugiesischen „apliquem“. 78 Darüber hinaus sind gemäß Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV die Erläuterungen bei der Auslegung auch des Art. 51 GRC gebührend zu berücksichtigen. In diesen werden „bei Durchführung“ und „im Anwendungsbereich“ scheinbar gleichmeinend verwendet – eine Parallele zum oben diskutierten Fall Caballero. So heißt es in der Erläuterung zu Artikel 51: „Was die Mitgliedstaaten betrifft, so ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen, dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. [...] Der Gerichtshof hat diese Rechtsprechung kürzlich wie folgt bestätigt: ‚Die Mitgliedstaaten müssen bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen aber auch die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung beachten.‘“ Diese Erläuterung spricht nicht bloß dagegen, „durchführen“ enger als „im Anwendungsbereich“ zu verstehen. Sie spricht auch dagegen, dem Konvent eine Intention zur Beschränkung zu entnehmen. Die Erläuterungen wurden schließlich unter Verantwortung des Präsidiums des Konventes formuliert.79 Und noch entscheidender: Stellt man nicht auf die Intention des Konventes, sondern die der Mitgliedstaaten ab, dann kann es auf den konkreten Inhalt der Diskussionen des Konventes kaum ankommen, sondern bloß darauf, welchen Text sich die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge zu eigen gemacht haben. Hierzu gehören eben entscheidend auch die Erläuterungen, gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV, Art. 52 Abs. 7 GRC. Nach diesen liegt es nahe, „durchführen“ nicht enger als „im Anwendungsbereich“ verstehen, beziehungsweise „apliquen“ nicht enger als „cuando actúan en el ámbito de aplicación“. Schlussendlich lässt sich auch, wie oben angedeutet, argumentieren, dass die Durchführung durch die „Mitgliedstaaten“, Art. 51 Abs. 1 GRC, gerade auch die Durchführung durch die mitgliedstaatlichen Gericht meint.80

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S. etwa Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190. Zur Diskussion im Konvent Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 GRC Rn. 2 ff. 77 M. Pechstein/C. Drechsler, Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis (2015), 125, 132. 78 „Las disposiciones [...] están dirigidas [...] a los Estados miembros únicamente cuando apliquen el Derecho de la Unión“. 79 S. die Einleitung der Erläuterungen. 80 So insbesondere Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 GRC Rn. 20; ähnlich Groussot et al., The Scope of Application of EU Fundamental Rights and Member

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Diese gehören ebenso zum Staatskomplex und sind nicht als Ausnahme ausgeschlossen. Sie haben allgemeine Normen auf einen konkreten Fall anzuwenden, führen diese Normen damit „durch“ (apliquen Unionsrecht). Damit gemeint ist freilich nur das sonstige Unionsrecht, also nicht die Grundrechte selbst – das wäre zirkulär. Die Durchführung betrifft selbst Richtlinien, die nicht unmittelbar anzuwenden sind – so weit die richtlinienkonforme Auslegung reicht, so weit führen Gerichte EU-Recht durch. b) Der Fall Åkerberg Fransson Der EuGH nahm sich der Frage der Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRC im Fall Åkerberg Fransson an.81 Dieser ist von solcher Bedeutung, dass er hier etwas ausführlicher geschildert werden soll. Vor die Möglichkeit gestellt, den Anwendungsbereich der Charta und damit auch seine Kompetenz weiter oder enger zu fassen, entschied sich der Gerichtshof für die weitere. Für Aufsehen sorgte nicht nur diese Auslegungsentscheidung, sondern auch der Bezug zum konkreten Fall. Dieser war so gelegen: Der schwedische Fischer Åkerberg Fransson hatte Steuern hinterzogen, und zwar unter anderem die Mehrwertsteuer. Aus diesem Grund erließ die schwedische Steuerverwaltung zunächst ein Bußgeld von etwa 1.000 Euro. Zusätzlich wurde Åkerberg Fransson strafgerichtlich verfolgt. Das Strafgericht legte dem EuGH die Frage vor, ob eine strafrechtliche Sanktion nun gegen das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 50 GRC verstieße. Problematisch war, ob eine solche Sanktion gemäß Art. 51 Abs. 1 in den Anwendungsbereich der Charta fiele. Der EuGH fasste zur Prüfung dessen zunächst seine bisherige Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte zusammen. Er brachte sie auf die neuartige und seither mehrfach zitierte Formulierung,82 dass „die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden“.83 Dies schloss er insbesondere aus der bekannten Formulierung, dass er bei einer „Vorschrift[, die] in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, [...] dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben [hat], die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können“.84 Dazu zitierte er unter anderem die Urteile ERT und Annibaldi.85 Diese „Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union“ sah er „durch die ErläuteStates’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication, Eric Stein Working Pape 1/2011. 81 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson). 82 Dazu noch unten § 3 I. 2. d). 83 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 19. 84 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 19. 85 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 19.

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rungen zu Art. 51 der Charta bestätigt“. Inwieweit der Begriff der Durchführung enger zu verstehen sein könnte als der des Anwendungsbereichs diskutierte er nicht. Der EuGH folgerte schlicht: „die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte“.86 Anschließend ging der Gerichtshof zur Prüfung der konkreten Fallgestaltung über. Er stellte fest, dass die gegen Åkerberg Fransson „festgesetzten steuerlichen Sanktionen und das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stehen“. Aus Richtlinien ergebe sich, dass „jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen [...]“. Ferner seien die Mitgliedstaaten gemäß „Art. 325 AEUV verpflichtet, zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen“. Da die Einnahmen der Union sich auch aus Vorschriften über die Mehrwertsteuer ergäben, „besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerungen Letzterer führt [...]“.87 Daher seien „steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung“ wie im vorgelegten Fall „als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen“.88 Dass die nationalen Rechtsvorschriften nicht zur Umsetzung der relevanten Richtlinien erlassen worden seien, sei irrelevant.89 In der Essenz bedeutet dies, dass dem EuGH recht karge materielle Vorschriften ausreichten, um auch ihre Durchsetzung dem Anwendungsbereich der Charta zu unterstellen. Insoweit gleicht die Konstellation dem Fall Steffensen, bei dem es ebenfalls um prozessuale Grundrechte ging, die aufgrund materieller Richtlinienvorschriften anwendbar waren. Dass das materielle Unionsrecht und das Recht auf ein faires Verfahren in ganz verschiedene Richtungen zielten, war für den EuGH augenscheinlich irrelevant.90

86

EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 21. Dazu kritisch etwa Weiß, Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, EuZW 2013, 287, 288; R. Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA 2013, 473, 476. 87 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 26. 88 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 27. 89 EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 28. 90 Insofern folgte er nicht dem Vorschlag von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (2008), 225.

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c) Kritik daran Die Entscheidung Åkerberg Fransson sorgte für erhebliches Aufsehen und wurde beispielsweise als „abenteuerlich“91 bezeichnet.92 Eine der schnellsten kritischen Stellungnahmen kam nicht aus den Universitäten, sondern gleich vom Bundesverfassungsgericht selbst. Gerade einmal zwei Monate später ging es in seiner Entscheidung zur Antiterror-Datei explizit in einem obiter dictum auf Åkerberg Fransson ein: Im Sinne eines „kooperativen Miteinanders“ zwischen den beiden Gerichten müsse dieser Entscheidung eine begrenzte Lesart unterlegt werden.93 Sie dürfe jedenfalls nicht so verstanden werden, dass „für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche“.94 Besonders pointiert gestaltete das Bundesverfassungsgericht das „kooperative Miteinander“ auch in der diesbezüglichen Pressemitteilung aus: „Der Senat geht davon aus, dass die in der EuGH-Entscheidung enthaltenen Aussagen auf Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts beruhen, aber keine grundsätzliche Auffassung äußern. Die Entscheidung über diese Frage ist im Senat einstimmig ergangen.“ 95 Welche Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts dies sein sollten, spezifizierte man nicht. Wohl sollte dies auf die Relevanz der Mehrwertsteuer für die Einnahmen der Union hindeuten, die schließlich auch im Urteil des EuGH eine Rolle gespielt hatte. Im eigentlichen Urteil fehlt dieser Hinweis des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls ganz.96 Festzuhalten bleibt auch, dass die Kritik nicht konkret auf die Frage abzielte, ob „Durchführen“ in Art. 51 GRC auf die Auslegung von Umsetzungsakten beschränkt ist oder mit „im Anwendungsbereich“ gleichgesetzt werden konnte. Eher 91 T. Kingreen, Ne bis in idem: Zum Gerichtswettbewerb um die Deutungshoheit über die Grundrechte, EuR 2013, 446, 451. 92 S. z.B. auch C. Ohler, Grundrechtliche Bindungen der Mitgliedstaaten nach Art. Artikel 51 GRCh, NVwZ 2013, 1433; Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA 2013, 473; D. Thym, Blaupausenfallen bei der Abgrenzung von Grundgesetz und Grundrechtecharta, DÖV 2014, 941; E.M. Frenzel, Die Charta der Grundrechte als Maßstab für mitgliedstaatliches Handeln zwischen Effektivierung und Hyperintegration, Der Staat 53 (2014), 1; W. Frenz, Bundesgesetzgebung nach Akerberg Fransson und Sicherheitsurteilen des BVerfG, DVBl. 2014, 227; G. Dannecker, Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 26.02.2013, JZ 2013, 616; E. Hancox, The meaning of “implementing” EU law under Article 51(1) of the Charter: Åkerberg Fransson, 50 Common Market Law Review (2013), 1411. 93 BVerfG, Urteil vom 24. April 2013, 1 BvR 1215/07, Rn. 91. 94 BVerfG, Urteil vom 24. April 2013, 1 BvR 1215/07, Rn. 91. 95 BVerfG Pressemitteilung Nr. 31/2013 vom 24. April 2013, unter 2. 96 Kritisch zu diesem Stil Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889, 890 f.

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ging es darum, welche Voraussetzungen genau erfüllt sein müssen, damit eine Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Jedenfalls sollte nach Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht jeder irgendwie bestehende Bezug ausreichen. d) Konkretisierungen Der EuGH bekam schnell wieder Gelegenheiten, auf den Einwurf des Bundesverfassungsgerichts einzugehen. Zwar tat er dies nicht ausdrücklich und ohne aufsehenerregende Pressemitteilungen. Die Urteilsgründe lassen aber darauf schließen, dass der EuGH die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis nahm und sich zwischen den Zeilen gerade auf sie bezog. Zwar änderte er nichts an seiner grundlegenden Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRC. Er machte aber deutlich, dass die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechten Grenzen kennt und präzisierte diese etwas. Gleichzeitig hielt er an der ERT-Konstellation von Entscheidungen, also der Anwendbarkeit der Grundrechte bei der Einschränkung von Grundfreiheiten, fest. Eine gewisse Konkretisierung des Anwendungsbereichs ergab die Entscheidung Siragusa. 97 Gegenstand war die Anordnung einer italienischen Behörde gegenüber Cruciano Siragusa mit dem Inhalt, unerlaubt ausgeführte Bauten rückgängig zu machen. Siragusas Grundstück lag in einem sizilianischen Landschaftsschutzgebiet, und die Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung lag im italienischen Landschaftsschutzrecht. Aufgrund des Zusammenhangs von Landschaftsschutz und Umweltschutz fragte das vorlegende Gericht, ob unionsrechtliche Umweltschutzvorschriften bewirkten, dass der Fall in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fiele. Der Gerichtshof rezitierte zunächst die im Fall Åkerberg Fransson getroffene Auslegung des Art. 51 GRC. 98 Er stellte dann einschränkend fest, dass der Begriff der Durchführung „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.“99 Dies erinnert an die Absage des Bundesverfassungsgerichts an das Genügen „rein tatsächlicher Auswirkungen“ auf einen Sachbereich. Konkretisierend führte der Gerichtshof als „Indizienbündel“ (so Thym)100 einige nicht abschließende („u.a.“) Kriterien auf, die in diesem Zusammenhang zu prüfen seien. Dazu gehöre, ob „eine nationale Regelung [...] eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt [...], welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter 97

EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa). EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 20-22. 99 EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 24. Diese nannte der EuGH bereits zuvor in der Rs. C-40/11 (Iida), Rn. 79. 100 Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53. 98

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das Unionsrecht fallende Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann“ und außerdem, „ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“.101 Welche genauen Konsequenz das Vorliegen oder Nichtvorliegen einzelner Kriterien haben soll, präzisierte der Gerichtshof nicht. Des Weiteren führte der EuGH aus, dass der Anwendungsbereich nur dann eröffnet sei, wenn „die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich [eine Verpflichtung] [...] im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen“. Die unionsrechtlichen Richtlinien zum Umweltschutz enthielten aber hinsichtlich des Landschaftsschutzes gerade keine Verpflichtungen.102 Auch dass ein Gesetz mittelbar zu einer unionsrechtlichen Politik beitrage, reiche nicht aus.103 Dies wäre freilich auch vollends uferlos geworden. Man hätte dann etwa argumentieren können, dass schlechthin jegliches Vertragsrecht mittelbar dem Ziel des Binnenmarktes diene. Insofern bringt die Aussage keine nennenswerten Einschränkung gegenüber Åkerberg Fransson, sondern höchstens eine Beruhigung besonders weitgehender Befürchtungen. Interessant ist, dass der EuGH zum Abschluss des Falles noch rechtfertigte, warum überhaupt die Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte gebunden sein sollten. Dies sei notwendig, um „zu verhindern, dass der Grundrechtsschutz, der je nach dem betreffenden nationalen Recht unterschiedlich sein kann, den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt“.104 Man kann dies als Stellungnahme im allgemeinen Diskurs und auch als Erwiderung auf kritische nationale Stimmen deuten. Im konkreten Fall erforderlich war es genauso wenig wie die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zur Antiterror-Datei. In Siragusa jedenfalls konnte der EuGH keinen „hinreichenden Zusammenhang“ dafür erkennen, dass die relevante italienische Norm „in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses durchführt“.105 Konsolidiert wurden die in Siragusa entwickelten Kriterien seitdem etwa im Fall Hernández.106 Der EuGH erteilte darin außerdem ausdrücklich der von Generalanwältin Sharpston in Ruiz Zambrano entwickelten Konstruktion107 eine Absage, nach der die bloße Zuständigkeit der Union ausreichen sollte, den Anwendungsbereich zu eröffnen.108 Auch wiederholte er die in

101 102 103 104 105 106 107

EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 25. EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 27. EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 29. EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 34. EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 35. EuGH Rs. C-198/13 (Hernández), Rn. 34, 35, 37. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston Rs. C-34/09 (Ruiz Zambrano), Rn.

170.

108

EuGH Rs. C-198/13 (Hernández), Rn. 36.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

Siragusa entwickelten Kriterien des „Indizienbündels“.109 Darüber hinaus ist noch eine weitere in der Rechtsprechung erkennbare Konsolidierung von Interesse. In einer Reihe von Fällen seit Åkerberg Fransson griff der EuGH auf die darin entwickelte Formulierung zurück, nach der „die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden“.110 Man hat folglich von dem Begriff der Fallgestaltung, also einem Sachverhalt auszugehen. Damit bewegt sich die Prüfung von der Frage weg, ob eine Norm, also eine allgemeine Regelung, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Der Prüfungsblick hat vielmehr den Weg vom Sachverhalt über sonstiges Unionsrecht hin zum EU-Grundrecht zu gehen, dessen Vorgaben dann für das einschlägige nationale Recht relevant sind. Einer der Fälle, in denen der EuGH auf die unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen abstellte, führte im Übrigen ausdrücklich die Einschränkungskonstellation auch für die Chartagrundrechte fort: die Sache Pfleger. Nachdem der EuGH schon in Åkerberg Fransson dem Art. 51 GRC keine Einschränkung des Anwendungsbereichs gegenüber seiner früheren Rechtsprechung entnommen hatte, war dies keine Überraschung. Er wiederholte die dort getroffenen wesentlichen Aussagen zu Art. 51 GRC und stellte dann schlicht fest: „Wie der EuGH hierzu bereits entschieden hat, ist, wenn ein Mitgliedstaat sich auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, diese im Unionsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der nunmehr durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen.“ 111 Festzuhalten bleibt daher, dass der EuGH bei der Anwendbarkeit der Grundrechte als allgemeine Grundsätze und der Charta keinen Unterschied macht. Er bezieht sich bei der Auslegung des Art. 51 GRC auf seine ständige Rechtsprechung zu den Grundsätzen, und versteht die Anwendbarkeit bei Durchführung des Unionsrechts und im Anwendungsbereich des Unionsrechts gleich. Sowohl die Grundsätze wie auch die Charta sind auf Umsetzungsakte sowie auf Rechtsakte anwendbar, die Grundfreiheiten einschränken. Darüber hinaus gelten beide für Fallgestaltungen, die spezifisch durch Unionsrecht geregelt sind. Hierfür reicht jedenfalls nicht, dass Regelbereiche benachbart sind oder mittelbare Auswirkungen aufeinander haben. Die entscheidende, und weiter schwierig zu beantwortende Frage bleibt: Wie sehr muss ein Sachverhalt oder ein Element eines Sachverhaltes von Unionsrecht 109

EuGH Rs. C-198/13 (Hernández), Rn. 37. Z.B. EuGH Rs. C-390/12 (Pfleger), Rn. 33; EuGH Rs. C-483/12 (Pelckmans), Rn. 18; EuGH Rs. C-258/13 (Sociedade Agrícola e Imobiliária), Rn. 19; EuGH Rs. C-265/13 (Torralbo Marcos), Rn. 1. 111 EuGH Rs. C-390/12 (Pfleger), Rn. 35. 110

I. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte

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durchtränkt sein, damit der Anwendungsbereich eröffnet ist? Auch der folgende Abschnitt, der den Anwendungsbereich für das Vertragsrecht konkretisiert, kann hier keine Klärung, sondern bestenfalls eine Annäherung bieten. 3. Anwendungsbereich der EU-Grundrechte im Vertragsrecht Die allgemeinen Bedingungen für die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte gelten auch im Vertragsrecht. Nach der Formel des EuGH finden die Grundrechte also „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“ Anwendung. Für vertragsrechtliche Fallgestaltungen lässt sich dies noch etwas konkretisieren. Zunächst ist ein vertragliches Verhältnis nicht schon dann zur Gänze den EU-Grundrechten unterstellt, wenn es in irgendeinem Detail einer unionsrechtlichen Regelung unterliegt. Diese Feststellung hat erhebliche Implikationen. Andernfalls wären in so gut wie allen verbraucherrechtlichen und arbeitsrechtlichen Beziehungen EU-Grundrechte anwendbar. Schließlich ließe sich angesichts des Umfangs europäischen Sekundärrechts in solchen Verhältnissen in aller Regel irgendeine Facette finden, die von Unionsrecht betroffen ist,112 selbst wenn zahlreiche Aspekte von nationalem Recht geregelt werden sollten. Anschaulich zeigt diese begrenzte Anwendbarkeit etwa der Fall FOA.113 Darin entschied der EuGH, dass eine Kündigung eines Arbeitsverhältnisses wegen Fettleibigkeit nicht anhand der Grundrechtecharta beurteilt werden könne. Dass das konkrete Arbeitsverhältnis in irgendeiner Weise von Unionsrecht geregelt wurde, stand außer Frage. Schließlich galten beispielsweise die Diskriminierungsverbote der Richtlinie 2000/78/EG. Diese Diskriminierungsverbote betrafen aber nach Ansicht des EuGH gerade nicht Fettleibigkeit. Da der konkrete Fall aber von Fettleibigkeit und nicht etwa von Religion oder sexueller Ausrichtung handelte, fand die Richtlinie laut EuGH in der konkreten Fallgestaltung keine Anwendung. Da die Richtlinie für die konkrete Fallgestaltung keine Vorgaben enthielt, konnten auch die Grundrechte nicht greifen. Aus dem Fall FOA kann man noch weitere Schlüsse ziehen. Es reicht nämlich auch nicht aus, dass thematisch benachbarte oder ähnliche vertragliche Fallgestaltungen unionsrechtlich geregelt sind. 114 Schließlich betrifft die Richtlinie durchaus die Beendigung von Arbeitsverhältnissen – Art. 3 Abs. 1 c) Richtlinie 2000/78/EG – und verbietet unter anderem die Diskriminierung wegen Behinderungen. Dass die Merkmale Adipositas und Behinderungen als

112

vgl. für Verbraucherverträge etwa die allgemeinen Informationspflichten aus Art. 5 der Richtlinie 2011/83/EU. 113 EuGH Rs. C-354/13 (FOA). 114 In diesem Sinne ja auch schon EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 24; seitdem wiederholt z.B. in EuGH Rs. C-198/13 (Hernández), Rn. 34.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

jeweils körperliche Einschränkungen gewisse Ähnlichkeiten besitzen115 und dass es gerade um die Kündigung wegen solcher körperlichen Einschränkungen ging, reichte nicht aus, den Anwendungsbereich der Grundrechte zu eröffnen. Ein weiterer Fall, der die eingeschränkte Anwendbarkeit und Notwendigkeit einer spezifischen Regelung illustriert, ist Nisttahuz Poclava.116 Darin entschied der EuGH, dass die Vereinbarung einer Probezeit im Arbeitsverhältnis keinen befristeten Vertrag im Sinne der Richtlinie 1999/70/EG darstellt. Mangels Anwendbarkeit der Richtlinie konnten daher auch EUGrundrechte keine Anwendung finden – eine thematische Verbundenheit oder Nähe der Rechtsfragen reichte nicht aus. Erforderlich ist also, dass spezifische Teilaspekte einer vertraglichen Beziehung durch Unionsrecht geregelt sind, damit die EU-Grundrechte für diesen Teilaspekt zur Anwendung kommen können. In anderen Worten muss für eine konkrete Faser im vertraglichen Beziehungsstrang Unionsrecht einschlägig sein. Die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte kann daher immer nur im konkreten Einzelfall beurteilt werden. Das praktisch bedeutendste Einfallstor für EU-Grundrechte sind die oben unter § 1 III. dargestellten Richtlinien. Sie sorgen dafür, dass zahlreiche Fallgestaltungen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts gelangen. Je nachdem, wie eng oder weit ihr Anwendungsbereich ist, schaffen sie dabei ein unterschiedlich wirkungsvolles Sprungbrett für die EU-Grundrechte. Gerade die einführenden Normen in jeder Richtlinie, die sich regelmäßig deren Anwendungsbereich widmen, sind insofern relevant. Innerhalb der darauf folgenden Vorschriften eröffnen Generalklauseln bedeutende Wirkungsmöglichkeiten, während sehr konkrete Einzelregelungen die Anwendbarkeit der Grundrechte abschneiden können. Etwa die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie ist ein wichtiges Einfallstor, betrifft sie doch im Grundsatz jegliche AGB-Klauseln in Verbraucherverträgen, die nicht die Hauptleistungspflichten betreffen.117 Möglichkeiten für die Grundrechtswirkung bestehen auf Grundlage der Richtlinien vor allem im Verbraucherrecht, Antidiskriminierungsrecht und Arbeitsrecht, aber auch etwa die Handelsvertreterrichtlinie und die Datenschutzrichtlinie eröffnen Anwendungspotenziale. Dies heißt, um dies noch einmal klarzustellen, nicht, dass etwa „das Arbeitsrecht“ als solches in den Anwendungsbereich der EUGrundrechte fällt, sondern nur Fälle, die beispielsweise unionsrechtlich geregelte Fragen wie Arbeitszeit, Jahresurlaub, Mutterschutz oder Betriebsübernahme betreffen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden an zahlreichen Stellen praktische Beispiele erläutert und insbesondere in § 8 wichtige 115

Der EuGH diskutierte schließlich, ob Fettleibigkeit als Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG einzustufen ist und verneinte dies im Grundsatz: EuGH Rs. C354/13 (FOA), Rn. 50 ff. 116 EuGH Rs. C-117/14 (Nisttahuz Poclava). 117 Zur Ausnahme von Hauptgegenstand des Vertrages und der Angemessenheit des Preises Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie.

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Anwendungsfelder in Teilgebieten des Vertragsrechts überblicksartig aufgeführt. Neben den Richtlinien besitzen als Zweites die Grundfreiheiten eine erhebliche Bedeutung für die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte. Dies ergibt sich auf zwei unterschiedlichen Wegen: 118 Zum einen können gesetzliche Vorschriften des Vertragsrechts einen Eingriff in Grundfreiheiten darstellen.119 Dies kann insbesondere bei zwingenden Vorschriften der Fall sein, wobei jedoch jedenfalls Verkaufsmodalitäten ausgenommen sind.120 Gemäß der ERT-Rechtsprechung sind diese dann auch an den Grundrechten zu messen. Daneben kann dem EuGH zufolge auch das Verhalten Privater anhand der Grundfreiheiten zu beurteilen sein.121 Auch hier wäre es nach der Logik des EuGH schlüssig, bei der Rechtfertigung auf Grundrechtspositionen einzugehen. So wäre etwa im Fall Bosman nach heutigen Maßstäben nicht nur Bosmans Grundfreiheit, sondern auch seine Berufsfreiheit aus Art. 15 GRC betroffen. Wenn die Grundfreiheiten damit potenziell weitreichende Möglichkeiten für die Anwendbarkeit von EU-Grundrechten eröffnen, so heißt dies allerdings nicht, dass schon jeder Vertrag mit grenzübergreifendem Bezug in deren Anwendungsbereich fiele. 122 Erst die Einschränkung einer Grundfreiheit – sei es durch staatliches oder privates Handeln – erfordert die Rechtfertigung, bei der dann die Grundrechte zu berücksichtigen sind. Die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Vertragsrecht ist also entscheidend beschränkt. Die europäische Konstitutionalisierung des Vertragsrechts setzt seine Europäisierung voraus. Angesichts des heute und auf absehbare Zeit bruchstückhaften europäischen Vertragsrechts, braucht niemand 118 Zur Unterscheidung der Prüfung privatrechtlicher Normen und privaten Verhaltens G. Bachmann, Nationales Privatrecht im Spannungsfeld der Grundfreiheiten, AcP 210 (2010), 424, 437. 119 Geprüft, aber verneint wurde dies namentlich in EuGH Rs. C-93/92 (CMC Motorradcenter), Slg. 1993, I-5009; EuGH Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107; ausführlich zu diesem Themenbereich Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 270 ff.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 582 ff., s. etwa 614 ff. zu CMC Motorradcenter; Mülbert, Privatrecht, die EG-Freiheiten und der Binnenmarkt – Zwingendes Privatrecht als Grundfreiheitsbeschränkung im EG-Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), 2. 120 S.o. § 3 I. 1. b). 121 S. u.a. EuGH Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921; EuGH Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139; EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806; EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845. In Viking stellte der EuGH in Zusammenfassung seiner eigenen Rechtsprechung im Übrigen fest, dass die Bindung Privater an die Grundfreiheiten nicht auf „quasiöffentliche Einrichtungen oder auf Vereinigungen beschränkt wäre, die eine Regelungsfunktion wahrnehmen und über quasilegislative Befugnisse verfügen“ (Rn. 64). 122 Ebenso D. Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European Law Review (2013), 479, 484.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

Angst vor der „totalen Verfassung“ europäischer Ausprägung zu haben.123 So wie in Zukunft allerdings möglicherweise stückweise der Anteil des Europäischen im Vertragsrecht zunimmt, wird gleichzeitig der Einfluss der EUGrundrechte steigen.124

II. Verhältnis zu nationalen Grundrechten II. Verhältnis zu nationalen Grundrechten

Das Verhältnis zwischen nationalen und supranationalen Grundrechten ist zu einer Kernfrage des europäischen Mehrebenensystems geworden. 125 Trotz des universalen Anspruchs, der für Grund- und Menschenrechte häufig erhoben wird, gibt es mannigfaltige partikulare Ausgestaltungen von Grundrechtsschutz in den verschiedenen Rechtsordnungen Europas. Es ist daher unmöglich, dass eine supranationale Grundrechtsordnung mit allen nationalen gleichzeitig übereinstimmt. Auch wenn Art. 52 Abs. 4 GRC vorgibt, dass Chartagrundrechte, welche auf mitgliedstaatlichen Grundrechten basieren, im Einklang mit diesen auszulegen sind, kann dies logisch nicht zu einer Deckungsgleichheit aller Grundrechtsordnungen gleichzeitig führen.126 Nimmt man, wie etwa Weiler, an, dass die Unterschiede grundlegende gesellschaftliche Entscheidungen und Identitäten von Gesellschaften widerspiegeln, 127 dann steht mit der Abgrenzung zwischen nationalen und supranationalen Grundrechten viel auf dem Spiel. Wie weit könnte etwa ein auf das Grundgesetz bezogener Verfassungspatriotismus überhaupt noch reichen, was sind die Implikationen für einen möglichen europäischen Verfassungspatriotismus?128 123 Zu diesem Begriff M. Kumm, Who is Afraid of the Total Constitution?, German Law Journal 2006, 341. 124 Griffig Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013), 177: „Die Grundrechte-Charta wächst in ihrer Bedeutung [...] mit dem Unionsrecht mit.“ 125 S. aus jüngerer Zeit T. Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801; F. Kirchhof, Kooperation zwischen nationalen und europäischen Gerichten, EuR 2014, 267; F. Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem?, NVwZ 2014, 169; Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53; Masing, Einheit und Vielfalt des europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477; J.F. Lindner, Grundrechtsschutz in Europa – System einer Kollisionsdogmatik, EuR 2007, 160. 126 S. auch Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: Matz-Lück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 57. 127 Weiler, Fundamental rights and fundamental boundaries, in: ders., The constitution of Europe (1999), 102 ff.; s. auch z.B. H. Schäffer, Die Grundrechte im Spannungsverhältnis von nationaler und europäischer Perspektive, ZÖR 2007, 1, 2; Masing, Einheit und Vielfalt des europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477, 486 f. 128 Zu diesem Begriff D. Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: D. Sternberger (Hg.), Schriften. Band X (1990), 3 (zuerst veröffentlich in der FAZ vom 23.5.1979, S. 1);

II. Verhältnis zu nationalen Grundrechten

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Was spezifisch die jeweiligen Auswirkungen verschiedener Grundrechtsordnungen auf das Vertragsrecht angeht, geht es immerhin um Grundraster der Vorgaben für Austausch und der Kooperation zwischen Privatpersonen und mithin um einen Teil der Wirtschaftsverfassung. Vor dem Hintergrund solch großer Fragen ist das Verhältnis zwischen nationalen und Unionsgrundrechten im Konkreten ein Problem der Abgrenzung und der Kollision von Normen und mithin eine Rechtsfrage, die dogmatische Lösungen verlangt, welche auch im Alltag handhabbar sind. Auf Grundlage neuerer Systematisierungen aus juristischer Literatur sollen solche im Folgenden vorgestellt werden. Es zeigt sich, dass EU-Grundrechte und nationale Grundrechte zu einem guten Teil für verschiedene Normen und Sachverhalte gelten – insofern besteht ein Trennungs- oder Alternativitätsverhältnis (1.). Dazwischen kommt es aber zu Überschneidungen, bei denen unterschiedliche grundrechtliche Vorgaben gleichzeitig einschlägig sind (2.). Die positive Landschaft der partikularen Ausgestaltung universaler Ideen hat in dieser Hinsicht bildlich gesprochen drei Klimazonen: eine supranationale, eine nationale und eine hybride. 1. Alternativität zwischen nationalen und EU-Grundrechten Der Geltungsbereich nationaler und der EU-Grundrechte ist zumindest zu einem erheblichen Teil getrennt, sodass es gar nicht zu Kollisionen kommen kann. Eine viel diskutierte Frage ist, ob das „zumindest zu einem erheblichen Teil“ aus diesem Satz zu streichen ist. Die Trennungs- oder Alternativitätsthese besagt, dass dem so sei – es gälten entweder nur supranationale oder nur mitgliedstaatliche Grundrechte.129 Sie kann für sich in Anspruch nehmen, das erkennbare Modell der ersten Jahre der Grundrechtsrechtsprechung durch den EuGH darzustellen,130 und wird nicht nur vereinzelt vertreten.131 auch mit Bezug zur europäischen Integration J. Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 632 ff., insbes. 642 ff.: „Ein europäischer Verfassungspatriotismus muss, anders als der amerikanische, aus verschiedenen nationalgeschichtlich imprägnierten Deutungen derselben universalistischen Rechtsprinzipien zusammenwachsen.“ (651) Zu den Möglichkeiten eines solchen Verfassungspatriotismus auch M. Kumm, The Idea of Thick Constitutional Patriotism and Its Implications for the Role and Structure of European Legal History, German Law Journal 2005, 319; J.-W. Müller, A “Thick” Constitutional Patriotism for the EU? On Morality, Memory and Militancy, in: E.O. Eriksen et al. (Hg.), Law, democracy and solidarity in a post-national union: the unsettled political order of Europe (2008), 193. 129 Zu diesen Begriffen Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889, 992 (Trennung); Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801, 802 (Alternativität). 130 Thym, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53, 54 f.; Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801, 802.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

Eine weithin bestehende Alternativität ergibt sich jedenfalls daraus, dass EU-Grundrechte bei Handlungen der Mitgliedstaaten nur begrenzt anwendbar sind, und nationale Grundrechte nach inzwischen anerkannter Ansicht jedenfalls auf Akte der EU grundsätzlich keine Anwendung finden.132 Zwar halten sich einzelne nationale Verfassungsgerichte für Ausnahmefälle letzte Vorbehalte vor.133 So will das Bundesverfassungsgericht ultra vires-Akte prüfen können und knüpfte seine Enthaltsamkeit bei der Prüfung von Unionsrecht daran, dass ein „wirksame[r] Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleiste[t]“ sei.134 Gerade die Charta hat diesen aber auf absehbare Zeit sichergestellt.135 Abgesehen von der ohnehin verfassungsrechtlich höchst problematischen Frage von ultra vires-Akten finden nationale Grundrechte also keine Anwendung auf EU-Recht. Dies bedeutet für das Vertragsrecht konkret, dass eine Kontrolle seiner supranationalen Bestandteile anhand nationaler Grundrechte nicht möglich ist, und nationale Grundrechte auch die Auslegung des Unionsrechts nicht beeinflussen können. Insofern sind lediglich EU-Grundrechte anwendbar. Regulatorische Eingriffe, etwa durch Richtlinien auf dem Gebiet des Verbraucherrechts, können damit schon im Ansatz nicht gegen die in Deutschland oder anderen Staaten grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit verstoßen. 136 Besonders weitgehend sind im Übrigen die Verdrängungswirkungen des europäischen Antidiskriminierungsrechts, was zu einer deutlich eingeschränkten Relevanz 131

Z.B. S. Augsberg, Von der Solange- zur Soweit-Rechtsprechung – Zum Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts bei richtlinienumsetzenden Gesetzen, DÖV 2010, 153; C. Calliess, Europäische Gesetzgebung und nationale Grundrechte – Divergenzen in der aktuellen Rechtsprechung von EuGH und BVerfG?, JZ 2009, 113, jeweils mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Masing, Einheit und Vielfalt des europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477. 132 Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 53 Rn. 14a; H.D. Jarass, Zum Verhältnis von Grundrechtecharta und sonstigem Recht, EuR 2013, 29, 37 133 Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 53 Rn. 14a; zum BVerfG z.B. Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: Matz-Lück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 18 ff., der selbst die Position vertritt, dass deutsche Grundrechte nie für Akte der Union gälten. 134 BVerfGE 73, 339, 386 (Solange II). 135 Vom Bundesverfassungsgericht als einem „Reservisten ohne ernsthafte Aussicht auf Spieleintritt“ auf diesem Feld sprach schon U. Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, in: M.-E. Geis/D. Lorenz (Hg.), Festschrift für Hartmut Maurer (2001), 1005, 1013; heute umso mehr ebenso Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 513, 531. 136 Wenn z.B. C. Wendehorst, Ist das neue Verbraucherrecht noch zu retten?, GPR 2015, 55, die Konformität der Verbraucherrechterichtlinie mit „Grundrechten auf europäischer wie auf nationaler Ebene“ (65) bezweifelt, ist einzuwenden, dass überhaupt nur die europäische, nicht die nationale Grundrechtsebene einschlägig ist.

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nationaler Gleichheitsgrundrechte im Vertragsrecht führt. Darüber hinaus können auch mitgliedstaatliche Gesetze, welche Richtlinienvorgaben eins zu eins umsetzen, in Folge dieser Logik – und auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts –nicht mehr an nationalen Grundrechten gemessen werden. 137 Nationale Grundrechte sind dagegen in all jenen Fallgestaltungen allein anwendbar, in die Unionsrecht in keiner Weise hineinspielt – die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte scheitert dann am Anwendungsbereich des Unionsrechts. Für mindestens all solche Fälle bleibt dann auch die nationale Diskussion um die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht relevant. Auch wenn Abgrenzungen immer nur im Einzelfall gemacht werden können, ist beispielsweise das Mietvertragsrecht bisher weitgehend von europäischen Vorgaben unbeeinflusst geblieben.138 Auch bei den grundlegenden Bundesverfassungsgerichts-Fällen zu Grundrechten im Privatrecht Lüth und Blinkfüer wäre beispielsweise keine europarechtliche Regelung ersichtlich, die nationale Grundrechte ausschlösse.139 Man kann erwägen, eine saubere Trennung zwischen nationalen und EUGrundrechten aus der Stoßrichtung der Entstehung des unionalen Grundrechtsschutzes herzuleiten. Denn schließlich, wie bereits mehrfach angesprochen, ging es darum, eine Schutzlücke zu schließen. Daraus ließe sich folgern, dass lediglich zwingende Vorgaben des Unionsrechts an Unionsgrundrechten zu messen seien. Jenseits der Schutzlücke, jenseits des zwingenden Unionsrechts, begänne dann abrupt das Reich nationaler Grundrechte und ihrer Verfassungsgerichte. 140 Insbesondere dem Bundesverfassungsgericht wird zugeschrieben, diese Auffassung zu vertreten: 141 Umsetzungen von Richtlinien, die über die supranationalen Vorgaben hinausgehen, misst es an nationalen Grundrechten, während es zwingende Vorgaben nicht prüft. 142 Vom EuGH erwartet es, seinem obiter dictum im Urteil zur Antiterrordatei zufolge, ebenfalls Zurückhaltung und eine klare Grenzziehung. Auch führte es darin aus: „Die angegriffenen Vorschriften sind schon deshalb an den Vorschriften des Grundgesetzes zu messen, weil sie nicht durch Unionsrecht determiniert sind [...]. Demzufolge liegt auch kein Fall der Durchführung des 137

Z.B. BVerfGE 118, 79, 95; 121, 1, 15. Vgl. aber unten § 8 I. 1. zu Auswirkungen der Grundrechte über die Klauselrichtlinie auch auf Mietverträge. 139 BVerfGE 7, 198; 25, 256. 140 In diese Richtung z.B. Augsberg, Von der Solange- zur Soweit-Rechtsprechung – Zum Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts bei richtlinienumsetzenden Gesetzen, DÖV 2010, 153; Calliess, Europäische Gesetzgebung und nationale Grundrechte – Divergenzen in der aktuellen Rechtsprechung von EuGH und BVerfG?, JZ 2009, 113. 141 Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889, 894; Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801, 803. 142 Z.B. BVerfGE 118, 79, 95; 121, 1, 15. 138

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Rechts der Europäischen Union vor, die allein die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta nach sich ziehen könne (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EuGRCh).“ 143 Das Bundesverfassungsgericht scheint also Art. 51 Abs. 1 GRC einen eher engen Anwendungsbereich zu entnehmen, der verlangt, dass Vorschriften durch Unionsrecht vorgegeben sind. Die These einer Trennung zwischen beiden Grundrechtssphären erfordert allerdings die Folgebereitschaft zweier Seiten – also ihre Annahme und Verfolgung im nationalen wie im unionalen Recht. 144 Nach der oben geschilderten Rechtsprechung des EuGH145 lässt sich aber wohl nicht sagen, dass dieser lediglich bei derart durch Unionsrecht determinierten Vorgaben die EU-Grundrechte anzuwenden gedenke. Er geht somit über die seitens des Bundesverfassungsgerichts behauptete Trennlinie hinaus. EU-Grundrechte haben sich unter seiner Führung über eine Schutzlückenrationalität hinaus entwickelt und zeigen eine Vereinheitlichungsrationalität.146 In Melloni hat der EuGH inzwischen explizit festgestellt, dass nationale und supranationale Grundrechte parallel angewendet werden können.147 Die Alternativitätsthese ist daher nach aktueller Europarechtslage nicht zu halten.148 Auch wenn es zahlreiche Fälle gibt, in denen, wie erörtert, nur eine Grundrechtsschicht zum Tragen kommt, gibt es eine nicht unerhebliche Zahl von Überschneidungen. 2. Überschneidung zwischen nationalen und EU-Grundrechten Die Gründe für Überschneidungen sind schon in den vorausgehenden Abschnitten angelegt. Sie werden nachfolgend noch einmal kurz verdeutlicht (dazu a)). Der Zustand wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis unionale und nationale Grundrechte bei gleichzeitiger Anwendbarkeit stehen (dazu b)). a) Gründe für Überschneidungen Die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte auf mitgliedstaatliche Handlungen auch über die Umsetzung zwingender Vorgaben des Unionsrechts hinaus ist nicht erst seit Åkerberg Fransson gegeben.149 Sie ist schon in der oben erör143

BVerfG NJW 2013, 1499, 1500. Ähnlich Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801. 145 S. § 3 I. 1. b), c); § 3 I 2. b), d). 146 Kritisch dazu etwa die deutschen Verfassungsrichter Masing, Einheit und Vielfalt des europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477, 480 ff.; Kirchhof, Kooperation zwischen nationalen und europäischen Gerichten, EuR 2014, 267. 147 EuGH Rs. C-399/11 (Melloni). 148 Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801, 806: „Zug für die Alternativitätsthese vermutlich abgefahren“. 149 Dazu in diesem Kontext auch Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801, 804 ff. 144

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terten ERT-Konstellation angelegt und konnte auch Entscheidungen wie ORF und Steffensen entnommen werden. Werden etwa nationale Vorschriften, welche Grundfreiheiten beschränken, an Unionsgrundrechten gemessen, dann fehlt es eben an einer konkret umgesetzten supranationalen Vorschrift. Es wäre allerdings ein verkürzte Sichtweise, die Überschneidungen zwischen verschiedenen Grundrechtsschichten ausschließlich auf die Reichweite der EU-Grundrechte zu schieben. Auch in dieser Hinsicht gehören zwei dazu. Schließlich wäre es (mindestens theoretisch) denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht oder andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte nationale Grundrechte bei Einschlägigkeit der EU-Grundrechte grundsätzlich nicht anwenden. Erst indem etwa das Bundesverfassungsgericht bei Umsetzungsspielräumen in Richtlinien die Grundrechte des Grundgesetzes für anwendbar hält, kommt es zu Überschneidungen der Grundrechtsordnungen. Die Folge ist, dass bei einer wachsenden Zahl von Vorschriften und Fallgestaltungen sowohl supranationale als auch nationale Grundrechte prinzipiell anwendbar sind. Möglich ist dies, um das noch einmal zu betonen, ausschließlich bei Akten der Mitgliedstaaten. Betroffen sind insbesondere auch das Vertragsrecht, also nationale vertragsrechtliche Vorschriften sowie deren Anwendung durch die Gerichte. Beispielsweise könnte man bei einer Konstellation wie der Handelsvertreterentscheidung des Bundesverfassungsgerichts argumentieren, dass die Handelsvertreterrichtlinie den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit den der EU-Grundrechte neben denen des GG eröffnen würde.150 Auch bei Datenschutz in Versicherungsverträgen – worüber das Bundesverfassungsgericht ebenfalls entschied –151 scheint aufgrund der Datenschutzrichtlinie die Anwendung der EU-Grundrechte möglich.152 Es schlagen in solchen Fällen zwei grundrechtliche Herzen in der Brust der Rechtsordnung, und es fragt sich, welches den Takt vorgibt. b) Verhältnis bei Überschneidungen Eine Regelung zum Verhältnis von EU-Grundrechten und nationalen Grundrechten enthält Art. 53 GRC. Danach soll keine Bestimmung der Charta als Einschränkung nationaler Grundrechte ausgelegt werden. Was genau aus dieser Vorschrift folgt, ist sehr unterschiedlich beurteilt worden. Teilweise hat man erwogen, dass sie eine Einschränkung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts bewirke. Nationale Grundrechte, die mehr Schutz gewähren als 150

BVerfGE 81, 242. BVerfG, Beschluss vom 23.10.2006 – 1 BvR 2027/02, veröffentlicht z.B. in MMR 2007, 93; VersR 2006, 1669; VuR 2007, 190. 152 S.a. J. Masing, Abschied von den Grundrechten, Sueddeutsche Zeitung vom 9.1.2012, S. 10, der – als Richter des Bundesverfassungsgerichts – die Anwendung von EU-Grundrechten zulasten der Relevanz des deutschen Grundgesetzes gerade in diesem Bereich sehr kritisch sieht. 151

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supranationale, könnten nach dieser Sicht nunmehr etwa Richtlinien vorgehen, die nach nationaler Sicht Grundrechte verletzen.153 Anders sieht dies allerdings der EuGH sowie die dominierende Ansicht im Schrifttum,154 für die auch die besseren Argumente sprechen. Es war nie Zielsetzung der Charta, an tragenden Grundsätzen der Unionsrechtsordnung etwas zu ändern, und Art. 53 GRC lässt sich hierfür auch nichts entnehmen.155 Diese Norm bezieht sich lediglich auf das Verhältnis unterschiedlicher Grundrechtsschichten zueinander, nicht auf die allgemeine Wirkung des Unionsrechts. Art. 53 GRC ist vielmehr als weiterer Beleg dafür zu verstehen, dass es zu Überschneidungen zwischen EU-Grundrechten und mitgliedstaatlichen Grundrechten überhaupt kommen kann. Die Vorschrift setzt dies voraus, und besagt, dass in solchen Fällen nationale Grundrechte weitergehenden Schutz gewähren können. Die Vorschrift schreibt die Koexistenz von Grundrechten fest, regelt aber nicht ausdrücklich die Kollision.156 In manchen Fällen führt dies dazu, dass die betroffenen Grundrechtsberechtigten vom jeweils höheren Schutzstandard profitieren können. Eine nationale Maßnahme, auf die nationale Grundrechte anwendbar wären, wäre dann an zwei Maßstäben zu prüfen, und schon die Verletzung eines Grundrechts einer Schicht würde zu ihrer Rechtswidrigkeit führen. Jedoch ist das Verhältnis zwischen nationalen und supranationalen Grundrechten in anderen Fällen komplexer, wie insbesondere aus der bereits erwähnten Entscheidung Melloni folgt. In Melloni urteilte der EuGH, dass nach Art. 53 GRC nationale Grundrechte neben Unionsgrundrechten bei nationalen Akten anwendbar sein können, aber nur unter der Voraussetzung, dass „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.157 Hiermit konturierte der Gerichtshof gewissermaßen die Voraussetzungen einer Kollisionsregel: Sofern das Schutzniveau, der Vorrang, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden, können beide Grundrechte 153 Dazu etwa J.B. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, 38 Common Market Law Review (2001), 1171; M. Seidel, Pro futuro: Kraft Gemeinschaftsrechts Vorrang des höheren einzelstaatlichen Grundrechtsschutzes?, EuZW 2003, 97. 154 Z.B. Lindner, Grundrechtsschutz in Europa – System einer Kollisionsdogmatik, EuR 2007, 160, 168 f.; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 53 Rn. 7 ff.; Jarass, Zum Verhältnis von Grundrechtecharta und sonstigem Recht, EuR 2013, 29, 38. 155 Lindner, Grundrechtsschutz in Europa – System einer Kollisionsdogmatik, EuR 2007, 160, 168 f. 156 Zu diesen Begriffen Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: Matz-Lück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 5 f. 157 EuGH Rs. C-399/11 (Melloni), Rn. 60; aufgegriffen z.B. in EuGH Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) Rn. 29.

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nebeneinander koexistieren. Ist dem nicht so, tritt eine Kollision auf, müssen nationale Grundrechte zurücktreten. Umfasst ist bei näherer Betrachtung nicht nur eine Kollision zwischen nationalen und EU-Grundrechten, sondern auch zwischen nationalen Grundrechten und sonstigem Unionsrecht. Denn die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts kann insbesondere auch dann gefährdet sein, wenn nationale Grundrechte europäischem Sekundärrecht widersprechen. Damit lehnt der EuGH also auch die Sichtweise ab, Art. 53 GRC durchbreche den Vorrang des Unionsrechts. Für nationale Grundrechte bleibt daher im Vertragsrecht nur insoweit Platz, wie sie die Einheit und Wirksamkeit des jeweilig geltenden Unionsrechts, also insbesondere einschlägiger Richtlinien, nicht gefährden. Dies ist der Grund dafür, dass bisweilen von einer „Dekonstitutionalisierung“ durch europäisches Privatrecht gesprochen wird.158 Haltbar wäre diese Begrifflichkeit freilich nur dann, wenn der Einfluss konstitutioneller Normen insgesamt auf das Privatrecht zurückginge. Treten aber EU-Grundrechte in die nationale konstitutionelle Lücke, erscheint es höchstens passend, von Rekonstitutionalisierung zu sprechen.159 Von Interesse ist hier vor allem das Verhältnis der verschiedenen Grundrechtsordnungen zueinander (und nicht von nationalen Grundrechten zu sonstigem Unionsrecht). Nach dem EuGH dürfen nationale Grundrechte das Schutzniveau der Charta nicht gefährden. Gerade im Vertragsrecht kann dies eine bedeutsame Einschränkung für die Wirkung nationaler Grundrechte beinhalten. Denn hier trifft der Mitgliedstaat einen Ausgleich zwischen den Interessen zweier Grundrechtsträger, und der Schutz des Grundrechts des einen kann einen Eingriff in das Grundrecht des anderen mit sich bringen. In deutscher verfassungsrechtlicher Literatur spricht man in solchen Fällen von mehrpoligen oder multipolaren Rechtsverhältnissen.160 Es geht in derartigen Fällen nicht bloß um die Optimierung des Grundrechtsschutzes eines einzelnen – insofern könnte weitergehender Schutz das Niveau der Charta nicht gefährden, sondern höchsten übertreffen. Vielmehr kann ein höherer nationaler Schutz des einen den von der Charta garantierten Schutz des anderen beeinträchtigen. So wie die Charta – in ihrer Auslegung durch den EuGH – also Grenzen vorgibt, können nationale Grundrechte nur innerhalb dieser operieren. An dieser Stelle soll noch nicht auf die spätere Diskussion darüber vorgegriffen werden, inwieweit EU-Grundrechte überhaupt auf das Vertragsrecht und in vertragsrechtlichen Fällen wirken und somit den Wirkungsbe158

O. Remien, Europäisches Privatrecht als Verfassungsfrage, EuR 2005, 699, 719. Von einer „Neujustierung“ spricht Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA 2013, 473; in einem anderen Kontext taucht der Begriff der Rekonstitutionalisierung auf bei J. Köndgen, Privatisierung des Rechts. Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, AcP 2006 (2006), 477. 160 Z.B. W. Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kontrollfragen beim nationalen und europäischen Schutz von Freiheitsrechten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, EuGRZ 2006, 492. 159

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

reich nationaler Grundrechte beschränken. Einige allgemeine Bemerkungen sind allerdings möglich: Beschränkungen der Wirkung nationaler Grundrechte im Vertragsrecht können primär aus drei Gründen auftreten. Zum einen mag es vorkommen, dass auf Unionsebene ein Grundrecht besteht, das es in einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung nicht gibt. Möglich ist dies insbesondere bei den Vorschriften des Solidaritäts-Titel der Charta, der etwa über den Text des deutschen Grundgesetzes deutlich hinausgeht. Ein Schutz solcher EU-exklusiven Rechte – etwa des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung gemäß Art. 27 GRC – kann dazu führen, dass widerstreitende nationale Rechte des anderen Vertragspartners – etwa Vertrags-, Unternehmer- oder Berufsfreiheit – nicht durchschlagend berücksichtigt werden können. Insofern können Unionsrechtssätze die Wirkung nationaler Grundrechte in mehrpoligen Rechtsverhältnissen begrenzen, und zwar insbesondere auch im Vertragsrecht. Darüber hinaus können sich zweitens Schutzbereiche in Details unterscheiden und damit auf EU-Ebene etwa ein Recht weiter reichen als auf nationaler und daher weitergehend als auf nationaler andere Grundrechte begrenzen. Drittens kann selbst bei im Kern gleichlautenden Grundrechten die Auslegung auf unionaler und nationaler Ebene durch die jeweiligen Gerichte voneinander abweichen. Wie noch genauer auszuführen sein wird, geht es bei kollidierenden Grundrechten um eine Abwägung der widerstreitenden Positionen. 161 Dies eröffnet einen nicht unerheblichen Spielraum vertretbarer Positionen. Je nachdem, welchen Korridor der EuGH zwischen kollidierenden Grundrechten für vertretbar hält, ist auch der Korridor für Auslegungen nationaler Grundrechte, die Wirkungen haben sollen, begrenzt. Auf einer so allgemeinen Ebene, wie an dieser Stelle, ist es schwer möglich, konkretere Aussagen zu treffen. Soweit widersprüchliche Normaussagen auftreten, gehen EUGrundrechte jedenfalls nach Ansicht des EuGH vor und erlangen damit eine übergeordnete Stellung.162 Gerade aufgrund der Offenheit der Formulierung der Grundrechte wird es in der Praxis wesentlich darauf ankommen, inwieweit der EuGH gewillt, ist Spielräume zu gewähren oder aber eine vereinheitlichende Richtung einschlägt.163 Dies mag sich von Grundrecht zu Grundrecht und zwischen einzelnen Teilgebieten des Vertragsrechts durchaus unterscheiden.164

161

Unten vor allem § 5 IV. Ähnlich Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 264. 163 Für eine Zurückhaltung des EuGH plädieren etwa die Bundesverfassungsrichter Kirchhof, Kooperation zwischen nationalen und europäischen Gerichten, EuR 2014, 267, 272; Masing, Einheit und Vielfalt des europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477. 164 Zu letzterem später § 8. 162

III. Verhältnis zur EMRK

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III. Verhältnis zur EMRK III. Verhältnis zur EMRK

Zur Architektur des Grundrechtsschutzes gehört eine weitere Ebene, welche in das Gebäude juristischer Systematik einzufügen ist: die der EMRK. Was ihr Verhältnis zu anderen Grundrechten angeht, war sie nie in einem Trennungs- oder Alternativitätsverhältnis konzipiert. Vielmehr sollte sie durchaus kumulativ neben bestehenden nationalen Grundrechtsschutz, etwa das deutsche Grundgesetz, treten. Ihre Adressaten sind die Mitglieder der EMRK, also zurzeit 47 verschiedene Staaten. Solange die EU den in Art. 6 Abs. 2 EUV versprochenen Beitritt nicht vollzogen hat und damit nicht Mitglied und Adressat ist, könnten ihre Rechtsakte überhaupt nur darum in den Geltungsbereich der EMRK gelangen, weil die EU ihrerseits ein Produkt ihrer Mitgliedstaaten ist, die wiederum Adressaten der EMRK sind. In diesem Abschnitt wird skizziert, in welchem Verhältnis EU-Grundrechte zur EMRK stehen, sowohl was ihre Anwendbarkeit bei Akten der Mitgliedstaaten (1.) wie auch bei Akten der Union (2.) angeht. Es zeigt sich, dass das Konfliktpotential recht gering ist. 1. Handlungen der Mitgliedstaaten Bei Handlungen der Mitgliedstaaten stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der EMRK zu EU-Grundrechten nur in jenen Fallgestaltungen, die unionsrechtlich geregelt sind und in denen damit der Anwendungsbereich der EUGrundrechte überhaupt eröffnet ist. Im Fall Bosphorus hat sich der EGMR zur Anwendbarkeit der EMRK in einem Teil dieser Konstellationen sowie ihrer Prüfung geäußert.165 Er entschied dabei, dass Mitgliedstaaten zwar bei der Umsetzung zwingender unionsrechtlicher Vorgaben nicht völlig von der Bindung an die EMRK entlassen sind. Die EMRK-Grundrechte gelten also auch in solchen Fällen, und im Einzelfall kann es damit zur doppelten Grundrechtsbindung kommen. Gleichzeitig nahm der EGMR seinen Kontrollanspruch jedoch deutlich zurück. Setzten die Mitgliedstaaten zwingendes Unionsrecht um, bestehe eine Vermutung für die Konformität dieser Akte mit den Grundrechten der EMRK. Sie könnten so lange nicht als grundrechtswidrig gerügt werden, wie auf Unionsebene ein der EMRK gleichwertiger Grundrechtsschutz vorliege.166 Der EGMR bejahte die Gleichwertigkeit des 165

EGMR vom 30.6.2005 (Bosphorus), Beschwerde Nr. 45036/98, Reports 2005-VI, Rn. 152 ff.; näher hierzu z.B. J. Bröhmer, Die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der Schutz der Grund- und Menschenrechte in der EU und das Verhältnis zur EMRK, EuZW 2006, 71; N. Lavranos, Verhältnis von EG-Recht und EMRK, EuR 2006, 78; Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 37. 166 EGMR vom 30.6.2005 (Bosphorus), Beschwerde Nr. 45036/98, Reports 2005-VI, Rn. 155.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

EU-Grundrechtsschutzes ausdrücklich noch vor Inkrafttreten der Charta –167 nach Lissabon muss die Gleichwertigkeit umso mehr bestehen. In Einzelfällen kann dem EGMR zufolge zwar gezeigt werden, dass der unionale Grundrechtsschutz „manifestly deficient“ sei, und damit die Prüfung der EMRKVorschriften doch eröffnet.168 Für den praktischen Normalfall gilt aber, dass es bei der Umsetzung zwingender Vorgaben des Unionsrechts nicht zu einer parallelen Anwendung von EU- und EMRK-Grundrechten kommt und insofern keine Kollisionen auftreten können. Insofern sind auch vertragsrechtliche Vorschriften, die zwingende Richtlinienvorgaben umsetzen, nicht an der EMRK zu messen. Soweit beispielsweise die Neuordnung des Verbraucherschutzrechts unionsrechtlich vorgeschrieben ist, scheidet ein Verstoß gegen Konventionsgrundrechte grundsätzlich aus. Dies beantwortet freilich nicht die Frage, wie es sich mit jenen Fällen der Anwendung von EU-Grundrechten verhält, die über die Umsetzung zwingender Vorgaben hinausgehen. Erinnert sei insofern nur an die ERTRechtsprechung oder den Fall Steffensen.169 Für diese Fälle ist keine Rücknahme des Kontrollanspruchs durch den EGMR ersichtlich. Mitgliedstaatliche Akte können daher uneingeschränkt Verletzungen von Konventionsrechten darstellen. Grundsätzlich gilt daher, dass es zu einer kumulativen Anwendung der Grundrechtsregime kommt. Aus Art. 53 GRC ist zu entnehmen, dass die Charta einem weitergehenden Schutz durch die EMRK nicht entgegen steht. Das Gleiche folgt umgekehrt für die Konvention aus Art. 53 EMRK.170 In einfachen Fällen, wenn nur ein Grundrecht betroffen ist, kommt es also zu einer schlichten Meistbegünstigung hinsichtlich des Grundrechtsschutzes.171 Komplizierter sind – wie schon beim Verhältnis zwischen nationalen und EU-Grundrechten – mehrpolige Fallgestaltungen, wenn sich also Grundrechte zweier Grundrechtsträger widerstreitend gegenüber stehen. Dabei spielt – gewissermaßen als Scharnier zwischen EMRK und Grundrechtecharta – auch die jeweilige Rechtsordnung des betroffenen Mitgliedstaates eine Rolle. Welche Rechtswirkung der EMRK genau zukommt, hängt schließlich davon ab, ob es sich um ein monistisches oder dualistisches System handelt, und in welcher Weise die EMRK in nationales Recht transformiert ist. Aus völkerrechtlicher – also von mitgliedstaatlichem Recht unab167

EGMR vom 30.6.2005 (Bosphorus), Beschwerde Nr. 45036/98, Reports 2005-VI, Rn. 159 ff. 168 EGMR vom 30.6.2005 (Bosphorus), Beschwerde Nr. 45036/98, Reports 2005-VI, Rn. 156. 169 S.o. § 3 I 1. b), und c). 170 Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: MatzLück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 41 f. 171 Jarass, Zum Verhältnis von Grundrechtecharta und sonstigem Recht, EuR 2013, 29, 41; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013).

III. Verhältnis zur EMRK

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hängiger Sicht – ist für einen Vorrang der EMRK argumentiert worden – schließlich sei die Konvention der frühere Vertrag.172 Andererseits kann man auf Grundlage der EuGH-Entscheidung in Kadi davon ausgehen, dass der Gerichtshof von einem Vorrang der EU-Grundrechte gegenüber allem Völkerrecht ausgeht.173 Auch ist es fraglich, inwieweit man Unionsrecht noch in einer herkömmlichen völkerrechtlichen Analyse erfassen und einordnen kann. Es würde zu weit gehen, den komplexen völkerrechtlichen Fragen und dem Geflecht seiner nationalen Inkorporation einerseits und supranationalen Integration andererseits hier umfassend nachzugehen. In der Praxis sind Kollisionen zwischen EU-Grundrechten und EMRK bisher nicht relevant geworden, und gerade im Hinblick auf das Vertragsrecht sind zurzeit auch keine nennenswerten Spannungen zu erwarten. Kollisionen, also sich widersprechende Normaussagen für den gleichen Sachverhalt, werden zwischen Grundrechtecharta und EMRK allgemein selten vorkommen. Was die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze anging, bildete die EMRK schließlich schon eine wesentliche Rechtserkenntnisquelle, die aufgrund ihrer Allgemeinheit auch einzelne Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überstrahlte.174 So berücksichtigte der EuGH etwa im Fall Roquette Frères im Detail die Rechtsprechung des EGMR, und gab dabei seine eigene frühere Rechtsprechung zum Schutzbereich des Rechts auf Schutz der Wohnung auf.175 Nach neuer Rechtslage schreibt Art. 52 Abs. 3 GRC sogar ausdrücklich eine Auslegung der Grundrechte der Charta in Übereinstimmung mit der EMRK vor, sofern die Charta-Grundrechte denen der EMRK entsprechen. Dies entschärft freilich nicht alle denkbaren Konfliktsituationen. Im Zusammenspiel mit der weithin bestehenden Alternativität zwischen EU- und EMRK-Grundrechten führt es aber dazu, dass Friktionen 172

Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: MatzLück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 16, 59, mit Verweis Art. 30 Abs. 3, 4 Vienna Convention on the Law of Treaties. 173 So wohl Jarass, Zum Verhältnis von Grundrechtecharta und sonstigem Recht, EuR 2013, 29, 39 ff., 44: EU-Grundrechten käme „gegenüber allem anderen Recht der Vorrang [zu], auch gegenüber dem Völkerrecht“. Kollisionen zwischen EMRK und EUGrundrechte thematisiert er aber nicht ausdrücklich, 41, sondern hofft auf harmonisierende Auslegung. Der EuGH stellte in Rs. C-402/05 (Kadi), Rn. 300 ff. dass EU-Grundrechte völkerrechtlichen Abkommen vorgehen. 174 Dazu in diesem Kontext Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: Matz-Lück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 45 f.; Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 39. 175 EuGH Rs. C-94/00 (Roquette Frères), Slg. 2002, I-9011, Rn. 29; Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 39.

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

zwischen den beiden Grundrechtsordnungen in der Praxis die Ausnahme sein sollten.176 Wie etwaige Spannungslagen gelöst werden können, hängt insbesondere von der Kooperationsbereitschaft und Zurückhaltung der Gerichte ab, wie sie der EGMR in Bosphorus hat erkennen lassen. Festzuhalten bleibt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung zwingenden Unionsrechts in aller Regel nicht an die EMRK gebunden sind. Bei Akten der Mitgliedstaaten, die nicht durch zwingendes Unionsrecht vorgegeben sind, aber sich in dessen Anwendungsbereich befinden, kommt es zur kumulativen Anwendung von EU- und EMRK-Grundrechten. Ihr Vorrangverhältnis ist theoretisch umstritten und praktisch ungeklärt, jedoch aufgrund eines umfangreichen Gleichlaufs an dieser Stelle nicht drängend zu beantworten. Insbesondere für den Bereich des Vertragsrechts sind bisher keinerlei Friktionen aufgetreten und aktuell auch nicht zu erwarten. 2. Handlungen der Union Bei Akten der Union ist das Verhältnis zwischen EU-Grundrechten und EMRK einfach: Es besteht nicht, da nach der Rechtsprechung des EGMR die Konventionsrechte nicht anzuwenden sind. 177 Weder prüft er Unionsakte direkt an der EMRK noch hält er die Mitgliedstaaten indirekt verantwortlich.178 Zwar könnte man einwenden, die Mitgliedstaaten müssten als Gründer der EU für deren Handlungen einstehen. Allerdings handelt es sich bei der EU um eine Institution mit eigener Rechtspersönlichkeit, die (bisher) nicht Mitglied der EMRK geworden ist. Der EGMR verwies außerdem auf den vergleichbaren Grundrechtsschutz auf Unionsebene, aufgrund dessen eine Anwendung der EMRK nicht notwendig sei.179 Soweit es also um Handlungen der EU geht, sind allein EU-Grundrechte anwendbar. Beispielweise vertragsrechtliche Richtlinien sind also nur an EU-Grundrechten zu messen und unter ihrem Einfluss auszulegen – Konventionsgrundrechte spielen keine Rolle.

176

Jarass, Zum Verhältnis von Grundrechtecharta und sonstigem Recht, EuR 2013, 29, 41 f.; Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: MatzLück/Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen (2012), 1, 56 f. 177 EGMR vom 9.12.2008 (Connolly), Beschwerde Nr. 73274/01; EGMR vom 16.6.2009 (Beygo), Beschwerde Nr. 36099/06. Näher dazu etwa Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 38. 178 Wollenschläger, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in: Hatje/Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 1, § 8, Rn. 38. 179 EGMR vom 16.6.2009 (Beygo), Beschwerde Nr. 36099/06.

IV. Zusammenfassung

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IV. Zusammenfassung IV. Zusammenfassung

Gegenüber der früheren Problematik bloß nationaler Grundrechte im Vertragsrecht verkompliziert sich die Lage im europäischen Mehrebenensystem. Bevor man überhaupt zur Frage gelangt, welche Implikationen Grundrechte im Einzelnen für Vertragsrechtsverhältnisse haben, muss man verschiedene Grundrechtsschichten und ihr Verhältnis zueinander differenzieren. Verschiedene Teilaspekte des Vertragsrechts unterliegen unterschiedlichen Grundrechtsregimen. EU-Grundrechte, nationale Grundrechte und EMRK haben jeweils ihren eigenen Anwendungsbereich. Sie sind in ihren Normaussagen, allen universalen Ansprüchen der Grund- und Menschenrechte zum Trotz, keineswegs deckungsgleich. Mindestens ebenso bedeutend ist es, dass die gerichtlichen Zuständigkeiten mit der Einschlägigkeit der jeweiligen Grundrechte variieren. Auf dem Spiel steht daher, wer über grundsätzliche Fragen der gesellschaftlich-staatlichen Ordnung und insbesondere, soweit das Vertragsrecht betroffen ist, wer über wesentliche Teile der Wirtschaftsverfassung entscheidet. Der entscheidende Ausganspunkt für die EU-Grundrechte und die Kompetenz des EuGH ist ihr Anwendungsbereich. Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung zu Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Formel entwickelt, dass Grundrechte „im Anwendungsbereich“ des Unionsrechts anwendbar seien. Zwar enthält die Charta in Art. 51, was die Bindung der Mitgliedstaaten angeht, mit dem Begriff der „Durchführung des Unionsrechts“ eine abweichende Terminologie. In der Sache unterscheiden sich der Anwendungsbereich von Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen und jener der Charta dem EuGH zufolge jedoch nicht. Er umfasst jeweils sowohl administratives und legislatives Handeln zur Umsetzung von Unionsrecht, Grundfreiheitsbeschränkungen sowie sonstige Sachverhalte, die spezifischem Unionsrecht unterfallen. Gerade die dritte Fallgruppe ist allerdings schwierig zu konturieren. Legte der Fall Åkerberg Fransson noch ein sehr weites Verständnis nahe, hat der EuGH in Folgeentscheidungen, womöglich auch aufgrund der Kritik des Bundesverfassungsgerichts, vorsichtiger agiert. Gerade im vertragsrechtlichen Bereich reicht es nicht aus, dass ein Teil eines vertraglichen Verhältnisses europarechtlich geregelt ist, um benachbarte oder gleich alle Fragen in diesem Verhältnis in den Anwendungsbereich der EUGrundrechte zu bringen. Vielmehr bedarf es einer Regelung gerade der spezifisch einschlägigen Rechtsfragen, der konkreten Faser des vertraglichen Beziehungsstranges. Diese Regeln können sich insbesondere aus diversen Richtlinien ergeben. Die Grenzen der Anwendbarkeit und damit die Balance zwischen nationaler und supranationaler Letztentscheidungskompetenz könnten sich so auf mittlerem Weg einzupendeln. Es folgt aus dem so gezogenen Anwendungsbereich, dass manche Sachverhalte lediglich nationalen, andere lediglich unionalen und manche beiden

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§ 3 EU-Grundrechte im Mehrebenensystem

Grundrechtsordnungen unterliegen. Auch wenn damit keine konsequente Alternativität der Grundrechtskataloge besteht, scheiden Kollisionen daher schon regelmäßig mangels gleichzeitiger Anwendbarkeit aus. Sind beide gleichzeitig anwendbar, wird das Verhältnis allerdings problematisch. Dem EuGH zufolge unterliegen die Wirkungen nationaler Grundrechte unionsrechtlichen Grenzen. Insbesondere dürfe das Schutzniveau der Charta in der Auslegung durch den EuGH nicht unterschritten werden. Gerade in vertraglichen Situationen, in denen sich zwei Grundrechtsträger gegenüberstehen, bedeutet dies, dass EU-Grundrechte Ober- und Untergrenzen des Spielraums nationaler Grundrechte vorgeben. Da nationale Grundrechte auch europäischem Sekundärrecht nicht vorgehen, verbleibt ihnen in den europäisierten Teilen des Vertragsrechts kaum noch eine Bedeutung. In all jenen Fällen, in denen allerdings keine spezifischen Vorschriften des Unionsrechts einschlägig sind, behält namentlich das Grundgesetz in Deutschland seine vertragsrechtliche Relevanz. Das Verhältnis zwischen EMRK und EU-Grundrechten ist bisher in der gerichtlichen Praxis und in der rechtswissenschaftlichen Diskussion weniger brisant gewesen und so dürfte es auf absehbare Zeit auch bleiben.180 Trotz Art. 6 Abs. 3 EUV ist die EU selbst weiterhin nicht an die EMRK gebunden und Unionshandlungen deswegen nicht an der EMRK zu messen. Für mitgliedstaatliche Handlungen, die Unionsrecht umsetzen, hat der EGMR entschieden, dass angesichts des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes eine Vermutung für ihre EMRK-Konformität besteht. Lediglich bei Handlungen der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts, die keine zwingenden Vorgaben umsetzen, kommt es zu einer parallelen Anwendung. Welche Grundrechte hier den Vorrang besitzen ist ungeklärt und bisher, soweit ersichtlich, nicht praktisch relevant geworden. Die Konfliktpotenziale scheinen eher gering.

180

Das Gutachten 2/13 des Gerichtshofs (Plenum) vom 18. Dezember 2014 hat zwar eine erhebliche Diskussion ausgelöst, handelt aber nur von Meta-Fragen des Beitritts und nicht von der Wirkung der Grundrechte im Einzelfall.

2. Teil

Rechtsprechung

§ 4 Entscheidungen des EuGH zu EU-Grundrechten und Privatrecht § 4 Entscheidungen des EuGH

Dieses Kapitel verfolgt ein kompilatives Anliegen. Es werden all jene Urteile bündig und in ihren entscheidenden Auszügen dargestellt, bei denen der EuGH bei privatrechtlichen Rechtsfragen auf Grundrechte eingegangen ist. Sie sollen zunächst weder dogmatisch geordnet, noch bewertet oder rekonstruiert werden. Dies bleibt den folgenden Kapiteln vorbehalten. Damit werden sich zwar zwangsläufig einige Wiederholungen ergeben – sie scheinen es allerdings wert: Die hier gewählte Darstellung schafft eine möglichst transparente Diskussions- und Forschungsgrundlage, gewissermaßen ist sie eine Sammlung roher Daten. Wichtige Urteilsstellen werden daher auch im Wortlaut wiedergegeben. Die sich ergebende Zusammenstellung kann auch für zukünftige Schriften zu diesem Themenbereich hilfreich sein, die sich den Interpretationen und Analysen der folgenden Kapitel nicht anschließen möchten. Die Gefahr, den Leser mit bewussten oder unbewussten Rekonstruktionen zu von Beginn an präferierten Meinungen hinzuführen, wird, wenn auch nicht ausgeschlossen, so doch möglichst begrenzt. Der Blick richtet sich in diesem Kapitel über das Vertragsrecht hinaus auch auf Urteile zu sonstigem Privatrecht. Damit lassen sich für die in § 5 behandelten allgemeinen dogmatischen Strukturen so aussagekräftige Quellen wie möglich zu sammeln. Außer Betracht bleibt dagegen grundsätzlich Zivilprozessrecht, das inhaltlich und insbesondere von der Spannungslage zwischen Einzelnem und Staat ein Feld für sich bildet. Besonders ausgeklammert bleiben sollen außerdem aufgrund ihrer Eigenarten familienrechtliche Fälle. Klar dürfte auch bereits in diesem Abschnitt werden, dass EUGrundrechte für privatrechtliche Rechtsfragen vermehrt praktische Relevanz erlangen.1 Eine Vielzahl von Vorlagefragen bezog sich ausdrücklich auf EUGrundrechte und auch spezifisch auf ihre besondere Bedeutung in Privatrechtsverhältnissen. 2 Einerseits hat die Charta die Grundrechte tatsächlich sichtbarer gemacht (verbindliche EU-Grundrechte gab es schließlich schon zuvor). Andererseits besteht allem Anschein nach überhaupt inzwischen eine 1

Zu allgemein steigenden Bedeutung der Charta schon oben § 2 III 1. am Anfang. Z.B. in EuGH Rs. C-282/10 (Dominguez); EuGH Rs. C-176/12 (AMS); EuGH Rs. C34/13 (Kušionová); EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll). 2

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

größere Sensibilität für europäische Grundrechte auch im privatrechtlichen Diskurs. Das wiederholte Auftauchen der EU-Grundrechte in Fällen schafft Aufmerksamkeit für Argumentationsmöglichkeiten, die dann häufiger genutzt werden, was wiederum zu mehr Urteilen und somit abermals zu mehr Aufmerksamkeit führt – eine Art positive loop, ein sich selbst verstärkendes Kommunikationsmuster. Die Auswahl der hier dargestellten Urteile geschah auf folgende Weise: Die Internetseite des EuGH3 bietet die Möglichkeit, alle Urteile anzuzeigen, die Grundrechte zum Thema haben. Unter diesen lassen sich leicht jene ausmachen, die aus einem Vorlageverfahren eines Rechtsstreits zwischen privaten Parteien ergehen. Diese Urteile wurden allesamt gesichtet. Es werden hier nun jene geschildert, in denen Grundrechte in der Entscheidung des EuGH eine mehr als nur ganz oberflächliche Rolle spielten. Außerdem wird ein Urteil dargestellt, das zwar nicht aus einem Rechtsstreit zwischen Privaten hervorging, sich aber auf privatrechtliche Vorschriften bezog (Test-Achats). Ergänzt wird diese Auswahl durch eine Entscheidung, in denen Grundrechte auffälligerweise nicht im Urteil, wohl aber in den Schlussanträgen des Generalanwalts eine zentrale Rolle spielten (Dominguez) sowie eine, in der die Argumentation des EuGH grundrechtsähnliche Erwägungen enthielt, ohne Grundrechtsnormen ausdrücklich zu nennen (Aziz). Kontrolliert und abgeglichen wurde die Auswahl der Urteile im Übrigen mit jenen, die sich in der bisherigen Literatur zu EU-Grundrechten im Privatrecht finden.4 Die Urteile sind hier, der Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit halber, nach Themenbereichen geordnet: Antidiskriminierungsrecht (I.), Arbeitsrecht (II.), Verbraucherrecht (III.), Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz 3

curia.europa.eu. S. insbesondere die Beträge in H.-W. Micklitz (Hg.), The constitutionalization of Euro-pean private law (2014); U. Bernitz et al., General principles of EU law and European private law (2013); D. Leczykiewicz/S. Weatherill, Involvement of EU law in private law relationships (2013) sowie die Aufsätze R. Streinz/W. Michl, Die Drittwirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011, 384; A. Seifert, Die horizontale Wirkung von Grundrechten. Europarechtliche und rechtsvergleichende Überlegungen, EuZW 2011, 696; Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91; S. Krebber, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das deutsche Individualarbeitsrecht, EuZA 2013, 188; C. Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05; Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European Law Review (2013), 479; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238; E. Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657; O. Cherednychenko/N. Reich, The Constitutionalization of European Private Law: Gateways, Constraints, and Challenges, 23 European Review of Private Law (2015), 797. 4

I. Antidiskriminierungsrecht

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(IV.) sowie Sonstiges (V.). Innerhalb dieser Abschnitte sind die Entscheidungen schlicht chronologisch sortiert. Die Darstellungen gehen alle nach folgendem Schema vor: einleitende Bemerkung zu Kern des Falls und betroffenen Grundrechten, Schilderung des Sachverhalts, Darstellung der relevanten Urteilsgründe.

I. Antidiskriminierungsrecht I. Antidiskriminierungsrecht

1. Mangold Der Fall Mangold schlug insbesondere in Deutschland hohe Wellen.5 Gegenstand war die Vereinbarkeit des damaligen § 14 Abs. 3 TzBfG mit dem europarechtlichen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters. Der Sachverhalt war recht einfach gelagert: Rechtsanwalt Helm hatte den 56-jährigen Mangold befristet eingestellt. Die Parteien stützten sich dabei ausdrücklich auf § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG, nach dem bei Arbeitnehmern über 52 Jahren Arbeitsverhältnisse sachgrundlos befristet werden konnten. Der Streit war gestellt: Helm hatte bereits im Gesetzgebungsprozess gegen die Regelung gekämpft, und nun einen Sachverhalt, der Anlass zur Überprüfung anhand Europarechts gab, bewusst herbeigeführt. Das ArbG München legte unbeirrt dieses Schauspiels dem EuGH vor, und dieser nahm sich unbeirrt in Form der Großen Kammer dem Rechtsproblem an. Die Fragen des Arbeitsgerichts bezogen sich auf die Vereinbarkeit des § 14 Abs. 3 TzBfG mit der Befristungsrichtlinie 199/70/EG sowie mit der Richtlinie 2000/78/EG, die das Verbot der Altersdiskriminierung enthielt. Einen Verstoß gegen erstere verneinte der EuGH für eine Konstellation wie 5 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981. Bei juris finden sich über 120 Anmerkungen und Aufsätze, die dieses Urteil behandeln (Stand Oktober 2015). S. beispielweise: G. Thüsing, Europarechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Bindung des Arbeitgebers?, ZIP 2005, 2149; N. Reich, Anmerkung, EuZW 2006, 20; J.-H. Bauer/C. Arnold, Auf „Junk“ folgt „Mangold“ – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht, NJW 2006, 6; R. Streinz/C. Herrmann, Der Fall Mangold – eine „kopernikanische Wende im Europarecht“?, RdA 2007, 165; U. Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht. Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401; K. Riesenhuber, ECJ – Mangold, 3 European Review of Contract Law (2007), 62; D. Schiek, The ECJ Decision in Mangold: A Further Twist on Effects of Directives and Constitutional Relevance of Community Equality Legislation, 35 Industrial Law Journal (2006), 329; M. Schmidt, The Principle of Non-discrimination in Respect of Age: Dimensions of the ECJ’s Mangold Judgement, German Law Journal 2006, 505; M. Dougan, In Defence of Mangold?, in: A. Arnull et al. (Hg.), A constitutional order of states? Essays in EU law in honour of Alan Dashwood (2011), 219. Auf das Urteil ein ging auch das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung: BVerfGE 126, 286 (eine ultra vires-Entscheidung des EuGH verneinend).

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

den vorliegenden Fall. Es fehlte insbesondere an einer Mehrfachbefristung, bei der die europarechtliche Zulässigkeit ansonsten höchst zweifelhaft gewesen wäre.6 Die Ausführungen des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit mit dem Verbot der Altersdiskriminierung hatten es dafür umso mehr in sich. Zunächst stellte er fest, dass § 14 Abs. 3 TzBfG eine „unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung“ darstellte.7 Nach Abs. 6 der Richtlinie könnten Diskriminierungen jedoch gerechtfertigt werden, und zwar unter anderem um die berufliche Eingliederung von älteren Arbeitnehmern sicherzustellen. Diesen legitimen Zweck habe auch der deutsche Gesetzgeber verfolgt. Allerdings müsse die Regelung auch „angemessen und erforderlich“ sein.8 Dabei gestand der EuGH dem nationalen Gesetzgeber zwar ausdrücklich einen „weiten Ermessensspielraum“ zu. 9 Auch unter Vorgabe dieses Maßstabes könne eine Vorschrift wie § 14 Abs. 3 TzBfG allerdings nicht gerechtfertigt werden. Eine „große, ausschließlich nach dem Lebensalter definierte Gruppe“ laufe „während eines erheblichen Teils ihres Berufslebens Gefahr, von festen Beschäftigungsverhältnissen ausgeschlossen zu sein“.10 Es sei nicht nachgewiesen, dass „die Festlegung einer Altersgrenze als solche“, d.h. unabhängig von strukturellen und persönlichen Umständen, objektiv erforderlich sei, um ältere Arbeitnehmer beruflich einzugliedern.11 Damit sei der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ nicht mehr gewahrt, da „bei Ausnahmen von einem Individualrecht die Erfordernisse des Gleichbehandlungsgrundsatzes so weit wie möglich mit denen des angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden müssen“.12 Folglich läge eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung vor. Was damit allerdings ungesagt blieb, war, warum das Verbot der Altersdiskriminierung überhaupt anwendbar sein sollte. Denn Richtlinien waren nach vorheriger ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht unmittelbar in Privatrechtsverhältnissen anwendbar.13 Zudem war die Umsetzungsfrist der Richtlinie noch gar nicht abgelaufen. Dass der EuGH die Vorschriften der Richtlinie, wie soeben erörtert, zitierte, wurde daher von einigen so gedeutet, dass diese Rechtsprechung geändert und Richtlinien nun doch zwischen Privaten unmittelbar anzuwenden seien.14 Eine weitere Lesart war aber möglich: Der EuGH führte nämlich im Folgenden aus, „dass der Grundsatz der 6

Dazu Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht. Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401, 402. 7 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 57. 8 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 62. 9 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 63. 10 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 64. 11 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 65. 12 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 65. 13 EuGH Rs. C-91/92 (Dori), Slg. 1994, I-3325. 14 Etwa Bauer/Arnold, Auf „Junk“ folgt „Mangold“ – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht, NJW 2006, 6.

I. Antidiskriminierungsrecht

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Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nicht in der Richtlinie 2000/78 selbst verankert ist“.15 Vielmehr sei er ein „allgemeiner Grundsatz der Gemeinschaftsrechts“. 16 Dieser ergäbe sich aus „verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“.17 Die erläuterte Prüfung des Verbots der Altersdiskriminierung lässt sich damit als eine Prüfung eines allgemeinen Grundsatzes zu lesen. Dieser sei anwendbar, da § 14 Abs. 3 TzBfG als Umsetzung der Richtlinie 1970/70/EG in den „Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fiele.18 Da die nationale Norm mit diesem Grundsatz nicht vereinbar sei, habe das nationale Gericht, um „die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbotes der Diskriminierung wegen des Alters zu gewährleisten“, die Norm unangewendet zu lassen.19 2. Kücükdeveci Der Fall Kücükdeveci20 knüpft thematisch an die Mangold-Entscheidung an. Wiederum ging es um die Bedeutung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters für eine Vorschrift des deutschen Privatrechts. Im Fokus stand diesmal § 622 Abs. 2 BGB. Dieser betraf die Dauer von Kündigungsfristen 15

EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 74. EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 75. 17 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 74. Eine nähere Begründung dieser Annahme liefert der EuGH nicht. Tatsächlich scheint sie äußerst zweifelhaft – s. Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht. Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401. 18 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 75. 19 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981, Rn. 78. 20 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365. Anmerkungen und Besprechungen bei: G. Thüsing, Zur Unanwendbarkeit nationalen Rechts bei Verstoß gegen den europarechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, ZIP 2010, 199; M. Franzen, Zum europarechtlichen Verbot der Altersdiskriminierung und der Nichtanwendung von einer Richtlinie entgegenstehenden nationalen Vorschriften durch nationale Gerichte, GPR 2010, 81; R. Waltermann, Unanwendbarkeit des nationalen Rechts bei Verstoß gegen das europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, EuZA 2010, 541; J. Schubert, Anmerkung, EuZW 2010, 180; O. Mörsdorf, Diskriminierung jüngerer Arbeitnehmer, NJW 2010, 1046; G. Ziegenhorn, Kontrolle von mitgliedstaatlichen Geestzen „im Anwendungsbereich des Unionsrechts“ am Maßstab der Unionsgrundrechte, NVwZ 2010, 803; C. Höpfner, Altersdiskriminierung und europäische Grundrechte. Einige methodische Bemerkungen zum Richterrecht des EuGH, ZfA 2010, 449; S. Kolbe, Kücükdeveci und tarifliche Altersgrenzen, BB 2010, 501; J. Kokott/C. Sobotta, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, EuGRZ 2010, 265; E. Muir, Of ages in – and edges of – EU law, 48 Common Market Law Review (2011), 39; D. Schiek, Constitutional Principles and Horizontal Effect: Kücükdeveci revisited, 1 European Labour Law Journal (2010), 368; M. de Mol, Kücükdeveci: Mangold Revisited – Horizontal Direct Effect of a General Principle of EU Law, 6 European Constitutional Law Review (2010), 293. 16

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

bei Arbeitsverträgen und legte insbesondere fest, dass Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr des Arbeitnehmers für die Berechnung unberücksichtigt blieben. Seda Kücükdeveci, die bereits seit ihrem 18. Lebensjahr für die Swedex GmbH & Co. KG gearbeitet hatte, war gekündigt worden. Über die Länge und die Berechnung der Kündigungsfrist entstand ein Rechtsstreit. Das LAG Düsseldorf fragte den EuGH, ob Europarecht dem Unberücksichtigtlassen der Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr entgegenstehe. Der EuGH prüfte, ob ein Verstoß gegen die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG sowie gegen den primärrechtlichen Grundsatz des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters vorliege. Was die primärrechtliche Dimension angeht, erinnerte der EuGH zunächst an die Herleitung des Grundsatzes im Fall Mangold als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts. Zudem sei „auf Art. 6 Abs. 1 EUV hinzuweisen, wonach die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Verträge rechtlich gleichrangig sind. Nach Art. 21 Abs. 1 dieser Charta sind ‚Diskriminierungen insbesondere wegen... des Alters‘ verboten.“21 Der Gerichtshof bezog sich damit sowohl auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz wie auch auf die entsprechende Norm der Grundrechtecharta. Deren intertemporale Anwendbarkeit auf den Sachverhalt problematisierte er nicht, obwohl die Kündigung bereits 2006, also vor Inkrafttreten des Lissabonvertrages ausgesprochen wurde. Das „Verbot der Diskriminierung wegen des Alters“22 (ohne Spezifizierung hinsichtlich allgemeinem Grundsatz oder Charta) gelte jedenfalls nur dann, wenn der Ausgangsfall in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. Dies bejahte der Gerichtshof aufgrund der Einschlägigkeit der Richtlinie 2000/78/EG.23 Folglich war die Tür geöffnet, um zu prüfen ob eine Regelung wie § 622 Abs. 2 BGB mit dem „jede Diskriminierung wegen des Alters verbietenden allgemeinen Grundsatz[...] des Unionsrechts, wie er in der Richtlinie 2000/78 konkretisiert ist“, vereinbar sei.24 Von der Charta war an dieser Stelle trotz der anfänglichen Nennung keine Rede mehr. Der Gerichtshof stellte dann zunächst fest, dass eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Alters vorliege. Diese könnte aber gerechtfertigt sein, wenn ein legitimes Ziel verfolgt würde und die Ungleichbehandlung hierzu „angemessen und erforderlich“ sei.25 Für diese Anforderungen zitiert er die genannte Richtlinie, begriff sie dabei aber ausdrücklich lediglich als Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzes.26 Wie schon in Mangold betonte er den weiten Ermessensspielraum des Gesetzgebers, befand aber dennoch auf eine unzulässige Diskrimi21

EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 22. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 23. 23 S. ausführlich oben § 3 I 1. c). 24 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 27. 25 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 37. 26 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 32: „das mit der Richtlinie 2000/78 konkretisierte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters“. 22

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nierung. Zwar sei ein legitimes Ziel verfolgt worden, nämlich Arbeitgeber gegenüber jüngeren Arbeitnehmern zu entlasten, die flexibler seien als ältere. Der EuGH sprach hier, wie das vorlegende, Gericht von „personalwirtschaftlicher Flexibilität“.27 Die Regelung sei aber keine „angemessene Maßnahme“,28 da sie alle Arbeitnehmer unabhängig davon treffe, wie alt sie beim Zeitpunkt ihrer Entlassung seien. Sie sei daher schon nicht zur Verfolgung des Ziels „geeignet“.29 Des Weiteren betreffe sie vor allem solche Menschen, die ohne oder nach kurzer Berufsausbildung ihren Beruf aufnähmen. Folglich sei eine Regelung wie § 622 Abs. 2 BGB nicht mit dem Verbot des Altersdiskriminierung zu vereinbaren und dürfe daher „zur Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden“. 30 Nachdem die erste Frage des Gerichts somit beantwortet war, ging der EuGH noch auf die zweite, die Folgefrage ein. Diese zielte darauf ab, ob ein nationales Gericht bei einem Rechtsstreit zwischen Privaten den EuGH anrufen müsse, wenn es eine nationale Regelung für unvereinbar mit Europarecht halte. Der Gerichtshofs verneinte die Pflicht zur Vorlage, aber bejahte die Möglichkeit. Außerdem ging er auf die Wirkung des Verbots der Altersdiskriminierung ein. Dabei betonte er, dass Richtlinien nicht unmittelbar in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten anzuwenden seien. Allerdings hätten nationale Gerichte nationales Recht richtlinienkonform auszulegen. Im Fall des § 622 Abs. 2 BGB sei eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich. Beim Verbot der Altersdiskriminierung handele es sich jedoch um einen allgemeinen Grundsatz. Insofern sei es möglich und notwendig, dass ein Gericht diesem Grundsatz entgegenstehende nationale Regelungen unangewendet lasse. Nach dem „Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der auch dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters zukommt“ seien nichtkonforme Vorschriften nicht anzuwenden.31 3. Test-Achats Der Fall Test-Achats32 handelte von der Vereinbarkeit einer Vorschrift der Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter auch außerhalb der Arbeits-

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EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 35, 39. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 40. 29 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 41. 30 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 43. 31 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 54. 32 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats). Anmerkungen und Besprechungen bei: M. Körner, Europäisches Recht fordert Unisex-Versicherungstarife, ArbuR 2011, 331; A. Jurk/B. Wilhelm, Änderung 2012: Unisextarife in der betrieblichen Altersvorsorge?, BB 2012, 381; C. Tobler, Case Note, 48 Common Market Law Review (2011), 2041; N. Reich, Non-Discrimination and the Many Faces of Private Law in the Union – Some Thoughts After the “Test-Achats“ Judgement, 2 European Journal of Risk Regulation (2011), 283; E. 28

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welt 33 mit Art. 21 und 23 GRC, nach denen Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten sind und die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen zu gewährleisten ist. Im Gegensatz zu den anderen hier diskutierten Urteilen resultierte die Vorlagefrage nicht aus einem Rechtsstreit zwischen Privaten, sondern aus der Beschwerde einer Verbraucherorganisation vor der belgischen Cour constitutionnelle. Mit Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie ging es aber um eine Vorschrift, die für Versicherungsverträge zwischen Privaten relevant ist, weswegen der Fall hier diskutiert wird. Diese Norm stellte eine Ausnahme von der allgemeineren Vorgabe der Richtlinie dar, dass bei Versicherungs- und verwandten Finanzdienstleistungsverträgen nicht anhand des Geschlechts differenziert werden dürfte. Art. 5 Abs. 2 erlaubte unterschiedliche Behandlung, wenn das Geschlecht bei Beurteilung anhand relevanter und genauer versicherungsmathematischer und statistischer Daten ein bestimmender Faktor für die Risikobewertung war. Die Vorlagefrage war schlicht, ob, wie von der Organisation Test-Achats behauptet, diese Norm gegen Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze verstieß. Der EuGH stellte zunächst fest, dass nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (die Frage war davor gestellt, wurde nun danach beantwortet), die Grundrechte in die Charta inkorporiert worden seien. Relevant seien Art. 21 und 23 GRC. Die Gültigkeit der Richtlinie sei an diesen Vorschriften zu messen, „da im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie [...] ausdrücklich auf diese Artikel Bezug genommen wird“.34 Das Ziel der Bekämpfung von Diskriminierung finde sich auch in Art. 157 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 AEUV. Es müsse, sei eine gesetzgeberische Maßnahme einmal beschlossen, „in kohärenter Weise verfolgt werden“.35 Der Gleichbehandlungsgrundsatz verlange außerdem, dass „vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist“.36 Die Beurteilung anhand dieses Prüfungsmaßstabs hielt der Gerichtshof dann äußerst knapp.37 Ein tiefergehende Prüfung der Grundrechte fand nicht statt. Der EuGH äußerte schlicht: Die Richtlinie beruhe auf der Prämisse, dass „die Lage von Frauen [...] und Männern in Bezug auf die Prämien und Leistungen der von ihnen abgeschlossenen Versicherungen vergleichbar sind“.38 Art. 5 Abs. 2 schaffe aber die Gefahr, dass eine Ausnahme von der Gleichbehandlung von Frauen Schanze, Injustice by Generalization: Notes on the Test-Achats Decision of the European Court of Justice, German Law Journal 2013, 423. 33 Richtlinie 2004/113/EG. 34 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats), Rn. 17. 35 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats), Rn. 21. 36 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats), Rn. 28. 37 Lediglich die Rn. 30-32 behandeln dies, wobei zwei der Absätze nur einen Satz beinhalten. 38 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats), Rn. 30.

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und Männern unbefristet zulässig sei. Dies laufe „der Verwirklichung des mit der Richtlinie [...] verfolgten Ziels [...] zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar“.39 Art. 5 Abs. 2 sei daher nach einer angemessenen Übergangszeit ungültig. Welche Konsequenzen dies für auf Art. 5 Abs. 2 aufbauendes nationales Recht hatte, erörterte der EuGH nicht – danach war aber auch nicht gefragt worden. 4. Prigge In der Rechtssache Prigge40 ging es wieder um das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, diesmal im Zusammenhang mit einer tarifvertraglichen Regelung. Die Lufthansa-Piloten Prigge, Fromm und Lambach hatten dagegen geklagt, dass ihre Arbeitsverträge automatisch mit Vollendung des 60. Lebensjahres endeten, wie es im einschlägigen Tarifvertrag vorgesehen war. Das BAG hatte eine solche Regelung bis dahin als gem. § 14 Abs. 1 TzBfG sachlich gerechtfertigte Befristung angesehen. Nun kamen ihm allerdings Zweifel, ob dies mit dem europarechtlichen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters zu vereinbaren sei. Es fragte den EuGH, ob die Richtlinie 2000/78/EG oder der entsprechende primärrechtliche Grundsatz einer nationalen Regelung entgegenstünde, die eine solche tarifvertragliche Regelung zulasse. Zum Beginn seiner Antwort stellte der EuGH abermals fest, dass die Richtlinie 2000/78/EG eine Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts darstelle. Er fügte hinzu: „Das Verbot jeder Diskriminierung u.a. wegen des Alters ist in Art. 21 der Charta [...] enthalten, die seit dem 1. Dezember den gleichen rechtlichen Rang hat wie die Verträge.“ 41 Damit beließ er es im Wesentlichen hinsichtlich des Abstellens auf Grundrechte – im Folgenden prüfte er vordergründig lediglich die Vorschriften der Richtlinie, wenn auch immer unter der Prämisse, dass diese einen allgemeinen Grundsatz konkretisierte. Zunächst befand er, dass das Diskriminierungsverbot, wie es die Richtlinie normiert, auch auf Tarifverträge wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar sei, da dieser Beschäftigungsbedingungen betreffe. Die automatische Beendigung des Arbeitsvertrages beim Eintritt in 60. Lebensjahr stelle auch eine Ungleichbehandlung dar. Dass das deutsche 39

EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats), Rn. 32. EuGH Rs. C-447/09 (Prigge). Anmerkungen und Besprechungen bei: G. Thüsing/S. Pötters, Altersdiskriminierung durch tarifliche Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten, ZIP 2011, 1886; S. Krieger, Anmerkung, NJW 2011, 3214; F. Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverträge von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, 205; E. Dewhurst, The Development of EU Case-Law on Age Discrimination in Employment: ‘Will You Still Need Me? Will You Still Feed Me? When I’m Sicty-Four’, 19 European Law Journal (2013), 517. 41 EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 38. 40

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Recht dies gem. § 14 TzBfG erlaube, ändere nichts daran, dass der „Tarifvertrag dem Recht der Union“ zu entsprechen habe.42 „Denn das in Art. 28 GRC proklamierte Recht auf Kollektivverhandlungen muss im Geltungsbereich des Unionrechts im Einklang mit diesem ausgeübt werden [zitiert Viking und Laval].“43 Träfen die Sozialpartner Abreden im Geltungsbereich der Richtlinie, dann müssten sie „[da jene] das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters konkretisiert, [...] unter Beachtung dieser Richtlinie vorgehen“.44 Anschließend prüfte der EuGH, ob die Maßnahme unter die Ausnahmevorschrift des Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG falle. Zwar diene die Förderung der „Flugsicherheit“ dem dort genannten Zweck der öffentlichen Sicherheit.45 Auch könnte dieses Ziel per Tarifvertrag verfolgt werden, sofern von den Mitgliedstaaten gestattet.46 Allerdings sei es „nicht erforderlich“, die Pilotentätigkeit über 60 Jahren gänzlich zu untersagen.47 Nationale und internationale Vorschriften sähen bloß eine Einschränkung, keine Untersagung, vor. Es hätte ausgereicht, die Tätigkeit über 60 Jahren zu beschränken. Eine Rechtfertigung nach Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG scheide daher aus. Ebenso wenig seien die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG erfüllt. Zwar sei die Sicherheit des Flugverkehrs auch im Sinne dieser Vorschrift eine zulässigerweise zu verfolgender Zweck. Aber: „Indem die Sozialpartner die Altersgrenze [...] auf 60 Jahre festgelegt haben, [...] haben sie [den] Piloten eine im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 unverhältnismäßige Anforderung auferlegt.“ Des Weiteren sei die Ungleichbehandlung auch nicht gem. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie zu rechtfertigen. Die Flugsicherheit stelle schon kein legitimes Ziel im Sinne dieser Vorschrift dar. Die tarifvertragliche Altersgrenze verstieß demzufolge gegen Unionsrecht. 5. HK Danmark Auch der Fall HK Danmark48 betraf das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters sowie die Richtlinie 2000/78/EG. Streitpunkt waren diesmal die Bedingungen einer betrieblichen Altersvorsorge, die im Arbeitsvertrag zwischen Frau Kristensen und Experian A/S festgelegt waren. Nach diesen war der Arbeitgeberanteil nach Altersgruppen gestaffelt und etwa bei Arbeitneh42

EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 46. EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 47. 44 EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 48. 45 EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 58. 46 EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 61, 64. 47 EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 63. 48 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark). Anmerkungen und Besprechungen bei: B. Kas, European Union Litigation, 10 European Review of Contract Law (2014), 124, 156 f.; D. Ulber, Grenzen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen wegen des Alters, EuZA 2014, 202. 43

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mern über 35 Jahren höher als unter dieser Altersgrenze. Nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch Kristensen verlangte die Gewerkschaft HK Danmark, für letztere handelnd, eine Nachzahlung entsprechend der höheren Zuschusssätze für ältere Arbeitnehmer. Das mit der Sache befasste Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob eine solche Differenzierung nach Altersgruppen nach der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG zulässig sei. Der Gerichtshof wiederholte zunächst bereits Behandeltes: So könne die Richtlinie 2000/78/EG nicht selbst Verpflichtungen für Einzelne begründen. Der EuGH habe aber „anerkannt, dass ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters besteht, das als ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen und durch die Richtlinie 2000/78 im Bereich von Beschäftigung und Beruf konkretisiert worden ist“.49 Und: „Das Verbot jeder Diskriminierung u.a. wegen des Alters ist in Art. 21 [GRC] enthalten [...].“50 Er stellte dann fest, dass die fraglichen Arbeitgeberbeiträge eine gegenwärtige Vergütung darstellten und damit in den Anwendungsbereich der Richtlinie fielen. Er folgerte, dass „auf Grundlage des in Art. 21 der Charta verankerten und durch die Richtlinie 2000/78 konkretisierten Verbots“ zu prüfen sei, ob Unionsrecht einer Vereinbarung wie im Ausgangsverfahren entgegenstehe.51 Bei dieser Prüfung sprach er dann noch mehrfach kurz Art. 21 GRC an. Zunächst bejahte er, dass die Regelung der betrieblichen Altersvorsorge eine Ungleichbehandlung wegen des Alters begründete. Dann prüfte er, ob diese „eine Diskriminierung darstellen kann, die durch das in Art. 21 der Charta verankerte und in der Richtlinie 2000/78 konkretisierte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters untersagt ist“.52 Hierfür ging er zunächst auf eine Rechtfertigung gem. Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG und untersuchte dabei im Detail ihre unterschiedlichen Sprachfassungen. Diese legten nahe, Beitragsstaffelung als nicht erfasst anzusehen. Für eine solche Auslegung sprächen auch allgemeine Systematik und Zweck der Richtlinie. Sie setzte nämlich das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters um (auch hier Erwähnung des Art. 21 GRC), und Art. 6 Abs. 2 als Ausnahm sei daher „eng auszulegen“.53 Der Gerichtshof verneinte daher eine Rechtfertigung gemäß dieser Vorschrift, ließ aber offen, ob eine Rechtfertigung gem. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG möglich sei. Die Staffelung verfolge ein legitimes Ziel im Sinne dieser Vorschrift – insbesondere könnten auch ältere Arbeitnehmer so in relativ kurzer Zeit eine angemessene Altersvorsorge bilden.54 Sie sei in dieser Hinsicht auch geeignet. Ob sie dies in angemessener und erforderlicher 49

EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 19. EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 19. 51 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 31. 52 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 37. 53 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 46. 54 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 62 mit Verweis auf Rn. 58 f. 50

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Weise tue, beurteilte der EuGH nicht abschließend, sondern überließ dies dem nationalen Gericht. Er nannte dabei allerdings Gesichtspunkte, die für die Angemessenheit sprachen – namentlich, dass einerseits ältere Arbeitnehmer in relativ kurzer Zeit ein angemessenes Rentenguthaben ansparen können und andererseits jüngeren Arbeitnehmern auch geringere Belastungen bei ihrem eigenen Anteil auferlegt werden.55 Es sei Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob die Staffelung in „kohärenter und systematischer Weise“ angelegt sei und die Nachteile aus der Ungleichbehandlung (niedrigere Arbeitgeberanteile) durch Vorteile (niedrigere Arbeitnehmeranteile) ausgeglichen werden.56

II. Arbeitsrecht II. Arbeitsrecht

1. Werhof Kern des Falls Werhof57 waren Vorgaben für die Auslegung von so genannten Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen bei Betriebsübergang. In der Entscheidung spielte unter anderem das Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit eine Rolle. Der Fall lag so: Eine Bezugnahmeklausel fand sich im Arbeitsvertrag zwischen Hans Werhof und der DUEWAG AG. Danach galten für das Arbeitsverhältnis die Bestimmungen des Manteltarifvertrages sowie die des jeweilig einschlägigen Lohnabkommens. Individualvertraglich wurden also kollektivvertragliche Bestimmungen inkorporiert. Der Teil des Betriebes, in dem Werhof beschäftig war, wurde veräußert. 2002 wurde eine neuer für die Branche relevanter Tarifvertrag abgeschlossen. Es kam zum Streit, ob dieser für Werhofs Arbeitsverhältnis wirksam würde. Da weder er Gewerkschaftsmitglied noch der neue Arbeitgeber Mitglied des Arbeitgeberverbandes war, konnte dies nur mittels der Bezugnahmeklausel der Fall sein. Diese setzte schließlich ihrem Wortlaut nach nicht voraus, dass die Vertrags55

EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 64. EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 67, 68. 57 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397; Besprechungen und Anmerkungen bei: A. Junker, Der EuGH zum Arbeitsrecht: Betriebsübergang, Gleichbehandlung und Bestandsschutz, EuZW 2006, 524; G. Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473; R. Buschmann, Betriebsübergang – arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifvertrag – gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ArbuR 2006, 204; H. Reichold, Zur Fortgeltung von Tarifverträgen gemäß der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG, JZ 2006, 725; P. Melot de Beauregard, Fluch und Segen arbeitsvertraglicher Verweisungen auf Tarifverträge, NJW 2006, 2522; S. Simon et al., Keine Bindung eines nicht tarifgebundenen Betriebserwerbers an einen nach Betriebsübergang geschlossenen Kollektivvertrag, ZIP 2006, 726; G. Schaub, Die indi-vidualvertragliche Bezugnahme auf Tarifvertragsrecht, in: J.-H. Bauer/H. Buchner (Hg.), Festschrift für Herbert Buchner zum 70. Geburtstag (2009), 787. 56

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parteien auf kollektiver Ebene beteiligt waren. Nach Rechtsprechung des BAG war allerdings § 613a BGB dahingehend auszulegen, dass solche Verweisungsklauseln bei Betriebsübergang nicht dynamisch, sondern statisch zu verstehen seien. Sie bezögen sich demnach lediglich auf den bei Betriebsübergang bestehenden Tarifvertrag, nicht aber auf später abgeschlossene. Dass der Wortlaut der vertraglichen Klauseln eine solche Einschränkung nicht enthalte, stand dem nach Sicht des BAG nicht entgegen. Das LAG Düsseldorf fragte nun den EuGH, ob eine solche Auslegung mit der Richtlinie zum Betriebsübergang58 zu vereinbaren sei. Diese sah in ihrem Art. 3 Abs. 1 vor, dass individualvertragliche Rechte und Pflichten auf den Erwerber des Betriebs übergingen. Bezugnahmeklauseln sind individualvertraglicher Natur. Der EuGH bejahte dennoch die Vereinbarkeit der BAGAuslegung des § 613a mit Unionsrecht. Seine Argumentation begann er dabei mit grundsätzlichen Worten: „Zunächst ist daran zu erinnern, dass ein Vertrag im Allgemeinen durch das Prinzip der Privatautonomie gekennzeichnet ist, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen. Nach diesem Prinzip gelten in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Beklagte nicht Mitglied einer Arbeitgeberorganisation und durch keinen Kollektivvertrag gebunden ist, die Rechte und Pflichten aus einem derartigen Vertrag für sie daher grundsätzlich nicht.“ 59 Allerdings habe der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Richtlinie zur Betriebsüberlassung diesen Grundsatz zum Schutz der Arbeitnehmer eingeschränkt, und von den Bestimmungen zugunsten der Arbeitnehmer dürfte nicht abgewichen werden. Eine Bezugnahmeklausel sei auch von Art. 3 Abs. 1 erfasst. Diesen Art. 3 Abs. 1 legte der Gerichtshof dann aber einschränkend aus. Zum einen könne eine „Klausel, die auf einen Kollektivvertrag verweist, keine weiter gehende Bedeutung haben als dieser Kollektivvertrag“.60 Daher seien die Beschränkungsmöglichkeiten für Kollektivverträge des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie in diesem Fall auf Abs. 1 zu übertragen. Zum anderen sei die Richtlinie gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts auszulegen, und zwar um „der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung Rechnung zu tragen“. 61 Hier sei die negative Vereinigungsfreiheit des Erwerbers zu berücksichtigen: „Würde die vom Kläger vertretene ‚dynamische‘ Auslegung der [...] erwähnten vertraglichen Verweisklausel vorgenommen, so bedeutete dies, dass künftige Kollektivverträge für den Erwerber gälten, der dem Kollektivvertrag nicht angehört, und dass sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt werden könnte.“62 Schließlich würde der Erwerber zum Beitritt 58

Richtlinie 77/187/EWG. EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 23. 60 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 28. 61 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 32. 62 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 34. 59

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zur Arbeitgeberorganisation gedrängt, um irgendwie Einfluss nehmen zu können. Durch die statische Auslegung der Klausel würde dies vermieden. Daher sei keine dynamische Auslegung vorgeschrieben. Mittelbar hatte die negative Vereinigungsfreiheit also Auswirkung auf die Auslegung einer vertraglichen Klausel: Sie sprach gegen eine Auslegung der Richtlinie, die eine spezifische nationale Auslegungsregel untersagen würde. 2. Viking Im Fall Viking63 ging es im Kern um die Vereinbarkeit von Arbeitskampfmaßnahmen mit Grundfreiheiten, und damit gleichzeitig um die Spannung zwischen einem Marktfreiheitsrecht und einem sozialen Grundrecht. Insbesondere die besonders deutliche politische Dimension des Falls sorgte dafür, dass Viking, ebenso wie Laval (dazu noch unten 3.), kontrovers und in weiten rechtswissenschaftlichen Kreisen diskutiert wurde.64 Der Ausgangsfall war folgender: Viking, ein finnisches Unternehmen, betrieb das Schiff Rosella zwischen Helsinki und Tallinn, dessen Besatzung der finnischen Gewerkschaft FSU angehörte. Da das Schiff unter finnischer Flagge fuhr, galt nach finnischem Recht für die Arbeitsverhältnisse der FSU-Tarifvertrag und dessen Lohnbedingungen. Viking plante, das Schiff umflaggen zu lassen, um in den Genuss der estnischen Tarifvertragsbedingungen zu kommen, die niedrigere Lohnkosten bedeutet hätten. FSU forderte, dass trotz Umflaggen weiter63 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806. Anmerkungen und Besprechungen bei: F. Bayreuther, Das Verhältnis zwischen dem nationalen Streikrecht und der EUWirtschaftsverfassung, EuZA 2008, 395; C. Joerges/F. Rödl, Das soziale Defizit des Europäischen Integrationsprojekts, KJ 2008, 149; C. Schubert, Europäische Grundfreiheiten und nationales Arbeitskampfrecht im Konflikt, RdA 2008, 289; H. Wißmann, Zwischenruf: Viking und Laval: EG-Grundfreiheiten über alles?, ArbuR 2009, 149; B. Zwanziger, Arbeitskampf- und Tarifrecht nach den EuGH-Entscheidungen „Laval“ und „Viking“, DB 2008, 294; T.v. Danwitz, Grundfreiheiten und Kollektivautonomie, EuZA 2010, 6; S. Krieger/N. Wiese, Neue Spielregeln für Streiks um Tarifsozialpläne, BB 2010, 568; N. Reich, Free Movement v. Social Rights in an Enlarged Union: The Laval and Viking Cases Before the European Court of Justice, German Law Journal 2008, 125; A.C.L. Davies, One Step Forward, Two Steps Back? The Viking and Laval Cases in the ECJ, 37 Industrial Law Journal (2008), 126; C. Barnard, Viking and Laval: an introduction, 10 Cambridge Yearbook of European Legal Studies (2007-08), 463; A. Hinarejos, Laval and Viking: The Right to Collective Action versus EU Fundamental Freedoms, 8 Human Rights Law Review (2008), 714; L. Azoulai, The Court of Justice and the Social Market Economy: The Emergence of an Ideal and the Conditions for its Realization, 45 Common Market Law Review (2008), 1335; R. Blanpain et al., The Laval and Viking cases: freedom of services and establishment v. industrial conflict in the European Economic Area and Russia (2009); H.-W. Micklitz, Three Questions to the Opponents of the Viking and Laval Judgements, OSE Paper Series May 2012. 64 Für eine besonders kritische Sicht s. etwa Joerges/Rödl, Das soziale Defizit des Europäischen Integrationsprojekts, KJ 2008, 149.

