Erwin Wexberg: Ein Leben zwischen Individualpsychologie, Psychoanalyse und Neurologie 9783666401367, 9783525401361, 9783647401362

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Erwin Wexberg: Ein Leben zwischen Individualpsychologie, Psychoanalyse und Neurologie
 9783666401367, 9783525401361, 9783647401362

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Ulrich Kümmel

Erwin Wexberg Ein Leben zwischen Individualpsychologie, Psychoanalyse und Neurologie

Mit 14 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität-Klagenfurt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-40136-1 eISBN 978-3-647-40136-2

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht, LLC, Oakville, CT, U.S.A. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany Umschlagabbildung: Erwin Wexberg, um 1930 Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kindheit und Jugend in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Medizinstudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Erster Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

...............

29

.........

31

............

35

Die familiäre Entwicklung (1917–1927)

Die Individualpsychologie in den 1920er Jahren Individualpsychologische Grundlagenwerke

Heilen und Bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Handbuch der Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung . . . .

40

Individualpsychologische Schriften zur Erziehung . . . . . . . .

46

Sorgenkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Schriften zur Sexualerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Lehrtätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

.......................

54

Zusammenarbeit mit Viktor Frankl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Wexberg als Psychiater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Schriften zur Leib-Seele-Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

Ein Fall von Dementia paranoides . . . . . . . . . . . . . . . .

64

Wexberg und der Sozialismus

Zur Psychogenese des Asthma nervosum . . . . . . . . . . .

65

Die Angst als Kernproblem der Neurose . . . . . . . . . . . .

66

Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Die Grundstörung der Zwangsneurose . . . . . . . . . . . . .

69

Neurosenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Die Beziehung zu Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Die Montagsitzung vom 9. Mai 1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

5

Internationale Kongresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

Die Beziehung zu Adler in Briefen (1927–1933) . . . . . . . . .

94

Auseinandersetzung mit der Wertfrage in der Psychologie . .

105

Familie und persönliche Entwicklung in den Jahren 1927 bis 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

Emigration in die USA (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Professor an der Louisiana State University . . . . . . . . . . . . .

123

Vorlesungsskripte: Introduction to Medical Psychology . . .

124

Wichtige Schriften aus den Jahren 1934 bis 1942 . . . . . . . .

126

........

127

Familiäre Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Freiwilliger Dienst in der Armee (1942–1945) . . . . . . . . . . .

135

Die Rolle der Individualpsychologie in den USA

Arbeitssituation in der Neuropsychiatrischen Militärklinik im Panamagebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

Zwischen Neurologie und Psychotherapie . . . . . . . . . . .

137

Der Brief vom 3. Juni 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138

Kritische Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

Politische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

Bericht von Prof. Harrison Gough über seinen Dienst unter Wexberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Direktor im Health Department, Washington . . . . . . . . . . . .

145

Die letzten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Moralität und psychische Gesundheit, Wexbergs Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170

Anhang: Korrespondenz Wexberg – Adler . . . . . . . . . . . . . .

177

6

Vorbemerkung Dieses Buch stellt eine Überarbeitung meiner Dissertation mit dem Titel »Erwin Wexberg. Biographie und Werkanalyse« dar (Klagenfurt, 2008). Die Anregung zu dieser Dissertation verdanke ich Prof. Dr. Josef Rattner, der mir empfahl, diesen frühen wichtigen Mitarbeiter im Kreis um Alfred Adler in einer eigenen Dissertation zu würdigen. Dank der umfangreichen Arbeiten Prof. Dr. Gerd Lehmkuhls ist das Werk Wexbergs in individualpsychologischen Kreisen anerkannt, das Lebensschicksal Wexbergs in seiner Beziehung zu diesem Werk blieb aber bisher weitgehend im Dunkeln. Die wichtigste persönliche Motivation, mich diesem Werk ganz zu widmen, entwickelte sich Ende 2003 anlässlich der Durchsicht der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie«, als ich feststellte, dass Wexberg in nahezu allen Ausgaben wichtige Beiträge geschrieben hatte, dass aber mit dem Jahr 1934 kein Artikel mehr von ihm erschien und er auch nicht mehr erwähnt oder zitiert wurde, sein Name schien wie ausgelöscht. In dieser Zeit las ich gerade den Bestseller »Im Schatten des Windes« des spanischen Autors Carlos Ruiz Zafón, in dem von einem »Friedhof der vergessenen Bücher« die Rede ist und von einem Jungen erzählt wird, der sich auf die Suche nach einem in Vergessenheit geratenen Autor begibt. Meine spontane Hypothese, der aufkeimende Nationalsozialismus könnte die Ursache für dieses Phänomen sein, ließ sich im Laufe meiner Recherchen in dieser Eingrenzung nicht aufrechterhalten. Auch private und berufliche Gründe boten sich nun für die Emigration Wexbergs als Erklärungsmuster an. Wichtige Daten über die Ursprünge der Familie übermittelte mir ein entfernt Verwandter der Wexberg-Familie, Herr Dr. Paul Wexberg, Wien, der sich seit Jahren bemüht, die gemeinsamen Wurzeln zu erkunden. Angeregt durch das Buch von Beatrice Uehli Stauffer »Mein Leben leben. Else Freistadt Herzka 1899–1953. Zwischen Leidenschaft, Psychologie und Exil« (1995) stieß ich auf die Korrespondenz Wexbergs mit Else Freistadt aus den Jahren 1927/28 im Else-Freistadt-HerzkaArchiv Zürich mit vielen Aussagen Wexbergs über seine Eltern, die Kindheit, Gedanken zu aktuellen Ereignissen innerhalb der Individualpsychologie und seine Beziehung zu Alfred Adler. Wichtig war auch die Dissertation »Der Wiener Verein für Individualpsychologie. 7

Emigration und Exil seiner Mitglieder« von Dr. Clara Kenner (2000 u. 2007), in der erstmals eine Kurzbiographie Wexbergs erstellt wurde. Neben bisher von der Wissenschaft unbeachteten Materialien in verschiedenen Archiven wie z. B. die Inskriptionsunterlagen Wexbergs im Archiv der Universität Wien, Unterlagen zu Wexbergs Militärzeit im Österreichischen Staatsarchiv/Kriegsarchiv, seine Korrespondenz mit dem Verleger Bergmann im Archiv des Wissenschaftlichen Springer Verlags erwies sich der persönliche Kontakt zu den drei in den USA lebenden Töchtern Wexbergs – Frau Alba Lorman, Frau Runa Schlaffer und Frau Dr. Ruth Wexberg-Poh – als wahrer Glücksfall. In zahlreichen Gesprächen und anschließenden E-Mail-Kontakten erfuhr ich ganz persönliche Einzelheiten aus der Familiengeschichte, von besonderer Bedeutung aber war die großzügige Art und Weise, in der mir die Töchter Fotos, Dokumente und Briefe Wexbergs in Kopien zur Verfügung stellten. Alle diese Unterlagen sind bisher unveröffentlicht. Aus der Zeit 1935 bis 1940 liegen acht Briefe an Wexbergs kleine Tochter Runa vor. Während seines Militärdienstes im Zweiten Weltkrieg schrieb Wexberg 1942/43 ca. 400 Briefe an seine zweite Frau Friedl Wexberg geb. Hoffmann, von denen mir 13 ausgewählte Briefe in Kopien überlassen wurden. Für die Forschung interessant ist die Korrespondenz zwischen Alfred Adler und Erwin Wexberg aus den Jahren 1926 bis 1932 (siehe acht Adler-Briefe und zwei Briefe von Wexberg im Anhang), die mir die jüngste Tochter, Ruth Wexberg-Poh, in Kopien übereignete. Zusätzlich fanden Gespräche mit Spezialisten der wissenschaftlichen Erforschung des Zeitgeschehens im Wien der 1920er Jahre statt, so mit Assistenzprofessor Dr. Johannes Gstach, Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien, mit Prof. Dr. Michael Hubenstorf, Institut für Geschichte der Medizin an der Wiener Universität, und mit dem Bad Gasteiner Historiker Dr. Laurenz Krisch. Diese Kontakte waren hilfreich für die zeitgeschichtliche Einordnung der Einflüsse in den 1920er Jahren, die den Werdegang Wexbergs prägten.

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Kindheit und Jugend in Wien Leopold Erwin Wexberg wurde am 12. 2. 1889 in Wien als Sohn des Handelsvertreters Leopold Wechsberg, geb. 3. 7. 1856, in der Geologengasse 9 geboren. »Wechsberg« ist die ältere Schreibweise des Namens. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tauchen privat oder offiziell beide Schreibweisen auf. Bereits bei der Eheschließung mit Anna Wexberg geb. Heilberg, geb. am 3. 6. 1855 in Brieg/Schlesien, benutzte der Vater die neue Schreibform, die von den Kindern übernommen wurde. Leopold Erwin war das jüngste Kind. Er hatte zwei ältere Schwestern: Elsa, geb. 23. 6. 1884 in Wien I, Theresiengasse 30, und Frieda, geb. 26. 8. 1886 in der Geologengasse 9. Der Vater stammte aus dem kleinen schlesischen Walddorf Oberkurzwald bei Bielitz, dem heutigen Bielsko-Biała, nahe der tschechisch-polnischen Grenze. In der Geburtsurkunde Leopold Erwins bezeichnete er sich als Fabrikleiter aus Bielitz. Seine Eltern waren der Kaufmann Leopold Wexberg und Jetty Wexberg geb. Salz, beide ebenfalls in Bielitz wohnhaft. Dieser Ort im südlichen Polen liegt an dem Fluss Biała, gegenüber dem einstmals galizischen Biała. Galizien war Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die ersten Juden siedelten sich in diesem Raum bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an. Schon im Mittelalter lag hier ein Textilzentrum. Viele

Abbildung 1: Familienfoto, um 1923, von l. n. r.: Alfred (Sohn Friedas), Frieda, Brauner, Mutter, Wexberg, Vater, Lili mit Alba, William (zweiter Sohn Friedas, nach dem Zweiten Weltkrieg als Testpilot in den USA verunglückt)

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Juden waren als kleine Händler tätig, als Schneider, Gastwirte oder als Textilarbeiter in der sich rasch entwickelnden Textilindustrie. Am 17. 12. 1781 erließ Kaiser Joseph II. das zweite Ansiedlungspatent, das den Juden eine größere Freizügigkeit versprach. Eine weitere Phase der Toleranz brachte der Liberalismus mit sich. Nach 1867 konnten Juden im österreichisch-ungarischen Raum in freien Berufen als Ärzte, im Handel, im Bankwesen oder in der Industrie und in den Universitäten mitwirken. Für viele jüdische Familien waren im beginnenden Industriezeitalter wirtschaftliche Hoffnungen Anlass für die Übersiedlung in die Haupt- und Residenzstadt Wien. Leopold Wexberg heiratete seine Frau Anna Heilberg am 18. 4. 1882 vor dem königlich-preußischen Standesamt in Hirschberg. Annas Mutter besaß in Hirschberg, Markt 44, ein Hotel. Da Erwin Wexbergs älteste Schwester Else bereits 1884 in Wien geboren und in der Israelischen Kultusgemeinde eingetragen wurde, muss die Familie zwischen 1882 und 1884 nach Wien gezogen sein. Zum Zeitpunkt

Abbildung 2: Der Vater Wexbergs, um 1926

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von Erwins Geburt wohnte die Familie in der Geologengasse 9 im III. Wiener Gemeindebezirk (Landstraße), nahe am Donaukanal und damit an der Grenze zum II. Bezirk (Leopoldstadt), in dem sehr viele Juden wohnten. Hier waren die Wohnungen wegen der Nähe zum Ostbahnhof und zum Prater billig. Bereits im Mittelalter gab es hier ein jüdisches Getto. Der Umzug in die Parkgasse, zwei Straßenzüge weiter, der wenig später erfolgte, bedeutete sicher einen sozialen Aufstieg. Am 23. 6. 1915 erwarb der Vater ein noch heute stattliches Wohnhaus in der St. Veithgasse 65 im XIII. Bezirk für 30.000 ÖS, von denen er 20.000 besaß und für 10.000 eine Hypothek abschloss. Dieses einstöckige Haus besaß ein Geschäftslokal und drei Wohnungen. Von nun an bezeichnete er sich als Hausbesitzer. Die Ehe der Eltern scheint sehr schwierig gewesen zu sein. In einem Brief an seine Kollegin und Freundin Else Freistadt schreibt Wexberg: Sonntag hab ich Geburtstag. Meine Eltern kommen zur Jause. Für Mama ist das ein großes Unternehmen, sie kommt nur alle paar Monate aus dem Haus. Sie ist 72 Jahre (Papa 71), verbringt ihr Leben mit Papa im eigenen Haus in der St. Veithgasse in sehr bescheidenen Verhältnissen. Papa verdient schon lange nichts mehr, hat etwas erspartes Geld, das er gegen Zinsen verleiht, an Private, die froh sind, hier nur 10 % zahlen zu müssen, während die Banken 13 % verlangen. Bei sehr bescheidenen Einkünften und sehr reduzierten Ansprüchen ans Leben ist mein Vater stolz darauf, sich noch immer selbst erhalten zu können, will aber das Haus, für das er leicht 100 000 S. bekäme, nicht verkaufen. Aber Mama, die ihr ganzes Leben unter dem Terror ihres Mannes gestanden ist, hat sich lange Zeit nicht satt gegessen und war im vergangenen Sommer durch eine Bronchitis dem Tode nahe, weil sie unterernährt war. – Was sind doch alte Leute unvernünftig (EFHAZ, 7. 2. 1927).1

Im selben Brief gibt Wexberg eine Charakterschilderung seiner Mutter und äußert die Vermutung, dass jene Charakterzüge an ihm, die anderen merkwürdig und fremd erscheinen, von seiner Mutter stammen: Sie ist die Norddeutsche geblieben, die sie war, als sie vor bald 50 Jahren nach Wien kam. Viel mehr Norddeutsche als Jüdin. Schweigsam. Reserviert. 1 Alle hier zitierten Briefe wurden in Orthographie und Interpunktion berichtigt und in neue Rechtschreibung angepasst.

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Verschlossen. Vielleicht sogar etwas »affektlahm«. Sie ist auch durch Unglücksfälle nicht aus der Ruhe zu bringen. Grämt sich höchstens im Stillen. Dabei empfindlich, leicht gekränkt, ohne dass man es merkt. Im Ganzen ein Mensch, bei dem einem nicht leicht warm wird. Von einer herben strengen Stilreinheit.Von allen Kindern bin ich der Einzige, der ihr in manchem gleicht. Aber doch ist es bei mir gemildert. Was davon ererbtes Temperament, was Nachahmung ist, kann ich schwer beurteilen. Sicher ist, dass ich mich ihr viel verwandter fühle als meinem Vater, der mir zuweilen stark auf die Nerven geht (EFHAZ, 7. 2. 1927).

Wexberg verspricht, in Kürze auch den Charakter seines Vaters zu schildern, er hat dies aber wohl doch nicht getan. Im Alter von 38 Jahren schreibt Wexberg, es sei sehr selten, dass jemand eine gute Beziehung zu seinen Eltern habe. Er ist der Auffassung, dass seine Eltern wenig mit ihm zu tun haben, er selbst aber gar nichts mit ihnen. Dies sei so seit

Abbildung 3: Die Mutter Wexbergs mit dem ersten Radio

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etwa seinem 15. Lebensjahr. Er sei ohne seine Eltern das geworden, was er jetzt darstelle. In einem Brief erwähnt die Tochter Runa Schlaffer, dass ihr Vater im Alter von 15 oder 16 Jahren aus der Donau gefischt werden musste. Es handelte sich um einen glücklicherweise missglückten Selbstmordversuch, nachdem die Eltern ihm den Umgang mit seiner Freundin Lili, seiner späteren Frau, verboten hatten. Über die Atmosphäre, die im Hause Wexberg herrschte, und über die widersprüchlichen Eindrücke, die auf den jungen Wexberg einwirkten, gibt am besten der folgende Brief vom 3. 6. 1943 Auskunft, den Wexberg an seine zweite Frau, Friedl Wexberg geb. Hoffmann schrieb: Liebling: Heute ist der Geburtstag meiner Mutter – sie würde heute 88 sein, wenn sie noch leben würde, und aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, habe ich dieses Datum nicht vergessen. Ich könnte jeden anderen Geburtstag vergessen einschließlich Deinen oder Ruth’s. Aber nicht den 3. Juni (Brief von Wexberg an Friedl, 3. 6. 1943).

Er schildert ausführlich die Geburtstagsvorbereitungen, die Kuchen, die nach uralten Rezepten der Urgroßmutter aus »Silesia« zubereitet wurden, vor allem aber die Überraschungen, die die drei Kinder vorbereiteten. Schon Wochen vorher übten sie heimlich Musikstücke ein. Die Schwester Else trug ein Klavierstück vor und begleitete ihn bei seinem Violinsolo. Am Nachmittag kamen Gäste, und auch ihnen wurden die Stücke vorgetragen zur Genugtuung der Eltern über ihre wohlerzogenen Kinder. Die stimmungsvolle Schilderung endet mit einem Stimmungsbruch: Am nächsten Tag mag ich wohl wieder ausgepeitscht worden sein, verdientermaßen. Selbst der Vater war an diesem Tag nett zu Mutter, am 3. Juni (Brief von Wexberg an Friedl, 3. 6. 1943).

Wexbergs älteste Tochter, Alba Lorman, schilderte die Kindheit ihres Vaters als schwierig. Er sei oft geschlagen worden. Der Großvater war hart und habe die Familie schlecht behandelt. Nachdenklich stimmt es schon, wenn ein Mann, der sich ganz im Sinne der Lehre Alfred Adlers zeitlebens für eine gewaltfreie, antiautoritäre Erziehung eingesetzt hat und von dem es später in einem Nachruf heißen wird: »Besonders glücklich war er in seiner therapeutischen Arbeit mit Kindern«, wenn 13

dieser Mann von sich selbst erzählend die oben erwähnte Formulierung benutzt: »Next day I might be whipped again, deservedly.« Beim Besuch am 8. 7. 2006 in Cherry Hill erzählte Wexbergs jüngste Tochter von ihrem Vater, dass er im Alter von sieben Jahren den Entschluss gefasst habe, nicht mehr als Leopold oder Poldi wie sein Vater angesprochen zu werden, sondern nur noch auf seinen zweiten Namen Erwin zu hören. Als alle Familienmitglieder im Wohnzimmer versammelt waren, eröffnete er ihnen seine Entscheidung, stellte sich demonstrativ ans Fenster mit dem Rücken zur Familie und reagierte nur noch auf den Zuruf »Erwin«. Ein erstaunlicher Schritt der Abgrenzung und Eigenständigkeit für einen Siebenjährigen, wenn man bedenkt, dass sein Vater durchaus gewalttätig werden konnte. Dieses Bedürfnis, die eigene Identität gegenüber den Ansprüchen von außen zu bewahren, durchzieht Wexbergs Leben wie ein roter Faden. Über Wexbergs Schulzeit liegen einige Briefausschnitte als Quellen vor, denen man entnehmen kann, dass auch die Zeit des Schulbeginns für Wexberg nicht einfach war. Am 4. 8. 1943 versucht Wexberg in einem Brief an seine zweite Frau, ihre Besorgnisse anlässlich der bevorstehenden Einschulung der Tochter Ruth zu zerstreuen: Wenn Du nicht weißt, von wem sie ihre Neigung zu sportlichen Aktivitäten hat, so weiß ich umso sicherer, woher sie ihr quecksilbriges Temperament hat. Ich war genauso, als ich so alt war wie sie. Ich hatte in der Schule einigen Ärger, das ist wahr, aber nur aus zwei Gründen: 1) weil ich dem Rest der Klasse weit voraus war, da ich bereits wie ein Erwachsener las, als die anderen Kinder sich noch mühten, Silben zu bilden. Ich war in allem ziemlich gut außer im Schreiben und Zeichnen; so langweilte ich mich zu Tode, wenn andere aufgerufen wurden vorzulesen, und lief ins Unglück, 2) weil es eine altmodische Schule von der Art war, die es heute nicht mehr gibt; man erwartete von uns, die ganze Zeit still zu sitzen mit den Händen flach auf dem Tisch. Ich kann noch heute meine kleinen Hände visualisieren, der Lehrer hatte mir einen Bleistift auf die Finger gelegt, sodass der Stift herunterfallen musste, wenn ich nur einen Finger bewegte. Wenn das geschah, war das Nächste, was ich kennenlernte, der Rohrstock des Lehrers, der auf meine Finger schlug – und wie das schmerzte! (Brief von Wexberg an Friedl, 4. 8. 1943).