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hin finnisches Tarifvertragsrecht gelten müssen und sich an den Beschäftigungsbedingungen nichts ändern dürfte. Da man sich hierauf nicht einigen konnte, kündigte sie einen Streik an. Zudem wies die International Transport Workers’ Federation (ITF), der auch FSU angehörte, ihre Mitglieder auf Bitte der FSU an, keine Verhandlungen mit Viking zu führen. Damit verfolgte sie ihr Ziel der Verhinderung von Billigflaggen, bei denen kein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Eigentum und Flaggenland besteht. Gegen diese Maßnahmen erhob Viking zunächst Klage vor einem finnischen Gericht, sah anschließend von dieser und den Umflaggungsplänen nach einem Güteverfahren wieder ab, nur um nach Beitritt Estlands zur EU vor dem englischen High Court of Justice erneut zu klagen. Sie machte geltend, durch die Maßnahmen von ITF und FSU in ihrer Niederlassungsfreiheit verletzt zu sein. Der High Court legte dem EuGH gleich zehn detaillierte Fragen vor, deren Inhalt hier im Einzelnen nicht entscheidend ist. Der EuGH prüfte eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit und stellte dabei fest, dass auch Arbeitskampfmaßnahmen („kollektive Maßnahmen, wie die, auf die sich die erste Frage des vorlegenden Gerichts bezieht“) 65 dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit unterfielen. Es gäbe diesbezüglich keine Bereichsausnahme, auch wenn die Gemeinschaft im Allgemeinen keine Zuständigkeit für Arbeitskampfrecht besitze. Die Niederlassungsfreiheit könne in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens auch von einem privaten Unternehmen gegenüber einer Gewerkschaft geltend gemacht werden.66 Allerdings sei das „Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts als Grundrecht anzuerkennen“67 und könne eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen. Konkret führte der EuGH aus, dass „das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer zum Ziel hat, ein berechtigtes Interesse darstellt, das grundsätzlich eine Beschränkung einer der vom Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten rechtfertigen kann [...], und dass der Schutz der Arbeitnehmer zu den bereits vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zählt“.68 Schließlich umfasse die Tätigkeit der Gemeinschaft auch eine „Sozialpolitik“.69 Daher müssten die „Bestimmungen des Vertrags über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele abgewogen werden“.70 Nach diesen grundsätzlichen Feststellungen nahm der EuGH sich dem konkreten Fall an. Die Maßnahme der FSU könne jedenfalls dann nicht als dem Schutz der Arbeitnehmer dienend angesehen und damit 65

EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 47. EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 61. 67 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 44. 68 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 77. 69 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 76. 70 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 77. 66

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gerechtfertigt werden, wenn erwiesen sei, „dass die fraglichen Arbeitsplätze oder Arbeitsbedingungen nicht gefährdet oder ernstlich bedroht waren“.71 Dies festzustellen sei Sache des nationalen Gerichts. Es habe außerdem Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme zur Erreichung des Ziels zu prüfen. Tarifverhandlungen und Tarifverträge seien eins der Hauptmittel der Gewerkschaften zum Schutze ihrer Mitglieder und somit in diesem Sinne geeignet.72 Hinsichtlich der Erforderlichkeit habe das nationale Gericht zu prüfen, ob FSU „nicht über andere, die Niederlassungsfreiheit weniger beschränkende Mittel verfügte, um zu einem Abschluss der Tarifverhandlungen mit Viking zu gelangen“.73 Der EuGH überließ dem High Court also die Auflösung des konkreten Falles, stellte aber die wesentlichen Schritte und Hürden der Prüfung fest. Bezüglich der Maßnahme der ITF gab der EuGH das Ergebnis selbst vor: Diese sei nicht gerechtfertigt, da der Aufruf zur Unterlassung von Verhandlungen unabhängig davon erfolge, ob das Umflaggen Nachteile für Arbeitsplätze oder Arbeitsbedingungen habe.74 3. Laval In der Sache Laval75 ging es um ein ähnliches Spannungsverhältnis wie im Fall Viking: Arbeitskampfmaßnahmen gegen Grundfreiheiten. Aus diesem Grund, wie auch wegen ihres engen zeitlichen Abstandes, werden die Urteile regelmäßig im Zusammenhang diskutiert. Diesmal ging es um die Entsendung von Arbeitnehmern des Unternehmens Laval aus Lettland auf die Baustelle eines schwedischen Unternehmens in Schweden. Für die Mehrheit dieser Arbeitnehmer galt der zwischen Laval und einer lettischen Gewerkschaft geschlossene Tarifvertrag. Verhandlungen zwischen der schwedischen Gewerkschaft Byggnadsarbetareförbundet und Laval, bei denen die Gewerkschaft unter anderem eine Angleichung an schwedisches Lohnniveau forderte, blieben ohne Ergebnis. Daraufhin kam es zu Arbeitskampfmaßnahmen, unter anderem der Blockade der Baustelle. Nachdem die Verhandlungen weiter fruchtlos blieben, begann auch die schwedische Elektrikergewerkschaft mit einer Solidaritätsmaßnahme. Die Ankündigung weiterer Solidaritätsmaßnahmen (der Boykott sämtlicher Baustellen Lavals in Schweden) führte schließlich dazu, dass sich das Unternehmen gänzlich aus dem Land zurückzog. Laval legte Klage vor einem schwedischen Gericht ein, welches dem EuGH die Frage stellte, ob das Verhalten der Bauarbeiter- und Elektrikerge71

EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 81. EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 86. 73 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 87. 74 EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 89. 75 EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845. Für Anmerkungen und Besprechungen s. Fn. 63. 72

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werkschaften gegen die Dienstleistungsfreiheit Lavals verstieß. Die weitere Frage zur Auslegung der Entsenderichtlinie, auf die der EuGH ebenfalls ausführlich einging, ist hier nicht in ihren Details zu verfolgen. Der EuGH stellte jedenfalls fest, dass die Richtlinie im Ergebnis unanwendbar sei. Zur Verletzung der Dienstleistungsfreiheit wiederholte der Gerichtshof die schon in Viking getroffene Feststellung, dass auch Arbeitskampfmaßnahmen den Grundfreiheiten unterfielen. Die Dienstleistungsfreiheit gelte nicht nur für öffentlich-rechtliches Handeln, sondern jedenfalls auch für kollektive Regeln für die Erbringung von Dienstleistungen.76 Die geschilderten Arbeitskampfmaßnahmen stellten eine Beschränkung dieser Freiheit dar. Zur Rechtfertigung dieser Beschränkung ging der Gerichtshof wiederum auf das „Recht zur Durchführung einer kollektiven Maßnahme“ ein. In diesem Recht könne ein zwingender Grund des Allgemeininteresses liegen, der „grundsätzlich eine Beschränkung“ 77 rechtfertigen könne. Schließlich habe die Gemeinschaft selbst auch eine „soziale Zielrichtung“.78 Wiederum betonte der Gerichtshof die Notwendigkeit der Abwägung der Grundfreiheiten „gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele“.79 Eine Abwägung im Sinne einer Gegenüberstellung von Argumenten fand dann aber kaum statt. Der EuGH ging lediglich auf die mit den kollektiven Maßnahmen verfolgten Ziele ein, und befand sie für unzulässig. Denn mit der Entsenderichtlinie sei „ein Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz im Aufnahmemitgliedstaat [bereits] zu beachten“.80 Darüber hinausgehende Forderungen seien nicht zu rechtfertigen. Nach diesem Verständnis legte die Richtlinie also eine Obergrenze fest, die bei der Abwägung primärrechtlicher Vorschriften zu berücksichtigen war. Des Weiteren fehlte es dem EuGH zufolge an Transparenz: Die Lohnverhandlungen, zu den die kollektiven Maßnahmen drängen sollten, seien nicht von „hinreichend genau[en] und zugänglich[en]“ Vorschriften geregelt.81 Der Gerichtshof entschied daher, dass der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit nicht zu rechtfertigen sei. Für das nationale Gericht bestand damit kein Abwägungsspielraum mehr. 4. KHS Die Rechtssache KHS82 betraf unionsrechtliche Vorgaben des Urlaubsrechts, und hierunter auch die Bedeutung des Art. 31 Abs. 2 GRC. Der Arbeitnehmer 76

EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 98. EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 103. 78 EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 105. 79 EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 105. 80 EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 108. 81 EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 110. 82 EuGH Rs. C-214/10 (KHS). Anmerkungen und Besprechungen bei: L. Rudkowski, Erlöschen des wegen Arbeitsunfähigkeit nicht ausgeübten Anspruchs auf Mindest77

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Schulte klagte nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses gegen die KHS AG im August 2008 auf Abgeltung seines Urlaubs für die Jahre 2006, 2007, 2008 (also auf finanzielle Vergütung). Nach dem geltenden Tarifvertrag wäre eine Abgeltung nicht für 2006, sondern nur für 2007 und 2008 möglich gewesen, denn dieser sah ein Verfallen des Urlaubsanspruchs nach 15 Monaten vor. Ein vorhergegangenes Urteil des EuGH in der Sache Schultz-Hoff83 hatte aber nahe gelegt, dass nach Unionsrecht ein Urlaubsanspruch nicht verfallen dürfe, wenn der Arbeitnehmer nie die Möglichkeit hatte, diesen Urlaub zu nehmen. Dies war bei Schulte, seit 2003 arbeitsunfähig, der Fall. Das LAG Hamm fragte den EuGH, ob die Vorgabe aus Schultz-Hoff auch dann gelte, wenn der Arbeitnehmer längerfristig arbeitsunfähig sei. Wenn auch die Feinheiten des Urlaubsrechts hier eigentlich nicht relevant sind, so muss die Argumentation des EuGH doch wenigstens in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden, um die Erwähnung grundrechtlicher Vorschriften einordnen zu können. Der EuGH stellte zunächst fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wie in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG niedergelegt, als ein „bedeutender Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen“84 sei. Art. 7 stehe, wie bereits durch den Gerichtshof entschieden, nicht allen nationalen Regelungen entgegen, die zum Verfall des Anspruchs führen. Der Arbeitnehmer müsse aber tatsächlich die Möglichkeit gehabt haben, den Anspruch auszuüben.85 Diese grundsätzliche Aussage aus SchultzHoff sei nun aber zu „nuancieren“.86 Ein Recht auf unbegrenztes Ansammeln des Jahresurlaubs würde dessen Zweck nicht entsprechen. An dieser Stelle kam der Gerichtshof zum ersten Mal auf Grundrechte zu sprechen: „Mit diesem in Art. 31 Abs. 2 [GRC] und in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch wird nämlich ein doppelter Zweck verfolgt, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen [...].“87 Der EuGH sprach also von einem „Anspruch“, der in der Grund-

jahresurlaub nach Ablauf einer in der nationalen Regelung gesetzten Frist, EuZA 2012, 381; J. Heilmann, Übertragung, Abgeltung und Verfall von Urlaubsansprüchen, ArbuR 2012, 234; M. Franzen, Zeitliche Begrenzung der Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer, NZA 2011, 1403; D. Gehlhaar, Das BAG, der EuGH und der Urlaub, NJW 2012, 271; T. Stiebert/S. Pötters, Anmerkung zu EuGHC-214/10, EuZW 2011, 958. 83 EuGH verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 (Schultz-Hoff). 84 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 23. 85 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 26. 86 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 28. 87 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 31.

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rechtecharta „verankert“ sei.88 Er führte aber nicht näher aus, was dies konkret bedeuten soll. Der Erholungszweck verlangte jedenfalls, so der Gerichtshof, nicht ein unbegrenztes Ansammeln von Urlaub. Über eine gewisse Grenze hinaus fehle nämlich die „positive Wirkung [des Jahresurlaubs] als Erholungszeit“.89 Bei der anschließenden Diskussion der konkreten Dauer von 15 Monaten bemerkte der EuGH noch: „Dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub kommt als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur, wie in Randnr. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, besondere Bedeutung zu, sondern er ist auch in Art 31 Abs. 2 [GRC] ausdrücklich verankert, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird.“ 90 Um dann zu spezifizieren: „Um diesem Anspruch, mit dem der Schutz des Arbeitnehmers bezweckt wird, gerecht zu werden“ müsse der Übertragungszeitraum spezifischen Umständen Rechnung tragen und jedenfalls die Dauer des Bezugszeitraums deutlich überschreiten. Bei 15 Monaten sei dies der Fall. Insbesondere auch unter Berufung auf ein Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation stellte der EuGH dann fest, dass der Zeitraum von 15 Monaten zulässig sei. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG stehe der tarifvertraglichen Verfallsregelung des Ausgangsverfahrens folglich nicht entgegen. In der dieses Ergebnis feststellenden Randnummer war von Grundrechten nicht mehr die Rede. 5. Dominguez Der Fall Dominguez91 ist weniger aufgrund der Urteilsgründe des EuGH von Interesse, sondern mehr durch das, was der Gerichtshof nicht erörterte, und was prominent im Schlussantrag der Generalanwältin Trstenjak vorkam: die genaue Wirkung des Art. 31 Abs. 2 GRC, oder eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes, zwischen Privaten. Auch in diesem Fall ging es um eine Arbeitnehmerin, die nach längerer unfallbedingter Abwesenheit vom Arbeitsplatz eine Ausgleichszahlung verlangte. Nach französischem Recht setzte dies allerdings voraus, dass sie eine effektive Mindestarbeitszeit geleistet hätte, was nicht der Fall war. Die Cour de cassation fragte, ob Art. 7 der 88 Dies kann man so lesen, dass der Urlaubsanspruch „primärrechtlichen Charakter“ hat, also „unmittelbar anzuwenden“ sei – so Stiebert/Pötters, Anmerkung zu EuGHC-214/10, EuZW 2011, 958. 89 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 33. 90 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 37. 91 EuGH Rs. C-282/10 (Dominguez). Anmerkungen und Besprechungen bei: W. Frenz, Anmerkung, DVBl. 2012, 297; A. Wietfeld, Jahresurlaub unabhängig von Mindestarbeitszeit, EuZA 2012, 540; S. Pötters, Anmerkung, EuZW 2012, 345; M. de Mol, Dominguez: ‘A Deafening Silence’, 8 European Constitutional Law Review (2012), 280; L. Pech, Between judicial minimalism and avoidance: The Court of Justice’s sidestepping of fundamental constitutional issues in Römer and Dominguez, 49 Common Market Law Review (2012), 1841.

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Richtlinie 2003/88/EG einer solchen Regelung entgegenstehe. Falls dies der Fall sei, wollte sie auch wissen, ob die europarechtswidrige nationale Regelung in einem Rechtsstreit zwischen Privaten dann unangewendet bleiben sollte. Die Generalanwältin Trstenjak nahm die zweite Frage zum Anlass, umfassend zu diskutieren, ob Art. 31 Abs. 2 GRC oder ein allgemeiner Rechtsgrundsatz auf bezahlten Jahresurlaub die Wirkung haben könnten, dass die nationale Regelung nicht anzuwenden sei. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH könnte eine solche Wirkung bei Rechtsverhältnissen zwischen Privaten jedenfalls nicht von Richtlinien ausgehen. Für Art. 31 Abs. 2 GRC verneinte sie dies insbesondere wegen Art. 51 GRC, den sie so las, dass er Private als Adressaten ihrer Vorschriften ausschließe. Zwar stellte sie dann fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei.92 Eine Anwendbarkeit im Verhältnis zwischen Privaten könne daher nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. 93 Es fehle dem Grundsatz aber an hinreichender Bestimmtheit, weswegen er nicht dazu genutzt werden könnte um nationales Recht unangewendet zu lassen.94 Diese Ausführungen, hier nur ganz kurz wiedergegeben, nahmen mehr als die Hälfte (etwa 100 Randnummern) des Schlussplädoyers ein. Im Urteil des EuGH werden sie in keiner Weise erwähnt. Zwar war die Frage des vorlegenden Gerichts auch nicht ausdrücklich auf Grundrechte gerichtet. Auf sie einzugehen hätte aber nach den Schlussanträgen nahe gelegen, wenn der Gerichtshof nur gewollt hätte. Er beschränkte sich darauf, festzustellen, dass die Anforderung einer Mindestarbeitszeit der Richtlinie zuwiderlaufe. Das nationale Gericht habe anhand aller nach seinem Recht anerkannten Auslegungsmethoden zu prüfen, ob eine richtlinienkonforme Anwendung nationalen Rechts möglich sei. Sei dies nicht der Fall, könne die Richtlinie jedenfalls nicht unmittelbar zwischen Privaten angewendet werden. Der EuGH legte der Cour de cassation aber nahe, zu überprüfen, ob nicht der Arbeitgeber – das Centre informatique du Centre Ouest Atlantique – als staatliche Emanation betrachtet werden könne, sodass die Richtlinie doch anzuwenden sei. Schließlich sei dieser auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit tätig. Ansonsten bliebe nur, Schadensersatz vom Mitgliedstaat nach der Francovich-Rechtsprechung zu verlangen. Die noch in KHS genannte Vorschrift des Art. 31 Abs. 2 GRC wurde mit keinem Wort besprochen. 6. Heimann und Lock Kurze Erwähnung haben hier noch zwei Fälle verdient, die zwar über die bereits genannten Entscheidungen hinaus keine wesentlichen Erkenntnisse 92

Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 114. Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 126. 94 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 142. 93

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brachten, aber als Bestätigung und Konsolidierung der grundrechtlichen Dimension aus KHS verstanden werden können. Für ein vollständiges Bild der Rechtsprechung sind sie hier aufzuführen. Im Fall Heimann95 ging es darum, inwieweit bei Kurzarbeit „auf Null“ (also ohne jede Arbeitsverpflichtung) ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub besteht. Relevant wurde diese Frage nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Herrn Heimann, der eine Abgeltung des Jahresurlaubs verlangte, den er während der Kurzarbeit „auf Null“ nicht in Anspruch genommen hatte. Nach deutschem Recht bestand ein Anspruch nicht, da sich dieser nach der gearbeiteten Zeit (pro rata temporis) richtete und die gearbeitete Zeit null war. Der EuGH nahm sich der Frage an, ob „Art. 31 Abs. 2 der Charta bzw. Art. 7 Abs. 1 der [Arbeitszeitrichtlinie]“96 einer solchen Regelung entgegen ständen. Er verwies darauf, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union sei. Und: „Dieser Anspruch jedes Arbeitnehmers ist als Grundsatz des Sozialrechts der Union in Art. 31 Abs. 2 der Charta ausdrücklich verankert, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird [Verweis u.a. auf KHS].“97 In der folgenden Auslegung ging er aber lediglich auf die Richtlinie und nicht auf Grundrechte ein und befand schließlich, dass Unionsrecht (Richtlinie und Art. 31 Abs. 2 GRC) der deutschen Regelung nicht entgegenstünden, entschied also gegen den Arbeitnehmer. Im Fall Lock fand Art. 31 Abs. 2 GRC ebenfalls Erwähnung.98 Der zugrunde liegende Fall handelte von der Höhe des Arbeitsgehaltes während des Jahresurlaubs und insbesondere davon, inwiefern provisionsbasierte Vergütungen über ein Grundgehalt hinaus für dessen Berechnung zu berücksichtigen sind. Der EuGH wiederholte, soweit hier relevant, nur Bekanntes: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 93/104, die durch die Richtlinie 2003/88 kodifiziert wurde, selbst ausdrücklich gezogen sind [Verweis auf KHS]. Dieses Recht ist im Übrigen in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich verankert, der in Art. 6 Abs. 1 EUV derselbe rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird.“99 Im Weiteren spielten Grundrechte keine Rolle. Der Gerichtshof entschied jedenfalls für den Arbeitnehmer. Es sei mit der Richtlinie nicht zu vereinbaren, während des Jah95

EuGH verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 (Heimann). EuGH verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 (Heimann), Rn. 21. 97 EuGH verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 (Heimann), Rn. 22. 98 EuGH Rs. C-539/12 (Lock). 99 EuGH Rs. C-539/12 (Lock), 96

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resurlaubs lediglich das Grundgehalt zu zahlen, wenn sich das Arbeitsentgelt im Übrigen aus Grundgehalt und Provisionen zusammen setzte. 7. Alemo Herron Der Fall Alemo-Herron100 betraf eine ähnliche, aber nicht identische Konstellation wie der oben besprochene Fall Werhof. Wieder ging es um eine Verweisungsklausel sowie darum, inwieweit die Richtlinie zur Betriebsüberlassung Vorgaben zu deren Auslegung macht. Der Sachverhalt unterschied sich von Werhof insbesondere dadurch, dass nicht ein Teil eines privaten Betriebes, sondern ein Teil einer öffentlichen Einrichtung – das Leisure Department eines Londoner Councils – auf ein Privatunternehmen übertragen wurde. Die Klausel im Vertrag von Mark Alemo Herron verwies auf Arbeitsbedingungen, die auf öffentlicher Ebene ausgehandelt wurden. Der Erwerber, Parkwood Leisure, besaß als privates Unternehmen keine Möglichkeit, auf sie Einfluss zu nehmen. Der Supreme Court des Vereinigten Königreichs fragte den EuGH, ob sich aus Art. 3 besagter Richtlinie eine Pflicht oder ein Hindernis ergebe, die vertragliche Klausel dynamisch auszulegen. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass eine dynamische Auslegung für den Arbeitnehmer günstiger sei. Die Richtlinie diene jedoch nicht ausschließlich dem Schutz der Arbeitnehmerinteressen, sondern solle auch einen „gerechten Ausgleich“101 zwischen diesen Interessen und denen des Erwerbers schaffen. Insbesondere müsse der Erwerber in der Lage sein, „die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen“.102 Eine dynamische Auslegung der Klausel könne den gerechten Ausgleich beeinträchtigen, da sie den Handlungsspielraum des Erwerbers „erheblich einschränke“.103 Außerdem sei die Richtlinie auch im Einklang mit Art. 16 GRC, dem Recht zur unternehmerischen Freiheit, auszulegen. Dieses Grundrecht umfasse „insbesondere die Vertragsfreiheit“, wie sich aus den Erläute100 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron); Anmerkungen und Besprechungen bei: T. Lobinger, EuGH zur dynamischen Bezugnahmeklausel von Tarifverträgen beim Betriebsübergang, NZA 2013, 945; H.-J. Willemsen/T. Grau, Zurück in die Zukunft – Das europäische Aus für dynamische Bezugnahmen nach Betriebsübergang?, NJW 2014, 12; C. Latzel, Unternehmerische Freiheit als Grenze des Arbeitnehmerschutzes – vom Ende dynamischer Bezugnahmen nach Betriebsübergang, RdA 2014, 110; F. Kainer, Gerechter Interessenausgleich und unternehmerische Freiheit: Ende der Dynamik von Bezugnahmeklauseln bei Betriebsübergängen nach Alemo-Herron?, EuZA 2014, 230; J. Prassl, Freedom of Contract as a General Principle of EU Law? Transfers of Undertakings and the Protection of Employer Rights in EU Labour Law, 42 Industrial Law Journal (2013), 434; S. Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167. 101 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), Rn. 25. 102 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron) Rn. 25. 103 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron) Rn. 28.

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rungen ergäbe.104 Dem Erwerber müsse es daher „in Anbetracht der unternehmerischen Freiheit möglich sein [...], im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens, an dem er beteiligt ist, seine Interessen wirksam geltend zu machen und die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln“. 105 Dies sei aber für Parkwood Leisure nicht gegeben, da das Unternehmen nicht im Tarifverhandlungsorgan mitwirken könne. Der Gerichtshof folgert daraus: „Unter diesen Umständen ist die Vertragsfreiheit dieses Erwerbers so erheblich reduziert, dass eine solche Einschränkung den Wesensgehalt seines Rechts auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigen kann.“106 Art. 3 der Richtlinie verwehre daher den Mitgliedstaaten, Klauseln wie die im Ausgangsstreit in dynamischer Auslegung durchzusetzen. 8. AMS In AMS107 ging es sachlich um die Einrichtung einer Arbeitnehmervertretung und rechtlich um die Wirkung des Art. 27 GRC in einem Rechtsstreit zwischen Privaten. Streitpunkt im Ausgangsverfahren war, ob die Association de médiation sociale (ASM), eine gemeinnützige, im Bereich der sozialen Mediation und Kriminalitätsprävention tätige Vereinigung, eine Arbeitnehmervertretung einzurichten hatte. Dafür kam es entscheidend darauf an, ob gewisse Schwellen von Arbeitnehmerzahlen überschritten waren und wie dies zu berechnen war. Nach dem französischen Arbeitsgesetzbuch waren Lehrlinge nicht als Arbeitnehmer zu zählen. Die Gewerkschaftssektion CGT sowie der vermeintlich als Arbeitnehmervertreter gewählte Herr Laboui machten vor dem Tribunal d’instance de Marseille geltend, dass die Regelung des franzö104

EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron) Rn. 32. EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron) Rn. 33. 106 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron) Rn. 35 107 EuGH Rs. C-176/12 (AMS). Anmerkungen und Besprechungen bei: B. Gsell, Keine horizontale Grundrechtswirkung von Art. 27 EUGrdRCh aufgrund sekundärrechtlicher Konkretisierung – EuGH, 15.1.2014, Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), in: C. Alexander (Hg.), Festschrift für Helmut Köhler (2014), 197; J. Heuschmid, Horizontalwirkung von Art. 27 Europäische Grundrechtecharta – Fehlanzeige?, EuZA 2014, 514; A.-C. Mittwoch, EuGH: Bestellung eines Personalvertretungsorgans – keine unmittelbare Anwendung von Art. 27 Grundrechtecharta in einem Rechtsstreit zwischen Privaten, BB 2014, 2493; G. Forst, Neues zur Wirkung der EU-Grundrechtscharta in einem Rechtsstreit zwischen Privaten, FA 2014, 66; L. Lourenço, General Principles of European Union Law and the Charter of Fundamental Rights, European Law Reporter 2013, 302; N. Lazzerini, (Some of) the fundamental rights granted by the Charter may be a source of obligations for private parties: AMS, 51 Common Market Law Review (2014), 907; E. Frantziou, Case C-176/12 Association de Médiation Sociale: Some Reflections on the Horizontal Effect of the Charter and the Reach of Fundamental Employment Rights in the European Union, 10 European Constitutional Law Review (2014), 332. 105

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sischen Rechts unionsrechtswidrig sei. Das Gericht folgte ihrer Argumentation und wandte die entsprechende französische Vorschrift nicht an. Im Rechtsmittelverfahren legte die Cour de cassation dem EuGH die Frage vor, ob das „in Art. 27 der Charta anerkannte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden [kann], um die Rechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen“.108 Der EuGH stellte zunächst fest, dass besagte Richtlinie den relevanten Personenkreis definiere und eine Regelung wie die französische dem gegenüber eine unionsrechtswidrige Einschränkung darstelle, die den Arbeitnehmern die in der Richtlinie enthaltenen Rechte vorenthalte. Die Richtlinie sei auch inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sowie die Umsetzungsfrist abgelaufen, sodass sich Private gegenüber dem Staat unmittelbar auf ihre Bestimmungen berufen könnten. Jedoch gelte dies nicht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten. Das Gericht habe in diesem Fall lediglich die Richtlinie bei der Anwendung nationalen Rechts so weit wie möglich zu berücksichtigen. Jedoch gelte hierfür die Grenze, dass eine solche richtlinienkonforme Auslegung nicht contra legem geschehen dürfe. Da die Cour de Cassation annahm, vor einer solchen Schranke zu stehen, kam es für den EuGH darauf an, ob der Sachverhalt der „Rechtssache Kücükdeveci [...] vergleichbar“ sei und „Art. 27 der Charta für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14“ die Wirkung entfalte, die Anwendung der nationalen Vorschrift auszuschließen. 109 Er führte aus: „Im Hinblick auf Art. 27 der Charta als solchem ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden.“110 Die Anwendbarkeit sei hier eröffnet, da die nationale Regelung eine Umsetzung der hier relevanten Richtlinie darstelle. Aus dem Wortlaut des Art. 27 GRC gehe aber hervor, „dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss“. 111 Schließlich stellte die Vorschrift ausdrücklich auf das „Unionsrecht und [die] einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ ab.112 Das Verbot des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14, nach denen bestimmte Arbeitnehmergruppen nicht von der Berechnung ausgenommen werden dürfen, lasse sich „als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu 108 109 110 111 112

EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 22. EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 41. EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 42. EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 45. EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 44.

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diesem Artikel herleiten“.113 Insofern unterscheide sich der Sachverhalt vom Fall Kücükdeveci. Das in Art. 21 Abs. 1 GRC normierte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verleihe „schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht [...], das er als solches geltend machen kann“.114 Art. 27 GRC „als solcher“ könne daher „in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens“ nicht bewirken, dass die nationale Bestimmung unanwendbar ist.115 Nichts anderes gelte bei einer Betrachtung im Zusammenhang mit der Richtlinie 2002/14/EG. „Da dieser Artikel [Art. 27] nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts anderes gelten.“116 Es bliebe den Benachteiligten lediglich, Schadensersatz nach der Francovich-Rechtsprechung zu verlangen. Anders hatte dies Generalanwalt Cruz Villalón in seinen Schlussanträgen gesehen: Art. 27 GRC konnte seiner Ansicht nach durchaus, konkretisiert durch die Richtlinie, unmittelbar angewandt werden, mit der Folge, dass das entgegenstehende französische Recht nicht anzuwenden gewesen wäre.117 9. Fenoll Die Rechtssache Fenoll118 war eine weitere in der Reihe von Entscheidungen zu Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 GRC. Herr Fenoll war wegen einer Behinderung seit 1996 in einem Centres d’aide par le travail (CAT) untergebracht, einer medizinisch-sozialen Einrichtung ohne Gewinnabsicht. Dort übte er, wie andere ebenfalls, auch berufliche Tätigkeiten aus, die in eine besondere Betreuung eingebettet waren. Nach französischem Recht kam ihm jedoch kein Arbeitnehmerstatus zu, auch hatte er keinen Arbeitsvertrag abgeschlossen. Vom 16. Oktober 2004 bis zum 31. Mai 2005 war er krank geschrieben. Es entstand ein Rechtsstreit darüber, ob und in welcher Höhe er einen Ausgleich für in dieser Zeit nicht genommenen Jahresurlaub verlangen konnte. Nach französischem Recht stand ihm nach Ansicht des Tribunal d’instance d’Avignon diesbezüglich kein Anspruch zu. Die Cour de Cassation, zu der die Sache gelangte, legte dem EuGH diese Fragen vor: ob eine Person, die in einem CAT untergebracht ist, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und des Art. 31 Abs. 2 GRC zu qualifizieren sei, und ob Herr Fenoll sich unmittelbar auf Art. 31 Abs. 2 GRC berufen

113

EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 46. EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 47. 115 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 48. 116 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 49. 117 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 28 ff.; dieses Ergebnis dort in Rn. 80. 118 EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll). 114

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könne, mit der Folge, dass entgegenstehende nationale Vorschriften nicht anzuwenden wären. Der Gerichtshof fasste die Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs des Art. 7 der Richtlinie und des Art. 31 Abs. 2 GRC ausweislich des einleitenden Absatzes zu einer einheitlichen Behandlung zusammen. Schwerpunktmäßig ging er dabei zwar auf die Richtlinie ein, und diskutierte etwa den Telos der Richtlinie und vorangegangene Rechtsprechung zu ihr. Er machte jedoch an mehreren Stellen klar, dass er damit auch eine Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs des Art. 31 Abs. 2 GRC behandelte. Er begründete dies wie folgt: „Wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ist diese Feststellung auch im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs ‚Arbeitnehmer‘ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta geboten, um die Einheitlichkeit des persönlichen Geltungsbereichs des Anspruchs der Arbeitnehmer auf bezahlten Urlaub zu gewährleisten.“119 Der Gerichtshof erinnerte daran, dass das Konzept des Arbeitnehmers „anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen“.120 Er stellte hervor, dass es sich bei den Tätigkeiten des Herrn Fenoll nicht lediglich um Beschäftigung in seinem eigenen Interesse und zu seinem Wohl handelte, sondern einen „gewissen wirtschaftlichen Nutzen“ besäßen.121 Der EuGH schloss daraus, dass jemand wie Herr Fenoll als Arbeitnehmer im Sinne der genannten Vorschriften zu qualifizieren sein kann. Das vorlegende Gericht habe bei seiner Anwendung des Unionsrechts insbesondere darauf zu achten, „ob die vom Betroffenen tatsächlich erbrachten Leistungen als auf dem Beschäftigungsmarkt üblich angesehen werden können“.122 Zu berücksichtigen seien außerdem unter anderem die „verschiedenen Aspekte der Zielsetzung [des] Programms“ des CAT.123 Als Ergebnis seiner Auslegung hielt der EuGH fest, dass „der Begriff ‚Arbeitnehmer‘ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Person, die in ein CAT wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist, einschließen kann“.124 Dazu, ob Art. 31 Abs. 2 unmittelbar angewandt werden könne, äußerte sich der Gerichtshof nicht substanziell. Er befand lediglich, dass dieser schon temporal nicht greifen könne – schließlich spielte der fragliche Sachverhalt vor Inkrafttreten des Lissabonvertrages 2009 und der damit verbunden Verbindlichkeit der Charta. Anders als Generalanwalt Mengozzi äußerte er sich auch nicht zu einem Recht auf bezahlten Jahresurlaub als allgemeinem 119 120 121 122 123 124

EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 26. EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 27. EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 40. EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 42. EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 42. EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 43.

III. Verbraucherrecht

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Grundsatz des Unionsrechts (der Generalanwalt hatte dessen unmittelbare Anwendbarkeit besprochen, aber verneint).125 Der Gerichtshof verwies lediglich darauf, dass nationales Recht richtlinienkonform auszulegen sei. Der entsprechende letzte Absatz nannte auch ausdrücklich nur die richtlinienkonforme und nicht etwa die grundrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts. Sei eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich, bliebe nur die Möglichkeit des Schadensersatzes im Sinne der Francovich-Rechtsprechung, da die Richtlinie in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht unmittelbar angewandt werden könne.

III. Verbraucherrecht III. Verbraucherrecht

1. McDonagh v. Ryanair Im Fall McDonagh v. Ryanair126 standen sich unternehmerische Freiheit und Verbraucherschutz im Kontext der Fluggastrechteverordnung gegenüber. Frau McDonagh hatte einen Flug bei Ryanair gebucht, der wegen des Ausbruchs des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull ausfiel. Sie konnte daher nicht, wie geplant, am 17. April, sondern erst am 24. April 2010 von Faro nach Dublin fliegen. Eine Betreuung durch die Fluggesellschaft erfolgte in diesem Zeitraum nicht. McDonagh verlangte Entschädigung in Höhe der entstandenen Kosten für Unterbringung, Verpflegung etc. Ryanair weigerte sich, und zwar mit der Begründung, dass nicht bloß außergewöhnliche, sondern „höchst außergewöhnliche“ Umstände im Sinne der Verordnung 261/2004/EG bestanden hätten und das Unternehmen daher von der seiner Betreuungspflicht befreit gewesen sei. Der mit dem folgenden Rechtsstreit befasste Dublin Metropolitan District Court reichte beim EuGH Fragen dazu ein, wie es sich unter diesen Umständen hinsichtlich der Betreuungspflicht nach der Fluggastrechteverordnung verhielte. Der EuGH stellte zunächst fest, dass die Verordnung keine Kategorie von „besonders außergewöhnlichen Umständen“ kenne.127 Sie enthalte lediglich den Begriff der außergewöhnlichen Umstände, bei denen die Ausgleichpflicht entfiele, nicht aber die Betreuungspflicht durch Fluggesellschaften gem. Art. 5 der Verordnung Nr. 261/2004. „Außergewöhnlich“ meine auch schon „abseits des Gewöhnlichen“, also gerade auch Umstände, die das Luftfahrtun-

125

Schlussanträge des Generalanwalt P. Mengozzi vom 12. Juni 2014, Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 59 f. 126 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair). Anmerkungen und Besprechungen bei: A. Staudinger, Anmerkung, EuZW 2013, 227; A. Teichmann/R. Menke, Skyfall – Im freien Fall nach Nelson und Folkerts, RRa 2013, 106. 127 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 30.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

ternehmen nicht kontrollieren könne.128 Umstände wie einen Vulkanausbruch hier herauszunehmen liefe damit einerseits dem Wortlaut, andererseits dem Ziel des Verbraucherschutzes zuwider. Die Betreuungspflicht bestehe daher auch in solchen Fällen gem. Art. 5 der Verordnung weiter. Anschließend stellte der EuGH fest, dass diese Pflicht auch nicht zeitlich oder finanziell begrenzt sei. Dann ging er darauf ein, ob sich eine solche Verordnungsauslegung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem Diskriminierungsverbot, dem Grundsatz eines gerechten Interessenausgleichs aus dem Übereinkommen von Montreal sowie Art. 16 und 17 GRC vereinbaren lasse. Er befand, die „unbestreitbaren finanziellen Folgen für die Luftfahrtunternehmen“ seien „gemessen an dem Ziel eines hohen Schutzniveaus für die Fluggäste nicht als unverhältnismäßig“ anzusehen. 129 Die Bedeutung des Verbraucherschutzes könne „negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen“. 130 Schließlich könnten die Unternehmen auch die „Kosten auf die Flugpreise umlegen“. 131 Demnach liege kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz oder eine Anforderung eines gerechten Interessenausgleiches liege nicht vor. Dann ging der Gerichtshof auf Chartagrundrechte ein. Ryanair hatte geltend gemacht, dass Art. 16 und 17 GRC durch eine so weitgehende Auslegung verletzt seien, da den „Unternehmen ein Teil der Früchte ihrer Arbeit und der von ihnen getätigten Investitionen“ entzogen werde.132 Der EuGH antwortete hierauf, dass „unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht nicht absolut gewährleistet werden, sondern im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen sind“.133 Einschränkungen seien gem. Art. 52 GRC möglich, wobei bei mehreren sich gegenüberstehenden Rechten darauf zu achten sei, „dass die Erfordernisse des Schutzes dieser verschiedenen Rechte miteinander in Einklang gebracht werden müssen und dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen besteht“.134 Hier sei Art. 38 GRC zu berücksichtigen, nach dem die Union ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleistete. Für die Abwägung zwischen den Grundrechten verwies der Gerichtshof dann auf seine Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Hieraus ergebe sich, dass die gefundene Auslegung „dem Erfordernis [entspricht], die einzelnen Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen“. 135 Ein Verstoß gegen 128 129 130 131 132 133 134 135

EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 29. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 47. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 48. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 49. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 59. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 60. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 62. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 64.

III. Verbraucherrecht

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Grundrechte liege damit nicht vor. Ryanair hatte demnach eine Entschädigung für die Verletzung der Betreuungspflicht zu zahlen, soweit die Kosten notwendig, angemessen und zumutbar waren. 2. Kušionová Die Rechtssache Kušionová136 ist hier relevant, da der EuGH bei der Auslegung der Klauselrichtlinie 93/13/EWG auf die Grundrechte aus Art. 7, 38 und 47 GRC einging. Der Fall ist einer von mehreren aus jüngster Vergangenheit, bei denen der Gerichtshof im Kontext von Vollstreckungsmaßnahmen in Wohnimmobilien von Verbrauchern auf Grundrechte einging. Größtenteils ging es in diesen Fällen um verfahrensrechtliche Fragen, die hier eigentlich außen vor bleiben sollen. Da die Implikationen insbesondere aus Kušionová aber über Verfahrensrecht hinausreichen, soll dieser Fall hier dargestellt werden. Weitere Fälle werden unter 3.) kurz skizziert. Frau Kušionová hatte einen Verbraucherkredit in Höhe von 10.000 Euro bei SMART Capital aufgenommen und hierfür zur Sicherheit das Wohnhaus ihrer Familie mit einem Grundpfandrecht belastet. Es kam zu einem Gerichtsverfahren, bei dem sie vortrug, dass einzelne Vertragsklauseln sie unangemessen benachteiligten. Der Sicherungsvertrag sah unter anderem vor, dass in das Grundstück ohne gerichtliche Überprüfung vollstreckt werden könnte. Die entsprechende vertragliche Klausel stimmte dabei mit der Regelung des § 151j des slowakischen Zivilgesetzbuches überein. Das slowakische Gericht fragte den EuGH zum einen, ob Unionsrecht diesem § 151j entgegenstehe. Zum anderen wollte es wissen, ob die besagte Vertragsklausel unter die Klauselrichtlinie fallen könne, wenn ihr Wortlaut aus einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift stammt. Der Gerichtshof prüfte zunächst, ob die Bestimmungen der Klauselrichtlinie „im Licht der Art. 38 und 47“ GRC dahingehend auszulegen seien, dass sie § 151j entgegen ständen.137 Schließlich gälten das Gebot der Sicherstellung eines hohen Verbraucherschutzes aus Art. 38 GRC und jenes des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 GRC „für die Umsetzung der Richtlinie“.138 Anschließend erinnerte er daran, wie nach ständiger Rechtsprechung üblich, dass das Schutzsystem der Klauselrichtlinie auf dem Gedanken beru136 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová). Anmerkungen und Besprechungen: M. Fervers, Zur Missbrauchskontrolle bei Bestellung einer Immobiliarsicherheit auf ein Eigenheim, EWiR 2015, 65; E. Ramaekers, The CJEU’s Intervention in Mortgage Enforcement Proceedings: Aziz, Morcillo & García, and Kušionová (2015) – http://papers.ssrn.com/ sol3/papers.cfm?abstract_id=2594766; F. della Negra, The uncertain development of the case-law on consumer protection in mortgage enforcement proceedings: Sánchez Morcillo and Kušionová, 52 Common Market Law Review (2015), 1009. 137 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 46. 138 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 47.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

he, „dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt, was dazu führt, dass er den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimmt, ohne auf deren Inhalt Einfluss zu nehmen“.139 Die sich daran anschließenden Ausführungen bezogen sich auf den § 151j des slowakischen Zivilgesetzbuches als verfahrensrechtliche Vorschrift. Insbesondere prüfte der Gerichtshof, ob die Möglichkeit der Vollstreckung in das Grundstück ohne gerichtliche Überprüfung den durch die Klauselrichtlinie intendierten Schutz vor unangemessener Benachteiligung unmöglich machte oder unangemessen erschwerte. Aufgrund der Allgemeinheit einiger Aussagen des EuGH haben seine hier getätigten Ausführungen Relevanz über Prozessrecht hinaus auch für Vertragsrecht. Er ging nämlich dezidiert auf die Bedeutung der Wohnung und ihren grundrechtlichen Schutz ein, und verlangte die Berücksichtigung dessen bei der Anwendung der Klauselrichtlinie im Allgemeinen. Der Verlust der Familienwohnung sei „nämlich nicht nur geeignet, das Recht des Verbrauchers erheblich zu beeinträchtigen [...], sondern bringt die Familie des betroffenen Verbrauchers in eine besonders gefährdete Lage“.140 Der Gerichtshof stellte fest: „Im Unionsrecht ist die Achtung der Wohnung ein durch Art. 7 der Charta geschütztes Grundrecht, das das vorlegende Gericht bei der Anwendung der Richtlinie 93/13 zu berücksichtigen hat.“141 Eine nähere Auslegung dieses Grundrechts und seiner Auswirkungen auf eine Fallgestaltung wie im Vorlageverfahren führte der EuGH allerdings nicht aus. Auch stellte er nicht fest, dass das slowakische Gesetz unangewendet zu bleiben habe. Vielmehr befand er lediglich, dass es unionsrechtlich zulässig sei, „soweit diese Regelung die Wahrung der dem Verbraucher durch diese Richtlinie verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist“.142 Anschließend ging der Gerichtshof noch auf die Frage ein, inwieweit die Klauselrichtlinie überhaupt einer vertragliche Klausel entgegenstehen kann, die mit einer gesetzlichen Norm übereinstimmt. Gem. Art. 1 Abs. 2 der Klauselrichtlinie sind bindende Rechtsvorschriften nämlich von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen. Diese Ausnahme sei allerdings im Sinne des Verbraucherschutzes eng auszulegen. Der EuGH überließ es dem nationalen Gericht festzustellen, ob § 151j des slowakischen Zivilgesetzbuches unter Art. 1 Abs. 2 der Klauselrichtlinie falle. Zu Grundrechten äußerte sich der Gerichtshof in diesem Abschnitt nicht mehr.

139 140 141 142

EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 48. EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 63. EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 65. EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 68.

III. Verbraucherrecht

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3. Einige kurz skizzierte Fälle außerhalb des materiellen Rechts: Aziz, Sánchez Morcillo und Pohotovost’ Kurz geschildert werden sollen hier einige Fälle, die im Kern Verfahrensrecht behandelten, aber dies im Kontext von Verbraucherverträgen mit vermeintlich unangemessenen Klauseln. Zur Kontextualisierung des Falles Kušionová und seiner Diskussion ist es sinnvoll, sie jedenfalls überblicksartig zu skizzieren. Aziz war chronologisch der erste aus der Reihe hier interessierender Fälle zu unionsrechtlichen Anforderungen an nationales Verfahrensrecht bei Vollstreckungen in Wohnimmobilien von Verbrauchern.143 Herr Aziz hatte mit dem Kreditinstitut Catalunyacaixa einen Darlehensvertrag geschlossen, für den als Sicherheit eine Hypothek an der Wohnimmobilie seiner Familie bestellt wurde. Nachdem er ab Juni 2008 die Raten nicht mehr zahlte, leitete Catalunyacaixa mit Erfolg ein Vollstreckungsverfahren ein. Kurz vor Versteigerung begann Herr Aziz seinerseits ein Verfahren auf Feststellung, dass Klauseln aus dem Darlehensvertrag ihn unangemessen benachteiligten. Das mit dieser Klage befasste Gericht zweifelte daran, ob die Rechtsschutzmöglichkeiten im Hypothekenvollstreckungsverfahren den Schutzanforderungen der Klauselrichtlinie entsprachen. Weder war es nämlich vor dem Vollstreckungsgericht möglich, etwaige Missbräuchlichkeit zu rügen, noch konnte das mit der Feststellungsklage befasste Gericht vorläufige Maßnahmen gegen die Vollstreckung ergreifen. Der EuGH stellte fest, dass die Klauselrichtlinie einer solchen Rechtslage entgegen stehe. Dabei erinnerte er unter anderem daran, dass Ziel der Richtlinie sei, „die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen“.144 Die verfahrensrechtliche Lage mache es aber unmöglich, den mit der Richtlinie intendierten Schutz herzustellen. Diese Unzulänglichkeit bestehe umso mehr, „wenn der Gegenstand, der mit der hypothekarischen Sicherheit belastet ist, wie im Ausgangsverfahren die Wohnung des geschädigten Verbrauchers und seiner Familie ist, weil diese Verbraucherschutzregelung, die auf die Zahlung von Schadensersatz beschränkt ist, den endgültigen und nicht rückgängig zu machenden Verlust der genannten Wohnung nicht verhindern kann“. 145 Ein Verweis auf Art. 7 GRC fehlt hier zwar noch – aber die Entscheidung bereitete gewissermaßen den Boden für den nachfolgenden Fall Kušionová. Der Fall Sánchez Morcillo146 hatte ebenfalls die Auslegung der Klauselrichtlinie zum Gegenstand. Abermals fand hier eine grundrechtliche Norm, Art. 47 GRC, ausdrücklich Erwähnung. Auch in Sánchez Morcillos 143 144 145 146

EuGH Rs. C-415/11 (Aziz). EuGH Rs. C-415/11 (Aziz), Rn. 45. EuGH Rs. C-415/11 (Aziz), Rn. 61. EuGH C-169/14 (Sánchez Morcillo).

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

Wohnimmobilie hatte ein Kreditinstitut die Vollstreckung angestrebt. Inhaltlich ging es in diesem Fall darum, ob eine Vorschrift des spanischen Prozessrechts mit der Klauselrichtlinie vereinbar war. Die Vorschrift besagte, dass ein Verbraucher kein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung im Hypothekenvollstreckungsverfahren einlegen konnte, der die Vollstreckung suchende Unternehmer dagegen schon. Der EuGH ging bei der Auslegung der Klauselrichtlinie auf Art. 47 GRC ein und betonte die Bedeutung der Unterkunft als „grundlegendes Bedürfnis des Verbrauchers“.147 Anders als im Fall Kušionová erwähnter er aber nicht Art. 7 GRC. Fragen des materiellen Privatrechts wurden im Übrigen nicht behandelt. Der EuGH entschied, dass „Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist“, dass er der fraglichen Regelung entgegenstehe.148 Eine verwandte Thematik behandelte schließlich der Fall Pohotovost’.149 Wiederum ging es um die Auslegung der Klauselrichtlinie bei Vollstreckungshandlungen, wenn auch diesmal nicht in Wohnimmobilien. In dem Rechtsstreit war die Frage aufgekommen, ob es unionsrechtlich zulässig sei, dass eine Verbraucherschutzorganisation im Vollstreckungsverfahren nicht als Streithelferin beitreten kann. Wiederum zog der EuGH ausdrücklich ein Chartagrundrecht heran, und stellte fest, dass „Art. 38 der Charta [bestimmt], dass die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellt. Dieses Gebot gilt für die Umsetzung der Richtlinie 93/13.“ 150 Im Übrigen äußerte sich der Gerichtshof jedoch nicht zu Fragen des materiellen Privatrechts oder zu Grundrechten.

IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz

1. Promusicae In Promusicae151 ging es, soweit hier relevant, um das Spannungsfeld zwischen Eigentums- und Datenschutzgrundrecht im Rahmen der Auslegung von 147

EuGH C-169/14 (Sánchez Morcillo), Rn. 38. EuGH C-169/14 (Sánchez Morcillo), Rn. 51. 149 EuGH Rs. C-470/12 (Pohotovost’). 150 EuGH Rs. C-470/12 (Pohotovost’), Rn. 52. 151 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271. Anmerkungen und Besprechungen bei G. Spindler, „Die Tür ist auf“ – Europarechtliche Zulässigkeit von Auskunftsansprüchen gegenüber Providern. Urteilsanmerkung zu EuGH „Promusicae/Telefónica“, GRUR 2008, 574; H. Kahlert, Urheberrecht kontra Datenschutz: EuGH bremst Forderungen nach einem zivilrechtlichen Auskunftsanspruch gegen Internet-Provider über die Identität von Tauschbörsen-Benutzern, European Law Reporter 2008, 78; V. Schoene, EuGH: Bei Datenweitergabe wegen Urheberrechtsverletzungen im Internet muss das nationale Recht den Ausgleich zwischen Datenschutz und Schutz des geistigen Eigentums herstellen, FD-GewRS 2008, 252938; X. Groussot, Rock the KaZaA: Another Clash of 148

IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz

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Richtlinien. Die spanische Promusicae (eine Vereinigung von Produzenten und Herausgebern von Musik) verlangte von Telefónica de España (einem Internetprovider) die Herausgabe von Nutzungsdaten. Sie wollte so Informationen erlangen über die illegale Nutzung von Musikdateien, um dann im zweiten Schritt zivilrechtliche Klagen gegen die Nutzer von Telefónica angehen zu können. Das spanische Recht sah einen diesbezüglichen Auskunftsanspruch jedenfalls für zivilrechtliche Verfahren nicht vor. Das Juzgado de lo Mercantil n°5 de Madrid fragte den EuGH, ob es nach Europarecht, insbesondere dreier Richtlinien sowie Art. 17 Abs. 2 und Art. 47 GRC zulässig sei, hier keine Auskunftspflicht zu statuieren. Die Diskussion der Europarechtslage durch den Gerichtshof bezog sich zunächst auf die Richtlinien 2002/58/EG (nach der nicht gefragt war), 2000/31/EG, 2000/29/EG und 2004/48/EG, und ist insoweit nur in ihren Grundzügen relevant. Der EuGH legte zunächst dar, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation 2002/58/EG es den Mitgliedstaaten jedenfalls nicht untersagte, eine Auskunftspflicht im Rahmen eines zivilrechtlichen Prozesses vorzusehen. 152 Allerdings könne die erstrebte Auskunftspflicht auch nicht aus ihr abgeleitet werden. Ebenso sei in den anderen drei Richtlinien, die ihrerseits den „effektiven Schutz des geistigen Eigentums und insbesondere des Urheberrechts sicherstellen“ sollten, eine solche Pflicht nicht vorgesehen. 153 Anschließend ging er auf die Relevanz der Grundrechte ein. Er verstand die Frage des Gerichts dahingehend, dass er zu untersuchen habe, ob die einen Auskunftsanspruch verneinende Auslegung der Richtlinien „nicht etwa eine Verletzung des Eigentumsrechts und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf zur Folge hat“. 154 Mit anderen Worten ging es für ihn um die Sicherstellung, dass sich die vorher getroffene Richtlinieninterpretation noch im grundrechtskonformen Rahmen hielt. Neben den vom Vorlagegericht genannten Grundrechten sei aber auch das Datenschutzgrundrecht relevant. Nach den Erwägungsgründen der Richtlinie 2002/58/EG solle schließlich „mit dieser Richtlinie gewährleistet werden, dass die in den Art. 7 und 8 [GRC] niedergelegten Rechte uneingeschränkt geachtet werden“.155 Die Frage sei daher, „wie die Erfordernisse des Schutzes verschiedener Grundrechte, nämlich zum einen des Rechts auf Achtung des Fundamntal Rights, 45 Common Market Law Review (2008), 1745; F. Coudert/E. Werkers, In the Aftermath of the Promusicae Case: How to Strike the Balance?, 18 International Journal of Law and Information Technology (2010), 50; K. Brimsted/G. Chesney, The ECJ’s judgement in Promusicae: The unintended consequences – music to the ears of copyright owners or a privacy headache fort he future? A comment, 24 Computer Law & Security Report (2008), 275. 152 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 54. 153 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 57-59. 154 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 61. 155 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 64.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

Privatlebens und zum anderen des Eigentumsrechts und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, miteinander in Einklang gebracht werden können“.156 Ein „angemessenes Gleichgewicht“ sei mittels der Richtlinie selbst sowie mittels mitgliedstaatlicher Umsetzungsakte zu finden.157 Die Richtlinien enthielten Spielräume für die Mitgliedstaaten, damit Umsetzungsmaßnahmen an konkrete Sachverhalte angepasst werden könnten. Der Gerichtshof stellte fest: „Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der genannten Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechte sicherzustellen. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert.“ 158 Zur genauen Findung des Gleichgewichts im konkreten Fall sagte der Gerichtshof dann allerdings nichts mehr – die Kontrolle auf Grundrechtskonformität im konkreten Fall blieb dem spanischen Gericht überlassen. Das Urteil schloss dann mit der Verneinung einer Auskunftspflicht gemäß der Richtlinien, verbunden aber mit dem wiederholten Appell der grundrechtskonformen Umsetzung und Richtlinienauslegung. 2. Scarlet Extended In der Rechtssache Scarlet Extended159 ging es unter anderem um den Konflikt der Grundrechte von Verwertungsgesellschaften einerseits und Internet-

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EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 65. EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 66. 158 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 68. 159 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended). Anmerkungen und Besprechungen bei: G. Spindler, Anmerkung, JZ 2012, 311; T. Hoeren/A. Neubauer, Der EuGH, Netlog und die Haftung für Host-Provider, WRP 2012, 508; A. Wiebe, Providerhaftung in Europa: Neue Denkanstöße durch den EuGH, WRP 2012, 1335; S. Maaßen, Pflicht zur präventiven Filterung des gesamten Datenverkehrs zur Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen nicht mit europäischem Recht vereinbar – „Scarlet Extended“, GRUR-Prax 2011, 535; E. Bonadio/M. Santo, ISPs cannot be ordered to adopt general and preventive filtering systems, 7 Journal of Intellectual Property Law & Practice (2012), 234; V. Keyder, Scarlet Extended, 51 International Legal Materials (2012), 382; M. Rantou, The growing tension between copyright and personal data protection on an online environment: The position of Internet Service Providers according to the European Court of Justice, 3/2 European Journal of Law and Technology (2012), 1; G. González Fuster, Balancing intellectual 157

IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz

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providern und Internetnutzern anderseits. SABAM, eine belgische Verwertungsgesellschaft, hatte von Scarlet, einem Internetprovider, verlangt, den illegalen Austausch von Musikdateien durch ihre Kunden zu unterbinden. Nachdem das Tribunal de première instance de Bruxelles eine Urheberrechtsverletzung festgestellt und ein Sachverständiger die Möglichkeit der Herausfilterung und Sperrung unzulässigen Filesharings durch Scarlet bejaht hatte, wurde Scarlet verurteilt, die Urheberrechtsverletzungen abzustellen. Im Berufungsverfahren legte der Cour d’appel de Bruxelles dem EuGH die Frage vor, ob eine solche Pflicht Scarlets, „auf eigene Kosten zeitlich unbegrenzt für sämtliche Kunden generell und präventiv ein Filtersystem [...] einzurichten“,160 im Einklang mit Unionsrecht stehe. Der Gerichtshof ging zunächst auf die Bestimmungen mehrerer Richtlinien ein und kam zu dem Schluss, dass die Pflicht zur Einführung des streitigen Filtersystems den Provider „zu einer allgemeinen Überwachung verpflichten würde, die nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31/EG verboten ist“.161 Er beließ es jedoch nicht bei der sekundärrechtlichen Erörterung: „Um zu beurteilen, ob diese Anordnung [des belgischen Gerichts erster Instanz] mit dem Unionsrecht in Einklang steht, ist zudem den Anforderungen Rechnung zu tragen, die sich aus dem Schutz der vom vorlegenden Gericht genannten anwendbaren Grundrechte ergeben.“162 Der „Schutz des Rechts des geistigen Eigentums“,163 der mit der Anordnung verfolgt werde, sei in Art. 17 Abs. 2 GRC verankert. Dieses Recht sei aber nicht „schrankenlos und sein Schutz daher [nicht] bedingungslos zu gewährleisten“.164 Vielmehr sei es „gegen den Schutz anderer Grundrechte abzuwägen“.165 Die Mitgliedstaaten hätten „ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz dieses Rechts und dem Schutz der Grundrechte von Personen, die von solchen Maßnahmen betroffen sind, sicherzustellen“.166 Dazu gehöre zum einen der „Schutz der unternehmerischen Freiheit, der Wirtschaftsteilnehmern wie den Providern nach Art. 16 der Charta zukommt“.167 Die Anordnung würde „zu einer qualifizierten Beeinträchtigung“ dieses Rechts führen, sie sei „kompliziert, kostspielig, auf Dauer angelegt und allein auf seine Kosten betrieben“. 168 Schon damit sei ein „angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des geistigen Eigentums property against data protection: a new right’s wavering weight, Revista de Internet, Derecho y Política 2012, 34. 160 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 28. 161 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 40. 162 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 41. 163 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 43. 164 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 43. 165 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 44. 166 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 45. 167 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 46. 168 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 48.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

[...] und dem Schutz der unternehmerischen Freiheit [missachtet]“.169 Außerdem würden auch die Kunden des Providers betroffen, „und zwar in ihre[n] durch die Art. 8 und 11 der Charta geschützten Rechte auf den Schutz personenbezogener Daten und auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen“.170 Es gäbe eine „systematische Prüfung [...] geschützte[r] personenbezogene[r] Daten“, 171 und es bestünde die Gefahr, „dass das System nicht hinreichend zwischen einem unzulässigen und einem zulässigen Inhalt unterscheiden kann“.172 Der Gerichtshof kam somit zu dem Schluss, dass das nationale Gericht mit einer Anordnung wie im Ausgangsverfahren „nicht das Erfordernis beachten würde, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Recht des geistigen Eigentum einerseits und der unternehmerischen Freiheit, dem Recht auf den Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen andererseits zu gewährleisten.“173 Die einschlägigen Richtlinien, „in Verbindung miteinander und ausgelegt anhand der sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergebenden Anforderungen“ seien „dahin auszulegen“ dass sie der Anordnung entgegenstünden, das Filtersystem einzurichten.174 3. SABAM v. Netlog Überschneidungen mit Scarlet Extended gab es im Fall SABAM v. Netlog175 nicht nur bei den Beteiligten. Wieder klagte die Verwertungsgesellschaft SABAM, diesmal aber nicht gegen Scarlet, sondern den Anbieter eines sozialen Netzwerkes, Netlog. Wiederum verlangte SABAM die Herausfilterung unrechtmäßiger Dateien, diesmal hinsichtlich der Nutzung auf der sozialen Plattform. Wieder strebte sie also ein umfassendes Vorgehen zur Verhinderung von Urheberrechtsverstößen durch Dritte an. Diesmal legte die Rechtbank van eerste aanleg te Brussel die Frage vor, ob die Anordnung eines entsprechenden Filtersystems gegen Unionsrecht verstieße. Der EuGH entschied, wenig überraschend, dass dies einer generellen Überwachung im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2000/31/EG – E-Commerce-Richtlinie – 169

EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 49. EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 50. 171 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 51. 172 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 52. 173 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 53. 174 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 54. 175 EuGH Rs. C-360/10 (SABAM). Anmerkungen und Besprechungen bei: A. Metzger, Anmerkung, GRUR 2012, 384; S. Maaßen, EuGH: Betreiber eines sozialen Netzwerks darf nicht zu Filterung des gesamten Datenverkehrs seiner Mitglieder gezwungen werden, GRUR-Prax 2012, 113; Hoeren/Neubauer, Der EuGH, Netlog und die Haftung für HostProvider, WRP 2012, 508; C. Solmecke/A. Dam, Anmerkung, MMR 2012, 337; González Fuster, Balancing intellectual property against data protection: a new right’s wavering weight, Revista de Internet, Derecho y Política 2012, 34. 170

IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz

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gleichkäme und damit richtlinienwidrig sei. Anschließend ging er in paralleler und teilweise in wortgleicher Weise zu Scarlet Extended auf Grundrechte ein. Er stellte abermals fest, dass es ein angemessenes Gleichgewicht zu finden gelte zwischen dem Schutz des Rechts am geistigen Eigentum einerseits und dem Schutz der unternehmerischen Freiheit sowie dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten und auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen. Mit sehr ähnlichen Argumenten wie in Scarlet Extended diskutierte er dies und befand wiederum, dass „das betreffende nationale Gericht, erließe es die Anordnung, nicht das Erfordernis beachten würde, ein angemessenes Gleichgewicht [zwischen diesen Rechten] zu gewährleisten“.176 Folglich seien die Richtlinien „bei einer Gesamtbetrachtung und einer Auslegung im Hinblick auf die sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergebenden Anforderungen dahin auszulegen [...], dass sie der Anordnung an einen Hosting-Anbieter, das streitige Filtersystem einzurichten, entgegenstehen“.177 4. DR und TV2 Danmark Der Fall DR und TV2 Danmark178 ist hier relevant aufgrund der Behandlung des unternehmerischen Freiheitsgrundrechts bei der Auslegung einer Richtlinie zum Urheberrecht. Im Rechtsstreit zwischen der Musikverwaltungsgesellschaft NCB und den dänischen Fernsehunternehmen DR und TV2 Danmark kam es auf die Auslegung des Art. 5 Abs. 2 d) der UrheberrechtsHarmonisierungs-Richtlinie 2001/29/EG an. Dieser betraf eine Ausnahme vom ausschließlichen Vervielfältigungsrecht des Urhebers für so genannte ephemere Aufzeichnungen. Damit ist gemeint, dass Sendeunternehmen Werke vorübergehend aufzeichnen dürften, soweit sie das Senderecht besitzen. Die dänischen Fernsehsender hatten für die Ausstrahlung teilweise auf Programme zurückgegriffen, die von Dritten aufgrund spezifischer Vereinbarungen für sie produziert wurden. Im Kern ging es nun darum, ob sich die Ausnahme auch auf solche Drittproduktionen erstreckte, oder mit anderen Worten, wo die europarechtlichen Grenzen des von NCB geltend gemachte Urheberrechts zu ziehen waren. Bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 2 d) der Richtlinie 2001/29/EG kam es entscheidend auf den 41. Erwägungsgrund der Richtlinie an. Art. 5 Abs. 2 d) setzte nämlich voraus, dass die Sendungen „mit eigenen Mitteln“ der Fern176

EuGH Rs. C-360/10 (SABAM) Rn. 51. EuGH Rs. C-360/10 (SABAM), Rn. 52. 178 EuGH Rs. C-510/10 (DR und TV2 Danmark). Anmerkungen und Besprechungen bei: M. Walter, Anmerkung, MR-Int 2013, 34; M. Stieper, Harmonisierung der Urheberrechtsschranken durch den EuGH?, Zeitschrift für Geistiges Eigentum 2012, 443; E. Rosati, ECJ interprets InfoSoc exception for ephemeral recordings, 7 Journal of Intellectual Property Law & Practice (2012), 557. 177

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sehsender geschaffen wurden. Im besagten Erwägungsgrund fand sich eine Konkretisierung dafür, wann eine Produktion durch Dritte „mit eigenen Mitteln“ geschah. Der EuGH stand dabei vor dem Problem, dass sich verschiedene Sprachfassungen in dieser Konkretisierung signifikant unterschieden. Nach einigen Fassungen fielen unter eigene Mittel auch die Mittel jener Personen, die „im Namen oder unter der Verantwortung des Sendeunternehmens“ handelten. Sie eröffneten damit eine weitere Ausnahme vom ausschließlichen Vervielfältigungsrecht des Urhebers als die meisten anderen Sprachfassungen: In diesen hieß es, sinngemäß „im Namen und unter der Verantwortung des Sendeunternehmens“ – die Voraussetzungen hätten also kumulativ, nicht alternativ vorliegen gemusst. Der EuGH stellte im Folgenden auf das mit dem Erwägungsgrund verfolgte „Ziel“ 179 ab, und befand dass diesem entsprochen werde, wenn im Namen oder unter der Verantwortung des Sendeunternehmens gehandelt würde. Dann ging er auf die Grundrechtecharta ein: „Betrachtet man die dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Auslegungsmöglichkeiten, spricht außerdem für diese Lösung, dass sie den Sendeunternehmen eine umfassendere Nutzung der in Art. 16 [GRC] verbürgten unternehmerischen Freiheit ermöglicht, ohne dabei den Wesensgehalt der Urheberrechte zu beeinträchtigen.“ 180 Dabei beließ er es auch schon hinsichtlich grundrechtlicher Erörterung. Anschließend wiederholte er bloß noch einmal abschließend sein Auslegungsergebnis zu Art. 5 Abs. 2 d) und Erwägungsgrund 41 der Richtlinie 2001/29/EG. Die Ausführungen zu den weiteren Vorlagefragen enthielten für diese Betrachtungen nichts Erhebliches mehr. 5. Sky Österreich In Sky Österreich 181 prüfte der EuGH ausführlich die Vereinbarkeit einer Vorschrift der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste mit Art. 16 und 17 GRC. Dem lag folgender Ausgangssachverhalt zugrunde: Sky Österreich besaß die Exklusivrechte für die Ausstrahlung der Europa League in Österreich. Zunächst schloss Sky mit dem ORF einen Vertrag, nach dem dieser gegen Entgelt Kurzberichte der Fußballspiele ausstrahlen durfte. Nach Auslaufen des Vertrages entschied die KommAustria, dass Sky verpflichtet sei, 179

EuGH Rs. C-510/10 (DR und TV2 Danmark), Rn. 55. EuGH Rs. C-510/10 (DR und TV2 Danmark), Rn. 55. 181 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich). Anmerkungen und Besprechungen bei: G. Ziegenhorn, EU-Grundrechte: Beschränkung der Kostenerstattung für Kurzberichterstattung über Ereignisse von großem öffentlichen Interesse; Anmerkung zum Urteil vom 22.1.2013 – C-283/11, EuZW 2013, 351; O. Echt, Das Recht auf unentgeltliche Kurzberichterstattung im Fernsehen, European Law Review 2013, 167; P. Heermann, Anmerkung, K&R 2013, 179; W. Hins, The freedom to conduct a business and the right to receive information for free: Sky Österreich, 51 Common Market Law Review (2014), 665. 180

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dem ORF ein Kurzerstattungsrecht einzuräumen, und zwar ohne Anspruch auf ein Entgelt, das die Kosten übersteige, die unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs zum Satellitensignal verbunden seien. Diese beliefen sich konkret auf 0 Euro, das Entgelt verhielte sich entsprechend. Damit setzte sie die Regel des Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13/EG um, der bestimmte, dass jedem Fernsehveranstalter in der Union die Kurzberichterstattung gestattet sein muss, und dies mit bloß solcher Kostenerstattung, wie von der KommAustria befunden. Der per Berufung gegen diese Entscheidung bemühte Bundeskommunikationssenat legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13/EU mit Art. 16 und 17 GRC zu vereinbaren sei. Der EuGH nahm sich ausführlich der Vereinbarkeit dieser Norm mit besagten Grundrechten an. Zunächst ging er auf Art. 17 GRC, das Eigentumsgrundrecht, ein. Dieses beziehe sich nicht schon auf bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten, sondern auf „vermögenswerte Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition“ ergebe.182 Exklusivrechte würden Fernsehveranstaltern per Vertrag eingeräumt und gäben ihnen ein alleiniges Übertragungsrecht. Insofern handele es sich durchaus um vermögenswerte Rechte. Allerdings könne durch einen Vertrag gar nicht erst eine von Art. 17 GRC geschützte Rechtsposition geschafft werden, wenn eine solche dem zwingenden Inhalt der Richtlinie 2007/65/EG zuwiderlaufe. Ein Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte könne sich daher unter Umständen wie im Ausgangsverfahren nicht auf Art. 17 GRC berufen. Der Prüfung des Art. 16 GRC widmete der EuGH dann den für ihn weiten Umfang von 27 Randnummern. Die nach dieser Vorschrift gesicherte unternehmerische Freiheit umfasse „die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb“183 – wie aus den offiziellen Erläuterungen hervorgehe. Die Vertragsfreiheit umfasse „die freie Wahl des Geschäftspartners [...] sowie die Freiheit, den Preis für eine Leistung festzulegen“.184 Diese Freiheiten könnten aufgrund Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13/EU nicht ausgeübt werden. Die unternehmerische Freiheit gelte allerdings nicht „schrankenlos, sondern ist im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen“.185 Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshof und aus Art. 52 Abs. 1 GRC. Die Richtlinienvorschrift taste nicht den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit an, denn der Inhaber könne sein Recht immer noch selbst verwerten oder es vertraglich veräußern. Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit sei festzustellen, dass die exklusive Übertragung von Ereignissen zunehme und dies der Öffentlichkeit den Zugriff auf Informationen erschwere. 182 183 184 185

EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 34. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 42. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 43. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 45.

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Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13/EU ziele darauf ab, das Informationsgrundrecht aus Art. 11 Abs. 1 GRC zu wahren sowie den gem. Art. 11 Abs. 2 GRC geschützten Pluralismus der Medien zu fördern. Dies stelle „ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel dar[...], dessen Bedeutung in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht genug betont werden“ könne.186 Die Richtlinienvorschrift sei zur Verfolgung dieses Ziels auch geeignet. Der Zugang zur Kurzübertragung sei Fernsehsendern garantiert, „ohne dass es auf ihre Marktmacht und Finanzkraft oder auf den für den Erwerb der exklusiven Fernsehübertragungsrechte gezahlten Preis, die Vertragsverhandlungen mit den Inhabern solcher Rechte oder die Größe der fraglichen Ereignisse“ ankomme.187 Auch die Erforderlichkeit der Regelung bejahte der Gerichtshof und schloss daran an: Der Unionsgesetzgeber habe „die unternehmerische Freiheit auf der einen und das Grundrecht der Unionsbürger auf Information sowie die Freiheit und den Pluralismus der Medien auf der anderen Seite gegeneinander abzuwägen“.188 Es müssten die „Erfordernisse des Schutzes dieser verschiedenen Rechte und Freiheiten miteinander in Einklang gebracht werden“ sowie ein „angemessenes Gleichgewicht“ zwischen ihnen bestehen.189 Diese Erfordernisse sah der EuGH als erfüllt an: Die Kurzberichterstattung dürfe nur in Nachrichtensendungen erfolgen, sei zeitlich begrenzt und die Quelle der Ausschnitte müsse angegeben werden, was positive Werbewirkung für Inhaber wie Sky haben könnte. Im Übrigen sei die entgeltliche Verwertung der Exklusivrechte möglich und eine mögliche Wertminderung könne beim Erwerb der Rechte eingepreist werden. Der Gerichtshof schlussfolgerte, dass „es dem Unionsgesetzgeber frei [stand], Bestimmungen wie die in Art. 15 der Richtlinie 2010/13/EU zu erlassen“.190 Die Vorschrift befand er damit für primärrechtskonform. 6. Telekabel In Telekabel191 behandelte der EuGH die Problematik von Urheberrechten im Internet und damit gleichzeitig ein ähnliches grundrechtliches Spannungsfeld 186

EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 52. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 53. 188 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 59. 189 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 60. 190 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 66. 191 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel). Anmerkungen und Besprechungen bei: G. Spindler, Zivilrechtliche Sperrverfügungen gegen Access Provider nach dem EuGH-Urteil „UPC Telekabel“, GRUR 2014, 826; J. Marly, Anmerkung, GRUR 2014, 468; H.-P. Roth, Zur Pflicht von Access-Providern, ihren Kunden den Zugang zu rechtsverletzend zugänglich gemachten Inhalten zu sperren, MMR 2014, 399; H. Karl, Anmerkung, EuZW 2014, 388; G. Dore, And they lived happily ever after UPC Telekabel: a copyright fairy tale or a chance to strike a fair balance?, 5 Queen Mary Journal of Intellectual Property (2015), 226; C. Angelopoulos, Are blocking injunctions against ISPs allowed in Europe? 187

IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz

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wie schon in Scarlet Extended und SABAM v. Netlog. Dem lag folgender Ausgangsfall zugrunde: Zwei Filmproduktionsgesellschaften hatten eine gerichtliche Anordnung gegen den Internetprovider UPC Telekabel erwirkt, der zufolge letzterer den Zugang seiner Kunden auf bestimmte Seiten zu sperren hatte. Auf diesen Seiten waren urheberrechtswidrig Filme der Produktionsgesellschaften zum Download oder Streaming verfügbar. Im Revisionsverfahren legte der österreichische Oberste Gerichtshof dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob eine solche Anordnung mit Unionsrecht und insbesondere auch den EU-Grundrechten vereinbar ist, wenn sie keine Angabe dazu enthält, welche Maßnahmen der Provider zu ergreifen hat und er Beugestrafen durch den Nachweis abwenden kann, alle zumutbaren Maßnahmen unternommen zu haben. Der EuGH nahm sich ausführlich der Frage an, ob Unionsgrundrechte einer solchen Anordnung entgegenstünden und wie die einschlägigen Grundrechte hier abzuwägen seien. Bei einer Anordnung, die nach Art. 8 Abs. 3 der Urheberrechts-Harmonisierungs-Richtlinie 2001/29/EG erginge, sei nämlich „den Anforderungen Rechnung zu tragen, die sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergeben“. 192 Im Fall kollidierender Grundrechte hätten die Mitgliedstaaten bei Umsetzung der Richtlinie ein angemessenes Gleichgewicht zwischen diesen sicherzustellen. Es stünden sich das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte als Teil des Rechts des geistigen Eigentums gem. Art. 17 Abs. 2 GRC einerseits und die unternehmerische Freiheit der Provider gem. Art. 16 GRC sowie die Informationsfreiheit der Internetnutzer gem. Art. 11 GRC andererseits gegenüber. Die unternehmerische Freiheit sei durch die fragliche Anordnung beschränkt, ihr Wesensgehalt aber unangetastet. Denn trotz möglicherweise komplexer, kostspieliger zu ergreifender Maßnahmen könne der Provider die konkreten Maßnahmen immer noch selbst bestimmen und sich durch Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen von der Haftung befreien. Anschließend ging der EuGH auf die Informationsfreiheit ein: Der Provider als Adressat der gerichtlichen Anordnung habe „bei der Wahl der Maßnahmen [...] auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge [zu] tragen“. 193 Der Gerichtshof stellte dann konkrete Anforderungen für die Maßnahmen auf: Diese müssten „zielorientiert“194 in dem Sinne sein, dass sie Urheberrechte schützten, ohne den Zugang zu rechtmäßigen Inhalten einzuschränken. Denn: „Andernfalls wäre der Eingriff des Anbieters in die Informationsfreiheit dieser Copyright enforcement in the post-Telekabel EU legal landscape, 9 Journal of Intellectual Property Law & Practice (2014), 812; T.-E. Synodinou, Intermediaries’ liability for online copyright infringement in the EU: Evolutions and confusions, 31 Computer Law & Security Review (2015), 57. 192 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 45. 193 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 55. 194 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 56.

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Nutzer gemessen am verfolgten Ziel nicht gerechtfertigt.“ 195 Mit anderen Worten tat sich hier eine zweite, inzidente Stufe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auf – nämlich bezüglich des Eingriffs des Providers in ein Grundrecht der Nutzer. Ob dies der Fall sei, hätten jedenfalls nationale Gerichte zu prüfen. Die Nutzer müssten nach nationalen Vorschriften außerdem die Möglichkeit haben, solche Einschränkungen gerichtlich anzugreifen. Anschließend kam der EuGH auf die andere Seite, das Recht des geistigen Eigentums zu sprechen. Problematisch war diesbezüglich, dass die Durchführung der Anordnung nicht notwendig zum vollständigen Schutz dessen führte, da Umgehungen nicht technisch auszuschließen seien. Allerdings sei der Schutz des Grundrechts nicht „notwendigerweise bedingungslos zu gewährleisten“.196 Es müsse lediglich, aber immerhin, erschwert werden, unerlaubt auf Schutzgegenstände zuzugreifen. Schlussendlich entschied der EuGH daher, dass die fragliche gerichtliche Anordnung jedenfalls dann grundrechtskonform sei, wenn nicht unnötig der Zugang zu rechtmäßigen Inhalten vorenthalten werden und unerlaubte Zugriffe zumindest erschwert werden beziehungsweise Internetnutzer von solchen Zugriffen zuverlässig abgehalten werden. Dabei ist noch zu bemerken, dass der Gerichtshof in dieser Schlussfolgerung allein von Grundrechten sprach, ohne auf die Urheberrechts-HarmonisierungsRichtlinie einzugehen. 7. Google Spain Der Fall Google Spain,197 bei dem es in der Sache um die Entfernung von Sucheinträgen bei Google ging, schaffte es nicht nur in die Aufmerksamkeit

195

EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 56. EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 61. 197 EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain). Anmerkungen und Besprechungen bei: T. Sörup, EuGH: Löschungsanspruch gegen Google – „Recht auf Vergessen”. Anmerkung, MMR 2014, 464; J. Kühling, Rückkehr des Rechts: Verpflichtung von Google & Co. zu Datenschutz, EuZW 2014, 527; E. Frantziou, Further Developments in the Right to be Forgotten: The European Court of Justice’s Judgment in Case C-131/12, Google Spain, SL, Google Inc v Agencia Espanola de Proteccion de Datos, 14 Human Rights Law Review (2014), 761; W.G. Voss, The Right to Be Forgotten in the European Union: Enforcement in the Court of Justice and Amendment to the Proposed General Data Protection Regulation, 18 Journal of Internet Law (2014), 3; J.W. Kropf, Google Spain SL v. Agencia Española de Protección de Datos (AEPD), 108 The American Journal of International Law (2014), 502; P. van Eecke/A. Cornette, What the CJEU has actually decided in Google Spain SL, Google Inc. v. Agencia Española de Protección de Datos, Mario Costeja González, No. C-131/12, 15 Computer Law Review International (2014), 101; E. Gibson, Digital Rights Ireland Ltd. v. Minister for Communications & Google Spain SL v. Agencia Española de Protección de Datos (C.J.E.U.), Introductory Note, 53 International Legal Materials (2014), 889; D. Erdos, From the Scylla of Restriction to the Charybdis of License? Exploring the Present and Future Scope of the ʻSpecial Purposesʼ 196

IV. Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz

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der breiteren Öffentlichkeit,198 sondern enthielt auch Relevantes hinsichtlich des Datenschutzgrundrechtes in Privatrechtsverhältnissen. Ein spanischer Bürger hatte bei der spanische Datenschutzagentur AEPD Beschwerde unter anderem gegen Google eingelegt und verlangte anzuordnen, dass bestimmte Links, die seine Person betrafen, nicht als Suchergebnis angezeigt wurden. Konkret ging es um Berichte über die Versteigerung eines Grundstücks im Jahr 1998 aufgrund unerfüllter Sozialversicherungsforderungen. Dieser Beschwerde wurde statt gegeben. Daraufhin legte Google Berufung bei der Audiencia Nacional ein, welche wiederum eine Vorlage an den EuGH stellte. In mehreren umfangreichen Fragen ging es dabei im Kern darum, welche Verpflichtungen Suchmaschinenbetreiber in solchen Fällen nach Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 95/46/EG, treffen. Zu Beginn ging der EuGH ausführlich auf den sachlichen Anwendungsbereich der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG ein. Diese Ausführungen sind hier nicht weiter entscheidend, und so genügt es das Ergebnis festzuhalten: Suchmaschinenanbieter verarbeiteten personenbezogene Daten, weswegen die sachliche Anwendbarkeit der Richtlinie gegeben sei. Ferner begründete der Gerichtshof ausführlich, dass die Niederlassung Google Spain auch die Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 a) der Richtlinie 95/46/EG erfüllte und somit die Richtlinie auch in räumlicher Hinsicht anwendbar sei. Dies begründete er unter anderem damit, dass diese Norm im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie, „einen wirksamen und umfassenden Schutz der Grundfreiheiten und Grundrechte natürlicher Personen, insbesondere des Rechts auf Privatleben, zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden“ dürfe.199 Die daran anschließenden Erörterungen zu den konkreten Pflichten von Suchmaschenbetreibern waren dann wesentlich stärker von grundrechtlicher Argumentation durchdrungen. Die Datenschutzrichtlinie sei „im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, und nun in der Charta verankert sind“.200 Hier seien Art. 7 GRC, das Recht auf Achtung des Privatlebens, und Art. 8 GRC, das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten, einschlägig. Dabei ging der EuGH ins grundrechtliche Detail: „In [Art. 8] Abs. 2 und 3 [GRC...] wird präzisiert, dass diese Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten Grundlage verarbeitet werden dürfen, dass jede Person das Recht hat, Auskunft über die sie betreffenden Daten zu erhalten und die Berichtigung Freedom of Expression Shield in European Data Protection, 52 Common Market Law Review (2015), 119. 198 Etwa SZ vom 14. Mai 2014, 2; FAZ vom 14. Mai 2014, 9. 199 EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 53. 200 EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 68.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

der Daten zu erwirken, und dass die Einhaltung dieser Vorschriften von einer unabhängigen Stelle überwacht wird. Diese Erfordernisse werden insbesondere durch die Art. 6, 7, 12, 14 und 28 der Richtlinie 95/46 durchgeführt.“201 Die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Suchmaschinenbetreiber könne diese Grundrechte „erheblich beeinträchtigen“. 202 Ein potenziell so schwerer Eingriff könne auch „nicht allein mit dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers“ gerechtfertigt werden. 203 Je nach konkreter Information sei zwischen wirtschaftlichem Interesse und dem berechtigten Informationsinteresse von Internetnutzern einerseits und den Grundrechten aus Art. 7 und 8 GRC andererseits ein „angemessener Ausgleich“ zu finden. Diese „Interessenabwägung“204 könne sich im Übrigen auch von jener bezüglich der verlinkten Webseite (im Ausgangsverfahren ein Artikel der Zeitschrift Vanguardia) unterscheiden. Die „Aufnahme einer Internetseite“ in eine Liste von Suchergebnissen könne „einen stärkeren Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens der betroffenen Person darstellen als die Veröffentlichung durch den Herausgeber auf der Internetseite“.205 Der Gerichtshof stellte daher nach solch grundrechtlicher Argumentation fest, dass Art. 12 b) und 14 Abs. 1 a) der Richtlinie eine Pflicht zur Löschung von Links enthielten, so denn ihre näheren Voraussetzungen erfüllt seien. Schlussendlich ging der EuGH noch auf das sogenannte „Recht auf Vergessen“ ein, das heißt die Pflicht zur Löschung insbesondere älterer Einträge gem. Art. 12 b) und 14 Abs. 1 a) der Richtlinie. Dabei stellte er fest, dass die Grundrechte aus Art. 7 und 8 GRC das wirtschaftliche Interesse des Suchmaschinenbetreibers und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit „grundsätzlich [...] überwiegen“.206 Im Fall des Ausgangsverfahrens sei der Artikel vor 16 Jahren veröffentlicht wurde und bestehe auch anscheinend kein besonderes Informationsinteresse. Man könne daher davon ausgehen, dass ein „Recht darauf“,207 dass diese Informationen nicht mehr mit dem Namen in den Suchergebnissen verknüpft würden, bestehe. In solch einem Fall könne man gem. Art. 12 b) und 14 Abs. 1 a) der Richtlinie die Entfernung der Links verlangen. Dies im Einzelnen zu prüfen überließ der EuGH allerdings dem nationalen Gericht.

201 202 203 204 205 206 207

EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 69. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 80. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 81. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 86. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 87. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 97. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 98.

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8. Deckmyn Schlussendlich verdient noch der Fall Deckmyn Erwähnung.208 In einem urheberrechtlichen Kontext problematisierte der EuGH hier das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Diskriminierungsverbot. Der Ausgangsstreit drehte sich darum, ob ein Comiczeichner (beziehungsweise seine Erben) gegen die Veröffentlichung einer Parodie einer seiner Zeichnungen vorgehen konnte. Es war der Inhalt der Parodie, an dem die Erben Anstoß nahmen. In der ursprünglichen Zeichnung wirft eine Figur Geld auf einen flämischen Platz herab, und die Umstehenden versuchen es in einer chaotischen Szene aufzusammeln. Ein Mitglied der rechtsextremen Partei Vlaamse Belang nutzte die Zeichnung als Grundlage, tauschte die Sammelnden durch verschleierte und farbige Personen und den Werfenden durch den Bürgermeister von Gent aus. Nach belgischem Recht kann sich ein Urheber Parodien nicht widersetzen. Der belgische Gesetzgeber hatte insoweit von einer Ausnahmemöglichkeit nach Art. 5 Abs. 3 k) der Urheberrechterichtlinie Gebrauch gemacht. Der Hof van beroep te Brussel fragte den EuGH vor diesem Hintergrund, ob es sich bei „Parodie“ um einen autonomen unionsrechtlichen Begriff handelte und welche Merkmale dieser im Einzelnen aufweise. Der Gerichtshof bejahte die erste Frage und ging dann darauf ein, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Werk als Parodie gelte. Dies ist hier nur insoweit von Interesse, wie er dabei Grundrechte thematisierte. Zwar hatte das belgische Gericht nicht nach deren Implikationen gefragt. Dass der Gerichtshof diese aber für relevant hielt, war schon deutlich geworden, als er während des Verfahrens die Parteien explizit dazu aufforderte, zu den Wirkungen mehrerer EU-Grundrechte Stellung zu nehmen.209 Im Urteil wies der EuGH dann darauf hin, dass die Urheberrechtsrichtlinie ausweislich ihres dritten Erwägungsgrundes im Zusammenhang mit „der Beachtung der tragenden Grundsätze des Rechts“ stehe, zu der unter anderem ausdrücklich das geistige Eigentum und die Meinungsfreiheit gehörten.210 Aus den Erwägungsgründen ergebe sich außerdem, dass mit der Ausnahmeregel zu Parodien ein „angemessener Ausgleich“ zwischen den Rechten und Interessen der beteiligten Parteien gefunden werden sollte. Ob die Ausnahme dies in einem konkreten Fall erfülle, sei anhand „sämtliche[r] Umstände des Einzelfalls“ zu 208

EuGH Rs. C-201/13 (Deckmyn). Anmerkungen und Besprechungen bei: K. Riesenhuber, EuGH: Parodie als eigenständige Kategorie des Unionsrechts, LMK 2014, 363019; B.v. Becker, Das EuGH-Urteil „Vrijheidsfonds/Vandersteen“ und die Folgen für das deutsche Recht, GRUR 2015, 336; D. Slopek, Begriff und Grenzen der Parodiefreiheit, GRUR-Prax 2014, 442; C. Unseld, Anmerkung, EuZW 2014, 914; U. Kelp, Urheberrecht und Parodie im Gemeinschaftsrecht, IPRB 2014, 260; E. Rosati, Just a laughing matter? Why the decision in Deckmyn is broader than parody, 52 Common Market Law Review (2015), 511. 209 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn. 23. 210 EuGH Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn. 25.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

beurteilen. Insbesondere könne das in Art. 21 GRC verankerte Verbot der Diskriminierung aufgrund des Rasse, der Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft zu berücksichtigen sein. Urheber hätten „ein berechtigtes Interesse daran, dass das geschützte Werk nicht mit [diskriminierenden] Aussagen in Verbindung gebracht wird“.211 Der EuGH überließ es dem belgischen Gericht zu beurteilen, ob die konkrete Zeichnung tatsächlich mit solchen Aussagen in Verbindung gebracht werde. Das Vorlagegericht habe dann auch zu beurteilen, ob die Parodie-Ausnahme dann einen angemessenen Ausgleich gewährleiste zwischen den „Interessen und Rechten“ der Urheber und der „freien Meinungsäußerung des Nutzers“. Damit folgte der Gerichtshof im Ergebnis den Schlussanträgen des Generalanwaltes, der ebenfalls auf besagte Grundrechte eingegangen war212 und es als Sache des vorlegenden Gerichts angesehen hatte, die Abwägung vorzunehmen.213

V. Sonstiges V. Sonstiges

1. Kokopelli Der Fall Kokopelli214 spielte im europäischen Saatgutrecht und betraf unter anderem dessen Kompatibilität mit Grundfreiheiten und Grundrechten. Als einzige der hier vorgestellten Entscheidung, die im weiteren Sinne dem Agrarrecht zugeordnet werden kann, ist sie etwas exotisch und daher womöglich mit Vorsicht zu betrachten.215 Da der Ausgangsrechtsstreit aus dem Recht über unlauteren Wettbewerb stammte, soll sie hier aber jedenfalls nicht außen vor bleiben. Parteien des Ausgangsrechtsstreites waren zwei Private: die Association Kokopelli, eine Vereinigung, die ohne Erwerbszweck biologi211 212

EuGH Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn. 30. Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn.

71 ff.

213

Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn. 87 f. EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli). Dazu: A. Metzger, Gültigkeit der Richtlinien über den Verkehr mit Gemüsesaatgut, Anmerkung zu EuGH Rs. C-59/11, 2012, 903; X. Groussot et al., Weak Right, Strong Court – The Freedom to Conduct Business and the EU Charter of Fundamental Rights, Lund University Legal Research Paper Series No 01/2014 215 Zu den Besonderheiten des europäischen Agrarrechtes im Kontext der europäischen Wirtschaftsverfassung P. VerLoren van Themaat, Die Aufgabenverteilung zwischen dem Gesetzgeber und dem Europäischen Gerichtshof bei der Gestaltung der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaften, in: E.-J. Mestmäcker (Hg.), Eine Ordnungspolitik für Europa. Festschrift für Hans von der Groeben (1987), 425; E.-J. Mestmäcker, Auf dem Wege zu einer Ordnungspolitik für Europa, in: E.-J. Mestmäcker (Hg.), Eine Ordnungspolitik für Europa. Festschrift für Hans von der Groeben (1987), 9, 18f.; dazu einordnend Micklitz, Kapitel 24. Multi-Level Governance und Wirtschaftsverfassung, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1792, 1797 f. 214

V. Sonstiges

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sches Saatgut alter Gemüse und Blumensorten verkaufte, welche in Frankreich wenig angebaut wurden, und Graines Baumaux SAS, ein konventioneller Händler von Blumen- und Gemüsesamen. Baumaux störte sich an den durch Kokopelli angebotenen Saatgutsorten. Dazu muss man wissen, dass Saatgut nach europäischem (wie auch nach dem dieses umsetzenden französischen) Recht zulassungspflichtig ist. Die Zulassung neuer Sorten ist eng reglementiert und unter anderem an einen Produktivitätszuwachs gegenüber bisher verwendeter Sorten geknüpft.216 Für traditionelle Sorten gibt es lediglich enge Ausnahmeregelungen. Das Tribunal de grande instance de Nancy folgte der Argumentation Baumaux’ und verurteilte Kokopelli mangels der Zulassung des Saatguts zu Schadensersatz wegen unlauteren Wettbewerbs. Im Berufungsverfahren fragte die Cour d’appel de Nancy den EuGH, ob die das Saatgutrecht betreffenden Richtlinien, die hier entscheidend waren, mit „Grundrechten und -prinzipien der Europäischen Union, nämlich [der] freien wirtschaftlichen Betätigung, [der] Verhältnismäßigkeit, [der] Gleichbehandlung oder Nichtdiskriminierung [sowie dem] freien Warenverkehr“ zu vereinbaren seien.217 Generalanwältin Kokott befand in ihren Schlussanträgen, dass das Verbot des Verkaufs nicht zugelassenen Saatgutes außer Verhältnis zu seinen Vorteilen stehe und damit gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße. Auch liege ein „offensichtlich unverhältnismäßiger“218 Eingriff in die unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRC vor, gleiches gelte für die Beschränkung des freien Warenverkehrs. Der EuGH sah dies anders. Zunächst ging er auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein. Dabei wies er darauf hin, dass der „Unionsgesetzgeber auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen“ verfüge und die „Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein kann, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels [...] offensichtlich ungeeignet ist“.219 Die relevanten Richtlinienbestimmungen seien zur Verfolgung ihrer Ziele – Produktivitätssteigerung, freier Warenverkehr, Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen – geeignet. Hinsichtlich der Erforderlichkeit sei zu beachten, dass Saatgut „im Hinblick auf die Gewährleistung einer gesteigerten landwirtschaftlichen Produktivität die notwendigen Garantien für eine bestmögliche Nutzung der landwirtschaftlichen Ressourcen bieten muss“.220 We216 S. Erwägungsgrund 4 der Richtlinie 2002/55/EG über den Verkehr mit Gemüsesaatgut. Für eine ausführlichere Darstellung s. Metzger, Gültigkeit der Richtlinien über den Verkehr mit Gemüsesaatgut, Anmerkung zu EuGH Rs. C-59/11, 2012, 903 f.; Groussot et al., Weak Right, Strong Court – The Freedom to Conduct Business and the EU Charter of Fundamental Rights, Lund University Legal Research Paper Series No 01/2014 . 217 EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 25. 218 Schlussantrag der Generalanwältin Kokott Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 110. 219 EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 39. 220 EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 53.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

niger einschneidende Maßnahmen als das Verkaufsverbot würden kein ebenso wirksames Mittel darstellen. Zwar könne die Zulassungsregelung beträchtliche negative Folgen für manche haben, würde aber neben der Produktivitätssteigerung „die wirtschaftlichen Interessen der landwirtschaftlichen Erzeuger und die Interessen der Wirtschaftsteilnehmer, die zugelassenes Gemüsesaatgut in den Verkehr bringen“, fördern.221 Auch gebe es eine Ausnahmeregelung für alte Sorten. Der EuGH verneinte daher einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Ebenso wenig sei der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. Dann kam der Gerichtshof auf das „Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit“ zu sprechen, das zu den „allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts“ gehörte.222 Auf Art. 16 GRC ging er mit keinem Wort ein, obwohl dieser ein ebensolches Recht normiert und von der Generalanwältin erörtert wurde. Allgemeine Grundsätze könnten jedenfalls „keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden“. 223 Beschränkungen dürften lediglich nicht unverhältnismäßig sein, nicht den Wesensgehalt antasten und müssten „dem Gemeinwohl dienenden Zielen“ entsprechen.224 Hierzu verwies der EuGH auf die schon genannten Zielsetzungen der Richtlinien und seine bereits getroffenen Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheit stellte er daher nicht fest. Mit knapper Argumentation verneinte der Gerichtshof schließlich auch einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit. Folglich waren die Richtlinien zum Saatgutrecht seiner Ansicht nach primärrechtskonform. 2. Einige kurz genannte, doch schlussendlich nicht relevante Fälle Einige Entscheidungen sollen hier zwar nicht näher besprochen werden, aber doch kurz Erwähnung finden. Dabei handelt es sich um Entscheidungen aus Vorlageverfahren, die auf Grundrechte eingingen, jedoch aus einen Rechtsstreit zwischen einem Privaten und einer staatlichen Institution resultierten. Es würde zu weit gehen, sämtliche solcher Fälle hier auch nur kurz zu skizzieren. Teilweise gilt es ihren Ausschluss aber kurz zu begründen, da sie in thematisch verwandten Veröffentlichungen eine Rolle spielen. a) Rodríguez Caballero Im Fall Rodríguez Caballero bildete zwar ein Arbeitsverhältnis den chronologischen Ausgangspunkt für einen Rechtsstreit, und auch diskutierte der 221 222 223 224

EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 61. EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 77. EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 77. EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 77.

V. Sonstiges

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EuGH ein Grundrecht als allgemeinen Grundsatz, nämlich den „der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung“.225 In der Sache ging es aber darum, ob einem Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers einen Anspruch gegen den staatlichen Garantiefonds „Fondo de Garantía Salarial“ besaß. Es ging daher nicht um Vertrags- oder Privatrecht, sondern ausschließlich um ein Verhältnis zwischen einem Privaten und dem Staat, das den Bereich der sozialen Sicherheit betraf. b) Deutsches Weintor Ein weiterer Fall, der teilweise im Kontext der Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht besprochen wird, ist Deutsches Weintor.226 Gegenstand dessen war die Vermarktung eines Weines durch die Genossenschaft Deutsches Weintor als „bekömmlich“. Die zuständige rheinland-pfälzische Behörde hatte dies als Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1924/2006 angesehen. Über das Bundesverwaltungsgericht gelangte die Frage vor den EuGH, ob die Bezeichnung als „gesundheitsbezogenen Angabe“ im Sinne die Verordnung gelte, und somit bei alkoholischen Getränken unzulässig sei. In seiner Entscheidung ging der EuGH unter anderem darauf ein, inwieweit ein unionsrechtliches Verbot solcher Bezeichnung mit Art. 15 und 16 GRC vereinbar ist. Dabei stellte er insbesondere fest, dass zwischen Berufs- bzw. Unternehmerfreiheit einerseits und Gesundheitsschutz gem. Art 35 Abs. 2 GRC ein angemessenes Gleichgewicht herzustellen sei.227 Er verwies insbesondere auf seine zuvor ergangene Entscheidung Promusicae. Anders als bei dieser ging es in Deutsches Weintor allerdings um ein Verhältnis zwischen einem Privaten und einer Behörde, also um Aufsichtsrecht, nicht um Transaktionsrecht. Auch wenn eine behördliche Handlung mittelbare Auswirkungen auf den Vertrieb von Produkten mittels Verträgen haben kann, wird daraus keine privatrechtliche Streitigkeit. c) Antidiskriminierungsfälle Nicht näher erörtert werden hier schließlich Fälle aus dem Bereich des Antidiskriminierungsrechts, die ausschließlich ein Verhältnis zwischen Privatem und Staat, nicht aber zwischen Privaten betrafen. Hierunter fällt beispielswei-

225

EuGH Rs. C-442/00 (Rodríguez Caballero), Slg. Slg. 2002, I-11915, Rn. 32. In thematisch benachbartem Kontext erwähnt von M. Bell, Constitutionalization and EU Employment Law, in: H.-W. Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 137, 145. 226 EuGH Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor); besprochen von Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05. 227 EuGH Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), 47.

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§ 4 Entscheidungen des EuGH

se der Fall Fuchs und Köhler,228 bei dem es um eine Regelung des hessischen Beamtenrechts ging, welches das Ruhestandsalter für Staatsanwälte regelte.

228

EuGH verb. Rs. C-159 und C-160/10 (Fuchs).

3. Teil

Struktur

§ 5 Dogmatische Struktur der Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht § 5 Dogmatische Struktur

Dass EU-Grundrechte jedenfalls irgendeine Wirkung im Privatrecht haben, kann nach den im vorherigen Abschnitt besprochenen Urteilen nicht bezweifelt werden. Dieser oberflächliche Befund wird im folgenden Kapitel seziert und vertieft. Es stellen sich die Fragen, wie und warum EU-Grundrechte im Privatrecht Wirkungen erzielen, in welchem Verhältnis sie nach außen zu sonstigen privatrechtlichen Normen stehen und wie ihre innere Struktur im Privatrecht beschaffen ist. Im Idealfall lässt sich ein kohärentes Bild von Begriffen und Zusammenhängen zeichnen, das zum Verständnis des geltenden Rechts beiträgt und Vorhersagen über seine Anwendung ermöglicht – dies wäre eine dogmatische Ordnung im besten Sinne.1 Dabei hat man zweifellos von den positivierten Grundrechtsbestimmungen des europäischen Primärrechts, also insbesondere der Grundrechtecharta auszugehen. Eine Analyse der Privatrechtswirkungen der EU-Grundrechte hat darüber hinaus aber auch die Rechtsprechung des EuGH im Detail zu verarbeiten und nicht bloß als Hintergrundrauschen zu zitieren. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass der Gerichtshof die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze überhaupt erst geschaffen hat. Zum anderen sind Grundrechte als sehr offene Normen in besonderem Ausmaße auf eine Konkretisierung durch Rechtsprechung angewiesen.2 Eine Untersuchung, die lediglich nackte Grundrechts-

1

Zu den Charakteristika einer dogmatischen Theorie und ihren Funktionen Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 22 ff., insbes. 27; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (1991), 326 ff.; J. Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), 97; zur Idee der Rechtswissenschaft als Ordnungswissenschaft Ernst, Gelehrtes Recht. Jurisprudenz aus der Sicht des Zivilrechtslehrers, in: Engel/Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007), 3. 2 Für die Grundrechte des Grundgesetzes und ihre Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 24. Aus amerikanischer, offensichtlich interdisziplinär (neu-institutionenökonomisch) inspirierter Sicht: „[A]s with any complex contract, constitutions are fundamentally incomplete. The contracting parties need judges not only to resolve disputes among them, but to clarify their obligations, over time, as disputes arise and circumstances change.“ – A. Stone Sweet/J. Mathews, Proportionality Balancing and Global Constitutionalism, 47 Columbia Journal of Transnational Law (2008), 72.

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§ 5 Dogmatische Struktur

normen auslegte, wäre damit schon in theoretischer Hinsicht (ganz abgesehen von ihrem praktischen Nutzen) unzureichend. Als Ausgangspunkt der Analyse dient im Folgenden die allgemeine europarechtliche Dogmatik der Wirkungen des Unionsrechts (dazu I.).3 Zu den zentralen Grundbegriffen werden damit die direkte und die indirekte Wirkung der Grundrechte im Privatrecht. Dies ist nicht gleichbedeutend mit den aus dem deutschen Diskurs bekannten Begriffen der mittelbaren und unmittelbaren Drittwirkung.4 Während unter unmittelbarer Drittwirkung in der Regel verstanden wird, Private seien Adressaten der Grundrechte,5 impliziert die direkte Wirkung dies nicht. Ob Private Adressaten der EU-Grundrechte sind, ist eine Frage für sich, die inzwischen häufiger diskutiert wird (dazu II.). Ob es sich bei ihr um eine entscheidende Fragestellung handelt, ist jedoch fraglich. Dafür kommt es insbesondere darauf an, welche Struktur die staatsgerichtete Grundrechtswirkung hat. Auf den dies betreffenden europäische Diskurs strahlen heute unübersehbar nationale Dogmatiken im Sinne gedanklicher Ordnungsmuster aus.6 Warum sie auch für Unionsrecht treffend sein 3

Damit unterscheidet sich der Ansatz z.B. von Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, der ausdrücklich die deutsche Grundrechtsdogmatik auf die Charta überträgt. Ähnlich wie hier im Ansatz z.B. Cherednychenko/Reich, The Constitutionalization of European Private Law: Gateways, Constraints, and Challenges, 23 European Review of Private Law (2015), 797, die dann aber gerade nicht ausreichend berücksichtigen, inwiefern sich direct effect von unmittelbarer Drittwirkung unterscheidet, dazu unten § 5 I. 3. c). 4 Zu den Mehrdeutigkeiten schon des Begriffes direct effect und der Gefahr von Missverständnissen etwa A. Hartkamp, The Concept of (Direct and Indirect) Horizontal Effect of EU Law: The Terminology of European Law Scholars and of Private Law Scholars Compared, in: U. Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 189. Kritisch zur sich einbürgernden Übertragung des Drittwirkungsbegriffs auf die europäische Ebene auch J. Köndgen, Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 12 ff. Dagegen unveränderter Gebrauch der Drittwirkungsterminologie für die EU-Grundrechte etwa bei Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013). Kritisch zum Begriff der Drittwirkung allgemein etwa C.-W. Canaris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: H. Bauer/R. Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30, 58; zuvor schon L. Raiser, Grundgesetz und Privatrechtsordnung, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band 2 (1967), B 3, B 12. 5 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 34 ff. mwN. Allerdings gibt es auch andere Definitionen, s. z.B. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 490. 6 Z.B. O. Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: H.-W. Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013); Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657; z.B. nutzt den Begriff der Drittwir-

I. Direkte und indirekte Wirkung

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sollten, ist selbstverständlich zu begründen. In der deutschen Diskussion hat sich insbesondere die Betonung und Unterscheidung der Grundrechtsfunktionen Abwehr und Schutz als bedeutsam herausgestellt. Wenn sich diese Dogmatik auch im Grundsatz für Unionsgrundrechte begründen lässt, gerät sie im Vertragsrecht doch in Schwierigkeiten. Einen Ausweg bietet eine vertragsrechtsfunktionale Einordnung (dazu III.). Um die Art und Weise der Grundrechtswirkung und den Prüfungsmaßstab weiter zu erhellen, bietet sich die Prinzipientheorie der Grundrechte an, wie sie Robert Alexy für das deutsche Grundgesetz entwickelt hat. Sie stellt eine allgemeine These zur Struktur von Grundrechten auf, die auch für die europäische Ebene zutreffend und erklärungskräftig ist (dazu IV.). Auf der Grundlagen all dieser Ordnungs- und Erklärungsansätze schließt eine Synthese das Kapitel ab (dazu V.). Getreu dem übergreifenden Thema geht die Untersuchung vordringlich auf das Teilgebiet des Vertragsrechts ein. Soweit allerdings keine Besonderheiten bestehen, kann man allgemein von der Wirkung im Privatrecht sprechen.

I. Direkte und indirekte Wirkung: Einordnung in die allgemeine Dogmatik der Wirkungen des Unionsrechts I. Direkte und indirekte Wirkung

EU-Grundrechte sind Teil des Primärrechts, wie sich aus Art. 6 EUV ergibt. Als solches sind für sie die allgemeinen Lehren der Wirkung des Unionrechts und insbesondere des Primärrechts grundsätzlich relevant, welche im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen (dazu 1.). Anschließend wird gezeigt, dass sich die Wirkungen der EU-Grundrechte in diese allgemeinen Konstruktionen einordnen lassen (dazu 2. und 3.). Die oben in § 4 dargestellten Urteile des EuGH bieten hierfür einerseits die Grundlage, werden andererseits selbst erst durch diese Einordnung verständlich. 1. Allgemeine europarechtliche Dogmatik der Wirkungen des Unions- und insbesondere des Primärrechts Ausgangspunkt für jegliche Wirkung des Unionsrechts ist die Annahme seiner unmittelbaren Geltung. Damit ist gemeint, dass es, anders als gewöhnliches Völkerrecht, keines weiteren Umsetzungsaktes durch die Mitgliedstaaten bedarf, um innerstaatlich als Recht anerkannt zu werden.7 Diese haben es, kung auch Generalanwältin V. Trstenjak, Schlussanträge Rs. 282/10 (Dominguez), Rn. 81 ff. 7 EuGH Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629. Rn. 14/16; vgl. auch die abweichende Herleitung der Geltung durch Bundesverfassungsgericht (nämlich über den Rechtsanwendungsbefehl im Zustimmungsgesetz) BVerfGE 123, 267, 400, 402; W. Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 6 ff.; D. Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: R. Schulze et al. (Hg.),

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§ 5 Dogmatische Struktur

in der Formulierung des EuGH, in ihre Rechtsordnung aufzunehmen, ihre Gerichte es anzuwenden.8 Unionsrecht kann dabei Vorgaben für die Auslegung nationalen Rechts enthalten sowie selbst unmittelbar anwendbar sein. Innerhalb des Unionsrechts geht Primärrecht abgeleitetem Unionsrecht vor und beeinflusst auch dessen Auslegung. 9 Mit Blick auf das Primärrecht lassen sich daher zwei grundsätzliche Arten der Wirkung unterscheiden: einerseits eine Direktwirkung (direct effect), also die unmittelbare Anwendung von Normen selbst, kombiniert mit dem Vorrang vor nationalem Recht und abgeleitetem Unionsrecht, sowie andererseits eine indirekte Wirkung (indirect effect), also den Einfluss auf die Auslegung anderer Normen. a) Direkte Wirkung: unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des Primärrechts Zunächst soll es um die direkte Wirkung des Unionsrechts gehen. Terminologisch herrscht hier zwar schon keine Einigkeit und man spricht teils von direkter Wirkung, 10 unmittelbarer Wirkung 11 oder unmittelbarer Anwendbarkeit.12 Der Begriff der direkten Wirkung scheint vorteilhaft, da er das Gegenstück zum Begriff der indirekten Wirkung bildet13 und gleichzeitig unproblematisch dem im Englischen üblicherweise verwendeten direct effect entspricht.14 Der Europarechtler, der regelmäßig mit einem Bein im internationa-

Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 7 f.; W. Schroeder, Grundkurs Europarecht (2015), § 5 Rn. 10 ff. 8 EuGH Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1259, 1269. 9 Im Folgenden soll mit abgeleitetem Unionsrecht und Sekundärrecht das gleiche gemeint sein. Zu abgeleitetem Unionsrecht kann man zwar auch Tertiärrecht zahlen, dies spielt jedoch für das Vertragsrecht kaum eine Rolle. 10 Z.B. Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 1084 (synonym auch „unmittelbare Wirkung“); M. Herdegen, Europarecht (2014), 185; C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 13 EUV Rn. 28 Fn. 69; J. Glöckner, Europäisches Lauterkeitsrecht, in: R. Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2010), § 17, Rn. 193. Zur Feststellung des uneinheitlichen Gebrauchs Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 6, 11; Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11, Rn. 9. 11 Z.B. A. Haratsch et al., Europarecht (2014), 173; S. Hobe, Europarecht (2014), 96. 12 Z.B. Herdegen, Europarecht (2014), 185 spricht synonym von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ und „Direktwirkung“. Den Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit gebraucht auch z.B. Schroeder, Grundkurs Europarecht (2015). 13 Der Begriff der indirekten Wirkung ist seinerseits dem der unionsrechtskonformen Auslegung vorzuziehen, dazu unten u.a. b) dd). 14 P.P. Craig/G. De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 184 ff.; D. Chalmers et al., European Union law: text and materials (2014), 293 ff.; auch in ansonsten

I. Direkte und indirekte Wirkung

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len Diskurs steht, tut sich einen Gefallen, wenn er Übersetzungsprobleme minimiert. Im Folgenden wird aber aufgrund der Gebräuchlichkeit in deutschsprachiger Literatur daneben auch synonym der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit genutzt. Diese ist an gewisse Voraussetzungen geknüpft (dazu aa)). Gegenüber nationalen und sekundärrechtlichen Normen entfalten unmittelbar anwendbare Normen des Primärrechts Vorrang (dazu bb)). aa) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit Von der unmittelbaren Geltung (also Geltung ohne weiteren Umsetzungsakt) ist die unmittelbare Anwendbarkeit des Europarechts zu unterscheiden. Sie bedeutet, dass Vorschriften des Unionsrechts eigenständig vor Gericht geltend gemacht werden und damit Rechte und Pflichten für Einzelne wie auch für staatliche Parteien begründen können.15 Erstmalig schrieb der EuGH einer Norm des Unionsrechts diese Wirkung im Fall van Gend en Loos16 zu: Ein Privater konnte sich demnach gegenüber einem Mitgliedstaat direkt auf die Verletzung seiner Grundfreiheit berufen. Dies begründete der Gerichtshof vor allem damit, dass das Gemeinschaftsrecht effektiv durchzusetzen sei. Betraf die unmittelbare Anwendbarkeit damit im Ursprung eine absolute Kernvorschrift der Europarechtsordnung, ist sie nunmehr im Ausgangspunkt für das gesamte Unionsrecht anerkannt.17 Sie gilt sowohl für sonstige primärrechtliche Vorschriften wie auch für Verordnungen und Richtlinien. Damit ist aber nicht gemeint, dass schlechthin alle Vorschriften unmittelbar anwendbar wären. Denn übereinstimmende Voraussetzung für die unmittelbare Anwendbarkeit des Primärrechts wie auch etwa von Richtlinien ist nach inzwischen gängiger Terminologie jedenfalls, dass die Normen unbedingt formuliert sowie hinreichend genau sind. 18 Die Anforderungen an die Bestimmtheit werden dabei allerdings nicht immer allzu hoch angesetzt; auch sehr weite Vorschriften mit einer großen Bandbreite an Auslegungsmöglichkeiten können hierunter fallen. Anerkannt ist die unmittelbare Anwendung des Primärdeutschsprachigen Behandlungen wird der Begriff häufig genutzt, s. z.B. Oppermann et al., Europarecht (2014), 126. 15 Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 184; Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 9. 16 EuGH Rs. 26/62 (van Gend en Loos), Slg. 1963, 3. 17 Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 9. 18 Zum Primärrecht etwa: EuGH Rs. 57/65 (Lütticke), Slg. 1966, 257, 266; zu Richtlinien etwa: EuGH Rs. C-226/07 (Flughafen Köln/Bonn), Rn. Slg. 2008, I-5999, Rn. 23. Aus der Literatur z.B. Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 10 mit weiteren Nachweisen.