Wir haben das Bild eines hochbegabten Jungen vor uns, der durch sein Bedürfnis nach geistigen Herausforderungen und durch seine körperliche Unruhe zu Hause und in der Schule in Schwierigkeiten geriet. 14

Er lernte aber schnell und stellte sich auf die gegebenen Bedingungen ein. Von der zweiten Klasse an verlief die schulische Entwicklung von Wexberg hervorragend. Er war bis zum Abitur im Jahr 1908 immer »Vorzugsschüler«, wie es damals in Österreich hieß. Nach der Emigration nach Amerika im Jahre 1934 hat Wexberg eine Reihe von liebevollen Briefen an die kleine Tochter Runa (die zweite Tochter, Runa Schlaffer geb. Wexberg) geschrieben, zum großen Teil aus New Orleans. Teilweise hat er zur Erläuterung kleine Zeichnungen eingefügt. Runa hatte ihm im Juli 1937 mitgeteilt, dass sie die Grundschulzeit beendet und die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bestanden habe. Wexberg antwortet: An meine Aufnahmeprüfung in die Mittelschule kann ich mich noch gut erinnern. Ich hatte 5 Klassen Volksschule hinter mir, weil ich in der Vierten noch zu jung fürs Gymnasium war. Schwer war es auch damals nicht. Aber das Gymnasium selbst ist mir in den ersten zwei Jahren gar nicht ganz leicht gefallen. Ich war zwar Vorzugsschüler, aber knapp (Brief von Wexberg an Runa, 18. 7. 1937).

Im Gymnasial-Zeugnis des k. k. Gymnasiums im III. Wiener Bezirk erhielt er am 1. Juli 1905 für das zweite Semester des Schuljahres 1904/05 die Belobigung mit »Vorzug«. Außer einem »befriedigend« in Turnen wurden alle Fächer mit »lobenswert« oder »vorzüglich« bewertet. In seinem Werk »Ausdrucksformen des Seelenlebens« beschreibt Wexberg (1925a) in dem Unterkapitel »Der Zufall des Versprechens« ausführlich ein persönliches Erlebnis als 17-jähriger Gymnasiast, in dem zum Ausdruck kommt, dass er zu dieser Zeit an chronischem Geldmangel litt: Als junger Mensch von 17 Jahren nahm ich bei einem Musiker der Hofoper Unterricht im Geigenspiel. Mein Lehrer nahm mich gelegentlich in das Haus eines Bankiers mit, wo er allwöchentlich mit zwei anderen Musikern der Hofoper zum Kammermusikspiel gegen Honorar geladen war. Wenn man einen zweiten Geiger oder Violaspieler brauchte, kam ich mit (Wexberg, 1925a, S. 26).

Diese Schrift ist eine in lockerem Stil geschriebene Einführung in die moderne Seelenkunde. Dabei bezieht sich Wexberg in drei Kapiteln 15

auf Freud und im 4. Kapitel auf Adlers Schriften, insbesondere auf dessen Werk »Über den nervösen Charakter«. Die harte Kindheit hat ihre Spuren hinterlassen. In seinen privaten Briefen, die er 1927 an Freistadt schrieb oder wesentlich später, 1942/43, an seine zweite Frau Friedl, fällt ein Hang zu einer scharfen Selbstkritik auf: Beim gestrigen Vortrag war ich gut in Form, die Leute, es war ganz voll, hatten viel Vertrauen zu mir. Eine liebe alte Dame, Leiterin des »Settlement«, die wir schon lange kennen, äußerte zu Lilly [Lili], mein Vortrag wirke so stark, weil aus jedem Wort hervorgehe, was für ein warmer Mensch das sei. Das kam mir recht sonderbar vor. Machte mir klar, dass ich alles, was ich an Wärme habe, im Unpersönlichen, im Beruf investiere, bei Vorträgen und in der Psychotherapie. Und im Privatleben bleiben nur schäbige Reste übrig (EFHAZ, 17. 2. 1927).

Später, im Brief vom 18. 5. 1927, führt Wexberg selbstkritisch aus: Man glaubt sich zu helfen, wenn man die Dinge sachlich psychophysiologisch durchdenkt und »erledigt«. Aber so geht’s mir ja im Ganzen, mein ganzes Wissenschaftlertum ist »Rahmen«, Damm gegen ein Überströmen, vor dem ich seit meiner Kindheit Angst habe (EFHAZ).

Es mag sein, dass seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Angst«, die sich durch sein ganzes Lebenswerk hindurch zieht, hier ihren Ursprung hat. Weiter schreibt er: Ich kann mich, wenn ich will, jetzt hinsetzen und die Gedanken laufen lassen und ein Gedicht machen. Ob es objektiv gut oder schlecht ist, ist an sich gleichgültig, kann ich auch nicht beurteilen. Aber das Abenteuer der Sprachschöpfung ist für mich musikalisches Erlebnis, ich gerate in Trance, in eine Art hypnotischen Zustand, der mich erregt und etwa wenn es Abend ist, stundenlang nicht einschlafen lässt. Mit 16 Jahren war das mein ganzes Leben. Aber dann kam der »Damm« und ich setzte mich hin und war fleißig und schrieb wertvolle klinisch-kasuistische Arbeiten über Verletzungen und Erkrankungen der peripheren Nerven, über Hirntumoren, über multiple Sklerose und was dergleichen Belanglosigkeiten mehr sind und bekam einen geachteten Namen als fleißiger »Forscher« in der neurologischen Welt Deutschlands. Für Phantasieexzesse blieb nur die Individualpsychologie,

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aber auch die musste Wissenschaft werden und nun helfe ich seit Jahren die Ips. [Individualpsychologie] wissenschaftlich ehrlich machen, weil: »wenn einer, der etwas von Hirnstämmen versteht, ein Handbuch der Ips. herausgibt, so muss vielleicht doch etwas an der Adlerei dran sein.« Aber, wer weiß, wie lange das noch geht. Eines Tages bin ich, kann sein, des trockenen Tones satt und fange zu musizieren an (EFHAZ, 31. 5. 1927).

Im gleichen Brief stellt er fest, er ringe bei wissenschaftlichen Arbeiten und sei es über die trockenste Neurologie, nach Gestalt. Gestaltung sei ihm fast wichtiger als das wissenschaftliche Ergebnis, seine Arbeiten seien stilistisch besser als inhaltlich. Kurz darauf heißt es: Ja, »die kleine Stadt von Heinrich Mann«. Wenn Du’s nur durchblätterst, sagt es gar nichts. […] Ein Fresko-Gemälde mit hunderten Gesichtern – wirklichen lebendigen Gesichtern –, deren jedes einzeln ins Auge gefasst werden muss. Und vor allem: durch Technik und Formwillen unerhört gebändigte Leidenschaft, so dass das Ganze kalt und gekünstelt erscheint, wenn man nicht bis ins Innere dringt. […] Ich glaube, heute würde ich, wenn ich Dichter wäre, ebenso und nicht anders schreiben (natürlich doch anders, weil ich ich bin und nicht Heinrich Mann. Aber doch auf dieser Stufe der Stilisierung). So wie ich, wenn ich Gedichte mache, die strengste Form, die des Sonetts, am meisten liebe. […] Was in der Kunst die Stilisierung erzwingt, ist etwas der Scham Analoges. »Aussprechen, was ist« kann ich und meinesgleichen nur in der Hülle des Stils (EFHAZ, 31. 5. 1927).

In einem dieser Briefe (12. 5. 1927) erwähnt Wexberg, er fühle sich wissenschaftlich verhältnismäßig steril, und er äußert die Vermutung, dass er freiströmend produktiv nur als Musiker hätte sein können: »Nur wäre es ein wüstes Leben geworden und vermutlich jetzt schon zu Ende.« Bei der Lektüre und Interpretation dieser Zeilen sollte man nicht außer Acht lassen, dass es sich um ausgesprochen private Briefe handelt, um Momentaufnahmen einer aktuellen psychischen Situation, und dass diese Briefe jeweils in Zeiten geschrieben wurden, die man als Wexbergs Krisenzeiten bezeichnen könnte: 1927, das Jahr, in dem sich eine Ehekrise andeutete und in dem Wexbergs Verhältnis zu seinem Mentor Alfred Adler nachhaltig gestört wurde, und die Briefe aus den Jahren 1942/43, in denen Wexberg sich als Militärarzt in großer Offenheit nahezu täglich an seine zweite Frau Friedl wandte und detailliert über seinen Alltag berichtete. Die Relativität einiger dieser 17

spontanen, affektgeladenen Aussagen in seinen Briefen lässt sich an Wexbergs obiger Stellungnahme über sein Verhältnis zur Musik verdeutlichen. Das Musizieren gehörte parallel zu seiner Berufsausübung immer zu seiner Lebenswirklichkeit. Die jüngste Tochter schreibt in einem Brief an Dr. Paul Wexberg (Wien) 1998 über ihren Vater: Vater war ein geistreicher Mann, umfassend und vielseitig gebildet. Er war nebenberuflich Musiker – Pianist. In seinen frühen Jahren (bevor ich geboren wurde) hat er in Wien auch dirigiert und Violine gespielt. Ich erinnere ihn als einen Pianisten. Die Kammermusikgruppen, die er leitete, waren ein wichtiger Teil seines Lebens (E-Mail Paul Wexberg an U. Kümmel).

Im Musizieren suchte und fand Wexberg von Kindheit an Ausgleich und innere Ruhe, einen Raum innerer Freiheit, frei von den Verstrickungen und Verwirrungen des Alltags. In einem unveröffentlichten Text »Die Grenzen der Individualpsychologie« schreibt er: Man könnte sagen, im musikalischen Erlebnis kehren wir in eine Welt jenseits des »Sündenfalls« zurück, in ein Paradies der Zweckfreiheit: Leben, absolute Wahrheit, Gemeinschaft, Bereich der Sachlichkeit – all diese technischen Ausdrücke aus der individualpsychologischen Terminologie sind Umschreibungen für eben dieses Reich der höchsten inneren Freiheit, in das wir nur auf vereinzelten Wegen unmittelbaren Zutritt finden. Außer der Musik und der Kunst im Allgemeinen ist es wohl nur das Naturgefühl, das uns den Zugang in diesen Bereich der seelischen Freiheit offenhält. […] Gleichwertig mit der Gemeinschaft und letzten Endes mit ihr identisch ist das überindividuelle Leben, das Paradies der Zweckfreiheit. So bin ich nur scheinbar allein, wenn ich, fern vom Alltag, Wälder, Berge, den gestirnten Himmel erlebe, oder wenn ich auf dem Klavier die Schönheit einer Fuge von Bach nachschaffe. In Kunst und Natur bietet sich mir das unerhörte Erlebnis einer zweckfreien Welt des Gefühls, ein Überindividuelles, das letzten Endes mit der biologischen Sinnhaftigkeit des Daseins zusammenfällt. Der kunstund naturerlebende Mensch ist ipso facto in dem Maße, als er sich selbst im Schauen und Hören vergisst, frei von Geltungsstreben und Minderwertigkeitsgefühl, er hat das Principium individuationis überwunden (Wexberg, 1927d, S. 9).

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Abbildung 4: Wexberg, etwa 1913 (Passfoto)

Folgen wir Wexbergs Eigenbeurteilung mit der Aussage, dass er seit seiner Kindheit Angst vor einem Überströmen durch Emotionen habe, und der weiteren Feststellung, dass der Damm etwa im Alter von sechzehn Jahren einsetzte (in dieser Zeit löste er sich von den Eltern), so gibt das Raum für vorsichtige Interpretationen: Dieser hochbegabte, mutige und willensstarke Junge fasste etwa im Alter des Schulbeginns als Reaktion auf die schonungslosen Einschränkungen seiner vitalen Bedürfnisse nach Bewegungsfreiheit, sowohl körperlich wie geistig, den Entschluss, sich diesen Eingriffen im Sinne von Sicherungstendenzen und Selbstschutz nicht mehr auszusetzen. Nachdem er sich bereits im Alter von sieben Jahren ganz offen von seinem Vater distanziert hatte, indem er dessen Vornamen ablehnte, trennte er sich im Alter von 15 oder 16 Jahren innerlich ganz bewusst von seinen Eltern. Wenn er in einem dieser Briefe auch seine Mutter mit der Formulierung »Ich habe seit meinem 16. Lebensjahr nichts mehr mit meinen Eltern zu schaffen« in diese Ablehnung einbezog, so könnte dies auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass sie ihn als Kind vor den Übergriffen des Vaters nicht schützen konnte. Aus anderen Briefen geht hervor, dass er sich seiner Mutter im Gegensatz zu seinem Vater doch sehr verbunden fühlte. Wexberg wählte den Weg der Wissenschaft, des wissenschaftlichen Tätigseins, der wissenschaftlichen Strenge, des Formwillens, der Stilisierung, der »durch Technik und Formwillen unerhört gebändigten Leidenschaft«. Was »wissenschaftliches Arbeiten« anbetraf, stellte er an sich und andere die höchsten Ansprüche. So wurde er zum »Theoretiker und Systematiker«, dabei blieben aber, wie er selbst bedauernd feststellte, Spontaneität und Vitalität im direkten menschlichen Umgang außerhalb des Berufs oft auf der Strecke. Als Beispiel hierfür sei ein Ausschnitt aus einem Brief Runa Schlaffers angeführt: 19

Ist es wahr, dass Deutsche sehr viel Wert auf Formalitäten legen? Ich selber bin außer jener Zugreise im November 1938 nie in Deutschland gewesen, aber als ich einmal meinen Vater in Washington besuchte (ich war inzwischen erwachsen), begrüßte er mich, indem er mir sehr formell die Hand ausstreckte. Meine Stiefmutter sah das, fand es ausgesprochen komisch und konnte sich vor Lachen kaum halten. Ich dachte immer, dass er wegen seiner deutschen Mutter so war (Brief Runa Schlaffer an U. Kümmel, 9. 6. 2004).

Gerade wegen dieser Einschätzung darf nicht vergessen werden, dass Wexberg nicht den Weg des wissenschaftlichen Einzelgängers, des Rückzugs wählte, im Gegenteil, mit sicherem Gespür erwählte er sich Adler als geistigen Mentor, den Mann, von dem Phillis Bottome schrieb: Adler hatte eine machtvolle Begabung, Kontakt herzustellen, sei es mit einem Auditorium, einem neurotischen Kind oder mit jedem anderen Menschen. Das Verbundenheitsgefühl sprang von seinem Herzen in die Zuhörerschaft (Bottome, 1957, S. 61).

Der junge Wissenschaftler Wexberg folgte diesem Vorbild in allen Bereichen, er hielt volkstümliche Vorträge an der Volkshochschule, arbeitete in den Erziehungsberatungsstellen, leitete Arbeitsgruppen von Eltern, Erziehern und Lehrern, engagierte sich in der Fortbildung von Ärzten und war als Einzel- und Lehrtherapeut tätig, um nur einige Aspekte seines vielseitigen Engagements zu nennen. Sein gesamtes Berufsleben war der therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen und Kindern gewidmet. Spätere Kollegen schildern Wexberg als einen bescheidenen, feinsinnigen, hilfsbereiten, adlerianischen Therapeuten. Er selbst wird später in den USA humorvoll von sich sagen, seine Mängel seien die gleichen wie bisher: ein schlechtes Gedächtnis für Leute und eine geringe Fähigkeit, Freunde zu gewinnen. Aber er sei sanfter und diplomatischer geworden, etwa in der Art des Keepsmiling. Aber das sei wohl eine sehr vordergründige Veränderung (Brief an Friedl, 2. 10. 1943).

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Medizinstudium Das Abitur am Staatsgymnasium legte Wexberg im Alter von 18 Jahren am 8. 7. 1907 ab. Danach stand die Ableistung des dreijährigen Militärdienstes an. Jugendliche mit höherer Bildung konnten als »EinjährigFreiwillige« ein Jahr aktiv dienen, verbunden mit der Aussicht auf eine zehnjährige Reserveoffizierslaufbahn. Wexberg trat seinen Dienst am 2. 9. 1907 an. Nach Ableistung der aktiven Dienstpflicht nahm er regelmäßig an Wehrübungen teil. 1913 stand er im Rang eines Korporals. Die Berufswahl fiel ihm nicht leicht. Seine Interessen waren breit gefächert, er schwankte zwischen seiner Neigung zum Künstlerischen, zur Musik und Literatur und seiner naturwissenschaftlichen Begabung. Wexberg stand vor der Wahl, Dirigent oder Mediziner zu werden. Er entschied sich für die Naturwissenschaft. Wie er später sagte, wollte er die Musik nicht zu seinem Brotberuf machen.

Abbildung 5: Wexberg als Soldat im Ersten Weltkrieg (Assistenzarzt), etwa 1917

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Im Wintersemester 1908/09 inskribierte Wexberg an der medizinischen Fakultät der Universität Wien. Bereits in diesem ersten Semester besuchte er neben seinen Pflichtvorlesungen an den Samstagen in der Zeit von 7 bis 9 Uhr die zweistündige Vorlesung Sigmund Freuds »Vorträge über Neurosenlehre und Psychotherapie« – für einen Studienanfänger sicher eine ungewöhnliche Wahl. Michael Hubenstorf glaubt nicht, dass es damals unter Medizinstudenten »Mode« war, Freud zu hören. Auch in den Wintersemestern der beiden folgenden Jahre nahm Wexberg an den zweistündigen wöchentlichen Vorlesungen Freuds teil. 1909/10 lauteten die Themen »Vorträge über Neurosenlehre« und »Elementare Einführung in die Psychoanalyse«. Zu diesen Vorlesungen erhielten die Studenten nur nach persönlicher Anmeldung bei Freud Zugang: Der Vorgang war so, daß in der Quästur oder durch Studienkollegen darauf aufmerksam gemacht wurde, daß er sich persönlich im Arbeitszimmer in der Berggasse vorzustellen und um schriftliche Erlaubnis zu bitten hatte. Freud hat jeden Petenten kritisch gemustert, richtete eine Frage an ihn und überreichte ihm, falls Sympathie bestand, eine Visitenkarte, auf deren Rückseite der Name des Petenten und das Semesterkolleg und die eigenhändige Unterschrift Freuds vermerkt waren. Die Kontrolle dieser Ausweise im Hörsaal besorgte ein Institutsangestellter, worauf Zeugen ausdrücklich hinweisen (Gicklhorn, 1960, S. 166).