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§ 5 Dogmatische Struktur

rechts neben den Grundfreiheiten etwa auch für das Kartellverbot des Art. 101 AEUV. 19 Etwa am Kartellverbot wird anschaulich, dass Unionsrecht für Einzelne unmittelbar nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten schafft. Das genaue Ausmaß unmittelbarer Anwendbarkeit ist aber nach Normtypen zu differenzieren, und zwar insbesondere hinsichtlich der Anwendung in Privatrechtsverhältnissen. Eine bedeutende Einschränkung macht der EuGH in ständiger Rechtsprechung bei der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien. Diese seien zwar, wenn sie unbedingt formuliert und hinreichend genau sind, nach Ablauf der Umsetzungsfrist zugunsten Privater gegenüber dem Staat unmittelbar anwendbar (Bürger-Staat).20 Dies gelte aber nicht umgekehrt zulasten Privater (Staat-Bürger) sowie nicht in Rechtsbeziehungen zwischen Privaten (Bürger-Bürger).21 Dies begründet der Gerichtshof damit, dass Richtlinien zum einen an die Mitgliedstaaten adressiert seien22 (heute Art. 288 UAbs. 3 AEUV) und zum anderen für Private ansonsten Rechtsunsicherheit bestehe.23 Für Primärrecht gilt diese Einschränkung der Wirkung in Privatrechtsverhältnissen im Allgemeinen nicht, obwohl man teilweise ganz ähnlich argumentieren könnte. Sowohl die Vorschriften über die Grundfreiheiten wie auch etwa Art. 157 AEUV sind ihrem Wortlaut nach allein an die Mitgliedstaaten gerichtet. Dennoch können sie nach der Rechtsprechung des EuGH auch in Privatrechtsbeziehungen unmittelbar anzuwenden sein. 24 Hierfür spricht der Gedanke des effet utile – denn je weitergehend die Anwendbarkeit von Rechtsnormen, desto weitergehend ihre Durchschlagskraft, ihre Effektivität. In Defrenne bündelte der Gerichtshof dies argumentativ in besonders konsequenter Weise. Zunächst führte er aus, dass der (heutige) Art. 157 AEUV unmittelbar anwendbar sei. Zu der Auswirkung der Vorschrift auf das Privatrechtsverhältnis bemerkte er lediglich: „Da Artikel 119 [heute Art. 157 AEUV] zwingenden Charakter“ habe, erstrecke sich das darin enthaltene

19 Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), § 1 Rn. 16 ff.; Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 10. Art. 101 AEUV ist etwa so auslegungsbedürftig, dass seine Darstellung in einem Lehrbuch über die Grundlagen des Kartellrechts schon über 70 Seiten einnimmt: V. Emmerich, Kartellrecht (2014), 43-116. 20 Etwa EuGH Rs. C-8/81 (Becker), Slg. 1982, 53; EuGH Rs. C-14/83 (Colson), Slg. 1984, 1891. Überblicke zur Thematik etwa bei Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), § 1 Rn. 29 ff.; Hobe, Europarecht (2014), 94 ff.; Oppermann et al., Europarecht (2014), 125 ff. 21 Etwa EuGH Rs. C-91/92 (Faccini Dori), Slg. 1994, I-3325. 22 EuGH Rs. 152/84 (Marshall), Slg. 1986, 723, Rn. 48. 23 EuGH Rs. C-201/02 (Wells), Slg. 2004, I-723, Rn. 56. 24 S. etwa EuGH Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455 (zum Gleichbehandlungsgebot); EuGH C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 (zur Arbeitnehmerfreizügigkeit).

I. Direkte und indirekte Wirkung

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Diskriminierungsverbot auch auf „alle Verträge zwischen Privatpersonen“.25 Feststellen kann man daher, dass Primärrecht grundsätzlich in Privatrechtsverhältnissen unmittelbar anwendbar sein und in diesen Rechte und Pflichten begründen kann. Das muss allerdings nicht zwingend heißen, dass man Privatpersonen auch als Adressaten etwa des Art. 157 AEUV oder der Grundfreiheiten begreift. Gedanklich wäre es ebenso möglich, in diesen Normen eine an die Mitgliedstaaten adressierte Pflicht zu sehen, die dann lediglich reflexhaft eine Pflicht für Privatpersonen erzeugt (dies entspricht der häufig genannten Schutzpflichtenkonstruktion).26 bb) Vorrang des Primärrechts vor nationalem Recht und vor abgeleitetem Unionsrecht Dass Primärrecht unmittelbar anzuwenden sein kann, sagt noch nichts über sein Verhältnis zu sonstigen Rechtsnormen aus. Dieses wird erst dann relevant, wenn andere Vorschriften den fraglichen Sachverhalt ebenfalls regeln. Widersprechen sich zwei gleichzeitig anwendbare Normen, braucht es Kollisionsregeln. Für das Verhältnis von Primärrecht zu Sekundärrecht und zu nationalem Recht geht man im Ergebnis von einer einfachen Kollisionsregel aus: dem Vorrang des Primärrechts. Hinsichtlich der Stellung gegenüber nationalem Recht spricht man dabei allgemein von einem Anwendungsvorrang des Unionsrechts (nicht bloß des Primärrechts).27 Sind Vorschriften mitgliedstaatlichen Rechts nicht in Einklang mit Unionsrecht zu bringen, so sind sie demnach unanwendbar. Dies bedeutet nicht, dass sie nichtig wären und damit keinerlei positivrechtliche Relevanz besäßen. Anwendbar können sie nämlich weiterhin in nicht unionsrechtlich überformten Fallgestaltungen sein.28 Hinsichtlich der Begründung des Anwendungsvorrangs ist man sich uneinig.29 Aus Sicht des EuGH ergibt 25

EuGH Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455, Rn. 38/39. Dazu z.B. Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), 30; für Grundfreiheiten z.B. T.O. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten (2000), 27 f.; s. ausführlich unten § 5 III., IV. 2. 27 EuGH Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1259; Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 11 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 99 ff.; Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 266 ff. Auch das BVerfG geht im Ergebnis davon aus: BVerfGE 22, 293 (296); 73, 339 (375) (Solange II). 28 S. etwa Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 128 ff. mit weiteren Nachweisen. 29 Überblicke dazu bei Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11 Rn. 13 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 101 ff. 26

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sich der Anwendungsvorrang aus dem autonomen Charakter des Unionsrechts und der Notwendigkeit dessen einheitlicher Anwendung.30 Demnach könnte es keinen Fall geben, bei welchem der Vorrang des Unionsrechts zu verneinen wäre. Die Verfassungsgerichte mancher Mitgliedstaaten, darunter das Bundesverfassungsgericht, gehen zwar ebenso von einem grundsätzlichen Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus, ziehen dem aber Grenzen, sehen immer noch nationales Verfassungsrecht oder jedenfalls einen Kern desselben als nicht verdrängbar an.31 So gehe etwa das Unionsrecht nationalem Recht nur vor, weil dies durch nationales Recht so angeordnet sei. Unabhängig von der verfassungstheoretischen Begründung sieht man es jedenfalls wohl einheitlich als entscheidende Voraussetzung des Anwendungsvorrangs an, dass die betreffende Norm des Unionsrechts unmittelbar anwendbar ist.32 Der EuGH hat festgestellt, Vorrang vor nationalem Recht hätten „die Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane“.33 Gerade für Sekundärrecht ist diese Anforderung besonders relevant: So sind Richtlinien zwischen Privatpersonen nicht unmittelbar anwendbar und gehen daher auch nicht entgegenstehendem nationalen Recht vor.34 Was das Primärrecht angeht, handelt es sich bei der Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit schon um eine logische Notwendigkeit. Nur wenn eine Vorschrift unbedingt und hinreichend genau (und damit unmittelbar anwendbar) ist, kann es überhaupt zu einer Normkollision kommen. Zu gänzlich vagen, unbestimmten Normen kann mangels Normaussage gar kein Konflikt entstehen. Auch gegenüber abgeleitetem Europarecht entfaltet Primärrecht Vorrang. Dies wird daraus geschlossen, dass Primärrecht überhaupt erst die Grundlage schafft, Sekundärrecht zu erlassen.35 Ein wichtiges Argument dafür ergibt 30

EuGH Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1259, 1270. Zu den nationalen Ansichten im Einzelnen etwa Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 278 ff.; Ehlers, Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 11, Rn. 18 ff. 32 H.D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 1, 3; Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010) 138 f. Auch wenn teilweise als Voraussetzung die „unmittelbare Geltung“ genannt ist, basiert dies auf fehlender Unterscheidung zwischen Geltung und Anwendbarkeit, nicht aber auf einer anderen Ansicht in der Sache – s. z.B. C. Höpfner/B. Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1. 33 EuGH Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629, Rn. 17 f. 34 Dies betonte der EuGH noch einmal in Rs. C-176/12 (AMS). 35 S. etwa M. Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006, 737, 746 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 539; D. König, Gesetzgebung, in: R. Schulze et al. (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis (2015), § 2 Rn. 2; Oppermann et al., Europarecht (2014), § 10 Rn. 39. 31

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sich auch aus Art. 13 Abs. 2 EUV: Danach hat die Gesetzgebung nach den in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Zielen zu erfolgen. Die Primärrechtswidrigkeit von Richtlinien, Verordnungen etc. kann allein durch den EuGH festgestellt werden.36 Ihm obliegt es dann auch, die rechtswidrigen Rechtsakte aufzuheben. Nur im Falle besonders offenkundiger und schwerer Fehler sind sie ohne weiteren Aufhebungsakt nichtig.37 Überhaupt stellt es eher die Ausnahme dar, dass eine Norm des abgeleiteten Unionsrechts für primärrechtswidrig befunden wird. Häufiger wird solch ein Schluss mit dem Mittel der primärrechtskonformen Auslegung vermieden.38 Dieses wird im folgenden Abschnitt behandelt. b) Indirekte Wirkung: Einfluss auf die Auslegung anderer Rechtssätze Primärrecht wird nicht nur fallrelevant durch seine unmittelbare Anwendung, sondern es entfaltet auch indirekte Wirkungen. Es enthält Vorgaben für die Auslegung nationalen Rechts (dazu aa)) und abgeleiteten Unionsrechts (dazu bb)). Für beide besteht, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung, ein Erfordernis der primärrechtskonformen Auslegung. Darüber hinaus beeinflussen sich Normen des Primärrechts bei der Auslegung auch gegenseitig (dazu cc)). Allgemein kann man außerdem argumentieren, dass Primärrecht auch noch jenseits der Primärrechtskonformität auf die Auslegung anderer Normen einwirkt (dazu dd)). Insoweit ist der Begriff der indirekten Wirkung weiter als jener der primärrechtskonformen Auslegung. aa) Primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Nationales Recht ist nach Ansicht des EuGH allgemein europarechtskonform auszulegen.39 Die primärrechtskonforme Auslegung ist davon ein Unterfall. Soweit nationales Recht einen Auslegungsspielraum lässt, sind unter mehreren möglichen Auslegungen danach lediglich jene zulässig, die im Einklang mit Unionsrecht stehen. Erstmals äußerte sich der Gerichtshof zur europarechtskonformen Auslegung im Fall Murphy: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung 36

EuGH Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, 4199; Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006, 737, 748; S. Leible/R. Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 146, 162 ff. 37 EuGH Rs. C-137/92 (Kommission/BASF), Slg. 1994, I-2629, Rn. 48, 49. 38 Oppermann et al., Europarecht (2014), § 10 Rn. 39. Diese sprechen angesichts solcher Zurückhaltung auch von einem „Corpsgeist“ der europäischen Institutionen. 39 S. etwa EuGH Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), Slg. 1984, 1891, Rn. 26 (richtlinienkonforme Auslegung); EuGH Rs. 157/86 (Murphy), Slg. 1988, 673; EuGH verb. Rs. 397/01 bis 403/01 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835; EuGH verb. Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215.

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mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden [...].“40 Als Begründung dafür sah und sieht er die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten,41 inzwischen in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert, verbunden mit dem Ziel der Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts an.42 Soweit Unionsrecht unmittelbar anzuwenden ist und damit kollidierendem nationalen Recht vorgeht, kann man die europarechtskonforme Auslegung auch als schonenderes Mittel begreifen gegenüber der Nichtanwendung des nationalen Rechts. Die primärrechtskonforme Auslegung ist dann eine Spielart des Anwendungsvorrangs (man kann sagen: Anwendungsvorrang im weiteren Sinne). 43 Ein solches Vorgehen lässt sich besser mit der innermitgliedstaatlichen Gewaltenteilung in Einklang bringen als die Nichtanwendung der nationalen Norm. Der Richter wendet sie, wie in seiner Funktion vorgesehen, in einer vertretbaren Weise an statt sich über den Gesetzgeber hinwegzusetzen. 44 Die Pflicht zur europarechtskonformen Auslegung geht aber nach dem EuGH gerade über den Bereich des unmittelbar anwendbaren Europarechts hinaus und umfasst insbesondere auch die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Privatrechts.45 Hier versagt der genannte Begründungsansatz. 46 In der Literatur hat man daher für die richtlinienkonforme Auslegung den Willen des Gesetzgebers zur unionsrechtskonformen Umsetzung als Grund angesehen, Umsetzungsakte unionsrechtskonform auszulegen.47 Dies kann aber nicht begründen, warum das gesamte nationale Recht und nicht bloß Umsetzungsakte von der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung erfasst werden sollen.48 Für die Pflicht zur primärrechtskonfor40

EuGH Rs. 157/86 (Murphy), Slg. 1988, 673, Rn. 11. z.B. EuGH Rs. C-165/91 (van Munster), Slg. 1994, I-4661 Rn. 32; EuGH Rs. C262/97 (Engelbrecht), Slg. 2000, I-7321 Rn. 38. 42 Z.B. EuGH verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8878, Rn. 114. 43 So Jarass/Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 1, 2; Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 146, 166. 44 Dazu Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 146, 166. 45 S. schon oben § 3 I 1. b). 46 C.-W. Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: H. Koziol (Hg.), Im Dienste der Gerechtigkeit: Festschrift für Franz Bydlinski (2002), 47, 52 f.; W. Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung: zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie (1994), 173 ff., 205 ff.; M. Auer, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: J. Neuner (Hg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007), 27, 48 f. 47 P. Hommelhoff, Zivilrecht unter dem Einfluss europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992), 71, 95. 48 Dass diese erfasst werden, stellte der EuGH etwa in Marleasing fest – Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135. Das genannte Argument wird auch etwa vorgebracht von Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen 41

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men Auslegung kommt es auf diese Argumentationen schlussendlich nicht entscheidend an. Schließlich reicht seine unmittelbare Anwendbarkeit weiter als die der Richtlinien und betrifft insbesondere auch Privatrechtsverhältnisse. Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung des Privatrechts kann man deswegen vor allem als eine Folge des Anwendungsvorrangs ansehen. Als Auslegungsargument höherrangigen Rechts geht die primärrechtskonforme Auslegung anderen Auslegungsmethoden vor. Sie ist nicht etwa gegen Argumente aus anderen Auslegungsmethoden abzuwägen – nationales Recht kann also beispielsweise nicht mit besonders guten systematischen oder historischen Argumenten primärrechtswidrig ausgelegt werden. Das heißt nicht, dass der unionsrechtskonformen Auslegung keine Grenzen gesetzt sind. Vielmehr betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass nationale Gerichte nicht contra legem zu judizieren haben.49 Was noch methodologisch vertretbar ist, wird dabei in den nationalen Rechtsordnungen bestimmt. Für Deutschland hat der BGH dabei den Bereich der Auslegung (im engeren Sinne) überschritten und auch Rechtsfortbildung über den Gesetzeswortlaut hinaus betrieben.50 Praktisch kann die primärrechtskonforme Auslegung damit sehr weit gehen und unterscheidet sich im Ergebnis, je nach Auslegungscourage der mitgliedstaatlichen Gerichte, nur begrenzt von der unmittelbaren Anwendung des Europarechts. bb) Primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts Primärrecht wirkt sich in ähnlicher Weise auch auf die Auslegung sekundären Unionsrechts aus: dieses ist ebenfalls primärrechtskonform auszulegen. Es ist demnach einer Auslegung, die mit Primärrecht im Einklang steht, der Vorrang zu geben gegenüber einer primärrechtswidrigen.51 Der EuGH leitet dies aus dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung ab – in einem einheitlichen System sollten Widersprüche zwischen verschiedenen Normen vermieden werden.52 Diesem Argument kann man wiederum jenes hinzufügen, welches auf die Gewaltenteilung abstellt: Ein bloßes Auslegen durch die europäischen

Methodenlehre, in: Koziol (Hg.), Im Dienste der Gerechtigkeit: Festschrift für Franz Bydlinski (2002), 47, 50 f.; Auer, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Neuner (Hg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007), 27, 49. 49 Zuletzt etwa EuGH Rs. C-176/12 (AMS). 50 BGHZ 179, 27 = NJW 2009, 427 (Quelle). 51 S. etwa EuGH Rs. C-1/02 (Borgmann), Slg. 2004, I-3238 Rn. 30: „[E]ine Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts [ist] möglichst so auszulegen, dass sie mit dem Vertrag und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist [...].“ Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 146, 150. 52 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 32.

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Richter greift weniger stark auf Kompetenzen des europäischen Gesetzgebers über als die Normverwerfung.53 cc) Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts? Möglich ist es außerdem, dass eine primärrechtliche Vorschrift die Auslegung einer anderen primärrechtlichen Vorschrift beeinflusst. Ein Beispiel hierfür ist insbesondere die ERT-Rechtsprechung, die oben in § 3 I. 1. b) beschrieben wurde. Danach können jene AEUV-Vorschiften, die Rechtfertigungsmöglichkeiten für Grundfreiheitsbeschränkungen enthalten, nicht so ausgelegt werden, dass sie eine grundrechtswidrige Maßnahme zulassen. Man könnte in diesen Fällen von primärrechtskonformer Auslegung des Primärrechts sprechen wollen. 54 Im Unterschied zu sekundärem Unionsrecht und nationalem Recht besteht jedoch zwischen verschiedenen primärrechtlichen Vorschriften grundsätzlich kein hierarchisches Verhältnis. Insofern ist diese Konstellation von den ersteren beiden zu unterscheiden und es böte sich eher an, von einer einfachen systematischen Auslegung zu sprechen, wie sie auch noch unter dd) behandelt wird. 55 Der Begriff der Konformität würde womöglich missverständlich ein Über-Unterordnungsverhältnis insinuieren. Relevant ist die Berücksichtigung des Verhältnisses verschiedener primärrechtlicher Normen jedenfalls insbesondere im Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten. Nicht nur kann es dabei zu einem Gleichlauf der Wirkrichtung kommen, wie etwa in den ERT-Fällen, sondern Grundfreiheiten und Grundrechte können durchaus kollidieren. Darauf wird bisweilen noch zurückzukommen sein.56 dd) Primärrecht als Argument jenseits der Konformitätsanforderung Jenseits des Gebots der primärrechtskonformen Auslegung (sowohl von nationalem wie unionalem Recht) besteht noch eine weitere Möglichkeit, wie Primärrecht in der Interpretation anderer Normen relevant werden kann: Es kann schlichte Argumente bieten für bestimmte Auslegungsergebnisse, ohne diese zwingend zu erfordern oder bestimmte Auslegungsergebnisse zwingend auszuschließen. Insofern kann man es als einfaches systematisches (teils wohl auch teleologisches) Argument einstufen. Beispielsweise mag man die Beto53 Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 146, 157. 54 Dazu S. Leible/R. Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2010), 250, 281 (in der Folgeauflage nicht mehr behandelt). 55 So auch schon Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2010), 250, 281 f. (in der Folgeauflage nicht mehr behandelt). 56 S. unten § 5 I. 2. a) bb); § 6 II. 3.; § 9 III. 2. d) sowie schon oben § 4 II. 2. und 3.

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nung besonderer Interessen oder Werte aus dem Primärrecht entnehmen, die dann auch in sonstigen Normen zu berücksichtigen sein können.57 Dabei geht es dann nicht darum, eine primärrechtskonforme von einer nicht-konformen Auslegung abzugrenzen. Das Primärrecht kann in solchen Fällen schlicht die Wirkung haben, die Balance der Argumente zu verändern und so die Auslegung in die ein oder andere Richtung zu beeinflussen. Der Begriff der indirekten Wirkung deckt diese Fälle, anders als jener der primärrechtskonformen Auslegung, noch ab. 2. Indirekte Wirkung der EU-Grundrechte: Einfluss auf die Auslegung anderer privatrechtlicher Rechtssätze Von den allgemeinen Lehren der Wirkung des Primärrechts gilt es nun konkret zur Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht zu kommen. Dazu soll zunächst der Einfluss auf die Auslegung anderer Normen behandelt werden, also die indirekte Wirkung der EU-Grundrechte. Man kann verschiedene privatrechtliche Normgruppen beziehungsweise Objekte, die dieser Einwirkung ausgesetzt sind, differenzieren: Sekundärrecht, Primärrecht, nationales Recht und schließlich auch Verträge als privates Recht (dazu a)). In den Urteilen des EuGH lassen sich außerdem verschiedene Tiefenstufen der grundrechtlichen Argumentation unterscheiden (dazu b)). Wie zu zeigen ist, differenziert der Gerichtshof bei all dem nicht zwischen Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der Grundrechtecharta. Mit indirekter Wirkung ist im Übrigen nicht notwendig das gleiche gemeint wie mit mittelbarer Drittwirkung im deutschen Recht. Mit letzterer wird häufig auch gemeint, dass Grundrechte Schutzpflichten enthalten, dabei jedoch mitunter durchaus direkt herangezogen werden und nicht bloß bei der Auslegung anderer Normen.58 a) Objekte der Wirkung – Gegenstände der Auslegung aa) Sekundärrechtliches Privatrecht Am einfachsten zu begründen und am häufigsten in der EuGH-Rechtsprechung vorgekommen ist der Einfluss auf die Auslegung sekundären Uni-

57 Als Beispiele hierfür können insbesondere die unter § 5 I. 2. b) aa) behandelten Fälle dienen. 58 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 35 f.; M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts: eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes (2001), 252; für EU-Grundrechte nun Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 275; differenzierend R. Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte (2013), 31 ff.

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onsrechts.59 Erstmals nahm der Gerichtshof im Fall Werhof an, dass EUGrundrechte dessen Auslegung auch im Falle privatrechtlicher Beziehungen beeinflussten: Abgeleitetes Gemeinschaftsrecht müsse „gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt“ werden, wozu eben auch die Grundrechte, im konkreten Fall die Vereinigungsfreiheit, gehörten.60 Die Einheit des Unionsrechts verlange dies. In Promusicae stellte er ausdrücklich fest, dass auch die mitgliedstaatlichen Gerichte eine Pflicht zu solcher grundrechtskonformer Auslegung treffe.61 Diese dürften „sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinien stützen, die mit [...] Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ kollidierten. 62 Nachdem sich die grundrechtskonforme Auslegung damit zunächst auf die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze bezog, übernahm der EuGH sie später ohne Änderung auch für die Grundrechte der Charta. Im Fall Scarlet Extended legte er die einschlägigen Richtlinien „anhand der sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergebenden Anforderungen“ aus, 63 was konkret Art. 8, 11, 16 und 17 GRC waren. Ein weiteres Beispiel ist der Fall Kušionová, in welchem der EuGH befand, dass das nationale Gericht Art. 7 GRC „bei der Anwendung der Richtlinie 93/13 zu berücksichtigen hat“. Besonders deutlich machte er den Gleichlauf der Wirkung von allgemeinen Grundsätzen und Charta in Google Spain: Die Datenschutzrichtlinie sei „im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, und nun in der Charta verankert sind“.64 Neben Richtlinien sind auch Verordnungen grundrechtskonform auszulegen. Dies folgt schon aus dem Urteil im Fall Werhof, wo der EuGH allgemein von der Auslegung „abgeleiteten Unionsrechts“ sprach. Ein praktisches Beispiel bietet der Fall McDonagh v. Ryanair65. Ryanair hatte geltend gemacht, dass eine das Unternehmen benachteiligende Auslegung es in seinen Grund59 Dazu etwa Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05, 8 ff.; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 258 ff.; Streinz/Michl, Die Drittwirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011, 384, 386 f.; Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91. 60 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 32. 61 Hierzu auch Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170, 179. 62 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 68. 63 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 54. 64 EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 68. 65 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair).

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rechten aus Art. 16 und 17 GRC verletzte. Der Gerichtshof prüfte dies, und obwohl er eine Grundrechtsverletzung ablehnte, implizierte er schon durch die Prüfung die Anforderung der Grundrechtskonformität einer bestimmten Auslegung. Dass EU-Grundrechte in der Praxis die Auslegung von privatrechtlichem Sekundärrecht beeinflussen, kann demnach nicht bezweifelt werden (soweit der empirische Befund). Dies ist aber auch normativ überzeugend. Denn Art. 51 Abs. 1 GRC, der den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte definiert, macht nicht etwa eine Ausnahme für privatrechtliche Vorschriften.66 Außerdem sprechen die oben genannten Argumente für die primärrechtskonforme Auslegung67 – der Systemgedanke beziehungsweise die Einheit der Rechtsordnung sowie die Berücksichtigung der Gewaltenteilung – allgemein auch für eine grundrechtskonforme Auslegung des ganzen Sekundärrechts. Zum Primärrecht gehören eben auch die Grundrechte, Art. 6 EUV. Darüber hinaus bestand im Europarecht nie eine so klare Trennung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht wie etwa in Deutschland. 68 Es wird weniger in abgeschlossenen Rechtsgebieten gedacht als vielmehr in Regulierungszielen. Viele Regulierungsziele können sowohl mit Mitteln des öffentlichen Rechts, wie etwa einer Aufsichtsbehörde und Genehmigungspflichten, wie auch des Privatrechts, etwa mit Normen zwingenden Vertragsrechts, verfolgt werden. Eine Ausnahme der Grundrechtswirkung für Richtlinien, die Privatrecht betreffen, wäre dann aber beliebig und würde geradezu einen einfachen Ausweg aus der Grundrechtsbindung bieten. Dies gilt umso mehr, da Umsetzungsspielräume bei Richtlinien es teilweise den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie eine privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Umsetzung wählen. 69 Am Anfang der Drittwirkungsdebatte in Deutschland mag es sich noch wie ein fremder Einfluss von außen auf das bis dato eigenständige Privatrecht angefühlt haben, Grundrechte auch nur bei der Auslegung zu berücksichtigen.70 Schließlich ging das BGB dem Grundgesetz auch historisch vor. Im Europarecht ist die Situation anders. Von einem eigenständigen und voll entwickel66

So auch Krebber, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das deutsche Individualarbeitsrecht, EuZA 2013, 188, 198. 67 § I. 1. b) bb). 68 In diese Richtung argumentiert auch Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05. 69 S. schon oben § 1 III. 1. 70 Zur Frage, ob deutsche Grundrechte auch den deutschen Privatrechtsgesetzgeber binden: bejahend etwa Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 12 ff.; K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht (1988), 27; Stern, Staatsrecht. Band III/1 (1988), § 76 IV; kritisch U. Diederichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht – ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, AcP 198 (1998), 171; D. Medicus, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, AcP 192 (1992), 35.

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ten europäischen Privatrecht, das durch Einfluss von außen seine systematische Schärfe verlöre, kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Grundrechtskonforme Auslegung des europäischen Privatrechts kann dazu beitragen, ein in sich stimmiges und von erkennbaren Prinzipien getragenes europäisches Privatrecht überhaupt erst zu entwickeln.71 bb) Privatrechtsrelevantes Primärrecht EU-Grundrechte sind außerdem bei der Auslegung des sonstigen Primärrechts zu berücksichtigen, das seinerseits Privatrechtsverhältnisse betrifft. Aus den in § 4 erörterten Fällen belegen dies Viking und Laval. Jeweils zog der EuGH das Recht auf kollektive Maßnahmen heran, um zu ergründen, ob die Rechtfertigung einer Grundfreiheitsbeschränkung über einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses möglich war. Insofern hatten die EUGrundrechte einen Einfluss auf die Auslegung einer sonstigen primärrechtlichen Vorschrift, die eine Aussage für ein Rechtsverhältnis zwischen Privaten traf – selbst wenn sie im konkreten Fall keine Rechtfertigung begründen konnten. Außerhalb der diskutierten Fälle zu Grundfreiheiten ist auch etwa ein Einfluss auf die kartellrechtlichen Bestimmungen des AEUV möglich. So erscheint es etwa wenigstens denkbar, bei der Auslegung des Art. 102 AEUV über den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung die Betroffenheit grundrechtlich geschützter Interessen zu berücksichtigen.72 EuGH-Entscheidungen sind hierzu zwar, soweit ersichtlich, noch nicht ergangen. Allgemein ist es im Sinne einer widerspruchsfreien Rechtsordnung aber notwendig, Normen der gleichen Rechtsebene gegenseitig bei der Auslegung zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere auch für das Verhältnis verschiedener, womöglich widerstreitender EU-Grundrechte untereinander. Hierauf wird später noch ausführlich zurückzukommen sein.73

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In diese Richtung C. Mak, Judges in Utopia: Fundamental Rights as Constitutive Elements of a European Private Legal Culture, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper No. 2012-12; s.a. C. Mak, Harmonising Effects of Fundamental Rights in European Contract Law, 1 Erasmus Law Review (2007), 59. 72 Dies klingt an bei M. Kloepfer, Netzneutralität und Presse-Grosso in der Informationsgesellschaft, AfP 2010, 120, 121 ff.; B. Paal, Immaterialgüterrecht, Internetmonopole und Kartellrecht, GRUR-Beilage 2014, 69, 74 f.; s. zur Thematik auch J. Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: A.v. Bogdandy/J. Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 905, 953 ff. 73 Zur Grundstruktur insbesondere unten § 5 IV.

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cc) Nationales Privatrecht Der EuGH legt prinzipiell nur Europarecht, nicht aber nationales Recht aus.74 Dennoch kann man aus seiner Rechtsprechung auch Vorgaben aus EUGrundrechten für die Auslegung nationalen Rechts ableiten.75 Dabei handelt es sich um einen Unterfall des Gebots der europarechtskonformen Auslegung, mit anderen Worten um eine EU-grundrechtskonforme Auslegung.76 Gedanklich lässt sich ein solche indirekte Wirkung auf zwei Weisen konstruieren: Zum einen können Grundrechte auf die Auslegung von Richtlinien einwirken, welche dann wiederum die Auslegung nationalen Rechts beeinflussen. Zum anderen können Grundrechte als solche, also ohne Zwischenstufe, die Auslegung nationalen Rechts beeinflussen. In der Rechtsprechung des EuGH findet man bezüglich Privatrechtsverhältnissen bisher vor allem, aber nicht ausschließlich, die erste dieser beiden Konstruktionen.77 Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass die EU-Grundrechte lediglich im Anwendungsbereich des Unionsrechts anwendbar sind (dazu oben § 3 I.). Dieser wird im Privatrecht regelmäßig durch Richtlinien eröffnet. Ist eine Richtlinie vorhanden, nimmt der Gerichtshof sie als Anknüpfungspunkt für die Grundrechtsprüfung. Tatsächlich spielt der konkrete Inhalt der Richtlinie dabei teilweise aber kaum eine Rolle, sodass die Vorgaben für die Auslegung nationalen Rechts auch hier in der Sache mitunter direkt aus den Grundrechten abgeleitet werden und sich bloß die oberflächliche strukturelle Konstruktion unterscheidet. In Promusicae befand der EuGH etwa, dass „Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit [...] Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten [haben], dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts [kollidiert]“.78 Er stellte damit im Vorbeigehen auch gleich klar, dass Gerichte ebenfalls an die EU-Grundrechte gebunden sind und nicht etwa bloß der

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Zu Ausnahmen R. Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 491, 504 f. 75 Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 491, 505 ff. 76 Dieser Begriff etwa bei R. Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis (2015), 491, 508. Ähnlich in der Sache Streinz/Michl, Die Drittwirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011, 384, 386; H.-J. Willemsen/A. Sagan, Die Auswirkungen der europäischen Grundrechtecharta auf das deutsche Arbeitsrecht, NZA 2011, 258, 260. 77 Streinz/Michl, Die Drittwirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011, 384, 386: „Regelfall“. 78 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 68.

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nationale Gesetzgeber.79 Im Fall Werhof ging es um den Einfluss der Vereinigungsfreiheit auf die Überlassungsrichtlinie, welche wiederum für die Auslegung des § 613a BGB relevant war.80 Auch in diesem Fall wirkten also EUGrundrechte über eine Richtlinie vermittelt auf die Auslegung einer Vorschrift des nationalen Privatrechts. Weitere so gelagerte Fälle waren Scarlet Extended81 und SABAM v. Netlog.82 Jeweils legte der Gerichtshof Richtlinien im Lichte der EU-Grundrechte aus, woraus wiederum Vorgaben für das nationale Recht folgten. Etwas anders stellt sich die Konstruktion im Fall Telekabel dar. Das österreichische Gericht hatte ausdrücklich nach den EU-grundrechtlichen Vorgaben für die Auslegung einer Vorschrift des österreichischen Urhebergesetzes gefragt. Wie schon in Promusicae stellte der EuGH fest, dass nationales Recht richtlinienkonform und Richtlinien grundrechtskonform auszulegen seien.83 Damit wählte er scheinbar wiederum die vermittelte Konstruktion der Grundrechtswirkung. Er maß dann aber die gerichtliche Anordnung, die auf besagter Vorschrift des österreichischen Urhebergesetzes ergangen war, direkt an EU-Grundrechten und stellte beispielsweise fest: „Die unternehmerische Freiheit wird durch den Erlass einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkt.“ Und auch in der letzten Randnummer, mit der er die Frage nach grundrechtlichen Vorgaben abschloss, befand er: „[...] die durch das Unionsrecht anerkannten Grundrechte [sind] dahin auszulegen, dass sie einer gerichtlichen Anordnung nicht entgegenstehen“, ohne irgendwie auf die Richtlinie einzugehen.84 Der anfängliche Verweis auf die Richtlinie sollte also wohl vor allem den Anwendungsbereich der Grundrechte eröffnen. In der dogmatischen Konstruktion der grundrechtlichen Vor79

Schließlich verwirklichen die Gerichte abstrakte Normen im konkreten Fall und füllen sie dadurch mit Inhalt. Dazu schon für das deutsche Recht Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 23 ff. 80 Ausgangspunkt war schließlich, ob die Auslegung des § 613a durch das BAG mit Europarecht vereinbar war, s.o. § 4 II 1. – EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397. 81 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 54: „Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Richtlinien 2000/31, 2001/29, 2004/48, 95/46 und 2002/58, in Verbindung miteinander und ausgelegt anhand der sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergebenden Anforderungen, dahin auszulegen sind, dass sie der Anordnung an einen Provider entgegenstehen, das streitige Filtersystem einzurichten.“ 82 EuGH Rs. C-360/10 (SABAM), Rn. 52: „Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Richtlinien 2000/31, 2001/29 und 2004/48, bei einer Gesamtbetrachtung und einer Auslegung im Hinblick auf die sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergebenden Anforderungen, dahin auszulegen sind, dass sie der Anordnung an einen Hosting-Anbieter, das streitige Filtersystem einzurichten, entgegenstehen.“ 83 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 46. 84 Anders die abschließenden Randnummern in Scarlet Extended und SABAM v. Netlog, s. Fn. 81, 82.

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gaben für die Auslegung nationalen Rechts spielte die Richtlinie keine weitere Rolle, sodass man im Fall Telekabel ein Beispiel für eine indirekte Wirkung der EU-Grundrechte auf nationales Privatrecht (österreichisches Urheberrecht) ohne vermittelnden Zwischenschritt erkennen kann. Die EU-grundrechtskonforme Auslegung betrifft, wie sich aus den angesprochenen Fällen ergibt, keineswegs nur Generalklauseln. Sämtliche Normen, die irgendeinen Auslegungsspielraum lassen sind, soweit die EUGrundrechte anwendbar sind, mit ihnen konform auszulegen. Es kommt auch nicht darauf an, ob eine Norm darauf abzielt, ein grundrechtlich geschütztes Interesse zu schützen. Dann bräuchte man auch gar nicht von grundrechtskonformer Auslegung zu sprechen, sondern es handelte sich schlicht um eine teleologische Auslegung. Dass nationales Privatrecht EU-grundrechtskonform auszulegen ist, dient nach Sicht des EuGH insbesondere der Einheit des Unionsrechts.85 Ausgehend von der allgemeinen Pflicht zur europarechtskonformen Auslegung ist es auch schlicht konsequent, EU-Grundrechte in die Konformitätsanforderung miteinzubeziehen. Es wäre kaum einzusehen, warum gerade Grundrechte ausgenommen sein sollten. Nimmt man die QuelleEntscheidung des BGH 86 zum Maßstab, kann eine europarechtskonforme „Auslegung“ des deutschen Privatrechts allgemein sehr weit gehen und mindestens nah an einen Widerspruch zum Wortlaut nationaler gesetzlicher Vorschriften heranreichen. Geben die EU-Grundrechte nun zusätzliche Vorgaben für den Bereich des bereits europäisierten Privatrechts, dient dies einerseits der Einheitlichkeit europäisierter Teilbereiche, und führt andererseits aus nationaler Perspektive zu weniger Möglichkeiten an Eigenständigkeit. dd) Privates Recht: Verträge Ob EU-Grundrechte auch für die Auslegung von Verträgen Vorgaben enthalten, ist problematisch.87 Prinzipiell werden Verträge in Deutschland bekanntlich unter Berücksichtigung des erkennbaren Parteiwillens ausgelegt (§§ 133, 157 BGB) und nicht etwa anhand übergeordneter Wertvorstellungen. Auch in den anderen europäischen Rechtsordnungen soll dies grundsätzlich den Normalfall darstellen. 88 Das schließt allerdings nicht aus, dass Gesetzesrecht konkrete Vorgaben für die Auslegung bestimmter Verträge oder Vertrags85

Allgemein zu diesem Zweck bei der Anwendung der EU-Grundrechte EuGH Rs. C206/13 (Siragusa) Rn. 34. 86 BGHZ 179, 27. Dazu etwa S. Pötters/R. Christensen, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze, JZ 2011, 387; aus dem vorliegenden Kontext Streinz/ Michl, Die Drittwirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011, 384, 386. 87 Zur parallelen Fragestellung für Grundfreiheiten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 429 ff. 88 C.-W. Canaris/H.C. Grigoleit, Interpretation of Contracts, in: A.S. Hartkamp et al. (Hg.), Towards a European Civil Code (2011), 587.

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klauseln machen kann. Insbesondere können Normen Zweifelsregelungen enthalten. Die Rechtsprechung des EuGH legt nun den Schluss nahe, dass auch EU-Grundrechte für die Auslegung von Verträgen relevant werden können. In Werhof stellte der Gerichtshof ausdrücklich zwei Auslegungsmöglichkeiten einer vertraglichen Klausel, nämlich die dynamische und die statische Auslegung, gegenüber. 89 Für letztere sprach ihm zufolge die umfassende Gewährleistung des Grundrechts der negativen Vereinigungsfreiheit. Gerade aus dem grundrechtlichen Argument schloss er, dass die einschlägige Richtlinie daher keine dynamische Auslegung der Klausel erforderte. Auch wenn das Grundrecht somit nur mittels des gedanklichen Zwischenschrittes der Auslegung der Richtlinie die Auslegung eines Vertrages beeinflusste, so ist nichtsdestotrotz ein Einfluss zu konstatieren. Ohne das Grundrecht wären die Richtlinie und damit der Vertrag womöglich anders auszulegen gewesen. Argumentationsstrukturell ähnlich gelegen ist der Fall Alemo Herron. Auch in diesem ging es im Ausgangsverfahren um die Auslegung einer vertraglichen Klausel. Die Bedeutung der EU-Grundrechte ging nach dem EuGHUrteil diesmal noch weiter: Sie untersagte im Endeffekt sogar eine bestimmte, nämlich die dynamische, Auslegung der vertraglichen Klausel und deren Durchsetzung. Mit dem Recht unternehmerischer Freiheit aus Art. 16 GRC begründete der Gerichtshof eine bestimmte Auslegung einer Richtlinie, welche dann wiederum eine ansonsten denkbare Auslegung eines Vertrags ausschloss.90 Was ist von einem solchen Einfluss von EU-Grundrechten auf die Auslegung von Verträgen zu halten? In einer Besprechung des Falles Werhof stellt Thüsing lapidar fest, dass es eine „europarechtskonforme Auslegung privater Willenserklärung“ nicht gebe.91 Schließlich ginge es bei der Auslegung von Verträgen lediglich um den Willen der Vertragsparteien, und Auslegungsregelungen richteten sich im Übrigen nach nationalem Recht. Zu letzterem ist zu sagen, dass dies zwar im Grundsatz stimmt, aber etwa Art. 5 S. 2 der Klauselrichtlinie zeigt, dass auch Unionsrecht Vorgaben für die Auslegung von Verträgen machen kann.92 Wenn Europarecht Vertragsschlüsse und Vertragsinhalte mittels zwingenden Rechts begrenzen und gestalten kann, dann muss es erst recht Auslegungsregelungen für Verträge aufstellen können, die mehrdeutig sind. Schwerer wiegt Thüsings Verweis auf die Grundregel, dass Verträge grundsätzlich nach dem erkennbaren Willen der Vertragsparteien auszulegen sind. Hier mag es zwar Fälle geben, in denen Anhaltspunkte für 89

EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 34, 35. EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), Rn. 36, 37. 91 Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473, 475. 92 Dieser lautet: „Bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel gilt die für den Verbraucher günstigste Auslegung.“ 90

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einen Willen zu grundrechtskonformen Verträgen vorliegen. Man denke etwa an Unternehmen, die zur Entfaltung ihrer coroporate social responsibility Erklärungen über die Einhaltung von Menschenrechten abgegeben haben.93 Es bleiben aber zahlreiche Sachverhalte, in denen eine solche Argumentation nicht möglich ist. Die Gründe, welche man üblicherweise für die europarechtskonforme Auslegung nationalen Rechts anführt, greifen bei Verträgen jedenfalls nicht.94 Verträge sind nicht als Teil eines Systems konzipiert, und es schont auch nicht die Gewaltenteilung, wenn man sie konform auslegt statt sie etwa für unwirksam zu erklären. Allerdings schreibt auch das einfache Vertragsrecht Grenzen möglicher Verträge vor. Solche Grenzen können sich insbesondere auch aus grundrechtlichen Einflüssen ergeben. Bei manchen Verträgen mag etwa unklar sein, ob sie solche Grenzen überschreiten und sie damit unwirksam sind oder ob sie sich noch im zulässigen Rahmen bewegen. In solchen Fällen könnte man bei Fehlen sonstiger Indizien annehmen, dass der Parteiwille auf den noch zulässigen Vertrag gerichtet ist. Es würde schließlich – und hier gibt es doch eine Parallele zur Begründung der europarechtskonformen Auslegung nationalen Rechts – regelmäßig einen milderen Eingriff in die Privatautonomie bedeuten, eine Klausel in einer bestimmten Weise auszulegen anstatt sie ganz zu verwerfen. Gerade im Fall Alemo Herron spricht außerdem das ebenfalls in der Überlassungsrichtlinie verankerte Ziel des Arbeitnehmerschutzes dafür, die Klausel statisch auszulegen statt sie für unwirksam zu erklären.95 Hier von einer europarechtskonformen oder gar europagrundrechtskonformen Auslegung von Verträgen zu sprechen, wäre missverständlich, und würde einen schiefen Vergleich zur Auslegung nationalen Rechts ziehen. Dennoch ist zu konstatieren, dass EU-Grundrechte, 93

Denkbar wäre dies etwa bei Teilnehmern des „United Nations Global Compact“, dessen erstes Prinzip lautet „Businesses should support and respect the protection of internationally proclaimed human rights.“ S. die lange Teilnehmerliste unter https://www. unglobalcompact.org/what-is-gc/participants. Studie zu diesem und anderen internationalen Instrumenten bei L. Rieth, Global Governance und Corporate Social Responsibility: welchen Einfluss haben der UN Global Compact, die Global Reporting Initiative und die OECD Leitsätze auf das CSR-Engagement deutscher Unternehmen? (2009); Beobachtung der „Menschenrechts-Erklärungen“ von Unternehmen zuvor schon z.B. bei D. Cassel, Corporate Initiatives- A Second Human Rights revolution?, 19 Fordham International Law Journal (1995), 1963. 94 Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473, 475. 95 Der EuGH überließ im Übrigen dem nationalen Gericht, wie es mit der Klausel konkret umzugehen habe und entschied im Ergebnis lediglich, dass die Durchsetzung einer dynamischen Klausel in diesem Fall nicht möglich sein dürfe: „[Es ist] einem Mitgliedstaat verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs ausgehandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang geschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen.“ (Rn. 37).

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unter Umständen vermittelt über die Auslegung sonstiger Normen, für die Auslegung auch von Verträgen eine indirekte Wirkung erzielen können. b) Tiefenstufen der grundrechtlichen Argumentation bei der Auslegung anderer Normen Bisher wurden die Rechtssätze differenziert, deren Auslegung von EUGrundrechten beeinflusst wird. Im Folgenden geht es um die Intensität der indirekten Wirkung auf sie. Die Tiefe, mit der grundrechtlich argumentiert wird, variiert in der Rechtsprechung des EuGH stark. Sie reicht von der kurzen unterstreichenden Nennung eines Grundrechts bis hin zur detaillierten Grundrechtsprüfung, gänzlich losgelöst von den auszulegenden Normen. Einteilungen zwischen diesen Polen sind nicht gänzlich trennscharf möglich, sondern liegen eher auf einem Kontinuum. Dem Verständnis und der Strukturierung der vorhandenen Rechtsprechung kann es aber dienen, drei Stufen zu unterscheiden: bloße Nennung zur Unterstreichung (dazu aa)), weiterführende Argumente bei der Auslegung einzelner Begriffe (dazu bb)) sowie vollständig von der Struktur einfachen Rechts losgelöste Grundrechtsprüfung (dazu cc)). Bei diesem Analyseraster geht es zum einen darum, empirische Daten (Urteilsaussagen) zu ordnen und Muster zu erkennen. Zum anderen bildet es unterschiedliche Intensitätsstufen der Einwirkung auf die Eigenständigkeit einfacher privatrechtlicher Normen ab. Dies ist insofern von Relevanz, als dass bei der allgemeinen Debatte der Grundrechtswirkung im Privatrecht häufig die Eigenständigkeit des letzteren ein wichtiges Argument oder Petitum darstellte. 96 Je nach Tiefenstufe der Grundrechtsprüfung unterscheidet sich, inwieweit die Strukturen und Systematik des einfachen Rechts behalten oder überlagert werden. aa) Bloße Unterstreichung oder Betonung Teilweise nennt der EuGH Grundrechte als bloß unterstreichend für eine Wertung oder für eine bestimmte Auslegung einer Norm des Sekundärrechts. So stellte er im Fall DR und TV2 Danmark am Ende einer Auslegung fest: „Betrachtet man die dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Auslegungsmöglichkeiten, spricht außerdem für diese Lösung, dass sie den Sendeunternehmen eine umfassendere Nutzung der in Art. 16 [GRC] verbürgten unter96

Insbesondere in der deutschen Drittwirkungsdebatte brachte man vor, dass unmittelbare Drittwirkung die Systematik des Privatrechts beschädigen würde – G. Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: T. Maunz (Hg.), Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung: Festschrift zum 75. Geburtstag von Hans Nawiasky (1956), 157, 165: „Zerstörungswerk in systematischer Hinsicht“. Führen Grundrechte bloß Argumente in eine Auslegung privatrechtlicher Normen ein, so lässt das die formale Systematik im Wesentlichen unberührt – inhaltliche Grundprinzipien könnten freilich trotzdem verändert werden.

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nehmerischen Freiheit ermöglicht, ohne dabei den Wesensgehalt der Urheberrechte zu beeinträchtigen.“97 Wird ein Grundrecht ohne es näher auszuführen zitiert, könnte man sogar bezweifeln, ob überhaupt eine Grundrechtswirkung in dem Sinne vorliegt, dass die grundrechtliche Argumentation etwas am Ergebnis ändert. Jedenfalls, wenn wie in DR und TV2 Danmark gesagt wird, dass ein Grundrecht auch ein zusätzliches Argument bietet, könnte man andererseits annehmen, dass es in die Urteilsfindung mit eingeflossen ist. In einem anderen Beispiel schloss der EuGH an einer Stelle des Falles Google Spain eine Auslegung einer Richtlinienvorschrift damit ab, dass sie um „einen wirksamen und umfassenden Schutz der Grundfreiheiten und Grundrechte natürlicher Personen, insbesondere des Rechts auf Privatleben, zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden“ solle. 98 Eine oberflächliche Nennung erfuhr in mehreren Fällen Art. 31 Abs. 2 GRC. In KHS, Heimann und Lock betonte der EuGH jeweils, dass der Anspruch auf Jahresurlaub in dieser Vorschrift „verankert“ sei.99 Er führte nicht näher aus, was daraus folgte, aber betonte damit immerhin die Bedeutung eines Interesses im Rahmen der Auslegung des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG (welcher ebenfalls einen Anspruch auf Jahresurlaub verlangt). 100 In all diesen Fällen schafft die Nennung von Grundrechten eine besondere Autorität einer Auslegung, indem sie anzeigte, dass herausragend bedeutende Normen (die Grundrechte) berücksichtigt wurden. bb) Zusätzliche Argumente und Wertungen in der Auslegung Der Übergang zur nächsten, intensiver mittels Grundrechten argumentierenden Stufe kann im Einzelfall fließend sein. Diese soll hier so definiert sein, dass ein Grundrecht nicht bloß unterstreichend in eine Argumentation hineintritt, sondern selbst weitergehende Argumente in die Auslegung einer Norm oder eines Teils einer Norm einbringt. Beispielsweise im Fall Werhof101 eröffnete das Eingehen auf die negative Koalitionsfreiheit ein zusätzliches inhaltliches Argument für die Auslegung der Überlassungsrichtlinie. Gleiches gilt für den Fall Alemo Herron: 102 Indem der EuGH auf die unternehmerische Freiheit und die darunter fallende Vertragsfreiheit einging, warf er mittels Grundrechten neue Gesichtspunkte in der Auslegung der Richtlinie auf. Deutlich wird der Einfluss auch in der Rechtssache Kušionová103. Bei der Auslegung der Klauselrichtlinie forderte der EuGH vom nationalen Gericht, das 97

EuGH Rs. C-510/10 (DR und TV2 Danmark), Rn. 55. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 53. 99 S.o. § 4 II. 4. und 6. 100 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 37; s.o. § 4 II. 4.-6. 101 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 34, 35. 102 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), Rn. 36, 37. 103 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová). 98

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Grundrecht auf Achtung der Wohnung gem. Art. 7 GRC zu berücksichtigen. Die grundrechtliche Vorschrift importierte also eine besondere Wertung, nämlich die Hervorhebung der Bedeutung der Wohnung, in die allgemein und ohne solche spezifische Schutzrichtung angelegte Klauselrichtlinie. cc) Vollständige Grundrechtsprüfung Der Einfluss von Grundrechten auf die Auslegung anderer Normen geht teilweise so weit, dass der EuGH eine umfassende Grundrechtsprüfung vornimmt, die von der Argumentation im Übrigen und anderen Auslegungsargumenten völlig losgelöst ist. Inhaltlich läuft dies auf eine rein grundrechtliche Analyse eines Sachverhalts hinaus, die nicht mehr von der Normstruktur einfachen Rechts geleitet oder in diese eingebettet ist. Beispiel hierfür finden sich in den Urteilen Promusicae,104 Scarlet Extended,105 SABAM v. Netlog106 und McDonagh v. Ryanair107. Dabei handelt es sich regelmäßig um die Überprüfung der Grundrechtskonformität einer mit einfachen Auslegungsmitteln gefundenen Auslegung von Sekundärrecht und die damit verbundene rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts. Beispielsweise stellte der EuGH in Scarlet Extended zunächst fest, dass die Einrichtung eines bestimmten Onlinefilters gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31/EG verstoßen würde. Anschließend setzte er neu an, um zu überprüfen, ob dieses Ergebnis auch mit den anwendbaren Grundrechten in Einklang steht. Darauf folgte eine detaillierte Erörterung der einschlägigen widerstreitenden Grundrechte (Art. 17 Abs. 2 GRC einerseits, Art. 8, 11, 16 GRC andererseits). Diese Prüfung bestätigte die vorher getroffene Auslegung der Richtlinie als grundrechtskonform. Auf gleiche Weise ging der Gerichtshof in SABAM v. Netlog vor. In Promusicae legte er ebenfalls zunächst mehrere Richtlinien aus mit dem Ergebnis, dass der Auskunftsanspruch, nach dem gefragt war, nicht bestehe. Daraufhin setzte er zur Prüfung der Grundrechtskonformität dieses Auslegungsergebnisses anhand der widerstreitenden Grundrechte neu an – auch wenn er die Ausführungen dann im Wesentlichen den nationalen Gericht überließ. Im Fall McDonagh v. Ryanair ging es um die Auslegung einer Verordnung. Wieder legte der EuGH zunächst die Fluggastrechteverordnung mit einfachen Mitteln aus, um anschließend ausführlich zu prüfen, ob diese Auslegung primärrechtskonform und insbesondere auch grundrechtskonform sei. Etwas anders war die Argumentation des Gerichtshofes im Fall Google Spain.108 Hier trennte er einfache Auslegung und Grundrechtsprüfung nicht in zwei Teile, sondern ging bei der Auslegung der einschlägigen Richtlinie 104 105 106 107 108

EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271. EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended). EuGH Rs. C-360/10 (SABAM). EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair). EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 68-81.

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tiefgehend und umfassend auf Grundrechte ein. In der Konsequenz bestimmte dabei aber die grundrechtliche Argumentation die Diskussion, und einfachgesetzliche Argumente traten hinter die abzuwägenden grundrechtlichen Interessen zurück. 3. Direkte Wirkung der EU-Grundrechte: Unmittelbare Anwendung im Privatrecht An die indirekte Wirkung schließt sich die Frage der direkten Wirkung (beziehungsweise unmittelbaren Anwendbarkeit) der EU-Grundrechte im Privatrecht an. Die Frage ist nicht, ob es eine indirekte oder direkte Wirkung gibt, sondern ob neben der indirekten auch eine direkte Wirkung besteht. Wiederum dient die Rechtsprechung des EuGH als primäre Erkenntnisgrundlage. Aus ihr ergibt sich, dass jedenfalls manche EU-Grundrechte grundsätzlich auch in Privatrechtsbeziehungen unmittelbar angewandt werden können und dabei kollidierenden Normen des nationalen Privatrechts vorgehen (dazu a)). Diese Direktwirkung unterliegt nach dem EuGH allerdings Einschränkungen (dazu b)). Häufig wird angenommen, dass die unmittelbare Anwendung von Grundrechten im Privatrecht der Aussage gleichkäme, die Grundrechte würden (auch) Private verpflichten beziehungsweise es bestünde eine unmittelbare Drittwirkung.109 Dies erscheint jedoch zu undifferenziert. Die unmittelbare Anwendbarkeit von EU-Grundrechten im Privatrecht kann dies beinhalten, muss es allerdings nicht (dazu c)). Insbesondere die Begrifflichkeit des „direct horizontal effect“, die sich in der europäischen Diskussion etabliert hat,110 ist unscharf beziehungsweise wird mehrdeutig genutzt.111 a) Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Privatrecht durch den EuGH Der EuGH hat inzwischen in mehreren Urteilen EU-Grundrechten unmittelbare Anwendbarkeit auch im Privatrecht beziehungsweise in privatrechtli-

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Für Nachweise s.u. c). Z.B. Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657; Groussot et al., The Scope of Application of EU Fundamental Rights and Member States’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication, Eric Stein Working Pape 1/2011; Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170. 111 Dazu Hartkamp, The Concept of (Direct and Indirect) Horizontal Effect of EU Law: The Terminology of European Law Scholars and of Private Law Scholars Compared, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 189. 110

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chen Streitigkeiten zugesprochen.112 Diese Annahme fügt sich in die allgemeine Dogmatik der Wirkungen des Primärrechts ein, aus der die Konstruktion der unmittelbaren Anwendbarkeit ursprünglich stammt (dazu oben § 5 I. 1.).113 Damit besteht eine wesentliche Differenz zur Wirkung von Richtlinien, die bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten nicht unmittelbar anzuwenden sind und lediglich die Auslegung nationalen Privatrechts beeinflussen können.114 Eine entscheidende Konsequenz aus der unmittelbaren Anwendung der EU-Grundrechte ist, dass EU-grundrechtswidriges nationales Privatrecht nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unanwendbar ist. Die direkte Wirkung der EU-Grundrechte geht somit nicht nur in der Konstruktion, sondern auch substanziell über die bloße indirekte Beeinflussung mittels europarechtskonformer Auslegung hinaus.115 Wie schwerwiegend sich dies in der Praxis auswirkt, hängt insbesondere davon ab, wie weitgehend nationale Gerichte sich bei europarechtskonformer Auslegung der Wortlautgrenze nähern oder diese gar überschreiten. Je nach Mitgliedstaat kann damit die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der EU-Grundrechte eine unterschiedlich große Bedeutung haben. Sowohl im Fall Mangold wie auch (noch deutlicher) im Fall Kücükdeveci stellte der EuGH fest, dass der allgemeine Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung unmittelbar anwendbar sei und nationales Recht verdrängen könne. In Mangold entschied er, dass eine Regel wie § 14 Abs. 3 TzBfG nicht anzuwenden sei. Ob er dies über die Anwendung der Antidiskriminierungsrichtlinie oder des allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung (und ihren Vorrang vor nationalem Recht) begründete, war aus den Urteilsgründen zunächst nicht ganz eindeutig ersichtlich. In Kücükdeveci stellte er dann aber klar, dass der allgemeine Grundsatz des Verbots der Al112

Soweit etwa Seifert anführt, dass eine „unmittelbare Berufung zum Beispiel von Arbeitnehmern auf sie [die Grundrechte] ausgeschlossen“ sei, ist dies jedenfalls unpräzise: Selbst wenn eine Bindung Privater ausscheiden sollte, können sich Privatpersonen auch in Privatrechtsverhältnissen unmittelbar auf sie berufen – A. Seifert, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299, 304. 113 Die Bedeutung der Berücksichtigung dieses dogmatischen Ursprungs betont auch Hartkamp, The Concept of (Direct and Indirect) Horizontal Effect of EU Law: The Terminology of European Law Scholars and of Private Law Scholars Compared, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 189, 190. 114 S.o. § 5 I 1. a) aa). 115 Insofern kann man nicht sagen, direkte und indirekte Wirkung seien bloß verschiedene Konstruktionen der gleichen inhaltlichen Argumente mit den gleichen Rechtsfolgen. Dies unterscheidet die EU-Grundrechte vom deutschen Recht, wo man mit guten Gründen für mittelbarere und unmittelbarere Drittwirkung entsprechendes behaupten kann – dazu Kumm, Who is Afraid of the Total Constitution?, German Law Journal 2006, 341; G. Bachmann, Legitimation privater Macht, in: F. Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter II. 4. c).

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tersdiskriminierung – und nicht die Richtlinie –116 erforderte, dass § 622 Abs. 2 BGB nicht angewandt würde.117 Der EuGH sprach zwar nicht wörtlich von der unmittelbaren Anwendung des Grundsatzes, aber der Vorrang einer Normaussage des Unionsrechts vor einer nationalen Regelung impliziert dies.118 An diese Rechtsprechung zu Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen schließt sich die Frage an, ob gleiches für die Chartagrundrechte gilt. In Kücükdeveci zitierte der EuGH zwar an einer Stelle des Urteils Art. 21 GRC, stellte aber an den entscheidenden Stellen allein auf den allgemeinen Grundsatz ab. Auch im darauf folgenden Urteil Prigge formulierte der Gerichtshof noch etwas kryptisch, dass das Verbot der Diskriminierung wegen das Alters einen allgemeinen Grundsatz darstelle und „in Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthalten [ist], die seit dem 1. Dezember 2009 den gleichen rechtlichen Rang hat wie die Verträge“. Dem Urteil HK Danmark kann man dagegen entnehmen, dass auch das in Art. 21 GRC normierte Verbot unmittelbar anzuwenden ist. Wörtlich sprach der EuGH vom „in Art. 21 der Charta verankerte[n] und in der Richtlinie 2000/78 konkretisierte[n] Verbot der Diskriminierung wegen des Alters“.119 Als er im Urteil AMS außerdem auf die Sache Kücükdeveci verwies, sprach der Gerichtshof wie selbstverständlich nur noch von Art. 21 GRC, der dem Einzelnen ein „subjektives Recht“ verleihe, „das als solches geltend gemacht werden kann“.120 In diesem Kontext nutzte er auch ausdrücklich den Begriff einer „unmittelbar anwendbare[n] Rechtsnorm“. 121 Er erteilte außerdem Konstruktionen eine Absage, die Grundrecht und Richtlinie zu einer hybriden unmittelbaren Anwendung verquicken.122 Die Bezugnahme auf Art. 21 in Kücükdeveci erwähnt die Richtlinie mit keinem Wort, und im konkreten Fall wandte er sie ebenfalls nicht in einer zusammengefassten Prüfung an.123 Damit kann man inzwischen feststellen, dass allgemeine Grundsätze und Chartagrundrechte nach dem EuGH gleichermaßen direkte Wirkung besitzen. Nachdem oben schon ausgeführt wurde, dass sich allgemeine Grundsätze und Chartagrundrechte hinsichtlich ihrer indirekten Wirkung gleichen,124 kann man damit insgesamt

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EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 46, 50. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 54. 118 Dazu schon oben § 5 I. 1. a) bb). 119 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 37. 120 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 47. 121 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 46 dazu, dass im Gegensatz zu Art. 21 aus Art. 27 GRC eine solche im konkreten Fall sich nicht ergebe. 122 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 49; vgl. etwa Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der gleichen Rs., Rn. 73 ff. 123 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 49. 124 § 5 I. 2. a) aa). 117

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davon ausgehen, dass sich die Wirkungen der beiden Normgruppen jedenfalls in ihrer grundsätzlichen Konstruktion nicht unterscheiden. Die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit jedenfalls des Art. 21 GRC auch in Privatrechtsverhältnissen ist überzeugend.125 Sie fügt sich zum einen stimmig in die allgemeine Systematik der Wirkungen des Europarechts ein. Es wäre widersprüchlich, wenn gerade den Grundrechten als Normen mit überragendem Bedeutungsgehalt diese Wirkung grundsätzlich verwehrt würde.126 Zum anderen stellt sie die Einheit des Unionsrechts sicher. Insbesondere hängt diese bei unmittelbarer Anwendbarkeit nicht davon ab, wie weit nationale Gerichte bei der unionsrechtskonformen Auslegung hinsichtlich der Wortlautgrenze gehen können und wollen. Ein weiteres Argument lässt sich aus Art. 52 Abs. 5 GRC gewinnen: Wenn danach Grundsätze im Sinne der Charta schon zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten herangezogen werden können, und dies eine Verkürzung gegenüber der Wirkung der Grundrechte im engeren Sinne darstellt („nur“), dann liegt nahe, dass letztere weitergehend auch unmittelbar angewandt werden können. Schlussendlich lässt sich Art. 51 Abs. 1 GRC kein Gegenargument entnehmen, denn die direkte Wirkung setzt nicht voraus, dass Private als Adressaten der Grundrechte angesehen werden (dazu noch unten c)). b) Einschränkende Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit nach dem Urteil AMS Wie man aus dem Urteil AMS entnehmen kann, spricht der EuGH allerdings nicht allen Vorschriften der Charta uneingeschränkt direkte Wirkung (in Privatrechtsverhältnissen) zu. Jedenfalls in jenem Fall war Art. 27 GRC nicht unmittelbar anzuwenden. Konkret ging es um die Pflicht zur Berücksichtigung bestimmter Arbeitnehmer bei der Berechnung der Arbeitnehmerzahl, um festzustellen ob eine Arbeitnehmervertretung einzurichten war.127 Diese bestimmte Anforderung ließe dem EuGH zufolge sich „als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten“. 128 Dabei grenzte er den Fall von der Konstellation in Kücükdeveci ab. Art. 27 GRC müsse, anders als Art. 21 GRC, „damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden“.129 Die Vorschrift lautet genau: „Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter muss auf den geeigneten Ebenen eine rechtzeitige Unter125

Ebenso Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 270 f. Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 271: ansonsten „schwerer Wertungswiderspruch“. 127 S. ausführlich oben § 4 II. 8. 128 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 46. 129 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 45. 126

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richtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.“ Im Endeffekt formuliert der EuGH damit eine Voraussetzung, die er im Allgemeinen für die unmittelbare Anwendung von Unionsrecht verlangt, nämliche hinreichende Konkretheit und Unbedingtheit einer Vorschrift. 130 Man mag argumentieren wollen, dass doch auch die Grundfreiheiten und etwa Art. 21 GRC alles andere als bestimmt seien und die Unterscheidung zwischen verschiedenen Bestimmtheitsgraden bei Grundrechtsvorschriften schwierig oder gar willkürlich sei.131 Dem EuGH ist aber zuzugestehen, dass Art. 27 GRC eben gerade auf die Ausgestaltung durch nationales Recht und Sekundärrecht angelegt und damit besonders unkonkret ist. 132 Indem der Gerichtshof sich nicht unter Berufung auf Art. 27 GRC zum Ersatzprivatrechtsgesetzgeber aufschwang, sondern judicial restraint zeigte, nahm er gerade auch auf Gewaltenteilungsgrundsätze Rücksicht: Es gab keinen hinreichend klaren Normbefehl, den er hätte umsetzen können. Insofern fügt sich die Entscheidung zum einen in die allgemeinen Grundstrukturen der direkten Wirkung des Unionsrecht ein und ist zum anderen auch konkret nachvollziehbar. Der EuGH befand im Übrigen noch nicht einmal, dass Art. 27 GRC niemals unmittelbar angewendet werden könnte. Er entschied lediglich, dass die konkrete und recht spezielle Anforderung an die Berechnungsmethode nicht aus Art. 27 GRC folge.133 Wenn es die Richtlinie, die diese Berechnungsmethode vorgab, nicht gegeben hätte, wäre auch wohl kaum jemand darauf gekommen, ihren Normbefehl aus Art. 27 GRC abzuleiten beziehungsweise solch eine Ableitung von einem Gericht zu verlangen. Erwähnenswert ist noch, dass der EuGH bei der Behandlung des Art. 27 GRC in keiner Weise auf die privatrechtliche Dimension des Falles einging. Er diskutierte auch nicht, wer durch die Vorschrift verpflichtet wird, sondern sprach lediglich an, 130

Dazu schon oben § 5 I 1. a) aa). Aus dem Kontext des Privatrechts hierzu etwa Hesselink, The General Principles of Civil Law: Their Nature, Roles and Legitimacy, in: Leczykiewicz/Weatherill (Hg.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), 131, 151. 131 Ähnlich Heuschmid, Horizontalwirkung von Art. 27 Europäische Grundrechtecharta – Fehlanzeige?, EuZA 2014, 514. 132 Ähnlich Seifert, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299, 305, 310. 133 EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 46: „Das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14 enthaltene und an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern, die ursprünglich zu dem Kreis der bei dieser Berechnung zu berücksichtigenden Personen gehörte, auszuschließen, lässt sich nämlich als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten.“

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§ 5 Dogmatische Struktur

wer durch Grundrechte ein „subjektives Recht“ erlangte.134 Dies kann man als weiteren Beleg dafür sehen, dass die unmittelbare Anwendbarkeit der EUGrundrechte als solche keinen Besonderheiten im Privatrecht unterliegt. Unbenommen bleibt damit freilich, dass die konkrete Prüfung und Abwägung von Grundrechten im privatrechtlichen Kontext auf bestimmte Inhalte und Spannungslagen in anderer Weise als in öffentlich-rechtlichen Konstellationen einzugehen hat. c) Unmittelbare Anwendbarkeit und die Offenheit der Adressatenfrage – die Missverständlichkeit des direct horizontal effect Es wurde bereits einige Male angedeutet, dass die Anerkennung der Direktwirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht die Adressatenfrage offen lässt. Manche einschlägige Literatur scheint von einer gegenteiligen Annahme auszugehen beziehungsweise differenziert dies unter dem Begriff des direct horizontal effect nicht.135 Unmittelbare Anwendbarkeit meint nach allgemeiner unionsrechtlicher Begrifflichkeit lediglich, dass eine unionsrechtliche Norm als solche vor nationalen Gerichten anzuwenden ist. Auch die unmittelbare Anwendung von EU-Grundrechten, die in Privatrechtsverhältnissen Wirkung zeigt (also „horizontale“), kann rein staatsgerichtet zu verstehen sein.136 Sie entspricht damit vielmehr dem, was Canaris für das deutsche 134

EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 47. Vgl. z.B.: Lenaerts, Exploring the Limits of the EU Charter of Fundamental Rights, 8 European Constitutional Law Review (2012), 375, 377 Fn. 11; Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170, 174; de Mol, Kücükdeveci: Mangold Revisited – Horizontal Direct Effect of a General Principle of EU Law, 6 European Constitutional Law Review (2010), 293; Cherednychenko/Reich, The Constitutionalization of European Private Law: Gateways, Constraints, and Challenges, 23 European Review of Private Law (2015), 797, unter 5.; Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385, 2388; s.a. Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 71 ff., insbes. 80-83, die unter der Überschrift „unmittelbare Anwendbarkeit des Grundrechts“ auf dessen „fehlende Drittwirkung“ eingeht. Allgemein zum Thema missverständlicher Begrifflichkeiten Hartkamp, The Concept of (Direct and Indirect) Horizontal Effect of EU Law: The Terminology of European Law Scholars and of Private Law Scholars Compared, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 189; auf unterschiedliche Bedeutungen weist auch hin Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European Law Review (2013), 479, 490, um dann als Konsequenz daraus aber strukturelle Dogmatisierungsversuche gleich ganz zu verwerfen anstatt Ungenauigkeiten zu lösen. Hintergrund der Unklarheit ist wohl, dass der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien in Privatrechtsverhältnissen mit dem Argument ablehnt, sie adressierten Private nicht – dazu schon oben § 5 I. 1. a) aa). 136 Allgemein zur unmittelbaren Anwendbarkeit der EU-Grundrechte Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und 135

I. Direkte und indirekte Wirkung

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Recht als unmittelbare Geltung der Grundrechte bezeichnet. 137 Dies weicht gerade von dem ab, was man in der deutschen Diskussion üblicherweise unter unmittelbarer Drittwirkung versteht: die Adressateneigenschaft Privater.138 Im Fall Kücükdeveci beispielsweise stand ein privatrechtliches Gesetz auf dem Prüfstand. Es war der Inhalt dieser Norm, § 622 Abs. 2 BGB, der laut dem EuGH europarechtswidrig war. Der EuGH sprach ausdrücklich von einer „unionsrechtswidrigen nationalen Bestimmung“, nicht etwa einem grundrechtswidrigen Vertrag oder ähnlichem. Der deutsche Gesetzgeber hatte die nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung vorgenommen. Aufgrund des Vorrangs des europarechtlichen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters durfte die Norm nicht angewendet werden. Dies hatte zwar unmittelbar Auswirkungen auf die Rechtslage zwischen Kücükdeveci und ihrem (ehemaligen) Arbeitgeber, impliziert aber nicht die Adressateneigenschaft des letzteren. Ebenso war es in Mangold eine gesetzliche Vorschrift, durch welche wiederum der deutsche Gesetzgeber eine altersbasierte Diskriminierung vorgenommen hatte. Das Privatrechtsverhältnis wurde dadurch verändert, dass der europäische Grundsatz zur Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 TzBfG führte. Der allgemeine Grundsatz des Verbots des Diskriminierung wegen Alters wurde durch den EuGH so angewandt, dass er ein Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat beziehungsweise der staatlichen Ausgestaltung arbeitsrechtlicher Vertragsgestaltung betraf, nicht aber ein Recht des Mangold gegen Helm. Nach der Rechtsprechung des EuGH wäre es daneben beispielsweise denkbar, dass besonders weitgehende regulative Vorschriften die Vertragsoder Unternehmerfreiheit verletzten. 139 Machte eine Vertragspartei dies in einem Rechtsstreit mit Erfolg geltend, so würde die unmittelbare Anwendung der Unternehmensfreiheit aus Art. 16 GRC dazu führen, dass die fragliche Grundfreiheiten (2014), 513, 520 f.; für Grundfreiheiten unterscheidet etwa Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 634 zwischen unmittelbarer Drittwirkung und unmittelbarer Wirkung (s. auch dort für Kritik an ungenauer Verwendung, Fn. 19). 137 Z.B. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 35. 138 Ebenso für Grundfreiheiten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 634; zu EU-Grundrechten Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013), 163; zur Begrifflichkeit in der deutschen Grundrechtsdogmatik Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 34 f. Ein weiteres Verständnis der unmittelbaren Drittwirkung findet sich etwa bei Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 490, wonach sie lediglich meint, dass „aus grundrechtlichen Gründen bestimmte Rechte und Nicht-Rechte [...] in der Bürger/Bürger-Relation bestehen, die ohne diese Gründe nicht bestehen würden“. Dies würde jede Grundrechtswirkung im Privatrecht also mit unmittelbarer Drittwirkung gleichsetzen. Bezogen auf die oben besprochenen Tiefenstufen (§ 5 I. 2. b)) wäre demnach jedenfalls die zweite und dritte Stufe unmittelbare Drittwirkung, bei der ersten wäre dies zweifelhaft. 139 Dass zwingende vertragsrechtliche Vorschriften in Freiheitsgrundrechte eingreifen und diese verletzen können implizieren die Entscheidungen EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich); EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron).

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Vorschrift nicht anzuwenden wäre. Dies könnte etwa die Auswirkung haben, dass eine bestimmte Vertragsklausel doch wirksam wäre, was bei Anwendbarkeit einer regulativen Vorschrift nicht der Fall gewesen wäre. Bei solcher Direktwirkung würde jedoch, obwohl sie im Privatrechtsverhältnis durchschlägt und damit „horizontal“ genannt werden kann, wohl niemand auf die Idee kommen, Private seien Adressaten der Grundrechte, obwohl ein EUGrundrecht unmittelbar in einer privatrechtlichen Streitigkeit angewandt werden würde. Auch wenn ein solcher Fall bisher nicht entschieden wurde, ist er ohne Weiteres denkbar. Festgehalten werden kann damit zunächst, dass EU-Grundrechte jedenfalls teilweise im Privatrecht unmittelbar anwendbar sind, dies aber die Adressatenfrage offen lässt. Diese bildet den Gegenstand des nächsten Abschnittes.

II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte

Zur Frage, ob die EU-Grundrechte Private unmittelbar binden, gibt es inzwischen eine Fülle von Stellungnahmen aus der Literatur und auch ausführliche Schlussanträge der Generalanwälte. Der EuGH hat sich dazu noch nicht eindeutig geäußert, doch gibt es bereits einige Urteile, die das Thema berühren. Mit einer Darstellung der relevanten Entscheidungen beginnt dieser Abschnitt (dazu 1.). Es folgt ein Überblick über die wesentlichen Argumente in der Debatte (dazu 2.). Vor klärenden Antworten des EuGH ist die Frage für die Praxis völlig offen. Das Ausmaß ihrer Bedeutung ist aber jedenfalls dann fraglich, wenn man wie hier einen strengen Unterschied macht zwischen der unmittelbaren Anwendung von Grundrechten im Privatrecht und der Verpflichtung Privater durch EU-Grundrechte (dazu 3.). 1. Anhaltspunkte aus der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH hat bisher keine klare Position zu erkennen gegeben, womit er sich in gewisser Weise treu bleibt – man schreibt ihm allgemein nicht zu, nach umfassenden Dogmatisierungen zu streben.140 Es gibt allerdings mehrere interessante Urteilspassagen, die in diesem Kontext teilweise erstaunlich wenig rezipiert werden. Dies betrifft die Fälle Prigge, HK Danmark, Google Spain und Telekabel. In Prigge und HK Danmark ging es nicht um Ungleichbehandlungen durch gesetzliche Vorschriften (wie in Mangold und Kücükdeveci), sondern um 140

Dazu beispielsweise Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis (2015), 491, 492 f.; vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-62/14 (Gauweiler), Rn. 39: der EuGH solle „one case at a time“ entscheiden (mit Verweis auf C.R. Sunstein, One case at a time: judicial minimalism on the Supreme Court (1999)).

II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte

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privates Recht: nämlich Tarifverträge und Arbeitsverträge. In Prigge wandte der EuGH das Verbot der Altersdiskriminierung ausdrücklich auch auf „Maßnahmen“ (Tarifverträge) von „Sozialpartnern“ an.141 Er entschied, dass Unionsrecht einer „tarifvertraglichen Klausel [wie der im Ausgangsverfahren] entgegensteht“. In HK Danmark stellte der Gerichtshof explizit heraus, dass die angebliche Diskriminierung sich nicht aus einem Gesetz oder Tarifvertrag, sondern „ausschließlich aus dem Arbeitsvertrag“ ergeben könne.142 Es ging konkret um eine arbeitsvertragliche Vereinbarung über die betriebliche Altersvorsorge, die nach Altersstufen differenzierte. Der EuGH stellte fest, dass die besagte Klausel eine Ungleichbehandlung begründete. Auch wenn er offen ließ, ob diese zu rechtfertigen war, wendete er doch ein Grundrecht unmittelbar an und prüfte an dessen Vorgaben (in Kombination mit der Richtlinie) eine privatvertragliche Vereinbarung. Man kann daraus zusammenfassend folgern, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters auch tarifvertragliche und einfachvertragliche Klauseln verdrängen kann. Ist dies nun aber gleichbedeutend mit der Adressateneigenschaft von Privatpersonen? Die Ausführungen des Gerichtshofs machen dies nicht klar: Er sprach zum Beispiel in Prigge an entscheidenden Stellen davon, dass „Mitgliedstaaten über Ermächtigungsvorschriften den Sozialpartnern gestatten können“143 die beanstandeten Maßnahmen vorzunehmen. In HK Danmark bemerkte er, dass „die Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen vorsehen können, dass eine Ungleichbehandlung keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt“.144 Diese Ausführungen machen es jedenfalls möglich, die Urteile so zu interpretieren, dass es bei der Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht um die Verpflichtung Privater, sondern um eine Pflicht der Mitgliedstaaten geht, Privatrecht grundrechtskonform zu gestalten und Ungleichbehandlungen zu unterbinden: die Grundrechte als unionsrechtliche Grenzen mitgliedstaatlicher Regulierung. Es soll nicht behauptet sein, dass diese Lesart zwingend ist. Es ist aber auch umgekehrt nicht zwingend, diesen Entscheidungen die Aussage zu entnehmen, Art. 21 GRC beziehungsweise der entsprechende allgemeine Grundsatz adressierten Private. Google Spain und Telekabel behandelten zwar nicht die unmittelbare Anwendung eines Grundrechts und können somit keine autoritative Antwort auf die übergeordnete Frage geben. Der EuGH sprach jedoch von Grundrechten zwischen Privaten in einer Weise, die den Eindruck erweckt, auch Privatpersonen seien Adressaten der Grundrechte. Die Entscheidung Telekabel enthielt im Kontext einer grundrechtskonformen Auslegung einer nationalen Vorschrift diesen Satz: „Andernfalls wäre der Eingriff des Anbieters [=eines 141 142 143 144

EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 48. EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 17. EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 64. EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 38.

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privaten Internetproviders] in die Informationsfreiheit dieser Nutzer gemessen am verfolgten Ziel nicht gerechtfertigt.“ 145 Diese Aussage provoziert folgende Frage: Setzt die Annahme eines „Eingriffs“ des einen in ein Recht des anderen nicht voraus, dass der eine an das Recht des anderen gebunden ist? Ähnlich drückte sich der Gerichtshof bei der grundrechtskonformen Auslegung einer Richtlinie in Google Spain aus: Er sprach von einem „Eingriff“ des Suchmaschinenbetreibers Google in die „Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten“ durch „Verarbeitung personenbezogener Daten“.146 Wiederum ging er also in seiner Argumentation davon aus, dass Handlungen von Privatpersonen Eingriffe in die Grundrechte anderer Privater darstellen können. Es würde zu weit gehen, hieraus gleich die Annahme abzuleiten, Private seien an die Grundrechte gebunden – es könnte sich schlicht um eine unbedachte Äußerungen handeln, deren genaue Begrifflichkeiten schließlich auch nicht für die Entscheidung essentiell waren. Die Aussagen könnten aber durchaus den Boden bereiten für hierauf aufbauende Argumentationen und sprechen sicher mehr für die Annahme der Bindung Privater als gegen sie. 2. Meinungsbild in der Literatur und bei den Generalanwälten Im Schrifttum wie auch in den Kammern der Generalanwälte sind die Lager geteilt. Die Diskussion, ob EU-Grundrechte, und insbesondere Chartagrundrechte, Private verpflichten, dreht sich vor allem um die Bedeutung des Art. 51 Abs. 1 GRC, einzelne Normen der Charta mit Privatrechtsbezug und den Vergleich zur Wirkung anderer primärrechtlicher Vorschriften. Art. 51 Abs. 1 GRC sagt aus, dass die Institutionen der EU stets und die Mitgliedstaaten jedenfalls teilweise an die Grundrechtecharta gebunden sind. Von einer Bindung Privater sagt er nichts. Die überwiegende Meinung geht daher davon aus, dass Private durch EU-Grundrechte nicht unmittelbar gebunden werden.147 Eine Vertragspartei könnte sich dann beispielsweise nicht gegen eine Vertragspflicht mit dem bloßen Vortrag wehren, dass die andere 145

EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 56. EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 81. 147 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 8083; J. Kokott/C. Sobotta, The Charter of Fundamental Rights of the European Union after Lisbon, EUI Working Papers, Academy of European Law No. 2010/06, 14; Lenaerts, Exploring the Limits of the EU Charter of Fundamental Rights, 8 European Constitutional Law Review (2012), 375, 377 Fn. 14; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 254; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013), 187; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 GRC Rn. 18; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 27; Streinz/Michl, Die Drittwirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011, 384; Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385, 2389. 146

II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte

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Vertragspartei sie hiermit in ihrem Grundrecht verletze. Dagegen wird eingewandt, dass Art. 51 GRC lediglich den Anwendungsbereich der EUGrundrechte definiere, nicht aber deren Adressaten. 148 Schließlich spricht auch seine offizielle Überschrift lediglich vom Anwendungsbereich. Auch wird vorgebracht, dass Art. 51 GRC die Bindung Privater nicht eindeutig ausschließe, sondern vielmehr offen lasse.149 Unterschiedliche Schlüsse kann man schließlich aus Vergleichen zu mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen ziehen. So nennt etwa die portugiesische Verfassung Private ausdrücklich als Adressaten.150 Dass die Charta hierhinter zurück bleibt, könnte man dann als bewusste Absage an die Bindung Privater interpretieren. Andererseits spielte die Bindung Privater in den Diskussionen des Grundrechtekonvents keine Rolle, was eher gegen eine gezielte Auslassung spricht. 151 Dass Art. 51 GRC lediglich staatliche Institutionen nennt, entspricht im Übrigen auch dem mitgliedstaatlichen Normalfall und hat auch in diesen nicht stets eine Bindung Privater ausgeschlossen.152 Neben der allgemeinen Vorschrift des Art. 51 GRC konzentrieren sich einige Argumente auf konkrete Grundrechte.153 Der Wortlaut mehrerer Artikel 148 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 28 ff.; P.P. Craig, EU administrative law (2012), 465; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657, 660; im Ergebnis auch A. Ward, Article 51, in: S. Peers et al. (Hg.), The EU Charter of Fundamental Rights: a commentary (2014), Rn. 42 ff. Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European Law Review (2013), 479, 493 ff. befürwortet eine Bindung Privater an Grundrechte nur im Falle von „regulatory power“ und bei „economic imbalance“ zwischen Vertragspartnern. Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 254 sieht die Auslassung in Art. 51 zwar als gewichtiges Argument, geht aber gleichzeitig davon aus, dass „die unmittelbare Bindung von Privatrechtssubjekten an die Grundrechte der Charta von dieser nicht ausdrücklich geregelt [wird], sondern Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen [wurde]“. 149 Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657, 659 f. 150 Dazu näher P. Mota Pinto, Die Einwirkung der Grundrechte auf das portugiesische Privatrecht, in: J. Neuner (Hg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007), 105 ff. 151 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 31; Craig, EU administrative law (2012), 465. Genau umgekehrt wendet allerdings Huber ein, dass dem Konvent um den Präsidenten Herzog die Thematik bekannt gewesen sein müsste und nimmt daher durchaus eine gezielte Auslassung an – Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385, 2389. 152 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 30. 153 Dazu Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 32; R. Streinz/W. Michl, in: Streinz, EUV, AEUV (2012), Art. 51 GRC Rn. 18; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657.

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§ 5 Dogmatische Struktur

legt nahe, dass sie auch Private binden sollen. Dies gilt etwa für Art. Art. 3 Abs. 2 c) GRC („Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu Nutzen”), Art. 24 Abs. 3 GRC („Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen [...]“), Art. 32 GRC („Kinderarbeit ist verboten [...],“). Selbst wenn man Art. 51 GRC die Aussage entnimmt, dass Private allgemein nicht Verpflichtete sind, so könnte man sie in diesen Einzelfällen als doch adressiert ansehen. Auch bezüglich solcher Normen lässt sich dem allerdings entgegen halten, dass hier lediglich dem Staat im Sinne des Art. 51 GRC aufgegeben sei, bestimmte Rechtspositionen zwischen Privaten zu schaffen, die Normen nicht aber Private selbst verpflichteten.154 Eine wichtige Rolle spielt in der Diskussion schließlich noch der Vergleich zur Verpflichtung Privater durch andere primärrechtliche Vorschriften. 155 Häufig wird darauf hingewiesen, dass der EuGH andere grundrechtsähnliche156 Vorschriften des Primärrechtsrechts so auslege, dass sie auch Private binden, obwohl ihr Wortlaut diese Wirkrichtung nicht ausdrücklich beinhaltete. Die Rede ist damit vor allem von den Grundfreiheiten, an denen der EuGH seit Walrave und Bosman in einer Reihe von Fällen privates Handeln unmittelbar gemessen hat, darunter auch Verträge in Angonese und Arbeitskampfmaßnahmen in Viking und Laval.157 Als weiterer Vergleichspunkt drängen sich die heutige Vorschrift des Art. 157 AEUV und die EuGH-Rechtsprechung seit Defrenne auf. In Defrenne hatte der EuGH das Gebot gleichen Lohns für Männer und Frauen auch in Privatrechtsverhältnissen für anwendbar erklärt. Seine Ausführungen beinhalteten allerdings nicht, dass dies gleichbedeutend mit der Adressateneigenschaft Privater sei. Er entschied wörtlich unter anderem: „[W]ie der Gerichtshof schon in anderen Zusammenhängen festgestellt hat, schließt die Tatsache, dass bestimmte Vertragsvorschriften ausdrücklich die Mitgliedsstaaten ansprechen, nicht aus, dass zugleich allen an der Einhaltung der so umschriebenen Pflichten interessierten Privatpersonen Rechte verliehen sein können. Schon dem Wortlaut von Artikel 119 ist zu entnehmen, dass dieser den Staaten eine Ergebnispflicht

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S. etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 18; Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), 30. 155 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 120 ff; Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 34 f.; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238, 254 f.; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657. 156 Zu Parallelen zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten oben § 2 IV. 157 EuGH Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921; EuGH Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139; EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806; EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845.

II. Private als Adressaten der EU-Grundrechte

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auferlegt, die zwingend innerhalb einer bestimmten Frist zu erfüllen war.“ 158 Die Rede von einer Ergebnispflicht des Staates und einem Recht einer Privatperson kann man auch so interpretieren, dass der Einzelne eine Recht gegen den Staat hat, sein Rechtsverhältnis zu einem Dritten in einer bestimmten Weise zu regeln, die primärrechtliche Norm aber an sich kein Recht gegen eine andere Privatperson verleiht.159 Im Ergebnis mag dies zwar keinen Unterschied machen, auf einer Ebene struktureller Dogmatik ist es aber von Bedeutung:160 Man kann dann gerade nicht das Argument vorbringen, die Verpflichtung Privater sei auch in diesem Fall angenommen worden und daher stringenter Weise grundsätzlich auf andere Grundrechte zu übertragen. Der Vergleich der Wirkungen verschiedener primärrechtlicher Normen spielt in manchen Analysen noch eine weitere Rolle: bei der Unterscheidung zwischen Chartagrundrechten und Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen.161 Generalanwältin Trstenjak lehnte in Dominguez beispielsweise die unmittelbare Anwendbarkeit von Chartagrundrechten gegenüber Privaten aufgrund von Art. 51 GRC ab, nahm aber an, dass Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Privatpersonen verpflichten könnten. Dazu verwies sie insbesondere vergleichend auf die Urteile Defrenne, 162 Walrave, Bosman 163 und Angonese, 164 aber auch auf Mangold und Kücükdeveci. 165 Wie erörtert, betrafen aber lediglich die Grundfreiheiten-Entscheidungen die Verpflichtung Privater, bei den anderen bejahte der Gerichtshof zwar die unmittelbare Anwendbarkeit im Privatrechtsverhältnis, aber eben nicht die Bindung von Privatpersonen. Insofern erscheint es zweifelhaft, dass man mit solcher Argumentation einen Unterschied zwischen Grundsätzen und Charta begründen könnte, die sonst durch den EuGH stets strukturell gleich behandelt werden. Dies ist im Übrigen ganz unabhängig von der Auslegung, die man Art. 51 GRC beimisst. 3. Bewertung und Bedeutung der Frage Die Argumente sprechen weder klar für noch klar gegen eine Bindung Privater. Etwas überzeugender erscheint es aber, die Adressateneigenschaft Privater jedenfalls im Grundsatz abzulehnen. Das Argument, dass Art. 51 GRC Private nicht nennt, hat Gewicht. Zwar schießt Art. 51 GRC die Adressa158

EuGH Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455, Rn. 30/34. So auch Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 50 ff. 160 Ebenso Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), 52. 161 Etwa bei Ward, Article 51, in: Peers et al. (Hg.), The EU Charter of Fundamental Rights: a commentary (2014), Rn. 41 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 121 ff. 162 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 121. 163 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 122. 164 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 124. 165 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 125. 159

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§ 5 Dogmatische Struktur

teneigenschaft nicht ausdrücklich aus. Angesichts der Bekanntheit der Thematik und ihrer Diskussion in zahlreichen Rechtsordnungen sowohl zum Zeitpunkt der Erstellung der Charta wie auch ihrer Inkorporation ins Primärrecht spricht das Schweigen des Art. 51 GRC allerdings mehr gegen die Bindung Privater als für sie. Dass einzelne Grundrechte ihrem Wortlaut nach an Private adressiert sind, könnte man als Ausnahme hiervon ansehen. Es lässt sich jedoch auch konsistent so einordnen, dass die Adressaten EU und Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, entsprechende Rechtspositionen zwischen Privaten zu schaffen. Manche Grundrechte betreffen in diesem Sinne ausdrücklich die Verpflichtung zur Gestaltung des Privatrechts – etwa Art. 32 GRC –, während andere lediglich Verpflichtungen für öffentlich-rechtliche Beziehungen enthalten – man denke bloß an das Recht auf gute Verwaltung, Art. 41 GRC.166 Inwieweit Grundrechte das Privatrecht prägen, hängt dann von ihrem inhaltlichen Regelungsgehalt hab, und nicht von der dogmatischen Einordnung, ob sie Private verpflichten. Dies erspart auch diffizile Abgrenzungsfragen. Für die Praxis wird nur der EuGH die Frage der Bindung Privater klären können. Die bisherige Rechtsprechung ist zwar nicht eindeutig, deutet aber, wie ausgeführt, eher auf die Bejahung der Adressateneigenschaft denn ihre Verneinung hin Dem EuGH ist jedenfalls zuzugestehen, dass die eine wie die andere Entscheidung – jedenfalls teilweise Bindung Privater oder nicht – durchaus vertretbar zu begründen wäre. Es fehlt an einer klaren Determinierung des europäischen Verfassungsgebers. Die sehr allgemein gehaltenen Vorschriften der Grundrechtecharta sind zwangsläufig auf eine richterliche Konkretisierung angelegt – gerade auch, was ihre Wirkung im Privatrecht und die Verpflichtung Privater angeht. Die Bedeutung der Bindung Privater an EU-Grundrechte hängt im Übrigen insbesondere von den weiteren dogmatischen Konstruktionen der staatsgerichteten Wirkungen ab. Diese werden im Folgenden ausführlich behandelt. Wie sich herausstellen wird, ist die Frage der Verpflichtung Privater schlussendlich jedenfalls im Vertragsrecht von äußerst zweifelhafter Relevanz.167 Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die Grundrechtsdogmatik nicht mehr bloß den klassischen Idealtypus des eindimensionalen Abwehrrechts kennt, wie es zu Beginn der Drittwirkungsdebatte in Deutschland der Fall war. Auch sind die Besonderheiten der Auslegung der EU-Grundrechte 166

Ähnlich insoweit Seifert, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299, 304. 167 Ähnlich im Ergebnis etwa Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 28. – Bedeutung „nicht überbewerten“. Zur Ergebnisäquivalenz unterschiedlicher dogmatischer Konstruktionen im deutschen Recht auch schon H.D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), 363, 377; Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 484; D. Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht (1999), 32.

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

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durch den EuGH zu berücksichtigen. Es mag an der stickiness gewohnter Argumentationsmuster liegen,168 dass die Frage bisweilen weiterhin zentral behandelt wird und deswegen auch hier aufzugreifen war.

III. Funktionen der EU-Grundrechte und ihre strukturelle Bedeutung im Vertragsrecht III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

In der deutschen Debatte um die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht stellte die Berücksichtigung verschiedener Grundrechtsfunktionen einen wesentlichen Fortschritt dar.169 Der Diskurs auf europäischer Ebene rezipiert dies nun – und es sind keineswegs nur deutsche Rechtswissenschaftler, die dafür verantwortlich sind.170 Die Fokussierung liegt dabei auf der Unterscheidung von Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte. Hiervon ausgehend soll man differenzierende Schlüsse für die Wirkung im Privatrecht und insbesondere auch im Vertragsrecht ziehen können. Die funktionale Betrachtung lässt sich – unabhängig davon, wie man zu ihr im Einzelnen steht – in die erörterte Struktur der direkten und indirekten Wirkung integrieren. Verschiedene Funktionen können sowohl bei in der unmittelbaren Anwendung von Grundrechten wie auch bei der Beeinflussung anderer Normen aktuell werden. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich zunächst damit, ob die Ausdifferenzierung in Abwehr- und Schutzpflicht für EU-Grundrechte im Allgemeinen überzeugend ist (dazu 1.). Anschließend gilt es, die sich für das Privatrecht ergebenden Schlüsse nachzuvollziehen und zu hinterfragen (dazu 2.). Dabei zeigt sich, dass die Deduktion qualitativ unterschiedlicher Maßstäbe bei Abwehr- und Schutzfunktion bei EU-Grundrechten im Allgemeinen fraglich und insbesondere im Bereich des Vertragsrechts problematisch ist. Es bietet sich allerdings an, die Grundrechtswirkung im Vertragsrecht mit den unter § 1 erörterten allgemeinen Funktionen des Vertragsrechts, der Ermöglichung und Regulierung, zu verknüpfen (dazu 3.). 168 Der von Ben-Shahar/Pottow, On the Stickiness of Default Rules, 33 Florida State University Law Review (2006), 651 entnommene Begriff wäre mit Klebrigkeit o.ä. nur unzureichend ergriffen. 169 Prägnanter Überblick bei Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), 61 ff. 170 S. z.B. Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170; Cherednychenko/Reich, The Constitutionalization of European Private Law: Gateways, Constraints, and Challenges, 23 European Review of Private Law (2015), 797; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238.

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§ 5 Dogmatische Struktur

1. Unterscheidung von Abwehr- und Schutzfunktion Zur Einführung muss der Hintergrund der Debatte, die dogmatische Entwicklung der Grundrechtsfunktionen im deutschen Recht und der EMRK, kurz skizziert werden (dazu a)). Anschließend gilt es zu ergründen, ob auch EUGrundrechte grundsätzlich Abwehr- und Schutzfunktionen besitzen (dazu b)). a) Differenzierung im deutschen Recht und bei der EMRK Spricht man von Grundrechtsfunktionen, dann meint man gewöhnlich die Funktionen grundrechtlicher Vorschriften im Verhältnis zwischen Bürger und Staat.171 Ausgehend von ihrer erstmaligen Positivierung in Nordamerika und Frankreich zum Ende des 18. Jahrhunderts hat man Grundrechte zunächst allein als Abwehrrechte begriffen.172 Nach dieser Konzeption bieten sie dem Einzelnen Schutz gegen staatliche Eingriffe in seine Freiheitssphäre, sie begrenzen also staatliches Handeln. In der Terminologie Jellineks handelt es sich um Rechte des status negativus.173 Zwar wurden auch im 19. Jahrhundert schon soziale Grundrechte, insbesondere auch Leistungsrechte, in Europa diskutiert, fanden aber keinen Eingang in positive Grundrechtskataloge.174 Abwehrrechte dienten den Interessen der bürgerlichen Gesellschaft, welcher so eine Freiheitssphäre gegenüber dem Staat garantiert wurde, und zwar ge-

171

H. Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: O. Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 290; auch für EU-Grundrechte: T. Kringreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 GRC Rn. 19; Jarass, EU-Grundrechte (2005), § 5 Rn. 8 ff. 172 Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 292. Ob dabei der Ursprung der Grundrechte in Frankreich oder Nordamerika zu finden ist, war Gegenstand eines berühmten Meinungsstreits zwischen Jellinek und Boutmy: abgedruckt bei R. Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (1964); zu dieser Kontroverse, die wohl kaum ganz zu klären ist, M. Kriele, Einführung in die Staatslehre: die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates (2003), 109 ff. Die in Frankreich formulierten Grundrechte gingen zwar über die reine Abwehr staatlicher Eingriffe hinaus, doch konnte sich dies in den Grundrechtskatalogen des Liberalismus des 19. Jahrhunderts nicht durchsetzen. Dazu J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (2011), Band IX, § 191, Rn. 19 ff. 173 Grundlegend zu seiner Statuslehre G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892). 174 Hierzu ausführlich P. Krause, Die Entwicklung der sozialen Grundrechte, in: G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte: Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848 (1981), 402.

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

211

rade auch im und durch das Privatrecht.175 Die klassisch-liberale Auffassung der Grundrechte als Abwehrrechte prägte auch noch die Formulierung der Grundrechte im deutschen Grundgesetz176 und auf völkerrechtlicher Ebene die EMRK und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.177 Sie bildet weiterhin den weithin anerkannten Kern vieler grundrechtlicher Vorschriften. Sowohl für das Grundgesetz wie auch für die EMRK hat es sich aber durch gerichtliche Praxis etabliert, auch den Grundrechten „erster Generation“ eine weitere Funktion oder Dimension zuzuschreiben: eine Schutzfunktion (oder -dimension). Damit ist gemeint, dass der Staat den Einzelnen vor Gefahren zu schützen hat, die insbesondere von Tätigkeiten Dritter ausgehen. In dieser Funktion fordern die Grundrechte demnach nicht ein Unterlassen (einer Freiheitsbeschränkung), sondern vielmehr ein Tun. Es handelt sich um Rechte des status positivus. Der Staat hat Eingriffe etwa in das Recht auf Gesundheit nicht bloß zu unterlassen, sondern er hat auch vor Gefährdungen und Verletzungen der Gesundheit durch Dritte zu schützen. Der EGMR entschied etwa, dass das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK es erfordere, sexuellen Missbrauch umfassend unter Strafe zu stellen. 178 Solche Handlungspflichten („positive obligations“), begründete er mit der Anforderung der effektiven Wirksamkeit der Grundrechte.179 Das Bundesverfassungsgericht befand erstmals im so genannten ersten Abtreibungsurteil, dass ein Grundrecht (konkret das Recht auf Leben) Schutzpflichten begründen könne. Der Staat habe „sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“.180 Das Bundesverfassungsgericht begründete dies – auch in weiteren Urteilen – etwas anders als der EGMR: teils über die durch die Grundrechte konstituierte objektiven Wertordnung beziehungsweise die Menschenwürde, teils über den Gedanken, dass es sich beim Staat um eine „ver175

D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft (1987), 192 ff.; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht (1988), 10 – „freiheitliches Privatrecht in einem nicht freiheitlichen Staat“. 176 Dreier, in: H. Dreier/H. Bauer, Grundgesetz Kommentar (2013), Vorb. Rn. 84; Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 293. 177 Im internationalen Gebrauch auf Grundlage des englischen Titels regelmäßig ICCPR genannt. Zur Entwicklung im Völkerrecht Überblick etwa Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz (2010), 2 ff.; O.d. Schutter, International human rights law (2014), 13 ff. 178 EGMR No. 8978/80 (X. u. Y. v. Niederlande). 179 Konkret sprach er von „effective respect for private or family life“ – EGMR No. 8978/80 (X. u. Y. v. Niederlande), Rn. 23; diese Formulierung zuvor auch schon in EGMR No. 6289/73 (Airey), Rn. 32. 180 BVerfGE 39, 1 (42).

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§ 5 Dogmatische Struktur

fasste Friedens- und Ordnungsmacht“ handele. 181 Der Bürger müsse sich daher nicht nur auf Schutz vor dem Staat, sondern auch auf Schutz durch ihn verlassen können. Die Annahme einer Schutzfunktion von Grundrechten ist jedenfalls in der deutschen Literatur für Grundgesetz und EMRK weithin anerkannt. Lediglich bezüglich der Herleitung der Schutzfunktion gab und gibt es Kontroversen.182 Unter den Argumenten für eine Schutzfunktion findet sich jedenfalls insbesondere:183 Sie seien aus dem Gedanken einer objektiven Wertordnung und der Menschenwürde abzuleiten. 184 Sie dienten einem umfassenden Grundrechtsschutz.185 Sie seien schließlich auch staatstheoretisch überzeugend zu erklären. Denn wenn der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols eigenmächtige Gewalt verbiete, dann habe er im Gegenzug Gewalt Dritter zu unterbinden. 186 Dass deutsche und EMRK-Grundrechte im Grundsatz sowohl eine Abwehr- wie auch eine Schutzfunktion haben, darf demnach als gesichert gelten. Inwiefern daneben weitere Funktionen in Betracht kommen, braucht für diese Grundrechte an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. 181

BVerfGE 125, 260 (Vorratsdatenspeicherung), Rn. 318; diese Formulierung ersichtlicherweise zuerst in BVerfGE 49, 24 (Kontaktsperre-Gesetz). 182 Dazu etwa C. Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ 2006, 321, 323 f. mit weiteren Nachweisen. 183 Überblick mit weiteren Nachweisen etwa bei Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (2011), Band IX, § 191, Rn. 158 ff.; Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ 2006, 321. 184 Dazu Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (2011), Band IX, § 191, Rn. 159 f. Der Ansatz findet sich erstmals bei Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: Maunz (Hg.), Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung: Festschrift zum 75. Geburtstag von Hans Nawiasky (1956), 157, 176 ff. 185 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (2011), Band IX, § 191, Rn. 158 spricht mit dem BVerfG von der „juristischen Wirkungskraft“ (dazu etwa BVerfGE 6, 55, 72); Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 306 mit zahlreichen Nachweisen. 186 Dazu Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (2011), Band IX, § 191, Rn. 161, 181 ff. – spricht vom „Synallagma“ von „Schutz gegen Gehorsam“ (Rn. 181) und erinnert an die Staatskonzeption nach Hobbes und Locke, bei der die Individuen per Vertrag den Staat gründen (bzw. vernünftigerweise gründen würden), auf dass dieser sie schütze. Ähnlich auch etwa H. Bethge, Staatszwecke im Verfassungsstaat, DVBl. 1989, 841, 848; Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ 2006, 321, 326 f.; Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 306.

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

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b) Funktionen der EU-Grundrechte Die gerade beschriebene Dogmatik bildet jedenfalls in der deutschsprachigen Literatur auch den Ausgangspunkt für die funktionale Einteilung der EUGrundrechte. 187 Hierfür lassen sich Argumente aus der Grundrechtecharta selbst gewinnen. Die Rechtsprechung des EuGH ist bisher allerdings diesbezüglich weniger prononciert als die von Bundesverfassungsgericht und EGMR. aa) Aussagen der Charta Wie erörtert, bilden die Funktionen ein Querschnittsthema der Grundrechtsdogmatik und gelten nicht nur für einzelne Grundrechte. Dementsprechend bietet es sich an, in den Horizontalbestimmungen der Grundrechtecharta, also den Art. 51 ff. GRC, nach Anhaltspunkten für Grundrechtsfunktionen im Allgemeinen zu suchen. Art. 51 Abs. 1 GRC gibt der Union und den Mitgliedstaaten auf, die Grundrechte einerseits zu „achten“ („respect“, „respectent“) und andererseits zu „fördern“ („promote“, „promeuvent“). 188 In der Pflicht, die Grundrechte zu achten kann man die Begrenzung von Eingriffen in sie und damit ihre Abwehrfunktion erkennen.189 Die Pflicht, sie zu fördern, erhält die Aufforderung zu positiven Handlungen.190 Dies lässt sich als Leistungsfunktion bezeichnen, von welcher die Schutzfunktion einen zentralen Unterfall bildet. 191 Andere Komponenten der Leistungsdimension (beziehungsweise des Förderns) der Grundrechte bieten nach aus der deutschen Dogmatik bekannten Terminologie Teilhaberechte (etwa auf Zugang zu Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, vgl. Art. 35 GRC) oder Verfahrensrechte (etwa das Recht auf wirksamen Rechtsschutz aus Art. 47 GRC). Angelehnt an die im Völkerrecht vermehrt gebräuchliche Begrifflichkeit, kann man aber auch eine etwas abweichende Einteilung vornehmen und von „obligations to

187

S. M. Borowski, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 32; s. etwa Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 36 ff.; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 GRC Rn. 19 ff.; J. Kühling, Grundrechte, in: A.v. Bogdandy/J. Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 657, 675 ff. 188 Dies steht unter der Annahme, dass „fördern“ sich nicht bloß auf die Grundsätze im Sinne der Charta bezieht. Der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 ist insofern nicht ganz eindeutig, wird aber überwiegend so verstanden – s. etwa M. Borowski, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 32; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 36 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 51 Rn. 19 ff. 189 Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 37. 190 S. etwa Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170, 181 ff. 191 So Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 39 ff.

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§ 5 Dogmatische Struktur

respect, protect and fulfill“ sprechen.192 Während „respect“ wiederum die Abwehrfunktion und „protect“ die Schutzfunktion meint, bezieht sich „fulfill“ auf staatliche Leistungen wie eben beispielsweise den Zugang zu Einrichtungen. „Protect“ und „fulfill“ könnte man insofern als Unterfälle von „fördern“ („promote“) begreifen. Unabhängig von der genauen Einteilung und Terminologie auf allgemeiner grundrechtsdogmatischer Ebene kann man jedenfalls dem Wortlaut einzelner Grundrechtsvorschriften Schutzverpflichtungen entnehmen: etwa Art. 8 Abs. 1 GRC („Schutz personenbezogener Daten“) Art. 17 Abs. 2 GRC („Geistiges Eigentum wird geschützt“) oder Art. 30 GRC („Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung“). Außerdem legt Art. 52 Abs. 3 GRC fest, dass jene Grundrechte, welche der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie diese haben sollen. Da, wie erörtert, der EGMR „positive obligations“ aus Grundrechten anerkannt hat, müsste dies auf die Auslegung jedenfalls jener der EMRK entsprechenden Chartagrundrechte durchschlagen.193 Ferner kann man eine Parallele zur staatstheoretischen Begründung im deutschen Recht ziehen: Wenn auch die EU in der Regel nicht als Staat eingeordnet wird, so gilt ihr Recht doch unmittelbar für den Einzelnen und verpflichtet ihn insofern zu Gehorsam.194 Im Gegenzug sollte der Einzelne auf Schutz vertrauen können. Es spricht daher viel dafür, dass EU-Grundrechte auch Handlungspflichten für Union und Mitgliedstaaten enthalten können.195 Dass sie als Abwehrrechte Unterlassenpflichten beinhalten, wird ohnehin von niemandem bezweifelt. Inwieweit solche generellen Aussagen auf ein konkretes Grundrecht zutreffen, ist jedoch immer im Einzelfall zu begründen und zu unterscheiden.196 bb) Rechtsprechung des EuGH Der EuGH hat, soweit ersichtlich, bisher noch nicht ein Grundrecht mit Schutzrichtung unmittelbar angewandt. Er ist allerdings im Rahmen der 192

So M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 32; näher dazu und mit weiteren Nachweisen B. Rudolf, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Vorb. zu Titel IV. Rn. 3. 193 Ebenso M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 31. 194 Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 312. 195 Für eine Schutzpflicht aus Art. 31 GRC auch ausdrücklich Generalanwältin V. Trstenjak, Schlussanträge Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 81. Aus der Literatur etwa Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 513, Rn. 35 ff. 196 Ähnlich Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 32; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 36.

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grundrechtskonformen Auslegung, also der indirekten Wirkung, implizit auf die Schutzdimension eingegangen.197 Die Schutzdimension der Grundrechte ist schließlich nicht notwendig auf unmittelbare Anwendbarkeit beziehungsweise direkte Wirkung beschränkt. Auch bei der grundrechtskonformen Auslegung lässt sich berücksichtigen, dass aus Grundrechten auch Schutzpflichten folgen können. Aus dem Kreis der unter § 4 besprochenen Urteile hatte der Gerichtshof in Promusicae beispielsweise zu untersuchen, ob die Versagung eines Auskunftsanspruches mit Unionsrecht zu vereinbaren war. Dabei prüfte er auch, ob die Auslegung einer Richtlinie, welche dies verneinte, im Einklang mit Grundrechten stand. Insbesondere nannte er die Anforderung des „effektiven Schutz[es] des Urheberrechts“ gem. Art. 17 GRC.198 Auch wenn der EuGH die Grundrechtskonformität für den konkreten Fall schlussendlich offen ließ und sie dem nationalen Gericht überantwortete:199 Allein, dass er sie prüfte, implizierte die Anerkennung der Schutzdimension.200 Das gleiche folgt aus den Fällen Scarlet Extended und Telekabel. In ersterem spielte der „der Schutz des Rechts des geistigen Eigentums“ 201 wiederum bei der Auslegung einer Richtlinie im Licht der Grundrechte eine Rolle. In Telekabel ging prüfte der EuGH, ob eine auf Grundlage des österreichischen Urgebergesetzes ergangene gerichtliche Anordnung zur Sperrung von Webseiten im Spannungsfeld zwischen geistigem Eigentum einerseits sowie Unternehmerfreiheit und Informationsfreiheit von Internetnutzern andererseits grundrechtskonform sei. Dabei befand er unter anderem, dass die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte es erforderten, dass Internetnutzern gerichtliche Rechtsbehelfe zuständen, um Zugangsbeschränkungen auf bestimmten Webseiten anzugreifen.202 Außerdem müsse die gerichtliche Anordnung „hinreichend wirksam sein, um einen wirkungsvollen Schutz des betreffenden Grundrechts [Art. 17 Abs. 2 GRC] sicherzustellen“. 203 Insofern wurde die erfolgreiche Verfolgung des Schutzes des einen Grundrechts zur Anforderung für eine verhältnismäßige Einschränkung des anderen Grundrechts erhoben.204 197

Nach Canaris ist die Berücksichtigung der Schutzdimension bei der Auslegung anderer Normen gerade ihr Hauptanwendungsfall (im Privatrecht) – Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 33 ff. 198 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 61. 199 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 70. 200 So auch Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170, 183 f.; Kühling, Grundrechte, in: Bogdandy/Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 657, 676. 201 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 43. 202 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 57. 203 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 62. 204 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 63.

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Jenseits der Grundrechte hat der EuGH bereits eine Schutzpflicht aus der Warenverkehrsfreiheit abgeleitet und diese auch unmittelbar angewandt. Im Fall Kommission v. Frankreich entschied er, dass Mitgliedstaaten Handlungspflichten treffen, um die Warenverkehrsfreiheit Einzelner vor Aktionen anderer Privater zu schützen, beziehungsweise „gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind“.205 Der Handelsverkehr könne nämlich durch Private ebenso wie durch staatliches Handeln beeinträchtigt werden.206 Zur Begründung verwies der Gerichtshof auch auf die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten: Diese hätten daher „alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen“.207 Welche Maßnahmen konkret zu ergreifen seien stehe zwar im Ermessen der Mitgliedstaaten. Sie seien allerdings durch den Gerichtshof zu kontrollieren. Im Fall Schmidtberger bestätigte er die Schutzpflicht aus der Warenverkehrsfreiheit.208 In diesem Fall stellte er des Weiteren fest, dass Grundrechte als zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung des unterlassenen Schutzes dienen können.209 Dabei seien die widerstreitenden „bestehenden Interessen abzuwägen, und es ist anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt ist“.210 Dass der EuGH Grundrechten noch nicht im Wege der Direktwirkung die Pflicht zu positiven Handlungen entnommen hat, mag man vor allem auch auf mangelnde Gelegenheit zurückführen: Klassische Bereiche staatlicher Schutzpflichten wie Leben, Gesundheit oder Persönlichkeitsrecht sind nur in geringem Ausmaß von unionsrechtlichen Kompetenzen betroffen und die EU-Grundrechte daher schon nicht anwendbar.211 Der Gerichtshof hat auch nicht ausdrücklich verneint, dass EU-Grundrechte Schutzpflichten beinhalten können. Festhalten lässt sich daher, dass sowohl die grundlegenden Argumente wie auch die Rechtsprechung zur indirekten Wirkung dafür sprechen, dass EU-Grundrechten eine Schutzdimension zukommt. Es ist daher davon auszugehen, dass EU-Grundrechte auch im Wege unmittelbarer Anwendbarkeit Schutz erfordern können, selbst wenn die praktische Bestätigung noch aussteht.