Die einzigen Kollegunterlagen, die von Freuds Universitätstätigkeit überliefert sind, sind die »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, die Freud während des Ersten Weltkriegs in den zwei Wintersemestern 1915/16 und 1916/17 vor Hörern verschiedener Fakultäten an der Universität Wien gehalten hat. Die Texte schrieb Freud meist unmittelbar nach den jeweiligen Vorlesungsveranstaltungen nieder, den dritten Teil verfasste er im Voraus. 1916 veröffentlichte er die ganze Sammlung in drei Lieferungen. Es ist davon auszugehen, dass Freuds Vorlesungen in den Jahren 1908 bis 1911 in vielen Teilen ähnlich abgelaufen sind, sicher in seiner unvergleichlichen und beeindruckenden Art des Vortrags. Man darf vermuten, dass er sich darin inhaltlich auf seine damals bereits vorliegenden Hauptwerke bezogen hat: »Die Traumdeutung« (1900), »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« (1904) und »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905). 22

Mit diesen Werken hat sich Wexberg später in einer Reihe von Arbeiten auseinandergesetzt. Im Herbst 1910 begann das neunte Arbeitsjahr der MittwochsGesellschaft, die sich am 12. 10. 1910 offiziell als Wiener Psychoanalytische Vereinigung konstituierte. Drei neue Mitglieder wurden aufgenommen: Paul Klemperer und die Brüder Franz und Gustav Grüner. Paul Klemperer war zu dieser Zeit noch Medizinstudent. Als Cousin und enger Freund Paul Federns wurde er ohne Vorbehalte aufgenommen (Handlbauer, 1990/2002). Welch großes Interesse auch der junge Medizinstudent Wexberg an den neuen Entwicklungen in Psychotherapie und Psychiatrie an den Tag legte, kann man der Tatsache entnehmen, dass er als Medizinstudent im fünften Semester im Dezember 1910 ein Aufnahmegesuch an die Psychoanalytische Vereinigung stellte. Er wurde allerdings abgelehnt: Die Abstimmung über die Aufnahme des Herrn stud. med. Erwin Wexberg wird auf Antrag des Obmannes vorläufig von der Tagesordnung abgesetzt, da sich Stimmen gegen die Aufnahme jüngerer Leute erhoben haben, von denen weder eine positive Leistung vorliegt noch genügend Gewähr, daß sie in der Psychoanalyse schon sicher sind (Nunberg u. Federn, 1979, S. 95).

Man kann davon ausgehen, dass Wexberg diese Ablehnung gekränkt hat, da ihm nicht entgangen sein dürfte, dass Klemperer bei gleichen Voraussetzungen aufgenommen wurde. Zu Beginn des neunten Vereinsjahres (1910/11) der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung taucht der Name Wexberg auf einer Mitgliederliste auf; sein Name ist allerdings durchgestrichen. Wexberg nahm an keiner Sitzung der Psychoanalytischen Gesellschaft teil (Handlbauer, 1990/2002). Wann und in welcher Form Wexberg den Kreis um Adler kennengelernt hat, ist bisher nicht bekannt. Am 4. 8. 1911 hatte Adler den Verein für freie psychoanalytische Forschung gegründet. Am 11. 10. 1911 legte Freud »jenen Herren, die dem Kreis Dr. Adlers, dessen Unternehmungen den Charakter der feindseligen Konkurrenz zeigen, angehören, im Namen des Ausschusses die Entscheidung vor, zwischen ihrer Zugehörigkeit hier und dort zu wählen, da der Vorstand den jetzigen Zustand für inkompatibel halte« (Nunberg, zit. nach Bruder-Bezzel, 1991, S. 22).

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Nachdem mehrheitlich die Inkompatibilität festgestellt wurde, erklärte Furtmüller für sich und im Namen von fünf weiteren Mitgliedern seinen Austritt. Es handelte sich dabei um Carl Furtmüller, Margarete Hilferding, Franz und Gustav Grüner, Paul Klemperer und D. E. Oppenheim. Bald kamen einige neue Mitglieder hinzu, und zwar Alexander Neuer, Stefan Maday, Leonhard Deutsch (Leonhard Deutsch war der Bruder der späteren Frau Wexbergs, Lili Deutsch), Paul Schrecker, Erwin Wexberg und Robert Freschl. Diese zusammen gelten als die Mitglieder der ersten Stunde des Kreises um Alfred Adler. Interessant ist, dass selbst Manès Sperber, der etwas später zu dem Kreis um Alfred Adler stieß, Wexberg zu den Gründungsmitgliedern zählte: Gemeinsam mit Alfred Adler, der darauf alle seine Ämter in diesem von ihm präsidierten Verein niederlegte, verließen mehrere andere Heterodoxe den Kreis der Orthodoxen. Zu ihnen zählten Carl Furtmüller, Alexander Neuer, Erwin Wexberg, dessen »Individualpsychologie, eine systematische Darstellung« während langer Jahre die beste Einführung in die Individualpsychologie gewesen und vielleicht bis heute geblieben ist (Sperber, 1971/1983, S. 275).

Wie lässt sich die Tatsache erklären, dass alle drei Neumitglieder, Paul Klemperer sowie Franz und Gustav Grüner, die 1910 in Freuds Mittwochs-Gesellschaft aufgenommen worden waren, nach einem Jahr Zugehörigkeit bereits wieder austraten, um sich Adler anzuschließen? Handlbauer schreibt, sie hätten sich dazu entschlossen, weil sie die Art, wie Freud mit Adler umging, empörte: Über seine persönlichen Gründe für die Loyalität zu Adler befragt, meinte Klemperer: Ich war wütend über die Haltung Freuds, die tyrannische Art Freuds. Ich denke, er hatte hundertprozentig recht, aber damals war ich wütend darüber (Handlbauer, 1990/2002, S. 159).

Man kann aber auch davon ausgehen, dass die jungen Leute größere Möglichkeiten für ihre eigene Profilierung in dem neu gegründeten Verein für freie psychoanalytische Forschung sahen als in dem etablierten Kreis um Freud mit einer fixierten Rangordnung, deren Mitglieder zu diesem Zeitpunkt besonders darauf bedacht waren, sich gegen abweichende Gedanken und Ideen abzugrenzen. Der Name des neuen Vereins kann als Programm, Abgrenzung und Aufbruch 24

gedeutet werden. Wexberg war zu diesem Zeitpunkt noch Student der Medizin. In einem Nachruf zum Tode Alexander Neuers, den Wexberg schon aus seinem Medizinstudium kannte, schreibt er: Etwa ein Jahr, nachdem sich Alfred Adler von den Freudianern getrennt hatte, stieß Neuer zu unserem Gesprächskreis in einem dieser Wiener Kaffeehäuser (Wexberg, 1941, S. 9).

Es handelte sich hier wahrscheinlich um das Café Central, in dem sich damals die Wiener Boheme traf. Es spricht für ein uneingeschränktes Selbstvertrauen und großen wissenschaftlichen Ehrgeiz, dass der 23-jährige Medizinstudent Wexberg (1912) im siebten Semester in der »Zeitschrift für Psychotherapie und Medizinische Psychologie« seinen ersten wissenschaftlichen Beitrag mit dem anspruchsvollen Thema »Zwei psychoanalytische Theorien« publizierte. In dieser Schrift vergleicht er die Theorie des Schöpfers der Psychoanalyse mit der Theorie des Begründers der Individualpsychologie. Hier zeigt sich bereits der Anspruch auf ein eigenes wissenschaftliches Urteil, eine Tendenz, sich nicht auf eine Theorie festzulegen, sondern Abstand zu halten, zu vergleichen, zu beurteilen, um schließlich zu einem eigenen Konzept zu finden. Dem Text Kretschmers (1982) »Über die Anfänge der Individualpsychologie als freie Psychoanalyse« ist zu entnehmen, dass Wexberg sich im Verein rege an den Diskussionen beteiligte. In der Sitzung vom 10. 10. 1912 hielt er erstmals einen Vortrag zur Psychologie der Angst, einem Thema, mit dem er sich zeit seines Lebens auseinandersetzen wird. Interessant ist, dass Wexberg im Wintersemester 1911/12 auch die Vorlesungen des Psychiaters und Neurologen Prof. Dr. Emil Redlich über Nervenkrankheiten gehört hat. Redlich beteiligte sich zu dieser Zeit an den Planungen für die jüdische Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel, basierend auf einer Stiftung des Barons Nathaniel Rothschild. Am 11. 3. 1914 wurde die Klinik unter der Leitung Redlichs eröffnet. Wexberg hat hier von diesem Zeitpunkt an zunächst als Assistenzarzt und später als Oberarzt gearbeitet. Am 6. 12. 1913 promovierte Wexberg an der Universität Wien zum Doktor der gesamten Heilkunde. Im Jahr 1913, das der Vorbereitung für das Staatsexamen diente, liegen keine Veröffentlichungen Wexbergs vor. Dagegen publizierte er im folgenden Jahr den Text »Kritische 25

Bemerkungen zu Freud: Über neurotische Krankheitstypen« (1914a). In dem gemeinsam von Furtmüller und Adler herausgegebenen Sammelband »Heilen und Bilden« verfasste er zwei Beiträge: »Ängstliche Kinder« (1914d) und »Rousseau und die Ethik« (1914e). Wieder klingen zwei Themenkreise an, die sein späteres Denken bestimmen: die Auseinandersetzung mit dem Thema »Angst« und in späterer Zeit mit Psychotherapie und Ethik. In der ersten Ausgabe der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« folgten zwei weitere Artikel: »Die Arbeitsunfähigkeit des Nervösen« (1914f) und »Zur Verwertung der Traumdeutung in der Psychotherapie« (1914b). Wexberg stellt in diesem Artikel in Abgrenzung von der Methode Freuds fest: So gehört wohl zu der Traumdeutung eine kleine psychologische Biographie. Die Möglichkeiten der Deutung sind meist unbegrenzt, wenn man nicht weiß, aus welcher psychischen Konstellation der Traum erwuchs (Wexberg, 1914b, S. 20).