205

EuGH Rs. C-265/95 (Kommission v. Frankreich), Slg. 1997, I-6595, Rn. 30. EuGH Rs. C-265/95 (Kommission v. Frankreich), Slg. 1997, I-6595, Rn. 31. 207 EuGH Rs. C-265/95 (Kommission v. Frankreich), Slg. 1997, I-6595, Rn. 32. 208 EuGH Rs. C-112/00 (Schmidtberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 57 ff. 209 EuGH Rs. C-112/00 (Schmidtberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 78 f. 210 EuGH Rs. C-112/00 (Schmidtberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 81. 211 Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Dörr et al. (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz (2013), 287, 311. 206

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2. Abwehr- und Schutzfunktion der EU-Grundrechte und Privatrechtswirkung Die allgemeinen Ausführungen zu Grundrechtsfunktionen gilt es nun auf ihre Relevanz für das Privatrecht zu hinterfragen. Auch im europäischen Diskurs einflussreich ist die Dogmatik, wie sie Canaris erst für die deutsche Rechtsordnung und später auch für die supranationalen Grundfreiheiten entwickelt hat (dazu a)). Wenn sie sich auch grundsätzlich auf die EU-Grundrechte übertragen lässt, so ist doch zweifelhaft, ob die von Canaris vertretenen Maßstäbe hier zutreffen (dazu b)). Gerade im Bereich des Vertragsrechts können jedenfalls die kategoriale Unterteilung in Abwehr und Schutz und die damit verbundenen Maßstäbe von Übermaß- und Untermaßverbot nicht überzeugen (dazu c)). a) Dogmatische Konstruktion nach Canaris für die Grundrechte des Grundgesetzes und für die Europäischen Grundfreiheiten Die Ausdifferenzierung der Grundrechtsfunktionen lieferte die Grundlage für Canaris’ Konstruktion der Wirkung der deutschen Grundrechte im Privatrecht. Als Adressat der Grundrechte wird demnach allein der Staat angesehen.212 Dieser habe auch im Privatrecht die Grundrechte zu beachten. Dies beinhalte gem. Art. 1 Abs. 3 GG zum einen eine Bindung des Gesetzgebers im Privatrecht.213 Zum anderen seien aber auch die Gerichte, da sie erst die Gesetze mit konkretem Inhalt füllen und für den konkret Fall wirksam werden lassen, bei ihrer Tätigkeit an Grundrechte gebunden. So liege schließlich in der „Anwendung und Fortbildung der Gesetze die notwendige Ergänzung und Vervollständigung ihrer Schaffung durch den Gesetzgeber“.214 Aufgrund der Differenzierung der Grundrechtsfunktionen bedeutete dies, dass Gerichte nicht bloß zu weit gehende Eingriffe in Freiheiten zu unterlassen, sondern ebenso Schutz vor Dritten sicherzustellen hätten. Die kondensierten Entscheidungsgründe dürften als „Fallnorm“215 nicht gegen Grundrechte verstoßen.216 Die Bindung der Gerichte an grundrechtliche Schutzpflichten unterscheidet sich nach Canaris’ Sicht wesentlich von einer unmittelbaren Bindung Privater an Grundrechte. Denn wenn die Gerichte Schutz vor Dritten sicherzustellen haben, so müssten sie dabei lediglich ein Untermaßverbot einhalten.217 Wandte man dagegen die Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber Privaten an, so beinhalte dies, den Prüfungsmaßstab eines Übermaßverbotes, 212

Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 34 f. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 11 ff. 214 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 23 ff. 215 Diesen Begriff übernimmt Canaris von W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. 4. Dogmatischer Teil (1977), 202 ff. 216 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 26 f. 217 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 43 ff. 213

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der wesentlich strenger sei. Über Schutzpflichten begründete Untermaßverbote griffen weniger stark in die Privatautonomie und die gesetzliche Systematik ein und seien daher vorzuziehen.218 Das Schutzgebot würde durch einfaches Recht mediatisiert, sei also in der Regel bei dessen Auslegung zu berücksichtigen.219 Substantiell impliziert dies, dass tendenziell weniger regulierend in vertraglichen Austausch eingegriffen werden soll als dies bei Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Fall wäre. Diese würde eher zu einer Zunahme an zwingendem Vertragsrecht führen. Canaris spricht hierfür vom „Prinzip vom Vorrang der Gesellschaft gegenüber dem Staat [...], wonach der Verkehr der Bürger untereinander grundsätzlich von staatlichen Eingriffen frei ist und solche daher jeweils einer besonderen Legitimation bedürfen“.220 Die für das deutsche Recht erörterte dogmatische Konstruktion übertrug Canaris später auch auf die europäischen Grundfreiheiten.221 Dass der EuGH eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten angenommen, also Private als Adressaten der Grundfreiheiten begriffen habe, kritisierte er scharf.222 Es seien lediglich staatliche Stellen an die Grundfreiheiten gebunden, hätten aber, ausgehend gerade von der Konstruktion in Kommission v. Frankreich, dabei auch eine Schutzpflicht zu erfüllen.223 Diese treffe wiederum Gesetzgeber und Gerichte. Letztere hätten dieser über Auslegung und Rechtsfortbildung nachzukommen, und zwar – entscheidend – auch contra legem. Die Schutzpflichtwirkung der Grundfreiheiten ginge also über den Effekt richtlinienkonformer Auslegung, die am Wortlaut an ihre Grenzen stößt, hinaus. Soweit an Canaris’ Ansatz Kritik geübt wurde, die sich spezifisch auf das deutsche Recht oder Eigenarten der Grundfreiheiten bezog, ist sie hier nicht entscheidend. Andere kritische Argumente können im Folgenden berücksichtigt werden, wenn die Haltbarkeit der Konstruktion für die EU-Grundrechte überprüft wird.

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Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 45. Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30, 39. 220 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999). 221 Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30. 222 Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30, 42 ff. 223 Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30, 49 ff. 219

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

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b) Übertragung auf die Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht Einige der Grundannahmen Canaris’ lassen sich ohne weiteres auf die Wirkung der EU-Grundrechte übertragen. Es wurde oben bereits ausgeführt, dass EU-Grundrechte die EU und die Mitgliedstaaten grundsätzlich auch im Bereich des Privatrechts binden,224 und dass – vom EuGH ausdrücklich bestätigt – dies auch die mitgliedstaatlichen Gerichte umfasst.225 Geht man nach dem oben unter 1.) Gesagten davon aus, dass EU-Grundrechte eine Abwehr- wie auch eine Schutzfunktion besitzen, dann ist die Hoheitsgewalt auch im Privatrecht durch Grundrechte in ihren Eingriffen beschränkt und zu Schutz vor Dritten verpflichtet. Die Schutzdimension im Privatrecht bestätigen insbesondere die schon diskutierten Urteile Promusicae, Scarlet Extended und Telekabel. Der Clou der Sichtweise Canaris’ liegt allerdings in seiner Unterscheidung zwischen Übermaß- und Untermaßverbot – hiermit steht und fällt die von ihm angestrebte liberale Grundkonzeption. Canaris’ Ansatz führt nur dann zu dem von ihm präferierten schonenderen Eingriff in Privatautonomie und gesetzliche Systematik gegenüber der Annahme einer unmittelbaren Bindung Privater, wenn der Schutzmaßstab niedriger ist als der Abwehrmaßstab. Ansonsten unterschiede sich bloß der Adressat und damit die logische Begründung des Einstiegs in die Grundrechtsprüfung, nicht aber die Grundrechtsprüfung selbst. Schon im deutschen Diskurs wurde in Frage gestellt, inwiefern die Differenzierung der Maßstäbe überzeugend ist.226 Eingewandt wurde insbesondere, dass sie auf zufällige Ergebnisse hinauslaufe, da sie davon abhängen kann, wer klagt. Auch sei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Maßstabsunterscheidung nicht eindeutig.227 Auf europäischer Ebene ergibt sich diesbezüglich ein spezifisches Problem: Die Rechtsprechung des EuGH enthält zwar Anhaltspunkte für eine Unterscheidung zwischen Grundrechtsfunktionen, aber nichts deutet auf eine Unterscheidung zwischen Unter- und Übermaßverbot hin – im Gegenteil. Enthält ein Fall eine Kollision grundrechtlich geschützter Interessen zweier Privater, verlangt der Gerichtshof regelmäßig eine Abwägung und die Wahrung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen den widerstreitenden Grundrechten. Dabei unterscheidet er nicht danach, ob es um Schutz oder Abwehr geht. Im Grundfreiheiten-Fall Schmidtberger, bei dem es um die 224

§ 5 I 2. a) aa). § 5 I 2. a) cc). 226 J. Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373; R. Alexy, Zur Struktur der Grundrechte auf Schutz, in: J.-R. Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 105, 115; Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 426 ff. 227 Z.B. Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373 mit weiteren Nachweisen; Nachweise zu wechselnder Rechtsprechung auch bei K. Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (2011), Band IX, § 185, Rn. 92. 225

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§ 5 Dogmatische Struktur

Schutzdimension ging, bestand sein Prüfprogramm daraus, die „bestehenden Interessen abzuwägen, und [...] anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt ist“.228 Entscheidend war für ihn, ob die „Beschränkung“ der Warenverkehrsfreiheit in einem „angemessenen Verhältnis“ zum „Schutz“ der Versammlungsfreiheit stand.229 Nicht nur maß er der Terminologie von Beschränkung und Schutz offenbar keine größere Bedeutung bei (verwandte er sie hier doch vermeintlich genau verkehrtherum), auch war das Prüfprogramm nicht anders, als es bei der Abwehr von Grundfreiheiten- oder Grundrechtseingriffen ist. Beispielsweise stellte er in Laval fest, dass die Dienstleistungsfreiheit gegenüber dem Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme „abgewogen“ werden müsse.230 In McDonagh v. Ryanair – es ging um einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit – gab er als Maßstab vor, „dass die Erfordernisse des Schutzes [der] verschiedenen Rechte miteinander in Einklang gebracht werden müssen und dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen besteht“.231 Nun handelte es sich zwar bei Schmidtberger um den Schutz einer Grundfreiheit. Doch auch bei den oben erwähnten Fällen, in denen eine Schutzdimension der Grundrechte zu erkennen ist, bleibt die Argumentationsstruktur gleich. In Promusicae wies der EuGH darauf hin, dass „ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen“ sei.232 Genauso („angemessenes Gleichgewicht“) äußerte er sich in Telekabel.233 Unabhängig von der Grundrechtsfunktion lässt sich das Prüfungsprogramm des EuGH also nicht auf zwei Grundtypen von Übermaß- und Untermaßverbot reduzieren. Auf einer Linie liegt er damit übrigens mit dem EGMR.234 Das muss nicht zwingend heißen, dass Abwehr- und Schutzfunktion nicht verschiedene Spielräume in der Abwägung vorgeben könnten. 235 Das gälte es aber nachzuweisen oder jedenfalls normativ in einer Weise zu begründen, die nicht einfach die präferierte liberale Grundkonzeption heranzieht und somit das gewünschte Ergebnis als entscheidendes Argument behauptet. Die genannten Urteile des Gerichtshof erhalten in dieser Hinsicht jedenfalls keine Hinweise. Es fehlen nicht nur die Begriffe Untermaß- und Übermaßverbot (dies an sich wäre nicht entscheidend), es fehlen vor allem auch begriffliche oder struktu228

EuGH Rs. C-112/00 (Schmidtberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 81. EuGH Rs. C-112/00 (Schmidtberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 82. 230 EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845, Rn. 105. 231 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 62. 232 EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 68. 233 EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 46. 234 Dazu Jarass, EU-Grundrechte (2005), 90, mit dem Schluss, dass die Kategorie des Untermaßverbots nicht passt und man besser von Verhältnismäßigkeit spricht. 235 In diese Richtung Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 51 Rn. 45. 229

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

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relle Substitute, welche dieser Maßstabs-Logik entsprächen. Damit lässt sich Canaris’ Konstruktion nicht als konsistente dogmatische Wiedergabe der Entscheidungspraxis des EuGH behaupten, was den Maßstab der Grundrechtsprüfung angeht. Unterschiedliche Spielräume können im Übrigen auch von anderen Faktoren abhängen, insbesondere etwa der konkreten Formulierung des Grundrechts oder seinem Menschenwürdegehalt.236 Auf einer so abstrakten Ebene wie an dieser Stelle, wo es um das gesamte Privatrecht geht, ist es freilich schwer, Determinanten der Spielräume in allgemeingültiger Weise näher auszuformulieren. Im folgenden Abschnitt soll daher das hier primär interessierende Vertragsrecht näher untersucht werden. c) Spezifische Schwierigkeiten im Vertragsrecht Im Vertragsrecht beginnen die Probleme schon eine logische Stufe vor der Frage nach den Maßstäben bei Abwehr- und Schutzfunktion, wenngleich sie eng damit verknüpft sind. Es ist nämlich problematisch, was im Vertragsrecht überhaupt Abwehr und was Schutz ist. Vertragliche Verpflichtungen entstehen, sogar nach Sicht des stets die Privatautonomie betonenden Flume,237 überhaupt erst durch einen Willensakt und dessen staatliche Anerkennung.238 Dies sieht ausdrücklich auch Canaris so.239 Er führt allerdings nicht die Konsequenzen aus, die man aus diesem Gedanken ziehen müsste. Ohne die staatliche Anerkennung ergeben sich aus einem vertraglichen Versprechen womöglich ethische oder moralische Verpflichtungen, gegebenenfalls sogar ökonomische Zwänge, nicht aber rechtliche. Erst durch die staatliche Anerkennung entsteht eine Rechtspflicht, die sogar zwangsweise mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden kann. Etwas anderes könnte man nur unter Beru236

Dass die Funktion nur ein Faktor der Spielraumbestimmung ist vertritt auch Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Rn. 46. 237 Von Flume als „Bannerträger der Privatautonomie“ spricht Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 14. 238 Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts. 2. Das Rechtsgeschäft (1992), 5; außerdem z.B. D. Looschelders/W. Roth, Grundrechte und Vertragsrecht: Die verfassungskonforme Reduktion des § 565 Abs. 2 S. 2 BGB, JZ 1995, 1034, 1038; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), 16; Renner, Zwingendes transnationales Recht (2010), 24 f.; s. auch Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 58 ff. mit Nachweisen zu abweichenden Ansichten, nach denen Verträge auch ohne Rechtsbefehl bindend sein können. Diskussion mit anderer Ansicht im Ergebnis etwa bei A. Stöhr, Die Vertragsbindung, AcP 214 (2014), 425, dessen Verweise auf ökonomische und soziale Umstände aber die Unterscheidung zwischen sozialer Pflicht und Rechtspflicht nivellieren. Zu diesem wesentlichen Unterschied etwa T. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie (2013), 177 ff.; R. Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie (2012), 103 ff. 239 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 48.

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§ 5 Dogmatische Struktur

fung auf ein Naturrecht behaupten. Sehr verschiedene Autoren sehen daher die staatliche Anerkennung der Vertragspflicht als Eingriff in die dadurch betroffenen Freiheiten, was nach Canaris konsequenterweise den Maßstab des Übermaßverbots zur Folge haben müsste.240 Canaris selbst geht allerdings etwa in seiner Beurteilung des Bürgschaftsurteils vom Gegenteil aus: Seiner Ansicht nach geht es hierin um Schutz der Bürgin, und mithin um das Untermaßverbot. Die Grundrechtsverletzung habe darin gelegen, die Bürgin nicht vor der vertraglichen Verpflichtung zu schützen.241 Wenn schon in der absoluten Grundfrage der Vertragspflicht die Sichtweisen derart auseinander gehen, erscheint es schwierig, mit den Kategorien von Abwehr und Schutz handhabbare Abgrenzungskriterien zu begründen.242 An der Einordnung der Vertragspflicht hängen schließlich auch unzählige Folgefragen – wie ist es etwa mit Weisungen in Verträgen, wie mit Beendigung, wie mit Regelungen über die Wirksamkeit, über den Inhalt? Die Klassifikation als Abwehr- oder Schutzfall erscheint dann – jedenfalls, wenn man an sie unterschiedliche Maßstäbe knüpft – stets dem Verdacht ausgesetzt, ein gewünschtes Ergebnis oder jedenfalls eine präferierte Gesellschaftsvision zu transportieren.243 240 Z.B. B. Lurger, Konflikte um Macht und Wissen als Grundelemente von Vertragstheorie und Verfassungswirkungen, in: C. Armbrüster et al. (Hg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1995 (1995), 17, 19 f.; Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 72 ff.; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte: reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit (2003), 349 ff.; s. auch schon Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373. Eine solche Sichtweise dringt auch in folgender Aussage des Bundesverfassungsgerichts durch: „Nach ihrem Regelungsgegenstand ist die Privatautonomie notwendigerweise auf staatliche Durchsetzung angewiesen. Ihre Gewährleistung denkt die justitielle Realisierung gleichsam mit und begründet daher die Pflicht des Gesetzgebers, rechtsgeschäftliche Gestaltungsmittel zur Verfügung zu stellen, die als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall durchsetzbare Rechtspositionen begründen.“ – BVerfGE 89, 214, Rn. 54. 241 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 37; davon geht wohl auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), 245 f. aus. 242 In dieser Hinsicht ist auch die aus jüngerer Zeit stammende Einteilung Perners nicht sehr hilfreich, wonach zwischen „staatlichem Eingriff“ und „privatem Verhalten“ zu unterscheiden ist – Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013), 3. Dies lässt unbeantwortet – beziehungsweise unterstellt dies ohne nähere Problematisierung –, was unter einem staatlichen Eingriff im Falle von Verträgen und Vertragspflichten zu verstehen ist. 243 Lurger, Konflikte um Macht und Wissen als Grundelemente von Vertragstheorie und Verfassungswirkungen, in: Armbrüster et al. (Hg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1995 (1995), 17; Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), 234; M. Hesselink, The Horizontal Effect of Social Rights in European Contract Law, Europa e diritto privato 2003, 1, unter VI.; grundlegend zur Problematik der Unterscheidung von Abwehr und Schutz im Privatrecht zuvor schon Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373.

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

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Die Problematik der Abgrenzung von Abwehr und Schutz bei Verträgen hängt damit zusammen, dass vertragliche Rechten und Pflichten individuell bestimmte normative Konstrukte sind. Bei Rechten wie Leben und Gesundheit etwa leuchtet es ein, dass der Staat selbst polizeilich in sie eingreifen kann, sie aber auch vor Handlungen Dritter beschützen kann. Dieser Grundgedanke, welcher die Unterscheidung von Abwehr- und Schutzfunktionen etwa im Fall der Gesundheit rechtfertigt, lässt sich auf Verträge nicht einfach übertragen. Dies liegt daran, dass Verträge für Einzelne die Möglichkeit bieten, kreativ Rechte und Pflichten zu schaffen. Bei absoluten Rechten, ist dies anders: Hier weist der Staat dem Einzelnen eine Rechtsposition zu, die gegenüber allen gilt, deren Konturen aber allgemein festgelegt sind. In solchen Fällen ist es noch verhältnismäßig einfach, eine Schutzfunktion gegenüber Einflüssen Dritter zu konzipieren.244 Bei Verträgen aber ermöglicht der Staat dem Einzelnen die Schaffung individuell unterschiedlicher Rechtsinhalte. Möglich sind komplexe organisatorische Strukturen mit vielfältigen Rechten, Pflichten, Anpassungs- und Beendigungsmöglichkeiten. Diese Gestaltungspotenziale sind es, die das Vertragsrecht auch bezüglich der Grundrechtsfunktionen gegenüber etwa dem Deliktsrecht speziell machen. 245 Privaten wird dabei ein Raum zur Verfügung gestellt, der von vorneherein nicht unendlich weit konzipiert ist, sondern der Grenzen besitzt. Vertragsrecht besitzt sachnotwendigerweise die Funktionen der Ermöglichung und Regulierung. Weder kann man Ermöglichung einfach mit der Abwehrfunktion, noch kann man Regulierung einfach mit der Schutzfunktion der Grundrechte gleichsetzen.246 Es geht nicht schlicht um Unterlassen einerseits, um positives Handeln andererseits. Die Unterscheidung von Abwehr und Schutz führt im Vertragsrecht daher in eine Sackgasse, sie schafft mehr Probleme als sie löst. 247 Bei Grundrechten im Vertragsrecht geht es, allgemein formuliert, um Anforderungen an die Gestaltung eines Rechtsgebietes, das seinerseits private Gestal244

Etwa Isensee schlägt vor, die Schutzfunktion auf den Bereich des Deliktsrechts zu beschränken und nicht auf das Vertragsrecht auszuweiten – J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (1992), Band V, § 111, Rn. 129, 131; für Differenzierungen zwischen diesen Rechtsgebieten auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), 243, der aber die Schutzpflichtendogmatik dennoch nicht im Vertragsrecht verwirft, 250 f. 245 Ähnlich Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), 242 ff. 246 Letzteres scheint aber im Übrigen Canaris Ansatz zu sein. Dazu, warum dies nicht überzeugt, s.o. in diesem Abschnitt. 247 So wäre etwa die Frage, ob Gleichbehandlungsgebote im Vertragsrecht anhand eines Abwehr- oder Schutzmaßstabs zu prüfen sind, nicht entscheidend. Zu dieser Frage etwa Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), 177 ff.; Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte (2013), 63 ff., 69 ff. mit anderer Ansicht als hier.

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§ 5 Dogmatische Struktur

tung ermöglicht. Will man über Funktionen der Grundrechte im Vertragsrecht sprechen, muss man diese doppelte Gestaltungsdimension spezifisch berücksichtigen. Dies wird im nächsten Abschnitt versucht, der zur funktionalen Beschreibung neu ansetzt und Grundrechtsfunktionen im Vertragsrecht jenseits der Konzepte von Abwehr und Schutz beschreiben soll. 3. EU-Grundrechte und Vertragsrechtsfunktionen: Ermöglichung und Regulierung Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass man im Vertragsrecht nicht überzeugend zwischen Abwehr- und Schutzdimension sowie den resultierenden Maßstäben nach Canaris unterscheiden kann. Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich vielmehr lediglich festhalten, dass die Grundrechte hier gelten und zu verwirklichen sind beziehungsweise die EU und die Mitgliedstaaten das Vertragsrecht in einer die Grundrechte achtenden und fördernden Weise zu gestalten haben.248 Für eine nähere funktionale Beschreibung bietet es sich an, die Grundrechtswirkungen analytisch in die allgemeinen Funktionen des Vertragsrechts einzufügen, wie sie in § 1 II. 2. beschrieben wurden: Die Pflicht zur grundrechtskonformen Gestaltung des Vertragsrechts umfasst Ermöglichung und Regulierung von Verträgen. Das heißt nicht, dass die Grundrechte diesen Funktionen normativ untergeordnet wären. Vielmehr handelt es sich dabei um analytische Kategorien, die sachnotwendig mit dem Vertragsrecht verbunden sind und besser passen als die Unterteilung in Abwehr und Schutz. Soweit Grundrechte im Vertragsrecht wirken, sind sie auch Teil des Vertragsrechts, und können in ein Verhältnis zu dessen MetaFunktionen gesetzt werden. Normativ lässt sich sowohl aus der Grundrechtecharta wie auch aus der Rechtsprechung des EuGH ableiten, dass EUGrundrechte die Ermöglichung ebenso wie die Regulierung von Verträgen erfordern. Die Vorgabe der grundsätzlichen Ermöglichung von vertraglichem Austausch ergibt sich primärrechtlich schon aus der allgemeinen Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 EUV, nach der ein Binnenmarkt errichtet wird. Die Idee eines Marktes verlangt danach, dass dezentraler Austausch mittels Verträgen möglich ist.249 Die Grundrechtecharta konkretisiert das als subjektive Rechtsposi248

Zur Pflicht aus Art. 51 Abs. 1 GRC, die Grundrechte zu achten und zu fördern, s. schon oben § 5 III. 1. b) aa). Von einer „Grundrechtsverwirklichungspflicht“ spricht z.B. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 51 Rn. 31; zu „Verwirklichung“ s. auch schon N. Jansen, Die Abwägung von Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 27. Auch im Völkerrecht ist die Kategorie der „obligation to fulfil“ etabliert, dazu ebenfalls oben § 5 III. 1. b) aa). Davon zu unterscheiden sind allerdings die „Grundrechtsverwirklichungsgarantien“, wie sie P. Häberle, Europäische Verfassungslehre (2009), 335 f. als Begriff nutzt, die vielmehr auf die Schaffung der Vorbedingung zur Betätigung grundrechtlicher Freiheiten zielen. 249 Ausführlich oben § 1 I. 2. d).

III. Funktionen der EU-Grundrechte im Vertragsrecht

225

tionen insbesondere in Art. 15 und 16 GRC. Art. 15 GRC postuliert die Berufsfreiheit, Art. 16 GRC die unternehmerische Freiheit. Wie der EuGH in Sky Österreich und Alemo Herron feststellte, fällt unter letztere insbesondere auch die Vertragsfreiheit. Das Grundrecht gibt damit vor, dass Vertragsschlüsse möglich sein und als bindend anerkannt werden müssen. Näher wird dies noch unter § 6 II. ausgeführt werden. Auf der anderen Seite verlangen EU-Grundrechte auch nach Regulierung zugunsten verschiedener grundrechtlich geschützten Interessen. In der Charta wird dies insbesondere im Titel IV. zur Solidarität deutlich, beispielsweise in Art. 27 GRC beim Recht auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern, in Art. 30 GRC beim Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung oder in Art. 31 Abs. 2 GRC beim Urlaubsgrundrecht. Diese Grundrechte sind schon ihrem Wortlaut nach auf eine regulatorische Ordnung vertraglicher Beziehungen hin angelegt. Auch bezüglich klassischer Freiheitsrechte hat der EuGH aber anerkannt, dass von ihnen regulative Impulse für Verträge ausgehen. So haben mitgliedstaatliche Gerichte etwa nach Kušionová bei der AGBKontrolle zu berücksichtigen, inwiefern Verträge in das Wohnungsgrundrecht aus Art. 7 GRC eingreifen, und haben ihnen aufgrund dieses Eingriffs ggf. die Wirksamkeit zu versagen. 250 Auch Gleichheitsgrundrechte können auf Regulierung zielen, wie der Fall HK Danmark zeigt.251 EU-Grundrechte machen im Übrigen auch spezifische Vorgaben für das Wie der Regulierung, soweit Regulierung besteht. Das ist etwa an den Fällen Mangold und Kücükdeveci abzulesen.252 Jeweils ging es um die Regulierung von Arbeitsverträgen, jeweils entschied der EuGH, dass sie in einer diskriminierenden Weise erfolgte, und darum unionsrechtswidrig war. Mit der funktionalen Anknüpfung an Ermöglichung und Regulierung ist ein dogmatisch-theoretisches Potenzial verbunden, das hier nur angedeutet werden kann. Ein solche Sichtweise stellt nämlich eine Brücke zur Idee des regulatory state beziehungsweise – gleichbedeutend – Gewährleistungsstaates dar. Dieses Leitbild hat, aus der Politikwissenschaft stammend,253 auch in der Rechtswissenschaft seit einiger Zeit Niederschlag gefunden. 254 Unter 250

EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová). EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark). 252 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981; EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365. 253 Dazu G. Majone, From the Positive to the Regulatory State: Causes and Consequences of Changes in the Mode of Governance, 17 Journal for Public Policy (1997), 139. 254 Insbesondere in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft: s. etwa M. Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat (1998); W. Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz: eine Herausforderung des Gewährleistungsstaates (2001); G.F. Schuppert (Hg.), Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand (2005); auch mit Bezug zum europäischen Privatrecht etwa Micklitz 251

226

§ 5 Dogmatische Struktur

anderem ist es vereinzelt für die Dogmatik der Grundrechte in Deutschland fruchtbar gemacht worden. 255 Als regulatory state wird ein Staatsmodell beschrieben, in dem sich der Staat als aktiver Spieler aus der Wirtschaftsordnung zurückzieht, etwa Energie und Kommunikation privatisiert, gleichzeitig aber verstärkt Regeln für wirtschaftlichen Austausch und Kooperation vorgibt. Für einen solchen Staat ist es geradezu kennzeichnend, dass er Gestaltungsspielräume eröffnet, sie aber ebenso in Bahnen lenkt, und nicht einfach ein freies Spiel der Kräfte zulässt. Die bloße Beschreibung solcher Entwicklungen beziehungsweise ein solches deskriptiven Staatsmodells können nicht ohne Weiteres zur Grundlage normativer Schlüsse gemacht werden kann. Jedenfalls für einen analytischen Zugriff auf die Thematik, als heuristisches Mittel,256 stellt das Konzept des regulatory state aber eine sinnvolle Erweiterung dar. Die Unterscheidung von Ermöglichung und Regulierung von Verträgen kann zur Idee des regulatory state in Beziehung gesetzt werden. Dies geht analytisch einen Schritt darüber hinaus, lediglich von grundrechtskonformer „Ausgestaltung“ des Vertragsrechts zu sprechen.257 Die Ausgestaltung umfasst sowohl Ermöglichung wie Regulierung von Verträgen. Zwar löst dies nicht die Problematik des Maßstabs der Grundrechtsprüfung und führt nicht logisch zu einer eingängigen Unterscheidung, wie sie Canaris für Abwehr und Schutz getroffen hat. Ausgehend von der Grundrechtecharta ist aber jedenfalls kein Argument ersichtlich, warum sich der Maßstab zwischen Ermöglichung und Regulierung stets und signifikant unterscheiden sollte. Vielmehr ist in Art. 52 Abs. 1 GRC allgemein der Verhältnismäßigkeitsmaßstab vorgeschrieben und spricht auch schon die Vielzahl eindeutig regulatorisch angelegter Grundrechte dagegen, dass diese grundsätzlich weniger weit reichten als etwa das Unternehmergrundrecht aus Art. 16 GRC. Die analytische Verknüpfung mit dem regulatory state könnte dazu dienen, in diese Richtung gehende Einschätzungen mit einem im Diskurs greifbaren Narrativ zu verbinden. Es ist jedenfalls weitere Arbeit notwendig, um jenseits der Kategorisierung in allgemeine Funktionen den Prüfungsmaßstab und die innere Struktur der Grundrechte auszuleuchten. Aus dem Fundus der etablier-

et al., European Regulatory Private Law – The Paradigms Tested, EUI Working Paper Law No. 2014/04; D. Oliver et al., The regulatory state: constitutional implications (2010). 255 Anklänge z.B. bei W. Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), 203, 226 ff.; D. Wenger, Die objektive Verwertung der Grundrechte, AöR 130 (2005), 618; K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik: Plädoyer für eine Erneuerung der liberalen Grundrechtstheorie (2004), 11, 83. 256 Von einem Wert „heuristischer Art“ spricht auch Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat (1998), 21. 257 Zu dieser etwa, auch mit Bezug zum Gewährleistungsstaat, Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), 203, 226 ff.

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

227

ten Grundrechtstheorien bietet sich hierfür insbesondere die Verwertung der Prinzipientheorie Alexys an, wovon der nächste Abschnitt handelt.

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte: Theorie ihrer inneren Struktur und deren Bedeutung im Vertragsrecht IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

Was nach dem bisher Gesagten vor allem fehlt, ist Aufschluss über die innere Struktur der Wirkung der Grundrechte, über anwendbare Maßstäbe und mögliche Unterschiede bei Ermöglichung und Regulierung von Verträgen. Hierfür drängt sich ein weiterer dogmatischer Gedankengang auf, der wie kaum ein zweiter in jüngerer Vergangenheit einen Beitrag zur Klärung und Rationalisierung der Dogmatik der Grundrechte des Grundgesetzes geleistet hat und auch international einflussreich ist: 258 Robert Alexys Prinzipientheorie der Grundrechte. 259 Sie enthält nicht nur Aussagen über die Struktur der Grundrechtswirkungen 260 in verschiedenen Funktionen, sondern auch über die Grundrechtswirkung im Privatrecht.

258

M. Borowski spricht etwa davon, dass sie die Grundrechtstheorie „auf ein völlig neues, bislang unerreichtes analytisches Niveau gehoben hat“ – M. Borowski, Abwehrrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: J.-R. Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 81; auch der ihr kritisch gegenüberstehende J.H. Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756 konzediert: „Kaum eine wissenschaftliche Schrift auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts hat in den vergangenen dreißig Jahren in Deutschland soviel Aufmerksamkeit gefunden und ist bis in die juristische Ausbildung und Praxis hinein so nachhaltig rezipiert worden wie Robert Alexys Theorie der Grundrechte [...].“ Dies für allgemeine Verfassungstheorie (über Deutschland hinaus) erweiternd Stone Sweet/Mathews, Proportionality Balancing and Global Constitutionalism, 47 Columbia Journal of Transnational Law (2008), 72, 94: „Robert Alexy’s book A Theory of Constitutional Rights, is arguably the most important and influential work of constitutional theory written in the last fifty years.“ Heftige Kritik andererseits z.B. bei R. Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, RW 2010, 349. Dieser bezieht sich freilich vor allem auf die rechtstheoretischen Ansprüche der Theorie, verwirft sie aber nicht per se als praktische Grundrechtsdogmatik. Als Beispiel für die Rezeption auch im Europarecht s. de Vries, Balancing Fundamental Rights with Economic Freedoms According to the European Court of Justice, 9 Utrecht Law Review (2013), 169. Zu „balancing“ im europäischen Privatrecht außerdem etwa N. Reich, Balancing in Private Law and the Imperatives of the Public Interest: National Experiences and (Missed?) European Opportunities, in: R. Brownsword et al. (Hg.), The foundations of European private law (2011), 221; D. Kennedy, A Transnational Genealogy of Proportionality in Private Law, in: R. Brownsword et al. (Hg.), The Foundations of European Private Law (2011), 185. 259 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994). 260 Zur Grundrechtstheorie als Strukturtheorie Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 32 ff.

228

§ 5 Dogmatische Struktur

Der folgende Abschnitt versucht zu zeigen, dass diese Theorie in ihren wesentlichen Aussagen auch eine adäquate Theorie der EU-Grundrechte darstellt sowie deren Wirkungen im Privatrecht erklären kann – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH. Auch dies wird zwar wenig über den inhaltlichen Einfluss der Grundrechte aussagen (der dann erst in den §§ 6 ff. erörtert wird), es jedoch ermöglichen, die Struktur der Wirkungen weiter zu erhellen. Das Vorgehen ist zweistufig: Zunächst ist zu untersuchen, inwieweit EU-Grundrechten im Allgemeinen Prinzipiencharakter im Sinne der Theorie Alexys zukommt (dazu I.). Daran schließt sich die Frage an, welche Schlüsse man daraus für die Wirkung im Privatrecht und insbesondere im Vertragsrecht ziehen kann (dazu II.). 1. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte Die Grundzüge der Theorie Alexys sollen kurz dargestellt werden (dazu a)), bevor es daran geht, ihre Haltbarkeit für die EU-Grundrechte und deren Auslegung durch den EuGH zu hinterfragen (dazu b)). a) Die Theorie Alexys Alexy nähert sich der grundrechtlichen Dogmatik auf rechtstheoretische Weise. Er unterscheidet, ganz generell, zwei Arten von Rechtsnormen anhand ihrer Struktur: Regeln und Prinzipien.261 Damit baut er auf der Arbeit Ronald Dworkins auf,262 entwickelt diese aber weiter. Prinzipien geben nach Alexy vor, dass etwas in möglichst hohem Maße zu realisieren sei.263 Sie seien folglich Optimierungsgebote. Regeln dagegen könnten lediglich erfüllt oder nicht erfüllt werden. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist für ihn nicht bloß graduell, etwa in dem Sinne, dass Prinzipien genereller als Regeln seien,264 sondern qualitativ: sie seien grundsätzlich verschieden und jede Norm „entweder eine Regel oder ein Prinzip“.265 Der elementare Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien, so Alexy, zeige sich bei der Normkollision. Seien zwei Regeln gleichzeitig anwendbar, und kämen sie zu unvereinbaren Ergebnissen, dann müsse entweder die eine für ungültig erklärt werden oder eine Ausnahme in eine der Regeln eingefügt werden.266 Widersprächen sich zwei Prinzipien, müsse zwar eines dem anderem im konkreten Fall vorgehen, aber sei das andere deswegen keinesfalls für ungültig zu erklä-

261

Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 71. R. Dworkin, Taking rights seriously (1977). 263 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 75. 264 In diese Richtung etwa J. Raz, Legal Principles and the Limits of Law, 81 The Yale Law Journal (1972), 838. 265 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 77. 266 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 77 f. 262

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

229

ren oder eine Ausnahmeklausel in es einzufügen.267 Welches Prinzip dem anderen vorgehe, sei durch eine Abwägung der Gewichte der Prinzipien im konkreten Fall zu bestimmen. Je nach Sachverhalt könne mal das eine, mal das andere vorgehen. Allgemein enthielten Prinzipien daher keine definitiven, sondern lediglich prima facie-Gebote:268 Sie seien nur insofern zu realisieren, wie es tatsächlich und rechtlich möglich sei.269 Alexy ordnet Prinzip und Regel daher zwei „Grundoperationen der Rechtsanwendung“ zu:270 Abwägung im Fall von Prinzipien und Subsumtion im Fall von Regeln.271 Es geht ihm also, um das noch einmal zu betonen, beim Prinzipienbegriff um die logische Struktur einer Norm, nicht etwa um die Prägekraft eines Rechtsgedankens für ein Rechtsgebiet oder die Herleitung eines Prinzips (allgemeinen Grundsatzes) aus verschiedenen Einzelnormen.272 Einwände wurden von anderen Autoren insbesondere gegen die kategoriale Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip erhoben.273 Nach Ansicht vieler handelt es sich bloß um einen graduellen Übergang, um zwei Pole auf einem Kontinuum. Andererseits gestehen auch Kritiker zu, dass Alexys Theorie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den deutschen Grundrechten überzeugend erklärend kann und treffend analysiert.274 Insofern lässt sie sich auch als theoretische Fort-

267

Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 78 f. Kollisionen sind demnach regelmäßig nach Vorrangregeln wie lex specialis oder lex posterior aufzulösen. 268 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 88. 269 Insofern bestehen Ähnlichkeiten zur Theorie bei Dworkin, Taking rights seriously (1977), 24 ff. Zu den Abweichungen im Detail Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 87 ff. 270 R. Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein (2003), 771. 271 Dazu auch N. Jansen, Die normativen Grundlagen rationalen Abwägens im Recht, in: J.-R. Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 39. 272 Zu verschiedenen Bedeutungen der Begriffe Prinzip und Grundsatz, die teil synonym verwendet werden, A. Metzger, Extra legem, intra ius: allgemeine Rechtsgrundsätze im europäischen Privatrecht (2009), 13 ff. 273 Z.B. Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756; Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, RW 2010, 349; M. Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht (2010), 332 f. 274 So Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756. Sogar Poscher spricht der Idee von Grundrechten als Optimierungsgeboten nicht ab, ein einfacher Teil der grundrechtlichen Dogmatik sein zu können – Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, RW 2010, 349, 372. Grundsätzlich kritisch aber etwa Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik: Plädoyer für eine Erneuerung der liberalen Grundrechtstheorie (2004).

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§ 5 Dogmatische Struktur

entwicklung der auf Konrad Hesse zurückgehenden Idee der „praktischen Konkordanz“ einordnen.275 Alexy legt dar, dass das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte genau so anwende, wie es der Anwendung von Prinzipien seiner allgemeinen Theorie zufolge entspreche. Die Grundrechte stellten danach staatsgerichtete Pflichten dar, nach denen die jeweils grundrechtlich geschützten Interessen zu optimieren und im Kollisionsfall gegeneinander abzuwägen seien. Für Details sei hierzu auf seine Ausführungen verwiesen.276 Im Verhandlungsfähigkeitsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts,277 den Alexy etwa als Beispiel heranzieht, ging es um die sich widersprechenden Vorgaben zur Gewährleistung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege einerseits und der Schutz der Gesundheit eines Angeklagten andererseits.278 Keine dieser beiden genießt in den Worten des Bundesverfassungsgerichts „schlechthin den Vorrang“, sondern der Konflikt sei „durch Abwägung der einander widerstreitenden Interessen zu lösen“.279 Nach dem einen Prinzip wäre es geboten, nach dem anderen verboten, die Hauptverhandlung durchzuführen. Welchem der Vorrang zukam, hing von den konkreten Umständen ab. Würde man diese Umstände in eine abstrakte Formulierung fassen, so würden sie nach Alexy wiederum den Inhalt einer Regel ergeben: Unter den konkreten Umständen x fällt die Abwägung also mit dem Ergebnis y aus. Dies bezeichnete er als Kollisionsgesetz: „Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.“280 Dass Grundrechte Prinzipiencharakter besitzen, hängt für Alexy eng mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zusammen: „Der Prinzipiencharakter impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und dieser impliziert jenen.“281 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, das Abwägungsgebot, ergebe sich daraus, dass Grundrechtsnormen auf ihre rechtlichen Möglichkeiten hin zu optimieren seien.282 Die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit folgten daraus, dass Grundrechtsnormen bezogen auf die tatsächlichen Möglichkeiten zu optimieren seien.283 Umgekehrt bedeute die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Grundrechte „als Optimie275

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 72. 276 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 79 ff. 277 BVerfGE 51, 324. 278 Details Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 79 f. 279 BVerfGE 51, 324, 345. Diese Zitate so auch wiedergegeben bei Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 80. 280 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 84. 281 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 100. 282 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 100. 283 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 101.

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

231

rungsgebote zu behandeln, das heißt als Prinzipien.“284 Daraus folgt nach Alexy jedoch nicht, dass den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes reiner Prinzipiencharakter zukäme. Denn „soweit sie differenzierte Gewährleistungstatbestände und Schrankenklauseln aufweisen“, träfen sie Festsetzungen, die Regeln statuierten.285 Grundrechtsnormen hätten daher einen Doppelcharakter. Der Prinzipienkollision oder Abwägung im engeren Sinne sei eine Regelebene vorgelagert. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es die Abwägung ist, die den Kern der Prinzipientheorie nach Alexy ausmacht und insbesondere auch für die Grundrechtsanwendung und Grundrechtskollision entscheidend ist. Zentral für Alexys Theorie ist die Struktur der Abwägung. Er geht davon aus, dass die Abwägung zwar ein Verfahren ist, das nicht immer zu „genau einem Ergebnis führt“, aber dennoch ein rationaler Vorgang ist.286 Hierfür kommt es ihm zufolge auf die rationale Begründung des Ergebnisses an. Zentral sei sowohl in der praktischen Argumentation des Bundesverfassungsgerichts wie auch auf einer rechtstheoretischen Ebene eine „je mehr... desto“Art der Argumentation, die spezifisch die jeweiligen konkret betroffenen Einschränkungen gewichtet und ins Verhältnis zueinander setzt. Alexy bündelt dies im von ihm so titulierten „Abwägungsgesetz“: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“287 Zwar sei eine einfache metrische Durchführung nicht möglich, das Abwägungsgesetz deswegen aber nicht wertlos.288 Es spezifiziere die bedeutsamen Punkte der Abwägung, den „Grad oder die Intensität der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips [...] und [den] Wichtigkeitsgrad der Erfüllung des anderen Prinzips“.289 Es erfordere damit einen besonders strukturierten Begründungsaufwand. b) Übertragbarkeit auf EU-Grundrechte Ob EU-Grundrechte ebenfalls Prinzipiencharakter im Sinner der Definition Alexys besitzen, hängt insbesondere davon ab, wie sie sich im Kollisionsfall verhalten und ob sie der Abwägung mit widerstreitenden Prinzipien zugäng-

284 Alexy, Zur Struktur der Grundrechte auf Schutz, in: Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 105. 285 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 121. 286 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 143. 287 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 146. Näher zur Struktur der Abwägung Alexy, Die Gewichtsformel, in: Jickeli et al. (Hg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein (2003), 771; Jansen, Die Abwägung von Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 27. 288 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 149. 289 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 149.

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§ 5 Dogmatische Struktur

lich sind. Sowohl die Grundrechtecharta wie auch die Rechtsprechung des EuGH sprechen insofern für die Bejahung des Prinzipiencharakters. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in der Charta selbst, in Art. 52 Abs. 1, festgeschrieben. Es ist also gar nicht erst notwendig, ihn etwa aus „dem Wesen der Grundrechte selbst“ herzuleiten, wie es das Bundesverfassungsgericht einst tat.290 Folgt man der Sicht Alexys, dass Prinzipiencharakter und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sich wechselseitig implizierten, ergibt schon hieraus der Prinzipiencharakter der Grundrechte. Dass etwa der Schutzbereich der EU-Grundrechte dem Typ einer Regel entspricht und insofern seine Prüfung der Abwägung widerstreitender Prinzipien vorgeschaltet ist, ändert nichts daran, dass Grundrechtsbestimmungen auch und primär Prinzipiencharakter besitzen. Die Regelebene ist im Fall der EU-Grundrechte sogar weniger relevant als bei den Grundrechten des Grundgesetzes, da die Charta keine regelartigen Schranken vorschreibt, wie es das Grundgesetz tut. Es gibt lediglich die Horizontalbestimmung in Art. 52 Abs. 1 GRC, welche gerade nicht einen eng definierten Kreis möglicher Ziele bei der Einschränkung festlegt. Dass EU-Grundrechte im Kollisionsfall abzuwägen sind, ergibt sich außerdem deutlich aus der Rechtsprechung des EuGH. Bei der Kollision zwischen zwei Grundrechten sowie eines Grundrechts mit kollektiven Interessen ist nach dem EuGH ein „angemessenes Gleichgewicht“291 zu finden, widerstreitende Interessen seien ausdrücklich „abzuwägen“.292 Diese Formulierungen finden sich zum einen in zahlreichen der unter § 4 dargestellten Urteilen, daneben aber ebenso außerhalb des Bereichs privatrechtlicher Fallgestaltungen. Sie sind ein allgemeines Muster der Grundrechtsanwendung durch den EuGH.293 Nicht immer führt der EuGH tatsächlich eine umfassende Abwägung durch – teilweise sind die grundrechtlichen Argumentationen, wie etwa in Mangold oder Alemo Herron, sehr knapp gehalten. Aufgrund der Häufigkeit der Terminologie des angemessenen Gleichgewichts und der Abwägung sowie des allgemeinen Anspruchs, der bei ihrer Nennung mitschwingt, ist aber davon auszugehen, dass diese die argumentative Grundstruktur bilden. Es wäre am EuGH, seine allgemeinen Vorgaben konsequenter zu verfolgen.

290

So das Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 19, 342, 348; 65, 1, 43. EuGH Rs. C-101/01 (Lindqvist), Slg. Slg. 2003, I-12971, Rn. 90; EuGH Rs. C275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271, Rn. 65 f.; EuGH Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), Rn. 47; EuGH C-391/09 (Runevic-Vardyn), Rn. 91; EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 45; EuGH Rs. C-360/10 (SABAM) Rn. 51; EuGH verb. Rs. C-468/10 und C469/10 (ASNEF), Rn. 43; EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 60; EuGH C-476/11 (HK Danmark), Rn. 69; EuGH Rs. C-157/14 (Neptune Distribution), Rn. 75. 292 EuGH Rs. C-92/09 (Schecke), Rn. 79; EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Rn. 44; EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 59; EuGH C-101/12 (Schaible), Rn. 60. 293 S. die Urteile in den vorigen Fn. 291

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

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Dass im Falle der Kollision von EU-Grundrechten untereinander oder von EU-Grundrechten mit anderen Zielen eine Abwägung zu erfolgen habe, wird auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum von vielen anerkannt.294 Wenn auch, wie schon gesagt, die rechtstheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien sehr umstritten ist, stellt sich das Meinungsbild im Bereich praktischer Dogmatik weniger kontrovers dar. 295 Auch ohne die übergreifende Theorie Alexys leuchtet ein, dass die praktische Schlüsseloperation bei der Grundrechtsanwendung die Abwägung kollidierender Rechte oder Interessen ist. Beispielsweise stellt Hoffmann-Riem, auch ohne Bezug zu Alexy, in einem Text zur europäischen Grundrechtsdogmatik fest: „Angemessenheit ist allgemein, aber ganz besonders in mehrpoligen Beziehungen das Ergebnis eines häufig komplexen Zuordnungs- und Abwägungsprozesses und nicht einer schlichten Subsumtion.“ 296 Mittels der Prinzipientheorie wird solchen Gedanken vor allem eine übergreifende Struktur gegeben, die leistet, diese Spezifika auf den Punkt zu bringen, besonders sichtbar zu machen und zu erklären. 2. Prinzipiencharakter und Privatrechtswirkung der EU-Grundrechte Die Prinzipientheorie bietet nicht nur eine allgemeine analytische Struktur, sondern sie formuliert deren Konsequenzen auch für die Wirkung der Grundrechte in privatrechtlichen Verhältnissen aus. Alexys Gedanken, die sich wiederum auf die positive deutsche Grundrechtsordnung beziehen, sollen zu-

294

Jansen, Die normativen Grundlagen rationalen Abwägens im Recht, in: Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 39, 54 ff.; Überblick bei Schmidt, Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta (2010), 63 ff.; de Vries, Balancing Fundamental Rights with Economic Freedoms According to the European Court of Justice, 9 Utrecht Law Review (2013), 169; vgl. auch Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 127, der sich zwar nicht auf Alexy bezieht, aber unter Rückgriff auf Konrad Hesse davon spricht dass Grundrechten bei der Kollision im Sinne praktischer Konkordanz Grenzen gesetzt werden müssen, „damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können“ (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 72); von „praktischer Konkordanz“ und einem „verhältnismäßigen Ausgleich“ spricht bezüglich der EUGrundrechte und Grundfreiheiten auch etwa Danwitz, Grundfreiheiten und Kollektivautonomie, EuZA 2010, 6, 8; ebenso J. Kokott, Der EuGH – eine neoliberale Institution?, in: C. Hohmann-Dennhardt et al. (Hg.), Festschrift für Renate Jaeger. Grundrechte und Solidarität (2010), 115, 124 ff. 295 Überblick bei Schmidt, Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta (2010), 63 ff. 296 Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kontrollfragen beim nationalen und europäischen Schutz von Freiheitsrechten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, EuGRZ 2006, 492, 495.

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§ 5 Dogmatische Struktur

nächst vorgestellt werden (dazu a)), um dann anschließend wieder die Übertragbarkeit auf die EU-Grundrechte zu untersuchen (dazu b)). a) Das Modell Alexys Alexy entwirft auf Grundlage seiner Prinzipientheorie der Grundrechte ein „Drei-Ebenen-Modell der Drittwirkung“.297 Mit diesem kombiniert er verschiedene Ansätze, die in Deutschland zur Privatrechtswirkung der Grundrechte vorgetragen wurden und wendet sich dagegen, dass es nur entweder mittelbare oder unmittelbare Drittwirkung geben könne. Zwischen den Ebenen bestehe ein „wechselseitiges Implikationsverhältnis“.298 Auf der ersten Ebene entspringe den Grundrechten des Grundgesetzes eine Pflicht des Staates: Dieser habe sowohl bei der Zivilrechtsgesetzgebung wie auch bei der Zivilrechtsprechung die Grundrechte der Bürger zu beachten. Solch eine Pflicht bedeute zwar nicht denknotwendig, dass ein Einzelner auch ihre Einhaltung verlangen könnte, also ein Recht auf Wahrung seiner Grundrechte habe. Jedenfalls für die Grundrechte des Grundgesetzes sei dies aber nach dem Bundesverfassungsgericht der Fall – und das stelle die zweite Ebene ihrer Drittwirkung dar. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht etwa im Lüth-Urteil angenommen habe, dass ein Urteil eines Zivilgerichts ein Grundrecht eines Einzelnen verletzen kann, dann impliziere dies ein Recht des Einzelnen auf Einhaltung seines Grundrechts durch ein Zivilgericht. 299 Grundrechte bestünden dabei sowohl als Abwehrrechte gegenüber der gerichtlichen Entscheidung (zum Beispiel im Fall Lüth)300 wie auch als Schutzrechte (zum Beispiel im Fall Blinkfüer).301 Insoweit stimmt Alexys Konstruktion mit der von Canaris überein. Wo Canaris sich dann aber um eine deutliche Abgrenzung zwischen Schutz und Abwehr bemüht (s. oben III. 2. a)), versucht Alexy sie wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Er nimmt an, dass in beiden Fällen ein Recht des Bürgers gegenüber dem Zivilgericht bestehe „dem grundrechtlichen Prinzip, das für die vom Bürger geltend gemachte Position spricht, in gebotenen Maße Rechnung“ zu tragen.302 Die dritte Ebene der Grundrechtswirkungen betrifft nach Alexy dann die rechtlichen Relationen zwischen Privaten.303 Die Wirkung der Grundrechte erkennt Alexy darin, dass „aus grundrechtlichen Gründen bestimmte Rechte und Nicht-Rechte, Freiheiten und Nicht-Freiheiten, Kompetenzen und NichtKompetenzen in der Bürger/Bürger-Relation bestehen, die ohne diese Gründe 297 298 299 300 301 302 303

Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 484. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 485. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 485 f. mit Bezug auf BVerfGE 7, 198 (Lüth). BVerfGE 7, 198. BVerfGE 25, 256. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 488. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 489.

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

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nicht bestehen würden“. 304 Grundrechtliche Prinzipien enthielten Anforderungen an die Privatrechtsordnung und könnten somit zu Rechten und Pflichten zwischen Privaten führen, die ohne ihre Einwirkung nicht bestehen würden. Was genau die Grundrechte vorgäben sei wegen ihres Prinzipiencharakter „letzthin ein Abwägungsproblem“. 305 Sie würden aber nicht für jeden Sachverhalt genau eine rechtliche Lösung vorgeben und nicht etwa das Zivilrecht überflüssig machen.306 Vielmehr gebe es in der Regel mehrere Lösungen, die grundrechtlich zulässig seien. Die Grundrechte würde bloß manche Inhalte des einfachen Rechts als unmöglich ausschließen oder als notwendig erfordern.307 Dazwischen bleibe unter Umständen ein erheblicher Spielraum. Dies gelte gerade auch für Verträge und die sich aus ihnen ergebenden Vertragspflichten. Während Grundrechte einerseits die Kompetenz erforderten, durch Verträge rechtliche Pflichten zu begründen, schlössen sie manche Vertragsinhalte aus, so Alexy.308 Dies entspricht genau den oben erörterten Funktionen der Ermöglichung und Regulierung, unterscheidet sich bloß in den genutzten Begriffen. Alexy äußert sich dabei nicht näher zu der Prinzipienabwägung in vertragsrechtlichen Fällen. Grundsätzlich vertritt er aber die Ansicht, dass sich der Spielraum des Gesetzgebers und damit der gerichtliche Kontrollmaßstab bei Abwehr- und Schutzrechten lediglich im Einzelfall und graduell unterscheiden könne. Ein grundsätzlicher Unterschied der Reichweite der Grundrechtswirkung, zwischen Übermaß und Untermaßverbot, bestehe nicht.309 304

Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 490. Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 491. 306 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 492. 307 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 493 f. 308 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 494. 309 Alexy, Zur Struktur der Grundrechte auf Schutz, in: Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 105, 115; Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 426 ff. – „Dies macht deutlich, dass die Grenzen des Spielraums des Gesetzgebers und der Kompetenz des Verfassungsgerichts sich nicht an strukturtheoretischen Unterscheidungen wie denen zwischen Abwehr- und Schutzrechten orientieren können, sondern allein an substanziellen Fragen.“ (426). Auch Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kontrollfragen beim nationalen und europäischen Schutz von Freiheitsrechten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, EuGRZ 2006, 492, 493 formuliert, im Ergebnis nicht unähnlich, unter anderem: „Die Aufgabe der Freiheitssicherung in mehrpoligen Rechtsbeziehungen und damit möglichst unter Bewältigung von (trioder sonstigen multipolaren) Konflikten muss sich von der Konzentration des Blicks auf die abwehrrechtliche Dimension der Freiheitsrechte lösen.“ Differenzierend zum GG etwa Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ 2006, 321, 329 nach dem Untermaß- und Übermaßverbot „inhaltlich verschieden konzipiert“ sind, sich aber bei der Prüfung der Angemessenheit, also der Abwägung im engeren Sinne, nicht unterscheiden („identisch“); kritisch etwa K.-H. Ladeur, Die objektivrechtliche Dimension der wirtschaftlichen Grundrechte, in: T. Vesting/I. Augsberg (Hg.), Das Recht der Netzwerkgesellschaft (2013), 497. 305

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§ 5 Dogmatische Struktur

b) Übertragbarkeit auf EU-Grundrechte und ihre Privatrechtswirkung Jede der drei von Alexy geschilderten Ebenen trifft für die Wirkung der EUGrundrechte zu. Dass EU-Grundrechte der EU, den Mitgliedstaaten und insbesondere auch den mitgliedstaatlichen Gerichten Pflichten auch im Bereich des Privatrechts auferlegen, wurde bereits oben ausgeführt.310 Der Einzelne kann auch verlangen, dass dies eingehalten wird. Dies impliziert schon ihrer Definition nach die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte: Diese meint, dass Privatpersonen sich vor Gericht auf die EU-Grundrechte berufen können.311 Auch auf der dritten Ebene stimmt Alexys Analyse mit der Wirkung der EU-Grundrechte überein: Diese wirken sich signifikant auf die rechtlichen Beziehungen zwischen Privaten aus, das heißt Privatrechtsverhältnisse sind bisweilen anders sie als es ohne den Einfluss der EUGrundrechte wären. Ganz deutlich zeigt sich das etwa in den Fällen Mangold und Kücükdeveci, in denen die Grundrechtswidrigkeit privatrechtlicher Vorschriften deren Unanwendbarkeit begründete und sich damit die Rechtslage zwischen den Parteien entscheidend änderte. Neben solchen Fällen des Einflusses durch Direktwirkung verändert aber auch die indirekte Wirkung in Entscheidungen wie Alemo Herron oder Google Spain die Rechtslage zwischen Privaten. In beiden Entscheidungen gaben Grundrechte eine bestimmte Auslegung einer Richtlinie vor beziehungsweise schlossen mögliche Auslegungen aus, was privatrechtliche Beziehungen, darunter in Alemo Herron Vertragspflichten, eindeutig veränderte. Bedeutender noch als diese Einteilung in Wirkung auf drei Ebenen – die Implikationen dieser wurden in den Abschnitten I.-III. im Wesentlichen auch schon ohne Alexys Theorie erarbeitet – erscheint die Struktur der Grundrechtsprüfung selbst. Wie von Alexy herausgestellt, läuft dies auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen hinaus. EU und Mitgliedstaaten haben die Grundrechte zu verwirklichen und bei Kollision mit anderen Rechtsgütern abzuwägen. Nach Alexys Abwägungsgesetz heißt dies insbesondere, dass man den Grad der Beeinträchtigung der Prinzipien und ihre Wichtigkeit ins Verhältnis zu setzen hat. Dass er hierbei für verschiedene Grundrechtsfunktionen strukturell keine unterschiedlichen Maßstäbe annimmt, ist aus zwei Gründen eine treffende Wiedergabe der Wirkung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht: Zum einen passt es zur Entscheidungspraxis des EuGH, der in Abwehrwie in Schutzsituationen denselben Maßstab des „angemessenen Gleichgewichts“ anlegt.312 Zum anderen bietet es gerade für das Vertragsrecht, wo die Unterscheidung zwischen Abwehr- und Schutzfunktion, wie erörtert, nicht passt,313 eine klare Prüfungsstruktur, die eine einleuchtende Wiedergabe der 310 311 312 313

§ 5 I. 2. a) aa). Näher dazu § 5 I. 1. a) aa). Dazu oben § 5 III. 2. b). Dazu oben § 5 III. 2. c).

IV. Prinzipiencharakter der EU-Grundrechte

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Vorschriften der Grundrechtecharta ist: Egal, ob die einschlägigen Grundrechte im konkreten Fall auf Ermöglichung oder Regulierung von Verträgen zielen,314 jeweils geht es darum, sie mit widerstreitenden Grundrechten oder kollektiven Interessen abzuwägen. Jeweils ist die Intensität der Einschränkung, die Wichtigkeit und das Verhältnis dieser zueinander in Beziehung zu setzen. In der Sache entspricht dies im Übrigen einem Ansatz, den Collins gerade für den europäischen Diskurs ins Spiel gebracht hat: Er spricht von einem Maßstab der „double proportionality“.315 Danach müsste für jedes der kollidierenden grundrechtlichen Interessen überprüft werden, ob es nicht unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Dies läuft ebenso darauf hinaus, die betroffenen Grundrechte abzuwägen, einen angemessenen Ausgleich zwischen ihnen sicherzustellen.316 Es verlangt ebenso, auf das Gewicht der jeweiligen Grundrechte im konkreten Kontext sowie die Intensität der Einschränkung einzugehen.317 Jenseits dieser freilich noch sehr abstrakten, allgemeinen Strukturen ist die Abwägung der Grundrechte eine Frage konkreter Fälle. Es geht dann nicht mehr um die Struktur der Argumentation, sondern um inhaltliche Argumente innerhalb dieser Struktur. Diesbezüglich lässt es die Prinzipientheorie der EU-Grundrechte völlig offen, ob sie etwa zu einer verstärkten Einschränkung von Privatautonomie und Vertragsfreiheit gegenüber dem status quo führen oder sogar das Umgekehrte der Fall ist.318 Soweit man etwa ein „Primat der Vertragsfreiheit“ für überzeugend hält,319 wäre dies innerhalb der Argumentationsstruktur näher auszuführen, kann aber nicht die Struktur von vorneherein bestimmen.320 Innerhalb der Argumentation lässt sich ohne Weiteres die Be314

Dazu oben § 5 III. 3. H. Collins, On the (In)compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: H.-W. Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2013), 26, 49 ff. 316 In prinzipientheoretischer Perspektive etwa J.-R. Sieckmann, Grundrechte als Prinzipien, in: J.-R. Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys (2007), 17, 21: „[...] genügt es in einer Abwägung nicht, den Inhalt nur eines der kollidierenden Prinzipien zu beachten“. 317 Collins, On the (In)compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2013), 26, 50. 318 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 491; im Anschluss daran für die Grundfreiheiten H. Schepel, Freedom of Contract in Free Movement Law: Balancing Rights and Principles in European Public and Private Law, 21 European Review of Private Law (2013), 1211, 1212. 319 Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873, 886 f. 320 Insofern dient die Methode der Abwägung dazu, nicht ein bestimmtes politisches Ideal oder eine bestimmte Gesellschaftsvision von vorneherein zu bevorzugen; vgl. etwa Jansen, Die normativen Grundlagen rationalen Abwägens im Recht, in: Sieckmann (Hg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte: Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys 315

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§ 5 Dogmatische Struktur

deutsamkeit selbstbestimmter Entscheidungen zu Vertragsschlüssen berücksichtigen, mitsamt all ihren Implikationen, auch was etwa die Vertragsfunktionen des gerechten Austauschs, der Effizienz, des Marktes und der Kooperation angeht.321 Im Übrigen führt die Abwägungsmethodik, wie auch schon im Grunde von Alexy ausgeführt,322 nicht dazu, dass die EU-Grundrechte, soweit sie denn anwendbar sind, die Privatrechtsordnung im Detail vorgäben und etwa das Vertragsrecht gänzlich überflüssig machten. Die EU-Grundrechte sind, nach der Prinzipientheorie wie nach der praktischen Entscheidungspraxis des EuGH, gerade kein „juristisches Weltenei“.323 Eine Rechtswelt, die sich allein aus Grundrechten deduzierte, wäre eine glatte, eine konturenarme Welt, mit vielen kahlen, leeren Stellen. Denn Grundrechte geben zwar vor, bestimmte Interessen zu optimieren und in ein angemessenes Gleichgewicht zu bringen, doch gibt es mannigfaltige Weisen, dies zu tun.324 Die EU-Grundrechte stellen Grenzen der noch angemessenen Gestaltung des Vertragsrechts dar, die sie auch für Privatrechtsverhältnisse direkt vorschreiben, aber regelmäßig werden sie keine Antwort geben auf eine Rechtsfrage, weil mehrere mögliche Ausgestaltungen grundrechtskonform sind. So zeigt etwa gerade der Fall AMS, dass sich nicht jede noch so detaillierte Regel aus einem Grundrecht erschließen lässt, selbst wenn das Grundrecht sie thematisch umfasst. Ein noch angemessener Ausgleich zwischen zwei widerstreitenden Interessen ist nicht bloß in einem Punkt, sondern vielmehr in einem Korridor zu finden. Innerhalb solcher Korridore ist das Privatrecht eigenständig und der Privatrechtsgesetzgeber von grundrechtsfundierten Beschränkungen durch die Judikative frei.

V. Zusammenfassung V. Zusammenfassung

Die verschiedenen Strukturierungsansätze der vorigen Abschnitte lassen sich nun zusammenfügen. Die Einordnung in die allgemeinen Lehren des Unions(2007), 39, 55: „Denn nur die Abwägung kann gegenläufige normative Ansprüche rational zum Ausgleich bringen, ohne einen substantiellen Maßstab anzuwenden oder auf ein homogenes politisches Ideal zu rekurrieren.“ Zu den genannten Vertragsfunktionen oben § 1 I. 2. 321 Dazu auch etwa Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 46 ff.; auch oben § 1 I. 2. a). 322 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 491 ff. 323 Dieser prominente Begriff bei E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft (1971), 144, mit dem er die Ausweitung der Grundrechtsdogmatik und nach seiner Sicht einhergehende Beschränkungen des Gesetzgebers kritisiert. 324 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 492; ebenso etwa Kumm, Who is Afraid of the Total Constitution?, German Law Journal 2006, 341, 346.

V. Zusammenfassung

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rechts, die Berücksichtigung der Adressatenfrage, die Funktionen der Grundrechte und ihr Prinzipiencharakter – erst in ihrer Kombination ergeben diese Bausteine ein treffendes dogmatisches Geflecht. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist, dass EU-Grundrechte auch im Privatrecht gelten. Den allgemeinen Lehren des Unionsrechts entsprechend können sie die Auslegung privatrechtlicher Rechtssätze beeinflussen und unmittelbar anwendbar sein. Der Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung anderer Rechtssätze wurde hier mit dem Begriff der indirekten Wirkung zusammen gefasst. Sowohl Sekundärrecht, insbesondere privatrechtliche Richtlinien, wie auch nationales Privatrecht im Anwendungsbereich des Unionsrechts, sind EU-grundrechtskonform auszulegen. EU-Grundrechte haben darüber hinaus auch einen Einfluss auf die Auslegung sonstigen privatrechtsrelevanten Primärrechts sowie möglicherweise auf privates Recht, insbesondere Verträge, die sonstigen unionsrechtlichen Bestimmungen unterliegen. Ist eine grundrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts und nationaler privatrechtlicher Vorschriften nicht möglich, können EU-Grundrechte auch in Privatrechtsverhältnissen diesen vorgehen und unmittelbar anwendbar sein. Ob sich eine solche direkte oder eine indirekte Wirkung ergibt, hängt auch an den sonstigen im konkreten Fall relevanten Vorschriften. Daher kann es durchaus sein, dass ein Grundrecht für gleichgelagerte Sachverhalte je nach mitgliedstaatlichem Recht die eine oder andere Wirkweise hat. Die direkte Wirkung ist allerdings nur dann möglich, wenn die Grundrechte hinreichend konkret und unbestimmt formuliert sind. Dies entspricht genau den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Unionsrecht im Allgemeinen. EU-Grundrechte stellen insofern gerade keine dogmatische Anomalie, keinen Bruch mit gewohnten Strukturen dar. Zu Missverständnissen würde es dagegen führen, aus dem nationalen Recht stammende Dogmatiken, insbesondere die Drittwirkungsterminologie, einfach auf Unionsrecht zu übertragen. Eine Besonderheit der Wirkung der EU-Grundrechte gegenüber einem Großteil der Normen des einfachen Privatrechts liegt in ihrer inneren Struktur, ihrem Prinzipiencharakter. Dies bedeutet nach der Theorie Alexys, dass sie nicht definitiv, sondern prima facie gelten und im Kollisionsfall abzuwägen sind. Dies ist gerade in Privatrechtsverhältnissen bedeutsam, in denen sich schließlich zwei Grundrechtsträger und mithin regelmäßig zwei Grundrechtspositionen gegenüberstehen. Der Prinzipiencharakter der Grundrechte entfaltet sich zum einen bei ihrer indirekten Wirkung: Die grundrechtskonforme Auslegung ist eine Abwägungs-Operation, bei der einfachrechtliche Gehalte darauf überprüft werden, ob sie die Grundrechte in ein angemessenes Gleichgewicht bringen. Zum anderen ist auch die unmittelbare Anwendung der Grundrechte im Kern eine Prüfung, bei der es darum geht, inwieweit sie mit anderen Grundrechten oder kollektiven Interessen in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden. Fällt eine Vorschrift nationalen Privatrechts

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§ 5 Dogmatische Struktur

außerhalb des zulässigen Korridors, so sind es die Grundrechte selbst, die eine angemessene Ausgestaltung vorgeben. EU-Grundrechte schreiben damit einen Rahmen möglichen Privatrechts vor. Sie bilden leitplankenähnliche Begrenzungen aus, innerhalb derer sich die Kapillaren des einfachen Privatrechts entfalten können. Sie geben dem EuGH somit gerade auch nicht die Möglichkeit, jegliches europäisiertes Vertragsrecht umzupflügen. Sie sind kein „juristisches Weltenei“, sondern lassen eine Vielzahl von Welten zu. Für das europäische Mehrebenensystem bedeutet dies insbesondere, dass EUGrundrechte die Autonomie der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihres Privatrechts zwar begrenzen, aber gleichzeitig mannigfaltige Ausgestaltungen zulassen, und jedenfalls strukturell nicht zu einer Unitarisierung hin auf ein einheitliches Privatrechtrecht zu führen brauchen. Eher könnte man von einem unitarischem Rahmen sprechen. EU-Grundrechte geben als Optimierungsgebote der EU sowie den Mitgliedstaaten vor, Verträge zu ermöglichen sowie sie zu regulieren. Beides zusammen erst ergibt die umfassende Verwirklichung der Grundrechte auf dem Gebiet des Vertragsrechts. Damit fügen sich die Wirkungen in die allgemeinen Funktionen des Vertragsrechts ein. Wenig überzeugend ist es im Vertragsrecht dagegen, Abwehr- und Schutzfunktion zu bemühen und hieraus unterschiedliche Maßstäbe bei der Grundrechtsprüfung herzuleiten. Wenn diese Funktionen auch im Übrigen für die Grundrechtsdimensionen jedenfalls teilweise treffend sind, bleiben sie doch im Vertragsrecht analytisch im Großen und Ganzen unpassend und setzen sich unnötig dem Einwand der Ideologieanfälligkeit aus. Auf Grundlage dieses Verständnisses hat die Frage, ob EU-Grundrechte auch Privatpersonen verpflichten, geringe Bedeutung. Auch eine Verpflichtung von Privatpersonen würde strukturell auf eine Abwägungsoperation hinauslaufen, bei der nicht grundsätzlich andere Maßstäbe vorgegeben sind. Dass die Frage ausweislich der Vorschriften der Charta, der darauf aufbauenden Literaturmeinungen und der Rechtsprechung des EuGH schlicht nicht definitiv zu beantworten ist, bringt insofern keine weitergehende Unsicherheit mit sich. Inwieweit etwa Privatautonomie und Vertragsfreiheit in der Abwägung zu berücksichtigen sind, ist eine inhaltliche Frage des Einzelfalls und unabhängig von der Problematik, ob Private durch Grundrechte gebunden werden. Bezüglich des Inhalts der Grundrechtswirkungen ist festzustellen, dass die beschriebenen Strukturen dies weitgehend offen lassen. In dieser Richtung soll der nächste Teil dieser Schrift mehr Erkenntnisse bringen.

4. Teil

Inhalt

§ 6 Privatautonomie § 6 Privatautonomie

Das Konzept der Privatautonomie steht seit jeher im Auge des Sturms der Kontroverse um die Privatrechtswirkung der Grundrechte. Erfahrungen aus der deutschen Debatte wiederholen sich nun auf EU-Ebene – die Implikationen für die Privatautonomie haben sich abermals als Kernthematik herauskristallisiert. 1 Nicht wenige deutsche Rechtswissenschaftler sorgten sich seinerzeit angesichts der Drittwirkungsidee um die Stellung und Bedeutung der Privatautonomie als solcher: „Die Lehre von der sogenannten ‚Drittwirkung der Grundrechte‘ ist abzulehnen. Würde man mit dieser Lehre ernst machen, so wäre die Privatautonomie aufgehoben“, befand etwa Werner Flume. Dieser 1960 erhobene Einwand wird auch heute in ähnlicher Form noch vorgebracht, und zwar ebenso auf öffentlich-rechtlicher Seite und gerade auch bezüglich der EU-Grundrechte. 2 Deren Wirkung wird aus dieser Perspektive vor allem eine regulatorische Wirkung zulasten von Selbstbestimmung unterstellt. Solche Sichtweise betrachtet allerdings nur eine Seite der Medaille: Es ist ebenso denkbar, Grundrechten ein Gebot des Schutzes der Privatautonomie entnehmen, und zwar auch und gerade in Privatrechtsverhältnissen. Alexy wies schon 1985 auf den „Mangel der Drittwirkungsdiskussion“ hin, welche die Grundrechtswirkung im Privatrecht vor allem als Gefahr, kaum je als Refugium für die Privatautonomie betrachtete.3 1 S. z.B. D. Leczykiewicz, Horizontal Effect of Fundamental Rights: In Search of Social Justice or Private Autonomy in EU Law?, in: U. Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 171; Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121; Safjan, European Law versus Private Law: Transformation or Deformation of the Paradigm, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 155; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657, 673; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238. 2 Z.B. Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), 513, Rn. 54: „unmittelbare Drittwirkung würde […] zu einer weitgehenden Beschränkung der Privatautonomie führen“. Für die deutschen Grundrechte exemplarisch Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (74. EL Mai 2015), Art. 3 I GG Rn. 505 ff. 3 Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 494. Dort auch: „Wie die Schranken privatrechtlicher Kompetenzen gezogen werden, ist eine inhaltliche Frage, und zwar letzthin ein

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§ 6 Privatautonomie

Gerade aus vertragsrechtlicher Sicht ist es eine zentrale Frage, wie es die EU-Grundrechte mit der Privatautonomie und mit ihrem Unterfall, der Vertragsfreiheit, halten. Für die Analyse der inhaltlichen Wirkungen der EUGrundrechte bildet diese Fragestellung den naheliegenden Ausgangspunkt. Zwischen den verschiedensten möglicherweise kollidierenden grundrechtlich geschützten Interessen stellt die Vertragsfreiheit eine Art Konstante dar – sie ist so gut wie immer betroffen. In kaum einem Rechtsgebiet wird die Privatautonomie regelmäßig so in den Mittelpunkt gestellt wie im Vertragsrecht.4 In jüngerer Vergangenheit hat sich die Debatte um die Privatautonomie im Allgemeinen wieder einmal verstärkt. Insbesondere haben eine Reihe von Autoren kritisch konstatiert, dass „die Privatautonomie“ auf dem Rückzug sei, und gerade durch europarechtliche Vorschriften eingeschränkt würde.5 Ob dem tatsächlich so ist, hängt allerdings auch davon ab, wie man Privatautonomie definiert. Dies ist längst alles andere als selbstverständlich – Privatautonomie als rechtliches Konzept besitzt keine eindeutige oder unstrittig eindimensionale Gestalt mehr. Man unterscheidet im (deutschen) rechtswissenschaftlichen Diskurs weithin zwischen formaler und materialer Privatautonomie.6 Es lässt sich etwa durchaus argumentieren, dass europäisches VerAbwägungsproblem. Durch die Feststellung einer unmittelbaren Drittwirkung im angeführten Sinne wird hinsichtlich dieser inhaltlichen Frage nichts präjudiziert.“ 4 Dies gilt insbesondere für das deutschsprachige Schrifttum, s. z.B. F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäftes (1967), 123 ff.; Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873; Grundmann, Welche Einheit des Privatrechts? Von einer formalen zu einer inhaltlichen Konzeption des Privatrechts, in: Grundmann et al. (Hg.), Festschrift für Klaus J. Hopt zum 70. Geburtstag am 24. August 2010: Unternehmen, Markt und Verantwortung (2010), 61 mit weiteren Nachweisen. Kritischer teilweise der US-amerikanische Diskurs: s. etwa R. Pound, The Role of the Will in Law, 68 Harvard Law Review (1954), 1; D. Kennedy, From the Will Theory to the Principle of Private Autonomy: Lon Fuller’s Consideration and Form, 100 Columbia Law Review (2000), 94; andererseits aber auch Fuller, Consideration and Form, 41 Columbia Law Review (1941), 799; C. Fried, Contract as promise: a theory of contractual obligation (1981). Für England s. z.B. Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006), 49 ff. 5 Z.B. A. Bruns, Die Vertragsfreiheit und ihre Grenzen in Europa und den USA – Move-ment from Contract to Status?, JZ 2007, 385, 392 ff.; C. Herresthal, Constitutionalisation of Freedom of Contract in EC Law, in: K. Ziegler/P. Huber (Hg.), Current Problems in the Protecion of Human Rights: Perspectives from Germany and the UK (2013), 89; differenzierter, aber in der wesentlich Stoßrichtung ähnlich Wagner, Materialisieung des Schuld-rechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13. 6 Zu formaler und materialer Freiheit und verschiedenen Wirtschaftssystemen Micklitz, Kapitel18. Bürgerstatus und Privatrecht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie

I. Konzept der Privatautonomie

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tragsrecht materiale Privatautonomie fördert und somit nicht einfach „die Privatautonomie“ begrenzt. 7 In diesem Kapitel soll es lediglich um die EUgrundrechtlichen Implikationen für die Privatautonomie gehen, nicht um den Zusammenhang von Unionsrecht und Privatautonomie im Allgemeinen. Die allgemeine Debatte bildet dabei jedoch zum einen den Hintergrund für die konkrete Frage und wird zum anderen in dieser spezifisch aktuell. Eine EUgrundrechtliche Stützung für eine bestimmte Form des Autonomieverständnisses wäre eine entscheidende Weichenstellung für die Wirkungen der EUGrundrechte im Vertragsrecht.8 Die soeben übersichtsartig aufgeworfenen Punkte diktieren die Gliederung dieses Abschnitts von selbst: Zunächst ist zu untersuchen, inwiefern EUGrundrechte ein formales, materiales oder anderes Verständnis der Privatautonomie beziehungsweise der Vertragsfreiheit unterstützen (dazu I.). Daran schließen sich die Fragen an, ob und wie EU-Grundrechte die Vertragsfreiheit schützen (dazu II.) und inwiefern EU-Grundrechte die Vertragsfreiheit einschränken (dazu III.). Diese drei Fragestellungen hängen freilich alle eng miteinander zusammen. Mit ihnen sind nicht weniger als grundlegende Gesichtspunkte für die weitere Entwicklung des Vertragsrechts in Europa angesprochen. Die folgende Darstellung muss, gerade, da die Privatrechtswirkung der EU-Grundrechte noch jung ist, in mancher Hinsicht als vorläufig gelten. Einige erste Schlüsse zeichnen sich dennoch deutlich ab.

I. Konzept der Privatautonomie und EU-Grundrechte I. Konzept der Privatautonomie

Der rechtliche Begriff der Privatautonomie hat tiefe und verzweigte philosophische Wurzeln. Dies ist schon oben bei der Diskussion der Funktionen von

(2015), 1381, 1394 ff. Grundlegend zum materialen Begriff im deutschen Privatrecht Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 8 ff.; Überblick bei Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273; aus jüngerer Zeit z.B. Unberath, Die Vertragsverletzung (2007), 143 ff.; Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13; S. Grundmann, Systemdenken und Systembildung, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 172. 7 Grundmann, Systemdenken und Systembildung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 172, 178 ff. 8 In den Worten Hugh Collins’: „[T]he particular conception of liberty attributed to a constitutional document is likely to profoundly influence the direction in which the application of human rights law to private contract law will take [sic].“ – H. Collins, The Impact of Human Rights on Contract Law in Europe, University of Cambridge Faculty of Law Research Paper No. 13/2011, 11.

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§ 6 Privatautonomie

Verträgen angedeutet worden.9 Dem kann und soll hier im Einzelnen nicht nachgespürt werden.10 Von Interesse ist, welche Auswirkungen EU-Grundrechte auf das Konzept der Privatautonomie im Rechtssinne haben. Ist die Frage so ausgerichtet, dann hat man von den im rechtlichen Diskurs anerkannten Konzepten auszugehen, wie sie sich in nationalen Rechtsordnungen entwickelt haben. Im Folgenden werden zuerst die gängigen Verständnisse von formaler und materialer Privatautonomie skizziert, wie sie insbesondere in Deutschland existieren und inzwischen auch auf europäischer Ebene diskutiert werden (dazu 1.). 11 Anschließend ist darzustellen, inwieweit EUGrundrechte in ihrer Interpretation durch den EuGH ein formales oder materiales Konzept stützen oder ein von diesen verschiedenes etablieren (dazu 2.). 1. Formale und materiale Privatautonomie Mit formaler Privatautonomie meint man im juristischen Diskurs in der Regel rechtliche Freiheit, also die Freiheit, seine Rechtsverhältnisse nach seinem Willen zu gestalten.12 Entscheidend dafür ist insbesondere, dass die jeweils angestrebten Rechtsgeschäfte nicht verboten sind und in ihrer beabsichtigten Form als wirksam anerkannt werden. Mit materialer Privatautonomie stellt

9

§ 1 I. 2. a), § 1 II. 2. Eingehend zur philosophischen Dimension Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität (2016), im Erscheinen, der insbesondere die Ansätze Kants, Gerald Dworkins und Amartya Sens diskutiert. 11 Die Betonung der Situation in Deutschland ergibt sich daraus, dass nicht Behauptungen für Rechtsordnungen aufgestellt werden sollen, die nicht näher untersucht wurden, soll aber nicht aussagen, dass es in diesen notwendig anders wäre. Aus dem europäischen Diskurs s. insbesondere Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121; Collins, The Impact of Human Rights on Contract Law in Europe, University of Cambridge Faculty of Law Research Paper No. 13/2011, 5 ff.; Leczykiewicz, Horizontal Effect of Fundamental Rights: In Search of Social Justice or Private Autonomy in EU Law?, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 171; G. Alpa, Party Autonomy and Freedom of Contract Today, in: A. Somma (Hg.), The politics of the Draft Common Frame of Reference (2009), 71; A. Colombi Ciacchi, Party Autonomy as a Fundamental Right in the European Union, 6 European Review of Contract Law (2010), 303 (mit Rechtsvergleich anderer europäischer Staaten); Anklänge auch bei Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167, u.a. 172, 174. 12 „Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“ – Mestmäcker, Über die normative Kraft privatrechtlicher Verträge, JZ 1964, 441, 443; Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts. 2. Das Rechtsgeschäft (1992), § 1, 1; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 277. 10

I. Konzept der Privatautonomie

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man dagegen auf tatsächliche Freiheit ab.13 Man lenkt den Fokus auf die Bedingungen und Möglichkeiten tatsächlicher Selbstbestimmung, was erfordert, sachlichen Kontext verstärkt einzubeziehen.14 Entsprechend kann man – als Unterfall der Privatautonomie – zwischen formaler und materialer Vertragsfreiheit unterscheiden.15 Sowohl formale wie auch materiale Privatautonomie stellen in diesem Sinne Optimierungsgebote dar.16 Sie geben jeweils vor, bestimmte individuelle Interessen zu optimieren. Je nach Vertragsphase und Blickwinkel hat dies verschiedene Implikationen. Schwerpunktmäßig hat sich der Diskurs der Autonomiekonzepte auf die Umstände beim Vertragsschluss bezogen.17 Während die Optimierung formaler Vertragsfreiheit darauf abzielt, sämtliche Verträge zu ermöglichen und als wirksam anzuerkennen, drängt das Prinzip materialer Vertragsfreiheit darauf, nur jene Verträge zuzulassen, welche Ausdruck tatsächlich selbstbestimmter Entscheidungen sind. Materiale Vertragsfreiheit ist daher das komplexere Konzept und bei der Gestaltung der Rechtsordnung anspruchsvoller zu verfolgen. Schließlich wird es notwendig zu spezifizieren, welche Arten und welche Intensitäten von Beeinträchtigungen zu berücksichtigen sind, wie mit ihnen umzugehen ist und was die Rechtsfolgen im Einzelnen sein sollen. Materiale Vertragsfreiheit kann man konsistent als Fortentwicklung formaler Vertragsfreiheit, gewissermaßen als Privatautonomie 2.0 ansehen. Etwa nach Drexl sind Abweichungen vom klassischen, formalen Prinzip dogmatisch nur dann notwendig, wenn Anzeichen für die tatsächliche Beeinträchtigung von Selbstbestimmung vorliegen.18 Andernfalls 13

Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 277 f. Im europäischen Diskurs z.B. Colombi Ciacchi, Party Autonomy as a Fundamental Right in the European Union, 6 European Review of Contract Law (2010), 303, 305 ff. Zum Verhältnis zwischen rechtlicher und tatsächlicher Freiheit allgemein Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), 458 ff. 14 S. etwa Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 8 ff. 15 Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 277 f. 16 Zu Grundrechten als Optimierungsgeboten s. schon oben§ 5 IV. Zu Privatautonomie als Optimierungsgebot Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 280; Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden (2011), 57 f. mit weiteren Nachweisen. 17 Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG NJW 1994, 36; NJW 2005, 2363; NJW 2005, 2376; s. etwa Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 277 mwN; rechtvergleichender Überblick bei Colombi Ciacchi, Party Autonomy as a Fundamental Right in the European Union, 6 European Review of Contract Law (2010), 303; vgl. auch die folgenden Fn. 18 J. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208 f. sieht in solchem Ansatz auch eine „normativ und ökonomisch schlüssige Fortentwicklung und Vervollkommnung“ der Privatrechtsgesellschaft.

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ergeben sich aus den beiden Optimierungsgeboten keine Unterschiede. Insofern kann es auch nicht überzeugen, wenn Canaris allgemein feststellt, es handele sich bei formaler und materialer Vertragsfreiheit um „zwei ganz verschiedenartige Prinzipien, die – ihrer Natur als Optimierungsgeboten entsprechend – auf entgegengesetzte Lösungen gerichtet sind“.19 Zwar ist richtig, dass jede vertraglich ausgeübte Selbstbestimmung zur Vertragsbindung und somit immer auch zu einer Einschränkung der tatsächlichen Freiheit führt: „man kann jene nicht erreichen, ohne diese in Kauf zu nehmen“.20 Denkt man mit Charles Fried chronologisch aber noch einen Schritt weiter, dann lässt sich auch sagen, dass vertragliche Selbstbindung zu verbesserter Kooperation und mindestens tendenziell zu insgesamt mehr Wohlstand, und damit langfristig auch zu mehr tatsächlicher Selbstbestimmung führt.21 Verpflichtet man sich etwa vertraglich zur Arbeit, erhält man hierfür eine Vergütung, die man wiederum einsetzen kann, um sein Leben entsprechend seiner Wünsche zu führen. Nur ausnahmsweise haben Vertragsbindungen den Effekt, langfristig tatsächliche Selbstbestimmung zu unterminieren – so etwa im Sachverhalt der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts.22 Je nachdem, in welcher Situation man mit welchem zeitlichen Horizont argumentiert, ist das Verhältnis zwischen den beiden Autonomiekonzepten also mehr oder weniger komplex, widerstreitend oder gleichlaufend. Es handelt sich um zwei unterschiedliche, aber nicht per se gegenläufige Prinzipien. Eine Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen und richterlicher Rechtsfortbildungen der vergangenen Jahrzehnte lässt sich als Reaktion auf Mängel der tatsächlichen Selbstbestimmung in der vorvertraglichen Phase einordnen und hat insofern dem Prinzip materialer Privatautonomie gedient.23 Dazu gehören sowohl die inhaltliche Kontrolle von Verträgen (etwa AGB-Klauseln) wie auch Vorschriften, die den Prozess des Vertragsschlusses steuern (etwa Informationspflichten). Dies zeigt, dass die Verwirklichung materialer Vertragsfreiheit regulative Notwendigkeiten mit sich bringt. Es wäre allerdings falsch, sie auf eine Regulierungsrichtung zu reduzieren: Auch dem Prinzip 19

Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 280. Und auf S. 279: „nicht nur [ein] Unterschied, sondern geradezu [ein] Gegensatz“. 20 Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 279. 21 Fried, Contract as promise: a theory of contractual obligation (1981), S. 14 spricht von einem „pseudomystery“ – „The restrictions involved in promising are restrictions undertaken just in order to increase one’s options in the long run.“ Dass Fried nicht die Begriffe von formaler und materialer Privatautonomie nutzt, macht für das Argument in der Sache keinen Unterschied. 22 BVerfGE 89, 214. 23 Ausführliche Analyse bei Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273.

I. Konzept der Privatautonomie

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materialer Vertragsfreiheit zufolge müssen Verträge grundsätzlich ermöglicht werden. Die Optimierung formaler Vertragsfreiheit zielt dagegen lediglich darauf, jegliche Verträge anzuerkennen und durchzusetzen, unabhängig von den tatsächlichen Umständen (Tendenz zu laissez faire). Um dies in die in § 1 dargestellte funktionale Analyse einzuordnen kann man sagen: Sowohl formale wie materiale Vertragsfreiheit sind mit der Vertragsfunktion der Selbstbestimmung verknüpft, doch ergeben sich aus ihnen für die Funktionen des Vertragsrechts unterschiedliche Konsequenzen: Während ein (hypothetisches) Vertragsrecht, das primär formaler Vertragsfreiheit dient, vor allem auf Ermöglichung ausgerichtet ist, verfolgt ein (hypothetisch) schwerpunktmäßig der materialen Vertragsfreiheit verpflichtetes Vertragsrecht Ermöglichung ebenso wie Regulierung vertraglicher Interaktionen. Für die EUGrundrechte folgt daraus: Je nachdem, welches Konzept der Vertragsfreiheit sie stützen, besitzen auch sie ein eher ermöglichendes oder regulatives Potenzial. 2. Konzept der Privatautonomie und EU-Grundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH Die Frage ist nun, welches Konzept der Privatautonomie beziehungsweise Vertragsfreiheit die Entscheidungspraxis des EuGH den EU-Grundrechten zuweist. Der Charakter der Privatautonomie im Unionsrecht ist noch kürzlich als „elusive“ charakterisiert worden, 24 gewinnt aber zunehmend an Konturen. Die Aufmerksamkeit im Folgenden gilt zunächst der Auslegung der Chartagrundrechte durch den Gerichtshof (dazu a)). Es folgt eine Untersuchung von Rechtsprechung zu allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts, die das Bild der Vertragsfreiheit beim EuGH komplettiert (dazu b)). Es ist im Schrifttum vorgeschlagen worden, auf Grundlage dieser Entscheidungen Privatautonomie im Unionsrecht als „regulated autonomy“ jenseits hergebrachter formaler und materialer Autonomieverständnisse zu charakterisieren. Auch hierzu gilt es Stellung zu nehmen (dazu c)). a) Vertragsfreiheit und Chartagrundrechte Zwei Entscheidungen des EuGH haben inzwischen ausdrücklich die grundrechtliche Gestalt der Vertragsfreiheit thematisiert. Beide implizieren ein formales Verständnis von Vertragsfreiheit. In Sky Österreich legte der Gerichtshof die unternehmerische Freiheit des Art. 16 GRC so aus, dass diese „die Vertragsfreiheit“25 umfasse. Diese beinhalte ihrerseits „die freie Wahl 24

S. Weatherill, The Elusive Character of Private Autonomy in EU Law, in: D. Leczykiewicz/S. Weatherill (Hg.), (2013), 9. 25 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 42.

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des Geschäftspartners [...] sowie die Freiheit, den Preis für eine Leistung festzulegen“.26 Damit nannte der EuGH die klassischen Komponenten formaler Vertragsfreiheit.27 Es spielte keine Rolle in diesem Fall, inwiefern Entscheidungen tatsächlich selbstbestimmt waren. Die Frage war, ob Sky Österreich überhaupt selbst einen Vertrag nach seinen Vorstellungen aushandeln konnte oder dessen Inhalt gesetzlich vorgegeben war. Noch deutlicher wird die formale Konzeption im Fall Alemo Herron. Hier zog der Gerichtshof die über Art. 16 GRC geschützte Vertragsfreiheit heran, um eine arbeitnehmerschützende Vorschrift eng auszulegen.28 Dem Unternehmer müsse es aufgrund seiner grundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit möglich sein, seine „Interessen wirksam geltend zu machen“ und Verträge mit den Arbeitnehmern entsprechend „auszuhandeln“. 29 Inwieweit den Arbeitnehmern bei Vertragsverhandlungen mit dem Arbeitgeber überhaupt tatsächliche Selbstbestimmung durch eine wirkliche Verhandlung möglich ist, wurde in keiner Weise problematisiert. Der Fall hat damit eine über die Erkenntnisse aus Sky Österreich hinausgehende Bedeutung. War dort nicht ersichtlich, dass die tatsächliche Entscheidungsfreiheit der Gegenseite gefährdet gewesen wäre, so ist das Arbeitsverhältnis eines der Felder, wo dies typischerweise diskutiert wird und jedenfalls nahe liegt.30 Es braucht hier gar nicht behauptet zu werden, dass die Berücksichtigung materialer Vertragsfreiheit der Arbeitnehmer einen Unterschied hätte machen sollen. Hinreichend aussagekräftig für das konkrete Erkenntnisinteresse ist, dass in einem Fall, in dem sowohl formale wie materiale Vertragsfreiheit eine Rolle hätten spielen können, der EuGH allein auf die Vertragsfreiheit im klassischen, formalen Sinne einging.

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EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 43. S. z.B. nur J. Busche, in: Münchener Kommentar (2015), Vor § 145 BGB Rn. 10 ff.; H.-P. Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), Vor § 145 BGB Rn. 4 ff; Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006), 50 ff. 28 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), s.o. § 4 II. 7. 29 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), 33. 30 S. etwa Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), 12 f.; Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), 134 ff., 192 ff.; Reich, General principles of EU civil law (2014), 38 ff.; umfassend C. Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit: die Grundlagen der Vertragsfreiheit und Vertragskontrolle am Beispiel ausgewählter Probleme des Arbeitsrechts (2000); daher rührt auch die Kritik an der Entscheidung bei Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167. 27

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b) Vertragsfreiheit in der Rechtsprechung zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Grundsätzen des Zivilrechts Neben den Chartagrundrechten gehören weiterhin die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zum Grundrechtsbestand der EU.31 Tatsächlich ist in der Literatur schon früh (und seitdem recht häufig) vorgebracht worden, Vertragsfreiheit müsse als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts primärrechtlichen Schutz genießen. 32 Schließlich setze die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, die heute in Art. 3 Abs. 3 EUV festgelegt ist, die Vertragsfreiheit voraus. 33 Der EuGH hat sich bisher allerdings nicht zur Vertragsfreiheit als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts geäußert. Da er bei der Feststellung allgemeiner Grundsätze einen besonderen Spielraum durch die Methode der wertenden Rechtsvergleichung besitzt, ist daher insbesondere unklar, ob die Vertragsfreiheit als allgemeiner Grundsatz (bloß) einen formalen oder (auch) einen materialen Gehalt hätte.34 Aufschlussreich für das Autonomieverständnis des Gerichtshofs ist allerdings die oben bereits besprochene Entscheidung Werhof.35 Auch wenn darin die Vertragsfreiheit als solche nicht als allgemeiner Grundsatz anerkannt wurde, kam der Schutz des Grundsatzes der negativen Vereinigungsfreiheit einem Schutz einer formal verstandenen Vertragsfreiheit gleich. Der EuGH sprach zunächst davon, dass ein „Vertrag im Allgemeinen durch das Prinzip der Privatautonomie gekennzeichnet ist, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen“.36 Er stellte dann zwar fest, dass diese Freiheit durch Unionsrecht eingeschränkt werden könne. Dabei sei aber für den konkreten Fall insbesondere der Grundsatz der negativen Vereinigungsfreiheit zu beachten. Im Ergebnis argumentierte er mithilfe dieses allgemeinen Grundsatzes gegen eine Auslegung der Richtlinie, welche die for31

S.o. § 2 III. Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873, 890; D. Coester-Waltjen, Constitutional Aspects of Party Autonomy and Its Limits, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), 41 42. Dieses Argument auch von Generalanwältin V. Trstenjak, Schlussanträge Rs. C-453/10 (Perenicová), Rn. 67 mit Fn. 18. Dagegen J. Rutgers, The European Economic Constitution, Freedom of Contract and the DCFR, 5 European Review of Contract Law (2009), 95. 33 S.a. schon oben, § 1 III. 2. 34 Für ersteres Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873, 890; für letzteres Colombi Ciacchi, Party Autonomy as a Fundamental Right in the European Union, 6 European Review of Contract Law (2010), 303, 318. 35 § 4 II. 1. 36 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397, Rn. 23. 32

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male Vertragsfreiheit stärker eingeschränkt hätte. Genau wie in Alemo Herron ging es konkret um eine Bezugnahmeklausel in einem Arbeitsverhältnis und damit um eine Konstellation, in dem die tatsächliche Selbstbestimmung des Arbeitnehmers als fraglich hätte diskutiert werden können. Der Gerichtshof nahm dazu jedoch nicht Stellung. Die in Werhof gegebene Definition der Privatautonomie blieb im Übrigen auch nicht singulär. In Harms bezog sich der Gerichtshof wörtlich auf das „Prinzip der Privatautonomie, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen“. 37 Ein ähnlicher Gedanke liegt einer Stelle aus dem Urteil Société thermale zugrunde, auch wenn in dieser nicht ausdrücklich von Privatautonomie die Rede war: „Den Vertragsparteien steht es frei, den Inhalt ihres Rechtsverhältnisses [...] zu bestimmen.“ 38 In diesen beiden zuletzt genannten Entscheidungen fehlte zwar ein Bezug zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts. Insbesondere hielten sie keine Aussage zu einem primärrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit: Der EuGH stellte ohne Erwähnung irgendwelcher konstitutionellen Einschränkungen fest, dass Unionsrecht der Privatautonomie „Grenzen“ setzen könnte.39 Sie liefern jedoch Hinweise auf das Autonomiekonzept, dass beim EuGH im Allgemeinen vorzuherrschen scheint. In den letzten Jahren hat der Gerichtshof neben den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts eine weitere, scheinbar eigenständige Normkategorie entwickelt: die „allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts“. Bisher bringen diese für das Konzept der Vertragsfreiheit und der Privatautonomie allerdings keine weitergehenden Aufschlüsse. In einer Reihe von Entscheidungen hat der EuGH zwar schon etwa zu „Treu und Glauben“ und „ungerechtfertigter Bereicherung“ als allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts Stellung genommen.40 Zur Privatautonomie als solchem Grundsatz äußerte er sich dagegen 37

EuGH C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431, Rn. 36. EuGH Rs. 277/05 (Société thermale d’Eugénie-les-Bains), Slg. 2007, I-6415. 39 EuGH C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431, Rn. 36. 40 Zu dieser Figur die Urteile EuGH Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415, Rn. 24; C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383, Rn. 42; C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I7315, Rn. 26 (hier in der deutschen Fassung zwar „Grundsätze bürgerlichen Rechts“, in der englischen allerdings wie sonst auch „principles of civil law“ und in der französischen „principes de droit civil“); C-215/08 (Friz), Slg. 2010, I-2974. Diese haben eine Reihe von Stellungnahmen und Analysen ausgelöst, s. etwa Hartkamp, The General Principles of EU Law and Private Law, RabelsZ 75 (2011), 241; Hesselink, The General Principles of Civil Law: Their Nature, Roles and Legitimacy, in: Leczykiewicz/Weatherill (Hg.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), 131; Weatherill, The ‘principles of civil law’ as a basis for interpreting the legislative acquis, 6 European Review of Contract Law (2010), 74; und zur Frage der Privatautonomie in diesem Kontext Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 125 f.; den „Principles of civil law“-Ansatz monographisch weiterentwickelnd Reich, General principles of EU civil law (2014). 38

I. Konzept der Privatautonomie

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noch nicht.41 Daneben ist weiterhin fraglich, was genau der Charakter und Rang in der Normenhierarchie der allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts ist. Insbesondere ist unklar, ob sie auf der Stufe des Primärrechts anzusiedeln sind – zwingend notwendig ist dies jedenfalls nicht, unterscheiden sie sich doch terminologisch gerade von den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts.42 c) Regulated autonomy – ein neues Autonomiekonzept? Die Debatte um Privatautonomie im Unionsrecht hat nicht bloß an Autonomiekonzepte aus nationalen Rechtsordnungen angeknüpft, sondern auch den Vorschlag eines neuen, eigenen Autonomiekonzeptes hervorgebracht. Comparato und Micklitz sprechen von „regulated autonomy“ und knüpfen damit an den regulativen Einschlag zahlreicher Vorschriften des Unionsrechts an.43 In ihren eigenen Worten: „Autonomy in the European order, which can be termed as regulated autonomy, can be better described as an instrument to conform individual behaviour for the purpose of achieving the policy objectives of the European Union and which involves both an extension and a compression of individual economic freedom.“44 Autonomie erscheint demnach als bloßes Mittel zum Zweck von Unionspolitiken. Die Definition betont einerseits ermöglichende, andererseits regulative Rolle des Unionsrechts.45 Die Erweiterung (extension) der Freiheit, sehen Comparato und Micklitz vor 41 Dafür Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 125. In Werhof sprach der Gerichtshof zwar vom Prinzip der Privatautonomie, aber nicht als allgemeinem Grundsatz des Zivilrechts – insoweit ist der Verweis von Hartkamp, The General Principles of EU Law and Private Law, RabelsZ 75 (2011), 241, 256 nicht präzise. Fraglich bleibt dabei freilich, ob darin irgendein Unterschied liegen soll. 42 Skeptisch Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121; Hesselink, The General Principles of Civil Law: Their Nature, Roles and Legitimacy, in: Leczykiewicz/Weatherill (Hg.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), 131, 154 ff. 43 Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121. Zustimmend Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167, 180. Ähnlich Reichs Konzept einer „framed autonomy“ – Reich, General principles of EU civil law (2014), 17 ff. 44 Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 122. 45 Von „opening“ und „closing“ spricht auch etwa Micklitz, Introduction, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 1, 7.

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allem durch die Grundfreiheiten bewirkt, wohingegen die Beschränkung (compression) sich dadurch ergebe, dass Privatautonomie zugunsten der allgemeinen Ziele der Union eingeschränkt werden könne. Zu diesen Zielen gehöre insbesondere die Errichtung eines gemeinsamen Marktes, 46 ja die Autonomie im Unionsrecht könne schlichtweg nicht getrennt werden „from the internal market, from the freedom to do business across borders“.47 Aufgrund der zahlreichen Einschränkungen der Autonomie könne man nicht mehr davon ausgehen, dass Autonomie, wie im traditionellen liberalen Verständnis, die Freiheit vor staatlichen Einschränkungen meine.48 Auch würde sich die Vertragsfreiheit aus der Unternehmerfreiheit dadurch von (klassischer) Privatautonomie unterscheiden, dass sie „extends beyond purely private law relationships and affects more fundamentally the very relationship between the citizen and the administration“.49 Diese Beobachtungen sind insoweit einleuchtend, als dass sie eine treffende Charakterisierung grundsätzlicher Charakteristika des Unionsrechts im Allgemeinen darstellen, das fraglos Freiräume eröffnet und schließt. Dies an sich stellt allerdings keinen so gravierenden Unterschied etwa zum deutschen Recht dar, dass es erforderlich würde, Autonomie ganz neu zu konzeptionieren. Auch Vertragsfreiheit im traditionellen, formalen Sinne, ist Beschränkungen unterworfen.50 Im deutschen Recht ist die über Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Privatautonomie ebenfalls nicht absolut, sondern kann (und muss teilweise) in verhältnismäßiger Weise begrenzt werden.51 Dies ist es auch gerade, was sie im Sinne Alexys als Prinzip kennzeich46

Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 130. 47 Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 128. 48 Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 133. 49 Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 128. 50 Collins, The Impact of Human Rights on Contract Law in Europe, University of Cambridge Faculty of Law Research Paper No. 13/2011, 5: „nowhere is this principle unqualified“. 51 Dazu z.B. BVerfGE 89, 214; BVerfG NJW 1996, 2021; aus der Literatur z.B. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), 287 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (74. EL Mai 2015), Art. 2 GG Rn. 104; Schmidt, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (2016), Art. 2 GG u.a. Rn. 24 ff., 65 ff.; Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche (1993), 873.

I. Konzept der Privatautonomie

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net.52 Beispielsweise Mietrecht und Arbeitsrecht stellen seit langer Zeit Grenzen der (formalen) Privatautonomie auf – und zwar durchaus aus funktionalen, instrumentellen Gesichtspunkten, um privates Verhalten zugunsten bestimmter Ziele zu steuern und einzugrenzen. Gleiches gilt für alle möglichen Verbotsgesetze in Verbindung mit § 134 BGB. Gerade der Verweis auf Art. 2 Abs. 1 GG verdeutlicht auch die Staat-Bürger-Dimension der Privatautonomie im deutschen Recht, die im Übrigen bei Verträgen auch darum stets mitzudenken ist, da diese erst rechtswirksam werden durch die vertragliche Einigung und deren staatlicher Anerkennung. Europäisches Recht mag prozentual über einen erheblich höheren Anteil regulativer Normen verfügen als nationale Rechtsordnungen. Dies beeinflusst auch durchaus die spezifische Gestalt des objektiven Raumes, in dem privatautonome Gestaltung möglich ist. Es ändert aber nichts am grundsätzlichen Gehalt der Privatautonomie als subjektivem Interesse, als Faktor, der diesen Raum auszuweiten drängt. Es stimmt zwar, dass Privatautonomie, wie sie der EuGH etwa in Harms und Société thermale formulierte, ohne ersichtliche Grenzen eingeschränkt werden könnte. Konsequenterweise könnte man dann auch nicht mehr von einem Optimierungsgebot sprechen. Die Vertragsfreiheit gemäß Art. 16 GRC, wie sie in Sky Österreich und insbesondere Alemo Herron genannt wurde, besitzt dagegen einen signifikanten Schutz, der im nächsten Abschnitt II. noch konkreter zu behandeln ist. Vertragsfreiheit ist im europäischen ebenso wie im nationalen Recht in einen Ausgleich mit anderen, kollidierenden Interessen zu bringen. Man kann, um diese Konstellation der Einschränkung zugunsten widerstreitender Prinzipien zu betonen, durchaus von regulated autonomy sprechen. In diesem Sinne würde der Begriff allerdings nichts Entscheidendes aussagen. Privatautonomie war, ist, und wird auf absehbare Zeit reguliert sein – also immer regulated autonomy.53 Die Rede von regulated autonomy kann kennzeichnen, dass Autonomie im europäischen Recht stärker reguliert ist als in manchen nationalen Rechtsordnungen. Dies ist jedoch lediglich ein quantitativer Unterschied. Schlussendlich ist auch festzustellen, dass die Vertragsfreiheit nach Alemo Herron in keinem Zusammenhang mit einem konkreten 52 Dies entspricht ziemlich genau der vom EuGH verwandten Formel, auf die Comparato und Micklitz verweisen – Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 128 ff. 53 Dazu und zu verschiedenen Spielarten des Verhältnisses zwischen Freiheit und Regulierung aus jüngerer Zeit etwa Stürner, Privatautonomie und Wettbewerb unter der Hegemonie der angloamerikanischen Rechtskultur?, AcP 210 (2010), 105. „Der Streit kann eigentlich immer nur um die genauere Ausformung des ordnungspolitischen Rahmens der Privatautonomie gehen. Dabei entbehrt der Begriff der ‚Ordnungspolitik‘ allerdings jeder genauen Kontur. Seine Ablösung durch den Begriff der ‚Regulierung‘ bringt keine verbesserte inhaltliche Substanz.“ – ebd. S. 108. Grundlegend zu Privatautonomie und ordnender Regulierung schon Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 1966, 75.

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§ 6 Privatautonomie

grenzüberschreitenden Moment und einem spezifischen Ziel der Union stand. Privatautonomie kann im Unionsrecht also mindestens teilweise auch von „business across borders“ getrennt werden. d) Schlussfolgerung Festzuhalten bleibt, dass jedenfalls soweit der EuGH ausdrücklich von Vertragsfreiheit und Privatautonomie spricht, er dies in einem formalen Sinne tut. Dies trifft sowohl für die Vertragsfreiheit als Teil des Art. 16 GRC wie auch bei anderen, allgemeineren Erwähnungen zu. Zwar ist auch das Hinterfragen der tatsächlichen Möglichkeit zur selbstbestimmten Entscheidung dem EuGH nicht grundsätzlich fremd. In Urteilen zur Klauselrichtlinie betont er ihre Verbraucherschutzrichtung regelmäßig mit dem Hinweis, dass der Verbraucher einer „vorformulierten Bedingungen zustimmt, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können“.54 Diese Erwägungen leiten für ihn allerdings lediglich die Auslegung der relevanten Vorschriften. Sie führen nicht dazu, dass er das Konzept der Privatautonomie oder Vertragsfreiheit als solches in einer materialen Form reformuliert, also in der Diktion Alexys ein grundrechtliches Optimierungsgebot tatsächlicher Freiheit bei Vertragsschlüssen anerkennt.55 Das muss nicht heißen, dass die EU-Grundrechte nicht auch Wirkungen haben könnten, die der Idee materialer Vertragsfreiheit entsprächen. Dies geschieht allerdings nicht ausdrücklich und zielgerichtet, nicht unter der Flagge der materialen Vertragsfreiheit als grundrechtlichem Prinzip. Während das Optimierungsgebot formaler Vertragsfreiheit ohne weiteres auszumachen ist, muss man jenes materialer Vertragsfreiheit hinter anderen Begriffen und Zielen suchen. Dieses Fazit ist allerdings zu gewissem Ausmaß vorläufig: Da materiale Vertragsfreiheit nicht einfach einen Gegensatz zu, sondern eine Fortentwicklung der formalen Vertragsfreiheit darstellt, könnte 54

Ständige Rechtsprechung seit EuGH Rs. C-240/98 bis 244/98 (Océano Grupo Editorial), Slg. 2000, I-4941; im grundrechtlichen Kontext auch etwa EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 48. In EuGH Rs. C-415/11 (Aziz), Rn. 45 führte er zum Zweck der Richtlinie aus, sie solle „die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen“. Vgl. auch EuGH Rs. C-397/01 bis 403/01 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835, Rn. 82: bei vertraglichen Vereinbarungen zu Abweichungen vom Arbeitnehmerschutz der Richtlinie 93/104/EG müsse „gewährleistet sein, dass der betroffene Arbeitnehmer, wenn er auf ein ihm unmittelbar durch die Richtlinie eingeräumtes soziales Recht verzichtet, dies frei und in voller Sachkenntnis tut“. 55 Anders etwa das Bundesverfassungsgericht, s. z.B. BVerfGE 81, 242, 254 f.; BVerfG NJW 2005, 2376, 2377 f.; BVerfGE 89, 214; dazu etwa Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13, 67 ff. („materialisierte verfassungsrechtliche Privatautonomie“) sowie schon oben § 1 I. 2. a).

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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der Gerichtshof seine Rechtsprechung in Zukunft ohne weiteres in diese Hinsicht erweitern. Jedenfalls wird mit der Betonung formaler Vertragsfreiheit nicht impliziert, dass sie nicht zugunsten anderer, auch gerade grundrechtlicher Interessen begrenzt würde. Dieses Spannungsverhältnis wird in den folgenden beiden Abschnitten beleuchtet – zunächst aus der Perspektive der formalen Vertragsfreiheit, anschließend aus jener der sie einschränkenden Grundrechte. Dieser Untersuchungshorizont mit formaler Vertragsfreiheit im Zentrum rechtfertigt sich daraus, dass diese einerseits beim EuGH, andererseits auch in der Rechtswissenschaft weiterhin regelmäßig den Ausgangspunkt vertragsrechtlicher Argumentation bildet – bisweilen auch dann, wenn man sie kritisch hinterfragt.56

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

Inwieweit EU-Grundrechte die Privatautonomie und insbesondere die Vertragsfreiheit schützen, ist im vorigen Abschnitt schon angedeutet worden – es soll im Folgenden tiefergehend untersucht werden. Art. 16 GRC ist hierfür zentral (dazu 1.). Damit ist allerdings nur ein Ausschnitt der allgemeinen Vertragsfreiheit, nämlich die unternehmerische Vertragsfreiheit betroffen. Es bleibt daher zu erörtern, welche sonstigen Grundrechte Vertragsfreiheit zu Teilen oder im Ganzen beinhalten können (dazu 2.) und inwiefern der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen Schutz formaler Vertragsfreiheit mit sich bringt (dazu 3.). Kurz angesprochen werden soll auch der häufig genannte Zusammenhang von Grundfreiheiten und Privatautonomie (dazu 4.). 1. Vertragsfreiheit als Teil unternehmerischer Freiheit gem. Art. 16 GRC Dass die Vertragsfreiheit Teil der unternehmerischen Freiheit aus Art. 16 GRC ist, entschied der EuGH, wie bereits gesagt, ausdrücklich erstmals in Sky Österreich. Er stellte dabei auch fest, dass es sich bei dieser Vorschrift nicht um einen Grundsatz, sondern um ein Grundrecht im Sinne des Art. 52 GRC handelt.57 Die Struktur, die er ihr dabei gab, entsprach genau der eines 56

Etwa konkret für die EU-Ebene Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167. 57 Dazu Oliver, What Purpose Does Article 16 of the Charter Serve?, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 281, 295; vorher war dies im Schrifttum unterschiedlich eingeordnet worden; s. einerseits F. Picod, Pour un développement durable des droits fondamentaux de l’Union européenne, in: G. CohenJonathan (Hg.), Chemins d’Europe: mélanges en l’honneur de Jean Paul Jacqué (2010),

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§ 6 Privatautonomie

Prinzips im Sinne Alexys. Sie gewährt keinen absoluten Schutz, gilt in den Worten des EuGH „nicht schrankenlos, sondern ist im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen“.58 Einschränkungen müssen aber gem. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC verhältnismäßig sein.59 Die Regelung, welche die Vertragsfreiheit einschränkt, muss zur Erreichung „zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich [sein], wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen“. 60 Insoweit ist die Grundstruktur identisch mit der dem deutschen Juristen gewohnten Prüfung der Rechtfertigung von Eingriffen in die Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. In der Terminologie Alexys kann man sagen, dass Art. 16 GRC gebietet, formale Vertragsfreiheit (des Unternehmers) unter den Bedingungen tatsächlicher und rechtlicher Grenzen zu optimieren. Die Entscheidung Sky Österreich gibt nicht nur Aufschluss über die Grundstruktur der Prüfung der Anforderungen der Vertragsfreiheit aus Art. 16 GRC, sondern auch über die Gewichtung konkreter Belange und Begründungen innerhalb der Abwägung der widerstreitenden Interessen. Der EuGH befand wörtlich: „Auf der Grundlage [auch] des Wortlauts von Art. 16 der Charta, der sich von dem der anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten, die in ihrem Titel II verankert sind, unterscheidet und dabei dem Wortlaut einiger Bestimmungen ihres Titels IV ähnelt, kann die unternehmerische Freiheit einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können.“ 61 Dies beinhaltet zum einen erst einmal nichts anderes, als dass (verhältnismäßige) Einschränkungen möglich sind. Der Hinweis auf die „Vielzahl“ von Eingriffen deutet aber darauf hin, dass der Korridor der noch verhältnismäßigen Einschränkungen recht weit zu verstehen ist. Im Sinne des Abwägungsgesetzes Alexys würde dies jedenfalls implizieren, 62 der Vertragsfreiheit ein nicht besonders hohes Gewicht im Vergleich zu anderen grundrechtlich geschützten Interessen zuzumessen. Dieser Eindruck wird auch durch den Vergleich dazu nahegelegt, wie der Gerichtshof das widerstreitende Interesse im konkreten Fall, die Wahrung der Freiheiten aus Art. 11 GRC, umschreibt: Deren Bedeutung könnte „in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht genug betont wer-

527 (Grundsatz); andererseits H.D. Jarass, Die Gewährleistung der unternehmerischen Freiheit in der Grundrechtecharta, EuGRZ 2011, 360 (Grundrecht). 58 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 45. 59 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 48, 50. 60 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 50. 61 EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 46. 62 Zu Alexy oben § 5 IV. 1. a).