Als Student war Wexberg noch in der Lainzer Str. 15 im XIII. Bezirk gemeldet. Seit dem 14. 7. 1914 wohnte er in der Hofzeile 20, die Adresse der Nathaniel-Freiherr-von-Rothschild-Stiftung, Nervenklinik MariaTheresien-Schlössel. Leiter der Nervenklinik war Prof. Dr. Redlich, bei dem Wexberg im Wintersemester 1911/12 »Nervenheilkunde« hörte. Das berufliche Ziel stand fest: Wexberg wollte Psychiater werden.

Erster Weltkrieg Anfang August 1914 beendete der Erste Weltkrieg alle persönlichen Planungen. Am 28. 7. 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, am 31. 7. 1914 begann die Generalmobilmachung, am 6. 8. 1914 folgte die Kriegserklärung an Russland. Wexberg war als Assistenzarzt in der Reserve dem 6. k.u.k. Feldkanonenregiment zugeteilt, das bereits in den ersten Kriegstagen nach Alt-Serbien verlegt wurde. Über Wexbergs Verhalten als Arzt in diesen Kampfhandlungen gibt der schriftliche Antrag seines Vorgesetzten, der ihn am 23. 12. 1914 für eine Tapferkeitsmedaille vorschlug, Auskunft: 26

Die Batterie Nr. 5 des Regts. stand am 11. September beim M. H. Bulowa zur Feuerstellung und wurde durch 12 Stunden ununterbrochen von russischer Artillerie beschossen, wobei durch Volltreffer 2 Mann getötet, 2 Mann schwer verletzt und mehrere leicht verwundet wurden. Assistenzarzt Stellvertreter Dr. Wexberg verband, selbst im feindlichen Feuer stehend, sämtliche Verletzte mit größter Ruhe und Kaltblütigkeit und hielt sich, damit er bei weiteren Verletzungen zur Hand sei, den ganzen Tag über in der Feuerstellung auf. Als er erfuhr, dass zwei Feldkanoniere, welche auf dem Wege zur Batterie Material zuzutragen versuchten, verwundet wurden, eilte er im heftigsten feindlichen Feuer zu ihnen, verband dieselben und kehrte sodann abermals im feindlichen Feuer wieder in die Feuerstellung der Batterie zurück. Assistenzarzt Wexberg beweist jedes Mal große Kaltblütigkeit und lässt den Verwundeten größtmögliche Fürsorge zuteil werden (Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv).

Dem Antrag wurde stattgegeben, und Wexberg wurde das »Goldene Verdienstkreuz am Bande« verliehen. Am 17. 9. 1915 erhielt Wexberg einen dreiwöchigen Erholungsurlaub in Wien. Am 22. 9. 1915 heiratete er in der Wiener Militärsynagoge Lili Deutsch, geb. 12. 4. 1890,

Abbildung 6: Lili Wexberg, geb. Deutsch, um 1917

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Tochter des Handelsvertreters Moritz Deutsch und seiner Frau Irma geb. Pollak. Wexberg brauchte nun nicht wieder an die Front zurückzukehren, sondern wurde dem Spezialspital vom Roten Kreuz, Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel, zur weiteren Dienstleistung zugeteilt. Die ärztliche Leitung dieser Klinik lag immer noch in den Händen Professor Redlichs. In dem Zeitraum seiner Tätigkeit an diesem Spezialspital des Roten Kreuzes, die bis zu seinem erneuten Fronteinsatz am 14. 7. 1917 währte, veröffentlichte Wexberg drei Beiträge: den Artikel »Die Überschätzung der Sexualität« (1915), den medizinischen Text »Indirekte Gehirnverletzung durch Schädelschuss« (1916) und die Schrift »Das Problem der Homosexualität« (1917). Am 1. 2. 1917 wurde Wexberg »durch allerhöchste Entschließung« zum Oberarzt in der Reserve ernannt. Wenig später erfolgte der erneute Fronteinsatz am 14. 7. 1917. Am 23. 10. 1917 wurde Wexberg wiederum für eine Tapferkeitsmedaille vorgeschlagen. Hier heißt es u. a.: Nach befohlenem Rückzug blieb Oberarzt Dr. Wexberg noch längere Zeit auf seinem angewiesenen Posten, bis der letzte Schwerverwundete verbunden war, wobei er beispielhafte Tapferkeit und energische Umsicht an den Tag legte. Ihm ist es zu verdanken, dass fast alle verwundeten Offiziere und ein Großteil der Mannschaft der drohenden Gefangenschaft entgingen. Er selbst zog sich erst zurück, als unsere vorderste Linie die Stellung in Höhe des Hilfsplatzes nicht mehr halten konnte (Österreichisches Staatsarchiv/ Kriegsarchiv).

Die zweite Tapferkeitsmedaille erhielt Wexberg am 6. 12. 1917. In den Anträgen der Vorgesetzten wird übereinstimmend auf die besondere Unerschrockenheit Wexbergs in gefährlichen Situationen hingewiesen, aber auch auf die Fürsorglichkeit in Bezug auf die ihm Anvertrauten. Im April 1918 wurde das Feldkanonenregiment zusammen mit der 25. Infanteriedivision in das Hinterland nach Lemberg verlegt. Im Juli 1918 kam es dann zum Einsatz an der Südwestfront und nach den Schlachten bei Biglione und Piave zu der Überweisung an die Armeegruppe Belluno. Der Rückzug der Armeegruppe fand im November 1918 statt, und die 25. Infanteriedivision ist fast geschlossen ohne Verluste nach Wien zurückgekommen. Zu diesem Zeitpunkt war der habsburgische österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat bereits zerfallen. Der Krieg hatte schon Monate 28

vor der Ausrufung der Republik am 12. 11. 1918 zu Hungersnöten in der Großstadt geführt. Die frühere Kaiserstadt war nun eine viel zu große, überdimensionierte Hauptstadt für das geschrumpfte Land. Das Zurückströmen der vielen Frontsoldaten verschärfte die ohnehin problematische Versorgungslage der Großstadt und die Arbeitslosigkeit. Verelendung und Verwahrlosung kennzeichneten zu dieser Zeit das Leben vieler Menschen.

Die familiäre Entwicklung (1917–1927) Über Wexbergs Situation zum Ende des Ersten Weltkrieges gibt es bisher keine Unterlagen. Wir können aber davon ausgehen, dass für ihn in dieser unruhigen Zeit drei Bereiche von besonderer Bedeutung waren. Als Erstes ist er zu seiner Frau zurückgekehrt. Sie war zu diesem Zeitpunkt im fünften Monat schwanger. Auch aus diesem Grund wird ihm seine berufliche Weiterbildung wichtig gewesen sein, mit dem Ziel, bald eine private Praxis als Nervenarzt eröffnen zu können. Schließlich ist da noch der Kreis um Alfred Adler zu nennen, zu dem er baldmöglichst Kontakt aufnahm. Lili Wexberg hatte vor dem Krieg ein Gesangsstudium an dem berühmten Wiener Konservatorium begonnen. Die älteste Tochter deutete an, dass die Mutter es nicht leicht hatte, musikalisch ihren eigenen Weg zu finden, da ihr Bruder Leonhard Deutsch sehr dominant war und sich früh als Klaviervirtuose hervortat. Leonhard Deutsch (1929) hat später mehrere individualpsychologische Lehrwerke zur Musikerziehung und zum Klavierunterricht herausgegeben. Laut Alba Lorman stammt von ihm der Satz: »In jeder gutbürgerlichen Familie sollte ein Klavier stehen.« Als Sängerin konnte Lili ihren eigenen Weg gehen und sich aus seiner Bevormundung lösen. Alba Lorman erzählte, die Mutter habe im Ersten Weltkrieg auf ein Engagement an der Wiener Volksoper verzichtet, um als Truppenbetreuerin zu arbeiten. Es gibt ein Foto, das sie inmitten einer Gruppe von Frontsoldaten zeigt. Am 28. 3. 1919 wurde die Tochter Alba geboren. Alba erinnert, dass ihre Mutter schon sehr früh an starken rheumatischen Beschwerden litt. Die Eltern waren aber finanziell nicht in der Lage, die ärztlich 29

empfohlene teure Badekur zu bezahlen. Freunde rieten dem Vater, in dem bekannten Kurort Bad Gastein in den Sommermonaten eine Praxis zu eröffnen. Im Einwohnermeldeamt Bad Gastein ist Wexberg seit dem 24. 7. 1920 in der Villa »Frieda« mit seiner Frau als »Wiener Kurarzt« gemeldet. Von diesem Zeitpunkt an ordinierte Wexberg bis zu seiner Emigration 1934 jedes Jahr in den Sommermonaten in Bad Gastein. Lili Wexberg hat öfter in Bad Gastein mit dem Kurorchester gesungen. Alba Lorman erinnert, sie sei mit den Liedern von Hugo Wolf, Schubert und Mahler groß geworden. Dem »Biographical Directory« der American Psychiatric Association (1950), deren Mitglied Wexberg seit dem 25. 5. 1949 war, ist zu entnehmen, dass Wexberg im Winterhalbjahr 1923/24 in einer Poliklinik für Neurologische Erkrankungen in Berlin gearbeitet hat und ein Jahr darauf in Paris in einer Hilfseinrichtung für geistig Kranke (Service de prophylaxie mentale). Wexberg war allerdings auch in dieser Zeit während der Sommermonate in Bad Gastein als Kurarzt tätig. In dem Archiv der Charité Berlin konnte bisher kein Hinweis auf eine Tätigkeit Wexbergs am Neurologischen Institut gefunden werden. Die Tochter, Alba Lorman, erinnert sich aber noch ganz genau an die Zeit in Berlin. Sie war damals fünf Jahre alt und besuchte eine Vorklasse der Montessorischule. Sie schwärmt heute noch von dieser Zeit. Die Mut-

Abbildung 7: Wexberg, 1927, vermutlich im Alpenkurort Bad Gastein. Hier praktizierte Wexberg von 1920 bis 1933 jeweils in den Sommermonaten als Kurarzt und Psychotherapeut.

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ter Lili nutzte dieses Jahr, um ihre Gesangsausbildung zu erweitern; sie nahm Unterricht bei den Ausbildern Toemlich und Zawilovsky. Im folgenden Winterhalbjahr in Paris wohnte die Familie in der Rue d’Assase am Jardin du Luxembourg. Am 29. 7. 1938 schrieb Wexberg der zweiten Tochter Runa aus New Orleans zu ihrem elften Geburtstag in der irrtümlichen Meinung, seine geschiedene Frau wäre mit den Kindern inzwischen aus Wien nach Paris emigriert. In diesem Brief bezieht sich Wexberg auf den Paris-Aufenthalt mit Lili und Alba im Jahr 1925. Meine liebe Runa, ich hoffe, dass dieser Brief Euch schon in Paris antrifft. Wenigstens hat mir Alfred Guth kürzlich geschrieben, dass er Euch in ein paar Wochen erwartet. So fängt also Dein neues Lebensjahr in einer ganz neuen Stadt an, und da hab ich allen Grund, Dir viel Glück zu wünschen. Ganz leicht wird es nicht sein. Bestimmt hat Dir Alba von ihren Erfahrungen in Paris erzählt – sie war damals 6 Jahre alt, und es war ihr nicht ganz leicht, mit den französischen Kindern Freundschaft zu schließen. Sie hatte keinen Roller (französisch heißt das »trottinette«) und hätte so gern einen von den Kindern im Jardin du Luxembourg geborgt. Sie lernte den französischen Satz: »S’il te plait, prête-moi ta trottinette!« Aber die Kinder waren sehr hochnäsig und wollten ihr nicht einmal antworten (Brief von Wexberg an Runa, 29. 7. 1938).

Nach Wexbergs Rückkehr nach Wien lebte die Familie, wie Alba Lorman erinnert, in sehr bescheidenen Verhältnissen. Die Wohnung im XIX. Bezirk, Pyrkergasse 7, besaß drei Zimmer. Das Wohnzimmer war gleichzeitig Behandlungsraum, das Speisezimmer diente als Wartezimmer.

Die Individualpsychologie in den 1920er Jahren Mit dem Kriegsende im Oktober 1918 brach der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat auseinander und ließ ein zerschlagenes Restösterreich und eine aufgebrachte, revolutionär gesinnte Bevölkerung zurück. Das kleine Land mit nunmehr nur noch 6,5 Millionen Einwohnern musste die gesamten Kriegslasten bezahlen. Große Teile der Bevölkerung litten unter Kälte, Obdachlosigkeit und Hoffnungslosig31

keit. In ganz Österreich, vor allem aber im Großraum Wien, bildeten sich Arbeiter-Komitees und Soldatenräte. Adler war ein sozialpolitisch denkender Mensch; er setzte sich mit den Problemen seiner Zeit aktiv auseinander. Adler und seine Individualpsychologie lassen sich allerdings nicht parteipolitisch in traditionelle Kategorien einordnen. Adler gewährte seinen Anhängern große Spielräume: Unter denen, die aktiv an der Entwicklung und Anwendung der Individualpsychologie teilnahmen, fanden sich solche, die in ihren politischen Vorstellungen vom Protestantismus (Künkel), vom Katholizismus (Allers) oder vom Sozialismus (Otto und Alice Rühle, Manès Sperber) beeinflußt waren (Jacoby, 1983, S. 106).

Die Sozialdemokratie war die einzige Partei, die sich bereits während der Kriegszeit Gedanken darüber gemacht hatte, wie es nach einer Niederlage weitergehen könnte. So waren die Sozialdemokraten in der Lage, vor den Wahlen 1919 ein akzeptables Programm vorzulegen. Die konservativ-soziale Partei wurde jetzt von der Spitze verdrängt, das verunsicherte Kapital blieb in Wartehaltung und die Pan-Germanisch-Nationalen waren noch im Aufbau begriffen. Bereits 1920 aber verloren die Sozialdemokraten wieder ihre Vormachtstellung in Österreich. Nur in der Metropole Wien stellten sie als erste Großstadt Europas einen sozialdemokratischen Bürgermeister. Wien wurde ein eigenes Bundesland und innerhalb Österreichs zur sozialdemokratischen Enklave, zum »Roten Wien«, zu einer Insel des Sozialismus. In diesem Roten Wien nimmt die Individualpsychologie als Schule und als Bewegung ihren Ausgangspunkt, im Zeichen der gesellschaftlichen Umwälzung. Hier beginnt die Blütezeit der Individualpsychologie als praktische Wissenschaft, getragen von einem Heer von engagierten Pädagogen, Lehrern, Ärzten, die vielfach ihre pädagogisch-psychologische Arbeit als politische Aufbauarbeit verstanden. Der Siegeszug der Individualpsychologie lebte von dem Aufschwung der SPÖ (Bruder-Bezzel, 1991, S. 40).

Am Karl-Marx-Institut konnten die Studenten die Vorlesungen des Wissenschaftlers, marxistischen Theoretikers und politischen Praktikers Max Adler hören. Nach dem Krieg vertrat Max Adler (1924) dort als Professor für Philosophie die neukantianische Erkenntnistheorie. 32

Sein populärstes Werk trägt bezeichnenderweise den Titel »Neue Menschen«. Dieser Begriff wurde zum Symbol für den pädagogischen Optimismus der 1920er Jahre. Max Adler hat das Denken der jungen Studenten tiefgreifend beeinflusst. Nach den erschütternden Ereignissen des Ersten Weltkrieges verstärkte sich Adlers sozialpsychologischer Ansatz. Von nun an sollte die Idee des »Gemeinschaftsgefühls« in den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns treten. Adler wollte in Übereinstimmung mit fortschrittlichen Sozialdemokraten einen Beitrag zu einer friedlichen Verbesserung der Welt leisten. Es beseelte ihn die Überzeugung, dass durch die moderne Psychologie ein Umbruch in der Geschichte der Menschheit eingeleitet werden könne (Rattner, 1972). Die »Erziehung der Erzieher« wurde zur vordringlichen Aufgabe. Das bevorzugte Terrain der Individualpsychologie war die Schulreform und die Erziehungsberatung im schulischen Alter. Sie war daher vor allem für die Lehrer und Erzieher die maßgebende Psychologie und Pädagogik, die sie über Kurse, Vorträge und über Erziehungsberatungsstellen kennenlernten (Bruder-Bezzel, 1991, S. 91).

Der Sozialdemokrat Otto Glöckel, selbst ursprünglich Lehrer, wurde Bildungsminister und dann Präsident des Wiener Stadtschulrats. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, Adlers Freund Carl Furtmüller, der mit Adler Mitglied der Mittwochs-Gesellschaft gewesen und Adler nach dessen Trennung von Freud gefolgt war, ins Ministerium zu berufen. 1922 wurde Furtmüller offizieller Aufsichtsbeamter für die experimentellen Versuchsklassen Wiens. Adler kannte Glöckel persönlich und wurde als Tiefenpsychologe bei politischen Diskussionen über Erziehungsfragen oft als Experte hinzugezogen (Spiel, 1981, S. 165). So kam es zu einer engen Verflechtung zwischen den schulreformerischen Ideen der führenden sozialdemokratischen Schulpolitiker und Alfred Adlers sozialpsychologischen Erziehungsgedanken. Die erste individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle gründete Adler bereits 1919 an einer Wiener Schule. Eltern, die seine öffentlichen Vorlesungen über »Menschenkenntnis und Erziehungskunst« gehört hatten, baten Adler, ihre Kinder zur Erörterung von Erziehungsschwierigkeiten mitbringen zu dürfen (Handlbauer, 1984). Von nun an führte Adler vor einer begrenzten Öffentlichkeit, vor interessierten Eltern, Erziehern und Lehrern Beratungsgespräche mit 33

schwierigen Kindern und ihren Eltern. Diese Gespräche dienten gleichzeitig der Schulung und Ausbildung der anwesenden Lehrer. Adler trat für eine gewaltfreie, antiautoritäre Erziehung ein. Er war gegen die Ausgrenzung der leistungsschwachen oder erziehungsschwierigen Kinder und plädierte bereits damals für eine integrative Förderung benachteiligter Kinder. So schlug er vor, Tutoren als Helfer im Unterricht einzusetzen. In clubartigen Einrichtungen sollten Kinder aus Problemfamilien ihre Hausaufgaben machen können und auch ihre Freizeit in einem anregenden Milieu verbringen. Er sprach sich dafür aus, Kinder durch Ermutigung anzuspornen, um ihre verborgenen dynamischen Kräfte in der Gemeinschaft mit anderen zu aktivieren. Die Individualpsychologie war personell, praktisch und ideologisch eng mit der Sozialdemokratie verbunden. Es gab neben den schulreformerischen Veränderungen eine große Anzahl von Reformen und Einrichtungen im Bereich der Kinder- und Jugenderziehung. Die kinder- und jugendpsychologische Forschung und Lehre wurde gefördert. Große Aufmerksamkeit galt der Aus- und Fortbildung der Lehrer und Erzieher. Das Gesundheitswesen wurde verbessert. Ein wesentlicher Kern der Reformarbeit lag im Ausbau und der Entwicklung des Volksbildungswesens. Kurse und Beratungsstellen zu Fragen der Psychologie, Gesundheit, Psychohygiene, Erziehung gehörten in das Konzept. Zu erwähnen ist hier auch die Sexualreformbewegung, in der sich viele Individualpsychologen in Aufklärungsschriften und Beratungen engagierten. Wexbergs vielseitige Tätigkeit in dieser Zeit verdeutlicht diesen pädagogischen Furor beispielhaft. Man braucht nur das Inhaltsverzeichnis des von ihm herausgegebenen zweibändigen Handbuches für Individualpsychologie aufzuschlagen, um zu spüren, wie umfassend der individualpsychologische Ansatz damals war. Wexberg war in dieser Zeit des Umbruchs und Aufbruchs einer der engagiertesten und rührigsten Mitarbeiter im Kreis um Adler. In Anlehnung an sein Vorbild entfaltete er eine breite Öffentlichkeitsarbeit. Er hielt Vorträge an Volkshochschulen, leitete Arbeitsgemeinschaften für Eltern, Erzieher und Lehrer an Schulen und beteiligte sich an der Beratungstätigkeit der neu entstandenen Erziehungsberatungsstellen. Wexberg war in diesen 1920er Jahren ein aktiver Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft individualpsychologischer Ärzte, er hielt Vorlesungen am Pädagogischen Institut im Fachbereich Heilpädagogik und er engagierte sich in der Aus- und Fortbildung individualpsy34