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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den“.63 Jenseits solcher allgemeinen Gewichtsbestimmungen lassen sich der Entscheidung noch einige konkrete Gesichtspunkte entnehmen, die bei der Abwägung mit der Vertragsfreiheit eine Rolle spielen können. Zum einen wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Eingriffe „genau eingegrenzt“ seien,64 da die Möglichkeiten der Kurzberichterstattung präzise bestimmt war. Die Schwere des Eingriffs war also verhältnismäßig gering. Zum anderen stellte der EuGH darauf ab, dass die Information der Allgemeinheit durch die Richtlinienbestimmungen gewährleistet sei, ohne dass es auf „Marktmacht und Finanzkraft oder auf den für den Erwerb der exklusiven Fernsehübertragungsrechte gezahlten Preis, die Vertragsverhandlungen mit den Inhabern solcher Rechte oder die Größe der fraglichen Ereignisse ankommt“. Im Umkehrschluss kann man dem entnehmen, dass es für die Zulässigkeit der Einschränkung von Vertragsfreiheit relevant sein kann, wenn ohne Regulierung Marktmacht, Finanzkraft oder besonders bedeutende Umstände (Ereignisse) andere grundrechtlich geschützte Interessen gefährden könnten. Im Endeffekt jedenfalls befand der EuGH die Einschränkung der Vertragsfreiheit für verhältnismäßig, den Ausgleich der grundrechtlichen Interessen für angemessen. Im Anschluss an Sky Österreich ist vorgebracht worden, die Unternehmerfreiheit aus Art. 16 GRC biete nach der Rechtsprechung des EuGH im Allgemeinen einen verhältnismäßig geringen Schutz und sein Vorbringen insgesamt statistisch eine geringe Erfolgsquote.65 Für die Zeit seit Inkrafttreten der Charta trifft mindestens letzteres allerdings nicht zu. Sowohl in Scarlet Extended wie auch in SABAM v. Netlog schlug die Argumentation mit Art. 16 GRC entscheidend durch.66 Auch in DR und TV2 Danmark bedeutete die Auslegung, die der EuGH traf, einen Schutz der Unternehmerfreiheit.67 Freilich stehen dem Fälle wie Sky Österreich und McDonagh v. Ryanair gegenüber.68 Insgesamt ist das Bild damit aber jedenfalls ausgeglichen. Gerade, was die Vertragsfreiheit als Unterfall des Art. 16 GRC angeht, ist darüber hinaus die Entscheidung Alemo Herron von zentraler Bedeutung und deutet auf einen weitreichenden Schutz der Vertragsfreiheit über Art. 16 GRC hin. In dieser Entscheidung befand der Gerichtshof, dass eine arbeitnehmerschützende Auslegung einer Vertragsklausel sogar den Wesensgehalt des Rechts aus Art. 16 GRC des Arbeitgebers bedrohen könne. Wörtlich sei in diesem Fall „die Vertragsfreiheit [des] Erwerbers so erheblich reduziert, dass eine 63

EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 52. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 61. 65 Oliver, What Purpose Does Article 16 of the Charter Serve?, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 281, 298. 66 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended); EuGH Rs. C-360/10 (SABAM). 67 EuGH Rs. C-510/10 (DR und TV2 Danmark), Rn. 55. 68 All diese Fälle auch bei Oliver, What Purpose Does Article 16 of the Charter Serve?, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 281. 64

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§ 6 Privatautonomie

solche Einschränkung den Wesensgehalt seines Rechts auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigen kann“. Schon die Möglichkeit der Verletzung des Wesensgehaltes reichte dem Gerichtshof aus, um die Option einer dynamischen Auslegung auszuschließen. Der EuGH gab der Vertragsfreiheit somit, bildlich gesprochen, einen sehr harten Kern. Dies war auch darum überraschend, da der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in keiner Weise auf den Wesensgehalt eingegangen war.69 Der EuGH scheint den Wesensgehalt daher erstaunlich weit zu ziehen.70 Jedenfalls im konkreten Fall war seine Gefährdung äußerst zweifelhaft. Schließlich hatte sich der Erwerber des Unternehmens gerade in Ausübung seiner Vertragsfreiheit dazu entschlossen, das Unternehmen zu kaufen und damit automatisch in die Arbeitsverträge einzutreten. Wäre er später in dynamischer Weise an diese gebunden, so wäre dies nicht bloß Einschränkung, sondern auch gerade Folge seiner vorher getätigten Vertragsfreiheit gewesen. Es ist außerdem nicht ersichtlich, dass er den Arbeitnehmern die Bezugnahmeklauseln nicht hätte „abkaufen“ können – also den Vertrag entsprechend abändern und im Gegenzug höheres Gehalt, eine einmalige Zahlung oder sonstige vorteilhafte Konditionen bieten.71 Es bleibt abzuwarten, ob in weiteren Entscheidungen mit einem solch weiten Wesensgehaltverständnis ein Gegengewicht dazu aufgebaut werden soll, dass Art. 16 GRC in einer einfachen Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie in Sky Östereich angedeutet, ein nicht übermäßig hohes Gewicht hat. 2. Vertragsfreiheit als Teil weiterer Grundrechte Nach der Terminologie des EuGH schützt Art. 16 GRC zwar „die Vertragsfreiheit“. Da diese aber ausdrücklich einen Unterfall der unternehmerischen Freiheit bildet, dürfte sie lediglich für Unternehmen gelten.72 Für Verträge all jener Personen, die keine Unternehmen sind oder eins betreiben, bliebe damit eine Lücke auf primärrechtlicher Ebene. Es stellt sich daher die Frage, ob andere Grundrechte Ausprägungen der Vertragsfreiheit oder die Vertragsfreiheit im Allgemeinen beinhalten könnten. Ein Kandidat für ersteres ist Art. 15 GRC, einer für letzteres Art. 6 GRC, und außerdem bleibt weiterhin die Mög69 Schlussanträge des Generalanwaltes P. Cruz Villalón, Rs. C-426/11 (Alemo Herron), Rn. 46-58. 70 Sehr kritisch auch Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167, der ebenfalls keinen besonders schweren Eingriff in die Vertragsfreiheit erkennen kann, 180. 71 So auch Schlussanträge des Generalanwaltes Cruz Villalón, Rs. C-426/11 (Alemo Herron), Rn. 56. 72 Kritisch zum solchermaßen begrenzten Schutz der Vertragsfreiheit Herresthal, Constitutionalisation of Freedom of Contract in EC Law, in: Ziegler/Huber (Hg.), Current Problems in the Protecion of Human Rights: Perspectives from Germany and the UK (2013), 89.

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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lichkeit der Anerkennung der Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts. Art. 15 Abs. 1 GRC schützt die Berufsfreiheit und bildet mit Art. 16 GRC zusammen eine „umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit“. 73 Soweit ersichtlich, spielt die Vertragsfreiheit als Ausprägung der Berufsfreiheit weder in der Rechtsprechung des EuGH noch in der Literatur ausdrücklich eine Rolle. Ein wesentlicher Teil der Ausübung eines Berufes kann allerdings über Verträge geschehen – aus Sicht eines Arbeitnehmers etwa insbesondere der Abschluss eines Arbeitsvertrages.74 Auch der EuGH entschied immerhin schon, dass der Arbeitnehmer grundrechtlich „bei der Wahl seines Arbeitgebers frei sein muss und nicht verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“.75 Auch wenn der Begriff der Vertragsfreiheit nicht fiel, liegt er in diesen Ausführungen nah. Insofern dürfte man grundsätzlich auch der Berufsfreiheit einen Schutz der Vertragsfreiheit entnehmen können. Im Zusammenspiel mit dem Schutzbereich des Art. 16 GRC wäre immerhin ein erheblicher Teil der allgemeinen Vertragsfreiheit abgedeckt. Einschränkungen der Berufsfreiheit unterliegen, ebenso wie jene der Unternehmerfreiheit, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Art. 52 Abs. 1 GRC. Anders als Art. 16 GRC verweist Art. 15 GRC aber nicht auf die Anerkennung der Berufsfreiheit nach Unionsrecht und Recht der Mitgliedstaaten. Dass der Wortlaut nicht explizit auf Einschränkungsmöglichkeiten hinweist, begründet ein tendenziell höheres Gewicht in der Abwägung gegenüber anderen Grundrechten als es parallel bei Art. 16 GRC der Fall wäre. Denkbar ist es ferner, in Art. 6 GRC ein allgemeines Freiheitsrecht zu erkennen, von dem die Vertragsfreiheit einen Unterfall bilden könnte. Sein Wortlaut – „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“ – hält diese Interpretationsmöglichkeit offen. Nach wohl überwiegender Ansicht in der Literatur ist der Schutzbereich des Art. 6 GRC aber auf die körperliche Bewegungsfreiheit beschränkt und umfasst nicht etwa eine Art allgemeine Handlungsfreiheit.76 Hierfür spricht, dass nach den Erläuterungen Art. 6 GRC

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Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 15 Rn. 4. Wenn man auch selbstständige Tätigkeit für von Art. 15 Abs. 1 erfasst hält (und nicht bloß Art. 16 für einschlägig) sind umso mehr Verträge betroffen. Zum sachlichen Schutzbereich des Art. 15 Abs. 1 GRC insoweit Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 15 Rn. 13. 75 EuGH verb. Rs. C-132/91 – C-139/91 (Katsikas), Rn. 32; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Rn. 8. 76 So Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 6 Rn. 11; Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Art. 6 Rn. 6; Schmitz, Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, EuR 2004, 691, 708; J.H. Klement, Freiheit der Person, in: A. Hatje/P.-C. Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Euro74

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§ 6 Privatautonomie

den durch Art. 5 EMRK geschützten Rechten gleichkommen soll – und diese zielen lediglich auf die körperliche Bewegungsfreiheit, als moderne habeascorpus Garantie.77 Dagegen kann man zwar einwenden, dass dies keine unüberwindbare Hürde dagegen darstellte, Art. 6 GRC zugunsten eines umfassenden Grundrechtsschutzes weit auszulegen.78 Es ist aber auch fraglich, ob eine allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 6 GRC auch die Vertragsfreiheit umschlösse. Die Vertragsfreiheit enthält schließlich auch eine positive Kompetenz zu handeln und bestimmte Rechtsfolgen zu vereinbaren. Dies ist mehr als ein bloß negatives Freiheitsrecht, also ein Recht darauf, dass bestimmte staatliche Eingriffe unterlassen werden. Sofern man Art. 6 GRC nicht als allgemeines Freiheitsrecht versteht, schützt die Charta folglich die Vertragsfreiheit nicht in allen denkbaren Vertragskonstellationen. So kann sich beispielsweise ein Verbraucher – der ja weder als Unternehmer agiert noch (in der Regel) beruflich handelt – nicht auf einen Schutz der Vertragsfreiheit nach der Charta berufen. Es ist ihm etwa nicht möglich, sich gegen eine verbraucherschützende Vorschrift über Rekurs auf die Charta zu wehren. Dass jemand Derartiges tun wollte, mag zwar auf den ersten Blick abwegig erscheinen, ist aber nicht ausgeschlossen: Ein Verbraucher könnte beispielsweise in einem Ausmaß auf Gewährleistungsrechte verzichten wollen, der nach der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie unzulässig ist, um einen niedrigeren Kaufpreis zu zahlen. Ganz unabhängig davon, wie erfolgsversprechend ein solcher Vortrag auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre:79 Was die Charta angeht, ginge er schon im Ansatz, also bezüglich des Schutzbereichs, fehl. Für derartige Fälle bleibt jedoch ein Schutz der Vertragsfreiheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz gem. Art. 6 Abs. 3 EUV denkbar. Dass dies in der Literatur diskutiert wird, wurde schon oben unter § 6 I 2. b) angesprochen. Da der EuGH bei der Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Wege „wertender Rechtsvergleichung“ vorgeht,80 bleibt eine solche Annahme vorerst aber ebenfalls spekulativ. Dies liegt insbesondere daran, dass die Vertragsfreiheit keineswegs in allen Mitgliedstaaten einen konstitutionellen Rang inne hat.81 Allgemeine Rechtsgrundsätze bilden nicht einfach das Höchstmaß parecht (2014), Band 2, § 8, Rn. 7; dagegen Callies, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 GRC Rn. 11 f. 77 Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 6 Rn. 12; Callies, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 GRC Rn. 10. 78 Callies, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 6 GRC Rn. 12. 79 Wenig erfolgsversprechend – s. unten § 8 II. 80 S.o. § 2 I. 81 Namentlich soll dies in Frankreich nicht der Fall sein, s. z.B. Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 170; A. Bruns, Haftungsbeschränkung und Mindesthaftung (2003), 116, jeweils mit weiteren Nachweisen; Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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an nationalem Schutz gleichlautend im Unionsrecht ab, sondern gewähren ihrer Konzeption nach dem EuGH jedenfalls einen Korridor möglicher Entscheidungen zwischen verschiedenen mitgliedstaatlichen Traditionen.82 Der Gerichtshof findet praktisch nicht bloß Recht, sondern er erschafft es – unabhängig davon, inwiefern man der rechtsprechenden Gewalt im Allgemeinen eine rechtssetzende Tätigkeit zuschreiben will. Bevor solche in Urteile gegossene Schaffensakte ergehen, bleibt der Rechtwissenschaft lediglich aufzuzeigen, dass ein allgemeiner Grundsatz bestehen könnte und warum dies so sein sollte, aber es lässt sich in aller Regel nicht behaupten, dass dem logischerweise so ist – nicht unähnlich wie vor einer Entscheidung eines Gesetzgebers. Man gelangt hier also vorerst ebenfalls in eine Sackgasse. 3. Vertragsfreiheit und allgemeiner Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ein weiterer Weg zu einem primärrechtlichen Schutz formaler Vertragsfreiheit könnte in einem allgemeinen Rechtsgrundsatz liegen, den der EuGH ausdrücklich anerkannt hat: dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Diesen wendet er nicht bloß innerhalb von Grundrechtsprüfungen, sondern durchaus auch als eigenständigen, freischwebenden Grundsatz an. Im Fall Kokopelli beispielsweise prüfte er zunächst ganz allgemein, ob die Zulassungsvoraussetzungen für Saatgut dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprächen. Dieser verlange, „dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen“.83 Der Association Kokopelli war es nach den einschlägigen Vorschriften verwehrt, bestimmtes Saatgut in Verkehr zu bringen. Auch wenn der Gerichtshof nicht ausdrücklich auf die Vertragsfreiheit einging, war diese in der Sache durch die sekundärrechtliche Zulassungsregulierung begrenzt. Die Kontrolle des Sekundärrechts anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit war daher effektiv eine Kontrolle auch zu Gunsten der Vertragsfreiheit. Ähnlich liegt in dieser Hinsicht der Fall McDonagh v. Ryanair: Auch hier prüfte der Gerichtshof zunächst eigenständig den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.84 Wiederum ging es um die Beschränkung der Gestal-

Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121; differenziert aber Colombi Ciacchi, Party Autonomy as a Fundamental Right in the European Union, 6 European Review of Contract Law (2010), 303, 315 f.; zu fehlendem verfassungsrechtlichen Schutz in England auch Bruns, Die Vertragsfreiheit und ihre Grenzen in Europa und den USA – Movement from Contract to Status?, JZ 2007, 385, 390. 82 S. schon oben § 2 I. 83 EuGH Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 38 mit Nachweisen zur ständigen Rechtsprechung. 84 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 45 ff.

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§ 6 Privatautonomie

tung möglicher vertraglicher Beziehungen.85 Dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fehlt zwar eine spezifisch-vertragsfreiheitliche Komponente. Funktional hat er vielmehr Ähnlichkeiten mit einem allgemeinen Freiheitsrecht – er enthält einen Kontrollmaßstab für scheinbar jegliche Freiheitsbeschränkung. 86 Er könnte in dieser Gestalt jedoch, wie Kokopelli und McDonagh v. Ryanair zeigen, begrenzend auf regulative Vorschriften einwirken und somit faktisch der formalen Vertragsfreiheit dienen. Die bisherige EuGH-Rechtsprechung legt zwar nicht nahe, hier in der Praxis weitgehenden Schutz zu erwarten: Die Einschränkungen in Kokopelli und McDonagh v. Ryanair wurden von Beobachtern überwiegend (in ersterem Fall auch von der Generalanwältin) als zu weitgehend und unverhältnismäßig empfunden. 87 Dem Gerichtshof zufolge genügten sie allerdings den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Einen gewissen Schutz der Vertragsfreiheit bringt der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch durchaus. 4. Vertragsfreiheit und Grundfreiheiten In der Debatte um Privatautonomie im Unionsrecht hat man insbesondere in der deutschsprachigen europarechtlichen Literatur außerdem den Grundfreiheiten des AEUV eine zentrale Bedeutung zugeschrieben.88 Diese eröffneten 85

Ausführlich oben § 4 III. 1. Dies ist umstritten: bejahend etwa Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, 3, 14; K.F. Gärditz, Schutzbereich und Grundrechtseingriff, in: A. Hatje/P.-C. Müller-Graff (Hg.), Enzyklopädie Europarecht (2014), Band 2, § 4, Rn. 47; dagegen etwa Jarass, Charta der Grundrechte der EU (2013), Einleitung GRC Rn. 31; J.F. Lindner, Fortschritte und Defizite im EU-Grundrechtsschutz zur Fussnote. Plädoyer für eine Optimierung der Europäischen Grundrechtecharta, ZRP 2007, 54; O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (2003), 506 f.; für allgemeine Handlungsfreiheit ohne Bezug auf Verhältnismäßigkeitsgrundsatz etwa Streinz, in: Streinz, EUV, AEUV (2012), Art. 6 EUV Rn. 35; T. Schmitz, Die EU-Grundrechtscharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, 833, 837 f. unter Berufung auf die (singuläre) Entscheidung EuGH Rs. 133/85 (Rau), Slg. 1987, 2289, Rn. 15, 19 („allgemeine Handlungsfreiheit“). 87 Schlussantrag der Generalanwältin Kokott Rs. C-59/11 (Kokopelli), Rn. 104; Metzger, Gültigkeit der Richtlinien über den Verkehr mit Gemüsesaatgut, Anmerkung zu EuGH Rs. C-59/11, 2012, 903; Staudinger, Anmerkung, EuZW 2013, 227. 88 P.-C. Müller-Graf, Basic Freedoms – Extending Party Autonomy across Borders, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), 133; Mülbert, Privatrecht, die EG-Freiheiten und der Binnenmarkt – Zwingendes Privatrecht als Grundfreiheitsbeschränkung im EG-Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), 2; Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft: Leistungsfähigkeit und Wirkkraft im deutschen und Europäischen Recht, in: Riesenhuber (Hg.), Privatrechtsgesellschaft (2007), 1. Als für das deutsche Schrifttum spezifisch qualifizieren diese Sichtweise auch Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law 86

II. Schutz der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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das Feld privatautonomer Gestaltung über Grenzen hinweg, hätten „deregulierende Wirkung“, 89 ja sei umgekehrt sogar Privatautonomie die „wahre Grundfreiheit“. 90 Auch wenn es hierbei nicht um einen grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit geht, verdient die Thematik angesichts der engen Verbindung und Verwandtschaft einen kurzen Exkurs. Einerseits kann man nicht ernsthaft bezweifeln, dass Grundfreiheiten zu guten Teilen deregulierende Wirkung haben und damit neue Möglichkeiten grenzübergreifender Vertragsschlüsse eröffnen. Sie stärken das Gewicht der Vertragsfreiheit insofern gegenüber anderen Interessen, machen Einschränkungen wirtschaftlichen Austauschs verstärkt rechtfertigungsbedürftig. Diese Effekte bleiben allerdings partiell: Sie gelten nur für grenzübergreifende Geschäfte. Die Grundfreiheiten zielen lediglich auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und enthalten kein allgemeines primärrechtliches Prinzip der Vertragsfreiheit.91 Sie sind etwa nicht anwendbar auf unionsrechtliche Regulierung, die – ohne grenzüberschreitenden Handel zu beeinträchtigen – europaweite Einschränkungen der Vertragsfreiheit mit sich bringt, beispielsweise die Klauselrichtlinie. Auch führen sie nicht zu Begrenzungen innerstaatlicher Regulierung, die für den grenzüberschreitenden Handel irrelevant sind.92 Dass die Interessen, die jeweils hinter Grundfreiheiten und Vertragsfreiheit liegen, eine bedeutende Schnittmenge besitzen, heißt nicht, dass die Grundfreiheiten die Vertragsfreiheit als solche schützen. Besonders deutlich zeigt sich dies daran, dass Grundfreiheiten auch Wirkungen regulativen Charakters besitzen.93 Schließlich verpflichten sie in ihrer and European Private Law (2013), 121, 126; s. aber auch etwa Schepel, Freedom of Contract in Free Movement Law: Balancing Rights and Principles in European Public and Private Law, 21 European Review of Private Law (2013), 1211, 1215 ff. Kritisch Rutgers, The European Economic Constitution, Freedom of Contract and the DCFR, 5 European Review of Contract Law (2009), 95. 89 Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft: Leistungsfähigkeit und Wirkkraft im deutschen und Europäischen Recht, in: Riesenhuber (Hg.), Privatrechtsgesellschaft (2007), 1, 14. 90 Mülbert, Privatrecht, die EG-Freiheiten und der Binnenmarkt – Zwingendes Privatrecht als Grundfreiheitsbeschränkung im EG-Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), 2, 8. Kritisch zu solchen Ansätzen Rutgers, The European Economic Constitution, Freedom of Contract and the DCFR, 5 European Review of Contract Law (2009), 95. 91 So auch Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 127. 92 EuGH Rs. C-93/92 (CMC Motorradcenter), Slg. 1993, I-5009; EuGH Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107; dazu etwa Rutgers, The European Economic Constitution, Freedom of Contract and the DCFR, 5 European Review of Contract Law (2009), 95, 102 ff. 93 Dies ist anderorts hinreichend und umfassend dargestellt worden, s. beispielsweise Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner

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§ 6 Privatautonomie

Auslegung durch den EuGH auch Private und begrenzen damit die Möglichkeiten privaten Rechts. Dies zeigen eindringlich die Fälle Walrave und Bosman sowie für Verträge insbesondere das Urteil Angonese.94 Die Grundfreiheiten stellen danach zusätzliche Anforderungen für das Handeln von Privatpersonen auf und erfordern im Kern, dass auch diese grenzüberschreitende Geschäfte nicht behindern. Die Urteile haben zwar etwa für die betroffenen Herren Bosman und Angonese einen freiheitsvergrößernden Effekt, doch begrenzen sie die Handlungsmöglichkeiten der ihnen gegenüberstehenden Privatpersonen. Die Grundfreiheit des einen kann also eine Beschränkung der Privatautonomie des anderen Privaten bedeuten. Das erscheint auch überzeugend: Freiheiten der einen verlangen selbst nach grundliberalem Gedankengut immer auch Einschränkungen der Freiheiten der anderen.95 Die spezifischen Freiheiten grenzübergreifender wirtschaftlicher Betätigung führen diesen Grundgedanken fort. Es ist damit festzuhalten, dass die Grundfreiheiten und ihre Wirkung lediglich teilweise die Privatautonomie im klassischen, formalen Sinne fördern beziehungsweise dieser entsprechen. Damit ist für die Beziehung zwischen Grundfreiheiten und Privatautonomie ebenso eine differenzierende, nicht pauschalisierende Sichtweise vorzugswürdig, wie es für die EU-Grundrechte und die Privatautonomie der Fall ist.

III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

Schon der vorherige Abschnitt zum Schutz der Vertragsfreiheit durch EUGrundrechte hat deutlich gemacht, dass dieser Schutz nicht absolut ist. Einschränkungen der Vertragsfreiheit können einerseits zugunsten von AllgeSchmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 633 ff.; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013), 141 ff.; Schepel, Freedom of Contract in Free Movement Law: Balancing Rights and Principles in European Public and Private Law, 21 European Review of Private Law (2013), 1211. 94 EuGH 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405; EuGH Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921; EuGH Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139. Die Privatpersonen adressierende Auslegung des EuGH hat im Übrigen weiterhin expansive Tendenzen und umfasst nach Fra.bo neuerdings auch ausdrücklich die Warenverkehrsfreiheit – EuGH Rs. C-71/11 (Fra.bo). 95 S. dazu etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995), S. 368; und für den konkreten Kontext Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 635 f.; Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 128; grundlegend J.S. Mill, On liberty (1859), I: „The only freedom which deserves the name, is that of pursuing our own good in our own way, so long as we do not attempt to deprive others of theirs, or impede their efforts to obtain it.“

III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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meininteressen erfolgen, andererseits zugunsten und aufgrund von Grundrechten Dritter. Von letzterem Fall handelt der folgende Abschnitt. Damit geht es auch um die spiegelbildliche Frage, inwieweit Vertragsrecht verschiedenen Interessen jenseits der formalen Vertragsfreiheit zu dienen hat. Es lassen sich gedanklich zwei verschiedene strukturelle Erscheinungsformen unterscheiden, die zu diskutieren sind: Einerseits kann es die Wirkung eines Grundrechts selbst sein, welche eine Einschränkung formaler Vertragsfreiheit zugunsten anderer Interessen bewirkt (dazu 1.). Andererseits können grundrechtliche Erwägungen einfachrechtliche, die Vertragsfreiheit begrenzende Regelungen rechtfertigen (dazu 2.). In der Regel steht nur der erste dieser Punkte im Fokus der Debatte. Dennoch gehört auch der zweite zu einem vollständigen Bild der Grundrechtswirkung hinzu und besitzt neben theoretischer und systematischer Bedeutung auch praktische Relevanz. 1. Einschränkung der Vertragsfreiheit durch Wirkung der EU-Grundrechte selbst Auf einer allgemeinen Ebene lassen sich Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch verschiedene Typen grundrechtlicher Vorschriften unterscheiden. Die wohl im allgemeinen rechtswissenschaftlichen Diskurs bekanntesten und auch fallzahlenmäßig bedeutsamsten EU-Grundrechtswirkungen zwischen Privaten gehen von Gleichbehandlungsgeboten aus (dazu a)). Auch die Freiheitsgrundrechte Dritter können eine Einschränkung der Vertragsfreiheit bewirken (dazu b)). Schlussendlich kommt eine Einschränkung der Vertragsfreiheit durch die sozialen Rechte des Solidaritäts-Titel der Charta in Betracht (dazu c)). Dabei zeigt sich, dass man die Einschränkung formaler Vertragsfreiheit zu großen Teilen auch als Verfolgung materialer Privatautonomie erklären kann, selbst wenn der EuGH diesen oder ähnliche Begriffe nicht nutzt. a) Gleichbehandlungsrechte Gleichbehandlungsgebote im Zivilrecht bildeten schon die Keimzelle der deutschen Drittwirkungsdebatte.96 Auch auf Ebene der EU-Grundrechte sind sie zu einem Kernthema geworden. Die Umstände haben sich seit den 1950er Jahren allerdings erheblich verändert. Längst geht es nicht mehr, wie noch zu Beginn der Nachkriegszeit, nur um die Gleichbehandlung von Mann und Frau. Außerdem gibt es auf einfachrechtlicher Ebene – wenn auch rechtspolitisch umstritten97 – weitreichende Diskriminierungsverbote, die sich an Pri96 H.C. Nipperdey, Gleicher Lohn der Frau für gleiche Leistung: Rechtsgutachten erstattet dem Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsverbundes (1951). 97 Besonders scharfe Kritik an der deutschen Antidiskriminierungs-Gesetzgebung etwa bei E. Picker, Antidiskriminierung als Zivilrechtsprogramm?, JZ 2003, 540; F.J. Säcker,

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§ 6 Privatautonomie

vate richten. Schon aus diesem Grund stellen antidiskriminierende Einflüsse aus Grundrechten keinen Fremdkörper mehr im einfachen Privatrecht dar – außer man ginge von einem bestimmten Vorstellungen entsprechenden, vorpositiven Privatrecht aus. Die EU-grundrechtlichen Gleichbehandlungsgebote geben zunächst einmal dem Gesetzgeber vor, in nichtdiskriminierender Weise zu regulieren. Dies kann im Einzelnen durchaus zu Beschränkungen von Vertragsfreiheit führen, doch bleibt dies zufällig. Im Fall Kücükdeveci beispielsweise wurde eine gesetzliche Vorschrift und nicht etwa eine vertragliche Klausel für diskriminierend befunden. Diese Vorschrift hatte den Effekt, dem Arbeitgeber gegenüber manchen Arbeitnehmern eine Kündigung mit kürzerer Frist zu ermöglichen und insofern dessen Gestaltungsspielraum zu vergrößern. Ihre Unanwendbarkeit aufgrund ihres diskriminierenden Charakters führte also zu einer Verkürzung dieses Spielraumes und somit seiner Privatautonomie. Wäre der § 622 Abs. 2 BGB aber anders aufgebaut gewesen, hätte das Ergebnis genauso gut umgekehrt lauten können: auf eine Lockerung der Kündigungsfristen für alle Arbeitnehmer. Es war die konkrete Systematik einer gesetzlichen Norm, und nicht die Wirkrichtung des Gleichbehandlungsgebotes im Allgemeinen, die im Einzelfall in einer Beschränkung der Freiheit des Arbeitgebers resultierte. EU-grundrechtliche Diskriminierungsverbote begrenzen aber auch durchaus in zielgerichteter Weise formale Vertragsfreiheit.98 Ob man davon ausgeht, dass sie Private unmittelbar verpflichten oder lediglich staatlicherseits die Anforderung erheben, keine diskriminierenden Verträge anzuerkennen und privaten Diskriminierungen entgegenzuwirken, ist dafür nicht entscheidend.99 In der praktischen Rechtsprechung des EuGH illustriert dies der Fall HK Danmark.100 Denn hier war es eine vertragliche Regelung, die möglicherweise gegen das Diskriminierungsverbot verstieß. Auch wenn der EuGH das Ergebnis schlussendlich offen ließ, enthält die Entscheidung die Aussage, dass die Wirksamkeit vertraglicher Abreden eines bestimmten Inhalts an der direkten Wirkung eines EU-Grundrechtes, hier des Diskriminierungsverbotes, „Vernunft statt Freiheit!“ − Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, ZRP 2002, 286; J. Braun, Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, 424; dagegen etwa S. Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung?, ZRP 2002, 290; N. Reich, The Impact of the Non-Discrimination Principle on Private Autonomy, in: D. Leczykiewicz/S. Weatherill (Hg.), Involvement of EU law in private law relationships (2013), 253. 98 Dazu ausführlich A. Somek, Engineering equality: an essay on European antidiscrimination law (2011). 99 Dazu auch schon oben § 5 II 3., IV., V. 100 Im Fall Prigge ging es ebenfalls um die Beschränkung von Autonomie. Da es dabei aber nicht um die Vertragsfreiheit, sondern um die Tarifautonomie ging, soll er hier nicht näher behandelt werden – vgl. o. § 4 I. 4. zu EuGH Rs. C-447/09 (Prigge).

III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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scheitern kann. In der Sache kommt es nach seiner Aussage darauf an, ob eine vertragliche Ungleichbehandlung „zur Erreichung eines legitimen Ziels angemessen und erforderlich ist“.101 Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof in diesem Fall zwar ausdrücklich eine vertragliche Klausel prüfte, aber bei der Rechtfertigung nicht aus Sicht des anderen Vertragspartners, sondern der des Mitgliedstaates heraus argumentierte und folglich Allgemeininteressen diskutierte, insbesondere „aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung“. 102 Die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers spielte in der Angemessenheitsprüfung keine Rolle. Dies ist in gewisser Weise konsequent: Denn das Diskriminierungsverbot schränkt notwendigerweise die Freiheit zu diskriminieren ein. Ausnahmen von Diskriminierungsverboten können dann nicht ausschließlich mit Rekurs auf die Freiheit des anderen Teils gerechtfertigt werden, sondern die Umstände und Gründe für eine diskriminierende Freiheitsbetätigungen müssen substantiiert werden. Fragen kann man sich allerdings, ob Ungleichbehandlungen durch Private, durch selbstbestimmte Verträge, nicht tendenziell einfacher zu rechtfertigen sein sollten als durch staatliche Stellen. Auf die Spitze getrieben: Hat die Vertragsfreiheit überhaupt noch irgendein argumentatives Gewicht im Bereich der grundrechtlichen Diskriminierungsverbote? Bei der Besprechung von Grundrechtswirkungen im Privatrecht hat man schließlich regelmäßig angenommen, dass Private in der Tendenz größere Freiräume besäßen als der Staat.103 Der EuGH äußerte sich nicht in diese Richtung. Andererseits gestand er den Mitgliedstaaten grundsätzlich einen „weiten Gestaltungsspielraum“ zu, und überließ, wie gesagt, die konkrete Abwägung dem nationalen Gericht. Es ist daher wenigstens nicht ausgeschlossen, dass ein nationales Gericht die Rechtfertigung bei vertraglichen Ungleichbehandlungen tendenziell großzügiger behandelt als wenn sie etwa aus einer staatlichen Rentenversicherung resultieren würde. Während Diskriminierungsverbote also durchaus die Vertragsfreiheit des einen begrenzen, führen sie gleichzeitig zu einem Mehr an tatsächlicher Vertragsfreiheit ansonsten diskriminierter Menschen. Es ist leicht vorstellbar, dass beispielsweise dunkelhäutige Menschen bisweilen aus einer größeren Anzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten oder gleichgeschlechtliche Paare in manchen Gegenden aus einer größeren Anzahl von Wohnungen wählen könnten, wenn es keine Diskriminierung gäbe. Selbst wenn Diskriminierungsverbote in manchen Fällen leicht umgangen werden können, verändern sie min101

EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark), Rn. 69. Insofern besteht eine Parallele zur Rechtfertigung von Grundfreiheits-Beschränkungen durch Private – dazu etwa Schepel, Freedom of Contract in Free Movement Law: Balancing Rights and Principles in European Public and Private Law, 21 European Review of Private Law (2013), 1211, 1215 ff. 103 S. etwa Kumm, Who is Afraid of the Total Constitution?, German Law Journal 2006, 341, 361 ff. 102

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destens die Bedingungen der Kommunikation – unterbinden offene Diskriminierungen – und können somit jedenfalls langfristig zu einem mehr an tatsächlicher Freiheit führen.104 Antidiskriminierungsrecht kann man so lesen, dass es die gleiche Position zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts oder ethnischer Herkunft affirmativ herstellen soll, weil die bloße Annahme der formal gleichen Rechte nicht ausreicht, um sie praktisch Wirklichkeit werden zu lassen. Insofern hat es eine materialisierende Wirkung.105 Was die EU-Grundrechte angeht, verstärken sie vor allem die Wirksamkeit des Sekundärrechts (dazu noch unten § 8 I.). Sie bringen daher keine gänzlich neue Qualitätsstufe, aber immerhin eine graduelle Zunahme der Einschränkung formaler Vertragsfreiheit zugunsten von Gleichbehandlungsgeboten. b) Freiheitsrechte Auch Freiheitsrechte des einen können die Vertragsfreiheit des anderen begrenzen. In der Rechtsprechung des EuGH hat sich dies zwar bisher wesentlich weniger entfaltet als bei den Diskriminierungsverboten, doch gibt es durchaus Entscheidungen, welche dies aufzeigen. Das Potenzial zur Regulierung formaler Vertragsfreiheit mittels der Freiheitsgrundrechte hat der Fall Kušionová106 angedeutet. Die Entscheidung enthielt zwar an sich keine signifikante Einschränkung der Vertragsfreiheit im konkreten Fall, beinhaltet aber doch eine bedeutsame Nuancierung der ohnehin bestehenden Einschränkungen mittels der AGB-Kontrolle. Sie stellt nämlich klar, dass es für die Frage, ob eine Vertragsklausel missbräuchlich ist, insbesondere darauf ankommt, inwieweit grundrechtlich geschützte Interessen betroffen sind. Konkret ging es um das Wohnungsgrundrecht aus Art. 7 GRC und mithin um ein klassisches Freiheitsrecht. Entsprechend sind auch andere freiheitsgrundrechtliche Prinzipien bei der Klauselkontrolle zu beachten und können somit dazu führen, dass eine Klausel unzulässig wird, die ohne grundrechtliche Argumente für zulässig zu befinden wäre. Dementsprechend schränkt eine solche Grundrechtswirkung die formale Vertragsfreiheit ein. Auch dies kann man im Übrigen als Regulierung zugunsten materialer Vertragsfreiheit des anderen Vertragspartners verstehen. Wie der EuGH etwa in Aziz befand, dient die Klauselkontrolle dazu, „die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so 104

Dazu Renner, Kapitel 14. Antidiskriminierungsrecht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1087 ff. 105 Dazu etwa D. Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105; Reich, The Impact of the Non-Discrimination Principle on Private Autonomy, in: Leczykiewicz/Weatherill (Hg.), Involvement of EU law in private law relationships (2013), 253; M. Renner, Paradigmen des Antidiskriminierungsrechts, KritV 2010, 53. 106 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová). Dazu ausführlich oben § 4 III. 2.

III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

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deren Gleichheit wiederherzustellen“.107 Allerdings kann die AGB-Kontrolle die Selbstbestimmung nicht etwa rückwirkend wiederherstellen.108 Die grundrechtlich fundierte Prüfung und gegebenenfalls Verwerfung der Klausel kann lediglich tatsächliche Freiheit für die Zukunft schützen, wenn auch gerade mit dem Argument, dass vormals keine tatsächliche Möglichkeit zur Selbstbestimmung bestand. Auch über die Klauselkontrolle hinaus können die Freiheitsrechte der Charta die Vertragsfreiheit begrenzen. Wie erörtert, haben die EU und die Mitgliedstaaten die Grundrechte im Vertragsrecht zu verwirklichen und widerstreitende Interessen in ein angemessenes Verhältnis bringen. Insbesondere Vertragspflichten können in Konflikt zu verschiedenen Freiheitsgrundrechten führen – neben dem angesprochenen Wohnungsgrundrecht denke man beispielsweise an die Meinungsfreiheit (denkbar beim Versprechen, öffentliche Kritik des Vertragspartners zu unterlassen), die freie Verfügung über persönliche Daten (denkbar insbesondere bei Verträgen im Online-Bereich) oder die Berufsfreiheit (bei Wettbewerbsverboten). Bei der Abwägung der gegenläufigen Grundrechte kommt es auf den Einzelfall an, doch wird man mehrere Kriterien regelmäßig zu berücksichtigen haben. Dazu gehören, ähnlich wie bei der Klauselkontrolle, die Bedingungen der Zustimmung zu einem Vertrag: Inwieweit lag eine tatsächlich bewusste, selbstbestimmte Entscheidung vor, welche eine Bindung an einen Vertrag legitimieren kann? Daneben ist relevant, wie intensiv die Einschränkung der Vertragsfreiheit auf der einen, wie die des widerstreitenden Grundrechts auf der anderen Seite ist, je nachdem, wie die Abwägung ausfällt. Auch von Bedeutung ist, welche Möglichkeiten einer Freiheitsentfaltung über den konkreten Fall hinaus bleiben, wenn die Vertragsbindung bejaht wird. Auch Machtverhältnisse können eine Rolle spielen – diese werden unter § 7 noch ausführlich behandelt. Zu betonen ist, dass auch solche grundrechtlichen Grenzen der Vertragsfreiheit nicht dazu führen, dass sie aufgehoben wäre. Es müsste vielmehr umgekehrt immer im konkreten Fall begründet werden, warum Grundrechte sie einschränken sollten und etwa einen bestimmten Vertragsinhalt erfordern oder ausschließen. Es bleibt weiterhin ein großer Spielraum für private Gestaltung – dieser ist lediglich aus grundrechtlichen Gründen begrenzt.

107

EuGH Rs. C-415/11 (Aziz), Rn. 45; vgl. auch EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 48; EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 (Océano Grupo Editorial), Slg. 2000, I-4941 Rn. 25; Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito) Rn. 39. 108 So schon kritisch E. Schmidt, Von der Privat- zur Sozialautonomie, JZ 1980, 153, 158 („Bei Lichte besehe führt ja die Vermehrung zwingender Rechtsnormen sowie der verstärkte Einsatz richterlicher Kontrolle des Gütertransfers nicht zur Herstellung der Selbstbestimmung auch des ‚anderen Teils‘, sondern stellt eher eine lediglich defensive Antwort auf je erkannte Unzuträglichkeiten dar.“).

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§ 6 Privatautonomie

c) Soziale Rechte des Solidaritäts-Titels der Charta Eine signifikante Wirkung der sozialen Rechte des Titels IV. der Charta zur Einschränkung der Vertragsfreiheit hat es bisher in der Rechtsprechung des EuGH nicht gegeben – weder direkt noch indirekt. In mehreren Fällen spielte zwar Art. 31 Abs. 2 GRC, das Recht auf Jahresurlaub, eine Rolle. Dies war jedoch jeweils für die Argumentation und das Ergebnis nicht von entscheidender Bedeutung.109 Dabei scheinen auf den ersten Blick einige der Rechte des Titel IV. mehr als alle anderen in der Grundrechtecharta auf eine Begrenzung der Vertragsfreiheit gerichtet. Anders als bei Freiheitsrechten ist es nicht erst durch ausführliche Auslegung notwendig, ihnen einen regulatorischen Zweck zu entnehmen.110 Sie dürften sich allerdings schwerpunktmäßig auf indirekte Wirkungen beschränken. Nach der Entscheidung AMS111 liegt es nahe, dass der EuGH ihnen die notwendige Konkretheit für eine unmittelbare Anwendung regelmäßig ausschlagen wird.112 Sie sind in besonderem Maße darauf angelegt, mittels einfachen Rechts verwirklicht und ausgestaltet zu werden. Dies schließt nicht grundsätzlich aus, dass sie in einzelnen Fällen auch im Wege unmittelbarer Anwendung Rechtswirkungen entfalten können, etwa, wenn eine einfachgesetzliche Ausgestaltung die Ziele beispielsweise der angemessenen Arbeitsbedingungen im Sinne des Art. 31 GRC besonders klar verfehlt. Man kann dann argumentieren, dass Art. 31 GRC zwar einen erheblichen Spielraum belässt, aber jedenfalls konkret genug formuliert ist, dass manche Ausgestaltungen als schlechterdings unzulässig abgeleitet werden können. Solche Fälle dürften jedoch die Ausnahme bleiben. Sofern soziale Rechte etwa bei der Auslegung von Richtlinien zu berücksichtigen sind, ist bedeutsam, dass beispielsweise Art. 31 Abs. 2 GRC die Einschränkung von Vertragsfreiheit notwendig impliziert. Die Pflicht zum bezahlten Jahresurlaub ist gar nicht denkbar, ohne dass die Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien in dieser Hinsicht eingeschränkt ist. Bei einer Abwägung zwischen Vertragsfreiheit einerseits und Art. 31 Abs. 2 andererseits kommt letzterem daher grundsätzlich ein höheres Gewicht zu, und es wäre besonders zu begründen, warum die Vertragsfreiheit im Einzelfall doch überwiegen sollte. Eine wichtige Rolle können die sozialen Grundrechte des Titels IV. der Charta darüber hinaus bei der Rechtfertigung einfachrechtlicher Regulierung spielen – hiervon handelt der nächste Abschnitt.

109

S. schon oben § 5 I. 2. b) aa). Dazu auch schon oben § 5 III. 3. 111 Ausführlich dazu § 4 II. 8. und zur strukturellen Einordnung bereits § 5 I. 3. b). 112 Für Unbestimmtheit auch Seifert, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299, 309. 110

III. Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch EU-Grundrechte

273

2. EU-Grundrechte und die Rechtfertigung von Regulierung Der zweite Bedeutungsstrang der EU-Grundrechte für die Einschränkung der Vertragsfreiheit ist weniger offensichtlich, auch weniger Aufsehen erregend, aber jedenfalls theoretisch nicht minder bedeutsam. Er hängt damit zusammen, dass gerade auch eine Reihe sekundärrechtlicher Vorschriften Einschränkungen formaler Vertragsfreiheit zugunsten diverser Interessen beinhalten – unter anderem zugunsten des Verbraucherschutzes, Arbeitnehmerschutzes oder der Nichtdiskriminierung. Denkt man den Schutz der Vertragsfreiheit durch Art. 16 GRC konsequent fort, so werden zahlreiche dieser Normen rechtfertigungsbedürftig. Zur Rechtfertigung solcher Regulierung sind insbesondere auch Grundrechte heranzuziehen. Damit stellen sie der Vertragsfreiheit gegenläufige Optimierungsgebote auf, die erlauben, jene zu begrenzen. Zwischen diesen kollidierenden Prinzipien bleibt dann, wie erörtert, ein Spielraum, auf dem sich das einfache Recht entfaltet. Die gegenläufigen Grundrechte können dabei auch neben Gemeinwohlinteressen treten, somit Spielräume zulasten der Vertragsfreiheit vergrößern und in dieser Weise quasi hinter der Fassade des einfachen Rechts Wirkungen entfalten. Anschaulich macht dies beispielsweise der schon mehrfach angesprochene Fall Sky Österreich. Wie erörtert, schränkte die einschlägige Richtlinienbestimmung 113 die Vertragsfreiheit von Sky Österreich ein. Der Schutz von Grundrechten bildete in der Argumentation des EuGH hierfür zum einen ein legitimes Ziel.114 Zum anderen stellte der Grundrechtsschutz die entscheidenden Argumente für die Angemessenheit der Einschränkung dar. Konkret waren dies die Informationsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 GRC sowie die Freiheit und Pluralität der Medien aus Art. 11 Abs. 2 GRC.115 Der Gerichtshof entschied, dass es gerade „unter Berücksichtigung“ dieser Grundrechte „dem Unionsgesetzgeber frei [stand], Bestimmungen wie die in Art. 15 der Richtlinie 2010/13 zu erlassen“. In anderen Worten: Die Grundrechte aus Art. 11 GRC schafften dem Gesetzgeber den Spielraum für die fragliche Regelung. Für die Rechtfertigung regulatorischer Eingriffe in die formale Vertragsfreiheit kommen neben klassischen Freiheitsrechten vor allem auch die Grundsätze der Grundrechtecharta in Betracht. Ein praktisches Beispiel bei einem Eingriff in die Unternehmerfreiheit aus Art. 16 GRC (wenn auch nicht der Vertragsfreiheit) bietet der Fall McDonagh v. Ryanair. Hier ging der EuGH ausdrücklich auf den Verbraucherschutz gem. Art. 38 GRC ein,116 und prüfte, ob die fragliche Regelung zwischen der Unternehmerfreiheit einerseits und dem Verbraucherschutz andererseits ein „angemessenes Gleichgewicht“

113 114 115 116

Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13/EU. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 52. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 51. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 63.

274

§ 6 Privatautonomie

herstellte – was er bejahte.117 Ebensolche Wirkungen können etwa von Art. 27 GRC bei Vorschriften über Mitbestimmung im Unternehmen, von Art. 30 GRC bei Schutzvorschriften vor ungerechtfertigter Entlassung oder von Art. 31 GRC bezüglich Vorschriften über angemessene Arbeitsbedingungen ausgehen. All diese Normen eröffnen dem Gesetzgeber einen Spielraum zu Einschränkungen der Vertragsfreiheit und führen dazu, dass die Vertragsfreiheit einschränkenden Normen grundrechtskonform sind. Aus Sicht der Gerichte stellen sie Argumentationsbausteine zur Verfügung, unter deren Zuhilfenahme sie (möglichst) rationale Begründungen für die Primärrechtskonformität von sonstigem Recht finden können – eine Begründungen mit menschenrechtlich aufgeladener Autorität. Schlussendlich ist noch zu ergänzen, dass Grundrechte auch zur Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten herangezogen werden können.118 Mitgliedstaatliche Normen, die Grundfreiheiten beeinträchtigen, werden rechtfertigungsbedürftig. Dies kann insbesondere auch für zwingende Normen des Vertragsrechts gelten. Soweit solche Normen grundrechtlich geschützten Interessen dienen, kommen die gleichen Gedanken zum Tragen, die gerade zur Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 16 GRC ausgeführt wurden. Grundrechte können als zu Grundfreiheiten gegenläufige Optimierungsgebote regulatives Recht ermöglichen – dazu auch noch unten § 8 II. 3.

IV. Zusammenfassung IV. Zusammenfassung

Gerade bei einem regulatorisch geprägten Vertragsrecht wie dem europäischen wird der Zusammenhang von Grundrechtswirkung und Privatautonomie facettenreich. Die Ausgangslage ist eine andere als bei einem klassischliberalen Vertragsrecht, auf das Grundrechte schon denklogisch fast nur regulative Wirkungen haben könnten. Komplexität gewinnt die Thematik außerdem, da das Konzept der Privatautonomie keine unbestrittene Form mehr besitzt. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion kennt man aus Deutschland vor allem die Konzepte formaler und materialer Autonomie, für das Unionsrecht ist dem die Idee regulierter Autonomie (regulated autonomy) hinzugefügt worden. Jede dieser Autonomie-Formen könnte man als Analyse-Raster verwenden, um den Einfluss der EU-Grundrechte zu untersuchen. Der vorhergehende Abschnitt hat sich um das klassische Konzept formaler Privatautonomie beziehungsweise formaler Vertragsfreiheit herum aufgebaut. Einschränkungen der Vertragsfreiheit müssen aufgrund des Schutzes über Art. 16 GRC verhältnismäßig sein und ihren Wesensgehalt achten. Nachdem 117

EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 62 ff. S. z.B. EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806; EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845. 118

IV. Zusammenfassung

275

frühere Urteile des EuGH eher weitreichende Einschränkungen zuzulassen schienen, legt insbesondere die Entscheidung Alemo Herron einen substanziellen Schutz auf Grundlage dieser allgemeinen Kriterien nahe. Es bleibt abzuwarten, ob sie sich als Einzelfall herausstellt oder den Beginn einer Entwicklung begründet. Jedenfalls lässt sich nicht behaupten, dass die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht lediglich eine Einschränkung der Vertragsfreiheit bewirke. Gerade weil das europäische Vertragsrecht primär regulatorischen Charakter besitzt, könnten Grundrechte hier potenziell deregulierende Effekte haben. Teils können auch scheinbar fernliegende Grundrechte, wie die negative Verhandlungsfreiheit, mit dem Interesse formaler Vertragsfreiheit einhergehen – dies zeigt der Fall Werhof. Andererseits führen EUGrundrechte durchaus auch zu Einschränkungen formaler Vertragsfreiheit. Sie erfordern insoweit ein pluralistisches Vertragsrecht, ein Vertragsrecht, das verschiedenen Interessen Rechnung trägt.119 Prominent war in der Rechtsprechung des EuGH vor allem das Diskriminierungsverbot aus Art. 21 GRC. Auch Freiheitsrechte, namentlich das Wohnungsgrundrecht, können darüber hinaus eine Regulierung von Verträgen und mithin eine Einschränkung formaler Vertragsfreiheit vorgeben. Diese Einschränkung kann umgekehrt der Stärkung materialer Vertragsfreiheit dienen. Gerade Freiheitsrechte schützen schließlich bestimmte Ausprägungen von tatsächlicher Selbstbestimmung. Auch wenn die Rechtsprechung des EuGH materialer Vertragsfreiheit, anders als ihrem formalen Gegenbild, keinen ausdrücklichen Schutz zumisst, kann sie daher durch die Wirkung der EU-Grundrechte gefördert werden. Insofern tragen EU-Grundrechte in verschiedener Weise zur Vertragsfunktion der Selbstbestimmung bei.

119

So auch O. Gerstenberg, Constitutional Reasoning in Private Law: The Role of the CJEU in Adjudicating Unfair Terms in Consumer Contracts, 21 European Law Journal (2015), 599.

§ 7 Private Macht § 7 Private Macht

Die Problematik privater Macht bildet seit jeher eine bedeutende Komponente des Diskurses um die Grundrechtswirkung im Privatrecht und nimmt dabei nicht selten die Rolle des Gegenstücks zum Topos der Autonomie ein. Dies ist heute auf EU-Ebene nicht anders als vormals auf nationaler. „Der Begriff soziale Macht, soziale Gewalt ist der Schlüssel des Problems der Drittwirkung“, befand schon früh in der deutschen Drittwirkungsdebatte etwa Gamillscheg.1 Schon vor der Schaffung des Grundgesetzes hatte Böhm gefordert, dass „die Grundrechte auch gegen private Machtträger gesichert werden“ sollten. 2 Für EU-Grundrechte liegt eine Fortschreibung solcher Aussagen auch deswegen nahe, weil die Bindung Privater an die Grundfreiheiten nach einer prominenten Ansicht von Machtpositionen abhängig gemacht werden sollte und die Thematik folglich im europäischen Kontext etabliert ist.3 Eine strukturell ähnliche Debatte im Grundrechtsbereich deutet sich an. Nicht nur in der Literatur, sondern auch in Schlussanträgen der Generalanwälte wird heute privater Macht bisweilen explizit eine entscheidende Rolle für die Anwendung der Grundrechte in Privatrechtsverhältnissen zugeschrieben. 4 Im 1 Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), 385, 407; s. auch W. Reichenbaum, Grundrechte und soziale Gewalten (1962). Aus jüngerer Zeit in deutscher Literatur z.B. auf Macht eingehend Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kontrollfragen beim nationalen und europäischen Schutz von Freiheitsrechten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, EuGRZ 2006, 492, 493. 2 Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, SJZ 1946, 141, 143. Dieser (ordo-liberale) Text stammt aus der Debatte um die neuen Verfassungen der neu gegründeten Teilstaaten und ist eine Erwiderung auf den (eher sozialistisch ausgerichteten Text) A. Arndt, Das Problem der Wirtschaftsdemokratie in den Verfassungsentwürfen, SJZ 1946, 137. Böhms vollständiges Zitat lautet: „Arndt fordert also, daß in Zukunft die Grundrechte auch gegen private Machtträger gesichert werden sollen. Dieser Forderung wird man nicht nur ohne jeden Vorbehalt beipflichten müssen; es gilt vielmehr zu betonen, daß es sich hier um eine eine verfassungspolitische Aufgabe allerersten Ranges und größter Dringlichkeit handelt.“ 3 Zur Grundfreiheiten-Thematik z.B. z.B. R. Streinz/S. Leible, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW 2000, 459 mit weiteren Nachweisen. 4 S. z.B. die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 118; Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657, 673; Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European

§ 7 Private Macht

277

Raum steht die Frage, ob besondere Machtverhältnisse die Voraussetzung für die Grundrechtswirkung im Privatrecht, ihr Grund oder jedenfalls ein wichtiges Kriterium innerhalb der Anwendung der Grundrechte sind. Was die Bindung Privater an Grundrechte oder jedenfalls die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht betrifft, könnte man in Sachen Macht eine Parallele ziehen wollen zu einem häufig vorgebrachten Telos der Grundrechte im Allgemeinen. Diese lassen sich schließlich ihrem Ursprung nach als eine Begrenzung von Macht verstehen, in ihrer historischen Entstehung als Reaktion auf umfassende absolutistische Macht, heute jedenfalls als Begrenzung der Macht des Staates und seines Gewaltmonopols, der Macht der Mehrheit in der Demokratie.5 Scheinbar ist es dann nur ein kleiner, logischer Schritt zur Bindung mächtiger Privater an die Grundrechte. Vereinfachend könnte man schließen wollen, dass eine Bindung solch mächtiger Privater an Grundrechte zwar deren Autonomie beschränke, aber gleichzeitig der Verwirklichung der Autonomie Dritter diene. Insofern würde das Macht-Argument jene Sichtweisen ergänzen oder widerlegen, die aus Autonomie-Gründen jegliche Privatrechtswirkung der Grundrechte oder jedenfalls die Bindung Privater verneinen wollten.6 Konzeptionell könnte man versucht sein, Macht als Gegenpol zu Selbstbestimmung zu verorten, ja Macht und Fremdbestimmung gleich zu setzen. 7 Wenn derartige Macht-basierte Argumentationslinien prima facie auch eine Überzeugungskraft besitzen, wirken sie bei genauerem Hinschauen doch recht pauschal und undifferenziert. Dies beginnt schon damit, dass es sich bei „Macht“ nicht um einen etablierten Rechtsbegriff handelt. Es bleibt in Behandlungen des Zusammenhangs von Macht und Grundrechten stets offen, was sich deskriptiv hinter dem Machtbegriff verbirgt, und warum genau, inwieweit und in welchen Fällen Macht zu einem Rechtsproblem wird, also was normativ im Machtbegriff steckt.8 Es müsste auch näher begründet werLaw Review (2013), 479; P. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union (2001), 168. 5 S. etwa G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte: Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848 (1981), 18: „Grundrechtsgeschichte ist eigentlich die Kehrseite der Machtgeschichte.“ Für die europäische Ebene z.B. Weiler, Fundamental rights and fundamental boundaries, in: ders., The constitution of Europe (1999), 102, 103. 6 Dazu oben § 6 am Anfang. 7 So wohl Schmidtchen/Kirstein, Störung der Vertragsparität, in: Ott/Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse des Sozialschutzprinzips im Zivilrecht (2004), 1, 3; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2012), 390 f. 8 Dies gilt gerade auch für den Themenkomplex von Grundrechten und Vertragsrecht, und gerade auch auf europäischer Diskussionsebene, z.B. bei C. Mak, The Lion, the Fox and the Workplace: Fundamental Rights and the Politics of Long-Term Contractual Relationships, in: S. Grundmann et al. (Hg.), The organizational contract: from exchange to long-term network cooperation in European contract law (2013), 97, die mit „inequality

278

§ 7 Private Macht

den, wieso Macht lediglich eine Bindung an Grundrechte erfordern sollte, oder ob nicht auch Grundrechte für die Möglichkeit der Erschaffung, Erhaltung und Betätigung von privater Macht sprechen und wirken könnten. Schlussendlich ist zu fragen, warum Grundrechte nicht auch ganz unabhängig von Macht-Konstellationen Vorgaben für Privatrechtsverhältnisse machen sollten. Mit anderen Worten: Ist Macht wirklich der zentrale Schlüssel oder lediglich ein Werkzeug unter mehreren? Genauso wie der Zusammenhang von Grundrechtswirkung und Privatautonomie – wie oben erörtert – eine differenzierte Beschreibung verlangt, erscheint, so viel sei vorweggenommen, auch ein differenzierter Gebrauch bezüglich der Thematik privater Macht angebracht. Um zu einem solchen zu gelangen, soll im Folgenden recht weit ausgeholt werden. Mangels überzeugender juristischer Machtkonzepte ist es zunächst angebracht, für eine deskriptive Machtanalyse Theorien der benachbarten Sozialwissenschaften zu Rate zu ziehen (dazu I.). In den Sozialwissenschaften stellt Macht einen zentralen Begriff dar, und entsprechend reich ist der Erfahrungsschatz. Es wird argumentiert werden, dass insbesondere die Machttheorie Niklas Luhmanns für die Analyse vertraglicher Situationen hilfreich sein kann. Um ein mit ihrer Hilfe geschärftes Machtverständnis an das hier interessierende Themenfeld zurückzuführen, werden die erlangten Einsichten in einem zweiten Schritt in ein vertragstheoretisches Raster integriert (II.). Aufbauend insbesondere auf Konzepten der Neuen Institutionenökonomik lässt sich behaupten, dass Machtkonstellationen regelmäßig und in wesentlichem Ausmaß von Vertragstypen auf dem Kontinuum zwischen Markt (market) und Unternehmen (firm) abhängen. Auf diese Weise lässt sich zwischen Machttheorie und geltendem Vertragsrecht mittels Vertragstheorie eine heuristische und analytische Brücke schlagen. Nach solcher primär deskriptiven Darstellung soll nämlich in einem dritten Schritt wieder eine Verknüpfung zur normativen Ebene hergestellt werden – also der gedankliche

of bargaining power“ argumentiert, ohne dies zu erläutern und zu differenzieren. Besonders unbestimmt etwa auch das Abstellen auf „economic imbalance“ bei Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European Law Review (2013), 479. Ähnlicher kritischer Befund schon bei C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201, 208 („außerordentliche Unbestimmtheit“ des Begriffes); Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30, 48 („zu unscharf [...] und zu pauschal“). Auch wendet er sich gegen die Gleichsetzung von ökonomischer Macht und privater Macht durch Böhm – Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201, 207. Zu bemerken ist nun aber, dass es in jüngster Zeit eine vertiefte und sehr hilfreiche Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen im Privatrecht und ihren Grundlagen gegeben hat – s. die Beiträge bei F. Möslein (Hg.), Private Macht (2016).

I. Machttheorien

279

Schritt vom Sein zum Sollen der Macht gegangen werden (III.).9 Es wird argumentiert, dass die Regulierung von Macht durch das Vertragsrecht im Allgemeinen insbesondere von den Funktionen von Vertrag und Vertragsrecht abhängt, wie sie oben unter § 1 dargestellt wurden. All dies bietet die Grundlage dafür, um zum hier interessierenden Kern zu gelangen – der Bedeutung von Macht für die Anwendung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht – und zwar sowohl mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH wie auch auf das Potenzial macht-informierter Argumentationen in Zukunft (dazu IV.).

I. Machttheorien I. Machttheorien

Das Gebiet der Machttheorie ist ein weites und zerfurchtes Feld. Vor allem Soziologen, aber auch Ökonomen, Sozialpsychologen, Sozialphilosophen und Politologen haben Machtdefinitionen und Konzepte erarbeitet, ihre Grundlagen hinterfragt und sie empirisch angewandt. Die Ansätze lassen sich verschiedenen Richtungen zuordnen, teils überlappen, teils widersprechen sie sich.10 Es kann hier nicht darum gehen, das universell überzeugendste Machtkonzept zu finden und auszuwählen. Zunächst soll ein Überblick über verschiedene Machttheorien geleistet, quasi eine Karte der theoretischen Landschaft gezeichnet werden – hiermit wird zugleich deutlich, wie problematisch es ist, einfach von „Macht“ zu sprechen, ohne sich weiter zu erklären. Dazu lässt sich auf diverse Werke zurückgreifen, die Machttheorien beschreiben, vergleichen und ordnen.11 Klar wird, dass manche Ansätze besser als andere geeignet sind, um Macht in Vertragskonstellationen zu analysieren. Über die Brauchbarkeit der Machttheorien für andere Umfelder, beispielsweise politische Parteien, muss dies nichts aussagen. Um eine möglichst konsistente 9

Grundlage eines Großteils der folgenden Ausführungen unter I.-III. ist M.F. Starke, Power Theory and European Contract Law, Paper on Social Rights and Economic Integration at Cambridge University 2014. An einigen Stellen sind jedoch auch Aussagen geändert, teils hinzugefügt, teils klarer ausgeführt und teils weggelassen. 10 Für Widersprüche s. z.B. S. Lukes, Power: A Radical View (2004), 61 (unter der Überschrift „Disagreements over ‘Power’“); dagegen versucht etwa R. Heiskala, Theorizing Power: Weber, Parsons, Foucault and Neostructuralism, 40 Social Science Information (2001), 241 verschiedene, scheinbar sich widersprechende Theorien in Einklang zu bringen. 11 Etwa S. Clegg/M. Haugaard, Power and Organizations (2012); S. Clegg/M. Haugaard, The SAGE Handbook of Power (2009); M. Haugaard, Power: A Reader (2002); J. Scott, Power (2001); Lukes, Power: A Radical View (2004) (enthält vor dem eigentlich „radikalen“ Teil eine sehr nützliche Übersicht anderer Machttheorien); A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung (2012); B.-C. Han, Was ist Macht? (2010); mit Bezug zum Privatrecht M. Renner, Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie, in: F. Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter III.

280

§ 7 Private Macht

Analyse zu ermöglichen, soll ein Konzept als das für das weitere Vorgehen führende ausgewählt werden. Dies wird nicht heißen, auf abweichende Machttheorien danach nicht mehr einzugehen. Insbesondere soweit verschiedene Ansätze logisch kompatibel sind, sollen sie so weit wie möglich kombiniert werden. Zur Orientierung ist es aber notwendig, eine Machttheorie ins Zentrum zu stellen. Dies soll in diesem Fall diejenige Niklas Luhmanns sein, wie noch zu begründen sein wird. 1. Klassische Machttheorie: Max Weber und Franz Böhm Der Ursprünge der Machttheorie im westlichen Denken lassen sich bis Niccolò Machiavelli12 und Thomas Hobbes13 zurückverfolgen. Beide interessierten sich vor allem für Macht im Politischen, ersterer mehr für ihre Praxis, letzterer für ihre abstrakte Bedeutung für die Organisation der staatlichgesellschaftlichen Ordnung. Zusammen bereiteten sie den Boden für diverse moderne Behandlungen von Macht, welche sich ebenfalls auf die politische Sphäre konzentrierten. 14 Eine der einflussreichsten Definitionen in dieser klassischen Strömung der Machttheorie ist nach wie vor jene Max Webers, welcher seinerseits als Gründungsvater moderner Machttheorie gelten kann. Obwohl sich große Teile seiner Analyse auf politische und administrative Machtfragen beziehen, ist sein Machtbegriff neutral in dem Sinne, dass er sich auch auf Beziehungen zwischen Individuen und auf Verträge anwenden lässt. Weber zufolge ist Macht die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.15 Man kann seinen Ansatz als kausale Machttheorie einordnen – es geht um das Verursachen von Wirkungen. An einer anderen Stelle beschreibt Weber Macht allgemeiner als „Möglichkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen“.16 Neben dem Begriff der Macht stellt er außerdem ein Konzept der Herrschaft als Unterfall der Macht auf, mit welchem er sich schwerpunktmäßig beschäftigte: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren

12

N. Machiavelli, The Prince (1961). Hobbes, Leviathan, or, The matter, forme, and power of a common wealth, ecclesiasticall and civil (1651). 14 Scott, Power (2001), 6 klassifiziert „mainstream power theories“ als „taking the sovereign power of a state as its exemplar“. Bedeutende Beispiel mit primär politischer Ausrichtung z.B. T. Parsons, Sociological Theory and Modern Society (1967); H. Arendt, On Violence (1970). 15 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 28. 16 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 542. 13

I. Machttheorien

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Personen Gehorsam zu finden.“ 17 Dabei unterscheidet er, auf allgemeiner Ebene, zwei zentrale Arten von Herrschaft: „Herrschaft kraft Interessenkonstellation“ und „Herrschaft kraft Autorität“.18 Primäres Beispiel für erstere wäre „monopolistische Herrschaft auf dem Markt“, während letztere sich auf „auf eine in Anspruch genommene, von allen Motiven und Interessen absehende schlechthinnige Gehorsamspflicht“ stützte. 19 Die erste Art der Herrschaft könnte man also bei Transaktionen am Markt beziehungsweise bei Marktversagen erwarten, während letztere eher zu hierarchischen Organisationen passt. Weber betonte auch, dass „beide gleitend ineinander über [gehen]“. 20 So gesehen könnte man argumentieren, dass seine Einteilung – wenn sie auch nicht gleichbedeutend ist – schon einige Charakteristiken teilt mit Machtstrukturen auf dem Kontinuum zwischen market und firm, wie es schon unter § 1 I. 2. angesprochen wurde und unten noch ausgeführt werden wird (s. § 7 II. 2.). Dies gilt umso mehr, da er auch Zwischenformen diskutiert, wie etwa Langzeitverträge zwischen Brauereien und Gaststätten.21 Im Kontext von Markt und Macht griffen unter anderem die Ordoliberalen Walter Eucken und Franz Böhm auf Webers Machtbegriff zurück.22 Insbesondere das kausale Element der Macht ist bei ihnen weiterhin zentral. Zwar verknüpfen sie Macht insbesondere mit Marktstrukturen und gehen insofern über Webers interaktionsfokussierten Ansatz hinaus. Im Endeffekt geht es insbesondere Böhm allerdings durchaus um die Problematik der Macht in individuellen Interaktionen. Seine Werke zu Macht sind – anders als die Webers – zutiefst normativ und weniger beschreibend-analytisch geprägt und

17

28.

18

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972),

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 542. Hier unterscheiden sich allerdings verschiedene Textversionen. In anderen Ausgaben von Wirtschaft und Gesellschaft fehlt diese Unterscheidung. Dazu schon Renner, Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie, in: Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter III. 1. 19 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 542. 20 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 542. 21 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 543. 22 Dazu Renner, Kapitel 13. Private Macht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1029, unter I, II., IV.; Renner, Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie, in: Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter III. 1. W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (1947), 305 ff.; F. Böhm, Das Problem der privaten Macht, Die Justiz 1928, 324; Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht (1960), 1.

282

§ 7 Private Macht

setzen Macht insbesondere ins Verhältnis zu individueller Freiheit.23 Böhm betonte insbesondere die Bedeutung des Marktmechanismus zur Bekämpfung privater Macht. Monopole sind für ihn das zentrale Beispiel von Machtpositionen, welche es mittels Kartellrechts zu verhindern gilt. Mögliche Machtverhältnisse innerhalb hierarchischer Organisationen behandelt er dagegen nicht. Ob man dies als Schwäche oder als Entwicklungspotenzial seiner Theorie versteht, mag hier dahinstehen. 2. Weitere Dimensionen der Macht: Bachrach, Baratz, Lukes Webers Machttheorie wurde unter anderem von amerikanischen Politikwissenschaftlern in den 1950er und 60er Jahren aufgegriffen und weiterentwickelt.24 Deren Studien zu politischer Entscheidungsfindung und Pluralismus bezogen sich zwar primär auf die Gesellschaft im Ganzen und nicht auf individuelle vertragliche Verhältnisse. Insoweit lässt sich aus ihren konkreten Erkenntnissen für eine Machttheorie des Vertragsrechts zunächst wenig ableiten. Aufgrund ihrer teils weitergreifenden Konzeption von Macht sind sie jedoch von allgemeinem theoretischen Interesse. Robert Dahl ging zunächst noch von einer Machtdefinition sehr ähnlich zu jener von Weber aus: „A has power over B to the extent that he can get B to do something that B would not otherwise do“. 25 In der praktischen Anwendung dieser und ähnlicher Definitionen26 stellte man Macht nur im Falle offen erkennbarer Konflikte fest – wie Webers Abstellen auf „Widerstand“ nahe legte.27 Diese Sichtweise hinterfragten Peter Bachrach und Morton Baratz ab 1962 in innovativer und kritischer Weise und befanden sie als zu eng. Ihrer Ansicht nach gibt es tatsächlich zwei Gesichter („faces“) der Macht.28 Nicht nur sei Macht im Falle tatsächlicher Entscheidungen (gegen Widerstand) gegenwärtig, sondern darüber hinaus gebe es ein zweite Erscheinungsform: die Kompetenz darüber zu entscheiden, welche Entscheidungen überhaupt angegangen und getroffen werden sollen. Die Entscheidung nicht zu entscheiden wäre dann schon eine Ausübung von Macht. Im Anschluss an diesen Arbeiten fügte Steven Lukes 23

Z.B. Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht (1960), 1, 3 ff. 24 Lukes, Power: A Radical View (2004), 14 ff.; Scott, Power (2001), 6 ff. 25 R.A. Dahl, The Concept of Power, 2 Behavioral Science (1957), 201, 202. 26 Z.B. H.A. Simon, Models of Man: Social and Rational, Mathematical Essays on the Rational Human Behavior in a Social Setting (1957), 5: „[...] for the assertion ‘A has power over B’, we can substitute the assertion, ‘A’s behaviour causes B’s behaviour’.“ 27 Lukes, Power: A Radical View (2004), 18. 28 P. Bachrach/M.S. Baratz, The Two Faces of Power, 56 American Political Science Review (1962), 941; P. Bachrach/M.S. Baratz, Decisions and Nondecision: An Analytical Framework, 57 American Political Science Review (1963), 641; P. Bachrach/M.S. Baratz, Power and Poverty: Theory and Practice (1970).

I. Machttheorien

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1974 in seinem Buch „Power: A Radical View“ diesen beiden Machtformen eine dritte Dimension hinzu. Er argumentierte – und dies war das „radikale“ an seiner Sicht – dass es eine weitere Machtdimension auch in Fällen gebe, wo überhaupt kein feststellbarer Konflikt bestehe.29 Ihm zufolge übten auch jene Akteure Macht aus, welche die Präferenzen anderer beeinflussten, um diese mit ihren eigenen Interessen gleichzusetzen. Einen Konflikt könnte man Lukes’ zufolge aber feststellen, wenn man die wahren beziehungsweise objektiven Interessen der Beeinflussten („subordinates“) berücksichtige. In diesem Sinne wäre auch das Verursachen von Präferenzen entgegen der wahren Interessen von Individuen eine Form oder Ausübung von Macht. Welches die wahren Interessen sind und wie diese festgestellt werden sollten, ist offensichtlich problematisch. Es würde hier zu weit führen, dem nachzugehen. Deutlich wird immerhin, dass es auch innerhalb des kausalen Machtbegriffs erhebliche Varianz gibt. 3. Macht ist überall: Foucault Eine ganz neue, von den klassischen kausalen Grundlagen losgelöste Beschreibung von Macht findet sich im Werk Michel Foucaults. Man kann sie als „strukturell“ anstatt „kausal“ einordnen. 30 Der Ausgangspunkt seines Interesses an Macht ist deren Auswirkung auf das Individuum, das „Subjekt“, wie er es nennt, und er löst sich dabei ausdrücklich vom „juridischpolitischen“ Konzept der Macht, das sie nur oder primär als von oben nach unten wirkendes Phänomen begreift.31 Für Foucault spielt Macht eine wesentliche Rolle schon und gerade bei der Konstituierung des Subjekts und seiner Weltsicht. Macht wäre damit nicht bloß korrektiv, sondern produktiv.32 Dies geht noch wesentlich weiter als Lukes’ Machtverständnis, da es für die Annahme von Macht zum Beispiel irrelevant wäre, ob gewisse Einflüsse den wirklichen Interessen von Individuen zuwiderlaufen oder nicht.33 Die relevanten Einflüsse gingen nach Foucault auch nicht bloß von anderen Individuen,34 erst recht nicht bloß vom Staat,35 aus, sondern strömen aus einer Vielzahl von Quellen: Diskurse, soziale Normen und Erziehung, um nur einige zu nennen, wären in diesem Sinne relevant – Foucault nennt dies selbst einen 29

Lukes, Power: A Radical View (2004), 24 ff. S. z.B. Heiskala, Theorizing Power: Weber, Parsons, Foucault and Neostructuralism, 40 Social Science Information (2001), 241, 245; Renner, Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie, in: Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter III. 2. 31 M. Foucault, The Subject and Power, 8 Critical Inquiry (1982), 777. 32 M. Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Prison (1977), 194. 33 Scott, Power (2001), 8 ff.; Lukes nennt Foucaults Ansatz „ultra-radical“ – Lukes, Power: A Radical View (2004), 88. 34 M. Foucault, Histoire de la sexualité (1976), 125. 35 Foucault, Histoire de la sexualité (1976), 128. 30

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§ 7 Private Macht

genealogischen Ansatz. 36 Er konzeptioniert Macht also auch gerade nicht bloß in konkreten Interaktionen. „Le pouvoir est partout; ce n’est pas qu’il englobe tout, c’est qu’il vient de partout. [...] le pouvoir, ce n’est pas une institution, et ce n’est pas une structure, ce n’est pas une certaine puissance dont certains seraint dotés: c’est le nom qu’on prête à une situation stratégique complexe dans une société donnée“.37 Mit solch einem offenen Machtbegriff könnte man also eine Vielzahl von Einflüssen jenseits des Staates oder konkreter Institutionen erfassen und sich mit der „Mikrophysik“ der Macht beschäftigen, wie Foucault es ausdrückt. Insoweit könnte er gerade auch für den Vertragskontext interessant erscheinen. 38 Andererseits birgt er die Gefahr, Analysen überkomplex zu machen.39 Versuche, die Gesamtheit oder auch nur die wichtigsten Einflüsse, die auf ein Subjekt gewirkt haben und wirken und in jeder Vertragskonstellation relevant sind, zu verarbeiten, würde in einem juristischen Gebrauch in aller Regel entweder zu weit gehen oder als notwendig beschränkte Auswahl willkürlich werden. Die Berücksichtigung etwa von Erziehung, Bräuchen, Rollen und Selbstkontrolle ist für eine allgemeine Übersicht über Macht in Vertragssituationen, wie sie hier angestrebt wird, schlicht nicht möglich. Im praktischen rechtlichen Verfahren wäre sie in der Regel zu aufwendig. Interessanter wäre sie eher für wissenschaftliche Untersuchungen konkreter Rechtsfälle.40 Überhaupt könnte man aber auch einwenden, dass ein so breites Machtverständnis von wesentlichen, noch verarbeitbaren Kernproblemen ablenkt. Oliver Williamons Kritik, die er gerade im Kontext der Machttheorien äußerte, sollte ebenfalls zu denken geben: „Concepts that explain everything explain nothing.“41 So weit muss man in der Kritik hier nicht gehen: Man braucht nicht zu behaupten, dass eine bestimmte Theorie nichts erklärt. Es reicht aus, zu befinden, dass ihr Erklä-

36 M. Foucault, Dispositive der Macht: über Sexualität, Wissen und Wahrheit (1978), 32 ff. M. Renner, in einer Besprechung dieses Textes fasst folgendermaßen zusammen: „Macht wird bei Foucault definiert als die Gesamtheit der sozio-historischen Bedingungen, die bestimmen, was gesagt, geschrieben und – in letzter Konsequenz – gedacht werden kann. – Renner, Kapitel 13. Private Macht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1029 unter III. 37 Foucault, Histoire de la sexualité (1976), 122 f. 38 In diese Richtung Renner, Kapitel 13. Private Macht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1029, unter III. 39 Zur Notwendigkeit der Anwendung verschiedener Machttheorien je nach Kontext Heiskala, Theorizing Power: Weber, Parsons, Foucault and Neostructuralism, 40 Social Science Information (2001), 241. 40 Zu möglichen (spezifischen) Anwendungsbereichen Foucaults Theorie in der Rechtswissenschaft Renner, Kapitel 13. Private Macht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1029, 1034 ff. 41 O.E. Williamson, Hierarchies, Markets and Power in the Economy: An Economic Perspective, 4 Industrial and Corporate Change (1995), 21, 33.

I. Machttheorien

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rungspotenzial für den Kontext von Macht, Vertrag und Grundrechten nicht überzeugt. 4. Modaler Machtbegriff als Mittelweg: Luhmann Ein engeres und klarer definiertes Machtkonzept findet sich bei Niklas Luhmann. Ebenso wie Foucault steht er dabei aber den klassischen kausalen Machttheorien kritisch gegenüber, und platziert seinen Machtbegriff damit gewissermaßen (wenn auch nicht gezielt) zwischen diesen beiden Polen.42 Gegen die Annahmen der klassischen Machttheorie bringt er vor allem zwei Punkte vor: Würde man das Kausalitätserfordernis konsequent anwenden, wären zahlreiche Situationen ausgeschlossen, in denen man im Allgemeinen von Macht sprechen würde.43 Erforderlich wäre nämlich, dass ein Prozess verändert wird gerade aufgrund einer Ausübung von Macht – Machtausübung also als condition sine qua non. Dies kann all jene Fälle nicht erfassen, in denen Individuen ihre Handlungen schon nach anderen Akteuren ausrichten bevor diese Macht irgendwie ausüben. Luhmann betont daher den Charakter von Macht als Potential anstatt als Ursache. Tatsächlich scheint sich inzwischen in vielen jüngeren und jüngsten Schriften zur Machttheorie eine solche Sichtweise durchgesetzt zu haben, auch wenn dieser Unterschied zu klassischen Machttheorien nicht immer explizit gemacht wird. 44 Dies bedeutet nicht, dass Macht nicht auch als Ursache gesehen werden kann, aber setzt dies gerade nicht voraus.45 Darüber hinaus argumentiert Luhmann zweitens, dass es auf der anderen Seite wesentlich zu weit gehen würde, alle kausalen Aktionen, alle conditiones sine qua non, als Macht(ausübung) zu begreifen.46 Daher hätten Vertreter der klassischen Machttheorie weitere einschränkende Kriterien hinzufügen müssen.47 Beispiele hierfür sind bei Weber „gegen Widerstand“ und bei Lukes gegen den „real interest of the individual“. Zwischen diesen Kriterien liegen allerdings große Unterschiede und es ist äußerst 42 S. schon N. Luhmann, Klassische Theorie der Macht: Kritik ihrer Prämissen, Zeitschrift für Politik 1969, 149. 43 N. Luhmann, Macht im System (2013), 16 ff.; Luhmann, Klassische Theorie der Macht: Kritik ihrer Prämissen, Zeitschrift für Politik 1969, 149. 44 Scott, Power (2001), 5, stellt zusammenfassend fest, dass „power is, at root, a capacity“ und dass sie „can be effected [...] without being exercised“; ähnlich Lukes, Power: A Radical View (2004), 109; es lässt sich auch argumentieren, dass eine solche Sichtweise schon Webers Abstellen auf die „Chance“ angelegt ist – dies zu betonen wäre dann allerdings entscheidend, um nicht Effekt-kausale Definitionen wie bei Dahl und Simon (oben 2.) zu erlangen). 45 N. Luhmann, Macht (2012), 19: „Die theorieleitende Kausalvorstellung darf nicht negiert, sie muss aber abstrahiert werden.“ 46 Nicht weit davon entfernt allerdings Foucault – s.o. 3. 47 Luhmann, Macht im System (2013), 17; Lukes, Power: A Radical View (2004), 30 ff., diskutiert ausdrücklich, wann „influence“ so weit „significant“ ist, um „power“ zu sein.

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§ 7 Private Macht

schwierig, wenn nicht unmöglich, hier eine überzeugende Entscheidung zu treffen, die nicht dem Einwand ausgesetzt ist, man definiere gerade so, wie es mit den gewünschten Forschungsergebnissen vereinbar ist.48 Luhmann versucht diesen Vorwurf zu umgehen, indem er seine Machttheorie aus seiner allgemeinen Theorie der Gesellschaft, also seiner Systemtheorie, ableitet. Sie ist nicht mit der Stoßrichtung formuliert, ein Mehr oder Weniger an Macht in der aktuellen Gesellschaft zu finden oder bestimmte Entwicklungen zu kritisieren. Luhmanns Machtbegriff ist neutral in dem Sinne, dass er Macht weder grundsätzlich positiv noch negativ sieht – also Macht als deskriptives Konzept nicht normativ aufgeladen ist. Für den hier gewählten Weg, Macht zunächst deskriptiv zu analysieren und sie erst anschließend normativ zu hinterfragen, ist dies ein Vorteil. Gleichzeitig ist das Machtkonzept offen genug, um Arbeiten (insbesondere Präzisierungen) anderer Autoren zu integrieren. Der größte Vorteil ist aber seine Operationalität: Luhmann bietet eine griffige Definition an, mit der sich konsistent arbeiten lässt, und zwar insbesondere auch im Bereich vertraglicher Beziehungen. Aus diesen Gründen scheint seine Machttheorie für den hier interessierenden Kontext der Verträge besonders geeignet, und soll im Folgenden ausführlicher als die anderen Theorien beschrieben werden. In Abgrenzung zu klassischen kausalen und Foucaults struktureller Theorie kann man von einer „modalen“ Theorie sprechen.49 Als Zugang zum Konzept der Macht nimmt Luhmann die Kommunikationen zwischen Individuen, also bilaterale Interaktionen, als Ausgangspunkt. Damit entspricht sein Ansatz der typischen vertraglichen Situation zweier sich gegenüberstehender Vertragspartner und erscheint auch daher für eine Analyse vertraglicher Fälle passend. Kommunikationen machen nach Luhmanns Systemtheorie im Allgemeinen soziale Systeme aus. Nach seinem Verständnis ist der Inhalt einer Kommunikation eine Selektion. Zwischen zwei Akteuren, die zu kontingenten Entscheidungen in der Lage sind, kann mittels Kommunikation einer dem anderen die Selektion einer Handlung übertragen, beispielsweise „Gib mir das Buch“. Der zentrale Grund für die Annahme solcher Selektionsleistungen liegt nach Luhmanns Theorie in so genannten Kommunikationsmedien. Diese legen „die Annahme fremder Selektionsleistungen [nahe] und [machen] sie für den Normalfall erwartbar“.50 Beispiel hierfür sind nach Luhmann zum einen etwa Macht, aber auch Liebe und Wahrheit. Sie können „die Selektion von Handlungen (oder Unterlassun48 Lukes, Power: A Radical View (2004), 63, gesteht selbst zu: „Our aim ist o represent [power] in a way that is suited for description and explanation. But our conception of it may result from and be shaped by what we are trying to describe and explain.“ 49 Als „modal-strukturbezogen“ ordnet allerdings Renner auch Foucaults Machtkonzept ein – Renner, Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie, in: Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter III. 2. 50 Luhmann, Macht (2012), 14.

I. Machttheorien

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gen) angesichts anderer Möglichkeiten [...] beeinflussen“. 51 Dies bedeutet jedoch nicht, sie als Ursache (causa) für eine Handlung anzusehen – es sei treffender, sie als „Katalysator“52 zu beschreiben. Macht ist vielmehr „eine Chance, die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern“53 und liegt auch dann vor, wenn gar kein Widerstand, kein „Willensentschluss“ gebrochen werden muss.54 Das Feld ihres Bestehens ist weiter und umfassender – schon bei „der Kommunikation über Sachthemen wird mit in Betracht gezogen, dass die eine Seite die Möglichkeit hat, ihre Auffassung durchzusetzen“.55 Macht erscheint daher als „Möglichkeit, Potenz, Chance, Disposition“, weswegen Luhmann von „Modalisierung kommunikativer Interaktionen unter dem Gesichtspunkt von Macht“ spricht.56 Um festzustellen, wo und wie Macht besteht, muss man ergründen, warum As Selektion potentiell Bs Selektion beeinflussen sollte. Für Luhmann basiert Macht auf der Möglichkeit des A, eine Sanktion gegenüber B zu bewirken, falls dieser nicht seine Selektion annimmt. Ob er eine solche Sanktionierungsmöglichkeit besitzt, hängt davon ab, welche Handlungsalternativen den Parteien auf beiden Seiten zur Verfügung stehen. Kann A eine Aktion wählen, die im Vergleich für B nachteilhafter als für A ist, wird B diese Aktion eher vermeiden wollen als A dies tut. Dies macht sie zur Sanktion im Sinne Luhmanns. A könnte B beispielsweise schlagen, wenn dieser nicht, wie erbeten, ihm das Buch reicht, oder er könnte schlicht seine große Enttäuschung ausdrücken. Luhmann nennt dies „die Möglichkeit einer konditionalen Verknüpfung der Kombination von Vermeidungsalternativen mit einer weniger negativ bewerteten Kombination von anderen Alternativen“.57 Dies ist der Kern der Macht in seinem Konzept. Um Macht und ihre Quellen zu verstehen, muss man demnach die Handlungsalternativen der beteiligten Parteien und die mit ihnen verbundenen Vor- und Nachteile vergleichen. Da diese Alternativen und ihre Effekte sich ständig ändern können, ist Macht nicht stabil, sondern kann sowohl in einer konkreten Beziehung wie auch als gesamtgesellschaftliches Aggregat sinken oder sich steigern. Luhmanns Machttheorie, obwohl sie explizit klassische Annahmen in Frage stellt, bricht keineswegs völlig mit sonstigen gängigen Machttheorien, sondern ist durchaus in wesentlichen Punkten mit ihnen kompatibel. Dies gilt insbesondere für ökonomische Behandlungen von Macht in Verhandlungssituationen. Ebenso wie Luhmann konzentrieren diese sich auf die Vergleiche 51

Luhmann, Macht (2012), 16. Luhmann, Macht (2012), 19. 53 Luhmann, Macht (2012), 20. 54 Luhmann, Macht (2012), 19. 55 Luhmann, Macht (2012), 33. 56 Luhmann, Macht (2012), 33. 57 Luhmann, Macht (2012), 31. 52

288

§ 7 Private Macht

von Vor- und Nachteilen bestimmter Handlungsoptionen. Adam Smith entwarf zwar kein eigenständiges Machtkonzept, aber diskutierte ausdrücklich, wie Handlungsalternativen Verhandlungspositionen bestimmen und es so manchen Akteuren ermöglichen, andere zu Handeln in ihrem Interesse zu veranlassen.58 Auch Sidney und Beatrice Webb widmeten sich ausführlich in ihren Ausführungen zum „Higgling of the Market“ der Frage, inwieweit ökonomische Handlungsoptionen in verschiedenen Konstellationen wirtschaftlichen Austauschs Verhandlungsmacht begründen.59 In der Spieltheorie schlug John Harsayni zur Analyse von Macht in Verhandlungssituationen vor, die Opportunitätskosten zu vergleichen, die A entstehen, wenn er seine „Macht“ ausübt, und B, wenn er nicht den Wünschen des A entsprechend handelt.60 Dies entspricht, wenn auch in anderer Terminologie, recht genau Luhmanns Ansatz – auch wenn dieser auf Grundlage seiner Begriffe der Kommunikation und der Kommunikationsmedien in Sachen theoretischer Komplexität darüber hinausgeht. Solche Übereinstimmungen mit ökonomischen Theorien sprechen jedenfalls für die Geeignetheit Luhmanns Ansatz zur Analyse vertraglicher Situationen, bei denen es schließlich primär um wirtschaftliche Kontexte geht. Bedeutsam ist, dass der Vergleich der Handlungsalternativen nicht eine objektive Bewertung darstellt, sondern von der konkreten Erwartungsperspektive der Parteien abhängt: „Die Unterscheidung ungünstiger/günstiger ist erwartungsabhängig und damit auch zeitpunktabhängig.“61 Bloße Annahmen potentieller Sanktionen können daher Macht begründen – „Reputation of power is power“, wie schon Hobbes befand.62 Luhmann führt nicht aus, wie genau Individuen ihre Präferenzen strukturieren, ordnen und abwägen würden. Man mag sich fragen, ob für Machtanalysen das Standardmodell der neoklassischen Ökonomik, der homo oeconomicus, also das auf rationale Effizienzmaximierung ausgerichtete Individuum, passend wäre, oder eher ein durch verhaltensökonomische Erkenntnisse angepasstes Modell. Da Luhmann sich der Analyse sozialer Systeme, nicht aber psychischer Systeme verschrieben hat,63 äußert er sich nicht näher in dieser Richtung. Jedenfalls schlägt er 58 Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), Book I, chapter 8. 59 S. Webb/B. Webb, Industrial Democracy (1897), Part III, chapter 2. 60 J.C. Harsanyi, Measurement of Social Power, Opportunity Costs, and the Theory of Two-Person Bargaining Games, 7 Behavioral Science (1962), 67. Von „Nichteinigungspunkten“ im Kontext eines ebenfalls spieltheoretischen Analyserasters sprechen Schmidtchen/Kirstein, Störung der Vertragsparität, in: Ott/Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse des Sozialschutzprinzips im Zivilrecht (2004), 1. 61 Luhmann, Macht (2012), 32. 62 Hobbes, Leviathan, or, The matter, forme, and power of a common wealth, ecclesiasticall and civil (1651), chapter 10, Rn. 5. 63 Dazu im Machtkontext Luhmann, Macht (2012), 12.

II. Macht und Vertragstheorie

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kein Modell zur Vereinfachung der Analyse der Handlungsalternativen vor. Nahe läge es darum in seinem Sinne wohl jedenfalls, von so realistischen Annahmen wie möglich auszugehen, um Macht angemessen zu erfassen. Dies hieße, nicht mit dem in jüngerer Zeit immer stärker in Frage gestellten Modell des homo oeconomicus zu arbeiten.64 Schlussendlich ist noch zu betonen, dass eine solche Untersuchung von Handlungsalternativen nur Sinn machen kann, soweit überhaupt Alternativen bestehen. Wird jemand durch den Einsatz physischen Zwangs gesteuert, wäre dies nicht mehr Macht im Sinne Luhmanns. Zwang ist also etwas anderes als Macht. „Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat [...].“65 Auch hierin stimmen mit Luhmann im Übrigen zahlreiche kontemporäre Machttheorien, namentlich Foucault, überein.66 Zusammenfassend kann man festhalten: Im Kontext einer Kommunikation zwischen zwei Personen kann die Handlungsselektion von A einen Einfluss auf die von B haben, da A über eine Handlungsalternative verfügt, welche B stärker vermeiden will als A. Eine Kommunikation und die entsprechenden Handlungsalternativen werden somit die wesentlichen Analyseeinheiten. Auf diese Weise kann man zwei Ebenen unterscheiden: „die genetischen und strukturellen Bedingungen der Konstitution von Macht als Potential und die strukturellen und situativen Bedingungen der Ausübung von Macht“.67 Ebenso kann man unterscheiden, warum Macht überhaupt besteht und welches die kommunizierten Inhalte (Selektionen) sind, in denen sie mitschwingt. Dies ist auch eine analytisch nützliche Unterscheidung, was Verträge und Vertragsrecht angeht, wie im Weiteren gezeigt werden soll.

II. Macht und Vertragstheorie II. Macht und Vertragstheorie

Die bisherigen allgemeinen machttheoretischen Erwägungen sollen im folgenden Abschnitt auf vertragliche Situationen hin konkretisiert werden. Die Untersuchung bleibt dabei auf einer theoretischen Ebene und bezieht sich noch nicht auf konkrete vertragsrechtliche Bestimmungen oder die Relevanz der EU-Grundrechte. Da Machtquellen in Vertragskontexten sowohl theore64 Für eine normative Begründung der Berücksichtigung der Erkenntnisse der behavioral economics s. P. Hacker, Overcoming the Knowledge Problem in Behavioral Law and Economics: Uncertainty, Decision Theory, and Autonomy (2015) – http://papers.ssrn.com/ sol3/papers.cfm?abstract_id=2632022. 65 Luhmann, Macht (2012), 30. 66 Foucault, The Subject and Power, 8 Critical Inquiry (1982), 777, 790: „Power is exercised only over free subjects, and only in so far as they are free.“ Ebenso Lukes, Power: A Radical View (2004); Scott, Power (2001), 2 f. 67 Luhmann, Macht (2012), 34.

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§ 7 Private Macht

tisch wie auch praktisch unendlich sind, kann es nicht darum gehen, alle Machtsituationen erschöpfend aufzuschlüsseln. Es soll aber versucht werden, typische Machtquellen und Strukturen im Umfeld von Verträgen aufzuzeigen. Um die komplexe Problematik von Macht und Verträgen besser zu verstehen und greifbarer zu machen, erscheint ein Modell beziehungsweise ein Analyseraster notwendig. In der Vertragstheorie haben sich Diskussionen von Macht vor allem auf die vorvertragliche Phase bezogen. Beispielsweise Böhms Erörterungen privater Macht beschäftigten sich primär mit dem Marktmechanismus, der schließlich gerade in der Aushandlungsphase greift. 68 In England wurde und wird unter dem Begriff der „inequality of bargaining power“ diskutiert, inwieweit ungleiche Verhandlungsmacht vor Vertragsschluss zur Unwirksamkeit von Verträgen führen kann.69 So hilfreich solche Analysen im Einzelnen auch sein mögen, sie zeichnen ein unvollständiges Bild – und dies dürfte vor allem mit klassischen Annahmen der Vertragstheorie zusammenhängen. Verträge wurden (und werden) gerade im theoretischen Bereich oft als einzeln abgeschlossene Transaktionen am Markt konzipiert – „sharp in by clear agreement; sharp out by clear performance“.70 Vertragsrecht wäre dann „designed to regulate marketplace transactions“.71 Ein großer Teil der Vertragsrechtswissenschaft und -theorie beschäftigt sich dementsprechend vor allem mit einem konkreten Zeitpunkt des Vertragsschlusses und kaum mit der Entwicklung vertraglicher Verhältnisse über einen Zeitraum. 72 Damit wird ein theoretisches Modell genutzt, das die Wirklichkeit sehr verkürzt widerspiegelt. Es kann zwar durchaus hilfreich sein, um eine Reihe von rechtlichökonomischen Zusammenhängen und Problemen zu behandeln, um sie nicht über-komplex zu machen. Gerade für eine Analyse von Machtverhältnissen ist es allerdings in entscheidender Hinsicht unzureichend. Wie schon oben unter § 1 I. 2. e) erörtert, sind Verträge häufig Teil komplexerer sozialer Be68

Böhm, Das Problem der privaten Macht, Die Justiz 1928, 324; ein anderes Beispiel aus dem deutschen Schrifttum ist Schmidtchen/Kirstein, Störung der Vertragsparität, in: Ott/Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse des Sozialschutzprinzips im Zivilrecht (2004), 1, 3 ff. 69 Auch wenn die Doktrin nie vollständig höchstrichterlich akzeptiert wurde, ist dies doch die bedeutendste Diskussion von Macht in der englischen Vertragsrechtsdogmatik; s. Lord Dennings Ausführungen in Lloyds Bank, Ltd. v Bundy (1975) QB 326; H. Beale, Inequality of Bargaining Power, 6 Oxford Journal of Legal Studies (1986), 123; S.N. Thal, The Inequlity of Bargaining Power Doctrine: The Problem of Defining Contractual Unfairness, 8 Oxford Journal of Legal Studies (1988), 17; Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006), 71 ff. 70 I. Macneil, The Many Futures of Contract, 47 Southern California Law Review (1974), 691, 739. 71 Brownsword, Contract law: themes for the twenty-first century (2006), 13. 72 Prominent z.B. Fried, Contract as promise: a theory of contractual obligation (1981); R.E. Barnett, A Consent Theory of Contract, 86 Columbia Law Review (1986), 269.

II. Macht und Vertragstheorie

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ziehungen, können selber über längere Zeit wirken und umfangreiche Rechte und Kompetenz-Regime errichten. Macht kann gerade auch nach dem Vertragsschluss auftreten und sich mit der Zeit und im Laufe einer vertraglichen Beziehung wandeln. Wer Macht nur vor dem Vertragsschluss analysiert, muss zwar nicht Unzutreffendes, aber sicherlich etwas allzu Unvollständiges sagen.73 Wie in § 1 erörtert, haben sich zwei verschiedene, wiewohl verknüpfte, vertragstheoretische Ansätze dem Problem der Unterkomplexität klassischer vertragstheoretischer Annahmen angenommen: der eine – relational contract – mit anthropoligisch-soziologischen, der andere – Governance – mit ökonomischen Methoden. So unterschied Macneil „discrete“ und „relational contracts“.74 Williamson entwickelte diesen Ansatz aus einer ökonomischen Perspektive weiter und entwarf eine dreistufige Typologie von Verträgen: Austauschverträge („spot contracts“), Langzeitverträge („long-term contracts“) und Hierarchien („hierarchies“).75 Dies verknüpfte er, wie in § 1 bereits angedeutet, mit ökonomischen Institutionen zwischen Markt („market“) und Unternehmen („firm“).76 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dieser Ansatz auch für die Beschäftigung mit Macht in Vertragsverhältnissen analytisch und heuristisch nützlich ist, insbesondere um typische Machtquellen zu identifizieren und zu differenzieren. Einsichten zum relational contract lassen sich integrieren. Einige zum Verständnis notwendige Grundlagen der Neuen Institutionenökonomik werden zunächst skizziert (1.). Anschließend werden innerhalb der damit beschriebenen Vertragstypen typische Muster der Macht beleuchtet (2.), in anderen Worten wird eine Kombination von Neuer Institutionenökonomik mit Systemtheorie versucht.

73

Vgl. auch Mak, The Lion, the Fox and the Workplace: Fundamental Rights and the Politics of Long-Term Contractual Relationships, in: Grundmann et al. (Hg.), The organizational contract: from exchange to long-term network cooperation in European contract law (2013), 97, die zwar Macht nach dem Vertragsschluss und den Zusammenhang mit Grundrechten anspricht, doch leider nicht über eine an der Oberfläche bleibende Erwähnung hinaus geht. 74 Macneil, The Many Futures of Contract, 47 Southern California Law Review (1974), 691; Macneil, Contracts: Adjustment of Long-Term Economic Relations under Classical, Neoclassical, and Relational Contract Law, 72 Northwestern University Law Review (1978), 854. 75 Juristisch aufgegriffen in jüngerer Zeit z.B. von Grundmann et al. (Hg.),Contract Governance (2015); S. Grundmann et al., The organizational contract: from exchange to longterm network cooperation in European contract law (2013). 76 Überblick bei Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1; grundlegend Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233.

292

§ 7 Private Macht

1. Vertragstypen aus Sicht der Neuen Institutionenökonomik a) Ökonomischer Hintergrund Vertreter der Neuen Institutionenökonomik beschäftigen sich mit den institutionellen Strukturen des kapitalistischen Wirtschaftssystems.77 Die grundsätzlichen, auch ohne weiteres erkennbaren Institutionen sind Markt und Unternehmen. Man kann ein Gut entweder am Markt erwerben oder es, innerhalb des Unternehmens, selbst erschaffen. 1937 schlug Ronald Coase eine neue Erklärung dafür vor, warum die eine oder andere Institution gewählt wird: Seiner Ansicht nach lag der entscheidende Grund in Transaktionskosten.78 Klassische ökonomische Theorien hatten diese Posten ignoriert; seit Coase’ Text sind sie zum Kernbegriff der Neuen Institutionenökonomie geworden.79 Nach einiger Zeit relativ geringer Aufmerksamt schaffte es diese Ansatz in den 1970er Jahren in den Vordergrund ökonomischer Debatten – mit den Arbeiten Oliver Williamsons und anderer.80 Williamson stellte drei Charakteristika von Transaktionen heraus, die sich entscheidend auf Transaktionskosten auswirkten und damit die institutionelle Struktur von Transaktionen bestimmten. Dies seien Häufigkeit („frequency“), Unsicherheit („uncertainty“) und die Spezifizität der Investitionen („asset specificity“). Hohe Transaktionskosten, die sich aus diesen Faktoren ergeben können, können die Entstehung von Märkten begrenzen oder ganz verhindern.81 Was die resultierenden Institutionen angeht, ging Williamson über das binäre Schema von market und firm hinaus und argumentierte, dass ein Kontinuum zwischen diesen beiden existierte, mit Hybriden in der Mitte. Die verschiedenen Transaktionscharakteristika begründen unterschiedliche ökonomische Dynamiken zwischen diesen Institutionen, die auch machtanalytisch bedeutsam sind. Bevor diese Institutionen näher vorgestellt werden, sind also noch einige Bemerkungen zu den genannten Transaktionscharakteristika angebracht. Was 77 Das ist keine kritische Einordnung (wie im Deutschen „Kapitalismus“ für manche einen schlechteren Klang haben mag als „Marktwirtschaft“), sondern entspricht dem Titel eines zentralen Werkes Williamsons: Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985). Von „Marktwirtschaft“ zu reden würde auch gerade der differenzierten Sichtweise der Institutionenökonomie nicht entsprechen. 78 Coase, The Nature of the Firm, 4 Econometrica (1937), 386. 79 Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1. Die Analyseeinheit der Transaktion findet sich zum ersten Mal bei J.R. Commons, Institutional Economics, 21 American Economic Review (1931), 648. 80 Namentlich Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications (1975); Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233. 81 K. Arrow, The Organization of Economic Activity: Issues Pertinent to the Choice of Market versus Nonmarket Allocation, in: U.J.E. Committee (Hg.), The Analysis and Evaluation of Public Expenditure: The PPB system (1969), Vol. 1, 47, 48.

II. Macht und Vertragstheorie

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Häufigkeit als Charakteristik angeht, ist dies relativ selbst erklärend: Manche Transaktionen sind singulär, viele geschehen aber gelegentlich oder ständig wiederkehrend zwischen den gleichen Akteuren. 82 Was die Unsicherheit betrifft, so meint dies, dass Menschen zum Zeitpunkt einer Transaktion oft unvollständiges Wissen über die Zukunft haben, und zwar gerade auch, was für den Austausch relevante Faktoren angeht (zum Beispiel Energiekosten, Nachfrage von Dritten, regulatives und politisches Umfeld). Außerdem agieren Menschen, wie verhaltenspsychologische und verhaltensökonomische Forschungen ergeben haben, regelmäßig nicht vollständig rational, selbst wenn sie dies anstreben.83 Wie bereits unter § 1 angesprochen, sind daher „[a]ll complex contracts [...] unavoidably incomplete“.84 Schlussendlich die asset specificity: Sie meint, dass eine Transaktion eine Partei veranlassen kann, spezifische Investitionen zu unternehmen – in physisches wie auch in menschliches Kapital. Eine Produktionsstätte für bestimmte Autoteile kann z.B. nicht ohne größere Kosten für die Produktion anderer Autoteile oder sonstiger Produkte angepasst werden. Ausbildung, Expertise und Erfahrung sind häufig auf bestimmte Sektoren, Positionen und sogar Beziehungen beschränkt. Folglich sind solche spezifischen Investitionen für andere Transaktionen weniger nützlich als für den konkreten Zweck, für den sie unternommen wurden. Diese drei Transaktionscharakteristika führen Williamson zufolge zu verschiedenen Institutionen: b) Märkte, Hybride, Unternehmen Die einfachste und wohl am häufigsten erwähnte Governance-Institution ist der Markt. Mittels spot contracts (Austauschverträgen) tauschen Individuen Güter, Dienstleitungen und Geld aus, und zwar sofort und vollständig im Zeitpunkt der Einigung. Der Markt wird als besonders geeignet angesehen für Transaktionen, bei denen weder Unsicherheit noch asset specificity bestehen.85 Für solche Transaktionen sind die klassische Vertragstheorie und das 82

Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 247. 83 Grundlegend H.A. Simon, A Behavioral Model of Rational Choice, 69 The Quarterly Journal of Economics (1955), 99; D. Kahneman/A. Tversky, Judgment under Uncertainty – Heuristics and Biases, 185 Science (1974), 1124; für rechtliche Implikationen s. z.B. einerseits C. Jolls et al., A Behavioral Approach to Law and Economics, 50 Stanford Law Review (1998), 1471 und andererseits J.D. Wright/D.H. Ginsburg, Behavioral Law and Economics: Its Origins, Fatal Flaws, and Implications for Liberty, 106 Northwestern University Law Review (2012), 1033. 84 Williamson, The Theory of the Firm as Governance Structure: From Choice to Contract, 16 The Journal of Economic Perspectives (2002), 171; Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), 70 ff. 85 Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 248.

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entsprechende Vertragsrechtsdenken laut Williamson geeignete Ansätze. 86 Der Brotkauf eines Verbrauchers beim Bäcker verlangt weder spezifische Investitionen noch besteht Unsicherheit über zukünftige Entwicklungen. Aus gängiger ökonomischer Sicht ist der Markt in solchen Fällen die effizienteste Institution, insbesondere da er die höchsten Anreize biete (jeder ist unmittelbar für seinen eigenen Vorteil tätig) und mit dem Preismechanismus, basierend auf Angebot und Nachfrage, ein wirkungsvolles Informationsinstrument besitzt.87 Allgemein gehen die Hauptvertreter der Neuen Institutionenökonomik davon aus, dass Effizienzmaximierung die treibende Kraft hinter der den tatsächlich bestehenden Institution sei – sei es, weil man von effizienzmaximierenden Akteuren ausgeht oder weil sich evolutionär die effizientesten Transaktionsformen durchsetzten. Inwieweit diese Annahme im Detail der Wirklichkeit entspricht oder auch andere Faktoren zur institutionellen Erscheinungsform beitragen, muss an dieser Stelle nicht hinterfragt werden. Es genügt für die Zwecke der Machtanalyse, deskriptiv verschiedene Institutionen aufzuzeigen und Transaktionscharakteristika zu skizzieren, um ein grundlegendes Analyseraster zu erhalten. Es ist nicht notwendig den Effizienzmonismus mit in die Analyse zu übernehmen beziehungsweise zu behaupten, dass nicht auch andere Faktoren eine Rolle spielen können.88 Reine Markt-Governance ist problematisch, sobald Transaktionen komplexer und kooperative Anpassungen notwendig werden. Dies kann vor allem in sich wiederholenden Transaktionen der Fall sein, in denen eine der Parteien spezifische Investitionen gemacht hat.89 In solchen Situationen kann diese Partei nicht ohne Weiteres zu Wettbewerbern der anderen Partei wechseln, selbst wenn dies zu Beginn einmal anders war – es entsteht eine Art bilaterales Monopol („bilateral monopoly“).90 Es kann außerdem bei Transaktionen, die sich über längere Zeit erstrecken, zu Beginn sinnvoll (effizient) sein, manche Entscheidung in die Zukunft zu verlagern, wenn die Bedürfnisse beider Seiten sich konkretisiert haben. In solchen Situationen ergeben sich hybride Governance-Formen. Williamson spricht nicht mehr von spot 86

Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 248. 87 Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 248; Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1, 7. 88 Auch Kritiker wie Granovetter behaupten schließlich nicht, dass Effizienz gar keine Rolle spiele, sondern lediglich, dass sie nicht alles sei – Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, 91 American Journal of Sociology (1985), 481, 502 ff. 89 Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1, 7; Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 239. 90 Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 241.

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contracts, sondern von long-term contracts – Langzeitverträgen. 91 Solche Verträge können Bestimmungen zum Schutz von Investitionen enthalten, etwa über lange Kündigungsfristen oder Vorauszahlungspflichten. Auch kann Dritten oder einer der Vertragsparteien die Kompetenz eingeräumt werden, gewisse Vertragsbedingungen einseitig festzulegen oder in einem bestimmten Prozess eine aktualisierte Einigung herbeizuführen.92 Reale Beispiele solcher Governance-Strukturen sind so vielseitig wie zahlreich: Darunter fallen Franchise-Verträge, Rahmenverträge für Lieferungen über einen längeren Zeitraum oder auch Handelsvertreter-Verträge. Verschiedene solcher Vertragsverhältnisse zusammen können Netzwerke ergeben.93 Der institutionelle Gegensatz zum Markt ist das Unternehmen, also eine hierarchische Governance-Struktur (hierarchy). Transaktionen werden dabei ganz vom Markt genommen – ein Unternehmen erwirbt ein Produkt oder eine Leistung nicht am Markt, sondern schafft es beziehungsweise erbringt sie selbst. Die Gründe hierfür sind im Ausgangspunkt ähnlich wie im Fall von Hybriden, gehen in ihrer Intensität aber darüber hinaus. 94 Bei besonderen Unsicherheiten bieten Unternehmen etwa den Vorteil, dass es einfacher wird auf Veränderungen der angrenzenden Märkte zu reagieren.95 Werden spezifische Investitionen so groß, dass selbst Hybride die Problematiken nicht zu verarbeiten vermögen, kann die Internalisierung in Unternehmen die fraglichen Transaktionen ermöglichen. In einer firm findet die Transaktion nicht mehr zwischen zwei unabhängigen Akteuren statt, sondern es wird innerhalb einer geschlossenen Struktur ein Über-Unterordnungs-Verhältnis errichtet. Häufig wird sie daher auch nicht einfach als Institution begriffen, die durch einen einzelnen Vertragsschluss errichtet wird, sondern vielmehr als „nexus of contracts“, zu dem man den Gesellschaftsvertrag/die Satzung, Verträge mit Vorstand oder Geschäftsführern, Arbeitsverträge und interne Organisationsstrukturen zählen kann.96

91 Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 249; Williamson, The Economics of Governance, 95 The American Economic Review (2005), 1, 7. 92 Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 249 ff. 93 Dazu etwa die Beiträge in Grundmann et al., The organizational contract: from exchange to long-term network cooperation in European contract law (2013). 94 Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 252. 95 Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), chapter 4; H. Collins, Market Power, Bureaucratic Power, and the Contract of Employment, 15 Industrial Law Journal (1986), 1, 9. 96 Grundlegend zu dieser Sichtweise M.C. Jensen/W.H. Meckling, Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Costs and Ownership Structure, 3 Journal of Financial Economics (1976), 305.

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In der bisher skizzierten Typologie von Institutionen (market, hybrid, firm) und entsprechenden Verträgen (spot contract, long term contract, hierarchy), war indes von Macht noch nicht die Rede. Dies hängt auch damit zusammen, dass etwa Williamson, selbst was die Entstehung von Hierarchien angeht, gegen die Relevanz von Macht argumentiert.97 Auch ist er der Ansicht, dass „ownership is only weaky related to hierarchy“.98 Dies braucht jedoch nicht zu bedeuten, dass die institutionenökonomische Typologie nicht als Grundlage für Machtanalysen genutzt und in diese Richtung fortentwickelt werden könnte. Dass Williamson Macht als Grund für die Entstehung bestimmter Institutionen ablehnt, sagt auch nichts darüber aus, inwieweit bestimmte Institutionen und ökonomische Dynamiken zu Macht führen können. Letzteres ist der Interessenschwerpunkt in diesem Abschnitt dieser Arbeit, und hierfür lässt sich behaupten, dass Erkenntnisse der Neuen Institutionenökonomik sehr nützlich sind. Die skizzierten Transaktionscharakteristika sind nämlich nicht nur relevant für Transaktionskosten, sondern auch für Macht in diesen Transaktionen. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. 2. Typische Machtstrukturen in Vertragsverhältnissen Dieser Abschnitt beginnt mit einer Untersuchung von Macht und Austauschverträgen, um dann Langzeitverträge und schließlich Hierarchien zu analysieren, und sich auf diese Weise vom Markt-Ende des Kontinuums hin zum Unternehmen zu bewegen. Während in der Diskussion des ersten Vertragstyps Macht in der vorvertraglichen Phase die Erörterung bestimmt, zeigt sich bei den folgenden, dass das Machtpotential nach dem Vertragsschluss, der „fundamental transformation“, wie Williamson sie nennt,99 wesentlich größer ist.

97 Kritisch dazu etwa Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, 91 American Journal of Sociology (1985), 481, 501. 98 Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), 239. Max Weber, auf der anderen Seite, war der Ansicht dass Ressourcen ein wesentlicher Grund für die Entstehung hierarchischer (Arbeits)Verhältnisse überhaupt sind – für eine Diskussion dieser Positionen s. Collins, Regulating contracts (2002), 225 ff. Williamson kritisiert Macht übrigens als „concept [...] so poorly defined that [it] can be invoked to explain virtually anything. [...] A serious effort at operationalization is greatly needed if power ist o be properly evaluated.“ – Williamson, The Economic Institutions of Capitalism (1985), 238. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand kann man hierzu sagen, dass mit der Wahl des ökonomisch angereicherten Luhmannschen Konzeptes gerade ein spezifisches Machtkonzept gewählt wird – und nicht ein bouquet verschiedener Machttheorien –, um diesem Einwand zu entgehen. 99 Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications (1975), 61 ff.

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a) Austauschverträge Austauschverträge sind die einfachste Vertragsart und daher ein sinnvoller Ausgangspunkt für die Analyse. Da die Phase nach Vertragsschluss (und sofortigem Austausch) von geringer Bedeutung ist, 100 kann man sich auf Macht vor und beim Vertragsschluss konzentrieren. Insoweit stimmt der Ansatz mit Annahmen klassischer Vertragstheorie überein. Die Herangehensweise ist jedoch insofern anders, als dass ausdrücklich der Luhmannsche Machtbegriff angewandt wird. Um Einflusspotentiale festzustellen, die Macht ausmachen könnten, muss man sich mit Handlungsalternativen befassen, das heißt mit Sanktionen, die A gegenüber B zustehen. Was Sanktionen in der vorvertraglichen Phase angeht, scheint es nützlich, zwischen der Sanktion, schlicht keinen Vertrag abzuschließen, und allen sonstigen Sanktionen zu unterscheiden.101 In anderen Worten, wenn B nicht As Angebot (seine Handlungsselektion) annimmt, könnte A etwa den konkreten Vertragsschluss ganz verweigern oder eine andere Maßnahme ergreifen, die B eher vermeiden wollte als er. Letzteres könnte beispielsweise darin bestehen, unwillkommene Informationen öffentlich zu machen oder gar Strafanzeige zu erstatten. Ein wichtiges praktisches Beispiel aus dem deutschen Kontext der Grundrechtswirkung im Privatrecht sind auch Verwandtenbürgschaften. Verlangt etwa eine Bank A von B eine Bürgschaftserklärung abzugeben, wenn durch einen Kredit das Unternehmen des Vaters (des Mannes, der Frau) solvent gehalten werden soll, so geschieht dies in einer Situation, in der A gegenüber B eine Sanktion zusteht, wenn B die Fortführung des Unternehmens beziehungsweise das familiäre Verhältnis am Herzen liegt.102 Das Problem mit solchen „allen sonstigen Sanktionen“ ist, dass die Möglichkeiten hierfür besonders vielseitig sind, teilweise einfach einer Erpressung gleichen können und sich so-

100 Sieht man einmal von etwaiger Mängelgewährleistung ab, ist die Transaktion erledigt. Um eine Analyse der Kernprobleme zu ermöglichen, soll diese hier nicht weiter behandelt werden; vgl. dazu auch K. Riesenhuber, Private Macht im Vertragsrecht – Langzeitverträge, in: F. Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter I. 2. 101 Nach Luhmann wäre die Verweigerung eines Vertragsschlusses nur dann eine Sanktion, wenn wenigstens eine Erwartung bestände, dass ein Vertrag abgeschlossen würde und diese damit ggf. enttäuscht – Luhmann, Macht (2012), 31 f. Im Folgenden wird angenommen, dass der Nicht-Vertragsschluss jedenfalls potenziell eine Sanktion darstellen kann. Ebenso Renner, Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie, in: Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter III.2. Für ein weiteres Verständnis von Sanktionen in der Systemtheorie im Übrigen C. Borch, Systemic Power. Luhmann, Foucault, and Analytics of Power, Acta Sociologica 2005, 155. 102 Für Beispiele aus der Rechtsprechung s. etwa BVerfGE 89, 214 (Bürgschaftsfall) – Unternehmen des Vaters; Barclays Bank plc v O’Brien [1994] 1 AC 180 – Unternehmen des Ehemannes.

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mit von den eigentlichen vertragsrechtlichen Problemen entfernen.103 Es muss daher an dieser Stelle genügen, diese Möglichkeiten anzudeuten, ohne sie im Einzelnen verfolgen und ausdifferenzieren zu können. In der Vielzahl der Verträge relevanter und gleichzeitig schwieriger zu begründen ist die Frage, wann die schlichte Verweigerung eines vertraglichen Austausches eine Sanktion darstellen kann. Mit dieser Frage geht es um den Kern dessen, was man häufig als bargaining power, als Verhandlungsmacht bezeichnet. Wie weit würde B gehen, um einen Vertrag abzuschließen? Dies hängt von den Alternativen zur Transaktion mit A ab – diese Alternativen bestimmen, ob der Nicht-Vertragsschluss eine Sanktion wäre.104 Um diese Thematik wird es im Folgenden zunächst gehen. aa) Bedeutung vollkommenen Wettbewerbs Nach einer häufig zitierten Aussage ist „the essense of perfect competition [...] the utter dispersion of power“.105 Dies heißt nicht etwa, dass aufgrund des Wettbewerbsmechanismus am Markt kein Akteur Macht über andere hat.106 Genau genommen bedeutet es lediglich, dass Macht nur in Situationen vollkommenen Wettbewerbs abwesend ist. Dies erscheint grundsätzlich überzeugend. Bei vollkommenem Wettbewerb kann niemand Preise und Bedingungen diktieren, denn diese ergeben sich aus den Marktkräften, aus Angebot und Nachfrage. Einen Vertrag mit dem Inhalt des Angebots des A nicht zu schließen wäre aus Bs Sicht nicht weiter tragisch, denn er könnte beispielsweise das von ihm gesuchte Produkt von einem Wettbewerber zum kompetitiven Preis erwerben. Funktionierender Wettbewerb schafft in diesem Sinne Handlungsalternativen, und diese Handlungsalternativen bedeuten, dass A keine Sanktion gegenüber B zur Verfügung steht. Insofern ist die Betonung 103 R.L. Hale, Bargaining, Duress, and Economic Liberty, 43 Columbia Law Review (1943), 603, 612 diskutiert verschiedene Formen von Drohungen und die Reaktionen des Rechts. Er vernachlässigt aber die wichtige Unterscheidung zwischen dem NichtVertragsschluss als solchem und allen sonstigen Sanktionen. 104 Zum Nichtvertragsschluss als „Ausweichmöglichkeit“ auch Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 47 mit Fn. 73; Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur et al. (Hg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser (1974), 3, 14. 105 G.J. Stigler, Competition, in: D.L. Sills (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences (1968), 181. 106 Innerhalb der Ökonomik spielt Macht jedoch eine verhältnismäßig geringe Rolle. Dies mag mit der immer noch wirkmächtigen Modell-Annahme vollkommenen Wettbewerbs zusammenhängen – s. dazu K.W. Rothschild, The Absence of Power in Contemporary Economic Theory, 31 The Journal of Socio-Economics (2002), 433; E. Furubotn/R. Richter, Institutions & Economic Theory (2005), 186 ff. Beispielsweise das ÜberblicksWerk E. Brousseau/J.-M. Glachant (Hg.), New Institutional Economics (2008) enthält noch nicht einmal den Begriff „power“ im Index.

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der Bedeutung des Kartellrechts durch Böhm einleuchtend: Solange es vollkommenen Wettbewerb schaffte, würde es jedenfalls im Grundsatz keine Macht privater Akteure auf dem Markt geben.107 Berücksichtigt man allerdings neuere ökonomische Erkenntnisse, insbesondere auch die der Institutionenökonomik, muss man für die Machtanalyse von der Idee vollkommenen Wettbewerbs zur Realität unvollkommenen Wettbewerbs übergehen. Trotz Kartellrecht können Marktstrukturen unvollkommen, Informationen unvollständig und Rationalität begrenzt sein sowie Transaktionskosten diverser Ursprünge existieren.108 All diese Faktoren sind relevant für Macht, denn sie können zu Situationen führen, in denen B das Ausbleiben eines Vertragsschlusses eher vermeiden will als A.109 Preise und Bedingungen werden dann nicht mehr von unsichtbaren Marktkräften in einem großen Zusammenfluss allgemeiner Dynamiken gebildet, sondern zahlreiche Akteure können sich in einer Position befinden, in der es ihnen möglich ist, Preise und Bedingungen nach ihren Vorstellungen festzulegen.110 Das offensichtlichste Beispiel wäre ein Monopol, also eine besonders unvollkommene Marktstruktur. In diesem Fall kann B nur mit dem Monopolisten A ins Geschäft kommen, wenn er ein bestimmtes Gut erwerben will, während A seinerseits auch mit zahlreichen anderen Interessenten handeln könnte. Auch wenn man davon ausgeht, dass A sehr wohl ein Interesse an einem Vertragsschluss haben kann, so würde doch B den Nicht-Vertragsschluss in der Regel eher vermeiden wollen als A, der seine einzige Quelle für das gewünschte Gut ist. Die würde den Nicht-Vertragsschluss zu einer Sanktion im Sinne der Luhmannschen Terminologie machen. Ginge man von einem Weberschen Machtverständnis aus, könnte man hier von „Herrschaft kraft Interessenkonstellation“ sprechen.111 Auch Böhm bezog sich in seinen Diskussionen der Macht im Übrige gerade auf solche Macht des Monopolisten.112

107 Z.B. Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht (1960), 1, 22 f.; im Anschluss daran etwa Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 47 f. 108 Zu dieser Liste von Unvollkommenheiten Grundmann, European Contract Law(s) of What Colour?, 1 European Review of Contract Law (2005), 184, 196. 109 Nicht notwendig ist es, diese Sanktionen in absoluten Werten auszudrücken – es reicht schlicht, die Interessen an der Vermeidung von Handlungen zu vergleichen, also relativ zu betrachten. 110 Zu der These, dass Preise sich bisweilen nicht aus Marktkräften ergeben, sondern „administered“ werden s. den Überblick bei F.S. Lee, Post Keynsian Price Theory (1999). 111 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 542. 112 z.B. Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht (1960), 1, 3 ff.; Böhm, Das Problem der privaten Macht, Die Justiz 1928, 324.

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Selbst bei vollkommenen Marktstrukturen (etwa aufgrund einer herkulisch agierenden Kartellbehörde)113 sind aber in der Realität keineswegs alle Annahmen der Theorie vollkommenen Wettbewerbs erfüllt, und Macht damit nicht aus der Welt. Insbesondere können informationelle Ungleichgewichte Macht begründen. Man nehme etwa das klassische Beispiel der Nahrungslieferung auf eine Insel, auf der eine Hungersnot herrscht. Ein sich nähernder Lieferant weiß, dass hinter ihm weitere Schiffe kommen und ebenfalls Lebensmittel an Bord haben. Der hungernde Insulaner, B, nicht wissend um die später heranrückenden Angebote, würde den Nicht-Vertragsschluss eher vermeiden wollen als der Lieferant, der weiß, dass er seine Produkte alternativ auch an andere Interessenten mit Gewinn veräußern könnte. Ebenso könnte in einem anderen Beispiel der Verbraucher B annehmen, dass As Produkte von besonders hoher Qualität sind, während Unternehmer A weiß, dass dies nicht der Fall ist, und ihm außerdem Bs unzutreffende Annahme bekannt ist. In diesem Fall würde B wiederum den Nicht-Vertragsschluss eher vermeiden wollen als A, da er die Kosten und Nutzen im Vergleich zu anderen möglichen Transaktionen (anders als A) falsch einschätzt. Des Weiteren können zeitliche Dringlichkeiten zu Macht führen. Braucht B beispielsweise sofort ein neues Fenster, um seine Fabrik vor Regen zu schützen, kann dies Verhandlungsmacht auf Seiten des A mit sich bringen.114 Für die Dringlichkeit im Allgemeinen können auch Ressourcen eine bedeutende Rolle spielen. Gehen in langwierigen Verhandlungen die Vorräte einer Partei zur Neige, ist sie in naher Zukunft auf einen Erwerb neuer Produkte angewiesen. Schwindende Ressourcen begründen dann Dringlichkeit, die wiederum die Balance von Handlungsalternativen so verschieben kann, dass Macht entsteht. Andererseits sind allgemeine Ressourcenungleichgewichte oder Vermögensverhältnisse keineswegs immer relevant für Machtverhältnisse. Erwägt etwa ein Verbraucher B einen zweiten Fernseher von einem milliardenschweren multinationalen Unternehmen A zu erwerben, so können die sehr unterschiedlichen Ressourcen der beiden Parteien im konkreten Fall gänzlich irrelevant sein. Dem Verbraucher können beispielsweise zahlreiche alternative Angebote von Wettbewerbern des A zur Verfügung stehen, während sich A vielleicht händeringend bei schlechter Geschäftslage um jeden Abnehmer bemüht. Insofern kommt es eben gerade auf funktionierenden Wettbewerb an.115 Vermögen im Allgemeinen ist daher nicht stets an sich eine Machtquelle in Vertragsverhandlungen, sondern kann es nur aufgrund hinzutretender Umstände werden. 113

Parallel zu Ronald Dworkins Idee des herkulischen Richters, s. Dworkin, Taking rights seriously (1977), 105 ff. 114 Wenn man etwa davon ausgeht, dass ein Verhandeln mit oder Aufsuchen von As Wettbewerben aus Zeitgründen nicht möglich wäre. 115 So auch schon Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (1947), 314.

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Als Schlussfolgerung all dieser Beispiele lässt sich sagen, dass vollkommener Wettbewerb tatsächlich ein wirksames „Entmachtungsinstrument“ darstellen kann, seine zahlreichen Unvollkommenheiten in der Realität allerdings sehr wohl Machtpotenziale begründen. Erkenntnisse über Marktversagen- und Marktunvollkommenheiten können in diesem Sinne auch viel über Macht in der Institution Markt und der vorvertraglichen Phase aussagen. bb) Allgemeine Geschäftsbedingungen Besonders im Bereich der Verbraucherverträge (wenn auch nicht nur dort) ist es bedeutsam, zwischen Preis und sonstigen Bedingungen eines Vertrages zu unterscheiden. Nach der bisherigen Erörterung könnte man sie einfach als unterschiedliche Kommunikationsinhalte im Luhmannschen Sinne einordnen, die in gleicher Weise das Verhalten des B aufgrund etwaiger Sanktionen beeinflussen können. Dieser Unterschied hat allerdings eine weiterreichende Bedeutung. Wie weithin bekannt, haben allgemeine Geschäftsbedingungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die reale Landschaft der Verträge gründlich umgekrempelt. Seit den 1930er Jahren sind sie zu einem Thema der Vertragsrechtswissenschaft geworden. Als „contracts of adhesion“ schienen und scheinen sie schwer vereinbar mit dem Ideal der selbstbestimmten Entscheidung zu Verträgen, und manche Autoren haben sie ausdrücklich als Machtinstrumente eingestuft.116 Über allgemeine Geschäftsbedingungen kann A die Konditionen eines Vertrages detailliert festlegen, und B muss sie annehmen oder von einem Vertragsschluss mit A ganz absehen. Ausgehend vom Machtbegriff Luhmanns, wäre dies an sich allerdings noch nicht ausreichend, um schon von Macht zu sprechen. A könnte durchaus ein höheres Interesse an einer bestimmten Transaktion haben – keinen Vertrag zu schließen wäre dann, wenn überhaupt, eine Sanktion für A, nicht aber für B. Von einer ökonomischen Perspektive aus könnte man auch argumentieren, dass A nicht aus Machtinteressen AGB nutzt, sondern dies schlicht effizient (und somit gesamtwirtschaftlich vorteilhaft) ist, da es Transaktionskosten spart.117 AGB sparen Zeit und Aufwand des Verhandelns, vereinfachen Kalkulationen, beispielsweise von Risiken, und können Sicherheit über Vertragspflichten und -rechte schaffen. Nichtsdestotrotz kann man auch auf Grundlage der Theorie Luhmanns allgemeine Geschäftsbedingungen in einen spezifischen Zusammenhang mit Macht bringen. Dies liegt daran, dass es grundsätzlich keinen funktionierenden Markt für Vertragsbedingungen (mar-

116 Kessler, Contracts of Adhesion – Some Thoughts about Freedom of Contract, 43 Columbia Law Review (1943), 629; grundlegend in der deutschen Rechtswissenschaft L. Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen (1935). 117 Dazu z.B. Collins, Regulating contracts (2002), 228 ff.

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ket for terms) gibt.118 Dies ist eine praktisch eminent bedeutsame Abweichung vom Modell vollständigen Wettbewerbs. Insbesondere Verbraucher vergleichen in der Regel keine Geschäftsbedingungen verschiedener Anbieter, sondern entscheiden lediglich nach Preis und Qualität, so sie denn überhaupt vergleichen. Wird im Anschluss an eine solche Entscheidung für ein Produkt ihre Zustimmung zu AGB verlangt (sei es online oder an der Kasse), geschieht dies in einer Situation, in der sie bereits eine klare Präferenz für das jeweilige Produkt haben. Der Inhalt der AGB ist ihnen in der Regel relativ gleichgültig. Sie ziehen die Annahme der AGB (also der Handlungsselektion des Unternehmens) daher der Alternative vor, sie abzulehnen und damit gar keinen Vertrag abzuschließen. Verhandlungen über bestimmte Klauseln geschehen in aller Regel nicht, sei es, weil es dem Verbraucher an Expertise fehlt,119 sei es, weil das Unternehmen dies einfach ablehnt. Das Unternehmen würde in der Regel eher keinen Vertrag schließen als die Vertragsbedingungen zu ändern – auch wenn man davon ausgeht, dass es an dem Vertragsschluss ebenfalls ein Interesse hat. Das zuständige Personal ist oft weit entfernt von den Verkaufsflächen, regelmäßig können es auch externe Anwälte gewesen sein, welche die Bedingungen entworfen haben. Aus diesen Gründen wird die Alternative keinen Vertrag zu schließen für den anderen Teil (insbesondere Verbraucher) eine Sanktion, und somit wirkt durch die Vorgabe von AGB Macht als Kommunikationsmedium. An dieser Stelle kann man auch noch einmal auf den oben genannten Ansatz von Bachrach und Baratz verweisen: Mit AGB trifft der Steller die Entscheidungen, bestimmte Vertragsparameter nicht weiter in einzelnen Transaktionen verhandeln zu wollen, trifft also eine Entscheidung, später nicht mehr zu entscheiden. Auch nach Bachrach/Baratz machttheoretischem Ansatz wäre hier also Macht relevant. Bemerkt werden sollte schlussendlich außerdem, dass AGB nicht nur in der Verhandlungsphase für Austauschverträge bedeutsam sind. Die Regulierung der Langzeiteffekte von AGB wird unten noch behandelt werden.120 cc) Vertragspflichten als Machtquellen Im Falle des sofortigen Austausch bei einfachen Transaktionen erlöschen die Vertragspflichten so gut wie im gleichen Moment, in dem sie entstehen. Die Frage, ob Vertragspflichten Macht begründen, stellt sich dann nicht. Liegt 118

Dies bemerkte schon Kessler, Contracts of Adhesion – Some Thoughts about Freedom of Contract, 43 Columbia Law Review (1943), 629; ähnlich aus jüngerer Zeit Collins, Regulating contracts (2002), 228; J. Basedow, in: Münchener Kommentar (2012), Rn. 5; teils kritisch Leuschner, Gebotenheit und Grenzen der AGB-Kontrolle, AcP 207 (2007), 491. 119 Die Aneignung von Expertise wäre aus Transaktionskostengesichtspunkten auch wenig sinnvoll. 120 § 7 III. b).

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zwischen Vertragsschluss und Güteraustausch allerdings ein nennenswerter Zeitraum, kann man erwägen, Vertragspflichten als Machtquellen einzustufen. Schließlich kann A von B Erfüllung des Vertrages verlangen unter der Androhung der Sanktion, sie gerichtlich und schlussendlich per Gerichtsvollzieher durchsetzen zu lassen. Hier von Macht zu sprechen ist mit den Argumenten abgelehnt worden, dies erscheine künstlich („gezwungen“) 121 und mache den Begriff der Macht bedeutungslos.122 Wenn man allerdings einen stringenten und einheitlichen Machtbegriff nutzen will, scheint es kaum einen Weg darum herum zu geben.123 Jedenfalls nach allen gängigen sozialwissenschaftlichen Definitionen des Begriffs läge im Falle der Möglichkeit, ein Verhalten (auch gegen Widerstand) durchzusetzen, Macht vor. Schließlich ist es gerade charakteristisch für eine privatrechtliche Rechtspflicht, dass sie auf den Willen eines Privaten hin mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden kann.124 Luhmann führt ausdrücklich aus: „So muss vor allem der Vertrag begriffen werden als Instrument der zuverlässigen Indienstnahme unprogrammierter politischer Macht für unpolitische (‚private’) Zwecke.“125 Eine andere Frage ist freilich, inwieweit eine solche deskriptive Feststellung von Macht normativ relevant und damit insbesondere für den juristischen Diskurs von Bedeutung ist. Hierauf soll erst später zurückgekommen werden. Auf einer deskriptiven Ebene ist festzustellen, dass eine Dezentralisierung ökonomischer Planung mittels des marktwirtschaftlichen Mechanismus’ kombiniert mit der staatlichen Durchsetzung von Vertragspflichten notwendigerweise die Dezentralisierung, nicht die Auflösung von Machtpositionen mit sich bringt. b) Langzeitverträge Langzeitverträge sind, ebenso wie Austauschverträge, das Resultat von Verhandlungspositionen, Alternativen, Informationen und Bedürfnissen. Was im vorigen Abschnitt zur vorvertraglichen Phase ausgeführt wurde, trifft ebenso für Langzeitverträge zu – der Inhalt eines Vertrages spiegelt die Machtverhältnisse eines bestimmten Zeitpunkts wieder. Der wesentliche Unterschied im Fall von long-term contracts ist allerdings die längere Beziehung, die sich aus ihnen notwendig ergibt. Macht ist nicht bloß in einem Vertragsschluss kondensiert, sondern kann sich im Laufe dieser Beziehung entwickeln. Es 121

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972),

542.

122

Riesenhuber, Private Macht im Vertragsrecht – Langzeitverträge, in: Möslein (Hg.), Private Macht (2016), im Erscheinen, unter I. 4. b). 123 Ebenso Luhmann, Macht (2012), 106; außerdem etwa I. Macneil, Power, Contract, and the Economic Model, 4 Journal of Economic Issues (1980), 909. 124 Dazu auch schon oben § 5 III. 2. c). 125 Luhmann, Macht (2012), 106.

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gibt hier jedenfalls drei typische Machtquellen, die sich bei einfachen Austauschverträgen üblicherweise nicht finden. Diese ergeben sich sowohl aus den faktischen Umständen wie aus der Bindungswirkung rechtlich wirksamer Verträge. Zum einen gibt es in Langzeitverträgen häufig Mechanismen, die, zur Governance des Vertrages über einen längeren Zeitraum hinweg, einer der Parteien die Kompetenz einräumen, bestimmte Vertragsinhalte und -pflichten zu spezifizieren. Man kann darin eine vertraglich geschaffene Machtquelle sehen. In machtanalytischer Hinsicht geht das entscheidend über konkrete Vertragspflichten hinaus, die spezifisch festgelegt sind. Anpassungs- und Weisungsrechte ermöglichen A, in der vertraglich geregelten Weise eine Spezifizierung an B zu kommunizieren, die dieser zu befolgen hat, will er nicht dem Vorwurf des Vertragsbruchs und etwaigen gerichtlichen Verfahren ausgesetzt sein. Im englischen Schrifttum spricht man auch von discretionary power.126 Der ökonomische Sinn hinter solchen Klauseln kann insbesondere darin liegen, Transaktionskosten zu sparen, indem spezifische Investitionen geschützt werden und damit Adaptionen bei zunächst noch unsichere Entwicklungen möglich sind. Ein Franchisegeber mag sich zum Beispiel zum Schutz seiner Investitionen in Technologie, geistiges Eigentum und Werbung Kontrollrechte einräumen und auch bestimmte Weisungsrechts für den Fall, dass Unzulänglichkeiten festgestellt werden. Bei Transaktionen, die äußeren Marktschwankungen besonders unterliegen (z.B. durch Energiepreise oder nachgelagerte Nachfragemärkte), mag einer Partei die Möglichkeit eingeräumt werden, Pflichten später oder in einem verminderten Umfang nachzukommen. Neben solchen transaktionskostenspezifischen Gründen ist es durchaus auch denkbar, dass Macht in der vorvertraglichen Phase zu solcher vertraglich begründeten Macht geführt hat – insbesondere im Fall der Benutzung von AGB.127 Aufgrund des praktischen Aufstiegs von Vertragsformen wie Franchise-Systemen und Vertragsnetzwerken, 128 handelt es sich bei Machtstrukturen wie den geschilderten auch nicht um vernachlässigbare Ausnahmen.129 Spricht man über Macht und Verträge, sind sie zentral zu 126 T. Daintith, Contractual Discretion and Administrative Discretion: A Unified Analysis, Modern Law Review 2005, 554; H. Collins, Discretionary Powers in Contracts, in: D. Campbell et al. (Hg.), Implicit Dimensions of Contract (2003), 219. 127 Zur Thematik, dass Marktmacht in „domination“ innerhalb einer vertraglichen Langzeitbeziehung umschlagen kann s. R.W. Gordon, Macaulay, Macneil, and the Discovery of Solidarity and Power in Contract Law, 3 Wisconsin Law Review (1985), 565, 569. Grundlegend dazu auch schon Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972), 542 f. 128 Daintith, Contractual Discretion and Administrative Discretion: A Unified Analysis, Modern Law Review 2005, 554. 129 Erst in jüngerer Zeit hat man dem im Schrifttum in einigen wenigen Fällen Aufmerksamkeit geschenkt: Daintith, Contractual Discretion and Administrative Discretion: A

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berücksichtigen, um auch nur ein annähernd vollständiges Bild zu zeichnen. Die Bindungswirkung rechtlich wirksamer Verträge ist ein bedeutendes Instrument, um Machstrukturen zu errichten und auszudifferenzieren. Gleichzeitig erscheint es notwendig zu berücksichtigen, dass die Macht weniger weit gehen mag, als Vertragsklauseln den Eindruck erwecken können. Solange die Parteien jederzeit den Vertrag kündigen und mit Wettbewerbern des anderen kontraktieren können, sollte die Relevanz von Macht durch Marktmechanismen begrenzt sein und opportunistische Verhaltensweisen dementsprechend eingeschränkt.130 Andererseits ist es in zahlreichen Vertragsbeziehungen nicht ohne weiteres möglich, den Vertragspartner zugunsten eines Dritten auszutauschen. Der Grund hierfür liegt insbesondere in den bereits erwähnten spezifischen Investitionen, welche die zweite wesentlichen Ursache für Macht in Langzeitverträgen ausmachen. Während man Vertragsklauseln als rechtliche Grundlage von Macht einstufen kann, lassen sich spezifische Investitionen als faktische Grundlage von Macht klassifizieren. Es wurde zwar schon angesprochen, dass Governance-Mechanismen insbesondere dazu dienen, Investitionen zu schützen. In der vertraglichen Wirklichkeit kann es aber durchaus der Fall sein, dass sie nicht ausreichen oder auch ganz fehlen – insbesondere, aber nicht nur bei Vorliegen von Macht in der vorvertraglichen Phase.131 Hat B zum Beispiel in bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten investiert, könnte er dann gegenüber seinem Vertragspartner A im Nachteil sein, der nicht solche Investitionen unternommen hat.132 A stünde dann mit der Kündigung des Vertrages eine Sanktion zu. Im Fall, dass der Vertrag befristet ist und ausläuft, befände er sich in einer überlegenen Verhandlungsposition gegenüber B bei der Neuverhandlung. Dies mag ihm faktisch die Möglichkeit geben, besUnified Analysis, Modern Law Review 2005, 554; Collins, Discretionary Powers in Contracts, in: Campbell et al. (Hg.), Implicit Dimensions of Contract (2003), 219. 130 Ähnlich Collins, Discretionary Powers in Contracts, in: Campbell et al. (Hg.), Implicit Dimensions of Contract (2003), 219, 228; allgemein zu machbegrenzenden Faktoren Macneil, Power, Contract, and the Economic Model, 4 Journal of Economic Issues (1980), 909. 131 Collins, Discretionary Powers in Contracts, in: Campbell et al. (Hg.), Implicit Dimensions of Contract (2003), 219, 232. Empirische Studie bei P. Gompers/J. Lerner, The Use of Covenants: An Empirical Analysis of Venture Partnership Agreements, 39 Journal of Law and Economics (1996), 463. Zu Macht wegen market inefficiencies und specific investments auch Hill/Jones, Stakeholder-Agency Theory, 29 Journal of Management Studies (1992), 131. 132 Vgl. auch Deakin/Wilkinson, Contracts, cooperation and trust: the role of the institutional framework, Working paper / ESRC Centre for Business Research, University of Cambridge, 1995 WP 10, 15: „The elements of incompleteness and mutual dependance, power and trust, which are found in the contract of employment are also present in subcontracting and franchising relationships, but not in the same form or, in each case, to the same degree.“

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§ 7 Private Macht

sere Qualität, einen anderen Preis oder sonst bessere Vertragsbedingungen zu verlangen – auch ohne Rechtsanspruch. Auf diese Weise kann die Vertragserfüllung durch B mit der Zeit Macht herbeiführen oder verstärken. Vertrauen zwischen den Parteien kann diese Entwicklung ebenfalls beeinflussen und sogar verstärken. Vertrauen kann dabei, womöglich etwas kontraintuitiv, Macht auf beiden Seiten begründen. Man kann annehmen, dass in einem funktionierenden und vertrauensvollen Verhältnis beide eher geneigt sein werden, auf Bitten oder Forderungen des anderen einzugehen anstatt sie abzulehnen (z.B. einen kurzfristigen Zahlungsaufschub).133 Wer sich nämlich nicht kooperativ zeigt, schädigt sein Ansehen und sein Vertrauensverhältnis nicht nur gegenüber dem Anderen, sondern häufig auch im Geschäftsumkreis, der davon erfahren kann.134 Der erste, der innerhalb einer Geschäftsbeziehung geschaffenes Vertrauen verletzt, wird tendenziell mehr von Ruf und Beziehungen gegenüber Dritten einbüßen als der andere. So entsteht ein beiderseitiges Sanktionspotenzial und folglich Macht. Machtrelevant können bestehende Beziehungen und Vertrauen auch insofern sein, als dass sie für die eine Partei einen höheren Wert haben können als für die andere.135 Wer etwa im Zentrum eines Vertragsnetzwerks oder Franchisesystems steht, kann eine größere Expertise darin besitzen, Vertrauen und Beziehungen mit anderen, zukünftigen Vertragspartnern aufzubauen als am Rand stehende Akteure. Man kann daher festhalten, dass in Langzeitverträgen – gerade auch, wenn man Einsichten aus der Idee des relational contract berücksichtigt – die Potenziale für Macht wesentlich erweitert sind. c) Hierarchien Macht in hierarchischen Organisationen bildet ein eigenes Forschungsfeld, das hier nicht umfassend behandelt werden soll. 136 Das Unternehmen als Institution ist hier nur insoweit von Interesse, wie Verträge betroffen sind. Eine Behandlung von Gesellschaftsrecht würde für diese Schrift zu weit füh-

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Zu Vertrauen und Erwartungen von Solidarität Gordon, Macaulay, Macneil, and the Discovery of Solidarity and Power in Contract Law, 3 Wisconsin Law Review (1985), 565, 570. 134 Dazu näher Macaulay, Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study, 28 American Sociological Review (1963), 55; Deakin/Wilkinson, Contracts, co-operation and trust: the role of the institutional framework, Working paper / ESRC Centre for Business Research, University of Cambridge, 1995 WP 10, 6 mit weiteren Nachweisen. 135 Zu Vertrauen als „transaction specific asset“ Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law and Economics (1979), 233, 240; s.a. Gordon, Macaulay, Macneil, and the Discovery of Solidarity and Power in Contract Law, 3 Wisconsin Law Review (1985), 565, 570. 136 Für eine Übersicht s. z.B. D.A. Buchanan/A. Huczynski, Organizational Behaviour (2013), Chapter 22 („Power and Politics“).

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ren,137 die Betrachtung soll auf das beschränkt bleiben, was im juristischen Sprachgebrauch noch üblicherweise als Vertrag bezeichnet wird. Arbeitsverträge, die ein entscheidender Bestandteil eines jeden Unternehmens sind, fallen hierunter.138 Der folgende Abschnitt wird sich diesen Verträgen als Teilen von Unternehmen widmen. Auch was Arbeitsverträge angeht, hat sich die Mehrzahl der Machtanalysen auf die vorvertragliche Phase bezogen – wie es das klassische Vertragskonzept eben nahe legt. Schon Adam Smith stellte heraus, dass ein Arbeiter auf den Arbeitslohn angewiesen ist, um sich und gegebenenfalls seine Familie zu ernähren.139 Diese schaffe eine Situation von Dringlichkeit, da der Arbeite sich langwierige Verhandlungen und anderweitige Arbeitssuche nicht leisten könne. Wie schon oben besprochen, kann Dringlichkeit eine wesentliche Grundlage von Macht sein. Seit 1776 hat sich diese Situation allerdings gebessert: Soziale Sicherungssysteme sorgen jedenfalls in der Regel in Deutschland und anderen europäischen Ländern dafür, dass die existenziellen Bedürfnisse erfüllt werden. Einen Vertragsschluss abzulehnen, hat dann nicht die gleichen überlebensbestimmenden Konsequenzen wie wohl noch zu Smiths Zeiten. Andererseits lässt sich sagen, dass es für den Arbeitgeber lediglich um eine wirtschaftliche Entscheidung geht, für den Arbeitnehmer aber sein psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden davon abhängen kann, ob er den Vertrag abschließt oder nicht.140 Insofern ist es für ihn tendenziell schwerwiegender, keinen Vertrag abzuschließen. Darüber hinaus können alle weiteren, oben angedeuteten, Unvollkommenheiten des Wettbewerbs zu Macht führen.141 So kann es im Einzelfall auch vorkommen, dass der Arbeitnehmer sich in einer überlegenen Verhandlungsposition befindet, wenn er besondere Expertise besitzt und dem potentiellen Arbeitgeber wenig oder keine anderen Vertragspartner zur Verfügung stehen. 137 Überblick zu Machttheorie und gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen bei Scott, Power (2001). 138 Zu einer Diskussion, inwiefern die Einordnung als Vertrag überhaupt angemessen ist S. Deakin/G.S. Morris, Labour Law (2012), 133 ff. 139 Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), Book I, chapter 8. Ausführlicher Webb/Webb, Industrial Democracy (1897), Part III, chapter 2. Aus jüngerer Zeit etwa Collins, Market Power, Bureaucratic Power, and the Contract of Employment, 15 Industrial Law Journal (1986), 1. 140 Studien zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit z.B. bei A. Baum et al., Unemployment Stress: Loss of Control, Reactance and Learned Helplessness, 22 Social Science & Medicine (1986), 509; M.W. Linn et al., Effect of Unemployment on Mental and Physical Health, 75 American Journal of Public Health (1985), 502; und allgemeiner H. Collins et al., Labour Law (2012), 5, 8. 141 Näher zu diesem Themengebiet, das zu untersuchen hier zu ausufernd wäre etwa B.E. Kaufman, Labor’s Inequality of Bargaining Power: Myth or Reality?, 12 Journal of Labor Research (1991), 151 einerseits und M.O. Reynolds, The Myth of Labor’s Inequality of Bargaining Power, 22 Journal of Labor Research (1991), 167 andererseits.

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§ 7 Private Macht

Die Besonderheit der Arbeitsverhältnisse liegt aber vor allem in der Machtsituation nach Vertragsschluss. Die offensichtlichste Form der Macht liegt dann im Weisungsrecht des Arbeitgebers.142 Im Vergleich zu (anderen) Langzeitverträgen ist diese Kompetenz besonders weit gefasst.143 Schon Coase sprach davon, dass in Hierarchien „conscious power“ beziehungsweise eine „authority relation“ unpersönliche „market transactions“ ersetze.144 Zusätzlich hierzu können Arbeitgeber nicht bloß partikulare Weisungen erteilen, sondern die Struktur und Organisation des Unternehmens formen. Indem Arbeitnehmern eine bestimmte Position in solcher Struktur zugewiesen wird, werden gleichzeitig viele der möglichen Handlungen eingeschränkt – ein abstrakter Kommunikationsinhalt hat also besonders weitreichende Folgen für Handlungsoptionen. Die Unternehmensstruktur ist dabei nicht bloß Kommunikationsinhalt in der Luhmannschen Terminologie, sondern kann ebenso Grundlage für Sanktionen sein. Der Arbeitgeber kann über Auf- und Abstieg innerhalb der Hierarchie bestimmen und verfügt somit regelmäßig über Handlungsalternativen, die für den Arbeitnehmer Sanktionen darstellen.145 Auch dies zählt noch zur rechtlich begründeten Macht, die dem Arbeitgeber regelmäßig zukommt. Daneben dürften spezifische Investitionen in noch mehr Fällen als in hybriden Institutionen von Relevanz sein. Der Arbeitgeber investiert häufig in die Ausbildung seines Personals, sei es durch praktisches Training oder spezifische Kurse und Seminare. Arbeitnehmer erwerben so gut wie immer Kenntnisse und Fähigkeiten, die für bestimmte Branchen und Positionen mehr wert sind als für andere. So lange beide Seiten den Verlust solcher Investitionen für gleich unerwünscht halten, ergibt sich hieraus für keinen von beiden Macht. Ob spezifische Investitionen zu Macht führen, ist also immer einzelfallabhängig zu beurteilen. Grundsätzlich scheint es allerdings, dass Arbeitnehmer tendenziell mehr zu verlieren haben. Menschen besitzen schließlich nur eine begrenzte Zeitspanne, um in Ausbildung und Fortbildung zu investieren – und mit zunehmendem Alter wird dies eher schwieriger.146 Ein Beruf kann auch ein Selbstbild und Selbstwertgefühl bestimmen. Tendenziell wird eine erworbene Qualifikation und Expertise damit Arbeitneh142

Von „managerial power“ sprechen etwa Deakin/Morris, Labour Law (2012), 134. S.a. Deakin/Wilkinson, Contracts, cooperation and trust: the role of the institutional framework, Working paper / ESRC Centre for Business Research, University of Cambridge, 1995 WP 10, 15. 144 Coase, The Nature of the Firm, 4 Econometrica (1937), 386, 388; dazu auch Deakin/Wilkinson, Contracts, cooperation and trust: the role of the institutional framework, Working paper / ESRC Centre for Business Research, University of Cambridge, 1995 WP 10, 5. 145 Näher ausgeführt bei Luhmann, Macht (2012), 116 ff. 146 Zum Fall älterer Arbeitnehmer Macneil, Power, Contract, and the Economic Model, 4 Journal of Economic Issues (1980), 909, 912. 143

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mern noch mehr bedeuten als der monetäre Wert. Für den Arbeitgeber, dem man im Durchschnitt eher ein Interesse zur betriebswirtschaftlichen Nutzenmaximierung unterstellen dürfte, gilt dies nicht. Schlussendlich können auch Reputationsgesichtspunkte die Machtbalance beeinflussen. Dem Arbeitgeber, der nach der etwaigen Beendigung des Vertragsverhältnisses Zeugnisse ausstellt, stehen hier offensichtlich Sanktionsmittel zu. Durch die fortschreitende digitale Vernetzung und den entsprechenden Informationsfluss können zwar auch enttäuschte Arbeitnehmer negativ auf den Ruf eines Arbeitgebers Einfluss nehmen. Unmittelbar greifbar und in der Regel wirksamer dürfte aber die Sanktionsmöglichkeit des Arbeitgebers sein. d) Einige Erkenntnisse Gäbe es nur Austauschverträge und vollkommenen Wettbewerb, so besäßen Verträge keine Machtdimension. 147 In der realen Welt unvollkommenen Wettbewerbs, in der Langzeitverträge und Hierarchien eine bedeutende Rolle spielen, ist dies völlig anders. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Machtpotenziale auf dem Kontinuum zwischen Markt und Unternehmen von ersterem zu letzterem wachsen.148 Im Fall eines klassischen Austauschvertrags am Markt ist Macht nur in der vorvertraglichen Phase von Bedeutung. Unter anderem marktstrukturelle Unvollkommenheiten, Informationsdefizite und Dringlichkeiten können Macht in dieser begründen. Besonders AGB ermöglichen es, umfassende Regelungen aufzuerlegen. In komplexeren Verhältnissen steigen die Machtpotenziale. In Langzeitverträgen und Hierarchien ist Macht nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Vertragliche Anpassungs-, Kontroll- und Weisungsrechte, spezifische Investitionen und soziale Beziehungen sind in ihnen regelmäßig Grundlage von Macht. Alle diese Aspekte sind von besonderer Bedeutung in Hierarchien, in denen die Möglichkeit zu Strukturierung der Organisation und Platzierung von Individuen innerhalb der Struktur weitere Machtquellen darstellen. Es lässt sich daher sagen, dass sowohl die typischen Sanktionsmöglichkeiten auf dem Kontinuum vom 147

Vertragspflichten als Machtquellen würden schließlich bei sofortigem Austausch gleich wieder erlöschen. 148 Ähnlich auch schon Williamson, Efficiency, Power, Authority and Economic Organization, in: Groenewegen (Hg.), Transaction Cost Economics and Beyond (1996), 11: „The argument that the firm ‚…has now power of fiat, no authority, no disciplinary action any different in the slightest degree from ordinary market contracting between any two people‘ (Alchian and Demsetz, 1972, p. 777) is exactly wrong: firms can and do exercise fiat that markets cannot.“; eingehend auf Alchian/Demsetz, Production, Information Costs, and Economic Organization, 62 The American Economic Review (1972), 777. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (1972) würde hier von „Herrschaft kraft Autorität“ (S. 542), sprechen, argumentiert er doch: „[Es] zeigt die große Mehrzahl aller, und darunter gerade der wichtigsten und modernsten, Wirtschaftsgemeinschaften herrschaftliche Struktur“ (S. 541 f.).

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§ 7 Private Macht

Markt zum Unternehmen ansteigen wie auch der Umfang der Kommunikationen, in denen Macht mitschwingt.

III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht

Die bisherige Machtanalyse ist primär deskriptiv geblieben, hat typische Strukturen von Macht in Vertragskontexten aufgezeigt und ihre Ursachen ergründet. Dies lässt offen, wie das Vertragsrecht im Einzelnen mit Macht umgeht, wie also Macht normativ einzuordnen ist. Davon soll der folgende Abschnitt handeln. Die grundrechtliche Problematik bleibt zunächst weiterhin außen vor – zur Annäherung an sie geht es vorerst darum, wie sich „einfaches“ Vertragsrecht zu Macht verhält. Da EU-Grundrechte lediglich im Anwendungsbereich des Unionsrechts, also insbesondere im europäisierten Vertragsrecht wirken, bietet es sich an, näher auf den Zusammenhang von europäischem Vertragsrecht und Macht einzugehen – dieser bereitet gewissermaßen den Boden und bietet den Vergleichsmaßstab für die Bedeutung von Macht bei der Anwendung der EU-Grundrechte. Es hängt von mehreren Faktoren ab, wie man das ganz grundsätzliche Verhältnis von Macht und Vertragsrecht einschätzt. Franz Böhm beispielsweise sah private Macht von Grund aus kritisch und ging davon aus, dass das Recht privater Macht in einer Marktwirtschaft auf zweierlei Arten begegnen könne: sie solle entweder verhindert oder ihre Ausübung begrenzt werden.149 Er sprach sich für die Verhinderung mittels des Kartellrechts aus. Dies lag zum einen an seiner Makro-Perspektive, welche die Macht aus einzelnen Vertragspflichten ausblendete. Hätte er Vertragspflichten berücksichtigt, hätte er wohl nicht so einseitig gegen Macht argumentiert. Zum anderen lag es daran, dass er davon ausging, dass bei einem funktionierenden Kartellrecht Wettbewerb tatsächlich Macht verhinderte. Eine Einschränkung von Macht durch Vertragsrecht wäre demnach gar nicht mehr notwendig und Macht für das Vertragsrecht nicht relevant. Die bisherige Analyse allerdings hat unter anderem ergeben, dass Vertragspflichten konsequenterweise als Machtquellen einzuordnen sind und dass unter anderem auch Marktunvollkommenheiten jenseits der Marktstrukturen zu Macht führen können. Sobald man, wie erörtert, Verträge als Machtquellen einstuft, lässt sich auf Grundlage des geltenden Rechts nicht mehr vertreten, private Macht sei normativ unerwünscht. Das europäische Vertragsrecht enthält ebenso wie mitgliedstaatliche Rechtsordnungen die Prinzipien der Privatautonomie und pacta sunt servan149 Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht (1960), 1. Zusammenfassung und Einordnung der Theorie Böhms bei Renner, Kapitel 13. Private Macht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 1029.

III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht

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da und geht somit von der Möglichkeit bindender Verträge aus.150 Es stellt allerdings durchaus auch Grenzen der Errichtung und des Gebrauchs von Macht auf, beispielsweise durch die Regulierung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen – und reagiert somit insbesondere auch auf Marktunvollkommenheiten. Auf einer ganz allgemeinen Ebene lässt sich daher lediglich sagen, dass das Verhältnis von (europäischem) Vertragsrecht und Macht ambivalent ist. Weder wird Macht einseitig gefördert noch limitiert. Macht ist aus vertragsrechtlicher Sicht damit nicht an sich positiv oder negativ. Insofern trifft die Feststellung Habermas’ zu, die europäische „Wirtschaftsgesellschaft“ – und mit ihr ihre vertraglichen Kapillaren – sei keine „machtfreie Sphäre von der Art, wie es im liberalen Rechtsmodell unterstellt wird“.151 Wie bereits mehrfach erörtert, kann man Vertragsrecht im Allgemeinen die Funktionen der Ermöglichung und Regulierung von Verträgen zuschreiben.152 Diese Begrifflichkeit passt auch für den Umgang mit Macht: Vertragsrecht ermöglicht und reguliert sie. Es lässt sie zu und fördert sie einerseits, verhindert und begrenzt sie aber auch andererseits. Dies soll nicht bedeuten, dass etwa jede zwingende, regulierende Vorschrift die Funktion besäße, Macht zu begrenzen. Nicht wenige regulative Vorschriften lassen sich aber in einen Bezug zu Macht setzen. Um zu verstehen, wann sie ermöglicht oder begrenzt wird, ist es aufschlussreich, die vertragsrechtliche Behandlung von Macht im Zusammenhang mit den Vertragsfunktionen als normativen Grundideen de Vertragsrechts zu lesen. 1. Ermöglichung von Macht als vertragsfunktionale Notwendigkeit Grundsätzlich ist es, wie angedeutet, vertragsfunktional eine zwingende Notwendigkeit, dass vertragliche Vereinbarungen selbst zur Grundlage von privater Macht werden können – sei es im Falle einfacher Leistungspflichten oder insbesondere bei discretionary power, also weitergehenden Kontroll-, Weisungsrechten etc. in komplexeren Verträgen. Die Ermöglichung von Verträgen geht mit der Ermöglichung privater Macht-Regime einher. Die freiwillige Zustimmung zur Vertragsbindung ändert nichts daran, dass Verträge als Machtgrundlage zu bewerten sind, sondern lediglich an der Legiti150

Zur Privatautonomie oben § 6 I.; zu pacta sunt servanda EuG Rs. T-154/01 (Distilleria F. Palma), Slg. 2004 II-1493, Rn. 45; EuGH Rs. C-162/96 (Racke), Slg. 1998 I-3655, Rn. 45. Näher Hartkamp, The General Principles of EU Law and Private Law, RabelsZ 75 (2011), 241. 151 Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 482. Hinzuzufügen ist allerdings, dass auch liberale Rechtsdenker die Möglichkeit der Existenz von Macht in privatrechtlichen Rechtsgeschäften anerkennen und deren Problematik und die Reaktion des Rechts über das Kartellrecht hinaus behandeln – s. etwa Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz: über die Grenzen von Staat, Gesellschaft und Privatautonomie (1984), u.a. 25, 372, 409. 152 S.o. § 1 II. 2.; auch § 5 III. 3.

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§ 7 Private Macht

mität der Macht. Die bindende Wirkung von Verträgen ist Ausdruck der Idee der selbstbestimmten Vereinbarung von Rechten und Pflichten, sie dient dem gerechten Austausch – etwa indem sie den später Leistenden an seinem Versprechen festhält – und sie ist grundsätzlich effizienzfördernd, indem sie Vertrauen schafft, Transaktionskosten spart und eine Güterverteilung im Sinne subjektiver Interessen ermöglicht. Insbesondere kann es effizient sein, Transaktionen in Hybriden oder Unternehmen abzuwickeln anstatt am Markt, was grundsätzlich Machtpotenziale steigert. Die Vertragsbindung ist dabei institutionell ebenso für Transaktionen am Markt wie für Kooperation in Langzeitbeziehungen notwendig. Insofern ist Macht ein notwendiger Bestandteil der vertraglichen Welt und ein Vertragsrecht, das rein machtbeschränkend wirkte, gar nicht denkbar. So ist es kein Zufall, dass unter den im Deutschland des 19. Jahrhunderts diskutierten Definitionen des subjektiven Rechtes – dessen Unterfall ein vertragliches subjektives Recht ist –, insbesondere der Begriff der Macht zentral war. Etwa Windscheid definierte das subjektive Recht als „verliehene Willensmacht oder Willensherrschaft concreten Inhalts“.153 2. Regulierung von Macht in verschiedenen Vertragstypen und -phasen Ein den Vertragsfunktionen dienendes Vertragsrecht verlangt daneben gleichzeitig die Limitierung von Macht. Diesbezüglich ist es hilfreich, die verschiedenen Vertragstypen auf dem Kontinuum zwischen market und firm und die vorvertragliche und vertragliche Phase zu unterscheiden. Die Zusammenhänge verschiedener Machtkonstellationen mit Vertragsfunktionen variieren hier jeweils. a) Austauschverträge In idealtypischen einfachen Austauschverträgen, spot contracts, ist lediglich die vorvertragliche Phase relevant – die Vertragspflicht und die mit ihr verbundene Macht erlöschen gleich wieder mit unmittelbarer Abwicklung. Macht, die in der vorvertraglichen Phase die Wahlfreiheit beschränkt beziehungsweise Einfluss auf Entscheidungen nimmt, läuft dem Ideal und der Vertragsfunktion der Selbstbestimmung zuwider. Des Weiteren kann sie zu Missverhältnissen zwischen Leistung und Gegenleistung führen und so die 153

B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1879), § 37, 92. Dort definiert er auch Macht näher, und zwar ähnlich wie Weber in Bezug auf die Überwindung entgegenstehenden Willens: „die Rechtsordnung hat von einem concreten Willensinhalte ausgesprochen, daß er maßgebend sei für die dem Berechtigten gegenüberstehenden Willen, daß diese Willen sich jenem Willensinhalte gemäß zu bestimmen haben“ (92). Ausführlich zu Macht als Teil der Definition subjektiver Rechte in der Diskussion des 19. Jahrhunderts S. Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert (2001), 205 ff. und zu Windscheid 216 ff.

III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht

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Funktion gerechten Austauschs gefährden. Schlussendlich führt sie aus ökonomischer Sicht auch zu Beeinträchtigungen des Marktmechanismus und kann optimaler Ressourcenallokation – und damit dem Ziel der Effizienz – zuwider laufen.154 Aus Sicht klassischer Vertragstheorie, die vom Modell des Austauschvertrages ausgeht und sich vor allem auf die vorvertragliche Phase konzentriert, ist es daher einleuchtend, Macht kritisch zu sehen. Im geltenden europäischen Vertragsrecht lassen sich aus dieser Perspektive etwa Regelungen des Verbraucherschutzes, namentlich der Verbraucherrechterichtlinie, erklären. Informationspflichten, wie sie sich in Art. 5 und 6 der Richtlinie finden, sind nicht bloß ein Instrument zu einer informierten Entscheidung,155 sondern können Einfluss auf Machtverhältnisse in Situationen vornehmen, in denen typischerweise Macht vorliegt. Wie oben erörtert,156 können Informationsdefizite – indem sie die Einschätzung von Handlungsalternativen verzerren – zu Macht führen. Gerade Widerrufsrechte können hier ein wirksames Gegenmittel sein. In Fernabsatzsituationen muss sich der Verbraucher schließlich zunächst auf die (werbende) Darstellung des Unternehmers verlassen, und hat erst später, wenn er die Güter inspizieren kann, eine Information aus erster Hand. Bezüglich Widerrufsrechten bei Verträgen außerhalb Geschäftsräumen enthält die Richtlinie außerdem selbst ausdrücklich den Erwägungsgrund, dass „der Verbraucher möglicherweise psychisch unter Druck[steht] oder ist einem Überraschungsmoment ausgesetzt [ist]“.157 Solcher Druck beeinflusst die Handlungsalternativen dahingehend, dass der Verbraucher eher dem Vertragsschluss zustimmen mag, um die unerwünschte Situation zu beenden. Das Widerrufsrecht neutralisiert sich hieraus ergebende Macht. Auch außerhalb des europäischen Verbraucherrechts kann man vertragsrechtlichen Normen im Übrigen entnehmen, vorvertraglicher Macht entgegen zu wirken. Im deutschen Recht ist beispielsweise § 123 BGB Ausdruck der Beschränkung von Macht in der vorvertraglichen Phase, im common law gilt das gleiche etwa für duress und undue influece. Schon Hale führte diesbezüglich aus: „[...] by judicious legal limitation on the bargaining power of the economically and legally stronger, it is conceivable that the economically weak would acquire greater freedom [...].“158

154 Näher dazu A. Choi/G. Triantis, The Effect of Bargaining Power on Contract Design, 98 Virginia Law Review (2012), 1665, 1679 mit weiteren Nachweisen in Fn. 34. 155 Überblick zu dieser Thematik bei S. Grundmann et al., Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market – an Overview, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), 3. 156 §7 II. 2. a) aa). 157 Erwägungsgrund 21 der Richtlinie 2011/83/EU. 158 Hale, Bargaining, Duress, and Economic Liberty, 43 Columbia Law Review (1943), 603, 628.

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b) Sonderfall AGB Ein Sonderfall sind AGB. Einerseits ist ihre Verwendung (im vorvertraglichen Bereich) mit Macht verbunden – wie oben ausgeführt.159 Andererseits kann man sie als selbstbestimmte Erklärung ihres Verwenders einstufen und sie sind ein nützliches Instrument, um Transaktionskosten zu senken.160 Ihre Nutzung weitgehend oder gar ganz zu unterbinden wäre kontraproduktiv und unverhältnismäßig. Namentlich die Klauselrichtlinie setzt daher nicht an der Quelle der Macht an, sondern bei ihrer Ausübung. In Luhmannscher Terminologie beschränkt sie für die vorvertragliche Phase nicht die Sanktionsmöglichkeit,161 sondern den Inhalt der Kommunikation (des Vertrages), welcher durch das Kommunikationsmedium Macht begleitet wird. Indem sie Klauseln untersagt, die ein Missverhältnis zwischen vertraglichen Rechten und Pflichten der Vertragspartner verursachen,162 dient sie der Funktion eines gerechten Austauschs. Sie unterwirft den Gebrauch faktischer Macht einem generalklauselartigen Test. Des Weiteren lässt sich ihre Wirkrichtung mit der Berücksichtigung der Selbstbestimmung der Verbraucher erklären. Einerseits ist die verbraucherseitige Zustimmung zu einem Vertrag, von dessen Klauseln dieser regelmäßig im einzelnen keine Kenntnis hat, nur eine verhältnismäßig schwache Legitimierung der Bindung an die entsprechenden Klauseln. Die Regulierung derselben läuft dann jedenfalls der Selbstbestimmung des Verbrauchers nicht zuwider. Bedeutsam ist andererseits die Beschränkung von Klauseln, die über den Moment des Austausches hinaus Bedeutung haben und langfristige vertragliche Beziehungen betreffen und ausgestalten. Da die Klauselrichtlinie und das AGB-Recht im Allgemeinen auch diese betreffen, regeln sie nicht nur Austauschverträge, sondern auch Langzeitverträge. Konkret schränkt sie einseitige Gestaltungsspielräume innerhalb der Durchführung des Vertrages – discretionary power – ein. Beispielsweise Unterabsatz 1 c) des Annexes der Klauselrichtlinie bezieht sich auf Klauseln, die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass ein „Verbraucher eine verbindliche Verpflichtung eingeht, während der Gewerbetreibende die Erbringung der Leistungen an eine Bedingung knüpft, deren Eintritt nur von ihm abhängt“. Unterabsatz 1 f) stellt ebenfalls auf einseitige Wahlmöglichkeiten des Unternehmers ab, nämlich den Fall dass „es dem Gewerbetreibenden gestattet wird, nach freiem Ermessen den Vertrag zu kündigen, wenn das gleiche Recht nicht auch dem Verbraucher eingeräumt wird, und es dem Gewerbetreibenden für den Fall, dass er selbst den Vertrag kündigt, gestattet wird, die Beträge einzubehalten, die für von ihm noch nicht erbrachte Leistungen gezahlt wurden“. Schließlich ist für die Möglichkeiten der contract governance 159 160 161 162

§ 7 II. 2. a) bb). Dazu ebenfalls oben II. 2. a) bb). Die Verweigerung des Vertragsschlusses durch den Unternehmer. S. Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie.

III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht

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insbesondere Unterabsatz 1 j) des Annexes ist interessant, bezieht er sich doch auf Klauseln, nach denen „der Gewerbetreibende die Vertragsklauseln einseitig ohne triftigen und im Vertrag aufgeführten Grund ändern kann“. Sind derart weitreichende einseitigen Gestaltungsmöglichkeiten unwirksam, dann wird ansonsten bestehende Macht verhindert. Zusammenfassend kann man die Klauselrichtlinie daher einerseits als eine Reaktion auf faktische Macht in der vorvertraglichen Phase einstufen, die jedoch andererseits auch einen zweiten Machttyp reguliert, nämlich vertraglich eingeräumte Gestaltungsmöglichkeiten. c) Langzeitverträge Steht die Klauselrichtlinie damit an einer Schnittstelle zwischen vorvertraglicher und vertraglicher Phase, geraten bei Langzeitverträgen schwerpunktmäßig die Machtpotenziale nach Vertragsschluss in den Fokus. Das Effizienzziel ist hier grundsätzlich ein bedeutender Grund für die Zulässigkeit von weitgehender vertraglicher Macht – also etwa von Anpassungs-, Kontroll- und Weisungsrechten. Auch dienen diese Rechte der Kooperation über einen längeren Zeitraum hinweg. Gleichzeitig können sie jedoch problematisch für die Selbstbestimmung des anderen Vertragspartners und das Ziel gerechten Austauschs werden. Teils können sie von Beginn an übermäßig weit formuliert sein. Teils kann je nach Veränderungen der faktischen Umstände ein und dasselbe Weisungsrecht sich zunächst in einem angemessenen Rahmen bewegen, dann aber opportunistisches Verhalten ermöglichen, das dem Willen des anderen Vertragspartners und damit seiner tatsächlichen Selbstbestimmung nicht entspricht. Das europäische Vertragsrecht enthält Vorschriften, die vertragliche Macht zur Gewährleistung dieser Vertragsfunktionen einschränken. Ein Beispiel hierfür ist die Handelsvertreterrichtlinie. Dass es sich bei einem Handelsvertretervertrag um eine Langzeitbeziehung handelt, folgt schon aus der Definition des Handelsvertreters: Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie setzt eine „ständige Betrauung“ voraus. Einerseits schreibt die Richtlinie einseitige Gestaltungsmöglichkeiten und damit vertraglich Macht vor, gleichzeitig grenzt sie sie aber ein: So muss der Handelsvertreter (nur) „angemessenen Weisungen“ des Prinzipals nachkommen, Art. 3 Abs. 2 c) Handelsvertreterrichtlinie. Beide Seiten können außerdem verpflichtet sein, „erforderliche“ Informationen dem jeweils anderen zu erteilen, Art. 3 Abs. 2 b) sowie Art. 4 Abs. 2 a) der Richtlinie. Während Macht aus vertraglichen Bestimmungen jedenfalls regelmäßig durch einen primären Akt der Selbstbestimmung legitimiert ist, gilt dies für Macht, die aus spezifischen Investitionen resultiert, nicht. Versäumten es die Parteien, ein effektives Schutzregime aufzustellen, ist es vertragsfunktional stringent, wenn das Recht einschreitet, um opportunistische Forderungen zu unterbinden, welche sowohl Selbstbestimmung, gerechtem Austausch, Effizienz sowie einer langfristig funktionie-

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§ 7 Private Macht

renden Kooperation zuwiderlaufen. Abermals enthält die Handelsvertreterrichtlinie Beispiele hierfür. Art. 15 legt zwingend fest, dass die Kündigungsfristen mit längerer Vertragsdauer ansteigen. Da die während dieser Zeit angesammelt Kenntnisse, Fähigkeiten und Kontakte des Handelsvertreter im spezifischen Umfeld ebenfalls ansteigen, macht es Sinn, sie dementsprechend weitergehend zu schützen und für ihn zu erhalten. Noch bedeutender dürfte für den Schutz spezifischer Investitionen allerdings Art. 17 Abs. 2 sein. Nach diesem steht dem Handelsvertreter ein Ausgleichsanspruch bei Vertragsbeendigung für den erweiterten Kundenkreis des Unternehmers zu. Wenn diese Größe auch nicht seinen spezifischen Investitionen entsprechen muss, so sind diese beiden Posten doch jedenfalls miteinander verknüpft. Schlussendlich beschränkt Art. 20 der Richtlinie Wettbewerbsverbote auf zwei Jahre. Damit wird die Möglichkeit begrenzt, Investitionen zu (besonders) spezifischen Investitionen zu machen. Kontakte etc., die der Handelsvertreter erwirbt, können für ihn vertraglich höchstens für eine bestimmte Dauer außerhalb der konkreten Beziehung in ihrer Nutzbarkeit beschränkt werden. Indem europäisches Vertragsrecht sowohl die Reichweite vertraglich eingeräumter Macht begrenzt sowie spezifische Investitionen schützt, reguliert es gewissermaßen die Quellen der Macht – die Sanktionsmöglichkeiten – als solche und nicht erst die Möglichkeit ihrer Aktualisierung beziehungsweise Ausübung. d) Hierarchien Ein ähnliches Bild bietet sich für bei hierarchischen Verhältnissen. Aus einer Transaktionskostenperspektive kann die vertragliche Errichtung von Hierarchien und der mit ihnen typischerweise verbundenen Machtverhältnisse aus Effizienzgründen geboten sein. Sie kann auch in Einklang gebracht werden mit den Funktionen des gerechten Austauschs und der Selbstbestimmung. Insbesondere können Arbeitnehmer über einen angemessenen Lohn die Möglichkeit erhalten, ihr Leben außerhalb der Arbeit selbstbestimmt und nach ihren Wünschen zu gestalten.163 Jedoch besteht in Hierarchien auch ein besonders großes Machtpotenzial, welches ein besonderes Missbrauchspotenzial mit sich bringt, worauf regulativ in mannigfaltiger Weise reagiert wird. Dies betrifft sowohl die vorvertragliche wie auch die vertragliche Phase. Europäisches Recht enthält für Arbeitsverträge zwar keine umfassenden Vorgaben, und regelt nur flickenartig verschiedene Einzelfragen,164 doch lassen sich diese durchaus unter der Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu Macht einordnen. Auch wenn das sekundäre europäische Recht für den Arbeitneh-

163

Dazu auch Hale, Bargaining, Duress, and Economic Liberty, 43 Columbia Law Review (1943), 603, 627 sowie schon oben § 6 I. 1. 164 Barnard, EU Employment Law (2012), 14.

III. Macht und (europäisches) Vertragsrecht

317

merbegriff regelmäßig auf nationales Recht verweist,165 enthält die Rechtsprechung des EuGH doch einen entscheidende Aussage: Für die Qualifizierung als Arbeitsverhältnis im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist insbesondere ein Weisungsrecht erforderlich. 166 Machtanalytisch ist diese Grundannahme, wie erörtert, entscheidend. In der vorvertraglichen Phase ist, wie ähnlich schon Adam Smith feststellte, 167 insbesondere die selbstbestimmte Entscheidung des Arbeitnehmers problematisch. Im Allgemeinen schaffen Gewerkschaften hier ein Gegengewicht, doch auch einzelne Rechtsnormen adressieren Macht. Im europäischen Arbeitsvertragsrecht ging der EuGH im Fall Pfeiffer indirekt auf diese Problematik ein. Abweichungen von den arbeitnehmerschützenden Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie seien nur zulässig, wenn der Arbeitnehmer „frei und in voller Sachkenntnis“ zustimmte.168 Schließlich sei der „Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber den Willen des Vertragspartners umgehen oder ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann, ohne dass dieser dem ausdrücklich zugestimmt hätte“.169 Inwiefern also eine informierte Entscheidung in der vorvertraglichen Phase vorliegt, die nach dem EuGH beim Arbeitnehmer typischerweise als gefährdet anzusehen ist, wird entscheidend für den Inhalt des Vertrages – nämlich ob die vom Gesetzgeber oder die vom Arbeitgeber vorgesehene Regelung greift. Insofern reagiert das Recht auf eine für die Selbstbestimmung problematische Machtkonstellation. Zahlreiche Normen lassen sich darüber hinaus als Begrenzung von Macht in der Durchführungsphase des Vertrages lesen, die – anders als Macht in der vorvertraglichen Phase – grundsätzlich im hierarchischen Verhältnis angelegt ist. Objekt der Regulierung ist nicht das allgemeine Bestehen dieser Macht, sondern die Möglichkeit ihrer Ausübung in einer Art und Weise, die Vertragsfunktionen zuwiderläuft. Auf europäischer Ebene sind hier zunächst die Diskriminierungsverbote zu nennen, die auch innerhalb hierarchischer Verhältnisse gelten.170 Sie adressieren Situationen, in denen typischerweise sowohl ineffiziente Handlungen vorliegen (dazu noch ausführlicher unten § 9 III. 2. c)), welche außerdem dem Ideal gerechten Austauschs und der Selbstbestimmung der diskriminierten Personen widersprechen. Das betrifft zunächst einzelne Handlungen, kann aber durchaus auf die Organisationsstruktur innerhalb von Hierarchien durchschlagen, beispielsweise in Fällen in 165

Barnard, EU Employment Law (2012), 346 ff.; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht (2011), 38. 166 EuGH Rs. C-66/85 (Lawrie-Blum), Slg. 1986, 2121, Rn. 17; dazu etwa Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht (2011), 38 f. 167 S.o. § 7 II. 2. c). 168 EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835, Rn. 82. 169 EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835, Rn. 82. 170 S. etwa Art. 3 Abs. 1 a), c) der Richtlinie 2000/78/EG.

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§ 7 Private Macht

denen bestimmten Personengruppen systematisch kein Kundenkontakt gewährt wird. Andere Beispiele der Regulierung von Macht innerhalb von Hierarchien finden sich in der Arbeitszeitrichtlinie. So wie sie Höchstarbeitszeiten (Art. 3-6) vorschreibt, dient sie der Selbstbestimmung der Arbeitnehmer, denen so eine Mindestzeit außerhalb ihrer weisungsbestimmten Arbeitszeit gewährt wird. Vorschriften über Pausen stellen außerdem sicher, dass Arbeitnehmer nicht in einer gesundheitsgefährdenden Weise arbeiten, was kaum mit der Idee gerechten Austauschs zu vereinbaren wäre. Schlussendlich hält das europäische Arbeitsrecht mit der Mutterschutzrichtlinie ein weiteres Beispiel der Regulierung der Weisungsmöglichkeiten des Arbeitgebers bereit. Neben sozialpolitischen Gründen und dem Kindesschutz lässt sich dies auch so erklären, dass zu einem gerechten Austausch von Arbeitsleistung und Lohn mit schwangeren Arbeitnehmern besondere Vorkehrungen zu treffen sind.171 Bei all diesen Beispiel handelt es sich freilich nur um einen Auszug arbeitsvertraglicher Regulierung. Auch so dürfte aber schon deutlich werden, dass der regulative Umgang mit Macht in Hierarchien teils mehr mit der Regelung administrativer Handlungen denn mit Austauschverträgen am Markt gemeinsam hat.172

IV. Macht und EU-Grundrechte im Vertragsrecht IV. Macht und EU-Grundrechte

Schließlich geht es an den Fluchtpunkt und Kern dieses Kapitels: Die Bedeutung privater Macht für die Anwendung der EU-Grundrechte. Wie schon eingangs dieses Kapitels angesprochen, 173 fungiert die Thematik privater Macht im Diskurs vor allem als Argument für die Grundrechtswirkung in Privatrechtsverhältnissen an sich. Private Macht, so wird bisweilen argumentiert, mache die Anwendung der Grundrechte überhaupt erst erforderlich oder sei Voraussetzung für sie. Die Zielrichtung der Grundrechtswirkung wäre demnach eine Zügelung von Macht und hätte lediglich regulative Züge. Wenn solche Aussagen für einen beträchtlichen Anteil praktischer Fälle auch zutreffen mögen, spiegeln sie doch nicht das gesamte Verhältnis von Macht und EU-Grundrechten wieder und können keinen überzeugenden Anspruch

171 S. z.B. Art. 4 und 5 Abs. 1 der Mutterschutzrichtlinie zu besonderen Anforderungen an Arbeitsbedingungen hinsichtlich des Gesundheitsschutzes. Gem. Art. 5 Abs. 2 ist ggf. ein Arbeitsplatzwechsel notwendig. 172 So auch Collins, Market Power, Bureaucratic Power, and the Contract of Employment, 15 Industrial Law Journal (1986), 1; Daintith, Contractual Discretion and Administrative Discretion: A Unified Analysis, Modern Law Review 2005, 554. 173 Dazu oben Fn. 4.

IV. Macht und EU-Grundrechte

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auf Ausschließlichkeit erheben.174 Auch der Zusammenhang von Macht und EU-Grundrechten ist ambivalent und entspricht insofern den Relationen von Macht und einfachem (europäischen) Vertragsrecht – ohne diesen freilich normativ nachrangig zu sein. Diese These soll im Folgenden zunächst anhand der bisherigen Rechtsprechung des EuGH erläutert werden – diese wird auf ihre expliziten und impliziten Bezugnahmen auf Macht hinterfragt (dazu 1.). Über die bisherige Rechtsprechung hinaus kann Macht ein wichtiges Kriterium in der Abwägung grundrechtlicher Prinzipien und insbesondere ein Argument pro Regulierung sein, ist jedoch nicht Voraussetzung für die Anwendung der EU-Grundrechte (dazu 2.). Eine stärkere und detailliertere Berücksichtigung von Machtverhältnissen hat das Potenzial, die Argumentation bei der Anwendung der EU-Grundrechte zu verbessern, ohne sie aber zu revolutionieren. Sie fügt sich in das unter § 5 erarbeitete strukturelle Raster ein und reichert dieses mit inhaltlichen Gesichtspunkten an, krempelt es allerdings nicht um. 1. Macht in der Rechtsprechung des EuGH In mehreren durch den EuGH entschiedenen Fällen zeigt sich ein Zusammenhang zwischen privater Macht und regulativen Wirkungen der EUGrundrechte. Obwohl die Thematik an sich beim Gerichtshof bekannt sein muss,175 geht der Gerichtshof bisher nur in wenigen Urteilen mit grundrechtlichem Bezug auf Macht ein. Eine dieser Ausnahmen ist der Fall Kušionová.176 Auch in diesem bleibt der EuGH jedoch an der Oberfläche der Problematik. Wie in ständiger Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie üblich, erklärte er deren Schutzzweck damit, „dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt“. 177 In der englischen Version des Urteils heißt es anstelle „schwächerer Verhandlungsposition“ ausdrücklich „weak bargaining power“, im Französichen „pouvoir de négociation“, im Italienischen entsprechend „potere nelle trattative“. Wie oben erörtert, kann europäisches AGB-Recht tatsächlich als Regulierung normativ problematischer Macht gelesen werden Zwar ist die zitierte Stelle keine grundrechtliche Besonderheit – sie kommt auch in zahlreichen AGB-Fällen ohne Grundrechts-Bezug vor –,178 doch bereitet sie den Boden für die spätere Erwähnung 174

Ähnlich wie hier Collins, On the (In)compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2013), 26, 55 ff., insbesondere 58. 175 Insbesondere aufgrund von Schlussanträgen der Generalanwälte, s. ebenfalls Fn. 4. 176 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová); ausführlich oben § 4 III. 2. 177 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová), Rn. 48. 178 Z.B. EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 (Océano Grupo Editorial), Slg. 2000, I-4941 Rn. 25; Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito) Rn. 39.

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§ 7 Private Macht

des Wohnungsgrundrechtes, das der EuGH dem nationalen Gericht zu berücksichtigen aufgab. Inwieweit der Zusammenhang von ungleicher Verhandlungsmacht und grundrechtlicher Position argumentativ zu entfalten ist, führte der Gerichtshof jedoch nicht näher aus, sondern überließ dies den nationalen Richtern. Die Erwähnung der Macht hatte die Funktion, den situativen Kontext zu erklären, in dem eine verbraucherschützende Vorschrift auszulegen ist. Das Macht-Argument hat in diesem Sinne eine offensive Zielrichtung, es bestärkte die Reichweite einer regulativen Vorschrift. Im Fall Sky Österreich ging der EuGH ebenfalls explizit auf Macht ein, jedoch in anderer, gewissermaßen defensiver Weise, nämlich bei der Überprüfung der Grundrechtskonformität einer sekundärrechtlichen regulativen Vorschrift. 179 Für die Angemessenheit der Einschränkung der Vertragsfreiheit (und des Unternehmergrundrechts) führte der Gerichtshof hier ins Feld, dass die besagte Vorschrift Ausstrahlungen von Informationen möglich mache, ohne dass es auf „Marktmacht“ ankäme. 180 Insofern diente Macht – oder besser: ihre Nivellierung – als Argument zur Rechtfertigung einer gesetzgeberischen Regulierung. Es blieb zwar abermals unklar, was der EuGH genau unter Macht versteht und ab wann diese problematisch wird. Es wäre aber jedenfalls im Sinne der bisherigen Analyse konsistent, Macht, wie sie im konkreten Fall bestand, als Grund für Regulierung anzusehen. Verfügt ein Unternehmen über ausschließliche Senderechte, geht damit für alle anderen ein Mangel an ergreifbaren Handlungsalternativen einher und man kann sinnvollerweis von Macht sprechen. Um unter diesen Umständen ein bestimmtes grundrechtlich geschütztes Interesse zu verwirklichen – nämlich Information – ist es gerechtfertigt, gewisse Grenzen von Macht regulativ festzulegen. Es soll jedenfalls kein Ausschluss von den Kerninformationen möglich sein und die entsprechende Sanktion folglich ausgeschlossen werden. In einer Reihe von Fällen, in denen der EuGH nicht explizit auf Macht einging, lagen außerdem typische Macht-Konstellationen vor, sodass man von einer impliziten Macht-Dimension sprechen kann. Auch in diesen Fällen überwiegen die regulativen Implikationen der grundrechtlichen Argumentation. Ein Beispiel ist der Fall HK Danmark,181 bei dem der EuGH die Gestaltungsmöglichkeiten arbeitsvertraglicher Altersvorsorge den Anforderungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 21 GRC unterwarf. In derartigen Fällen besteht regelmäßig vorvertragliche Macht. Typischerweise haben Arbeitnehmer nur die Möglichkeit, den Arbeitsvertrag mit denen für den gesamten Betrieb geltenden Bedingungen zur Altersvorsorge anzunehmen oder den Arbeitsvertrag gar nicht akzeptieren – ähnlich wie bei AGB besteht eine „take it or leave it“-Situation. Die Bedingungen der arbeitsvertraglichen Al179 180 181

EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich); ausführlich oben § 4 IV. 5. EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 53. EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark); ausführlich oben § 4 I. 5.

IV. Macht und EU-Grundrechte

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tersvorsorge wurden konkret nicht für jeden Vertrag einzeln ausgehandelt, sondern vielmehr vom Arbeitgeber in einer Gesamtkonzeption gestaltet. Unter diesen Umständen kommt dem Arbeitgeber bezüglich dieses Postens regelmäßig eine Machtposition zu. Ein weiteres Beispiel dafür, inwieweit grundrechtliche Wirkungen jedenfalls indirekten regulativen Einfluss auf Macht in Vertragsverhältnissen nehmen, ist der Fall Telekabel.182 Der EuGH stellte darin fest, dass im Verhältnis zwischen Internetprovider und Nutzern ersterer bei urheberrechtlich induzierten Sperrungen bestimmter Seiten „auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge tragen“ muss. Würden dabei bestimmte Anforderungen nicht eingehalten „wäre der Eingriff des Anbieters in die Informationsfreiheit dieser Nutzer gemessen am verfolgten Ziel nicht gerechtfertigt.“183 In diesem Fall ging es also um die Reichweite vertraglicher, nicht bloß faktischer Macht. Es ging darum, inwieweit der Provider das Vertragsverhältnis, zu dessen Inhalt der Zugang zu Internetseiten gehört, einseitig gestalten (und dabei weiterhin auf Zahlung des Entgelts und Nicht-Umgehung dieser Sperren bestehen) konnte und inwieweit dem Grenzen zu ziehen sind. Interessant ist im Hinblick auf den regulativen Effekt der Grundrechte im Vertragsrecht außerdem der Fall Fuß.184 In diesem ging es vorrangig darum, inwieweit es die Arbeitszeitrichtlinie dem Arbeitgeber untersagte, Arbeitnehmer zu versetzen, die auf Höchstgrenzen der Arbeitszeit bestehen. Der EuGH legte zunächst die Richtlinie aus und ging, nachdem er die Antwort eigentlich schon gefunden hatte, auf die grundrechtliche Dimension dieses Falles ein: Das Grundrecht aus Art. 47 GRC würde „wesentlich beeinträchtigt, wenn ein Arbeitgeber als Reaktion auf eine Beschwerde oder eine Klage, die ein Arbeitnehmer zur Gewährleistung der Einhaltung von Vorschriften einer Richtlinie zum Schutz seiner Sicherheit und Gesundheit eingereicht hat, das Recht hätte, eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren fragliche zu ergreifen. Die Angst vor solchen Retorsionsmaßnahmen, gegen die keine Klagemöglichkeit gegeben wäre, könnte nämlich Arbeitnehmer, die sich durch eine von ihrem Arbeitgeber getroffene Maßnahme für beschwert halten, davon abschrecken, ihre Rechte gerichtlich geltend zu machen, und wäre folglich geeignet, die Verwirklichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels in schwerwiegender Weise zu gefährden.“185 Im Sinne der oben dargestellten Macht-Analytik zielt dieses grundrechtliche Argument darauf ab, dem Arbeitgeber eine Sanktionsmöglichkeit zu nehmen, nämlich die typischerweise in Hierarchien bestehende Möglichkeit der Versetzung eines Arbeitnehmers an eine andere Stelle. Der EuGH führt dies zwar nicht terminologisch, aber in 182 183 184 185

EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel); ausführlich oben § 4 IV. 6. EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel), Rn. 56. EuGH Rs. C-243/09 (Fuß). EuGH Rs. C-243/09 (Fuß), Rn. 66.

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§ 7 Private Macht

der Sache geradezu in einem Luhmannschen Sinne aus. Man könnte es so paraphrasieren: Indem der Arbeitgeber über eine bestimmte Sanktion nicht verfügt, ändern sich die Handlungsalternativen, welche die Kommunikationen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begleiten und welche diese entsprechend schon während der Kommunikation berücksichtigen. 186 Der Arbeitnehmer wird unter diesen Umständen nicht aus Angst vor Sanktionierung von seiner Forderung absehen müssen. Die regulativen Tendenzen der Grundrechtswirkung kennzeichnen allerdings keineswegs alle Fälle, in denen typische Machtstrukturen vorlagen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Fall Alemo Herron.187 Dieser drehte sich um die Auslegung einer arbeitnehmerschützenden Vorschrift, bei der die grundrechtliche Argumentation des EuGH gerade die Wirkung hatte, die regulative Reichweite der Norm zu beschränken. Zugunsten der Vertragsfreiheit des Unternehmers führte Art. 16 GRC vielmehr dazu, von den Parteien auszuhandelnde vertragliche Gestaltung zu ermöglichen. Da es konkret um eine Verhandlung innerhalb einer hierarchischen Struktur ging, ist davon auszugehen, dass dem Arbeitgeber eine Machtposition zukam. Nicht nur besitzt er die Sanktionspotenziale der Versetzung innerhalb der hierarchischen Unternehmensstruktur, sondern aufgrund spezifischer Investitionen hat er durch eine Vertragsbeendigung auch typischerweise weniger zu verlieren als der Arbeitnehmer.188 In der Konsequenz führte die Wirkung des Art. 16 GRC also dazu, private Macht zu ermöglichen, nicht sie einzuschränken. Im Übrigen deuten die bisherigen Urteile auch nicht darauf hin, dass der EuGH bei Vorliegen von Machkonstellationen alle Potenziale der Grundrechtswirkung voll ausschöpft beziehungsweise großzügiger mit regulativem Effekt entscheidet. Beispielsweise in den Urteilen, Dominguez,189 AMS190 und Fenoll,191 in denen es jeweils um die Ausgestaltung hierarchischer Strukturen ging, maß er weder der potenziell bestehenden Macht noch den Grundrechten eine wesentliche Wirkung zu, obwohl dies möglich gewesen wäre (dazu noch ausführlich unten § 9 III. 2. b)). Wenn auch die regulativen Tendenzen von Grundrechtswirkungen in Machtkonstellationen überwiegen, so ist die Grundrechtswirkung in Bezug zur Macht in der Praxis doch keine Einbahnstraße.

186

Es sei das bereits oben genannte Zitat in Erinnerung gerufen: Schon bei „der Kommunikation über Sachthemen wird mit in Betracht gezogen, dass die eine Seite die Möglichkeit hat, ihre Auffassung durchzusetzen“ – Luhmann, Macht (2012), 33. 187 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron); ausführlich oben § 4 II. 7. 188 Ausführlicher oben § 7 II. 2. c). 189 EuGH Rs. C-282/10 (Dominguez). 190 EuGH Rs. C-176/12 (AMS). 191 EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll).

IV. Macht und EU-Grundrechte

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2. Macht als Kriterium bei der Anwendung der Grundrechte Wie weit kann und soll Macht bei der Anwendung der EU-Grundrechte eine Rolle spielen? Jenseits der bisherigen punktuellen EuGH-Rechtsprechung lassen sich einige generalisierende Aussagen darüber treffen, inwieweit und in welchen Konstellationen Macht-Argumente einen weiterführenden Wert besitzen. Die Grundlage hierfür bietet zum einen die Grundrechtecharta, zum anderen die in den vorigen Kapiteln erarbeiteten Ergebnisse. Das Folgende kann aufgrund der Weite des Themenfeldes keine abschließende Darstellung behaupten, sollte jedoch einige Grundlinien skizzieren können. a) Macht ist keine Voraussetzung für die Anwendung der Grundrechte im Vertragsrecht Besondere Machtverhältnisse sind keine Voraussetzung für die Anwendung der EU-Grundrechte in Vertragsrechtsverhältnissen.192 Dies gilt auch für die direkte Wirkung der EU-Grundrechte193 und trifft sowohl für ermöglichende wie auch für regulative Effekte auf Verträge zu. Auf Ermöglichung von Verträgen zielend begrenzt insbesondere die Unternehmerfreiheit aus Art. 16 GRC, wie Alemo Herron und im Grunde auch Sky Österreich zeigen, regulatives Sekundärrecht.194 Der Schutz der Vertragsfreiheit ist nicht daran geknüpft, dass Machtverhältnisse beständen – im Gegenteil: So wie Verträge – insbesondere über einfache spot contracts hinaus – nach Art. 16 GRC möglich sein müssen, dringt der grundrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit sogar auf eine Ermöglichung privater Macht. Macht ist in diesem Sinne nicht Voraussetzung, sondern Folge der Wirkung des Art. 16 GRC. Gleichlaufend ist eine unmittelbare Anwendung des Art. 16 GRC ebenso wenig an Machtverhältnisse geknüpft. 195 Auch was die regulativen Wirkungen der EU-Grundrechte angeht, sind Macht oder besondere Machtungleichgewichte keine allgemein notwendige Voraussetzung, damit Grundrechte überhaupt anwendbar sind. Beispielsweise verbietet Art. 3 Abs. 2 c) GRC Organhandel. Dies ist ganz unabhängig von Machtverhältnissen und beinhaltet etwa auch das Verbot des Handels unter 192

Anders Leczykiewicz, Horizontal Application of the Charter of Fundamental Rights, 38 European Law Review (2013), 479. Wie hier für das deutsche Recht schon Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201, 208; auch F. Rödl, Privatrecht und Gesellschaftsverfassung – zur logischen Rolle der Grundrechte im Privatrecht, in: M. Hauer et al. (Hg.), Macht im Zivilrecht. Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2012 (2013), 375; dagegen allerdings für das deutsche Recht zu Art. 3 GG Heun, in: H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar (2009), Art. 3 Rn. 69 f. 193 Betont sei noch einmal, dass dies nicht mit der Bindung Privater gleichzusetzen ist – s. dazu § 5 I. 3. 194 S.o. § 6 II. 1. 195 Zur unmittelbaren Anwendung der Vorschrift s.o. § 5 I. 3. c).

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§ 7 Private Macht

„Organzwischenhändlern“, bei denen typischerweise keine signifikanten Machtpositionen bestehen dürften. Diese Vorschrift ist außerdem hinreichend konkret und unbedingt, sodass sie grundsätzlich auch direkt angewandt werden kann. Daneben wäre auch es bei dem Verbot der Sklaverei aus Art. 5 Abs. 1 GRC missverständlich, Macht als Voraussetzung für seine Anwendbarkeit zu behaupten. Zwar ist es die Folge der Vorschrift, dass eine extrem weitgehende Machtstellung verboten ist. Es wäre aber nicht etwa zunächst eine Machtstellung festzustellen, um dann prüfen zu können, ob der Begriff der „Sklaverei“ erfüllt ist. Selbst eine ganz „freiwillige Versklavung“ wäre etwa unzulässig. Auch für die sonstigen Grundrechte, insbesondere die Freiheit- und Gleichheitsgrundrechte, kann es nicht überzeugen, Macht als Voraussetzung für ihre regulative Anwendung im Vertragsrecht zu behaupten. Die obige Analyse hat gezeigt, dass Macht sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, diverse Quellen besitzt und sich ständig ändern kann. Die Anwendbarkeit von Grundrechten etwa grundsätzlich schlicht von „Machtverhältnissen“ abhängig zu machen,196 wäre unter diesen Umständen unterkomplex. Dies könnte mitunter darauf hinauslaufen, dass in einer vertraglichen Beziehung die Grundrechte am einen Tag gelten und am nächsten Tag nicht. Nach der Grundrechtecharta haben, wie unter § 5 erörtert, die EU und die Mitgliedstaaten die Grundrechte allgemein auch im Vertragsrecht zu achten und zu fördern. Dies gilt auch für Rechtsverhältnisse, die nicht von besonderer Macht geprägt sind. Die Grundrechte nur unter der Voraussetzung von Machtverhältnissen anzuwenden wäre eine Verkürzung dieses Grundrechtsschutzes, für die keine überzeugende Begründung ersichtlich ist. Das Vorliegen von Macht bestimmt nicht darüber, ob grundrechtliche Optimierungsgebote überhaupt gelten, sondern lediglich, wie weit sie gegenüber gegenläufigen in einen Ausgleich zu bringen sind. Eine differenzierte dogmatische Verarbeitung der differenzierten tatsächlichen Machtverhältnisse hat dort zu erfolgen, wo sie möglich ist: in der Abwägung der Grundrechte. Hiervon handelt der nächste Abschnitt. b) Regulative Tendenzen der Berücksichtigung von Macht in der Abwägung Ist Macht keine Voraussetzung für die Anwendung der Grundrechte, so kann sie doch innerhalb der Grundrechtsabwägung von wesentlicher Bedeutung sein. Dabei entfaltet die Berücksichtigung von Machtverhältnissen argumentativ vor allem regulative Effekte. Zu unterscheiden sind die jeweiligen Auswirkungen bei verschiedenen Typen von Grundrechten. Die größte Bedeutung dürfte Macht als Argument bei Freiheitsgrundrechten besitzen. Im Kern schützen diese bestimmte Lebensausschnitte der 196

So aber aus der deutschen Rechtsprechungspraxis zu GG-Grundrechten im Vertragsrecht etwa BGH (XI. Zivilsenat) NJW 2013, 1519, 1521 (zu „sozialen Machtverhältnissen“ als Voraussetzung der „mittelbaren Drittwirkung“ des Art. 3 Abs. 1 GG).

IV. Macht und EU-Grundrechte

325

Selbstbestimmung – zum Beispiel selbstbestimmte Meinungsäußerungen oder selbstbestimmte Berufsausübung. Ihr klassischer Anwendungsfall liegt in der Abwehr hoheitlicher Eingriffe in die jeweiligen Schutzbereiche. Gerade auch Vertragspflichten können jedoch, wie bereits unter § 6 III. erörtert, zu Einschränkungen von Selbstbestimmung führen. Wie weit solche Einschränkungen noch angemessen sind, hängt in verschiedener Weise mit Macht zusammen. Zunächst kann Macht in der vorvertraglichen Phase die Qualität der selbstbestimmten Entscheidung zu einem bestimmten Vertrag in Frage stellen. Dies gilt grundsätzlich für alle Vertragstypen auf dem Kontinuum zwischen market und firm. Anschaulich illustriert das der Fall Kušionová. Die Gefährdung der Wohnung resultierte aus einer Vertragspflicht, der die Verbraucherin in einer typischen Macht-Konstellation zugestimmt hatte. Wie oben ausgeführt, wies auch der EuGH gezielt auf diese Problematik hin. In der Begrifflichkeit der deutschen Grundrechtsdogmatik könnte man fragen, ob unter solchen Umständen (noch) ein zulässiger Grundrechtsverzicht anzunehmen wäre.197 Ob man diese Begrifflichkeit auch für die EU-Grundrechte übernehmen kann, ist zwar zweifelhaft. In der Sache macht es für die Grundrechtsabwägung aber jedenfalls einen entscheidenden Unterschied, inwieweit der Selbstbeschränkung eine Entscheidung zugrunde liegt, die unter den Bedingungen von Macht geschieht. Die Machtanalyse nach dem oben ausformulierten Muster könnte hierfür in konkreten Fällen entscheidende Hinweise liefern.198 Das bedeutet nicht, dass alle in Machtkonstellationen eingegangenen Vertragspflichten grundrechtswidrig wären. Es heißt lediglich – aber immerhin –, dass Macht ein Kriterium in der Abwägung ist, das unter Umständen gegen die Zulässigkeit der Vertragspflicht spricht und somit eine regulative Tendenz besitzt. Daneben sind aber Grundrechtsverletzungen auch dort denkbar, wo gar keine Macht besteht, die Beeinträchtigung aber besonders intensiv ist oder gar den Wesensgehalt der Grundrechte berührt, Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC. Was die Ermöglichung von Verträgen angeht, hat Macht dagegen im Übrigen weniger argumentative Bedeutung. Es ist zwar bisweilen notwendige Folge von Verträgen, dass sich aus ihnen Macht ergibt, doch geschieht dies nicht um der Macht willen. Den klassischen vertragsrechtlichen Prinzipien der Privatautonomie und pacta sunt servanda haben MachtArgumente insofern wenig hinzuzufügen. In Langzeitverträgen und Hierarchien sind weitere Macht-Aspekte bei der Abwägung von Freiheitsgrundrechten zu berücksichtigen. Durch spezifische Investitionen und Vertrauen entstehen, wie erörtert, nach Vertragsschluss weitere Machtpotenziale. Diese können zu intensiveren Einschränkungen von 197 Zum Verzicht im Kontext der Grundrechte im Privatrecht s. etwa W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960), 384 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte: reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit (2003), 354 ff. mit weiteren Nachweisen. 198 S. insbesondere die Diskussion von Machtquellen unter § 7 II. 2. a) aa), bb).

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§ 7 Private Macht

Grundrechten führen, als es bei einem Blick auf die bloßen Vertragsvereinbarungen der Anschein sein kann. Ein bloßes Kündigungsrecht nützt als Ausweg zum Beispiel wenig, wenn man aufgrund spezifischer Investitionen faktisch an seinen Vertragspartner gebunden ist, wie es etwa bei Handelsvertretern der Fall sein kann. Insoweit erhellt die Machtanalyse die genauen Bedingungen der Einschränkungen grundrechtlicher Positionen und kann somit die Qualität der Abwägung verbessern. Wie erörtert sind darüber hinaus insbesondere Weisungsrechte und ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten als Machtquellen einzustufen. Berührt eine Weisung eine grundrechtlich geschützte Position, hat man diesen Hintergrund in der Abwägung zu berücksichtigen. Anders als bei konkreten Vertragspflichten liegt keine Zustimmung zu einer bestimmten Weisung im Voraus vor (sondern nur zu Weisungen im Allgemeinen), was graduell eine schwächere Legitimation für Einschränkungen von Grundrechten bedeutet. In Kombination mit vertraglichen Rechten hat man zudem immer mögliche spezifische Investitionen mit zu betrachten: Idealtypisches Beispiel ist der Arbeitnehmer, dessen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht anderswo in gleichem Maße einsetzbar sind. In solchen Fällen verfügt der Arbeitgeber über besondere Macht. Dass Grundrechte in Deutschland insbesondere im Arbeitsrecht praktisch relevant geworden sind,199 liegt gerade auch an solchen Machtaspekten, welche eine regulative Kontrolle erforderlich machen. Grundrechte dienen so im Übrigen nicht lediglich der Selbstbestimmung etwa des Arbeitnehmers, sondern auch der Kooperation.200 So wie sie Machtmissbrauch verhindern, schaffen sie Vertragsverhältnisse, in denen beide Interessen auch über einen längeren Zeitraum gemeinsam verfolgt werden. Der Einfluss von Grundrechten steht damit im Übrigen – was Macht angeht – nicht in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zu einfachem Vertragsrecht. Auch dieses reagiert schließlich, wie oben gezeigt, regulativ, wenn Macht das Ziel der Selbstbestimmung gefährdet. Das grundrechtliche Erfordernis, einen angemessenen Ausgleich zu schaffen überschneidet sich außerdem mit der Vertragsfunktion des gerechten Austauschs: Soweit Macht den Richtigkeitsmechanismus des Vertrages beeinträchtigt, sind sowohl angemessener Ausgleich wie gerechter Austausch gefährdet. Etwas anders als bei Freiheitsgrundrechten stellt sich der Zusammenhang von Macht und den sozialen Grundrechten des Solidaritäts-Titel der Charta dar. Diese betreffen mit regulativer Wirkrichtung gezielt hierarchische Beziehungen und somit, wie oben erörtert, in der Regel Machtkonstellationen zwischen Privaten. Etwa der Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Art. 30 GRC, das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art. 31 Abs. 1 GRC, und das Recht auf Jahresurlaub, Art. 31 Abs. 2 GRC, beziehen sich auf Arbeitsverhältnisse mit all ihren typischen Machtquellen. Macht 199 200

Dazu auch unten § 8 II. Zur Vertragsfunktion der Kooperation oben § 1 I. 2. e).

IV. Macht und EU-Grundrechte

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hat bei diesen Rechten, anders als bei Freiheitsrechten, nicht die Rolle, die Balance in der Abwägung ausnahmsweise in Richtung Regulierung zu verschieben. Vielmehr gehen diese Rechte geradezu von Machtkonstellationen aus. Die argumentative Berücksichtigung von Macht hat in solchen Fällen vor allem eine bestätigende, gegebenenfalls forcierende Bedeutung, was ihre Wirkung angeht. Vollzieht man Machtquellen in hierarchischen Verhältnissen nach, wie es oben erörtert wurde, hilft dies, bestimmte regulatorische Maßnahmen einzuordnen und besser zu verstehen. Es wird der Kontext sichtbar, in welchem etwa das Recht auf Jahresurlaub festgelegt wird. So lassen sich in verschiedene Richtungen Parallelen ziehen. Man kann etwa anhand von Machtverhältnissen Arbeitsverhältnisse mit Handelsvertreterbeziehungen oder anderen Langzeitverträgen vergleichen und so unterschiedliche oder gleich intensive Beeinträchtigungen und entsprechende regulative Behandlung begründen. Machtargumente könnten insofern auch schon ausnahmsweise die Bestimmung des Schutzbereiches eines Grundrechts betreffen und nicht erst die Abwägung. Schließlich ließe sich erwägen, etwa das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art. 31 Abs. 1 GRC, auch auf solche Langzeitverträge anzuwenden, die zwar keine Arbeitsbeziehung im klassischen Sinne betreffen, doch von gleichen Machtverhältnissen und damit Potenzialen von Interessengefährdung betroffen sind. Vertragsfunktional gesehen tragen die genannten Grundrechte im Übrigen insbesondere zum Gedanken der Kooperation bei. Sie geben ein Gerüst für langfristige Beziehungen vor, nach dem bestimmte Interessen gerade auch unter den Bedingungen von Macht zu wahren sind. Noch einmal anders stellt sich der Zusammenhang von Gleichheitsrechten und Macht dar. Die bisherigen Fälle des EuGH legen den Schluss nahe, dass gerade auch Gleichheitsrechte typischerweise in Fällen privater Macht Bedeutung erlangten. Schließlich bezogen sich die Urteile Mangold, Kücükdeveci und HK Danmark gerade auf Arbeitsverträge. Dass dem in der Praxis auch weiterhin so sein wird, liegt vor allem am Anwendungsbereich der EUGrundrechte in diesem Feld. Dieser umfasst schließlich insbesondere Arbeitsverträge.201 Der Wortlaut von Art. 21 GRC lässt offen, ob Macht in irgendeiner Weise eine Rolle spielen soll. Es ist darin stellt schlicht festgestellt, dass Diskriminierungen verboten sind, und nicht etwa bloß Diskriminierungen durch mächtige Private. Innerhalb der etablierten Prüfungsstruktur von Diskriminierungsverboten wird zur entscheidenden Frage, ob Machtpositionen bei der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen argumentativ bedeutsam sein sollten. Ist ein und dieselbe Art der Ungleichbehandlung unterschiedlich zu bewerten, je nachdem ob sie von einer Machtstellung begleitet wird oder nicht? Wenn pauschale Antworten auch schwierig sind und mit Vorsicht betrachtet werden sollten, ist dies zu einem gewissen Ausmaß zu 201

Dazu näher oben § 1 III. 1.

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§ 7 Private Macht

bejahen. Es macht eben praktisch einen bedeutenden Unterschied, welche Handlungsalternativen betroffenen Personen vorliegen, inwiefern sie die Möglichkeit haben, Ungleichbehandlungen ohne Weiteres auszuweichen. Dies wirkt sich auf die Intensität der Beeinträchtigung aus. Insofern ist eine Ungleichbehandlung unter den Bedingungen von Macht tendenziell schwieriger zu rechtfertigen als ohne diesen Umstand. Andererseits kann eine Ungleichbehandlung auch ungerechtfertigt sein ohne das Vorliegen einer konkreten Machtposition in dem Sinne, wie sie hier verstanden wird. Diese ist lediglich ein Argument unter mehreren.

V. Zusammenfassung V. Zusammenfassung

Das Verhältnis von Grundrechten und privater Macht ist komplexer als es auf den ersten Blick scheinen mag. Man hat zu klären, was mit Macht gemeint sein soll und mindestens typische Machtkonstellationen näher zu untersuchen, um allzu pauschale Aussagen zu vermeiden. Da im juristischen Diskurs kein etabliertes Machtkonzept existiert, ist eine interdisziplinäre Herangehensweise gewinnbringend. Unter den diversen Machtkonzepten, die im sozialwissenschaftlichen Diskurs zirkulieren, kann keines für sich in Anspruch nehmen, das für die Rechtswissenschaften „richtige“ zu sein. Für den vertraglichen Kontext hat sich jedenfalls die Machttheorie Luhmanns als praktikabel und erklärungskräftig herausgestellt. Sie ermöglicht es, in einer stringenten Art und Weise Machtquellen, die Umstände der Ausübung von Macht und die Potenziale und Wirkungen von Macht zu analysieren. Entscheidend sind nach ihr, ähnlich einer spieltheoretischen Betrachtungsweise, die Handlungsalternativen, welche den Vertragspartnern zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen und die jeweilige Bewertung ihrer Vor- und Nachteile. Diese Handlungsalternativen unterscheiden sich typischerweise zwischen verschiedenen Vertragstypen auf dem institutionenökonomischen Kontinuum zwischen market und firm. Der Umstand, dass zahlreiche Verträge sich von dem Modell eines einfachen Austauschvertrages entfernen, macht es auch bei einer theoretischen Betrachtung erforderlich, komplexere Verträge zu berücksichtigen und insbesondere die Phase nach Vertragsschluss in den Blick zu nehmen. Eine solche Betrachtung verdeutlicht, dass bei vielen Langzeitverträgen und hierarchischen Beziehungen Macht geradezu notwendiger Bestandteil ist. Dies gilt vor allem für mit rechtlichen Sanktionen begründete Macht aus Vertragspflichten, aber auch spezifische Investitionen formen die Handlungsalternativen typischerweise so, dass Macht entsteht. Das Machtpotenzial steigt auf dem Kontinuum vom Markt zum Unternehmen hin an. So wie das Vertragsrecht Verträge ermöglicht, ermöglicht es auch die Errichtung von Strukturen privater Macht. Man kann daher nicht behaupten, dass das Recht private Macht lediglich, so sie auftrete, einschränkte. Viel-

V. Zusammenfassung

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mehr ist dies lediglich einer, aber nicht der einzige Aspekt des Umgangs mit privater Macht. Zu erkennen ist, dass Macht teils schon im Ansatz verhindert werden soll (insbesondere vorvertragliche Macht, Macht aus spezifischen Investitionen), teils in Bahnen noch zulässiger Machtausübung gelenkt werden soll (bei AGB, Macht aufgrund einseitiger vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten). Der Einfluss der EU-Grundrechte auf das Vertragsrecht fügt sich in dieses Feld ein und bedeutet keinen grundsätzlich neuen Umgang mit privater Macht. Sie wirken ebenso ermöglichend, was private Macht angeht, wie auch regulativ. Macht ist keine Voraussetzung für die Wirkung der EUGrundrechte im Vertragsrecht, auch nicht für ihre unmittelbare Anwendbarkeit. Als Argument innerhalb der Abwägung widerstreitender Grundrechte haben Machtverhältnisse jedoch eine eminente Bedeutung. Dabei können Machtpositionen entscheidend für regulative Wirkungen der Grundrechte sprechen. Dies gilt insbesondere im Fall von Freiheitsgrundrechten, und zwar sowohl bei Macht in der vorvertraglichen Phase (z.B. bei AGB) wie auch bei der Vertragsdurchführung (z.B. bei Weisungen im Arbeitsverhältnis). In der Rechtsprechung des EuGH hat die Problematik privater Macht zwar schon einige Male Erwähnung gefunden, doch steckt hier noch ein erhebliches Potenzial, um zu differenzierteren Urteilsbegründungen zu gelangen. Insofern ist die hier vorgestellte Analyse des Zusammenhangs von Macht, Verträgen und Grundrechten auch als überblicksartiges Angebot an Machtanalytik zu lesen. Gerade weil die Rechtsprechung des EuGH bisher unter Machtgesichtspunkten noch nicht allzu viel vorgibt, kann eine Diskussion der Thematik besonders produktiv sein.202

202

Möglich wäre im Übrigen auch eine Untersuchung der Rechtsprechung deutscher Gerichte zu Grundrechten im Privatrecht anhand der vorgestellten Aspekte und Leitlinien. Ein Reihe von Leitentscheidungen lässt sich prima facie mit Bezug zur vorgestellten Machtanalyse erklären: Das gilt etwa für vorvertragliche Macht und die Bürgschaftsentscheidung (BVerfGE 89, 214), für spezifische Investitionen in Langzeitverträgen und die Handelsvertreterentscheidung (BVerfGE 81, 242) sowie für discretionary power in Hierarchien und etwa die Nichtbefolgung von Weisungen aus Gewissensgründen (etwa BAGE 47, 363).

§ 8 Einzelne Impulse und Potenziale in Teilgebieten des Vertragsrechts In beiden den vorangegangenen Kapiteln wurden Querschnittsaspekte des Vertragsrechts schlechthin besprochen. Der folgende Abschnitt befasst sich mit einer etwas konkreteren Fragestellung: Thema sind die Impulse in bestimmten Teilgebieten des Vertragsrechts. Dabei geht es nicht um dogmatische Einzelfragen, sondern um eine immer noch recht abstrakte Betrachtung, um grobe funktionale Leitlinien. Eine Untersuchung aller möglicherweise durch EU-Grundrechte betroffenen Rechtsprobleme ist hier nicht durchführbar. Möglich ist es jedoch, Kernpunkte und Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. So lässt sich die Wirkung der Grundrechte illustrieren, exemplarisch veranschaulichen und ein Stück weit greifbarer machen. Was Antidiskriminierungsrecht, Arbeitsrecht und Vebraucherrecht angeht, kann man auf Grundlage der bisher ergangenen EuGH-Urteile einige Feststellungen treffen (dazu I.-III.). Innerhalb des Verbraucherrechts drängen sich besonders Wirkungen im Bereich der AGB-Kontrolle auf. Nur von Potenzialen – aber immerhin – lässt sich in einigen anderen Gebieten sprechen. Dies wird für das Datenschutzrecht, Handelsvertreterrecht und Versicherungsvertragsrecht begründet (dazu IV.). Da nicht das gesamte Privatrecht, sondern lediglich das Vertragsrecht thematisiert wird, ist die EuGH-Rechtsprechung zum digitalen Bereich und geistigen Eigentum lediglich mittelbar relevant.

I. Antidiskriminierungsrecht I. Antidiskriminierungsrecht

Das Antidiskriminierungsrecht ist gewissermaßen das Epizentrum des Einflusses der EU-Grundrechte auf das Vertragsrecht. Entscheidungen, die hier ergangen sind, wurden bisweilen als „Erdbeben“ bezeichnet und haben auch in nicht-spezialisierten juristischen Kreisen erhebliche Aufmerksamkeit erlangt – namentlich Mangold und Kücükdeveci.1 Zudem haben sie Nachhall 1

J.H. Bauer/C. Arnold, Verbot der Altersdiskriminierung – Die Bartsch-Entscheidung des EuGH und ihre Folgen, NJW 2008, 3377 zur Mangold-Entscheidung als „Erdbeben im deutschen Arbeitsrecht“. Von einem „spektakulären Urteil“ spricht bezüglich Mangold H. Konzen, Europäische Grundrechte im aktuellen Arbeitsrecht, in: D. Joost et al. (Hg.), Festschrift für Franz Jürgen Säcker (2011), 229, 231.

I. Antidiskriminierungsrecht

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(bzw. -beben) auch in anschließenden Entscheidungen in anderen Rechtsgebieten ausgelöst – etwa in AMS.2 Nach dem frühen Meilenstein der Gleichbehandlungsrechtsprechung in Defrenne3 hat in den letzten Jahren vor allem Art. 21 GRC beziehungsweise sein Pendant in der Gestalt eines allgemeinen Grundsatzes des Unionrechts Relevanz erlangt. Die Wirkung dieses Diskriminierungsverbotes vollzieht sich vor dem Hintergrund einer breiteren Debatte um Diskriminierungsverbote im Zivilrecht im Allgemeinen.4 Diese soll hier nicht abermals entfaltet werden, doch bildet sie einen Kontext, der mitzulesen ist. Vorliegend ist innerhalb dieses komplexen Feldes von Interesse, welche Impulse EU-Grundrechte gegenüber der ohnehin bestehenden Rechtslage mit sich bringen und welche Besonderheiten bei ihrer Anwendung durch den EuGH im Antidiskriminierungsrecht bestehen. Auffallend ist, dass die grundrechtlichen Diskriminierungsverbote sich signifikant gegen widerstreitende Interessen durchgesetzt haben und dabei im Wege direkter Anwendung zu einer Durchsetzung des Sekundärrechts führen (dazu 1.) sowie dass das Antidiskriminierungsrecht dem Gerichtshof als dogmatisches Labor dient (dazu 2.). 1. Direkte Wirkung der Diskriminierungsverbote und Stärkung des Sekundärrechts Ausschließlich im Bereich der Nichtdiskriminierung hat der EuGH bisher Grundrechte im Vertragsrecht unmittelbar angewandt und damit vorgegeben, dass entgegenstehendes nationales Privatrecht unanwendbar sein soll. In Mangold, Kücükdeveci, Prigge und HK Danmark zog er Art. 21 GRC beziehungsweise den entsprechenden allgemeinen Grundsatz im Wege direkter Anwendung heran (im Folgenden soll der Einfachheit halber nur noch von Art. 21 GRC die Rede sein).5 Zwar deutete der Gerichtshof später in AMS an, dass die Konstruktion nicht auf dieses Grundrecht beschränkt sei.6 Bisher ist 2

EuGH Rs. C-176/12 (AMS), Rn. 41, 47 – dort ausdrücklicher Bezug auf Kücükdeveci. EuGH Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455. 4 Vgl. nur als Ausgangspunkte für einen Debattenüberblick und mit zahlreichen weiteren Nachweisen S. Leible (Hg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006); D. Schiek et al., Cases, materials and text on national, supranational and international non-discrimination law (2007); Schulze, Non-discrimination in European private law (2011); Reich, General principles of EU civil law (2014), 59 ff. Kristallisationspunkte der ungemein reichhaltigen Diskussion sind unter anderem das Verhältnis von Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbot, die philosophischen Grundlagen der Diskriminierungsverbote, das Verhältnis von Prinzipien des öffentlichen und des Privatrechts, ökonomische Aspekte von Diskriminierung sowie spezifische Gleichbehandlungsanforderungen in unterschiedlichen Typen vertraglicher Beziehungen. 5 Zum Gleichlauf der Grundstrukturen von Chartagrundrechten und Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen schon oben § 5 I. 2., 3. 6 Dazu oben § 5 I. 3. 3

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§ 8 Impulse und Potenziale

diese besonders weitgehende Wirkung, nach der schließlich auch mitgliedstaatliches Gesetzesrecht als unanwendbar zu übergehen ist, jedoch bei keinem anderen Grundrecht vorgekommen. EU-Grundrechte haben damit den Diskriminierungsschutz zulasten widerstreitender Interessen – insbesondere auch formaler Vertragsfreiheit – gestärkt. Die direkte Wirkung von Art. 21 GRC betrifft im Ergebnis sowohl privatrechtliche Gesetze wie auch einzelne Verträge. Während in Mangold und Kücükdeveci gesetzliche Normen für unvereinbar mit dem Grundrecht befunden wurden, bezog sich Prigge auf einen Tarifvertrag und HK Danmark auf einen Arbeitsvertrag. Die verhältnismäßig vielen EuGH-Fälle im Antidiskriminierungsrecht resultieren auch daraus, dass mehrere Richtlinien den grundrechtlichen Anwendungsbereich eröffnen. Diese untersagen jeweils die Diskriminierung aus bestimmten Gründen für einen bestimmten Bereich: Richtlinie 2000/43/EG verbietet Diskriminierung wegen Rasse oder der ethnischen Herkunft in einer Reihe von Situation, darunter bei Bedingungen des Zugangs, der Ausübung und Beendigung von Erwerbstätigkeit und beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, darunter Wohnraum. Richtlinie 2000/78/EG bezieht sich auf Diskriminierungen wegen Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Ausrichtung in Beruf und Beschäftigung. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts betrifft Richtlinie 2004/113/EG bezüglich des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sowie Richtlinie 2006/54/EG bezüglich Arbeit und Beschäftigung. Diese Regelwerke sind gewissermaßen das Sprungbrett, über das Art. 21 GRC auf Gesetze und Verträge direkte Anwendung erlangt. Die grundrechtlichen Diskriminierungsverbote gelten nur soweit, wie sowohl im Hinblick auf das diskriminierende Merkmal sowie auf den situativen Kontext eine sekundärrechtliche Regelung besteht. Beispielsweise ist also keine Diskriminierung wegen Fettleibigkeit erfasst, da diese in den Richtlinien nicht vorkommt.7 Die direkte Anwendung der Gleichbehandlungsgrundrechte, also von Primärrecht, führt nicht dazu, dass das sekundärrechtliche Antidiskriminierungsrecht an Bedeutung verlieren würde. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar gibt der EuGH in den genannten Fällen vor, eine primärrechtliche Vorschrift anzuwenden. Eine solche kann schließlich, anders als Richtlinien, auch in Fälle zwischen Privaten direkt anwendbar sein. Bei der Prüfung im Einzelnen geht der Gerichtshof jedoch im Detail auf die entsprechenden Richtlinien ein, da er sie als Konkretisierung des Art. 21 GRC ansieht. Er hätte sich auf Grundlage des Wortlauts des Art. 21 GRC ebenso auch auf ein allgemeines Prüfungsprogramm zurückziehen können, dass Ungleichbehandlung aufgrund bestimmter Merkmale verbietet, wenn sie nicht zur Verfolgung eines legitimen Zieles notwendig und angemessen sind. Im Wesentlichen nimmt er dies 7

EuGH Rs. C-354/13 (FOA), Rn. 50 ff. sowie schon oben § 3 I 3.

I. Antidiskriminierungsrecht

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auch als Struktur seiner Prüfung. Er füllt sie aber unter Bezugnahme auf konkrete sekundärrechtliche Vorschriften auf. Besonders deutlich wird das etwa im Fall Prigge. Dort führte er lediglich einleitend ein, dass Richtlinie 2000/78/EG eine Konkretisierung des Art. 21 GRC darstellte, er also in der Sache ein Grundrecht prüfte. Im Anschluss ging er aber nur noch auf die genauen Vorgaben der Richtlinie ein, unter anderem die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1. Diesem entnahm er beispielsweise, dass es sich bei einem bestimmten Alter um eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ handeln müsste, um die Ungleichbehandlung rechtfertigen. Auch sagte er etwa, das die Flugsicherheit ein „rechtmäßigen Zweck im Sinne von Art. 4 Abs. 1“8 darstelle und dass Art. 4 eng auszulegen sein.9 Im Fall HK Danmark nahm er zwar deutlich häufiger auf Art. 21 Bezug, ging daneben aber auch immer im Detail auf die sekundärrechtlichen Vorgaben ein.10 Im Endeffekt verhilft die direkte Anwendung der Grundrechte damit Sekundärrecht zu höherer Durchschlagskraft. 11 Grundrechte verlangen substanziell, dass die Regelungsgehalte von Richtlinien auch zwischen Privaten durchzusetzen sind. So wie die Anwendung der Gleichbehandlungsgrundrechte private Verträge betrifft, bewirkt sie dabei regulative Impulse, so wie sie Normen des Vertragsrechts betrifft, gibt sie die nichtdiskriminierende Ausgestaltung der Regulierung vor. Bezogen auf die unter § 1 I. erörterten Vertragsfunktionen trifft es zwar zu, dass Diskriminierungsverbote die Selbstbestimmung jener beschränken, die aufgrund der entsprechenden Merkmale Ungleichbehandlungen vornehmen. Die regulative Wirkung der Grundrechte im Bereich der Nichtdiskriminierung macht vertragsfunktional jedoch in mehrerer Hinsicht Sinn: Diskriminierungsverbote fördern grundsätzlich die tatsächliche Selbstbestimmung ansonsten diskriminierter Personen, sie tragen zu einem offenen Markt bei und es sprechen gute Gründe für ihre effizienzfördernden Einfluss. An anderen Stellen dieser Schrift wird dies ausführlicher besprochen.12 Hier ist jedenfalls festzustellen, dass die EU-Grundrechte keineswegs grundsätzlich mit einer Logik des einfachen Vertragsrechts brechen. 2. Dogmatisches Labor Es wurde schon angedeutet, dass grundrechtliche Rechtsfortbildungen gerade im Antidiskriminierungsrecht statt gefunden haben. Die in Mangold erstmals verwendete und in Kücükdeveci präzisierte dogmatische Konstruktion erregte 8

EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 69. EuGH Rs. C-447/09 (Prigge), Rn. 72. 10 S. dazu oben § 4 I. 5. 11 Ebenso z.B. Konzen, Europäische Grundrechte im aktuellen Arbeitsrecht, in: Joost et al. (Hg.), Festschrift für Franz Jürgen Säcker (2011), 229, 231. 12 S. § 1 II. 2. b); § 6 III. 1. a); § 9 III. 2. c). 9

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§ 8 Impulse und Potenziale

auch darum so viel Aufsehen, weil sie so innovativ war.13 Im Bereich des Antidiskriminierungsrechts scheint der EuGH das Selbstvertrauen zu besitzen, auch gewagtere Rechtsfortbildung zu betreiben. Man mag das damit in Zusammenhang bringen, dass hier die Unionsrechtsordnung tatsächlich führend ist, quasi ein neues Rechtsgebiet für viele Mitgliedstaaten erst erschaffen hat, und der EuGH deswegen von einer besonderen Legitimität zur Rechtsfortbildung ausgehen kann. Aufgrund dieser günstigen Innovationsbedingungen kann man dem Feld die Rolle eines dogmatischen Labors zuschreiben. Selbst wenn der EuGH später in AMS den im Antidiskriminierungsrecht entwickelten Ansatz nicht mit aller möglichen Konsequenz fortentwickelte, bezog er sich doch gerade auf die in Kücükdeveci ausformulierte Argumentation, griff die dort erarbeiteten Ansätze auf. Sind innovative Urteile einmal in der Welt, bieten sie dogmatische Argumentationsstrukturen, die auch außerhalb der konkreten Fallgestaltung Anwendung finden können. Die befassten Richter werden dann in der Lage sein, auf einen vorhergehenden Fall zu verweisen, und den Eindruck überschäumender Kreativität zu vermeiden. Eine Erklärung für die Zurückhaltung des Gerichtshof in AMS könnte im Übrigen in der teilweise sehr deutliche Kritik an den Entscheidungen Mangold und Kücükdeveci liegen. Man könnte von einem vom Antidiskriminierungsrecht ausgehenden Prozess von „trial and error“ sprechen – der EuGH testet aus, wie weit er in intersubjektiv akzeptabler Weise rechtsfortbildend gehen kann. Dass er trotz Kritik keineswegs den Kopf in den Sand steckt, lässt sich etwa aus dem Urteil HK Danmark ablesen – in der Konsequenz weitete er die Kontrolle anhand der grundrechtlichen Diskriminierungsverbote darin deutlich aus, indem er sie auch auf Verträge erstreckte. Auch im Fall Test-Achats betrat der EuGH im Übrigen dogmatisches Neuland. Nicht nur befand er ausnahmsweise eine Vorschrift des Unionsrechts für grundrechtswidrig. Aus einer Governance-Perspektive bemerkenswert ist insbesondere auch, dass er die Vorschrift nicht schlicht für nichtig erklärte, sondern vielmehr eine Frist einräumte bis zu der Verträge nach der vermeintlichen Gesetzeslage noch möglich waren, in anderen Worten eine grace period bestimmte.14 Somit trug er den weitreichenden Implikationen des Urteils Rechnung – betroffen war schließlich eine sehr hohe Zahl von Versicherungsverträgen. Der EuGH war sich seines Eingriffs in die Sphäre des Gesetzgebers also sehr bewusst und setzte selbst quasi-legislative Mittel ein. Er entschied offensichtlich nicht bloß einen in der Vergangenheit liegenden Fall, sondern gestaltete das regulative Umfeld von Verträgen für die Zukunft. 13

Von „innovative pathway“ spricht Bell, Constitutionalization and EU Employment Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 137, 156. 14 Näher Reich, General principles of EU civil law (2014), 76 ff.; Reich, The Impact of the Non-Discrimination Principle on Private Autonomy, in: Leczykiewicz/Weatherill (Hg.), Involvement of EU law in private law relationships (2013), 253, 264 ff. mit weiteren Nachweisen.

II. Arbeitsrecht

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II. Arbeitsrecht II. Arbeitsrecht

Das Arbeitsrecht scheint ein aussichtsreicher Kandidat für erheblichen Einfluss der EU-Grundrechte. In Deutschland geht man davon aus, dass Grundrechte in keinem anderen privatrechtlichen Teilgebiet „so zum Kleingeld täglicher Rechtsanwendung geworden [sind] wie im Arbeitsrecht“.15 Gerade unter Berücksichtigung von Machtgesichtspunkten kann man im Arbeitsrecht schließlich einen besonderen Regulierungsbedarf erkennen,16 und aus Grundrechten könnte man hierfür Vorgaben ableiten wollen. Die Grundrechtecharta enthält außerdem im Solidaritäts-Titel eine Reihe von Grundrechten, die sich explizit auf individuelle Arbeitsverhältnisse beziehen – insbesondere Art. 27, 30, 31 und 32 GRC. Dazu kommt etwa das Verbot von Zwangsarbeit und Sklaverei, Art. 5 GRC. Insgesamt überwiegen damit quantitativ deutlich Vorschriften, die den Arbeitnehmerschutz zum Gegenstand haben – den Interessen von Arbeitgebern dient grundsätzlich lediglich Art. 16 GRC.17 Zwar ist der Anwendungsbereich all dieser Vorschriften durch den fragmentarischen Charakter des europäischen Sekundärrechts begrenzt – es besteht insofern eine „fehlende Kongruenz“.18 Dennoch gibt es inzwischen zahlreiche Richtlinien von weitreichender praktischer Bedeutung. Nicht umsonst liegen inzwischen eine Reihe ausführlicher Monographien zum Thema des europäischen Arbeitsrechts vor und entscheidet auch der EuGH regelmäßig zu arbeitsrechtlichen Fragen.19 Bisher hat der Gerichtshof allerdings im Arbeitsrecht – lässt man das hier separat behandelte Antidiskriminierungsrecht außen vor – die EU-Grundrechte eher behutsam behandelt. Direkte Anwendungen der genannten Grundrechte des Solidaritäts-Titels sind bisher ausgeblieben (dazu 1.). An der indirekten Wirkung der EU-Grundrechte besteht zwar auch im Arbeitsrecht kein Zweifel. Inhaltlich haben sie jedoch bisher kaum zu einer Verstärkung des regulativen Geflechts und des Schutzes von Arbeitnehmerin-

15

F. Gamillscheg, Ein Gesetz über das internationale Arbeitsrecht, ZfA 1983, 307; Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 92. 16 Dazu oben § 7 II. 2. c) und IV. 17 Ähnlich bemerkte schon Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 99 Fn. 54: „[Man] könnte [...] sagen, dass den Grundrechten der Arbeitnehmer unter ‚Solidarität‘ eine ganzes Kapitel gewidmet wurde, den Grundrechten der Arbeitgeber mit Art. 16 GRCh dagegen nur eine einzige Vorschrift“. 18 F. Rödl, Arbeitsverfassung, in: A.v. Bogdandy/J. Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 855, 874 ff. 19 S. Barnard, EU Employment Law (2012);Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht: eine systematische Darstellung (2009); Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht (2011); vgl. auch die Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht (EuZA).

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§ 8 Impulse und Potenziale

teressen geführt, sondern teils gerade deregulierend gewirkt (dazu 2.).20 Nicht näher besprochen werden soll hier das Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen – schließlich interessieren lediglich die individualvertraglichen Aspekte des Arbeitsrechts.21 Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch im Individualarbeitsrecht Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und sozialen Grundrechten auftreten (dazu 3.). 1. Zweifelhaftigkeit der unmittelbaren Anwendung sozialer Grundrechte Anders als Art. 21 GRC hat der EuGH die Vorschriften des Solidaritäts-Titel der Charta bisher nicht direkt angewandt. An Gelegenheiten hat es jedenfalls nicht gemangelt. In der Sache AMS entschied der EuGH ausdrücklich, dass Art. 27 GRC im konkreten Fall keine direkten Wirkungen entfalte. In den Fällen Dominguez und Fenoll hätte gerade nach den Schlussanträgen der Generalanwälte die Möglichkeit bestanden, Art. 31 Abs. 2 GRC beziehungsweise einen allgemeinen Grundsatz des gleichen Inhalts unmittelbar anzuwenden – welche der Gerichtshof ausließ. Zwar hatte er namentlich in der Sache KHS noch den Eindruck erweckt, als könne Art. 31 Abs. 2 GRC Direktwirkungen entfalten – schließlich sprach er von einem „Anspruch“, der in diesem „verankert“ sei.22 In jenem Fall kam es allerdings nicht auf die unmittelbare Anwendbarkeit an und eindeutige Aussagen in diese Richtung lassen sich weder diesem noch anderen Urteilen zu Art. 31 Abs. 2 GRC entnehmen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Vorschriften des Solidaritäts-Titels, die Arbeitsverhältnisse betreffen, überhaupt direkte Wirkung entfalten können, oder ob sie zu unbestimmt sind.23 Für die EU-grundrechtliche Überformung des Individualarbeitsrechts ist dies von großer Bedeutung. Hiervon hängt ab, ob mitgliedstaatliche Vorschriften bloß europarechtskonform auszulegen sind oder auch als unanwendbar beiseite gelassen werden können. In AMS befand der EuGH, dass Art. 27 GRC seinem Wortlaut nach auf eine Konkretisierung durch Unionsrecht oder nationales Recht angewiesen ist und daher nicht unmittelbar angewandt werden könne. Art. 21 GRC andererseits, der solch eine Wendung nicht enthält, beinhalte als solcher ein subjektives 20 Etwas anders – mehr Arbeitnehmerschutz feststellend – fällt die Beurteilung aus bei Bell, Constitutionalization and EU Employment Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 137. 21 Dazu etwa Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91; Konzen, Europäische Grundrechte im aktuellen Arbeitsrecht, in: Joost et al. (Hg.), Festschrift für Franz Jürgen Säcker (2011), 229; Barnard, Viking and Laval: an introduction, 10 Cambridge Yearbook of European Legal Studies (2007-08), 463; s. auch die Nachweise oben in § 4 II. 2., 3. 22 EuGH Rs. C-214/10 (KHS) Rn. 31. 23 Dazu auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht: eine systematische Darstellung (2009), 49 ff.

II. Arbeitsrecht

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Recht. Daraus könnte man nun schließen, dass auch alle anderen Grundrechte, welche den Verweis auf einfachgesetzliche Konkretisierung enthalten, nicht direkt angewandt werden könnten. Aus dem Titel IV. wären davon Art. 28 GRC (Recht auf kollektive Verhandlungen und Maßnahmen) und Art. 30 GRC (Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung) betroffen, unter den Freiheitsgrundrechten aber auch Art 16 (Unternehmerfreiheit). Sowohl bei Art. 28 GRC sowie auch bei Art. 16 GRC findet man in dieser Hinsicht in der Rechtsprechung des EuGH allerdings keine Bestätigung – im Gegenteil. In Sky Österreich und Alemo Herron hielt der Gerichtshof Art. 16 GRC für hinreichend konkret, um ihnen ein subjektives Recht zu entnehmen. In Viking und Laval zog er das „Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme“24 zwar nicht als unmittelbar anwendbares subjektives Recht heran, sondern lediglich zur Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs. Die Terminologie legt aber nahe, dass es als subjektives Recht zu begreifen ist. Statt des Wortlauts könnte man daher überlegen, darauf abzustellen, ob ein Grundrecht sachnotwendig einfachrechtlich zu konkretisieren ist. Bei der Mitbestimmung durch die Arbeitnehmer drängt sich dies auf. Art. 27 GRC lässt schließlich ganz offen, wie die Anhörung und Unterrichtung institutionell zu verwirklichen ist und spricht schlicht davon, dass sie auf „geeigneten Ebenen“ zu geschehen hat. Andererseits sind Grundrechte typischerweise unbestimmt und die Unterschiede zwischen verschiedenen Grundrechten in dieser Hinsicht eher gradueller Natur: Auch etwa das klassische Grundrecht der Versammlungsfreiheit bedarf schließlich für die Praxis einer einfachrechtlichen Ausgestaltung. Es kann daher nur darum gehen, ob die grundrechtlichen Vorschriften ein Mindestmaß an Konkretheit enthalten, das als Ausgangspunkt einer abwägenden Argumentation dienen kann. Dass ein gewisses Maß an Unbestimmtheit verbleibt, da immer eine Abwägung im Einzelfall notwendig ist, versteht sich von selbst. Während eine hinreichende Bestimmtheit in Art. 27 GRC tatsächlich wohl zu verneinen ist, könnte man dies im Falle des Urlaubsgrundrechts aus Art. 31 Abs. 2 GRC wohl anders sehen.25 Einen bestimmbarer Kern enthält auch Art. 31 Abs. 1 GRC mit dem Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen. Beim Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Art. 30 GRC dürfte es dagegen daran fehlen. Klarheit für die Praxis wird hier jedoch nur der EuGH schaffen können. Die bisher fehlende unmittelbare Wirkung führt im Übrigen auch dazu, dass die Grundrechte nicht zur Durchsetzung des Sekundärrechts beitragen, wie es im Antidiskriminierungsbereich der Fall ist. Im Fall AMS hatte etwa der Generalanwalt Cruz Villalón im Ergebnis befunden, das Art. 27 GRC, wie er durch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14/EG konkretisiert ist, unmit24

EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806, Rn. 77. Gegen die unmittelbare Anwendbarkeit Seifert, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299, 308 ff. („zu unbestimmt“, 309). 25

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§ 8 Impulse und Potenziale

telbar anzuwenden sei. Dies hätte im Ergebnis, ebenso wie schon etwa in Kücükdeveci, dazu geführt, eine Richtlinie auch im Privatrechtsverhältnis zur Geltung kommen zu lassen. Diese Möglichkeit wählte der EuGH ausdrücklich nicht. Dies könnte man im Vergleich zu den Antidiskriminierungsfällen für inkonsequent halten. Andererseits vermeidet es eine Vermischung verschiedener Rechtsebenen und beugt einer Ausweitung eines fragwürdigen argumentativen Konstrukts vor. Ansonsten hätte sich bei jeder Regelung, die irgendeinen grundrechtlichen Gehalt transportiert, die Frage gestellt, ob sie mittels grundrechtlicher Argumentation auch in Verhältnissen zwischen Privaten unmittelbar anzuwenden sei. Denkt man an die Vorschriften über die Unternehmerfreiheit (Art. 16), die Arbeitnehmerrechte aus Art. 31 GRC oder den Verbraucherschutz (Art. 38 GRC) wird klar, dass dies uferlos werden würde. 2. Erweiternde und begrenzende Einflüsse auf regulative Vorschriften Muss die direkte Wirkung der Vorschriften des Solidaritäts-Titels als zweifelhaft gelten, so steht ihre indirekte Wirkung doch außer Frage. Die Regelungen beeinflussen sowohl die Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wie auch nationaler Normen. Die Charta enthält, wie angedeutet, insbesondere Vorschriften mit Arbeitnehmerschutzrichtung. Die Rechtsprechung des EuGH belegt deren grundsätzliche indirekte Wirkung, doch sind die inhaltlichen Impulse jener sozialen Grundrechte bisher als gering zu bewerten. Vielmehr ist bisher sogar eine eher deregulierende Wirkung der EUGrundrechte zu konstatieren. Regelmäßig ist der Gerichtshof inzwischen auf das Urlaubsgrundrecht aus Art. 31 Abs. GRC eingegangen. In Fällen, welche die Auslegung von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie betrafen, verwies er auf den grundrechtlichen Hintergrund der Vorschrift. Insofern betonte er die Bedeutung zwingender Vorgaben der Ausgestaltung eines hierarchischen Verhältnisses. Begrenzungen der Arbeitszeit kann man insbesondere als Schutz der Selbstbestimmung des Arbeitnehmers interpretieren. Indem eine übermäßige Beanspruchung vermieden wird, fördern Urlaubsansprüche auch das Ziel eines gerechten Austauschs sowie eine effiziente Kooperation über einen langen Zeitraum. Der grundrechtliche Einfluss fördert insofern die allgemeinen Vertragsfunktionen, und zwar gerade auch in seiner regulativen Ausprägung. Für die bisherigen Fälle ist allerdings festzustellen, dass die Argumentation mit Art. 31 Abs. 2 GRC nie einen entscheidenden argumentativen Einfluss darstellte. Sie brachte ersichtlicherweise nicht ein entscheidendes Argument, so oder so zu urteilen, sondern kolorierte lediglich eine auch ohne grundrechtliche Dimension eigenständige Argumentation. Auch in anderen Fällen, in denen der EuGH

II. Arbeitsrecht

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Grundrechte im Individualarbeitsrecht zitierte, beließ er es bei einer bloßen Nennung, ohne sie tiefgehender zu untersuchen.26 Allgemein könnte insbesondere Art. 31 Abs. 1 GRC regulative Wirkungen zugunsten der Arbeitnehmer bei der Auslegung bestehender Vorschriften entfalten. Das Recht auf gesunde, sichere und würde Arbeitsbedingungen erfasst schließlich eine Vielzahl von Fallgestaltungen. Auch Art. 27 GRC kann die bestehenden Normen zur Mitbestimmung von Arbeitnehmern bestärken und beispielsweise dafür argumentieren, Ausnahmen eng auszulegen. Den Vorschriften des Solidaritäts-Titels kommt dabei im Übrigen auch die Rolle zu, ein primärrechtliches Gegenwicht etwa zu den Grundfreiheiten (dazu gleich noch 3.) und der Unternehmerfreiheit zu bilden. Eine Abwägung zwischen solchen widerstreitenden Interessen ist nicht nur innerhalb der Auslegung einfachrechtlicher Vorschriften zu treffen. Schränkt eine arbeitnehmerschützende Vorschrift des Sekundärrechts die Unternehmerfreiheit ein, sind die sozialen Grundrechte bedeutsam für die Rechtfertigung. Die bisherige EuGH-Rechtsprechung macht nämlich deutlich, dass die Unternehmerfreiheit aus Art. 16 GRC im Arbeitsrecht deregulierende Wirkungen haben kann. Grundrechte fördern also keineswegs nur die Interessen der Arbeitnehmer. Im Fall Alemo Herron sprach im Urteil des Gerichtshofs Art. 16 GRC entscheidend dafür, die Richtlinie zur Betriebsüberlassung im Interesse der Arbeitgeber auszulegen: Diese müssten die Möglichkeiten haben, Arbeitsverträge frei zu verhandeln und könnten im konkreten Fall nicht gesetzlich an Tarifverträge gebunden werden. Im Fall Werhof entschied der EuGH in einem ähnlich gelagerten Sachverhalt, dass die negative Vereinigungsfreiheit des Unternehmers gegen eine arbeitnehmerfreundliche Auslegung sprach. Ebenso wie im Fall Alemo Herron machte das grundrechtliche Argument den entscheidenden Unterschied für das Ergebnis aus. Insgesamt treten daher sogar die deregulierenden Potenziale EU-Grundrechte im Arbeitsrecht deutlicher hervor als die regulativen Vorgaben der sozialen Grundrechte. Das bedeutet nicht, dass die zukünftige Entwicklung nicht auch umgekehrt verlaufen könnte. Es führt aber vor Augen, dass Grundrechte einen ganzheitlichen Rahmen für mögliche Vertragsrechte aufstellen und nicht schlicht zu einer fortlaufenden Materialisierung führen.

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Dazu Krebber, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das deutsche Individualarbeitsrecht, EuZA 2013, 188, 192 f. mit weiteren Nachweisen – s. z.B. EuGH Rs. C-243/09 (Fuß), Slg. 2010, I-9849, Rn. 66; EuGH Rs. C-104/10 (Kelly), Rn. 55; EuGH verb. Rs. C-378/07 bis 380/07 (Angelidaki), Slg. 2009, I-3071, Rn. 112 (Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte). Eine stärkere Bedeutung der Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH in dieser Hinsicht will allerdings Bell, Constitutionalization and EU Employment Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 137 erkennen.

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§ 8 Impulse und Potenziale

3. Grundfreiheiten und Grundrechte im Individualarbeitsrecht Während im kollektiven Arbeitsrecht die Grundfreiheiten schon für erhebliches Aufsehen gesorgt haben, ist das Individualarbeitsrecht bisher eher unbehelligt geblieben. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass der einzelne Arbeitnehmer in aller Regel gar nicht die Möglichkeiten hat, die Grundfreiheiten seines Arbeitgebers einzuschränken. Es ist schließlich gerade der Sinn der gewerkschaftlichen Vereinigung (der union), die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer zu erweitern. Insofern sind aus Grundfreiheitseinschränkungen durch einzelne Arbeitnehmer auch in Zukunft kaum Konflikte zu erwarten. Andererseits kann staatliche Regulierung, also zwingende arbeitsrechtliche Normen durchaus, je nach Fallgestaltung, Grundfreiheiten einschränken. Dies gilt zum einen für die Grundfreiheiten der Unternehmer. Zum anderen kann aber auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten durch Arbeitsrecht eingeschränkt werden. Micklitz hat etwa schon in den kollektiven Maßnahmen in Viking und Laval nicht bloß eine Freiheitseinschränkung der Unternehmen gesehen, sondern gerade auch der Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten.27 Entsprechend ist es denkbar, dass regulative Vorschriften der Mitgliedstaaten Arbeitnehmer anderer Herkunft potenziell benachteiligen und somit in ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit beinträchtigen.28 Liegt eine Einschränkung vor, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung. Generalanwalt Cruz Villalón hat sich in Santos Palhota grundlegend zur Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit aus Arbeitnehmerschutzgründen geäußert.29 Dies ist ersichtlicherweise der einzige Fall, in dem EuGH oder Generalanwälte bisher näher die Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten im Individualarbeitsrecht problematisiert haben. Der Generalanwalt stellte fest, dass Art. 31 GRC die Rechtfertigung im Sinne des Arbeitnehmerschutzes vereinfache: Da der Arbeitnehmerschutz nun primärrechtlich verankert sei, sei den Mitgliedstaaten die Befugnis erteilt, „zum Schutz eines bestimmten Niveaus des Sozialschutzes eine Freiheit zu beschränken, ohne dass das Unionsrecht dies als etwas Außergewöhnliches betrachtet, dem restriktiv zu begegnen wäre“. 30 Eine Bestätigung dieser Sichtweise durch den EuGH ist bisher ausgeblieben und muss angesichts der 27

Micklitz, Three Questions to the Opponents of the Viking and Laval Judgements, OSE Paper Series May 2012, 1. 28 Ausführlich hierzu etwa Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 254 ff., 582 ff.; s.a. Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 423 ff., 549 ff.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht: eine systematische Darstellung (2009), 69 ff. 29 So Krebber, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das deutsche Individualarbeitsrecht, EuZA 2013, 188, 198. 30 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón Rs. C-515/08 (Santos Palhota), Rn. 53.

III. Verbraucherrecht und AGB

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Tendenzen aus Viking und Laval in der Sache als unsicher gelten. Unzweifelhaft ist allerdings, dass insbesondere die arbeitnehmerschützenden Vorschriften des Solidarität-Titels der Charta zur Rechtfertigung von Eingriffen herangezogen werden können. Für die konkrete Abwägung wird es auf die Einzelfälle ankommen. Was im Übrigen Regeln angeht, welche die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten beschränken, sind pauschale Aussagen ebenso nicht möglich und es kann nur auf die konkreten Umstände verwiesen werden.

III. Verbraucherrecht, insbesondere Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen III. Verbraucherrecht und AGB

Kaum ein Teilgebiet des Vertragsrechts ist so stark europäisiert wie das Verbraucherrecht – es gibt also weite Einfallstore für den Einfluss der EUGrundrechte. 31 Angesichts dessen ist die Zahl der relevanten EuGHEntscheidungen und auch die der wissenschaftlichen Studien zu Grundrechten in diesem Teilgebiet recht überschaubar.32 In jüngster Zeit hat es allerdings durchaus einige Urteile gegeben, die wichtige Erkenntnisse bringen, große Potenziale andeuten und auf Trends hinweisen dürften. Aus dem Normbestand der Grundrechtecharta springt als relevant vor allem Art. 38 GRC ins Auge – „Die Politik der Union stellt ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher.“ In Spannung steht dazu die Unternehmerfreiheit aus Art. 16 GRC. Aber auch eine Reihe sonstiger Grundrechte kann im Verbraucherrecht einschlägig und von Bedeutung sein. In der Rechtsprechung des EuGH stärkt die Berücksichtigung der Grundrechte den Schutz durch die bestehenden Regeln (dazu 1.), während eine Begrenzung des Verbraucherschutzes bisher nicht zu beobachten ist (dazu 2.). Von besonderer Bedeutung innerhalb des Verbraucherrechts ist der Einfluss der EU-Grundrechte auf das AGB-Recht. 1. Verstärkung des sekundärrechtlichen Schutzes Das wohl bedeutendste Urteil zu EU-Grundrechten auf dem Gebiet des Verbraucherrechts ist Kušionová33. Anders als noch zuvor im thematisch ähnli31 Zum Zusammenhang zwischen Sekundärrecht und Anwendungsbereich der EUGrundrechte s.o. § 3 I. 32 Eine erstaunlich geringe Zahl detaillierter Untersuchungen bemerken Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121. Ausnahme z.B. Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170. 33 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová).

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§ 8 Impulse und Potenziale

chen Fall Aziz34 argumentierte der EuGH nicht bloß in einer Art und Weise, die grundrechtliche Assoziationen hervorrief,35 sondern sprach die Wirkung der Grundrechtecharta offen an. Dass, wie er ausführte, das Grundrecht auf Achtung der Wohnung aus Art. 7 GRC bei der Auslegung der Klauselrichtlinie zu beachten ist, beeinflusst die Beurteilung einzelner Klauseln zugunsten des Verbrauchers. Tendenziell wird eine Berücksichtigung grundrechtlich geschützter Verbraucherinteressen zu einer strengeren Inhaltskontrolle führen. Die Entscheidung Kušionová ist damit nicht bloß ein Impuls, sondern macht vor allem ein Potenzial weithin sichtbar. Aufgrund der Vielzahl der Fälle, in denen die Klauselrichtlinie einschlägig ist, kann der EUgrundrechtliche Einfluss hier von ganz erheblicher Bedeutung werden.36 Sogar das Mietrecht, bisher eigentlich von europäischem Einfluss weitgehend unbehelligt, gelangt über die Klauselrichtlinie teilweise in die Reichweite des EuGH – wie etwa jüngst der Fall Asbeek Brusse zeigte.37 Grundrechte spielten in dieser Entscheidung zwar keine Rolle, aber der Gerichtshof sprach vom „grundlegendes Bedürfnis des Verbrauchers [der] Wohnungsbeschaffung“ sowie der „besondere[n] Bedeutung [des Verbraucherschutzes] bei einem Vertrag über die Vermietung von Wohnraum“. So wie Aziz den Boden für Kušionová legte, könnte Asbeek Brusse auch der erste Schritt zu einer grundrechtlich geprägtem Mietvertragskontrolle sein. Ist der Vermieter Unternehmer und der Mieter Verbraucher, fällt der Mietvertrag in der Regel als vom Vermieter gestellt in den Anwendungsbereich der Klauselrichtlinie und somit den der EU-Grundrechte.38 Problematisch ist dabei für die Rechtsdogmatik im Allgemeinen, dass beileibe nicht jeder Vermieter als Unternehmer gelten wird, was (wieder einmal) die Gefahr unterschiedlicher Standards begründet. Auch könnte sich ein neues Spannungsfeld zwischen EuGH und BVerfG hier auftun. Der Ansatz des Gerichtshofs, das besondere Schutzinteresse des Mieters über das Wohnungsgrundrecht auszudrücken, bringt gegenüber der Rechtsprechung des BVerfG womöglich eine substanzielle Änderung mit sich. Das BVerfG wählt schließlich regelmäßig das Eigentumsgrundrecht des Mieters als Anknüpfungspunkt für verfassungsrechtliche Überlegungen, während Art. 13 GG in seiner Rechtsprechung hier als Pendant zu Art. 7 GRC 34

EuGH Rs. C-415/11 (Aziz), Rn. 61. Namentlich bei Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 139 f. 36 Vgl. auch Gerstenberg, Constitutional Reasoning in Private Law: The Role of the CJEU in Adjudicating Unfair Terms in Consumer Contracts, 21 European Law Journal (2015), 599. 37 EuGH Rs. C-488/11 (Asbeek Brusse). Allgemein zu Mietrecht und der Klauselrichtlinie B. Gsell, Wohnraummietrecht als Verbraucherrecht, WuM 2014, 375. 38 Dazu Gsell, Wohnraummietrecht als Verbraucherrecht, WuM 2014, 375, unter I.5.b). 35

III. Verbraucherrecht und AGB

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bisher, soweit ersichtlich, keine Rolle gespielt hat.39 Die verschiedenen Charaktere des Eigentumsgrundrechts des Grundgesetzes als ausgestaltungsbedürftiges Recht einerseits und des Wohnungsgrundrechts mit dem Bezug zum physischen Mittelpunkt menschlichen Lebens andererseits könnten durchaus zu substanziellen Unterschieden innerhalb der Abwägung führen. Die Offenheit insbesondere des Art. 3 der Klauselrichtlinie schafft jedenfalls allgemein ein generalklauselartiges Einfallstor für diverse Grundrechte. Das Wohnungsgrundrecht könnte insofern nur der Anfang sein. Man denke etwa an Verträge, die persönliche Daten betreffen, was in der digitalen Gesellschaft mit jedem Tag häufiger der Fall ist – zum Datenschutzgrundrecht auch noch unten IV.40 In sozialen Netzwerken könnten sich auch etwa Fragen der Meinungsfreiheit oder Religionsfreiheit stellen, und auch bei Bankkonten ist die Freiheit missliebiger Meinungen und die etwaige Diskriminierung mancher Kunden in Deutschland schon mehrfach praktisch relevant geworden. 41 Allgemein großes Potenzial erkennen manche Beobachter auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen gegenüber Verbrauchern.42 Freilich wird es immer auf die Einzelfälle ankommen. Die Frage, ob EU-Grundrechte hier direkt oder indirekt wirken, dürfte dabei im Übrigen zweitrangig sein. Von Gewicht ist sie schließlich nur dann, wenn sich Normen des nationalen Rechts nicht mehr unionsrechtskonform auslegen lassen und unionsrechtliche Normen im Wege des Anwendungsvorrangs darum unmittelbar angewandt werden. Bei der Klauselkontrolle geht es allerdings um vertragliche Regelungen. Soweit nationales AGB-Recht so europarechtskonform ausgelegt werden kann, dass es ihnen entgegen steht (in Deutschland insbesondere § 307 Abs. 2 BGB), ist keine unmittelbare Anwendung nötig, um vertraglichen Klauseln die Wirksamkeit zu versagen. Zwingendes nationales Vertragsrecht fällt auch gerade nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie, Art. 1 Abs. 2 Klauselrichtlinie.43 Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich die angesprochenen Potenziale verwirklichen. Denkbar ist, dass der EuGH, wie zunächst in Freiburger 39 S. z.B. BVerfGE 89,1; und als Überblick etwa O. Depenheuer, Der Mieter als Eigentümer, NJW 1993, 2561; Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (74. EL Mai 2015), Art. 14 Rn. 201 f. 40 Zum Datenschutzrecht auch noch unten IV. 41 Etwa BGH NJW 2013, 1519; NJW 2003, 1658; NJW 2004, 1031; vgl. auch den in der Süddeutschen Zeitung besprochenen Fall einer Kundin der Commerzbank, der schon wegen kommunistischer Ansichten ihres mit einer Kontovollmacht ausgestatteten Sohnes ihr Konto gekündigt worden sei – SZ vom 29. Januar 2014, Ressort München, Kündigungsgrund Sohn, online verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/muenchen/kontobei-der-commerzbank-kuendigungsgrund-sohn-1.1874422. 42 S. Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170, 185 ff. 43 S. auch EuGH Rs. C-92/11 (RWE Vertrieb), Rn. 25; EuGH Rs. C-488/11 (Asbeek Brusse), Rn. 33.

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§ 8 Impulse und Potenziale

Kommunalbauten44 angedeutet, Enthaltsamkeit übt, oder aber, nachdem er die Klauselrichtlinie wieder aus ihrem Dornröschenschalf geküsst hat, 45 einen verstärkten Drang zur Klauselkontrolle empfindet. Bezogen auf die unter § 1 erörterten Vertragsfunktionen trägt die AGBKontrolle im Allgemeinen insbesondere zum Ziel eines gerechten Austauschs bei – Vertragsklauseln, die ein besonderes Missverhältnis verursachen, sind schließlich unzulässig. Die Berücksichtigung von Grundrechten stärkt bestimmte Interessen bei der Beurteilung dieses Missverhältnisses. EUGrundrechte können so dazu beitragen, die Klauselkontrolle zu schärfen und dienen damit ebenso der Funktion gerechten Austauschs. Insbesondere bei Langzeitverträgen dient die grundrechtsfundierte Klauselkontrolle daneben auch dem Gedanken der Kooperation: Wie bereits oben angesprochen, betrifft sie nämlich gerade auch Anpassungsrechte beziehungsweise discretionary power. 46 Einseitige Bevorteilungen eines Vertragspartners, welche grundrechtlich geschützte Interessen des anderen berühren, werden damit insbesondere unzulässig. Dies trägt zu einer langfristigen Vertragsbeziehung bei, die den Interessen beider Vertragspartner zugute kommt. 2. Keine Einschränkungen bisheriger Regulierung Auffällig ist, dass EU-Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH bisher nicht zu einer Begrenzung des Verbraucherschutzes geführt haben. Gerade die Unternehmerfreiheit aus Art. 16 GRC hätte hierzu eine Grundlage bieten können. Zahlreiche verbraucherschützende Vorschriften begrenzen schließlich die Möglichkeiten unternehmerischen Handelns und insbesondere auch die Vertragsfreiheit der Unternehmer. Gerechtfertigt werden kann dies jedoch nicht bloß etwa durch den Schutz je nach Sachverhalt speziell einschlägiger Grundrechte, sondern allgemein durch Art. 38 GRC. Dieser eignet sich quasi als General-Rechtfertigungsklausel verbraucherschützender Vorschriften, die vor dem EuGH ein erhebliches Gewicht hat. Illustriert wird dies durch die grundrechtliche Diskussion der besonders weitgehenden Schutzvorschriften der Fluggastrechteverordnung47 im Fall McDonagh v. Ryanair.48 Diese sahen, zur Erinnerung, eine Betreuungspflicht durch die Fluglinie auch bei außergewöhnlichen Umständen vor, namentlich bei einem Flugverbot wegen Vulkanausbruchs. Bei der Abwägung zwischen der Unternehmerfreiheit und dem Verbraucherschutzprinzip aus Art. 38 GRC führte der Gerichtshof insbeson44

EuGH Rs. C-237/07 (Freiburger Kommunalbauten), Slg. 2004, I-3403. Dies das schöne Bild bei H.-W. Micklitz/N. Reich, The Court and Sleeping Beauty: The Revival of the Unfair Contract Terms Directive, 41 Common Market Law Review (2014), 771. 46 § 7 III. 2. b). 47 Verordnung 261/2004/EG. 48 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair). 45

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dere aus, dass Verbraucherschutz auch „negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen“ könne.49 Jene Folgen tat der Gerichtshof auch damit ab, dass der Unternehmer sie einpreisen und auf andere Kunden umlegen könne – „als umsichtige Unternehmer“ müsse er sie voraussehen können.50 Eine Situation wie besagter Vulkanausbruch verlangt ein extrem hohes Niveau von Umsichtigkeit. Wenn schon solche weitgehenden Obligationen grundrechtlich unproblematisch sind, legt dies die Annahme nahe, dass allgemein eher keine deregulativen Tendenzen von EU-Grundrechten auf dem Gebiet des Verbraucherrechts ausgehen dürften. Abzuwarten bleibt aber, ob der erst später in Alemo Herron entwickelte harte Kern der Vertragsfreiheit den Gerichtshof weitergehend als rein wirtschaftliche Gesichtspunkte zu einer rigiden Kontrolle verbraucherschützender Vorschriften bewegen könnte. Eine andere Frage ist im Übrigen, ob die Grundrechte, und insbesondere Art. 38 GRC, das bisherige Verbraucherschutzniveau zugunsten der Verbraucher perpetuieren. Derartiges wird schon seit längerer Zeit bezüglich des Primärrechts im Allgemeinen vertreten: Dieses mache es dem Unionsgesetzgeber unmöglich, das sekundärrechtlich erreichte Verbraucherschutzniveau zu senken oder jedenfalls signifikant zurückzufahren.51 Jedenfalls was die Grundrechte angeht – das Primärrecht im Übrigen ist hier nicht Thema – kann eine solche Aussage in ihrer Pauschalität nicht überzeugen.52 Fraglich ist schon, ob im Fall der Rücknahme einer ganzen Richtlinie die EUGrundrechte überhaupt noch anwendbar wären: Schließlich mangelt es nach Rücknahme an einem Rechtsakt, der die Anwendbarkeit eröffnete. Falls man sich auf den Rücknahmeakt als solchen konzentrierte, könnte man andererseits noch die Anwendbarkeit bejahen: Diese Maßnahme fällt logisch notwendigerweise auf einen Zeitpunkt, zu dem der Anwendungsbereich (gerade noch) eröffnet ist. Jedenfalls aber verlangt der Grundsatz des Art. 38 GRC nicht, dass das aktuelle Niveau als historischer Zwischenstand – der ja teils 49

EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 48. EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair), Rn. 49. 51 H.-W. Micklitz, Verbraucherschutz im Entwurf eines Vertrages über die Union (Wirtschafts- und Währungsunion, sowie politische Union), VuR 1991, 317, 318; N. Reich, Zur Theorie des europäischen Verbraucherrechtes, ZEuP 1994, 381, 393; aus jüngerer Zeit etwa Grub, in: C.O. Lenz et al., EU-Verträge Kommentar: EUV, AEUV, GRCh (2013), Art. 169 AEUV Rn. 10. Gerade auch für Art. 38 GRC Wichard, in: C. Calliess/M. Ruffert, EUV, AEUV: das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta (2007), Art. 38 Rn. 5, anders jetzt aber Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 38 Rn. 5. Weitere Nachweise bei C. Herresthal, Die Ablehnung einer primärrechtlichen Perpetuierung des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzniveaus, EuZW 2011, 328, Fn. 4. 52 Ebenso Herresthal, Die Ablehnung einer primärrechtlichen Perpetuierung des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzniveaus, EuZW 2011, 328, 330; Jansen, Revision des Acquis communautaire?, ZEuP 2012, 741, 744. 50

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§ 8 Impulse und Potenziale

auch auf historischen Zufälligkeiten beruht53 – zwingend zu bewahren wäre. Er verlangt zwar durchaus einen bestimmten Mindestschutz, nämlich einen angemessenen Ausgleich mit widerstreitenden Interessen. 54 Es wäre aber besonders nachzuweisen, dass das aktuelle Verbraucherschutzniveau noch gerade so angemessen wäre und jede weitere Absenkung grundrechtswidrig. Nach einem solchen Nachweis zu fragen kommt gleich, ihn für aussichtslos zu erklären.

IV. Datenschutzrecht, Handelsvertreterrecht, Versicherungsvertragsrecht IV. Potenziale

Wie gerade wieder betont, begrenzt der Anwendungsbereich des Unionsrechts den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte. Deren Einflussbereich im Vertragsrecht ist aber mit den bisher behandelten Teilbereichen noch keineswegs ausgeschöpft. Auf mindestens drei Gebieten drängt sich angesichts sekundärrechtlicher Vorschriften die Relevanz von EU-Grundrechten auf, was im Folgenden kurz skizziert werden soll. EuGH-Entscheidungen hat es hier bisher noch nicht gegeben, doch ist mit ihnen zu rechnen. Zuvorderst zu nennen ist das Datenschutzrecht. Das Datenschutzgrundrecht aus Art. 8 GRC hat bisher zwar nicht im Vertragsrecht, wohl aber in sonstigen privatrechtlichen Streitigkeiten eine entscheidende Rolle gespielt, beispielsweise im Fall Google Spain. Der Wille des EuGH, mit dem Datenschutzgrundrecht ernst zu machen, zeigte sich jüngst auch in der Entscheidung Schrems, die sich in der Sache mit Datenschutz bei der Nutzung von Facebook und der Überwachung durch die amerikanische NSA befasste.55 Damit sind in Google und Facebook zwei Hauptakteure der Digitalisierung zu Protagonisten von Leitscheidungen des EuGH geworden. Dass sich dies in 53 Schulze/Zoll, Europäisches Vertragsrecht (2015), 32 f.; Jansen, Revision des Acquis communautaire?, ZEuP 2012, 741, 742: „[Es handelt] sich bei dem Verrbaucher-Acquis um ein rasch gewachsenes, junges Recht [...]. Dabei sind die Regeln des Acquis unverbunden und ohne konzeptionellen Gesamtplan entstanden – wer hätte einen solchen auch entwerfen sollen? Jede Richtlinie hat ihre eigenen Mütter und Väter – nicht nur in der Administration der Europäischen Kommission, sondern auch in den Organisationen, die mit zunehmendem Druck Lobbyarbeit betreiben.“ Die Verbraucherrechterichtlinie hat hieran übrigens nur begrenzt etwas geändert, hat sie doch zahlreiche Verbraucherschutznormen unangetastet gelassen. 54 Herresthal, Die Ablehnung einer primärrechtlichen Perpetuierung des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzniveaus, EuZW 2011, 328, 330 spricht von „praktischer Konkordanz“. In der Sache stimmt dies insoweit mit der Prinzipientheorie, wie sie unter § 5 IV. ausgeführt wurde, überein; im Ergebnis auch S. Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 38 Rn. 5. 55 EuGH Rs. C-362/14 (Schrems), Rn. 26 ff.

IV. Potenziale

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Zukunft auch auf vertragliche Fallgestaltungen niederschlagen wird, liegt nahe. Eröffnet wird die mögliche Anwendung des Art. 8 GRC jedenfalls durch die Datenschutzrichtlinie, die in absehbarer Zeit durch eine Datenschutz-Grundverordnung abgelöst werden soll.56 Rechte und Pflichten über die Aufnahme und Nutzung von Daten können insbesondere auch in Verträgen zwischen Privaten festgelegt und ausgestaltet werden. Durch die Digitalisierung der Gesellschaft, durch Big Data, den Wert von Daten im geschäftlichen Verkehr und die Möglichkeiten immer detaillierterer Schlussfolgerungen zu höchstpersönlichen Fragen aus Daten57 ist es zu erwarten, dass dieses Feld in Zukunft geradezu zu einem grundrechtlichen Brennpunkt wird. Das gilt einerseits für Online-Plattformen und soziale Netzwerke, andererseits etwa auch für Arbeitsverhältnisse und Beschäftigtendatenschutz58 oder Franchise-Systeme. Dass die Datenschutzgrundrechte auch vertragsrechtliche Implikationen haben können, zeigt im Übrigen vergleichend beispielsweise die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.59 Ein weiteres Teilgebiet des Vertragsrechts, für das die EU-Grundrechte Relevanz besitzen, ist das Handelsvertreterrecht. Der Anwendungsbereich wird hier durch die Handelsvertreterrichtlinie eröffnet. 60 Die Grundrechtsrelevanz auch dieses Feldes belegt die bekannte Handelsvertreter-Entscheidung des BVerfG.61 Die Handelsvertreter-Richtlinie regelt unter anderem Wettbewerbsverbote, welche wiederum die über Art. 15 GRC geschützte Berufsfreiheit der Handelsvertreter tangieren. Folglich ist unter anderem Art. 15 GRC für die Auslegung der Richtlinie heranzuziehen. Andererseits wird sich auch der Prinzipal auf grundrechtliche Positionen berufen können und beispielsweise mit Verweis auf Art. 16 GRC mitgliedstaatliche Regulierung zum Schutz von Handelsvertretern in Frage stellen. Man mag zwar bezweifeln, dass diese EU-Grundrechte gegenüber einer rein einfachrechtlichen Argumentation einen Mehrwert bringen. Sie stellen aber jedenfalls Grenzen für die einfachrechtliche Ausgestaltung und deren Auslegung auf, indem sie einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Positionen verlangen. Auch eröffnen sie dem EuGH die Möglichkeit, über grundrechtliche

56

S. Kommissions-Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlich Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung), KOM 2012/0011 (COD). 57 Vgl. etwa die Studie zur Ableitung von Persönlichkeitsmerkmalen aus der Handynutzung G. Chittaranjan et al., Mining large-scale smartphone data for personality studies, Pers Ubiquit Comput 2013, 433. 58 Hierzu ausführlich S. Pötters, Grundrechte und Beschäftigtendatenschutz (2013). 59 BVerfG, Beschluss vom 23.10.2006 – 1 BvR 2027/02, veröffentlicht z.B. in MMR 2007, 93; VersR 2006, 1669; VuR 2007, 190. 60 S.o. § 1 III. 1. 61 BVerfGE 81, 242.

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§ 8 Impulse und Potenziale

Argumentation das Handelsvertreterrecht in Details zu konturieren und fortzuentwickeln. Schlussendlich eröffnen eine Reihe sekundärrechtlicher Regelwerke die Anwendung von EU-Grundrechten im Versicherungsbereich.62 Dass auch die hohe Technizität dieses Gebietes keine Barriere gegen grundrechtliche Einflüsse ist, belegt schon der oben unter I. erwähnte Fall Test-Achats.63 Allgemein besteht ein Spannungsfeld zwischen Differenzierung unter verschiedenen Bevölkerungsgruppen anhand statistischer Werte durch Versicherungsunternehmen auf der einen Seite und Gleichbehandlungsgeboten auf der anderen Seite. Man denke auch beispielsweise an Altersabstufungen und KfzVersicherungen.64 Auch jenseits der schon oben behandelten und hier nicht noch einmal im Detail aufzugreifenden Gleichbehandlungsgebote ist es nicht ausgeschlossen, dass Versicherungsverträge grundrechtlich geschützte Interessen tangieren. Es ist beispielsweise jedenfalls denkbar, dass das Wohnungsgrundrecht aus Art. 7 GRC für Versicherungen relevant wird, welche Wohnungen betreffen, sei es als Versicherung gegen menschliche Einflüsse (insbesondere Einbrüche) oder Elementarschäden. Auch könnte man fragen, inwieweit grundrechtliche Vorschriften womöglich der Berücksichtigung mancher Umstände für die Höhe der Versicherungsprämien entgegen stehen oder diese jedenfalls beeinflussen. Zahlreiche weitere Gedankenspiele ließen sich in diese Richtung anstellen. Es würde ausufern, sie hier weiter zu verfolgen – schließlich wird es auch immer auf die Abwägung im Einzelfall ankommen. Die hier angedeuteten Potenziale können keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit erheben. Weitere Anwendungsfälle von EU-Grundrechten sind durchaus denkbar, sei es bei Verträgen mit Bezug zum Kapitalmarkt65 oder sei es beispielsweise im Bereich des Urhebervertragsrechts.66 Neben der Fra62

S.o. § 1 III. 1. EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats). 64 Näher hierzu und dem Zusammenhang von Versicherungsverträgen und Antidiskriminierung allgemein H. Cousy, Discrimination in Insurance Law, in: R. Schulze (Hg.), Non-discrimination in European private law (2011), 81, 86 ff. Freilich können solche Ungleichbehandlungen gerechtfertigt sein, doch führt insbesondere die unmittelbare Anwendbarkeit von EU-Grundrechten eben tendenziell zu vermehrten Rechtfertigungsanforderungen. 65 Zur Europäisierung des Kapitalmarktrechts beispielsweise R. Veil, Europäische Kapitalmarktunion, ZGR 2014, 544 mit weiteren Nachweisen. 66 Das Urhebervertragsrecht ist zwar bisher nicht harmonisiert (s. Schulze, in: T. Dreier/G. Schulze, Urheberrechtsgesetz (2015), § 15 Rn. 10), aber Anwendungsbereiche für die EU-Grundrechte könnten gegebenenfalls etwa durch die Richtlinie zur Informationsgesellschaft (RL 2001/29/EG) oder die Vermiet- und Verleihrichtlinie (RL92/100/EWG) eröffnet werden – zu Richtlinien auf dem Gebiet des Urheberrechts etwa M. Lehmann, § 54. Die europäischen Richtlinien, in: U. Loewenheim (Hg.), Handbuch des Urheberrechts (2010), 1025. Jenseits des Vertragsrechts hat der EuGH, wie erörtert, ja 63

V. Zusammenfassung

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ge, inwieweit Sekundärrecht den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte tatsächlich auf den vertraglichen Bereich erstreckt, wird hier jeweils noch herauszuarbeiten sein, welche Grundrechte wie heranzuziehen und nach Maßgabe welcher Kriterien sie abzuwägen sind. Sofern der EuGH seine grundrechtsbezogene Rechtsprechung weiter verstärkt, werden die EUGrundrechte in zahlreichen Rechtsgebieten mitgedacht werden müssen, auch wenn dies heute noch nicht geschieht. Es wird dann umso bedeutender werden, die Eigenheiten spezifischer Vertragstypen und -bestandteile auch in der Anwendung und Auslegung der Grundrechte zu reflektieren, gleichzeitig aber auch die Bedeutung der EU-Grundrechte in die jeweiligen vertragsspezifischen Diskurse zu integrieren.

V. Zusammenfassung V. Zusammenfassung

Die Auswirkungen der EU-Grundrechte im Antidiskriminierungsrecht, Arbeitsrecht und Verbraucherrecht fallen unterschiedlich aus. Insofern kann man zu einem gewissen Ausmaß von einer Fragmentierung sprechen.67 Die deutlichsten Impulse haben sich bisher im Antidiskriminierungsrecht gezeigt. Während EU-Grundrechte im Wege direkter Anwendung mitunter zur Unanwendbarkeit nationalen Privatrechts führten, hat der EuGH in den anderen Teilgebieten Grundrechte bisher lediglich indirekte Wirkung zuerkannt. Dies muss nicht heißen, dass in Zukunft keine anderen Grundrechte unmittelbar als Vertragsrecht wirken könnten. Gerade auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ist der EuGH jedoch bisher auffallend zurückhaltend. Grundrechte haben bisher keine nennenswerten regulativen arbeitnehmerschützenden Impulse bewirkt, sondern im Gegenteil bestehende regulative Normen eingeschränkt. Im Verbraucherrecht fällt dagegen auf, dass Grundrechte den Verbraucherschutz durch bestehendes Sekundärrecht stärken und nuancieren. Gleichzeitig begrenzt das Unternehmergrundrecht nach dem EuGH selbst weitgehende regulative Verbraucherschutzvorschriften nicht. Jenseits dieser drei Gebiete sind bisher kaum praktische Impulse aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wohl aber erhebliche Potenziale, festzustellen – namentlich im Handelsvertreter-, Datenschutz- und Versicherungsvertragsrecht.

auch bereits mehrfach auf Grundrechte in urheberrechtlichen Streitigkeiten zurückgegriffen – EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271; EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended); EuGH Rs. C-360/10 (SABAM); EuGH Rs. C-510/10 (DR und TV2 Danmark); EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel); EuGH Rs. C-201/13 (Deckmyn). 67 So Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 152 f.

§ 9 Allgemeine Tendenzen: Marktparadigma der EU-Grundrechte im Vertragsrecht In den vorigen Kapiteln wurde wiederholt die Notwendigkeit der Differenzierung betont – sowohl, was die Konzepte von Privatautonomie und privater Macht anging, wie auch die Einflüsse auf unterschiedliche Teilgebiete des Vertragsrechts. In diesem Kapitel soll mit entgegengesetzter Blickrichtung noch einmal neu angesetzt werden: Die Frage ist, ob man trotz Differenzierungen in Einzelheiten dennoch allgemeine Tendenzen des bisherigen Einflusses der EU-Grundrechte ausmachen kann. Lassen sich die Impulse zu einem auch nur in Ansätzen kohärenten Bild zusammenführen, sind sie Ausdruck eines einheitlichen Paradigmas oder ist lediglich ein Sowohl-als-auch, eine Fragmentierung der Einflüsse zu konstatieren? Diese sehr weite Fragestellung soll hier zunächst in einen analytischen Kontext eingebettet werden. Für die nationalstaatliche Ebene gibt es etablierte Narrative, welche die Verknüpfung von Grundrechten, Vertragsrecht und Wirtschaftsordnung in großen Zusammenhängen beschreiben (dazu I.). Einschätzungen der allgemeinen Tendenzen der EU-Grundrechte knüpfen teils hieran an, teils stellen sie andere Gesichtspunkte in den Mittelpunkt (dazu II.). Die These, welche hier aufgestellt wird, lautet, dass man in den bisherigen Urteilen des EuGH zu Grundrechten im vertragsrechtlichen Kontext ein Paradigma der Marktlogik erkennen kann, das sich von etablierten Beschreibungen der Grundrechtswirkung im Vertragsrecht unterscheidet (dazu III.). Das Vorgehen in diesem Abschnitt ist primär analytisch-deskriptiv. Es soll nicht formuliert werden, was die allgemeinen Tendenzen im Vertragsrecht sein sollten, sondern was sie (bisher) sind. Auf diese Weise gewonnene Erkenntnisse über die Dynamiken der EU-Grundrechte im Vertragsrecht können einen prognostischen Wert haben, also dabei helfen Rechtsentwicklungen vorherzusagen oder in konkreten Fällen Ergebnisse besser abzuschätzen. Gerade wenn man von einem Rechtsbegriff im Sinne eines legal realist wie Oliver Wendell Holmes ausginge, wäre damit viel gewonnen: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“1 Insbesondere bei so offenen Normen wie Grundrechten ist hierfür jeder Anhaltspunkt von Nutzen. Freilich sollten die Ergebnisse in 1

O.W. Holmes, The Path of the Law, 10 Harvard Law Review (1897), 457.

I. Nationale Narrative

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diesem Kapitel mit Vorbehalt betrachtet werden, sind sie doch lediglich ein Zwischenstand einer erst seit einigen Jahren sich entfaltenden Rechtsprechungsaktivität. Sie haben allerdings auch jetzt schon in einem zweiten Schritt durchaus normative Implikationen. Welche allgemeinen Tendenzen man annimmt, mag unter anderem darüber bestimmen, wie man überhaupt zur Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht steht, ob man sie begrüßt oder ablehnt.2 Des Weiteren beeinflusst die Rezeption von Beschreibungen allgemeiner Tendenzen und Paradigmen Vorverständnisse (nicht zu verwechseln mit Vorurteilen) und damit die Bedingungen, unter denen intersubjektiv akzeptable rechtliche Argumentation möglich ist.3 In Habermas Begrifflichkeit haben Paradigmen somit auch „konstruktive“ Eigenschaften.4 In seinem Sinne soll hier auch der Begriff des Paradigmas verstanden sein: „A paradigm is discerned primarily in paramount judicial decisions, and it is usually equated with the court’s implicit image of society.“5

I. Narrative auf nationalstaatlicher Ebene I. Nationale Narrative

Die Rolle der Grundrechte im Privatrecht hat sich seit ihrer erstmaligen Positivierung ebenso gewandelt wie die Rolle des Staates und die Wirtschaftsordnung. Die gängigen Narrative dieser Entwicklungen legen nahe, dass hierbei durchaus Zusammenhänge bestanden.6 In Beschreibungen der bürgerlichen 2

Collins, On the (In)compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2013), 26, 38: „Attitudes towards the insertion of fundamental rights into private law are coloured by perceptions of the likely effects on weaker parties. In turn, those predictions influence the enthusiasm with which directly effective fundamental rights are greeted.“ 3 Zu Vorverständnissen und der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechte, M. Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: N. Achterberg (Hg.), Öffentliches Recht und Politik. Festschrift für Scupin (1973), 187 f. Zu dem Begriff des Vorverständnisses nach Esser, der gerade nicht Vorurteil meint, sondern sich auf die hermeneutischen Bedingungen der rechtlichen Argumentation bezieht Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), insbes. Kapitel 5. 4 Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 472 ff. Den Begriff der Paradigmen nutzt im konkreten Kontext beispielsweise auch Safjan, European Law versus Private Law: Transformation or Deformation of the Paradigm, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 155. 5 J. Habermas, Paradigms of Law, 17 Cardozo Law Review (1996), 771; s. auch Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 468 ff. 6 Zentrale Grundlagen für das geschichtliche Gerüst der folgende Skizze sind insbesondere Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1963); Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Ge-

352

§ 9 Allgemeine Tendenzen

Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Europa stehen sich Grundrechte und Privatrecht rechtlich als getrennte Materien, aber doch komplementär gegenüber.7 Grundrechte waren für den praktischen Inhalt des Privatrechts, sei es in Deutschland, England oder Frankreich, irrelevant – insoweit bestand also „grundsätzliche Beziehungslosigkeit“.8 Andererseits ließe sich durchaus sagen, dass sie demselben „Geist“ entsprangen, nämlich einer bürgerlichen Freiheitsidee, nach der die Staatsmacht zurückzudrängen sei, damit freie Bürger ihre Verhältnisse untereinander privatrechtlich regeln könnten.9 Vereinfacht gesagt wurde das Wirtschaftssystem vom politischen System abgekoppelt, das Privatrecht bot die Grundlage für ein freies Spiel der Kräfte und Interessen, welches die Grundrechte ihrerseits schützten: laissez faire!10 Aus einer funktionalen Sichtweise dienten die Grundrechte der Ermöglichungssellschaft (1987), 192 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 472 ff.; D. Kennedy, Three Globalizations of Law and Legal Thought: 1950-2000, in: D. Trubek/A. Santos (Hg.), The New Law and Economic Development. A Critical Appraisal. (2006), 19. 7 S. insbesondere D. Grimm, Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung, in: G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte (1981), 359 = Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft (1987), 192 ff.; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht (1988), 7 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 477 ff. 8 Diese Wendung für die Lage in Deutschland bei Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht (1988), 8. Dazu auch Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft (1987), 192 ff., auch mit Ausführungen zu England und Frankreich. 9 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft (1987), 192 f. Ähnlich auch die geschichtliche Beschreibung der Privatrechtsgesellschaft bei Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 1966, 75 (wenn er auch nicht ausdrücklich Verfassungsrechtliches behandelt, so äußert er sich doch zu Grundlagen der Gesellschaftsordnung, wie man sie in einer Verfassung formulieren könnte). Spezifisch zur Verfassungsfragen Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, SJZ 1946, 141. 10 Kritisch z.B. Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Achterberg (Hg.), Öffentliches Recht und Politik. Festschrift für Scupin (1973), 187, 200 ff. (teilweise „Missbrauch der Grundrechte für die Zwecke des Kapitalismus“, 203). Zu der Übereinstimmung der zugrundeliegenden Ideale mit den wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1963), 6 ff. Grimm bemerkte zu Grundrechten in der deutschen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: „Hatte ihnen bisher eine Tendenz zur Ausweitung der Freiheit innegewohnt, so wandelten sie sich nun zum Bollwerk, hinter dem sich das Bürgertum mit staatlicher Assistenz gegen die Freiheitsforderungen der unterbürgerlichen Schichten verschanzte. Die Grundrechte garantierten weiterhin Privatrecht, aber es handelte sich um ein Privatrecht, von dem immer deutlicher wurde, dass es seine Verheißung gleicher Freiheit nicht erfüllte.“ – Grimm, Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung, in: Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte (1981), 359, 372.

I. Nationale Narrative

353

funktion des Vertragsrechts. 11 Es kann dahingestellt bleiben, wie und wo dieses idealtypische liberale Konzept tatsächlich voll verwirklicht war – als argumentativer Bezugspunkt lebt es jedenfalls durchaus fort.12 Eins der bekanntesten höchstgerichtlichen Urteile dieser Zeit zeigt im Übrigen zwar, dass Grundrechte und Vertragsrecht auch damals schon in manchen Rechtsordnungen Berührungspunkte aufwiesen, aber entspricht doch ganz dem genannten liberalen Geiste und kann damit als paradigmatisch gelten: die Lochner-Entscheidung des US Supreme Courts.13 In dieser befand das Gericht eine gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit von Bäckern für unvereinbar mit der verfassungsrechtlich garantierten Vertragsfreiheit, 14 verlangte also die Ermöglichung von Verträgen und begrenzte sozial-regulative Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Ganz anders entwickelte sich die Beziehung von Grundrechten und Privatrecht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zunächst und vor allem in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Rechtsordnungen. Nach behutsamen Ansätzen schon zur Weimarer Zeit15 argumentierte eine Reihe von Rechtswissenschaftlern nach Inkrafttreten des Grundgesetzes für eine Drittwirkung der Grundrechte gerade mit dem Ziel, das liberale Privatrecht sozialer zu machen, private Macht zu begrenzen und Schwächere zu schützen.16 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht und andere Gerichte (mit Ausnahme des BAG)17 keine unmittelbare Drittwirkung anerkannten, führten die Grundrechtswirkungen in einer Reihe bedeutender Fälle nach gängiger 11

Zu dieser eingehend oben § 1 II. 2. S. z.B. bei Brüggemeier/Ciacchi, Introduction, in: Brüggemeier et al. (Hg.), Fundamental rights and private law in the European Union II (2010), 15; Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 477 ff. 13 Lochner v. New York, 198 U.S. 45. 14 Zu Einordnungen des Urteils, das einer ganzen rechtlichen Epoche seinen Namen gab („Lochner era“), s. aus der sehr reichhaltigen Literatur beispielsweise C.R. Sunstein, Lochner’s Legacy, 87 Columbia Law Review (1987), 873; R.E. Barnett, Foreword: What’s So Wicked About Lochner?, 1 NYU Journal of Law & Liberty (2005), 324 sowie die weiteren Beiträge im gleichen Heft; R.A. Epstein, Takings: private property and the power of eminent domain (1985), 5 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 15 Dies betonend Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960), 52 ff.; dagegen aber etwa Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), 9 mit weiteren Nachweisen (Leisner könne als widerlegt gelten). 16 H.C. Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht (1961); Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960); Reichenbaum, Grundrechte und soziale Gewalten (1962); Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), 385; zuvor schon z.B. in der Verfassungsdebatte Arndt, Das Problem der Wirtschaftsdemokratie in den Verfassungsentwürfen, SJZ 1946, 137. 17 Dazu ausführlich etwa D. Fabisch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Arbeitsrecht: die Auswirkungen der von Hans Carl Nipperdey begründeten Lehre auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (2010). 12

354

§ 9 Allgemeine Tendenzen

Sicht zu einem Mehr an sozialer Regulierung beziehungsweise zu einer Materialisierung gerade des Vertragsrechts. Insoweit besteht ein bedeutender Zusammenhang zwischen gewandeltem Verfassungsverständnis und der Entwicklung des Vertragsrechts überhaupt. Diese Meinung über den Einfluss der Grundrechte in gerichtlichen Entscheidungen wird sowohl von Kritikern wie auch Befürwortern der Entwicklung geteilt.18 Grundrechte gaben also nicht mehr nur die Ordnung zwischen Gesellschaft und Staat, sondern eine Ordnung der Gesellschaft vor.19 In diesem Sinne übernahmen sie selbst eine Regulierungsfunktion beziehungsweise hielten das Vertragsrecht an, seiner Regulierungsfunktion nachzukommen. Paradigmatisch hierfür ist die Bürgschafts-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die auch international immer wieder in der Rechtswissenschaft rezipiert wird.20 In verschiedenen anderen europäischen Ländern sollen sich ähnliche Tendenzen entwickelt haben.21

18

Z.B. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999); S. Grundmann, Constitutional Values and European Contract Law: An Overview, in: S. Grundmann (Hg.), Constitutional Values and European Contract Law (2008), 3; Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1994), 485 ff.; Brüggemeier/Ciacchi, Introduction, in: Brüggemeier et al. (Hg.), Fundamental rights and private law in the European Union II (2010), 1, 5 ff.; Seifert, Die horizontale Wirkung von Grund-rechten. Europarechtliche und rechtsvergleichende Überlegungen, EuZW 2011, 696, 698; Wagner, Materialisieung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), 13. In der Schnittstelle zum politikwissenschaftlichen Diskurs hat man die Zunahme regulatorischer Vorschriften allgemein als Teil einer „Sozialdemokratisierung“ ausgemacht – F.W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa (1987). 19 Vgl. auch H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes (1975), 40 (spricht von gesellschaftlicher „Gesamtverfassung“ schon für die Weimarer Zeit), 47 ff. (für das GG); Rödl, Arbeitsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 855, 856. 20 Etwa bei Cherednychenko, Fundamental Rights, European Private Law, and Financial Services, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 170; Collins, The Impact of Human Rights on Contract Law in Europe, University of Cambridge Faculty of Law Research Paper No. 13/2011; A. Colombi Ciacchi, The Constitutionalization of European Contract Law: Judicial Convergence and Social Justice, 5 European Review of Contract Law (2006), 167. 21 S. z.B. Brüggemeier/Ciacchi, Introduction, in: Brüggemeier et al. (Hg.), Fundamental rights and private law in the European Union II (2010), 1, 10 ff.; Colombi Ciacchi, The Constitutionalization of European Contract Law: Judicial Convergence and Social Justice, 5 European Review of Contract Law (2006), 167; C. Mak, Fundamental rights in European contract law: a comparison of the impact of fundamental rights on contractual relationships in Germany, the Netherlands, Italy and England (2008); sowie die Beiträge in J. Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007).

II. Einschätzungen auf EU-Ebene

355

II. Einschätzungen allgemeiner Tendenzen der EU-Grundrechte II. Einschätzungen auf EU-Ebene

Auf EU-Ebene sind bisher keine solch klaren Narrative wie auf nationaler, insbesondere auf deutscher, Ebene etabliert. Unterscheiden kann man Analysen, die auf kompetenzielle Aspekte und solche die auf inhaltliche Aspekte eingehen, wobei man bei letzteren, wie zu zeigen sein wird, noch weiter unterteilen muss. Insbesondere der kompetenzielle Zusammenhang unterscheidet sich von der Bedeutung der Narrative auf nationalstaatlicher Ebene. So kritisierten Coppel und O’Neill schon 1992, der EuGH nehme Grundrechte nicht ernst, sondern instrumentalisierte sie zu kompetenziellen Zwecken, ja „manipulated the usage of fundamental rights principles, endowing these principles with just enough significance in Community terms to allow for the triumph of the Community will“.22 Stand diese These zunächst auf zweifelhafter Grundlage,23 sahen nicht wenige später gerade in den umstrittenen Urteilen Viking und Laval, aber auch in Kadi, hierfür eine Bestätigung.24 Es steht damit der Vorwurf im Raum, dem EuGH gehe es weniger um den inhaltlichen Schutz bestimmter Grundrechte, sondern vielmehr um Durchsetzung und Effektivität des Unionsrechts – und zwar auch auf dem Gebiet des Privatrechts. Im Anschluss an die liberalen und sozialen Konzepte auf nationaler Ebene könnte man dies auf das Schlagwort des unionalen Narrativs des grundrechtlichen Einflusses bringen. Bezüglich der inhaltlichen Seite des Zusammenhangs von EU-Grundrechten und Wirtschaftsordnung sind zwei Analysefelder zu unterscheiden, wenngleich sie benachbart sind und Überschneidungen aufweisen. Das erste betrifft die Gestaltung der Wirtschaftsordnung der EU im Allgemeinen, darunter insbesondere das Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten. Im Anschluss an die Fälle Viking und Laval kamen vermehrt Klagen über ein „soziales Defizit“ der EU bis hin zur Diagnose eines „total market“ auf.25

22

J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, 29 Common Market Law Review (1992), 669, 683. 23 Überzeugend Weiler/Lockhart, “Taking rights seriously” seriously: The European Court and its fundamental rights jurisprudence – part I, 32 Common Market Law Review (1995), 51; J. Weiler/N. Lockhart, “Taking rights seriously” seriously: The European Court and its fundamental rights jurisprudence – part II, 32 Common Market Law Review (1995), 579. 24 Z.B. Douglas-Scott, The European Union and Human Rights after the Treaty of Lisbon, 11 Human Rights Law Review (2011), 645, 649, 675 ff. 25 Z.B. Joerges/Rödl, Das soziale Defizit des Europäischen Integrationsprojekts, KJ 2008, 149; C. Barnard, A Proportionate Response to Proportionality in the field of collective action, 37 European Law Review (2012), 117; A. Supiot, The spirit of Philadelphia: social justice vs. the total market (2012). Überblick auch bei H. Collins, The

356

§ 9 Allgemeine Tendenzen

Schließlich gingen in beiden Fällen die Marktfreiheiten in der Abwägung den Streikrechten der Gewerkschaften vor. Im Allgemeinen überwiegen Beschreibungen, welche liberale und liberalisierende Charakteristika der EU in den Vordergrund stellen – wobei damit meist Sekundärrecht, Wettbewerbsrecht und Grundfreiheiten, nicht aber die Grundrechte angesprochen sind.26 Andererseits verbanden viele Beobachter insbesondere mit dem Inkrafttreten des Lissabonvertrages die Erwartung (Hoffnung, Befürchtung) einer Stärkung sozialer Rechte und Interessen.27 Schließlich wurde nicht nur das Ziel der „sozialen Marktwirtschaft“ in Art. 3 Abs. 3 EUV verankert, sondern eben auch die Charta mit ihren zahlreichen sozialen Rechten (insbesondere im Titel IV. Solidarität) in primärrechtlichen Rang erhoben. Andere blieben skeptisch und zweifelten weiterhin an der Möglichkeit sozialer Integration und des Schutzes sozialer Rechte.28 Im zweiten Analysefeld bietet sich ein anderes Bild. In Stellungnahmen, die sich spezifisch mit dem Einfluss von EU-Grundrechten auf das Vertragsrecht befassen, setzten sich zwar die Sorgen um die Überbetonung liberaler Unternehmerinteressen bisweilen fort.29 Auch glauben manche, etwa Hugh Collins, gar nicht an eindeutige Einwirkungen von Grundrechten in die ein European Economic Constitution and the Constitutional Dimension of Private Law, 5 European Review of Contract Law (2009), 71, 80 ff. 26 Vgl. etwa F.W. Scharpf, The Double Asymmetry of European Integration – Or: Why the EU Cannot Be a Social Market Economy, MPIfG Working Paper 09/12 mit weiteren Nachweisen; bezüglich des Sekundärrechts spricht etwa Micklitz von einem „strong market bias“ – Micklitz, The Visible Hand of European Regulatory Private Law – The Transformation of European Private Law from Autonomy to Functionalism in Competition and Regulation, Yearbook of European Law 2009, 3, 9. 27 S. z.B. Oppermann et al., Europarecht (2014), 299 ff.; S. Coppola, Social Rights in the European Union: The Possible Added Value of a Binding Charter of Fundamental Rights, in: G. Di Federico (Hg.), The EU Charter of Fundamental Rights (2011), 199; Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05, 24; dies ansprechend, aber vor allem zweifelnd ob eines substanziell verbesserten Schutzes sozialer Rechte etwa C. Barnard, The Protection of Fundamental Social Rights in Europe after Lisbon: a Question of Conflicts of Interests, in: S. de Vries et al. (Hg.), The Protection of Fundamental Rights in the EU After Lisbon (2013), 37, etwas anders dann 46: „the inclusions of the phrase ‘social market economy’ [...] might provide a reason for a more genuine attempt at balancing social and economic rights“; ähnlich Weatherill, From Economic to Fundamental Rights, in: de Vries et al. (Hg.), The Protection of Fundamental Rights in the EU After Lisbon (2013), 11 (33: „possible re-balancing of priorities with consequences sympathetic to social protection, but such an impact is far from guaranteed“). 28 Besonders pointiert Scharpf, The Double Asymmetry of European Integration – Or: Why the EU Cannot Be a Social Market Economy, MPIfG Working Paper 09/12. 29 Von einer „danger“ spricht Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05, 6.

II. Einschätzungen auf EU-Ebene

357

oder andere Richtung: „It seems unlikely [...] that the insertion of fundamental rights into private law will necessarily nudge the law in either direction decisively. We should expect a variegated pattern, with some additional protection for weaker parties, but also a robust defence of vested interests.“30 Insgesamt überwiegt jedoch deutlich die Erwartung oder Annahme, dass der EU-grundrechtliche Einfluss tendenziell mehr soziale oder materiale Regelungen mit sich bringt.31 Dies würde die Dynamiken nationaler Rechtsordnungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortschreiben. Mitunter bringt man dies auch mit einer Pluralisierung des Vertragsrechts in Verbindung. 32 Grundrechte sollten gerade dem angenommenen sozialen Defizit entgegen wirken und eine einseitige „liberal market ideology“ ausgleichen.33 Die Analyse der bisherigen Rechtsprechung des EuGH legt eine Schlussfolgerung nahe, welche einige der genannten Einschätzungen zusammenführt, dabei aber doch mit keiner vollständig deckungsgleich ist, und jedenfalls

30

Collins, On the (In)compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2013), 26, 56. 31 Wielsch, The Function of Fundamental Rights in EU Private Law – Perspectives for the Common European Sales Law, 10 European Review of Contract Law (2014), 365 (368: „contribute to a notion of ‘social justice’ that is committed to an effective institutionalization of plural values“); Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, 21 European Law Journal (2015), 657; Micklitz, Introduction, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 1, 2; Herresthal, Grundrechtecharta und Privatrecht, ZEuP 2014, 238 (kritisch). Diese (im konkreten Fall enttäuschte) Erwartung und Grundhaltung auch bei Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167, 176 f.; bezüglich der sozialen Grundrechte auch Mak, Unchart(er)ed Territory: EU Fundamental Rights and National Private Law, Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2013-05, 23 f. Allgemein zu dieser Auswirkung der Konstitutionalisierung und im Bezug auf Europarecht und ebenfalls von dieser Grundannahme ausgehend Safjan, European Law versus Private Law: Transformation or Deformation of the Paradigm, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 155, 158 f. 32 Wielsch, The Function of Fundamental Rights in EU Private Law – Perspectives for the Common European Sales Law, 10 European Review of Contract Law (2014), 365, 368; allgemein zu Pluralismus und Grundlagen des Vertragsrechts Wielsch/Lomfeld, Foreword. The Public Dimension of Contract: Contractual Pluralism beyond Privity, Law and Contemporary Problems 2013, i. 33 Dazu zusammenfassend Micklitz, Introduction, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 1, 2. Seiner Ansicht nach gehen auch die Beiträge von Colombi Ciacchi, Bell, Cherednychenko und Mak in eben jenem Band in die Richtung „compensation of the social deficit“(ebd. 21). S. etwa Bell, Constitutionalization and EU Employment Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 137, 144 ff., insbes. 147.

358

§ 9 Allgemeine Tendenzen

manche Hoffnung auf eine „Humanisierung des Privatrechts“ enttäuschen dürfte.34

III. Dominanz der Marktlogik: ein Paradigma und seine Muster in der Rechtsprechung des EuGH III. Marktparadigma

Das am überzeugendsten die bisherigen Urteile des EuGH verbindende Paradigma ist das der Marktlogik. Es soll nicht behauptet werden, dass es in jedem einzelnen Urteil zweifelsfrei hervortritt, aber durchaus, dass es die dominante Strömung darstellt. Es ist zunächst vorzustellen (dazu I.), um es dann anhand der Rechtsprechung des EuGH zu belegen und nachzuvollziehen (dazu II.), und nach Erklärungen zu suchen, warum es sich herauskristallisiert (dazu III.). 1. Idee des Markparadigmas Grundrechtliche Einflüsse und Argumentationen im Vertragsrecht haben in der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Ergebnis sowohl zu einem Mehr wie auch zu einem Weniger an Regulierung geführt.35 Sie haben weder eindeutig ermöglichende noch regulative Tendenzen, wirken weder eindeutig klassisch liberal noch sozial. Gleichzeitig haben sie die Vorgaben sonstigen Unionsrechts mal verstärkt,36 aber auch mal unverstärkt gelassen,37 mal eingeschränkt.38 Es lässt sich daher nicht überzeugend behaupten, dass sie lediglich zur Stützung und Durchsetzung sonstigen Unionsrechts herangezogen würden. Man könnte infolgedessen geneigt sein, sich für eine allgemeine Beschreibung auf eine Pluralität der Grundrechtseinflüsse zurückzuziehen, die regulatorische Unter- und Obergrenzen festlegten, aber nicht in einer gemeinsamen Grundidee zusammengefasst werden könnten, und sich außerdem fragmentierend in verschiedenen Teilgebieten des Vertragsrechts unterscheiden.39 Oder, man könnte, in ähnlicher Ausrichtung, einer allgemeinen 34 Zu dieser Hoffnung in der deutschen Drittwirkungsdebatte Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960). 35 Einerseits z.B. EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark); andererseits z.B. EuGH Rs. C426/11 (Alemo-Herron) 36 Z.B. EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981; EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365; EuGH Rs. C-131/12 (Google v. AEPD). 37 Z.B. EuGH Rs. C-282/10 (Dominguez); EuGH Rs. C-176/12 (AMS). 38 Z.B. EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397; s. auch EuGH Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609. 39 Zu Fragmentierung Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 149 ff.

III. Marktparadigma

359

These Duncan Kennedys folgen. Dieser sieht, parallel zu den beschriebenen liberalen und sozialen Paradigmen, nach Epochen des „Classical Legal Thought“ und „The Social“ schon seit längerer Zeit eine dritte Epoche in der „globalization of legal thought“ angebrochen. Dieser fehle nach seiner Einschätzung ein „discernible large integrating concept“.40 Man könnte sagen, dass die Wirkungen der EU-Grundrechte genau dies belegen. Es bietet sich jedoch eine Erklärungsmöglichkeit an, die jedenfalls ein Stück weit darüber hinausreicht. Den gemeinsamen Nenner hinter (mindestens) der Mehrzahl der Entscheidungen des EuGH, die dominante Strömung also, kann man in der Logik des Marktes sehen.41 Was ist damit gemeint? Für ein marktlogisches Vertragsrecht ist das Prinzip formaler Vertragsfreiheit zentral – ohne ein solches kann es einen „freien Markt“ nicht geben. Andererseits bedeutet dies nicht, dass überhaupt keine Regulierung vertraglichen Austauschs zulässig ist. Diese ist auch im Sinne einer Marktlogik angebracht, wenn Marktstörungen beziehungsweise Marktversagen vorliegt – d.h. also der Wettbewerbsmechanismus nicht ordnungsgemäß funktioniert und insbesondere ineffiziente Ergebnisse hervorbringt. Regulierung, die allein auf anderer Grundlage begründet und nicht auch als Reaktion auf Marktversagen gestützt wird, steht mit dieser Marktlogik dagegen nicht im Einklang.42 Durch die Linse dieser Grundkonzeption gesehen, entspringen die wesentlichen in dieser Arbeit besprochenen

40 Kennedy, Three Globalizations of Law and Legal Thought: 1950-2000, in: Trubek/Santos (Hg.), The New Law and Economic Development. A Critical Appraisal. (2006), 19, 63, der dies ausdrücklich mit der Methode des Abwägens („balancing or proportionality“, ebda.) in Zusammenhang bringt; s. auch insbesondere S. 69 f. „The Social“ endet in seiner Darstellung schon 1968, während die dritte Phase 1945 beginnt. Insofern stimmt das Schema zeitlich nicht mit Habermas’ Rechtsparadigmen überein (s.o. § 9 I.). 41 In einer Replik auf Kennedys Text schlägt Christopher Tomlins Neoliberalismus als dritte „langue“ beziehungsweise den die aktuelle Epoche kennzeichnenden Aspekt vor – C. Tomlins, The Presence and Absence of Legal Mind: A Commentary on Duncan Kennedy’s ‘Three Globalizations of Law and Legal Thought, 1850-2000’, Law and Contemporary Problems 2015, 1. Auf noch sehr viel allgemeinerer Ebene stellt er also eine These auf, die der hier vorgebrachten verwandt ist. Der Begriff des Neoliberalismus soll hier allerdings aufgrund seiner besonderen Unschärfe hier nicht ins Zentrum gestellt werden – „There is no such thing as neoliberalism“ (C. Barnett, The consolations of ‘neoliberalism’, Geoforum 2005, 7). Zur Marktrationalität der europäischen Rechtsordnung allgemein Bartl, Internal Market Rationality, Private Law and the Direction of the Union: Resuscitating the Market as the Object of the Political, 21 European Law Journal (2015), 572. 42 Bezogen wird der Begriff Markt, um dies zu betonen, damit auf den institutionellen Rahmen bestimmter Transaktionen, also auf einen institutionenökonomischen Sinn – dazu auch schon § 1 I. 2. d). Etwas anders z.B. Rödl, Arbeitsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 855, 894 ff., der von Marktfunktionalität in einer Art Makrokontext spricht, bezogen etwa auf Lohnkosten in verschiedenen Ländern und deren Verhältnis zueinander.

360

§ 9 Allgemeine Tendenzen

Urteile, welche das Vertragsrecht betreffen, dem gleichen Geiste.43 Damit kann man über die allgemeine Aussage, dass Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH Ermöglichung und Regulierung vorgeben, durchaus ein Stück hinausgehen und sie spezifizieren. Eingeordnet in das unter § 1 vorgestellte Analyseraster dominiert also die Funktion des Marktes44 die funktionale Ausgestaltung des Spannungsfeldes verschiedener Vertragsfunktionen zwischen Ermöglichung und Regulierung. Insbesondere die Funktion der Kooperation tritt dagegen in den Hintergrund. 45 Im Folgenden soll dies illustriert werden anhand jener Urteile aus § 4, in denen EU-Grundrechte im Kontext von Verträgen entweder einen signifikanten Unterschied in der Argumentation und im Ergebnis bewirkten oder ein solcher möglich gewesen wäre, aber abgelehnt wurde. Nicht hier einbezogen werden Urteile, in denen EU-Grundrechte lediglich als knappe Bestätigung einer schon mit anderen Argumenten erreichten Auslegung hinzugezogen wurden, also primär Rhetorik, nicht aber wirkendes Argument waren.46 In solchen Fällen fehlt es an einem entscheidenden grundrechtlichen Effekt. 2. Kristallisationspunkte in der Rechtsprechung des EuGH Vier verschiedene Muster fallen in der Rechtsprechung des EuGH bisher auf: die Betonung formaler Vertragsfreiheit durch Grundrechte (dazu a)), die fehlende Wirkung sozialer Rechte des Solidaritäts-Titels der Charta (dazu b)), die Koinzidenz von regulativen Effekten der Grundrechte und Marktstörungen (dazu c)) sowie die asymmetrische Begrenzung der Grundrechte durch die Grundfreiheiten (dazu d)). a) Betonung formaler Vertragsfreiheit Zunächst erscheint die Betonung der Bedeutung formaler Vertragsfreiheit durch die EU-Grundrechte bemerkenswert.47 Wie erläutert, ist sie der Grundpfeiler einer liberalen marktwirtschaftlichen Ordnung schlechthin.48 Bereits im Fall Werhof hatte der Gerichtshof den Grundsatz formaler Privatautonomie ausdrücklich angesprochen. Wenn er ihn darin auch nicht selbst auf grundrechtliche Stufe stellte, so hatte doch die Argumentation mit der negativen Vereinigungsfreiheit substanziell die Wirkung, seine Bedeutung zu verstärken. Noch bedeutender ist in dieser Hinsicht der Fall Alemo Herron. Hier 43

Nicht in diesem Kontext mit behandelt werden also etwa die Urteile aus dem Bereiche der Informationsgesellschaft, die den Inhalt absoluter Rechte betreffen. 44 Dazu § 1 I. 2. d). 45 Zu dieser § 1 I. 2. e). 46 Hierzu oben § 5 I. 2. b) aa); darunter fallen etwa die Fälle EuGH Rs. C-214/10 (KHS) und EuGH Rs. C-53912 (Lock). 47 Dazu oben § 6 I. 2. 48 S.o. § 1, § 6 I. 1.

III. Marktparadigma

361

führte der Bezug auf formale Vertragsfreiheit als Teil des Unternehmergrundrechtes aus Art. 16 GRC zu einer Einschränkung der arbeitnehmerschützenden Regelungen. Von EU-Grundrechten ging also argumentativ ein deregulierender Einfluss aus. In der Hand des EuGH bietet damit die grundrechtlich fundierte formale Vertragsfreiheit ein durchaus scharfes Schwert. b) Fehlende Wirkung sozialer Grundrechte Dagegen zeigten die sozialen Grundrechte des Titels IV der Charta bisher gerade keine signifikante Wirkung. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht insbesondere die Fälle Dominguez, Fenoll und AMS. Jeweils blieb der Gerichtshof deutlich hinter dem zurück, was nach den Schlussanträgen der Generalanwälte erwartet werden konnte. In Dominguez diskutierte Generalanwältin Trstenjak ungemein ausführlich, ob Art. 31 Abs. 2 GRC oder ein entsprechender allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts verlangte, ein französische Vorschrift in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht anzuwenden.49 Die grundrechtliche Norm hätte dann eine arbeitnehmerschützende Wirkung bezüglich von Urlaubsansprüchen gehabt. Auch wenn die Generalanwältin dies schlussendlich verneinte, hätte man vom Gerichtshof eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Art. 31 Abs. 2 GRC erwarten können: Der EuGH ging allerdings hierauf schlicht nicht ein und behandelte lediglich die Wirkungen der Arbeitszeitrichtlinie. In Fenoll stellte er schlicht fest, dass die Charta temporal nicht anwendbar war. Dazu, dass Grundrechte als allgemeine Grundsätze sehr wohl temporal anwendbar waren (wie auch der Generalanwalt Mengozzi ausführte),50 und dass Generalanwältin Trstenjak in Dominguez das Recht auf Jahresurlaub als allgemeinen Grundsatz angesehen hatte,51 verlor er kein Wort. Insbesondere der Fall AMS unterstreicht die fehlende Durchschlagskraft sozialer Grundrechte in der Entscheidungspraxis des EuGH. Wiederum blieb der Gerichtshof hierin hinter den Schlussanträgen des Generalanwalts Cruz Villalón zurück, der eine direkte Wirkung des Art. 27 GRC bejaht hatte. Dessen Sichtweise hätte eine regulative Wirkung zugunsten der Kooperation im Unternehmen zur Folge gehabt. Sie hätte im Einklang gestanden mit dem von Habermas beschriebenen prozeduralen Paradigma.52 Mit prozeduralem Paradigma meint Habermas ein Leitbild, nach dem die von den jeweiligen Privat-

49

Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 69 ff. Schlussanträge des Generalanwalt P. Mengozzi vom 12. Juni 2014, Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 59 f. 51 Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak Rs. C-282/10 (Dominguez), Rn. 114. 52 Habermas, Paradigms of Law, 17 Cardozo Law Review (1996), 771, 776 ff. 50

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§ 9 Allgemeine Tendenzen

rechtsregeln betroffenen Individuen an deren Schaffung mitwirken sollen.53 Dieses sieht er als vorzugswürdig gegenüber den oben skizzierten formalen und materialen Paradigmen. Wenn Habermas auch nicht im Einzelnen ausformuliert, wie sich dies verwirklichen soll, drängt sich besonders die Mitbestimmung innerhalb der Hierarchie, innerhalb des Unternehmens, als Ausdruck des prozeduralen Paradigmas auf. 54 Gerade über Vertretungsorgane könnten Arbeitnehmer in einen Diskurs mit dem Arbeitgeber gelangen, der für beide Seiten akzeptable Regeln hervorbringt. Eine Stärkung dieses Ansatzes lag nach den Schlussanträgen des Generalanwalts absolut im Bereich des rechtlich vertretbaren, ja naheliegenden. Dass der EuGH dem nicht folgte, hat dadurch umso mehr Aussagekraft. Im Übrigen sprechen AMS und die anderen genannten Entscheidungen auch dagegen anzunehmen, dass EU-Grundrechte in der Hand des EuGH schlicht angewendet werden, um unionale Kompetenzen zu wahren oder auszuweiten. Der Gerichtshof entschied in ihnen gerade nicht für eine durchschlagende Wirkung des Unionsrechts. In Fällen, in denen der EuGH auf die Vorschriften des Solidaritäts-Titel einging, war dies für die Argumentation nie entscheidend. 55 Im Fall KHS etwa kann man in der Nennung des Art. 31 Abs. 2 GRC zwar eine Betonung der Bedeutung des Jahresurlaubs sehen, doch griff der EuGH bei der Argumentation im Einzelnen nicht darauf zurück und beließ es bloß bei der abstrakten Nennung.56 c) Koinzidenz von grundrechtlicher Regulierung und Marktstörung EU-Grundrechte sind allerdings bisher keinesfalls in einer ausschließlich dem klassisch-liberalen Paradigma entsprechenden Weise ausgelegt worden. Insbesondere im Antidiskriminierungsrecht haben sie zu einer Einschränkung formaler Vertragsfreiheit geführt, und ähnliches lässt sich über das Verbraucherrecht sagen. 57 Allerdings handelte es sich dabei um Einschränkungen freien Austauschs am Markt, der sich marktlogisch erklären lässt. Nur in Situationen, wo man mit guten Gründen von Marktversagen sprechen kann, und diese marktrationale Dimension auch im juristischen Diskurs sehr prominent ist, hatten die EU-Grundrechte einen substanziell regulativen Einfluss. Es soll nicht behauptet sein, dass nicht auch marktfremde Überlegungen für 53

Habermas, Paradigms of Law, 17 Cardozo Law Review (1996), 771, 776 ff.; Renner, Kapitel 10. Formalismus, materielle und prozedurale Gerechtigkeit, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 821, 827 ff. 54 Dazu Renner, Kapitel 10. Formalismus, materielle und prozedurale Gerechtigkeit, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 821, 828 f.; K.F. Röhl, Rechtssoziologie: ein Lehrbuch (1987), 229 f. 55 Insbesondere in den Fällen zu Art. 31 Abs. 2 GRC: EuGH Rs. C-214/10 (KHS), EuGH verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 (Heimann) und EuGH Rs. C-53912 (Lock). 56 S.a. schon oben § 8 II. 2. 57 S.o. § 6 III. 1.

III. Marktparadigma

363

diese Entscheidungsergebnisse sprachen. Es war aber eben nicht notwendig, den marktlogischen Grundgedanken zurücktreten zu lassen. Insofern könnte man sagen, dass sich hinter einer oberflächlichen Pluralität doch ein einheitliches Grundmodell verbirgt.58 Antidiskriminierungsrecht lässt sich einerseits mit ganz eigener Ideengrundlage und unabhängig von marktwirtschaftlichem Austausch denken.59 Gleichzeitig hat die Debatte um Diskriminierung aber auch starke ökonomische Komponenten und kann man Antidiskriminierungsrecht als effizienzfördernde Regulierung ansehen, die auf eine Unvollkommenheit des Marktes reagiert. 60 Wie bereits oben angedeutet,61 beinhalten diskriminierende Entscheidungen, etwa anhand von Rasse oder Geschlecht, sich auf ökonomisch grundsätzlich irrelevante Faktoren zu stützen und manche Individuen von einem freien Markt auszuschließen. Auf einem vollkommenen Markt würde es solche Diskriminierung nicht geben. Sofern Antidiskriminierungsrecht praktisch eingreift, reagiert es so gesehen auf ein Marktversagen. Auch im rechtlichen Diskurs um das Für und Wider des Antidiskriminierungsrechts 58

Luigi Mengoni hat die These aufgestellt, klassischer Liberalismus und verfassungsrechtliche Werteordnung seien inkompatibel – L. Mengoni, Diritto e Valori (1985); dazu Grundmann, Kapitel 6. Gesellschaftsordnung und Privatrecht, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 405, 462 f. Folgt man der hier aufgestellten These, bestätigt sich dies für die europäische Grundrechtsordnung empirisch nur teilweise. Eher scheint eine Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus, die mit Teilen, aber keineswegs mit ihm im Ganzen bricht, durchaus mit einer verfassungsrechtlichen Werteordnung kompatibel, ja vielmehr diese sich gegenseitig zu stützen. 59 Zu philosophischen Grundlagen und kritisch zum geltenden Antidiskriminierungsrecht allgemein A. Somek, Neoliberale Gerechtigkeit. Die Problematik des Antidiskriminierungsrechts, DZPhil 2003, 45. 60 Vgl. etwa die Überblicke bei A. Watzenberg, Der homo oeconomicus und seine Vorurteile: eine Analyse des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots (2014), 221 ff.; C. Kirchner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz: ein ökonomischer Ansatz, in: S. Leible/M. Schlachter (Hg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006), 37; S.J. Schwab, Employment Discrimination, in: K.G. Dau-Schmidt et al. (Hg.), Labor and employment law and economics (2009), 296; G. Thüsing, Vertragsfreiheit, Persönlichkeitsschutz und Effizienz. Das Antidiskriminierungsgesetz bringt weit reichende Änderungen für das Zivil- und das Arbeitsrecht, ZGS 2005, 49; A.-S. Vandenberghe, The Economics of Non-Discrimination, in: R. Schulze (Hg.), Non-discrimination in European private law (2011), 81; grundlegend G.S. Becker, The economics of discrimination (1957). Der Zusammenhang von Nichtdiskriminierung und freiem Markt war nach Aussage von Robert Marjolin, französischem Verhandlungsführer der Römischen Verträge, sogar ein wesentlicher Grund für die Aufnahme in den finalen Vertragstext: „It was easy to reject the notion of ‘preference’, which was part oft he language of protectionism. It was impossible not to accept that of ‘non-discrimination’, which had a free market connotation. […] Such is the power of words!“ – R. Marjolin, Architect of European unity: memoirs 1911-1986 (1989). Zitat in diesem Kontext schon bei D. Edward, Non-Discrimination as a Legal Concept, in: R. Schulze (Hg.), Non-discrimination in European private law (2011), 3, 4. 61 § 1 II. 2.

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§ 9 Allgemeine Tendenzen

spielt die Ineffizienz der Diskriminierung und allgemein die Inkompatibilität von Diskriminierung mit der „universalistischen Moral des Marktes“ 62 oder dem „offenen Markt“63 eine bedeutende Rolle. Zwar kann man die Ineffizienz mancher Fälle von Diskriminierung bezweifeln, und auch kann man einwenden, dass ökonomische Argumente keine offene Rolle in den Entscheidungen des EuGH spielten. 64 Andererseits gibt es gute Gründe, Antidiskriminierungsrecht grundsätzlich als regulative Antwort auf Unvollkommenheiten des Marktes zu verstehen, und die grundrechtliche Argumentation in Fällen wie beispielsweise Kücükdeveci und HK Danmark diente dazu, diese Normen durchzusetzen. Auch ein Fall wie Test-Achats erfordert keinen anderen Schluss. In diesem hatte der EuGH es für unzulässig befunden, die Höhe von Versicherungsprämien vom Geschlecht abhängig zu machen.65 Zum einen ist die These nämlich nicht, dass jeder einzelne Anwendungsfall, sondern Diskriminierungsverbote im Allgemeinen mit einer Marktlogik vereinbar sind. Zum anderen kann man auch Test-Achats als eine Antwort auf Abweichungen vom vollkommenen Markt lesen: Bei vollkommener Information würden Versicherer schließlich nicht Gruppenzugehörigkeiten als grobe Näherungsinstrumente heranziehen, sondern ein individuelles Risikoprofil erstellen.66 Ein weiteres Feld, in dem die Wirkung der EU-Grundrechte nach Sicht des EuGH formale Vertragsfreiheit einschränken kann, ist das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen. Ein Beispiel dafür ist der Fall Kušionová67. Die darin enthaltene Einschränkung formaler Vertragsfreiheit und freien Austauschs ist ohne Weiteres mit einer Marktlogik zu vereinbaren, die Regulierung im Fall von Marktversagen befürwortet. Regelmäßig bringt man als Grund für Klauselkontrolle vor, dass es überhaupt keinen „market for terms“ gibt, oder dieser jedenfalls ganz erheblich gestört ist.68 Ein Verbraucher, der 62

Canaris, Umwelt, Wirtschaft und Recht, in: Bauer/Schmidt (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht: wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, 16./17. November 2001 (2002), 30, 47. 63 M. Coester, Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, in: A. Heldrich et al. (Hg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag (2007), 115, 118. 64 So Bell, Constitutionalization and EU Employment Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 137, 150. 65 Ausführlich oben § 4 I. 3. 66 Cousy, Discrimination in Insurance Law, in: Schulze (Hg.), Non-discrimination in European private law (2011), 81, 107 bringt Effizienzdenken und Test Achats denn auch auf den gemeinsamen Nenner: „[D]ifferentiate on grounds which are as close to individual risk evaluation as possibe. Do not differentiate on the rough basis of belonging to any one group is the goal of many rules in the law of non-discrimination.“ 67 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová). 68 S. schon oben § 1 II. 2; Kessler, Contracts of Adhesion – Some Thoughts about Freedom of Contract, 43 Columbia Law Review (1943), 629; Collins, Regulating contracts (2002), 228; teils kritisch Leuschner, Gebotenheit und Grenzen der AGB-Kontrolle, AcP 207 (2007), 491; J. Basedow, in: Münchener Kommentar (2012), Vor Art. 305 Rn. 5.

III. Marktparadigma

365

die Anschaffung bestimmter Produkte oder Dienstleistungen erwägt, wird (wenn überhaupt) Preis und Qualität vergleichen, nicht aber Geschäftsbedingungen. Mangels Sensibilität dieser Seite der Marktsteilnehmer kommt es daher nicht zu einem Wettbewerb auf der Ebene der Geschäftsbedingungen. Die Klauselkontrolle reagiert auf diese Umstände. Sie kann damit auch Vertrauen generieren, indem sie sicherstellt, dass besonders unausgeglichene Bedingungen unwirksam sind, und somit Verbraucher im Endeffekt zu mehr Transaktionen veranlassen – Vertrauen ist für ein Funktionieren des Marktes evident erheblich.69 Dass besonders bedeutende Interessen, die grundrechtlich geschützt sind, bei der Klauselkontrolle verstärkt zu berücksichtigen sind, trägt hierzu positiv bei. Daher lassen sich die zusätzlichen regulatorischen Tendenzen aus Grundrechten problemlos marktlogisch erklären – ganz unabhängig davon, dass der EuGH dies nicht ausdrücklich thematisierte. Mindestens muss man konstatieren, dass es eine Koinzidenz gibt zwischen grundrechtlicher Regulierung und Marktlogik. d) Begrenzung der Grundrechte durch Grundfreiheiten Die vielbesprochen Entscheidungen Viking und Laval fügen sich nahtlos in das marktlogische Muster ein. Wenn sie auch keine vertragsrechtlichen Fragen betrafen, so erlauben sie doch einige vergleichende Schlussfolgerungen auch für den vertraglichen Bereich. Es lassen sich ihnen insbesondere Aussagen über das Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten entnehmen, wie es der EuGH sieht. Zum einen bedeutet es unabhängig vom konkreten Inhalt dieser Urteile grundsätzlich eine Begrenzung der Reichweite sonstiger grundrechtlicher Optimierungsgebote, wenn sie gegen die Grundfreiheiten abgewogen beziehungsweise mit diesen in ein angemessenes Gleichgewicht gebracht werden müssen. Dies führt zu Verschiebungen etwa gegenüber der deutschen Rechtsordnung, wo zwar etwa auch die Berufsfreiheit oder Vertragsfreiheit des Unternehmers mit anderen grundrechtlich geschützten Interessen abgewogen werden müssen, aber eben nicht die zusätzlichen Anforderungen der Grundfreiheiten bestehen. Des Weiteren führt die Art und Weise der Abwägung, wie der EuGH sie ausformulierte, zu einer Asymmetrie beziehungsweise eine schiefe Ebene zwischen Grundfreiheiten einerseits und sozialen Grundrechten andererseits.70 So konnten in Viking beispielsweise die Aktionen der ITF nach Sicht des Gerichtshofs nicht gerechtfertigt sein, da sie 69 Allgemein zu Vertrauen und Transaktionen Collins, Regulating contracts (2002), 110 ff. 70 Ebenso oder ähnlich beispielsweise Joerges/Rödl, Das soziale Defizit des Europäischen Integrationsprojekts, KJ 2008, 149; Barnard, A Proportionate Response to Proportionality in the field of collective action, 37 European Law Review (2012), 117; anders Danwitz, Grundfreiheiten und Kollektivautonomie, EuZA 2010, 6; s. außerdem die Nachweise oben bei § 4 II. 2., 3.

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§ 9 Allgemeine Tendenzen

direkt gegen die Grundfreiheit gerichtet waren, unabhängig davon, ob konkret Arbeitsplätze bedroht waren.71 Eine detailliertere Abwägung der möglicherweise durch die kollektiven Maßnahmen geschützten Interessen in ihrem weiteren Kontext und die mögliche Legitimität der solidarischen Verknüpfungen zwischen Gewerkschaften nahm der EuGH schlicht nicht vor. Dieses Verhältnis zwischen Grundfreiheiten einerseits und Grundrechten andererseits lässt sich als Anforderung auf vertragsrechtliche Fällen auch durchaus übertragen – sei es in dem Sinne, dass man die Mitgliedstaaten als Adressaten bei der Ausgestaltung des Vertragsrechts ansieht oder auch Private selbst, wie es schließlich in der vertragsrechtlichen Entscheidung Angonese durchaus schon der Fall gewesen ist. Jeweils würden die Grundfreiheiten mit den Grundrechten im Sinne des EuGH „abzuwägen“ sein. 3. Erklärungsansätze Verschiedene Faktoren führen in ihrer Kombination zu dem sich herauskristallisierenden Paradigma. Ein bedeutender, aber keineswegs allein erklärungskräftiger Umstand für die Wirkung der EU-Grundrechte ist das Sekundärrecht. Zwischen den weit ausgreifenden Chartagrundrechten und ihrem tatsächlichen Entfaltungspotenzial besteht aufgrund ihres begrenzten Anwendungsbereiches eine „fehlende Kongruenz“.72 EU-Grundrechte bieten keine Rahmenordnung für das Vertragsrecht schlechthin, sondern nur für Teile und Teilfragen, die ohnehin europäisiert sind. 73 Erst das Sekundärrecht bietet ihnen Platz zum Wirken – und von dessen Inhalten hängt somit auch das Potenzial der Grundrechte ab. Was die regulative Seite der Marktfunktionalität angeht, also die unter 2 c) besprochene, handelt es sich um Kern um eine Verstärkung der Reichweite und Effektivität sekundärrechtlicher Vorschriften, namentlich Antidiskriminierungsrechts und der Klauselrichtlinie. Insofern unterstützen die Grundrechte bloß eine ohnehin gesetzgeberisch angelegte Marktlogik. Dies könnte man auch darum für wenig überraschend halten, da zahlreiche Richtlinien und Verordnungen auf der Binnenmarktkompetenz, Art. 114 AEUV, beruhen.74 Andererseits gilt dies eben nicht für alle. Gerade arbeitsrechtliche Regeln gründen sich auf Art. 153 AEUV sowie seine Vorgängervorschriften. In mehreren Fällen, in denen Grundrechte sekundärrechtliche Rationale hätten verstärken können, welche nicht einer einfachen Marktlogik entsprachen, griffen die Grundrechte vor dem EuGH nicht: insbe71

Ausführlich oben § 4 II. 2. Rödl, Arbeitsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 855, 874 ff.; an anderer Stelle spricht er von „historisch und polit-ökonomisch verfestigter Asymmetrie“ (882) und schlussfolgert „Auch der EuGH wird mithin nicht zum Urheber einer integrierten europäischen Arbeitsverfassung werden können.“ (876). 73 S.o. § 3 I. 3. 74 Dazu schon oben § 1 III. b). 72

III. Marktparadigma

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sondere in Dominguez, Fenoll und AMS. Von daher lässt sich nicht sagen, dass der Inhalt des Sekundärrechts die Wirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH zur Gänze erklären kann. Neben der Gestalt des Sekundärrechts kann man auch in der Struktur und Formulierung der Grundrechte selbst nach Gründen für das allgemeine Muster suchen. So sind etwa die Grundrechte des Titels IV tatsächlich besonders weit und auf Konkretisierung angelegt, und daher vermeintlich als solche weniger wirkkräftig. Andererseits gilt dies ohnehin für zahlreiche Grundrechtsnormen, weswegen es sich dann lediglich um graduelle, nicht um qualitative Unterschiede handeln kann. Insbesondere Art. 16 GRC drückt dies auch für ein klassisches Freiheitsrecht aus – die unternehmerische Freiheit wird schließlich „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“. Der EuGH hatte noch in Sky Österreich selbst auf die Parallelität dieser Formulierung zu den Vorschriften im Solidaritäts-Teil der Charta hingewiesen. Außerdem kann man mit bloßen Verweisen auf die Charta kaum erklären, warum etwa bisher lediglich die formale, nicht aber die materiale Vertragsfreiheit ausdrücklich in der Rechtsprechung des EuGH Erwähnung gefunden hat – insbesondere in Alemo Herron hätte dazu die Möglichkeit bestanden. Dass dem EuGH ein Spielraum verblieb und wie er diesen ausnutzte, zeigen besonders die Entscheidungen, in denen er von den Schlussanträgen der Generalanwälte abwich. Insbesondere die bereits genannten Fälle Dominguez, Fenoll, AMS und Alemo Herron können in dieser Hinsicht als Anhaltspunkte, als benchmarks, gelten und in Habermas Terminologie Hinweise auf das „implicit image of society“ des EuGH. Auch wenn die Urteile jedes für sich nachvollziehbar sind, ergeben sie in ihrer Gesamtheit ein Bild, das über einen einzelnen Fall hinaus aufschlussreich ist. Andere Entscheidungen, die ebenfalls möglich und nachvollziehbar gewesen wären, hätten in ihrer jeweiligen Gesamtheit zu einem ganz anderen Bild geführt. Es sind also durchaus kontingente Entscheidungen des EuGH und nicht ausschließlich logisch zwingende Vorgaben positiven Rechts, die das Leitbild der Marktlogik zeichnen. Auf der Suche nach weiteren Erklärungsansätzen liegt es daher nahe, über die einzelnen sekundärrechtlichen und grundrechtlichen Normen hinauszugehen. So ist festzustellen, dass Regelungen mit sozialem Charakter politisch in hohem Maße und in offensichtlicher Weise sensibel sind. Dies schafft auch ein besonderes Spannungsfeld zwischen nationaler und supranationaler Rechtssetzung. Man kann in der Aktivität des EuGH auch einen judicial restraint erkennen, wenn er etwa in Dominguez und AMS mittels EU-Grundrechte keine direkte Vorgabe für das nationale Recht macht und nicht entscheidet, nationale Gesetze seien unangewendet zu lassen. Dabei mag er davon geleitet sein, dass eine Sozialpolitik auch traditionell nicht zu den Zielen der europäischen Integration gehörte und er darum tendenziell

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§ 9 Allgemeine Tendenzen

behutsamer mit Eingriffen in mitgliedstaatliche Autonomie sein sollte.75 Er mag es nicht für seine Rolle halten, in diesen sensiblen Materien eine Führungsposition zu übernehmen. Andererseits ist ein solches judicial restraint nur bezüglich positiver sozialer Vorgaben durch das Unionsrecht erkennbar, nicht in negativer Weise, was die Begrenzung mitgliedstaatlicher Regelungen angeht. Dies zeigt etwa Alemo Herron. Der EuGH traf eine nicht unbedingt nahe liegende Auslegungsentscheidung, als er urteilte, dass Unionsrecht in diesem Fall nicht nur eine Unter- sondern auch eine Obergrenze des Arbeitnehmerschutzes regele.76 Ähnlich wenig Zurückhaltung gegenüber mitgliedstaatlichem Gestaltungsspielraum übte der Gerichtshof in den Fällen Viking und Laval.77 Die Zurückhaltung des EuGH, was sozialpolitisch sensible Materien angeht, fällt also bisher recht einseitig aus. Schließlich liegt ein komplementierender Erklärungsansatz im Charakter der Wirtschaftsverfassung der EU und deren institutionellen und epistemologischen Konsequenzen. Anders als das deutsche Grundgesetz sind die konstitutiven Rechtssätze der Union nämlich nicht wirtschaftspolitisch neutral,78 sondern eindeutig der marktwirtschaftlichen Ordnung verpflichtet, Art. 3 EUV. In ganz grundsätzlichen Beschreibungen der EU hat man ihr auch deshalb ein Ethos des Marktes zugeschrieben, ja vom „legitimating ethos of the market-state“ gesprochen. 79 Die soziale Komponente der „sozialen Marktwirtschaft“ im Unionsrecht ist ein latecomer, erst seit dem Lissabonvertrag primärrechtlich verankert. Kerngebiete des Europarechts, nämlich Grundfreiheiten und Kartellrecht, prägen dagegen seit Beginn der europäischen Integration die marktwirtschaftliche Ordnung derselben.80 Der EuGH ist daher 75 Zu sozialen Rechten und Sozialpolitik in der Geschichte der europäischen Integration Barnard, EU Employment Law (2012), 3 ff.; Rödl, Arbeitsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), 855, 863 ff. 76 Dazu kritisch Weatherill, Use and Abuse of the EU’s Charter of Fundamental Rights: on the improper veneration of ‘freedom of contract’, 10 European Review of Contract Law (2014), 167, 169 ff. 77 Vom EuGH als Motor der „negative integration“ spricht daher auch Scharpf, The Double Asymmetry of European Integration – Or: Why the EU Cannot Be a Social Market Economy, MPIfG Working Paper 09/12; F.W. Scharpf, Governing in Europe: effective and democratic? (1999). 78 Von „wirtschaftspolitischer Neutralität“ geht insbesondere das BVerfG aus: BVerfGE 4, 7, 16; s. auch P. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung: ein exemplarischer Leitfaden (2011), Rn. 14 ff.; zweifelnd aus jüngerer Zeit etwa R. Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte. Evolution und Legitimation der Rechtsprechung in deregulierten Branchen (2014), 24 ff. mwN. 79 H.-W. Micklitz/D. Patterson, From the Nation State to the Market: The Evolution of EU Private Law, EUI Working Papers Law 2012/15. 80 Dazu Grundmann, The Concept of the Private Law Society: After 50 Years of European and European Business Law, 16 European Review of Private Law (2008), 553, 559 ff., 568 ff.

III. Marktparadigma

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seit jeher ganz wesentlich ein Marktgericht, ein Gericht, das sich mit den rechtlichen Grundpfeilern einer Marktordnung auseinandersetzt. Bartl hat ausgeführt, wie die Ausrichtung auf den Binnenmarkt zu einer Ansammlung von Wissen gerade mit Marktbezug geführt hat, dass Wahrnehmung und Handeln der Akteure auf europäischer Bühne prägt.81 Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es aus solchen grundsätzlichen Parametern ein „trickle down“ in konkrete Entscheidungen geben kann, selbst wenn dies nicht spezifisch reflektiert würde. Die institutionell-rechtliche Umgebung kann zu einem bestimmten Vorverständnis beitragen, dass sich in der Rechtsauslegung und -anwendung niederschlägt.82 Freilich ist auf so einer abstrakten Ebene wie hier zu konzedieren, dass genauere Forschungen notwendig wären, um dies konkreter zu substantiieren. Als möglicher Erklärungsansatz für das Paradigma der Marktlogik soll es aber nicht unerwähnt bleiben. Im Vergleich zu den oben skizzierten historischen Narrativen erscheint das Marktparadigma in der EuGH-Rechtsprechung nicht einmal als Besonderheit. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass sich in verschiedenen Zeiten und Umgebungen jeweils bestimmte vorherrschende Paradigmen in der Grundrechtsdogmatik und -praxis niedergeschlagen haben. Das trifft für die idealtypische liberale Rechtsordnung des 19. Jahrhunderts ebenso zu wie für insbesondere die deutsche sozialstaatliche Rechtsordnung der Nachkriegszeit. Wenn sich das auf europäische Ebene ohnehin bestehende Paradigma der Marktrationalität auch im Bereich der Grundrechte im Vertragsrecht wiederfindet, ist dies in einer gewissen Weise konsequent. Es wirft jedoch die Frage auf, welchen spezifisch eigenen Gehalt die Grundrechte im Vertragsrecht haben, der nicht wandelnden Paradigmen unterworfen ist. Es lässt die Frage offen, inwiefern das marktlogische Paradigma und sein Fortwirken in den EU-Grundrechten im Vertragsrecht normativ überzeugend sind. Antworten auf diese Fragen liegen jenseits des in diesem Kapitel abgesteckten Forschungsprogrammes.

81 Bartl, Internal Market Rationality, Private Law and the Direction of the Union: Resuscitating the Market as the Object of the Political, 21 European Law Journal (2015), 572. 82 Dazu auch schon oben bei Fn. 3; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972); zu Vorverständnis und EuGH (allerdings sehr zurückhaltend) T.v. Danwitz, Funktionsbedingungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, EuR 2008, 769, 771.

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§ 9 Allgemeine Tendenzen

IV. Zusammenfassung IV. Zusammenfassung

Im Zusammenhang von Grundrechten und Vertragsrecht haben sich in der Vergangenheit grundlegende Vorstellungen der Wirtschaftsordnung gespiegelt. Dies wiederholt sich heute auf europäischer Ebene. Im idealtypischen liberalen Staat des 19. Jahrhunderts waren Grundrechte lediglich Abwehrrechte gegen den Staat, welcher die Möglichkeiten autonomer Vertragsschlüsse zu gewährleisten hatte und sich ansonsten nicht in das freie Spiel der Kräfte einmischen sollte. Im Sozialstaat ab den 1950er Jahren entnahm man den Grundrechten dagegen vor allem das Erfordernis der regulierenden Ausgestaltung wirtschaftlicher Beziehungen, des Schutzes von Schwächeren und der Limitierung privater Macht. Im Europa des 21. Jahrhunderts dringt im grundrechtlichen Einfluss nun das dominierende Paradigma der marktlogischen Gestaltung des Rechts durch. Bemerkenswert ist daher, dass Grundrechte historisch gesehen insoweit nicht als Bollwerk gegen dominante Strömungen und Paradigmen wirken, sondern diese vielmehr aufnehmen und fortführen. EU-Grundrechte schützen einerseits Vertragsfreiheit im formalen, klassischen Sinne – und damit die Kerningredienz eines freien Marktes –, aber erfordern ebenso ihre Regulierung. In der Rechtsprechung des EuGH koinzidiert dieser regulierende Einfluss mit gängigen Feststellungen von Marktunvollkommenheiten und Marktversagen, namentlich im Falle von Diskriminierung und AGB. Die sozialen Grundrechte des Solidaritäts-Titels der Charta haben in der Rechtsprechung des EuGH dagegen bisher keine signifikante Wirkung gezeigt, trotz mehrmaliger Gelegenheiten für den Gerichtshof. Auch die Grundfreiheiten schränken in marktfreundlicher Weise die privatrechtlichen Wirkungen der Grundrechte ein. All dies zusammen genommen erlaubt, von einem marktlogischen Paradigma oder Marktparadigma zu sprechen. Es lässt sich behaupten, dass hiermit aktuell das „implicit image of society“ des EuGH am überzeugendsten auf den Punkt gebracht wird. Die bisherige Wirkung der EU-Grundrechte ist einerseits durch das positive Sekundärrecht zu gewissem Ausmaß vorbestimmt, jedoch andererseits ebenso durch die institutionellen, epistemologischen und politischen Umstände begründet. Dass man sie solchermaßen erklären kann, heißt nicht, fehlende wirkliche Pluralität zu befürworten. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich dieses Muster in Zukunft als zeitpunktabhängiger Zwischenstand herausstellt oder vielmehr in weiteren Urteilen verfestigt.

5. Teil

Prozessuales

§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung bei der Verwirklichung der EU-Grundrechte Die bisherige Untersuchung war primär auf die inhaltliche und strukturelle Analyse der EU-Grundrechte im Vertragsrecht ausgerichtet. Gerichtspraktische Aspekte wurden zwar mehrmals angedeutet, und die kompetenzielle Dimension der EU-Grundrechte teils auch ausführlicher diskutiert, 1 aber wichtige Fragen wurde dabei zunächst aufgespart: Vor welchen Gerichten über die Wirkung der EU-Grundrechte entschieden wird, und wie dabei die Aufgabenteilung und Hierarchie zwischen diesen Gerichten ausgestaltet ist. Meist war lediglich vom EuGH die Rede, und es wurde lediglich das kompetenzielle Spannungsfeld zwischen ihm und nationalen Verfassungsgerichten angesprochen.2 In der praktischen Behandlung der EU-Grundrechte spielen Verfassungsgerichte wie das Bundesverfassungsgericht aber eine untergeordnete Rolle.3 Das Spanungsfeld liegt hier zwischen dem Gerichtshof und den anderen nationalen Gerichten. Denn die praktische Verwirklichung der EUGrundrechte ist keineswegs ausschließlich dem EuGH vorbehalten – vielmehr sind auch nationale Gerichte aufgerufen, Unionsrecht inklusive der Unionsgrundrechte anzuwenden. Bei der Frage nach Aufgabenteilung und Hierarchie geht es darum, inwieweit der EuGH die inhaltlichen Feinheiten der EU-Grundrechte letztverbindlich vorgibt, oder inwieweit nationale Gerichte mit eigenem Gestaltungsspielraum entscheiden können. Dies ist gerade aufgrund der Offenheit und Unbestimmtheit grundrechtlicher Vorschriften relevant.4 Die Methode der Abwä-

1

Insbesondere bei der Frage des Anwendungsbereichs der EU Grundrechte, oben § 3 I. Etwa bei § 3 II. 3 S. auch noch unten § 10 I. 1. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Prüfung anhand Europarechts schon nicht zuständig – dazu etwa ausdrücklich BVerfGE 114, 196, 220; BVerfGE 82, 159, 191; BVerfGE 31, 145, 174 f. Zum Prüfungsmaßstab bei der Verfassungsbeschwerde etwa Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz (46. EL April 2015), § 13 BVerfGG Nr. 8 a) Rn. 39 ff.; zur abstrakten Normenkontrolle Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz (46. EL April 2015), § 13 BVerfGG Nr. 6 Rn. 12 ff. 4 Vgl. etwa O. Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503, 517: „Vielfältige nationale Erfahrungen [...] zeigen, dass nirgends die Bedeutung der Gerichte größer ist als bei den unbestimmten Rechtsbegriffen“. 2

374

§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung

gung5 führt in besonderem Maße zu richterlicher Gestaltungsfreiheit.6 Zwar ist sie nicht mit freihändigem Argumentieren und Entscheiden zu verwechseln, lässt aber mehr als die Anwendung klarer Regeln einen Spielraum, Argumente so oder so zu gewichten. Zugespitzt läuft dies auf folgende Kernthematik hinaus: Welche Teile der Abwägung zwischen widerstreitenden Grundrechten gibt der EuGH selbst vor, welche Kriterien nennt er, und welche sind mitgliedstaatlichen Gerichten überlassen? In der Terminologie, die seit einiger Zeit en vogue ist, könnte man auch formulieren: Inwieweit handelt es sich bei der Anwendung der EU-Grundrechte um eine zentrale, inwieweit um eine dezentrale Judicial Governance?7 So ausgedrückt wird die föderale Dimension der Frage deutlich. Zur Bearbeitung der auf die Grundrechte bezogenen Problematik sind zunächst einige allgemeine Ausführungen zur Aufgabe des EuGH und jener der mitgliedstaatlichen Gerichte bei der Anwendung des Unionsrechts und der Grundrechte notwendig (I.). Anschließend sind abermals die unter § 4 dargestellten Fälle im Querschnitt zu analysieren und darauf hin zu untersuchen, wie spezifisch der EuGH Vorgaben macht und welche Spielräume er lässt (II.). Daran anknüpfend lassen sich verallgemeinernde Thesen bilden (III.).

I. Aufgabenteilung zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten im Allgemeinen I. Aufgabenteilung im Allgemeinen

Die bestehende Aufgabenteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten resultiert aus der verfahrensrechtlichen Verbindung zwischen ihnen (prozessualer Aspekt) sowie aus der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts 5

Dazu oben § 5 IV. Stone Sweet/Mathews, Proportionality Balancing and Global Constitutionalism, 47 Columbia Journal of Transnational Law (2008), 72, 88 gehen so weit zu sagen: „When it comes to constitutional adjudication, balancing can never be dissociated from lawmaking.“ S. etwa auch Collins, On the (In)compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2013), 26, 40 f.; Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kontrollfragen beim nationalen und europäischen Schutz von Freiheitsrechten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, EuGRZ 2006, 492, 495 spricht etwa von einem „komplexen Zuordnungs- und Abwägungsprozesses und nicht einer schlichten Subsumtion“. Kritisch zu der Entwicklung hin zu einer „juristocracy“ Micklitz, Introduction, in: Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 1, 3. 7 Zu diesem Terminus und seiner Bedeutung für den vorliegenden Kontext A. Colombi Ciacchi, Judicial Governance in Private Law through the Application of Fundamental Rights, Austrian Law Journal 2014, 120; auch kritisch zu diesem Begriff S. Frerichs, Judicial Governance in der europäischen Rechtsgemeinschaft: Integration durch Recht jenseits des Staates (2008). Von (nationalen) Zivilgerichten als „dezentraler Regelungsinstanz“ spricht Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte (2014), 1. 6

I. Aufgabenteilung im Allgemeinen

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(materieller Aspekt). Das Folgende schildert zunächst die sich daraus ergebende Rolle der nationalen Gerichte (dazu 1.) sowie dann die des EuGH (dazu 2.). Ein entscheidender Faktor für das Zusammenspiel zwischen ihnen ist die Spezifizität der Vorgaben, die der EuGH im Einzelfall macht. Diese ist äußerst variabel. Hierauf hat insbesondere Tridimas hingewiesen und ein Raster vorgeschlagen, das ein hilfreiche Grundlage bietet, um grundrechtliche Fälle zu analysieren (dazu 3.). 1. Nationale Gerichte als Grundrechts-Anwender und Fallentscheider Nationale Gerichte nehmen eine essentielle Stellung bei der Verwirklichung des Unionsrechts ein. Die EU-Grundrechte machen diesbezüglich keine Ausnahme – auch sie sind unmittelbar geltendes Recht.8 Über mitgliedstaatliche Gerichte wird das Unionsrecht im Allgemeinen und die Grundrechte im Speziellen „integraler Teil des für jeden Bürger geltenden Rechts“,9 weswegen man auch für die nationale Judikative von „Gemeinschaftsrichtern“ oder heute „Unionsrichtern“ spricht. 10 Sofern die Anwendbarkeit der EUGrundrechte gegeben ist, 11 haben mitgliedstaatliche Gerichte die EUGrundrechte bei der Auslegung anderer Rechtssätze zu berücksichtigen (indirekte Wirkung) und unter Umständen unmittelbar anzuwenden (direkte Wirkung).12 Sie sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, EU-Grundrechte anzuwenden.13 Dies gilt auch in vertragsrechtlichen Streitigkeiten und damit in Deutschland insbesondere für die ordentliche Gerichtsbarkeit und Arbeitsgerichte. Die Einsicht, dass zahlreiche Fallgestaltungen anhand der EUGrundrechte – und nicht (lediglich) anhand nationaler Grundrechte – zu beurteilen sind, muss sich wohl erst noch flächendeckend durchsetzen. 14 Ist dies 8

Näher o. § 5 I 1. I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27, 28. 10 Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27, 28; skeptisch und betonend, dass dies nicht institutionell, sondern nur für die Rechtsanwendung gelte Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 2312 – daher allenfalls „Unionsrechtsgerichte“. 11 Dazu oben § 3 I. 12 Ausführlich zu den diesbezüglichen dogmatischen Grundstrukturen oben § 5 I. 13 S. z.B. Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 110. Bei Anwendbarkeit der EU-Grundrechte könnte ihre Nichtbeachtung zugunsten nationaler Grundrechte „einer Rechtsverweigerung und einem Verfassungsverstoß nahe kommen“ – Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (2014), Art. 53 Rn. 22. 14 Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889: „Zahlreiche deutsche Richter, Rechtsanwälte und Verwaltungsbehörden dürften bis zum heutigen Tage nicht verinnerlicht haben, dass nach der EuGHRechtsprechung eine beachtliche Anzahl innerstaatlicher Sachverhalte eigentlich an den EU-Grundrechten an Stelle des Grundgesetzes zu messen wäre.“ 9

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§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung

einmal geschehen, wird sie zu einem bedeutenden Multiplikator des Einflusses der EU-Grundrechte werden. Was die Verwirklichung des Unionsrechts angeht, bilden nationale Gerichte mit dem EuGH eine „funktionelle Einheit“.15 Eine prozessuale Verknüpfung zwischen ihnen besteht durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Dieses ermöglicht einen „Dialog“ zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit und strukturiert die Zusammenarbeit zwischen ihnen.16 Teilweise können, teilweise müssen nationale Gerichte dem EuGH Fragen über die Auslegung des Unionsrechts vorlegen. Grundsätzlich können nationale Gerichte frei darüber entscheiden, ob sie dem EuGH eine Vorlagefrage stellen wollen, Art. 267 UAbs. 2 AEUV. 17 Sie können die EUGrundrechte also auch ohne Anleitung oder einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs anwenden. Lediglich für letztinstanzliche Gerichte kann eine Vorlagepflicht bestehen, Art. 267 UAbs. 3 AEUV. 18 Kommt vor solch einem Gericht die Frage nach Auslegung der EU-Grundrechte auf und ist diese Frage entscheidungserheblich, muss dem EuGH vorgelegt werden. Dies gilt auch dann, wenn schon die Anwendbarkeit der Grundrechte zweifelhaft, aber jedenfalls nicht offensichtlich ausgeschlossen ist – auch dann geht es schließlich um die Auslegung des Unionsrechts, konkret des Art. 51 Abs. 1 GRC. Verletzungen der Vorlagepflicht verstoßen nach deutschem Recht gegen Art. 101 GG19 und stellen nach europäischem Recht als Verstoß gegen Art. 267 AEUV eine Vertragsverletzung im Sinne der Art. 258, 259 AEUV dar.20 Einschränkungen der Vorlagepflicht bestehen allerdings nach der acte claireDoktrin, also insbesondere dann, wenn über die Unionsrechtslage vernünftigerweise kein Zweifel besteht.21 Unabhängig davon, ob sich ein Gericht

15

Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27. C.D. Classen, Rechtsschutz, in: R. Schulze et al. (Hg.), Europarecht (2014), § 4 Rn. 5; zu „Richterrecht als kommunikativem Prozess“ Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27, 38 ff. 17 Eine Ausnahme besteht nur insoweit, als dass nationale Gerichte nicht die Grundrechtswidrigkeit von Unionsakten feststellen können – dies ist allein dem EuGH vorbehalten; vgl. EuGH Rs. 315/85 (Foto Frost), Slg. 1987, 4119, Rn. 11 ff. sowie dazu etwa Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 267 AEUV Rn. 28 f. 18 Missverständlich insoweit Krebber, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das deutsche Individualarbeitsrecht, EuZA 2013, 188, 201: für deutsche Arbeitsgerichte „besteht die Vorlagepflicht regelmäßig“. Wie er zuvor, 196, selbst ausführt, gilt das nur für letztinstanzliche Gerichte. Auch erstinstanzliche Gerichte haben aber freilich EU-Grundrechte zu berücksichtigen. 19 BVerfGE 82, 159, 191 ff.; BVerfGE 73, 339 ff. 20 F. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: A.v. Bogdandy/J. Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge (2009), 559, 563. 21 S. etwa EuGH Rs. 283/81 (CILFIT), Slg. 1982, 3415, Rn. 16. Dazu näher etwa Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 3296 ff. Über16

I. Aufgabenteilung im Allgemeinen

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fakultativ oder obligatorisch an den EuGH gewandt hat: Soweit Gerichte dem EuGH vorgelegt haben, sind sie an dessen Antwort gebunden.22 Wie genau sich dies auf den konkreten Fall auswirkt, den das nationale Gericht zu entscheiden hat, hängt vom Inhalt der Antwort ab, auf den zurückzukommen sein wird. Allgemein führt die Rolle als „Unionsrechtsgerichte“ zu einem Bedeutungs- und Kompetenzzuwachs nationaler Gerichte. 23 Insbesondere, wenn eine nationale Regelung mit Unionsgrundrechten unvereinbar, haben mitgliedstaatliche Gerichte diese unangewendet zu lassen. Dies gilt auch dann, wenn sie dem EuGH nicht vorgelegt haben und unterscheidet sich somit von der Lage im deutschen Recht, wo nach Art. 100 GG das Bundesverfassungsgericht anzurufen ist.24 Nationalen Gerichten stehen außerdem mit der Auslegung unter Berücksichtigung der EU-Grundrechte neue Begründungsmöglichkeiten intersubjektiv akzeptabler Ergebnisse zur Verfügung. Eine genaue Studie zur Anwendung der EU-Grundrechte durch nationale Gerichte kann hier nicht unternommen werden und wäre mit einem so allgemeinen Zugriff wie in dieser Schrift auch nicht möglich. Feststellen lässt sich aber immerhin, dass die Zitierung von EU-Grundrechten in der Judikatur des BAG und des BGH inzwischen bisweilen durchaus vorkommt.25 2. EuGH als oberstes Gericht und Integrator Der EuGH besitzt gem. Art. 19 Abs. 1 EUV die Aufgabe zur „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Um dieser nachzukommen, sind ihm nach dem Enumerationsprinzip Zuständigkeiten für eine Reihe von Verfahren zugewiesen. Zusammen genommen laufen diese, vor allem auch nach Ansicht mancher Richter des EuGH selbst, auf eine Stellung nach Art eines Supreme Court hinaus.26 Der EuGH entscheidet letztverbindblicke z.B. bei Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 468 f.; Oppermann et al., Europarecht (2014), 227 ff. 22 Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 3395. 23 Chalmers et al., European Union law: text and materials (2014), 170; K. Alter, The European Court’s Political Power, 19 West European Politics (1996), 458, 466 f.; Thym, Von Karlsruhe nach Bückeburg – auf dem Weg zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft (2013) – http://www.verfassungsblog.de/von-karlsruhe-nach-buckeburg-auf-dem-weg-zureuropaischen-grundrechtsgemeinschaft/#.VRV142b-Npk. 24 Vgl. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 52 ff.; Junker, Europäische Grund- und Menschenrechte und das deutsche Arbeitsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Koalitionsfreiheit), ZfA 2013, 91, 110. 25 S. z.B. BGH BeckRS 2011, 06487; BAG NZA 2011, 860. 26 So wörtlich die EuGH-Richter Danwitz, Funktionsbedingungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, EuR 2008, 769, 775 und K. Lenaerts, Dass der EuGH als internationales Gericht angesehen wird, ist ein großes Missverständnis – Interview (2014)

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lich über die Bedeutung des Unionsrechts, unabhängig davon, ob es um Verfassungs-, Zivil- oder Verwaltungssachen geht, und ist insofern oberstes Gericht, was das Unionsrecht angeht.27 Die praktisch bedeutsamste Verfahrensart vor dem EuGH ist das Vorabentscheidungsverfahren.28 Gerade, was die Frage der EU-Grundrechte im Vertragsrecht angeht, kommt ihm überragende Bedeutung zu.29 Mittels dieses Verfahrens erhält der Gerichtshof die Möglichkeit, zur Relevanz von EU-Grundrechten auch in privatrechtlichen Streitigkeiten Stellung zu nehmen. Wie bereits erwähnt, lautet die Aufgabe des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV, das Unionsrecht auszulegen. Problematisch ist allerdings, wie der Begriff der Auslegung auszulegen ist. Herkömmlicherweise unterscheidet man die Auslegung als abstrakte Ermittlung der Rechtslage von der Anwendung des Unionsrechts auf konkrete Fälle.30 Der EuGH selbst befand in Costa/Enel, er habe nicht die Befugnis, „den [EWG-]Vertrag auf einen Einzelfall anzuwenden“.31 Wenn eine solche Unterscheidung auch zunächst einleuchtend erscheinen mag, ist sie doch in der weiteren Rechtsprechungspraxis schwer auszumachen.32 In zahlreichen Entscheidungen geht der EuGH auf Umstände der Ausgangsverfahren so detailliert ein, wie man es womöglich eher bei der Anwendung des Rechts erwarten würde.33 Dass er nicht einfach Recht auf einen konkreten Fall anwendet, will er dabei häufig mit der Formulierung kennzeichnen, dass er sich zu einem – http://www.verfassungsblog.de/dass-der-eugh-als-internationales-gericht-angesehenwird-ist-ein-grosses-missverstaendnis-interview-mit-prof-dr-koen-lenaerts/#.VRLG6mb; s. auch etwa Oppermann et al., Europarecht (2014), 206. 27 Oppermann et al., Europarecht (2014), 208; Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 2170 ff. 28 S.a. Classen, Rechtsschutz, in: Schulze et al. (Hg.), Europarecht (2014), § 4, Rn. 15; Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 464. 29 Die unter § 4 diskutierten Urteile ergingen allesamt in Vorabentscheidungsverfahren. 30 Dazu etwa Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV (2011), Art. 267 AEUV Rn. 3 ff.; Ehricke, in: Streinz, EUV, AEUV (2012), Art. 267 AEUV Rn. 14; Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis (2015), 491, 511 ff.; Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 496 f.; Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503, 509. 31 EuGH Rs. 6/64 (Costa/Enel), Slg. 1964, 1251, 1268. 32 Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis (2015), 491, 511 ff.; Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 496 f.; S. Weatherill, Cases and materials on EU law (2014), 180. 33 G. Davies, Abstractness and concreteness in the preliminary reference procedure, in: N.N. Shuibhne (Hg.), Regulating the Internal Market (2006), 210; vgl. auch Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis (2015), 491, 509 ff.; Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503, 509 ff.

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„Fall wie dem des Ausgangsverfahrens“ äußert.34 Derartige konkrete Bezugnahmen sind mit dem Hinweis kritisiert worden, dass die Grundidee eines gleichberechtigten Verhältnisses zwischen nationalen und europäischen Gerichten35 sich in der Folge in eine hierarchische Beziehung wandele.36 Der Gerichtshof trete in den Kompetenzbereich der nationalen Gerichte über. Allerdings kann die Erklärung für konkrete Stellungnahmen nicht allein in einem möglichen Integrationsinteresse des Gerichtshofes liegen.37 Schließlich erhält er häufig detaillierte Vorlagefragen und Sachverhaltsschilderungen nationaler Gerichte, die ihn also geradezu zu derartigen Stellungnahmen einladen. Die Problematik, eine Trennlinie zwischen Auslegung und Anwendung in der Praxis zu ziehen hängt damit zusammen, dass sie schon in theoretischer Hinsicht nicht klar zu bestimmen ist. Aus hermeneutischer Perspektive betont man schließlich häufig, dass der Erkenntnisprozess der Auslegung stets ein Hin- und Herwandern zwischen allgemeinen Begriffen des Gesetzestextes und konkreten Umständen beziehungsweise Tatsachen erfordert.38 Teils sieht man darin eine stufenweise Konkretisierung eines Obersatzes bezogen auf einen konkreten Sachverhalt.39 Teils wird vertreten, dass eine Trennung zwischen zu interpretierendem Rechtssatz und konkreten Umständen gar nicht möglich sei.40 Die Auslegung wird jedenfalls regelmäßig überhaupt erst not34 Vgl. aus den in dieser Schrift besprochenen Urteilen z.B. EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365, Rn. 23; EuGH Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), Rn. 51; EuGH Rs. C-470/12 (Pohotovost’), Rn. 32. 35 So die Grundidee, wie sie etwa G.C. Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten – Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, NJW 2000, 1889 schildert. 36 Davies, Abstractness and concreteness in the preliminary reference procedure, in: Shuibhne (Hg.), Regulating the Internal Market (2006), 210; Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 497. 37 Vgl. Craig/De Búrca, EU law: text, cases, and materials (2015), 497. 38 S. etwa Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), 134 ff., der die hermeneutischen Theorien Gadamers für die juristische Dogmatik fruchtbar machte (H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1975); dazu auch Grundmann, Kapitel 1. Innerhalb und Außerhalb des Privatrechts, in: Grundmann et al. (Hg.), Privatrechtstheorie (2015), 41, 45 ff.); für den konkreten Kontext des Vorabentscheidungsverfahrens: M. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 150 ff. 39 Überblick bei Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 150 ff.; vgl. K. Engisch/T. Würtenberger, Einführung in das juristische Denken (2005), u.a. 64, 80; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2006), 98 f.; Fikentscher, Methoden des Rechts. IV (1977), 191 ff. 40 Überblick bei Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 153 ff.; vgl. A. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache: zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus (1982), 37 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), § 2 Rn. 64.

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wendig in der Konfrontation der abstrakten Norm mit Konkretem. Dann aber kann der Unterschied zur Anwendung nicht darin liegen, dass die Auslegung abstrakt bleibt, während die Anwendung konkret wird. Ein weiteres entscheidendes Argument für eine weite Auslegung des Auslegungsbegriffs folgt außerdem aus der Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens und der Rolle des EuGH darin. Der Gerichtshof soll schließlich gerade die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und damit seine einheitliche Wirksamkeit sicherstellen.41 So weit es für eine unionsweit einheitliche Auslegung notwendig ist, konkrete Umstände zu berücksichtigen, hat der EuGH dies zu tun.42 Gleichzeitig folgt aus dem Telos des Vorabentscheidungsverfahrens auch eine Grenze: Sofern die einheitliche Auslegung nicht die Verarbeitung konkreter Umstände erfordert, hat der EuGH sie zu unterlassen. Es beginnt dann der Kompetenzbereich nationaler Gerichte oder mit anderen Worten die Anwendung auf einen konkreten Fall. Deswegen ist die terminologische Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung auch durchaus weiter hilfreich und verdeutlicht immerhin, dass Kompetenzgrenzen bestehen.43 Es ist jedenfalls nicht die Aufgabe des EuGH, einen bestimmten Zivilprozess zu entscheiden. Wo die besagte Grenze liegt, kann nicht allgemein, sondern immer nur mit Blick auf die konkrete Norm, teils nur mit Blick auf den konkreten Fall beantwortet werden.44 So weit die Auslegungskompetenz des EuGH reicht, so weit besteht jedenfalls tatsächlich ein ÜberUnterordnungsverhältnis zwischen Gerichtshof und nationalen Gerichten. Jenseits dieses Kompetenzbereiches behalten nationale Gerichte allerdings

41 S. z.B. EuGH Rs. 166/73 (Rheinmühlen), Slg. 1974, 33, Rn. 2: „[Das Vorabentscheidungsverfahren] ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt; [es] soll gewährleiten, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Auf diese Weise soll er unterschiedliche Auslegungen des Gemeinschaftsrechts verhindern, das die nationalen Gerichte anzuwenden haben [...].“; Frenz, Handbuch Europarecht: Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz (2010), Rn. 3223; Chalmers et al., European Union law: text and materials (2014), 179 f.; Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten – Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, NJW 2000, 1889; Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 223 ff. 42 Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 225. 43 Andernfalls besteht die Gefahr aus Kompetenzgesichtspunkten zweifelhafter Aussagen, vgl. z.B. Becker, Das EuGH-Urteil „Vrijheidsfonds/Vandersteen“ und die Folgen für das deutsche Recht, GRUR 2015, 336, 339, der kritisiert, der EuGH habe eine „Anwendung [des Art. 5 Abs. 3 k) Urheberechtsrichtlinie] auf den hier vorliegenden Fall“ unterlassen. 44 So für Richtlinien Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503, 523 ff.

I. Aufgabenteilung im Allgemeinen

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ihre eigenständige Rolle und sind dem EuGH nicht untergeordnet, sondern vielmehr seine funktionalen Partner. Für die EU-Grundrechte folgt daraus jedenfalls, dass die Kompetenz des Gerichtshofs es regelmäßig umfasst, sich zu einem „Fall wie dem des Ausgangsverfahrens“ zu äußern und somit in der Sache Normen und Fakten in Beziehung zu setzen. Denn Grundrechte sind gar nicht schlicht zu subsumieren, sondern im Kollisionsfall abzuwägen.45 Eine Abwägung ist überhaupt nur möglich unter Bezug auf konkrete Umstände, da es keine allgemeine Hierarchie zwischen den EU-Grundrechten gibt. „In balancing situations, it is context that varies, and it is the judge’s reading of context [...] that determines outcomes.“46 Dies heißt allerdings nicht, dass der EuGH die Abwägung immer selbst zu Ende zu führen sollte, sondern lediglich so weit, wie es für die Einheitlichkeit des Unionsrechts erforderlich ist. Dem EuGH selbst zufolge ist es schließlich auch gerade Ziel des unionalen anstelle des nationalen Grundrechtsschutzes, „zu verhindern, dass der Grundrechtsschutz, der je nach dem betreffenden nationalen Recht unterschiedlich sein kann, den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt“.47 3. Variable Spezifizität der Vorgaben durch den EuGH Bisher wurde allgemein abgesteckt, wie weit die Kompetenz des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren reicht. In der Entscheidungspraxis des Gerichtshofs kann man sehr unterschiedliche Beispiele dafür finden, inwiefern er diese Kompetenz tatsächlich ausnutzt – die Spezifizität seiner Antworten variiert stark.48 Das Zusammenspiel – der Dialog – zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten hängt entscheidend davon ab, wie spezifisch die Antworten des EuGH auf Vorlagefragen ausfallen. Der sich jeweils ergebende Spielraum der mitgliedstaatlichen Gerichte ist, um dies gleich zu Beginn 45

Zu Subsumtion und Abwägung als zwei unterschiedlichen methodischen Grundoperationen ausführlich oben § 5 IV. Auch wenn man mit Hesse von praktischer Konkordanz anstatt Abwägung spricht, folgt das Gleiche: „Es gibt keine von konkreten Problemen unabhängige Verfassungsinterpretation.“ (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), § 2 Rn. 64) sowie dazu Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 154. 46 Stone Sweet/Mathews, Proportionality Balancing and Global Constitutionalism, 47 Columbia Journal of Transnational Law (2008), 72, 89, im Wesentlichen in ihrer Analyse basierend auf der Theorie Alexys – Alexy, Theorie der Grundrechte (1994). 47 EuGH Rs. C-206/13 (Siragusa) Rn. 32. Ebenso EuGH Rs. C-399/11 (Melloni), Rn. 60; EuGH Rs. 11/10 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125, Rn. 3. 48 T. Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 738 f. sieht dies positiv: Die Flexibilität ergebe sich aus der Natur des Vorabentscheidungsverfahrens, das einen gerichtlichen Dialog ermöglichen solle.

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klarzustellen, nicht mit dem „margin of appreciation“ gleichzusetzen, den der EuGH den Mitgliedstaaten als solchen, also auch Exekutive und Legislative, lässt. Der Gerichtshof entschied beispielsweise in Omega, dass ein Verwaltungshandeln einer mitgliedstaatlichen Behörde sich im unionsrechtlich zulässigen Rahmen bewegte, weil dieser ein Einschätzungsspielraum bliebe.49 Dies impliziert für das nationale Gericht, dass es Unionsrecht nicht strenger auslegen kann, ihm also seinerseits kein Spielraum verbleibt.50 Hier interessiert aber gerade der Spielraum der nationalen Gerichte bei der Anwendung des Unionsrechts. In der Entscheidungspraxis des EuGH fällt dieser mal mehr und mal weniger breit aus. Takis Tridimas hat die variable Spezifizität der Vorabentscheidungen durch den EuGH untersucht und in drei Kategorien eingeteilt, nämlich in „deference cases“, „guidance cases“ und „outcome cases“. 51 In deference cases antwortet der EuGH in so allgemeinen Wendungen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte im Wesentlichen frei sind, das Unionsrecht zum konkreten Fall in Beziehung zu setzen. In guideline cases gibt der Gerichtshof Richtlinien vor, nennt Gesichtspunkte, die zu berücksichtigen sind, aber überlässt die Umsetzung und konkrete Argumentationsführung wesentlich dem nationalen Gericht. In outcome cases schließlich sind seine Vorgaben so spezifisch, dass sie dem Vorlagegericht keinen Spielraum lassen und eine „ready-made solution to the dispute“ enthalten. 52 Diese Unterteilung hält Tridimas zwar auch selbst nicht für „watertight“,53 aber doch für ein sehr hilfreiches Analyseraster. Besonders interessant und bedeutend ist sie bei der Methode der Abwägung.54 Weitergedacht bedeutet die Einteilung hier: Bei einer deference-Entscheidung überlässt der EuGH die Abwägung zwischen bestimmten grundrechtlichen Positionen ganz dem mitgliedstaatlichen Gericht. Bei einer guidance-Entscheidung gibt er gewisse Aspekte, Kriterien und Argumente vor, die bei der Abwägung zu berücksichtigen sind, womöglich nennt er auch schon Gewichtungen und rote Linien. Diese guidance kann 49 EuGH Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609, Rn. 31 – „[...] ist den zuständigen innerstaatlichen Behörden daher ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den EG-Vertrag gesetzten Grenzen zuzubilligen“. 50 Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 752. 51 Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 739. 52 Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 739. 53 Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 740. 54 Gleichbedeutend auch Tridimas: „The distinction among the three approaches is particularly striking in relation to the principle of proportionality.“ – Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 740.

II. Spezifizität der EuGH-Vorgaben

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freilich mehr oder weniger detailliert sein.55 Bei einer outcome-Entscheidung schließlich führt er die Abwägung selbst zu Ende und gibt dem vorlegenden Gericht das Ergebnis vor. Insofern liegen solche Entscheidungen am nächsten an einer Anwendung des Rechts. Im Folgenden sollen anhand dieses Rasters die Entscheidungen durch den EuGH zu EU-Grundrechten im Privatrecht durchleuchtet werden.

II. Spezifizität der EuGH-Vorgaben zu EU-Grundrechten im Privatrecht II. Spezifizität der EuGH-Vorgaben

Auch bei der Auslegung der EU-Grundrechte lassen sich verschieden spezifische Vorgaben durch den EuGH unterscheiden. Der Blick geht im Folgenden über das Vertragsrecht hinaus auf alle Fälle, die oben unter § 4 besprochen wurden. Auf diese Weise ergibt sich ein detaillierteres Bild gegenüber der geringeren Anzahl von Entscheidungen zum Vertragsrecht. 1. Ergebnisvorgabe In der Mehrheit der unter § 4 behandelten Fällen gab der EuGH das Auslegungsergebnis so detailliert vor, dass dem nationalen Gericht bei der Anwendung der Grundrechte im konkreten Fall keinerlei Spielraum mehr blieb (outcome-Entscheidungen in der Terminologie Tridimas’). Dies trifft insbesondere für die wegweisenden Fälle des Antidiskriminierungsrechts zu. Sowohl in Mangold56 wie auch in Kücükdeveci,57 und gleichsam später in Prigge,58 gab der EuGH das Ergebnis vor: In den ersteren beiden wurden gesetzliche Vorschriften, in letzterer eine Regelung eines Tarifvertrages für mit Unionsrecht unvereinbar befunden. Auch in Test-Achats fand der EuGH ein konkretes Ergebnis.59 Da es in diesem Fall aber um die Vereinbarkeit einer sekundärrechtlichen Vorschrift mit Grundrechten ging, hätte ein nationales Gericht die Grundrechtswidrigkeit ohnehin nicht feststellen können. 60 In Mangold, Kücükdeveci und Prigge wäre es aber durchaus denkbar gewesen, dass der Gerichtshof lediglich einige konkret zu berücksichtigende Gesichtspunkte 55

Vgl. Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 741 ff. 56 EuGH Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981. 57 EuGH Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365. 58 EuGH Rs. C-447/09 (Prigge). 59 EuGH Rs. C-236/09 (Test-Achats). 60 EuGH Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, 4199; Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006, 737, 748; Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre (2015), 146, 162.

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§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung

vorgegeben, die Auflösung der Argumentation aber dem nationalen Gericht überlassen hätte. Darüber ging er ausdrücklich hinaus und entschied jeweils, dass eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund des Alters vorlag. Aus dem Bereich der arbeitsrechtlichen Entscheidungen lassen sich insbesondere Laval,61 sowie Viking62 jedenfalls teilweise, in die Reihe der outcome-Fälle einordnen. In Laval wurde das gewerkschaftliche Vorgehen für eindeutig grundfreiheitswidrig befunden. In Viking stellte der EuGH jedenfalls für die Maßnahmen der einen Gewerkschaft, ITF, fest, sie seien mit den Grundfreiheiten nicht zu vereinbaren und nicht vom Grundrecht auf kollektive Maßnahmen gedeckt. Darüber hinaus führte der EuGH die grundrechtliche Argumentation auch in den Fällen Werhof63 und Alemo Herron64 zu Ende. In ersterem behandelte er die negative Vereinigungsfreiheit in abschließender Weise, in letzterem führte er aus, dass die Unternehmerfreiheit eine bestimmte Auslegung definitiv nicht zulasse. Auch in der Entscheidung AMS blieb dem vorlegenden Gericht, was den Grundrechtsschutz über Art. 28 GRC anging, kein Spielraum: Der Gerichtshof gab vor, dass dieser nicht durchschlagen könnte.65 Eine Reihe von Fällen, die Art. 31 Abs. 2 GRC und Urlaubsarbeitsrecht betrafen, ließe sich theoretisch ebenfalls hier unterordnen. In KHS,66 Heimann67 und Lock68 gab der EuGH jeweils ein präzises Auslegungsergebnis vor. Allerdings bezog er sich dabei jeweils nur kursorisch auf das Grundrecht, ging über dessen knappe Erwähnung nicht hinaus und spezifizierte nicht seinen substanziellen Inhalt. Das konkrete Auslegungsergebnis bezog sich jeweils auf Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie, und insofern bieten die Urteile im hier interessierenden Kontext nur wenig Aufschluss. Im Bereich des Verbraucherrechts beinhaltete der Fall McDonagh v. Ryanair69 eine abschließende Diskussion der EU-Grundrechte. Indem der EuGH feststellte, dass die Fluggastrechteverordnung in einer verbraucherschützenden Weise auszulegen sei und dies auch nicht gegen Grundrechte verstieße, blieb für das nationale Gericht keine Möglichkeit mehr, die Fluggastrechteverordnung mit grundrechtlicher Argumentation einschränkend auszulegen. Im Bereich des Digitalen entschied der EuGH in Scarlet Extended70 sowie in SABAM v. Netlog 71 in abschließender Weise über die Bedeutung der 61

EuGH Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11845. EuGH Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10806. 63 EuGH Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397. 64 EuGH Rs. C-426/11 (Alemo-Herron). 65 EuGH Rs. C-176/12 (AMS). 66 EuGH Rs. C-214/10 (KHS). 67 EuGH verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 (Heimann). 68 EuGH Rs. C-539/12 (Lock). 69 EuGH Rs. C-12/11 (McDonagh v. Ryanair). 70 EuGH Rs. C-70/10 (Scarlet Extended). 62

II. Spezifizität der EuGH-Vorgaben

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Grundrechte. Jeweils stellte er fest, dass die fragliche gerichtliche Anordnung, ein Filtersystem einzurichten, nicht das Erfordernis beachten würde, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Recht des geistigen Eigentums und der Unternehmerfreiheit, dem Datenschutzrecht sowie der Informationsfreiheit zu gewährleisten. Die Entscheidung Sky Österreich, 72 in der ebenfalls ein Ergebnis abschließend vorgegeben wurde, ist, wie schon Test Achats, in diesem Kontext von geringer Relevanz, da nationale Gerichte ohnehin die Grundrechtswidrigkeit von Richtlinien nicht feststellen könnten.73 2. Anleitung und punktuelle Vorgaben In mehreren Fällen machte der EuGH Vorgaben für die Anwendung der Grundrechte und die Abwägung der widerstreitenden Interessen, ohne sie aber abschließend aufzulösen (guidance-Fälle nach Tridimas). Jeweils war es dann Aufgabe des nationalen Gerichts, die Kriterien unter Zuhilfenahme weiterer Informationen und eigener Argumentationen im konkreten Fall anzuwenden, also die Abwägung zu Ende zu führen. Aus dem Bereich des Antidiskriminierungsrechts lässt sich HK Danmark74 hier einordnen. Der EuGH diskutierte die Angemessenheit der BeitragsStaffelung nach Alter in Arbeitsverträgen und nannte insbesondere substanzielle Argumente, die für die Angemessenheit sprachen. Die Abwägung führte er aber nicht für den konkreten Fall zu Ende. Er überließ es dem vorlegenden Gericht festzustellen, ob die Staffelung in „kohärenter und systematischer Weise“ erfolgte und die Nachteile sich für die Betroffenen Arbeitnehmer unterschiedlichen Alters mit den Vorteilen ausglichen. Unter den arbeitsrechtlichen Entscheidungen stellt die Rechtssache Fenoll75 einen guidance-Fall dar. Der EuGH entschied, dass Fenoll ein Arbeitnehmer im Sinne des Art. 31 Abs. 2 sein konnte. Er gab verschiedene Kriterien vor, die das vorlegende Gericht zu berücksichtigen habe, darunter etwa die von Fenoll erbrachten Leistungen und die Ziele des Programmes, in dem er sie erbrachte. Die Anwendung der Kriterien überließ er dem vorliegenden Gericht. Auch in Viking überließ der Gerichtshof jedenfalls teilweise die Ergebnisfindung dem nationalen Gericht. Soweit die Handlungen der Gewerkschaft FSU betroffen waren, wies er das Vorlagegericht an, zu prüfen, ob ihr ein weniger die Grundfreiheiten einschränkendes Mittel zur Verfügung gestanden hätte, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen. Er stellte nicht selbst fest,

71

EuGH Rs. C-360/10 (SABAM). EuGH Rs. C-283/11 (Sky Österreich). 73 S. schon Fn. 60. 74 EuGH Rs. C-476/11 (HK Danmark). 75 EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll). 72

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§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung

dass die Arbeitskampfmaßnahmen gegen die Dienstleistungsfreiheit Vikings verstießen. Aus den Fällen des Bereiches Digitales, geistiges Eigentum und Datenschutz fallen die Entscheidungen Google Spain,76 Telekabel77 und Deckmyn78 in die Kategorie der Anleitung und punktueller Vorgaben. In Google Spain ging der EuGH detailliert auf Grundrechte ein und ließ dem nationalen Gericht schlussendlich nur einen so engen Spielraum, dass er nah an einen outcome-Fall heranreichte. Er befand nach ausführlicher Prüfung, es sei davon auszugehen, dass die Person, welche die Löschung eines Eintrags aus der Suchliste verlangte, in einem Fall wie dem des Ausgangverfahrens ein Recht darauf habe, dass der Eintrag nicht mehr in Verknüpfung mit ihrem Namen erscheine. Es lägen „offenbar“ keine besonderen Gründe vor, die ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit gegenüber dem Persönlichkeits- und Datenschutz rechtfertigten. Dies „zu prüfen“ sei „jedoch Sache des vorlegenden Gerichts“.79 Im Endeffekt gab der Gerichtshof damit die gesamte Argumentation vor, ließ dem nationalen Gericht aber eine Tür einen spaltbreit offen, um etwaige Argumente des konkreten Falls zu berücksichtigen, die dem EuGH selbst nicht zugänglich waren. Im Fall Telekabel waren die Vorgaben es EuGH ebenfalls sehr konkret. Im Ergebnis stellte er fest, dass die fragliche gerichtliche Anordnung, welche das Recht des geistigen Eigentums schützte und in Unternehmer- und Informationsfreiheit eingriff, unter bestimmten Voraussetzungen mit Unionsrecht in Einklang stehe. Namentlich dürfe rechtmäßiger Zugang zu Informationen nicht unnötig vorenthalten werden und müssten Verletzungen des geistigen Eigentumsrechts zuverlässig abgehalten werden. Ob dies der Fall sei, überließ er den nationalen Gerichten und Behörden zu überprüfen. Im Fall Deckmyn stellte der EuGH fest, dass es für die Auslegung des Begriffs der Parodie auch auf grundrechtliche Belange ankäme. Insbesondere habe der Urheber „grundsätzlich“ ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit diskriminierenden Aussagen in Verbindung gebracht zu werden. Ob aber im konkreten Fall tatsächlich das ursprüngliche Werk mit diskriminierenden Aussagen gebracht würde, gab er dem nationalen Gericht auf zu prüfen. Dieses habe unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob ein angemessener Ausgleich gefunden würde. Der EuGH machte also einerseits eine recht konkrete Vorgabe bezüglich der diskriminierenden Aussage, führte sie aber nicht konsequent aus und schwächte sie außerdem dadurch ab, dass ein berechtigtes Interesse des Urhebers nur „grundsätzlich“ bestehe und auch sonst alle Umstände zu berücksichtigen seien. 76

EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain). EuGH Rs. C-314/12 (Telekabel). 78 EuGH Rs. C-201/13 (Deckmyn). 79 EuGH Rs. C-131/12 (Google Spain), Rn. 98. 77

III. Gestaltungsspielräume: Gründe und Konsequenzen

387

3. Zurückhaltung und Überantwortung an das nationale Gericht Innerhalb der untersuchten Fälle stellt es die Ausnahme dar, dass der EuGH Zurückhaltung übt und die grundrechtliche Argumentation ganz dem nationalen Gericht überlässt (deference-Fälle in der Terminologie Tridimas’). Der einzige klare Fall dieser Art ist Promusicae.80 Hier nannte der Gerichtshof lediglich die betroffenen Grundrechte, die es in ein angemessenes Gleichgewicht zu bringen gäbe: das Recht auf Achtung des Privatlebens, das Eigentumsrecht und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Er nannte keinerlei Argumente, die für ein Ergebnis in die ein oder andere Richtung sprechen könnten, gab also für die Abwägung der Grundrechte nichts vor. Insbesondere verknüpfte er die abstrakte Nennung der Grundrechte nicht näher zu den Umständen des konkreten Falles aus dem Vorlageverfahren. Was die spezifisch grundrechtliche Dimension angeht, könnte man außerdem erwägen, die Nennung des Wohnungsgrundrechts in Kušionová81 noch als Überantwortung der gesamten Argumentation an das nationale Gericht einzustufen. In der gleichen Antwort führte der EuGH allerdings durchaus auch konkrete Argumente für die Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit der Klauselrichtlinie an. Lediglich, was die Bedeutung des Wohnungsgrundrechts anging, blieb er ganz oberflächlich. Insofern liegt der Fall an der Grenze zwischen guidance und deference.

III. Vorhandene und nichtvorhandene Gestaltungsspielräume nationaler Gerichte: Gründe und Konsequenzen III. Gestaltungsspielräume: Gründe und Konsequenzen

Es bietet sich eine Reihe von Erklärungsansätzen für die festgestellte variable Spezifizität. Sie werden im Folgenden diskutiert (1.). Zwar können sie zu diesem Zeitpunkt nicht in Anspruch nehmen, abschließend und wasserfest zu sein. Die Fallzahlen sind noch nicht sehr hoch und variierende Umstände aus Einzelfällen lassen sich nicht immer ohne Weiteres vergleichen. Erste Muster zeichnen sich allerdings durchaus ab, was Thesen erlaubt. Sie haben ihrerseits eine Reihe von Implikationen für die zukünftige Bedeutung der EUGrundrechte im Vertragsrecht, die Rolle der verschiedenen Gerichte und die Spannungslage zwischen nationalen Eigenarten und supranationaler Vereinheitlichung (2.).

80

EuGH Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271. Zum Offenlassen der Abwägung auch Schoene, EuGH: Bei Datenweitergabe wegen Urheberrechtsverletzungen im Internet muss das nationale Recht den Ausgleich zwischen Datenschutz und Schutz des geistigen Eigentums herstellen, FD-GewRS 2008, 252938. 81 EuGH Rs. C-34/13 (Kušionová).

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1. Gründe Den folgenden Ausführungen sei vorangestellt, dass jedenfalls ein möglicher Grund hier nicht näher erörtert werden kann: Uneinigkeit zwischen den Richtern des EuGH.82 Da Minderheitsvoten nicht möglich sind, einigen sie sich bei Differenzen bisweilen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Differenzen könnten somit insbesondere zu deference-Entscheidungen führen. Andererseits können auch begründungsarme outcome-Entscheidungen ein Zeichen von Uneinigkeit sein – man mag über das Ergebnis, weniger aber über die Begründung übereinstimmen. An dieser Stelle ließen sich lediglich Spekulationen anstellen, in welchen Fällen dem zu welchem Ausmaß so war, weswegen dem Thema nicht näher nachzugehen ist. a) Einheitlichkeit des Unionsrechts Oben wurde schon die Einheitlichkeit des Unionsrechts als einer der entscheidenden Gesichtspunkte für die Auslegung des Art. 267 AEUV und damit der Kompetenz des EuGH genannt. Die Einheitlichkeit des Unionsrechts spricht der EuGH in den oben genannten Urteile jedoch nur zweimal ausdrücklich an. Beide Entscheidungen betrafen guidance-Fälle. In Fenoll befand der Gerichtshof, dass er Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie sowie Art. 31 Abs. 2 GRC unionsautonom auszulegen habe, „um die Einheitlichkeit des persönlichen Geltungsbereichs des Anspruchs der Arbeitnehmer auf bezahlten Urlaub zu gewährleisten“.83 Damit rechtfertigte er, dass der Arbeitnehmerbegriff überhaupt eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung hat und nicht zur Konkretisierung auf mitgliedstaatliches Recht verweist. Der EuGH führte aber nicht aus, inwiefern sich das Ziel der Einheitlichkeit des Unionsrechts auf die Genauigkeit seiner Vorgaben auswirkte. Feststellen kann man jedenfalls, dass er in diesem Fall recht konkrete Ausführungen machte und dem vorlegenden Gericht einen geringen Spielraum ließ. In Deckmyn äußerte sich der Gerichtshof zur Einheitlichkeit in Bezug auf die Auslegung der einschlägigen Richtlinie 2001/29/EG. So sei eine autonome Auslegung des dort verankerten Parodiebegriffs erforderlich für die Einheitlichkeit des Unionsrechts.84 Der Verweis auf die Einheitlichkeit bezog sich also nicht spezifisch auf die Auslegung der Grundrechte. Relevant ist er aber auch aus grundrechtlicher Perspektive, da der EuGH im Anschluss an diese Aussage die Bedeutung der Grundrechte für die Auslegung der Richtlinie recht genau ausformulierte und nur für tatsächliche Feststellungen auf das nationale Gericht ver82

Dazu auch schon Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 753 f. 83 EuGH Rs. C-316/13 (Fenoll), Rn. 26. 84 EuGH Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn. 14-15.

III. Gestaltungsspielräume: Gründe und Konsequenzen

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wies. Diese Prüfung muss im Bewusstsein des zuvor angesprochenen Ziels der Einheitlichkeit des Unionsrechts gestanden haben. Wenn also ausdrückliche Aussagen auch rar sind, so deuten die geschilderten Entscheidungen doch insgesamt darauf hin, dass das Ziel der Einheitlichkeit des Unionsrechts eine Rolle spielt. Schließlich ist es die Ausnahme, dass der EuGH die Grundrechtsabwägung ganz dem nationalen Gericht überantwortet und somit die Einheitlichkeit der Grundrechtsauslegung gefährdet. Den größten Anteil der Urteile machen outcome-Fällen aus. In den meisten anderen gab der EuGH konkrete Kriterien vor und überließ teilweise lediglich Tatsachen-Feststellungen den vorlegenden Gerichten. Lediglich in Promusicae, einer verhältnismäßig frühen Entscheidung, überließ der Gerichtshof die Abwägung ganz dem nationalen Gericht. Folgt man der oben genannten These, dass die Auslegung der Grundrechte stets unter Bezug auf konkrete Umstände zu geschehen hat, dann macht dieses allgemeine Bild Sinn. Die Urteile lassen sich so interpretieren, dass der EuGH zur Wahrung der Einheitlichkeit konkrete Vorgaben für die Auslegung macht. b) Information und Vorlagefragen Ein zentraler Grund für unterschiedlich spezifische Ergebnisvorgaben ist praktisch-verfahrenstechnischer Art: Der EuGH ist nicht Herr der Ausgangsfalls und auf die Informationen angewiesen, die ihm das Vorlagegericht zuträgt. Fehlen dem Gerichtshof aufgrund dieser Konstellation Informationen, die für die Abwägung widerstreitender grundrechtlicher Interessen entscheidend sind, kann er ein genaues Ergebnis gar nicht finden.85 Dieser Gesichtspunkt lässt sich verhältnismäßig klar mit der Rechtsprechungspraxis belegen. Ein treffendes Beispiel hierfür ist der Fall Telekabel. Der EuGH führte die Abwägung weitestgehend durch, ließ aber zwei faktische Punkte offen: ob durch die fragliche Anordnung der Zugang von Internetnutzern zu rechtmäßigen Informationen nicht vorenthalten sei und ob der Zugang zu verletzenden Inhalten zuverlässig vereitelt werde. Er sah sich nicht dazu in der Lage, dies selbst zu beurteilen, und gab die Prüfung dem nationalen Gericht auf. Auch im Fall HK Danmark war der Gerichtshof nicht nah genug am Fall, um beurteilen zu können, inwieweit die konkrete Vertragsgestaltung den Anforderungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes in kohärenter und systematischer Weise gerecht wurde. Hierzu hätte er der Vertragspraxis des Unternehmens und ihrer konkreten empirischen Auswirkungen bezüglich der Altersvorsorge umfassend nachgehen müssen. Ebenso wollte beziehungsweise konnte er im Fall Viking nicht einschätzen, inwieweit der Gewerkschaft Mittel zur Verfügung standen, die einen milderen Eingriff in die Grundfreiheit bedeutet hät85

Dazu auch schon Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 749 f.

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ten. Dazu kannte er zum einen die tatsächlichen Umstände nicht gut genug. Vor allem fehlte ihm aber auch nähere Kenntnis des nationalen Arbeitskampfrechts und der Möglichkeiten, die dies den Gewerkschaften einräumte. Ganz allgemein betrifft die Informationsknappheit nicht nur Feinheiten von Sachverhalten: Der EuGH besitzt auch keine näheren Kenntnisse nationaler Rechtsnormen. Immer dann, wenn die Aussagen nationalen Recht, die nicht in der Vorlage aufgeführt werden, relevant werden, bleibt dem EuGH nur, die Beurteilung dem nationalen Gericht zu überlassen. 86 Ein Beispiel hierfür bietet auch etwa der zweite Teil des Urteils Kušionová, in dem der Gerichtshof es dem Vorlagegericht überließ zu befinden, ob eine nationale Vorschrift bindend im Sinne der Klauselrichtlinie war. c) Normen und Verträge Bei der Analyse der oben unter II. diskutierten Urteile fällt auf, dass der EuGH bei den Vorgaben des Unionsrechts zu abstrakten Normen deutlich häufiger zu Ergebnisvorgaben neigte als bei Entscheidungen, die spezifisch private Gestaltung betrafen. Aus den Antidiskriminierungsfällen ließ lediglich die einen konkreten Vertrag betreffende Entscheidung HK Danmark einen Spielraum, wogegen der Gerichtshof in den Fällen Mangold und Kücükdeveci, die gesetzliche Vorschriften betrafen, ein abschließendes Ergebnis fand. Auch die Ergebnisvorgabe in Prigge betraf mit einem Tarifvertrag eine abstrakt-generelle Regelung, keine einzelne vertragliche Vereinbarung. Auch im Verbraucherrecht traf der EuGH in McDonagh v. Ryanair eine abschließende Aussage zu den Rechtsnormen der Fluggastrechteverordnung, während er in Kušionová es dem nationalen Gericht überließ, die Rechtsfrage aufzulösen. Damit soll nicht behauptet sein, dass Fällen, in denen die konkreten Umstände eines Sachverhalts maßgeblich waren, nie outcomeEntscheidung brachten. Dies kam beispielsweise in Laval sowie in Viking durchaus vor. Es leuchtet jedoch, insbesondere aufgrund der schon angesprochenen Informationslage, durchaus ein, dass der EuGH bei Fällen, in denen konkrete Umstände besonders maßgeblich sind, weniger weitgehende Vorgaben macht als es bei abstrakten Normen der Fall ist. d) Zurückhaltung des EuGH und sensible Rechtsmaterien Eine Erklärung für Zurückhaltung (judicial restraint) des EuGH und für Spielräume nationaler Gerichte könnte man darin suchen, dass mitunter für Mitgliedstaaten besonders sensible Bereiche betroffen sind. Als solche ließen 86 Dies war etwa entscheidend im Fall EuGH Rs. C-237/02 (Freiburger Kommunalbauten), Slg. 2004, I-3403, Rn. 23, wo der EuGH sich außer Stande sah, die Missbräuchlichkeit einer Klausel nach Art. 3 Klauselrichtlinie zu beurteilen, da ihm Kenntnis des nationalen Rechts fehlte.

III. Gestaltungsspielräume: Gründe und Konsequenzen

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sich etwa jene kategorisieren, die in nationalen politischen Debatten eine große Rolle spielen oder Kernbereiche von Staatlichkeit berühren. Aus dem Bereich und dem Umfeld des Vertragsrechts kommen insoweit insbesondere Rechtsnormen mit sozialstaatlichem Einschlag in Betracht. Die Entscheidungspraxis des EuGH liefert allerdings bisher jedenfalls keine deutlichen Hinweise dafür, dass er mitgliedstaatlichen Gerichten in diesem Bereich besondere Freiheiten überlassen würde. Dies ist bereits oben unter § 9 III. 3. angedeutet worden. Eine gewisse Zurückhaltung bei einer Frage mit sozialer Komponente könnte man zwar beispielsweise in Kušionová ausmachen wollen. Der EuGH nannte lediglich das Wohnungsgrundrecht, ohne es für den Fall des Ausgangverfahrens näher auszuführen. Er leitete das vorlegende Gericht damit auf eine sozial-regulative Fährte, gab ihm beim Verfolgen dieser aber einen weitestmöglichen Spielraum. Urteile wie Alemo Herron, Viking und Laval wiesen allerdings in die genau entgegengesetzte Richtung: Diese beinhalteten genaue Vorgaben für sozialpolitisch sensible Materien. Insgesamt ist daher zu konstatieren, dass eine Zurückhaltung bei sensiblen Rechtsbereichen prima facie zwar eine Plausibilität und Überzeugungskraft (gerade aus dem Subsidiaritätsgedanken) für sich hat, sie sich anhand der erörterten Fälle aber kaum belegen lässt. e) Führungsrolle des Unionsrechts In Bereichen, in denen unionsrechtliche Normsetzung eine besondere Führungsrolle eingenommen hat, lässt sich, eine Tendenz zu geringen oder keinen Spielräumen für nationale Richter feststellen.87 Dies gilt besonders für Normen aus dem Antidiskriminierungsbereich, in denen Unionsrecht für viele Mitgliedstaaten ein neues Rechtsgebiet geprägt oder wesentlich fortentwickelt hat.88 Wie erörtert, fallen gerade hierunter einige der bedeutendsten outcome-Entscheidungen des EuGH. Mit dem Führungsrolle des Unionsrechts steigt scheinbar auch der Führungsanspruch des Gerichtshofes.89 Mit Blick auf Viking und Laval lässt sich das auch insbesondere für die Grundfreiheiten behaupten. Diese bilden schließlich seit jeher einen Kern der europäischen Integration. Insofern ist es konsequent, dass der Gerichtshof die Abwägung gegenüber Grundrechten weitgehend selbst durchführt.

87

Zu dieser Thematik auch schon Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 752. 88 Von „bold precedents“ spricht für dieses Gebiet Reich, General principles of EU civil law (2014), 87. 89 Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 752 – „where it wishes to provide leadership“.

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Bemerkenswert ist auch die Rechtsprechungstätigkeit im Bereich des Digitalen, in dem sich die EU ebenfalls anschickt, zu einem wesentlichen Akteur zu werden.90 Nicht nur ging der EuGH hier bemerkenswert häufig überhaupt auf Grundrechte ein, auch traf er klare Aussagen mit keinen oder geringen Spielräumen für das vorlegende Gericht. Zwar blieb er im ersten Fall aus diesem Bereich, Promusicae, noch zurückhaltend, doch gab er später in Scarlet Extended sowie in SABAM v. Netlog das Ergebnis vor und machte in Google Spain sowie Telekabel äußerst detaillierte anleitende Ausführungen.91 Die vermehrten Durchdringung des digitalen Bereichs durch europarechtliche Vorschriften schafft einerseits Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Grundrechte, scheint in ihrer Dynamik aber auch die Intensität der Grundrechtswirkung nach der Rechtsprechung des EuGH zu beflügeln. 2. Implikationen und Bewertung Die unterschiedliche Spezifizität der Vorgaben und Gestaltungsspielräume hat eine Reihe von Implikationen, unter anderem für die Verfahrenspraxis und das Verhältnis zwischen den Gerichten, für die Bedingungen der europäischen Konstitutionalisierung und für das Spannungsfeld von europäischer Integration und nationaler Eigenart. Die häufig detaillierten Antworten könnten auf der einen Seite einen Anreiz für Gerichte darstellen, Rechtsfindung nach Luxemburg auszulagern. Was die Grundrechte angeht, ist der EuGH scheinbar durchaus gewillt, ihnen Arbeit abzunehmen. Auf der anderen Seite wird die grundrechtliche Abwägung durch den EuGH Grenzen haben müssen Dies liegt gerade auch an limitierten Kapazitäten des Gerichtshofs, die immer stärker in der europarechtspolitischen Diskussion angemahnt werden.92 Würde der Gerichtshof durch allzu viele grundrechtsbezogene Vorlagen überfordert, könnte er gerade nicht mehr seiner Aufgabe der Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts 90 Hierzu auch Comparato/Micklitz, Regulated Autonomy between Market Freedoms and Fundamental Rights in the Case Law of the CJEU, in: Bernitz et al. (Hg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), 121, 122 – „where the ECJ has taken the lead“. Zur digitalen Agenda der EU s. Mitteilung der Kommission. Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM (2010) 2020, u.a. 16 f. 91 Dazu auch A. Colombi Ciacchi, European Fundamental Rights, Private Law and Judicial Governance, in: H.-W. Micklitz (Hg.), Constitutionalization of European Private Law (2014), 102, 123. 92 Der Gerichtshof selbst hat inzwischen mehrmals eine Erhöhung der Richterzahl vorgeschlagen – s. jüngst Pressemitteilung Nr. 44/15 des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 28. April 2015. Aus dem Schrifttum s. z.B. I. Pernice, Die Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit, EuR 2011, 151; H. Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts: Strukturen, Entwicklungen und Reformperspektiven des Justiz- und Verfahrensrechts der Europäischen Union (2012), 275 ff.

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nachkommen. Nehmen die Vorlagefragen mit Grundrechtsbezug weiter zu, werden sich entweder die Verfahrensdauern verlängern oder die Antworten oberflächlicher oder vorsichtiger ausfallen müssen. Daneben treten die angesprochenen Informationsdefizite bezüglich konkreter Fällen. Der EuGH wird schlicht nicht in jeden Fall mit grundrechtlicher Dimension eine abschließende Abwägung vornenehmen können. Nationale Gerichte nehmen daher eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht ein und sind nicht etwa bloß Hilfspersonal des EuGH. Der Gerichtshof wird das europäische Vertragsrecht nicht allein konstitutionalisieren können, sondern ist auf die Kooperation der mitgliedstaatlichen Gerichte angewiesen. Die europäische Konstitutionalisierung kann damit keine einfache top-down-Richtung einnehmen, sondern ist jedenfalls teilweise ein dezentrales Unterfangen. Dass die Grundrechtsabwägung stets auf konkrete Umstände einzugehen hat, begründet nämlich auch nicht nur die Kompetenz des Gerichtshofs, dies zu tun, sondern setzt ihr auch Grenzen. So wie die Abwägung Kenntnis spezifischer Umstände voraussetzt, die dem Gerichtshof in Luxemburg nicht zugänglich sind, so haben die nationalen Gerichte sie zu Ende zu führen. Eine eigenständige Bewertung durch mitgliedstaatliche Richter wird somit bei EU-Grundrechten häufig erforderlich sein. Der Impulsgeber bleibt trotz dieser notwendigen Aufgabenteilung der EuGH. Er sorgt insbesondere dafür, dass die EU-Grundrechte überhaupt vermehrt auf die Agenda der Rechtswissenschaft kommen und damit lebendiges Recht sind. Früher oder später wird hierdurch auch die nationale Rechtspraxis den EU-Grundrechten vermehrt Aufmerksamkeit entgegen bringen. In inhaltlicher Sicht fällt trotz der verfahrenstechnischen Limitationen auf, dass der EuGH vermehrt und in selbstbewusster Art und Weise die grundrechtliche Dimension von Fällen aufgreift und aus ihnen konkrete Vorgaben für Lösung entnimmt. In Deckmyn beispielsweise forderte er die Parteien explizit auf, zu Grundrechten Stellung zu nehmen und leitete im Urteile daraus recht präzise Folgerungen ab, obwohl die Vorlagefrage nicht auf Grundrechte abzielte.93 In Alemo Herron gelangte er über die grundrechtliche Argumentation zu einer genauen Ergebnisvorgabe für das vorlegende Gericht, das in seinen Fragen ebenfalls nicht auf Grundrechte abgestellt hatte. In Kušionová weitete er die Analyse auf die Grundrechte aus Art. 7 und Art. 47 GRC aus, obwohl das Gericht lediglich nach Art. 38 GRC gefragt hatte. Während der Gerichtshof im chronologisch ersten Urteil Promusicae noch die Abwägung dem nationalen Gericht überlassen hatte, gab er das Ergebnis in den thematisch verwandten Fällen Scarlet Extended und SABAM v. Netlog vor und machte in Google Spain und Telekabel detaillierte Hinweise für die Anwendung der Grundrechte. Über das Vorlageverfahren leitet der EuGH auf 93

Schlussanträge des Generalanwaltes Cruz Villalón Rs. C-201/13 (Deckmyn), Rn. 73.

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solchem Wege auch die nationalen Gerichte an, sich mit EU-Grundrechten zu befassen. Der Gerichtshof wird zur grundrechtlichen Autorität. Mitgliedstaatliche Gerichte werden für die Anwendung von Grundrechten womöglich vermehrt nicht nur nach Anleitung durch ihre eigenen Verfassungsgerichte suchen, sondern auch die EuGH-Rechtsprechung in den Blick nehmen. Nicht ausgeschlossen ist es, dass dies sogar auf Rechtsgebiete, inklusive Teilgebieten des Vertragsrechts, durchschlägt, die bisher nicht europäisiert sind. Auch wenn das Unionsrecht und mithin die EU-Grundrechte dort nicht gelten, könnten einzelne Argumente und Auslegungen von Grundrechten in einer Art gerichtlichen Diskurs durchaus aufgenommen werden. Ein denkbares und durchaus auch wünschenswertes Szenario für die Zukunft ist vor allem eine weitere Zunahme von guidance-Fällen.94 Diese würden es dem EuGH einerseits ermöglichen, seine Linie der verstärkten grundrechtlichen Argumentation fortzuführen und dem europäisierten Vertragsrecht grundrechtliche Konturen zu verleihen. Er könnte den Inhalt der Grundrechte schärfen und die Einheitlichkeit des Unionsrechts wahren, ohne auf alle tatsächlichen Umstände eingehen zu müssen. Zu den Kriterien, die zugunsten der Einheitlichkeit zentral durch den EuGH zu entwickeln sind, zählen insbesondere Kernfragen wie die Relevanz privater Macht (dazu oben § 7) sowie Bedeutung und Gewichtung der Vertragsfreiheit (dazu oben § 6). Nationalen Richtern bliebe gleichzeitig ein Spielraum, ihre bessere Kenntnis der konkreten Fallumstände zur Geltung zu bringen. Sie sind näher am sozialen Kontext von Fällen, kennen womöglich eher vergleichbare Vertragspraxen, haben Einblick auch in die umgebende nationale Gesetzeslage.95 All dies sind Daten, welche relevant werden können, um die Angemessenheit des Ausgleichs der Grundrechte zu beurteilen. Da der jeweilige Kontext auch zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten variieren kann, bliebe ein Potenzial, mitgliedstaatliche Eigenarten zu berücksichtigen. 96 Möglich ist auf diese Weise eine Gewährleistung der Einheit des europäisierten Rechts ohne aber Grundrechte zum Vehikel einer übermäßigen Kompetenzausweitung des 94

Dafür auch Tridimas, Constitutional review of member state action: The virtues and vices of an incomplete jurisdiction, 9 International Journal of Constitutional Law (2011), 737, 754 ff. 95 Aus dem Bereich des AGB-Rechts illustrieren die Urteile EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 (Océano Grupo Editorial), Slg. 2000, I-4941 sowie EuGH Rs. C-237/02 (Freiburger Kommunalbauten), Slg. 2004, I-3403 die Bedeutung dieser Kenntnisse. Während der EuGH in ersterem eine Klausel selbst für unzulässig befinden konnte, hatte er die Beurteilung in letzterem dem nationalen Gericht zu überlassen (s. dort Rn. 23); dazu etwa Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009), 220 f. 96 Insofern ist das oben genannten Zitat – „In balancing situations, it is context that varies, and it is the judge’s reading of context [...] that determines outcomes.“ (Fn. 46) – auch so zu lesen, dass die Kontextabhängigkeit die Bedeutung von eigenständigen Bewertungen mitgliedstaatlicher Gerichte mit sich bringt.

IV. Zusammenfassung

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EuGH zu machen. Für die Lösung der Spannung von Einheit und Differenz grundrechtlicher Vorgaben im Vertragsrecht gibt es zwar kein Patentrezept. Eine Aufgabenteilung zwischen nationalen Gerichten und EuGH, welche sich gerade auch an ihren Kenntnisvorsprüngen orientiert, bietet jedoch ein vielversprechendes Werkzeug.

IV. Zusammenfassung IV. Zusammenfassung

Die praktische Verwirklichung der EU-Grundrechte geschieht im Zusammenspiel von EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten. Über das Vorabentscheidungsverfahren sind diese prozedural miteinander verknüpft. Der Gerichtshof entscheidet als oberstes Gericht verbindlich über die Auslegung des Unionsrechts, die nationalen Richter haben es auf konkrete Fälle anzuwenden. Gerade im Fall grundrechtlicher Abwägungen ist die Trennlinie zwischen Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen allerdings schwer zu bestimmen. Gleichzeitig ist hier die Teilung der Aufgaben zwischen den Gerichten besonders wichtig, da diese einen verhältnismäßig weiten Gestaltungsspielraum besitzen und über Fragen grundlegender Bedeutung und weitreichender Auswirkung entscheiden. Immerhin ist klar, dass der EuGH teilweise auch auf konkrete Umstände der vorgelegten Fälle eingehen kann, um das Unionsrecht und insbesondere die EU-Grundrechte auszulegen. In der Praxis des Gerichtshofs gibt es eine bemerkenswerte Varianz: Mal nennt er bloß die Grundrechte, welche die Vorlagegerichte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen haben, mal formuliert er die Abwägung im Detail und mit konkretem Fallbezug aus. Dazwischen liegen Fälle, in denen er Kriterien und Argumente vorgibt, welche das vorlegende Gericht zu beachten hat, aber die Durchführung der Argumentation im Einzelnen diesem überlässt. Teilweise lassen sich diese Unterschiede damit erklären, dass der EuGH zugunsten der Einheit des Unionsrechts auf konkrete Umstände eingeht, ihm teilweise aber die Kenntnis näherer Umstände der Einzelfälle fehlt, um genauere Vorgaben zu machen. Teils scheint er aber auch mehr oder weniger ins Detail zu gehen als die Verfahrenssituation notwendig vorgeben würde. Weitere verallgemeinerungsfähige Gründe sind hier bisher nur bedingt auszumachen. Es ist etwa erkennbar, dass der Gerichtshof zu detaillierteren Vorgaben in jenen Teilgebieten neigt, in denen das Unionsrecht eine Führungsrolle spielt, wie im Antidiskriminierungsrecht. Auch hält er sich mit grundrechtlichen Vorgaben für einzelne Verträge stärker zurück als bei der Beurteilung gesetzlicher Vorschriften. Insgesamt jedenfalls deutet sich an, dass er zunehmend auf die Details der grundrechtlichen Dimension des Vertragsrechts eingeht. Während er damit zum wesentlichen grundrechtlichen Impulsgeber in den Interaktionen mit nationalen Gerichten wird, ist eine allein aus Luxemburg gesteuerte europäische Konstitutionalisierung nicht möglich. Da Grundrechtsabwägun-

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§ 10 Gerichtliche Aufgabenteilung

gen immer vom konkreten Kontext abhängen und der EuGH nur begrenzte Informationen und begrenzte Kapazitäten besitzt, kommt auch mitgliedstaatliche Gerichte eine wichtige Rolle bei der Anwendung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht zu. Als grobe normative Leitlinien für die Aufgabenteilung der Gerichte kann man feststellen: Nennt der EuGH lediglich die Grundrechte, lässt dies die Europarechtslage allzu offen. Eine eindeutige Ergebnisvorgabe schneidet andererseits oftmals spezifische Einsichten der nationalen Richter ab. Ein sinnvoller Mittelweg dürfte vor allem darin liegen, dass der EuGH wesentliche Kriterien und Argumente der Abwägung aufzeigt, die Durchführung der Abwägung jedoch den nationalen Gerichten überlässt. Auch wenn es am Ende selbstverständlich immer auf den Einzelfall ankommt, ist dies ein vielversprechender Weg, die Spannung von Einheit und Differenz zu bewältigen.

Schlüsse Schlüsse

Die Grundrechte der Europäischen Union enthalten eine neue Schicht des Vertragsrechts. Es hat sich gezeigt, dass nicht nur der EuGH ihre Bedeutung forciert, sondern dass sie als unmittelbar geltendes Recht vermehrt auch vor mitgliedstaatlichen Gerichten und im vertraglichen Alltag auftauchen werden (müssen). Ebenso wie bei vorherigen Entwicklungen von Europäisierung und Konstitutionalisierung führt die Berücksichtigung der EU-Grundrechte zu einer Zunahme von Komplexität, die aber dogmatisch zu bewältigen ist. Es ist möglich, die Wirkung der EU-Grundrechte im Vertragsrecht stimmig in die allgemeinen Lehren der Wirkung des Unionsrechts einzufügen und mit Hilfe nationaler Dogmatiken zu konkretisieren. Auch aus inhaltlicher Perspektive bewirkt der Einfluss der EU-Grundrechte keinen Bruch, jedoch durchaus manche Akzentuierung. Wesentliche Ergebnisse dieser Schrift sind bereits zusammenfassend am Ende der jeweiligen Kapitel festgehalten worden. In ihrer Kombination ergeben sich daraus folgende Schlüsse:

1. Grundrechte 1. Grundrechte

Zu den Grundrechten der EU gehören neben der Grundrechtecharta weiterhin die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze. 1 Beide stehen im Rang des Primärrechts. Letztere bildeten einst den historischen Ausgangspunkt des supranationalen Grundrechtsschutzes und wurden durch den EuGH mittels wertender Rechtsvergleichung entwickelt, erstere sind seit dem Lissabonvertrag verbindlich.2 Hinsichtlich der vertragsrechtlichen Wirkungen bestehen zwischen diesen beiden Grundrechtstypen keine grundsätzlichen Unterschiede.3 Die Charta ist jedoch inzwischen für das Vertragsrecht weitaus bedeutender.4 Sie enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog, der über den des Grundgesetzes quantitativ deutlich hinausreicht, und weist gerade auch Vorschriften auf, die spezifisch vertragliche Sachverhalte betreffen, beispielswei-

1

Dazu § 2 III. Dazu § 2 I. 3 Dazu § 3 I. 2.; § 5 I. 2. a) aa), 3. a). 4 Vgl. die Urteile in § 4. 2

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Schlüsse

se ein Urlaubsgrundrecht in Arbeitsverhältnissen.5 Sind die EU-Grundrechte auch umfassend angelegt, so ist ihre Wirkung doch in zweifacher Hinsicht begrenzt – in der Breite wie in der Tiefe.6 Angst vor der totalen europäischen Verfassung, vor der Verfassung, die auf jede Rechtsfrage eine eigene Antwort enthält, muss daher niemand haben.7

2. Breite 2. Breite

EU-Grundrechte sind überhaupt nur dann anwendbar, wenn ein Sachverhalt bereits von Unionsrecht geregelt ist – insofern besteht eine beschränkte Wirkung in der Breite.8 Im Vertragsrecht hängt die Anwendbarkeit vor allem davon ab, ob eine europäische Richtlinie für den konkreten Fall Einschlägiges enthält. 9 Da das europäische Vertragsrecht sich primär aus einzelnen Richtlinien zusammensetzt und damit einen Archipelcharakter besitzt,10 ist die Wirkung der Grundrechte ebenfalls bruchstückhaft. Dies liegt auch daran, dass die EU-Grundrechte nicht schon dann anwendbar sind, wenn ein vertragliches Verhältnis in irgendeiner Facette durch Unionsrecht geregelt wird. Beispielsweise ist ein Arbeitsverhältnis nicht deshalb im Ganzen den EUGrundrechten unterstellt, weil es abstrakt gesehen von den sekundärrechtlichen Vorschriften zur Arbeitszeit betroffen ist. Vielmehr eröffnet die Arbeitszeitrichtlinie die Anwendbarkeit der Grundrechte nur für jene Fallgestaltungen, bei denen die Streitigkeit konkret den thematischen Anwendungsbereich der Richtlinie – beispielsweise den Jahresurlaub – betrifft.11 Aus diesem Grund variiert die Bedeutung der EU-Grundrechte von Teilgebiet zu Teilgebiet des Vertragsrechts mit dem Grad von dessen Europäisierung. Neben dem Arbeitsrecht ist ihre Relevanz daher insbesondere auf dem Gebiet des Verbraucherrechts und Antidiskriminierungsrechts hoch. 12 Beispielsweise sind EU-Grundrechte bei der Kontrolle von gegenüber Verbrauchern gestellten AGB zu beachten. Der EuGH hat etwa entschieden, dass das Wohnungsgrundrecht des Verbrauchers aus Art. 7 GRC hierbei zu berücksichtigen ist.13 In der Klauselkontrolle könnte in Zukunft ein Feld für erheblichen praktischen Einfluss der EU-Grundrechte liegen. Anwendungsbereiche besitzen die 5

Dazu § 2 II. 1. Ein auch hier treffender Satz: „Sie müssen bedenken, es gibt zwei Arten von Wirkung: eine breite und eine tiefe.“ – aus L. Feuchtwanger, Erfolg (2013), 309. 7 vgl. Kumm, Who is Afraid of the Total Constitution?, German Law Journal 2006, 341. 8 Dazu § 3 I. 9 Dazu § 3 I. 3. 10 Dazu § 1 III. 1. 11 Beispiele in § 4 II. 4.-6. 12 Dazu § 1 III. 1.; § 8 I.-III. 13 Dazu § 4 III. 2.; § 8 III. 1. 6

3. Tiefe

399

EU-Grundrechte daneben etwa bei datenschutzrelevanten Vertragsinhalten sowie im Handelsvertreterrecht und Versicherungsvertragsrecht.14 Soweit die EU-Grundrechte anwendbar sind, kommt nationalen Grundrechten im Vertragsrecht lediglich nachrangige Bedeutung zu – sie können höchstens im Rahmen der Vorgaben der EU-Grundrechte Relevanz erlangen, jedoch diesen nicht widersprechen.15 Insbesondere können sie nicht zur Überprüfung von Unionsrecht oder zu dessen Auslegung herangezogen werden. So wie europarechtliche Normen zunehmen, kommt es daher zu einer Rekonstitutionalisierung des Vertragsrechts.16

3. Tiefe 3. Tiefe

Auch in der Tiefe ist die Wirkung der EU-Grundrechte begrenzt, was mit ihrem strukturellen Charakter zusammenhängt. Als Optimierungsgebote im Sinne Robert Alexys geben sie der EU und den Mitgliedstaaten vor, widerstreitende Grundrechte – beispielsweise das Wohnungsgrundrecht einerseits und die Vertrags- beziehungsweise Unternehmerfreiheit andererseits – in einen angemessenen Ausgleich zu bringen, also abzuwägen.17 Auch wenn demnach verschiedene unangemessene Gestaltungen des Vertragsrechts als grundrechtswidrig ausscheiden, können Gesetzgeber und Richter dennoch auf ganz verschiedenen Wegen einen (noch) angemessenen Ausgleich schaffen. Die kollidierenden Optimierungsgebote treffen sich nicht in einem Punkt, sondern belassen einen Korridor. Auch die Grundrechtecharta ist kein juristisches Weltenei. Eine Rechtswelt, die sich allein aus Grundrechten deduzierte, wäre eine glatte, eine konturenarme Welt, mit vielen kahlen, leeren Stellen. Die Vertragsrechtsordnung wird anhand der Grundrechte daher nicht im Detail von Luxemburg aus gestaltet werden können.

4. Ausgangspunkt 4. Ausgangspunkt

Die Betrachtung von Grundrechten als Optimierungsgeboten beziehungsweise Prinzipien ist Teil einer umfassenderen dogmatischen Struktur der EUGrundrechte im Vertragsrecht. 18 Dabei ist es nicht hilfreich, eine solche Struktur anhand der Einteilung von mittelbarer und unmittelbarer Drittwir14

Dazu § 8 IV. Dazu § 3 II. 16 Dazu § 3 II. 2. b). 17 Dazu § 5 IV. Insoweit besteht im Übrigen kein Unterschied zu den Grundrechten des Grundgesetzes – s. § 5 IV. 1. a), 2. 18 Umfassend § 5. Zusammenfassung bei § 5 V. 15

400

Schlüsse

kung aus zu denken. Dies führt ersichtlich zu mehr Missverständnissen als dass es Klarheit schafft und Probleme löst.19 Der Ausgangspunkt für eine strukturelle Ordnung der Grundrechtswirkungen muss die Dogmatik der Wirkungen des Unionsrechts sein – zu dem die EU-Grundrechte gehören – und nicht diejenige nationaler Grundrechte – zu denen sie nicht gehören. Zu unterscheiden hat man demnach die direkte Wirkung beziehungsweise unmittelbare Anwendung und die indirekten Wirkung beziehungsweise den Einfluss auf die Auslegung anderer Vorschriften.20 EU-Grundrechte wirken im Vertragsrecht sowohl direkt als auch indirekt. 21 Insofern stellen sie keinen Sonderfall gegenüber sonstigen Vorschriften des Primärrechts dar. Dass sie auch in privatrechtlichen Beziehungen unmittelbar angewandt werden können, unterscheidet sie jedoch von Richtlinien.22 Der EuGH hat diese Direktwirkung sowohl für die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze als auch für die Grundrechte der Charta im Grundsatz anerkannt.23 Stellt eine Vorschrift des Sekundärrechts oder des nationalen Vertragsrechts keinen angemessenen Ausgleich zwischen dem beschränkten Grundrecht und widerstreitenden Grundrechten oder kollektiven Interessen her, ist sie daher grundsätzlich im Wege des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen.24 Voraussetzung für solche Direktwirkung ist, dass das Grundrecht hinreichend bestimmt und unbedingt ist. Während der EuGH dies etwa für die Diskriminierungsverbote aus Art. 21 GRC anerkannt hat, hat er dies für die Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern nach Art. 27 GRC verneint.25 Möglich und erforderlich bleibt aber auch dann eine Berücksichtigung (Optimierung) grundrechtlicher Interessen bei der Auslegung sowohl von Sekundärrecht wie auch von nationalem Vertragsrecht bis an die Grenzen des methodisch Vertretbaren.26

5. Maßstäbe 5. Maßstäbe

Die direkte Wirkung in Privatrechtsverhältnissen bedeutet nicht das Gleiche wie das, was man üblicherweise unter unmittelbarer Drittwirkung in Deutschland versteht. Sie impliziert nicht, dass Private ebenfalls Adressaten der Grundrechte sind. Auch eine Ungleichbehandlung durch einen Mitgliedstaat, durch Privatrechtsgesetze, wird mittels der direkten Wirkung im Privatrecht 19

Dazu u.a. § 5 I. 3. c). Dazu § 5 I 1. 21 Dazu § 5 I. 2., 3. 22 Dazu § 5 I. 1. a) aa). 23 Dazu § 5 I. 3. a) 24 Dazu § 5 I. 1. a) bb); § 5 I. 3. a). 25 Dazu § 5 I 3. b). 26 Dazu § 5 I. 1. b), 2. 20

6. Vertragstheorie

401

sanktioniert.27 Ob Private durch EU-Grundrechte verpflichtet werden ist eine davon separate Frage.28 In manchen Urteilen scheint der EuGH dazu zu tendieren, sie zu bejahen.29 Ausdrücklich entschieden hat er sie allerdings bisher nicht. Die Auslegung der Charta spricht eher dagegen.30 Jedenfalls ist die Relevanz dieser Frage trotz ihrer prominenten Diskussion im Schrifttum ohnehin gering.31 Dies liegt daran, dass eine rein staatsgerichtete Konstruktion ebenfalls auf eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte und damit auf denselben Maßstab eines angemessenen Ausgleichs hinausläuft.32 Auch aus den Grundrechtsfunktionen von Abwehr und Schutz lässt sich für das Vertragsrecht kein unterschiedlicher Maßstab herleiten.33 Die Unterteilung in Abwehr und Schutz vernachlässigt die Gestaltungsdimension von Verträgen und des Vertragsrechts und setzt sich, soweit man unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe für Verträge aus ihr schließt, einem Ideologieeinwand aus.34 Treffender, um die verschiedenen Wirkrichtungen zugunsten verschiedener grundrechtlicher Interessen zu beschreiben, erscheint es, von Ermöglichungsfunktion und Regulierungsfunktion zu sprechen. Hiermit kann man an die allgemeinen sachnotwendigen Funktionen des Vertragsrechts anknüpfen. Auch lässt sich heuristisch eine Brücke zur Idee des regulatory state schlagen.35 Schließlich legt man sich mit dieser Terminologie nicht von vorneherein auf einen unterschiedlichen Maßstab fest, was die Vorgaben der Charta und der EuGH-Rechtsprechung unverzerrt wiedergibt. Inwiefern sich die Vorgaben von Ermöglichung und Regulierung zueinander verhalten, hängt von den Grundrechten und Umständen des Einzelfalls ab.

6. Vertragstheorie 6. Vertragstheorie

Theoretische Reflexionen sind unumgänglich, um dem sehr grundsätzlichen Thema der Grundrechte im Vertragsrecht gerecht werden zu können. Ein Beitrag hierzu ist der vertragstheoretische Ansatz, auf den diese Arbeit einen Schwerpunkt gelegt hat. Er bietet ein Analyseraster und eine Erkenntnishilfe, um die Wirkung der EU-Grundrechte inhaltlich nachzuvollziehen und gemessen an den Eigenarten des Vertragsrechts zu verstehen.36 Sinnvoll ist es, zwi27

Dazu § 4 I. 1., 2. Dazu § 5 I. 3. c). 29 Dazu § 5 II. 1. 30 Dazu § 5 II. 2., 3. 31 Dazu § 5 II. 3. 32 Dazu § 5 III., IV. 33 Dazu § 5 III. 2. c). 34 Dazu § 5 III. 2. c). 35 Dazu § 5 III. 3. 36 Dazu insbesondere § 1 I. 2.; § 1 II. 2. 28

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Schlüsse

schen Funktionen des Vertrages und Funktionen des Vertragsrechts zu unterscheiden. 37 Verträge dienen der Selbstbestimmung, gerechtem Austausch, Effizienz, einem funktionierenden Markt und Kooperation der Vertragspartner über einen längeren Zeitraum.38 Das Vertragsrecht ermöglicht Verträge um gerade dieser Funktionen willen.39 Es begrenzt beziehungsweise reguliert sie aber daneben auch, und zwar ebenso vor allem zugunsten dieser Vertragsfunktionen.40 Die Wirkungen der EU-Grundrechte spielen sich sachnotwendigerweise innerhalb dieses Spannungsfeldes von Regulierung und Ermöglichung ab und betonen dabei je nach Grundrecht und Fallkonstellation verschiedene Vertragsfunktionen. 41 Die theoretische Reflexion zeigt einerseits, dass die Wirkungen der EU-Grundrechte die Grundprinzipien des Vertragsrechts nicht auf den Kopf stellen. Sie ist andererseits ein Mittel, um die Vorgaben der Grundrechte im vertragsrechtlichen Kontext adäquat zu erschließen und die Optimierungsgebote auch praktisch angemessen auszugleichen.

7. Privatautonomie 7. Privatautonomie

Privatautonomie und private Macht sind zwei Kernthemen im Spannungsfeld zwischen Ermöglichung und Regulierung – im Vertragsrecht im Allgemeinen wie bei der Grundrechtswirkung im Besonderen. Entgegen mancher Befürchtung hat sich gezeigt, dass die Wirkung der EU-Grundrechte nicht das Ende der Privatautonomie beziehungsweise Vertragsfreiheit bedeutet – auch nicht der Privatautonomie im klassischen, formalen Sinne.42 Vielmehr schützt insbesondere die Unternehmerfreiheit nach dem EuGH die formale Vertragsfreiheit und drängt damit funktional gesehen auf eine Ermöglichung von Verträgen und dem EuGH zufolge etwa auf die Begrenzung arbeitnehmerschützender Vorschriften.43 Dies ist gerade deshalb von Bedeutung, da das europäische Vertragsrecht zu einem Großteil regulativer Natur ist. 44 Das Feld, auf welches die EU-Grundrechte wirken, ist entscheidend dafür, wie diese Wirkung ausfällt, und es ist ein ganz anderes als das jener klassisch-liberalen Privatrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts. In umgedrehter Blickrichtung folgt außerdem aus dem regulativen Charakter des europäischen Privatrechts, dass regulative Einflüsse der Grundrechte keinen Bruch mit dem Ver37

Dazu § 1 I., II. Dazu § 1 I. 2. a)-e). 39 Dazu § 1 II. 2. a). 40 Dazu § 1 II. 2. b). 41 Dazu § 6 II.-IV.; § 7 III.-V.; § 8 I. 1., II. 2.; III. 1.; § 9 III. 42 Dazu § 6 I. 1. 43 Dazu § 6 II. 1. 44 Dazu § 1 III. 2.; § 6 IV. 38

8. Private Macht

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tragsrecht im Übrigen darstellen können. Es ist nämlich durchaus festzustellen, dass EU-Grundrechte auch Einschränkungen der formalen Vertragsfreiheit und somit ein grundsätzlich verschiedenen Interessen dienendes, pluralistisches Vertragsrecht erfordern. Dies gilt sowohl im Fall von Freiheitsgrundrechten als auch bei Gleichheitsgrundrechten und sozialen Grundrechten.45 Im Ergebnis beinhaltet diese Wirkung regelmäßig eine Förderung materialer Vertragsfreiheit beziehungsweise Privatautonomie. 46 Auch wenn der EuGH bisher materialer Vertragsfreiheit als solcher keinen grundrechtlichen Schutz zuerkannt hat, 47 ist daher der Zusammenhang von Grundrechten und Privatautonomie vielschichtig. Feststellen lässt sich jedenfalls, dass sowohl ermöglichende als auch regulative Auswirkungen der Grundrechte in vielen Fällen der Vertragsfunktion der Selbstbestimmung dienen.48

8. Private Macht 8. Private Macht

So wie die Grundrechtswirkung bezüglich der Privatautonomie ambivalent ist, so ist auch der Zusammenhang mit privater Macht nicht auf eine simple Formel zu bringen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Macht ein wichtiges Kriterium im Rahmen der Grundrechtsabwägung, jedoch nicht der allein entscheidender Schlüssel ist, um die vertragsrechtlichen Wirkungen zu erklären. Anders als bisweilen vorgebracht, ist Macht insbesondere keine allgemeine Bedingung für die Grundrechtswirkung im Vertragsrecht. 49 In der EuGH-Rechtsprechung ist Macht bisher vereinzelt angesprochen, allerdings nicht tiefer problematisiert worden.50 Hier liegt ein erhebliches dogmatisches Entwicklungspotenzial. Für eine differenziertere Machtanalytik und dadurch verbesserte Grundrechtsabwägung bieten benachbarte Sozialwissenschaften einen reichhaltigen Erkenntnisschatz.51 Insbesondere die Machttheorie Niklas Luhmanns stellt ein für Vertragskonstellationen geeignetes Instrument dar.52 Zu beachten sind demnach unter anderem die Handlungsalternativen der Vertragspartner, sich daraus ergebende Sanktionsmöglichkeiten und die Eigenschaft von Macht als (modalem) Potenzial, nicht als Ursache. Um diesen Ansatz für einen vertragsrechtlichen Kontext nutzbar zu machen, ist es hilfreich, ihn mittels Vertragstheorie weiterzudenken und zu konkretisieren.53 45

Dazu § 6 III. Dazu § 6 III., IV. 47 Dazu § 6 I. 2. 48 Dazu § 6 IV. 49 Dazu 7 IV. 2. a). 50 Dazu § 7 IV. 1. 51 Dazu § 7 I. 52 Dazu § 7 I. 4. 53 Dazu § 7 II. 46

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Schlüsse

Dabei hat man insbesondere über das klassische Vertragsmodell des einfachen Austauschvertrages hinauszugehen. Es reicht nicht aus, Macht theoretisch lediglich bei Vertragsschluss zu reflektieren, sondern es ist essentiell, auch die Hintergründe von Macht bei langfristigen und komplexeren Verträgen zu berücksichtigen.54 Es zeigt sich, dass in unterschiedlichen Vertragstypen auf einem institutionenökonomischen Kontinuum zwischen market und firm verschiedene Machtquellen typischerweise auftauchen.55 Das europäische Vertragsrecht zielt nicht darauf ab, Macht zu minimieren. Schließlich sind auch Vertragspflichten Machtquellen und insbesondere Anpassungs- und Weisungsrechte wesentliche Grundlagen von Macht, die grundsätzlich zulässig sind. 56 Vertragsfunktional gesehen ist Macht insofern ein notwendiger Bestandteil der europäischen Wirtschaftsordnung. 57 Andererseits ist Macht auch wesentlich für die Regulierungsfunktion des Vertragsrechts. Insbesondere dann, wenn Macht den Vertragsfunktionen zuwiderläuft, sind regulative Eingriffe notwendig. So lassen sich etwa Vorschriften des AGB-Rechts, des Handelsvertreterrechts und des Arbeitsrechts erklären. 58 Die Wirkung der EU-Grundrechte stellt im Vergleich hierzu keinen Bruch dar. Indem sie auf die Ermöglichung von Verträgen zielt, stützt sie einerseits private Machtpotenziale. 59 Grundrechte enthalten also nicht etwa ein Minimierungsgebot privater Macht. Andererseits wird der Auftrag eines angemessenen Ausgleichs zwischen widerstreitenden grundrechtlichen Interessen gerade in Machtverhältnissen relevant – beispielsweise bei AGB oder Arbeitsverhältnissen. Insofern kann die Argumentation mit Macht unter Bezug auf die genannten sozialtheoretischen Erkenntnisse in der Abwägung entscheidend für regulative Notwendigkeiten sprechen.60 Die Berücksichtigung des vertragsfunktionalen Kontextes ist dabei nicht nur möglich, sondern notwendig – eine jede Abwägung hat auf den konkreten Kontext einzugehen. Insofern kann man sowohl den grundrechtlichen Schutzanforderungen als auch den Eigenarten des Vertragsrechts in Bezug auf private Macht Rechnung tragen.

9. Unterschiede 9. Unterschiede

Bezogen auf verschiedene Teilgebiete des Vertragsrechts fallen die Impulse der EU-Grundrechte in der EuGH-Rechtsprechung bisher recht unterschied54

Dazu § 7 II. Dazu § 7 II. 2. 56 Dazu § 7 II. 2. a) cc), § 7 II. 2. b). 57 Dazu § 7 III. 1. 58 Dazu § 7 III. 2. 59 Dazu § 7 IV. 2. a); § 7 IV. 1. 60 Dazu § 7 IV. 2. b). 55

10. Paradigma

405

lich aus. Am prominentesten sind die Einflüsse im Antidiskriminierungsrecht, wo die EU-Grundrechte die Gleichbehandlungsgebote des Sekundärrechts entscheidend zulasten widerstreitender Interessen verstärkt haben.61 Auf dem Gebiet des (sonstigen) Arbeitsrechts sind die Grundrechtswirkungen dagegen bisher weniger prononciert. Überraschenderweise haben die zahlreichen arbeitnehmerschützenden Grundrechte der Charta in mehreren Fällen bisher ausdrücklich keine signifikante regulative Wirkung gezeigt, sondern es ist eher die Betonung der Unternehmerfreiheit der Arbeitgeber auffällig geworden.62 Umgekehrt bewirken die EU-Grundrechte im Verbraucherrecht bisher eine Betonung einzelner Interessen der Verbraucher, während sie verbraucherschützende Vorschriften nicht begrenzen.63 In mehreren anderen Teilgebieten des Vertragsrechts bestehen erhebliche Potenzialen, auch wenn praktische Grundrechtswirkungen bisher ausgeblieben sind.64 Es fällt im Übrigen auf, dass Grundrechte mitunter dazu dienen, neue Wertungsgesichtspunkte in verschiedene Teilgebiete einzubringen, die sich aus dem einfachen Recht nicht ohne Weiteres erschließen lassen. Beispiel dafür sind etwa das bereits genannte Wohnungsgrundrecht, das der Klauselkontrolle eine zusätzliche Dimension verleiht,65 oder auch das Prinzip der Nichtdiskriminierung, das dem Urheberrecht einen weitergehenden Aspekt hinzufügt.66

10. Paradigma 10. Paradigma

Trotz oder gerade wegen der genannten Unterschiede ist es möglich, eine allgemeine Tendenz der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zu Grundrechten im Vertragsrecht zu erkennen. Wesentliche Entscheidungen lassen sich als Ausdruck eines Marktparadigmas erklären. Das implicit image of society des EuGH scheint vor allem zu einem marktfunktionalen Vertragsrechts zu führen.67 Damit ist ein Vertragsrecht gemeint, für das formale Vertragsfreiheit als Kernbestandteil eines freien Marktes zentral ist, 68 das aber bei Marktstörungen durchaus Regulierung beinhaltet.69 Soziale Grundrechte des Solidaritäts-Titels der Charta prägen dieses Vertragsrecht dagegen bisher nicht entscheidend70 und die Grundfreiheiten des Binnenmarktes enthalten ein sich 61

Dazu § 8 I. Dazu § 8 II. 63 Dazu § 8 III. 64 Dazu § 8 IV. 65 Dazu § 4 III. 2. 66 Dazu § 4 IV. 8. 67 Zur Bedeutung des „implicit image“ § 9 am Anfang. 68 Dazu § 9 III. 2. a). 69 Dazu § 9 III. 2. c). 70 Dazu § 9 III. 2. b). 62

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Schlüsse

von nationalen Rechtsordnungen abhebendes Optimierungsgebot, das widerstreitende Grundrechte zusätzlich einschränkt. 71 Die Feststellung der Dominanz einer Marktlogik heißt nicht, dass die EU-Grundrechte nicht auch gleichzeitig anderen Vertragsfunktionen dienten. Sie wirft aber die Frage auf, inwieweit sich der pluralistische Auftrag der Grundrechte tatsächlich verwirklicht. Erklären kann man sie teils durch die Zusammenhänge zwischen EU-Grundrechten und Sekundärrecht, doch ist sie auch Ergebnis kontingenter Entscheidungen des EuGH.72 Ursachen hierfür mögen insbesondere ein Fortwirken der marktlogischen Fokussierung der europäischen Integration und der entsprechenden Ausrichtung der europäischen Institutionen sein. 73 Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der Einfluss der EU-Grundrechte nicht wie in Deutschland im Schwerpunkt zu einer sozialen Materialisierung des Vertragsrechts führt, sondern eine europaeigene Richtung annimmt. In historischer Hinsicht scheint es allerdings keine Anomalie zu sein, dass ein ohnehin bestehendes Paradigma sich in der Grundrechtspraxis niederschlägt. 74 Es drängen sich Prallelen auf: Schließlich wurden die Grundrechte im idealtypischen liberalen Staat des 19. Jahrhunderts lediglich als Abwehrrechte gegen den Staat gesehen – einem Staat, der die Möglichkeiten autonomer Vertragsschlüsse zu gewährleisten hatte und sich ansonsten nicht in das freie Spiel der Kräfte einmischen sollte. Auch im deutschen Sozialstaat des 20. Jahrhunderts fügte sich die Grundrechtswirkung in größere Strömungen ein, entnahm man den Grundrechten doch vor allem das Erfordernis der regulierenden Ausgestaltung wirtschaftlicher Beziehungen, des Schutzes von Schwächeren und der Limitierung privater Macht. Die jeweiligen Grundrechte stellten und stellen in diesem Sinne kein Bollwerk gegen vorherrschende Paradigmen dar, sondern verstärken diese eher.

11. Gerichte 11. Gerichte

Die Gestaltung der praktischen Zukunft der EU-Grundrechte obliegt sowohl dem EuGH als auch den nationalen Gerichte.75 Der Gerichtshof positioniert sich zunehmend als Hüter der Grundrechte und geht vermehrt im Detail auf sie ein.76 Es ist im Vorabentscheidungsverfahren bei der Auslegung des Unionsrechts auch durchaus seine Aufgabe, konkrete Umstände bei der Abwä-

71

Dazu § 9 III. 2. d). Dazu § 9 III. 3. 73 Dazu § 9 III. 3. 74 Dazu § 9 IV. 75 Zur grundsätzlichen Aufgabenteilung § 10 I. 76 Dazu § 10 III. 2.; § 5 am Anfang. 72

12. Pluralistisches Vertragsrecht

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gung der Grundrechte zu berücksichtigen.77 Den mitgliedstaatlichen Gerichten kommt daneben jedoch eine essentielle Rolle zu.78 Zum einen sind sie es, die im Alltag die EU-Grundrechte zu verwirklichen haben. Zum anderen besitzen sie häufig bessere Kenntnis des konkreten Sachverhalts und seiner konkreten sozialen und ökonomischen Umstände. Dies kann für die Grundrechtsabwägung bedeutend sein und sollte auch bei der praktischen Aufgabenteilung im Rahmen des Vorabverfahrens berücksichtigt werden. Es ist kein Zufall, dass die Vorgaben des EuGH zur Abwägung von EUGrundrechte mal mehr und mal weniger detailliert ausfallen und den nationalen Gerichten damit verschieden große Spielräume lassen.79 Ein solchermaßen fallbezogen unterschiedliches Vorgehen ist ein adäquates Mittel, um einerseits die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts zu wahren und andererseits auf mitgliedstaatliche Kompetenzen zurückzugreifen und konkrete Kontexte berücksichtigen zu können. Die vollständige Grundrechtsabwägung durch den EuGH sollte nicht zum Regelfall werden. Die Spannung zwischen nationalen und supranationalen Kompetenzinteressen kann über solche an Praktikabilität und an Kenntnisvorsprüngen orientierte Sichtweise jedenfalls zu einem Teil gelöst werden.80

12. Pluralistisches Vertragsrecht 12. Pluralistisches Vertragsrecht

Dass die Einflüsse der EU-Grundrechte im Vertragsrecht ambivalent sind und vor allem darauf hinauslaufen, einen angemessenen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen zu schaffen, ist keine radikale Schlussfolgerung, aber auch keineswegs trivial. Es zeigt, dass auch das Vertragsrecht diversen Interessen verpflichtet ist und der Grundrechte wegen nicht länger allein von einer Idee formaler Privatautonomie aus gedacht werden kann. Das geltende sekundärrechtliche Vertragsrecht trägt dem ohnehin bereits Rechnung. Die Einbettung in eine vertragstheoretische Betrachtung verdeutlicht, dass die Grundrechtswirkung den grundlegenden Funktionen von Vertrag und Vertragsrecht nicht widerspricht, sondern vielmehr in deren Logik zu erklären ist und sie fortführt. Es ist am EuGH wie auch an den mitgliedstaatlichen Gerichten, die pluralistischen grundrechtlichen Grundlagen des europäischen Vertragsrechts in Zukunft auch jenseits des Marktparadigmas Rechtswirklichkeit werden zu lassen.

77

Dazu § 10 I. 2. Dazu § 10 I. 1., III. 2. 79 Dazu § 10 II. 80 Weitere Ausführungen zu solcher Spannung § 3 I., II. 78

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Sach- und Personenregister Abwägung, 219, 230, 231, 236, 324, 365, 381, 393, 401 Abwehrfunktion, 209 Adressaten der Grundrechte, 172, 201, 202, 400 AGB, 147, 270, 301, 314, 319, 341, 364 Alexy, Robert, 227, 243 allgemeine Grundsätze des Zivilrechts, 46, 252 allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, 251 allgemeines Freiheitsrecht, 261 Alternativitätsthese, 103 Altersdiskriminierung, 121, 124, 127, 128, 197 angemessenes Gleichgewicht, 219, 232, 273 Anpassungsrechte, 304 Antidiskriminierungsrecht, 47, 121, 330, 363, 391 Anwendungsbereich, 78, 90, 398 – im Vertragsrecht, 99 Arbeitnehmervertretung, 141, 198 Arbeitsbedingungen, 272 Arbeitskampf, 132, 134 Arbeitsrecht, 100 Arbeitsvertragsrecht, 49, 335 – Altersvorsorge, 128, 320 – Arbeitszeit, 321 – Befristung, 121 – Bezugnahmeklauseln, 130, 140 – Kündigungsfristen, 123 – Macht, 316 – Urlaub, 136, 143 Auslegung des Unionsrechts, 378 Austauschverträge, 29, 291, 293, 312 Bachrach, Peter, 282, 302 Baratz, Morton, 282, 302

bargaining power, 298 Berufsfreiheit, 261 bilaterales Monopol, 294 Binnenmarkt, 53 Binnenmarktkompetenz, 366 Böhm, Franz, 25, 276, 281, 310 bürgerliche Gesellschaft, 352 Canaris, Claus-Wilhelm, 200, 217 Coase, Ronald, 28, 292, 308 coroporate social responsibility, 191 Datenschutz, 346 Datenschutzgrundrecht, 150, 154, 155, 161, 271 default rules, 37, 39 Deregulierung, 339, 345 direct horizontal effect, 200 direkte Wirkung, 174, 195, 236, 331, 336 discretionary power, 304, 311, 314, 344 Diskriminierungsverbot, 163 Dogmatik, 4, 171, 333 Drittwirkung, 172, 234, 400 Durchführungskonstellation, 82 Effizienz, 23, 37, 42, 294, 312, 315, 333 Einheitlichkeit des Unionsrechts, 388 Einschränkungskonstellation, 83 EMRK, 57, 60, 71, 111 Ermöglichung, 36, 52, 224, 235, 249, 323, 353, 358 Europäisierung, 1, 101 europarechtskonforme Auslegung, 179, 189 Finanzdienstleistungen, 343 firm. s. Unternehmen Fluggastrechte, 344

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Sach- und Personenregister

Foucault, Michel, 283 Fragmentierung, 349, 404 Franchise-Systemen, 304 Freiheitsgrundrechte, 63, 270, 324 geistiges Eigentum, 151, 153, 155, 159 gerechter Austausch, 20, 37, 41, 312, 313, 316, 344 Geschlechtergleichbehandlung, 125 Gleichbehandlungsgebote, 267 Gleichbehandlungsrechte, 332 Gleichheitsgrundrechte, 63 Gleichheitsrechte, 327 Gordley, James, 19 Governance, 28, 291 Grundfreiheiten, 75, 101, 206, 264, 274, 339, 340, 365 Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, 67, 397 Grundrechte und Grundsätze, 65 Grundrechtsfortbildung, 72 Grundrechtsfunktionen, 209, 213 Grundrechtsverzicht, 325 Habermas, Jürgen, 311, 351 Handelsvertreter, 315, 347 Handlungsalternativen, 287, 297, 322 Harsayni, John, 288 Hermeneutik, 379 Herrschaft, 280 Hierarchien, 29, 291, 306, 316, 317, 325 Hobbes, Thomas, 288 horizontal effect, 195 Hybride, 29 indirekte Wirkung, 179, 236 – auf nationales Privatrecht, 187 – auf Primärrecht, 186 – auf Sekundärrecht, 183 – auf Verträge, 189 indirekten Wirkung, 335 Informationsdefizit, 300, 313 Informationsfreiheit, 321 Informationsgrundrecht, 158, 159, 258 Integrationsfunktion, 55 judicial restraint, 390 juristisches Weltenei, 238

Kapitalismus, 27, 292 Klauselrichtlinie, 314, 319, 342 Kommunikationsmedien, 286 Konstitutionalisierung, 1, 101, 392 Kooperation, 28, 37, 43, 312, 315, 326, 344 laissez faire, 3, 41, 43, 352 Langzeitverträge, 291, 295, 303, 315, 325 Luhmann, Niklas, 278, 285, 299, 301, 303 Lukes, Steven, 282 Macauly, Stewart, 30 Macht, 158, 259, 277 Machttheorie, 279 Macneil, Ian, 30 Markt, 25, 29, 37, 43, 292, 312, 360 Marktgericht, 369 Marktlogik, 358 Marktparadigma, 350, 358, 405 Marktversagen, 43, 299, 362 Materialisierung, 2, 354 Mehrebenensystem, 78 mehrpolige Rechtsverhältnisse, 109 Meinungsfreiheit, 163, 271 Menschenwürde, 62 Mietrecht, 342 mittelbare Drittwirkung, 172 Monopol, 299 Narrative, 350, 355, 369 nationale Gerichte, 373 nationale Grundrechte, 102 Neue Institutionenökonomik, 28, 291 Optimierungsgebote, 231, 247, 399 Ordoliberalismus, 27 Paradigma, 351 praktischen Konkordanz, 230 primärrechtskonforme Auslegung – des Sekundärrechts, 181 – nationalen Rechts, 179 Prinzipien, 228, 399 Prinzipientheorie, 227 Privatautonomie, 18, 243, 252, 402 – formale, 18, 244, 246, 256

Sach- und Personenregister – materiale, 18, 23, 245, 246 private Macht, 276, 318, 353, 403 Privatrechtsgesellschaft, 25 Privatsphäre, 161 Raiser, Ludwig, 28 regulated autonomy, 253 regulatory state, 225 Regulierung, 38, 52, 224, 235, 249, 273, 323, 354, 358 Rekonstitutionalisierung, 109 relational contract, 30, 291 Richtigkeitsgewähr, 22 Sanktion, 287, 297, 308, 322 Schmidt-Rimpler, Walter, 21 Schutzfunktion, 209, 214, 219 Selbstbestimmung, 18, 37, 41, 247, 312, 315, 316, 325, 333 Selektion, 286 Smith, Adam, 288, 307, 317 Solidarität, 64, 272, 326, 335 soziale Grundrechte, 338, 361 soziale Netzwerke, 343 soziale Rechte, 272 soziales Defizit, 355 Sozialpolitik, 135 spezifische Investitionen, 293, 294, 305, 308, 316, 326 spot contracts. s. Austauschverträge Streikrecht, 133 subjektives Recht, 200 Suchmaschine, 162 Supreme Court, 377 Systemtheorie, 286 Tarifvertrag, 127 Tendenzen, 350 Tiefenstufen, 192 Transaktionskosten, 29, 37, 292, 301, 312 Übermaßverbot, 219, 220 Unionsrichter, 375 unmittelbare Anwendbarkeit, 174, 195, 272 unmittelbare Drittwirkung, 172 unmittelbare Geltung, 173 Untermaßverbot, 219, 220

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Unternehmen, 29, 295 Unternehmerfreiheit, 140, 146, 153, 155, 157, 159, 165, 201, 249, 257, 323, 337 Urhebervertragsrecht, 348 Urlaubsgrundrecht, 138, 139, 143, 336, 338 Verbraucherrecht, 48, 341 – Fluggastrechte, 145 – Informationspflichten, 313 – Widerrufsrecht, 313 – Wohnimmobilien, 147, 149 Vereinigungsfreiheit, 131 Verfassungspatriotismus, 102 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 230, 232, 263 Versicherungsvertragsrecht, 126, 348 Vertrag, 14, 32 Vertragsfreiheit, 140, 157, 244, 249, 266, 323, 360 Vertragsfunktionen, 17 Vertragsnetzwerke, 304 Vertragspflichten, 302, 325 Vertragsrecht, 32 – europäisches, 44, 310 – pluralistisches, 275, 407 – zwingendes, 39 Vertragsrechtsfunktionen, 35 Vertragstheorie, 290, 401 Vertrauen, 306 Verwandtenbürgschaften, 297 Vorabentscheidungsverfahren, 376, 378 Vorrang des Primärrechts, 177 Vorverständnis, 351 vorvertragliche Phase, 296, 312, 320 Weber, Max, 280, 299 Weisungsrecht, 308 Weisungsrechte, 304, 311, 315, 326 wertende Rechtsvergleichung, 60, 251 Wesensgehalt, 259 Wettbewerb, 27, 30, 298 Wettbewerbsverbot, 271, 316 Williamson, Oliver, 29, 292 Wirtschaftsordnung, 351, 355 Wirtschaftsverfassung, 5, 52, 103, 368 Wohnungsgrundrecht, 148, 270, 320, 342