chologischer Ärzte. Daneben publizierte Wexberg eine große Anzahl von Artikeln in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« und in psychiatrisch-neurologischen Fachzeitschriften. Wexberg schrieb zahlreiche Buchbeiträge zu tiefenpsychologischen und psychiatrischen Themen, er veröffentliche wichtige individualpsychologische Werke wie z. B. das zweibändige »Handbuch der Individualpsychologie« (1926b), »Individualpsychologie: Eine systematische Darstellung« (1928g) und »Sorgenkinder« (1931b). Die Fülle der Themen in seinen Beiträgen spiegelt die ganze Weite der Interessen und Forschungsrichtungen der damaligen Tiefenpsychologie adlerscher Prägung. Hinzu kommt eine reiche Vortragstätigkeit an den Internationalen Kongressen für Individualpsychologie und den Allgemeinen Ärztlichen Kongressen für Psychotherapie. Zu dem Volksbildungsbereich gehörte auch die Herausgabe vieler wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Schriften, die sich mit pädagogischen oder psychologischen Fragen beschäftigten.

Individualpsychologische Grundlagenwerke Heilen und Bilden In Adlers erster großen Anthologie »Heilen und Bilden« (Adler u. Furtmüller, 1914) wird erstmals in der Psychoanalyse eine Brücke geschlagen zwischen Psychopathologie und Pädagogik, Psychohygiene und allgemeiner Psychologie. Im Herbst 1922 sollte »Heilen und Bilden« in einer Neuauflage herausgebracht werden. Bei der Erstausgabe im Jahre 1914 hatte Adlers Freund Furtmüller einen großen Teil der Editionsarbeit übernommen. Da Furtmüller aber inzwischen zum wichtigsten Verwaltungsbeamten des Wiener Erziehungsministeriums aufgestiegen war, wurde Wexberg im Alter von 25 Jahren mit der anspruchsvollen Aufgabe betraut, die neue Ausgabe von »Heilen und Bilden« vorzubereiten. Wexberg meisterte diese Herausforderung souverän. Er schrieb ein viel beachtetes Geleitwort, in dem er die Individualpsychologie von der Psychoanalyse abgrenzte, und er veränderte die Zusammenstellung der Aufsätze. Fünf bisherige Autoren waren nicht mehr ver35

treten, neun neue kamen hinzu. In der Neuauflage wurde die pädagogische Ausrichtung von »Heilen und Bilden« noch verstärkt. Wexberg schrieb zusammen mit Carl Furtmüller den Aufsatz »Zur Entwicklung der Individualpsychologie« (Wexberg u. Furtmüller, 1922a). Er nahm seinen Beitrag »Rousseau und die Ethik« aus der Ausgabe von 1914 heraus und fügte den Artikel »Verzogene Kinder« (1922b) hinzu. Rattner und Danzer (1998) haben »Heilen und Bilden« in ihren Sammelband »100 Meisterwerke der Tiefenpsychologie« aufgenommen. In der ausführlichen Würdigung heißt es zusammenfassend: Die Bedeutung des hier diskutierten Bandes liegt darin, daß Adler und seine Schüler die pädagogischen und psychohygienischen Konsequenzen aus der Neurosenpsychologie zogen. Damit betraten sie Neuland und waren Pioniere. Es zeigte sich schon damals, daß die Individualpsychologie gewillt war, eine Verbindung zwischen Psychotherapie und Erziehungskunst herzustellen. In Heilen und Bilden kommen nicht nur wissenschaftliche Gegensätze zwischen Freud und Adlers Lehren zum Tragen, sondern auch verschiedenartige Menschenbilder und Weltanschauungen (Rattner u. Danzer, 1998, S. 88).

Handbuch der Individualpsychologie Im September 1926 brachte Wexberg (1926b) ein zweibändiges »Handbuch der Individualpsychologie« heraus, das mit großer Themenbreite einen guten Einblick in den Stand der Individualpsychologie jener Zeit gibt. Dieses Handbuch wurde von Wexberg in einem kurzen Zeitraum zusammengestellt. Am 30. 12. 1925 wandte er sich an den Verleger J. F. Bergmann: Im Einvernehmen mit Dr. Alfred Adler erlaube ich mir, mit folgendem Vorschlag an Sie heranzutreten: Die individualpsychologische Schule hat sich in den letzten Jahren in die Tiefe und Breite entwickelt, dass Wissensgebiete der verschiedensten Art auf sie Bezug nehmen, sich ihrer Ergebnisse bedienen. Infolgedessen wird der Mangel an grundlegenden, systematisch aufgebauten individualpsychologischen Publikationen allseits empfunden. Es ist auch für den Kenner der bisherigen Literatur schwer, auf Befragen die richtigen Quellen für ein bestimmtes Wissensgebiet jeweils mit Sicherheit anzugeben. Diesem Übelstand abzuhelfen, denken wir an die Herausgabe

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eines Handbuches der Individualpsychologie, das alle Wissenszweige, innerhalb deren sich die Schule bisher betätigt hat, in möglichst gründlichen Einzeldarstellungen umfassen soll (AWSPV).

Es entwickelte sich ein reger Briefverkehr zwischen Wexberg und dem Verleger. Vereinbart wurde, dass sämtliche Manuskripte bis zum 1. 5. 1926 abgeliefert werden sollten, um das Handbuch noch vor dem Anfang September in Düsseldorf stattfindenden »Dritten Internationalen Kongress für Individualpsychologie« herausbringen zu können. Welche große, kaum zu bewältigende Aufgabe Wexberg hiermit übernommen hatte, wird einem klar, wenn man bedenkt, dass sich nun eine Korrespondenz mit zu diesem Zeitpunkt 30 Autoren entwickelte. Im April stellte sich heraus, dass zwei Autoren nicht in der Lage waren, ihren Beitrag rechtzeitig zu liefern: Alexander Neuer zum Thema »Charakterologie« und Alfred Adler mit dem Thema »Das Problem der Begabung«. Neuers Beitrag wurde gestrichen. Wegen Adler wandte sich Wexberg an seinen Verleger mit dem Vorschlag, Adler würde statt des geplanten Artikels ein längeres Vorwort zu dem Handbuch verfassen. Am 2. 6. 1926 antwortete Bergmann: Die außergewöhnliche Überlastung Herrn Dr. Adlers ist ja leider auch der Grund für das Ausbleiben des Manuskripts Individualpsychologie und Erziehung, auf das ich schon so lange warte. Gerade dieses Buch wäre am wirkungsvollsten zu dem im Herbst stattfindenden Kongress erschienen, ich glaube aber, die Hoffnung darauf nun wohl aufgeben zu müssen (AWSPV).

Am 15. 9. 1926 hatte Wexberg das erste Exemplar des Handbuches in Händen; der Kongress fand vom 26.–29. 9. 1926 in Düsseldorf statt. Rattner und Danzer haben das »Handbuch der Individualpsychologie I und II« ebenfalls in ihren Sammelband »100 Meisterwerke der Tiefenpsychologie« aufgenommen. Zu Beginn des Essays wird auf die verheerenden Wirkungen des Nationalsozialismus und des Faschismus für die Kultur des vergangenen Jahrhunderts hingewiesen: Wie außerordentlich fruchtbar, »interdisziplinär«, originell und innovativ jedoch z. B. im Bereich der Individualpsychologie in den 20er Jahren gedacht und konzipiert wurde und wie groß daher der kulturelle Verlust war und ist, den der Faschismus auch an dieser Stelle zu verantworten hat, wird deutlich, wenn man das Handbuch der Individualpsychologie aufschlägt

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und zu lesen beginnt. Dieses Handbuch wurde von dem bekannten Individualpsychologen Erwin Wexberg herausgegeben; neben dem Herausgeber selbst und Alfred Adler haben daran so renommierte Adler-Schüler wie Fritz Künkel, Gina und Otto Kaus, Sophie Lazarsfeld, Ada Beil und einige andere mitgearbeitet (Rattner u. Danzer, 1998, S. 83).

Im Vorwort des Handbuchs schreibt Adler: Der große Kreis der bedeutsamen Lebensfragen, den so die Individualpsychologie umspannt, geht aus diesem Werk hervor. Der Leser findet hier den Versuch vor, ein Abbild des gegenwärtigen Standes der individualpsychologischen Arbeit zu geben (Adler, 1926, S. VI).

Im Handbuch wird kaleidoskopartig die ganze Weite der Interessen und Forschungsrichtungen der Tiefenpsychologie adlerscher Prägung entfaltet. Nach dem ausführlichen »Allgemeinen Teil« mit vier Beiträgen zu den Grundlagen der Individualpsychologie folgen zahlreiche Texte zu den Themen Kinderpsychologie, Pädagogik und Psychopathologie. Im zweiten Band werden die Themenbereiche Geisteswissenschaften, Soziologie und Kriminalistik aus individualpsychologischer Sicht dargestellt. Wexberg (1926c) hat zum Bereich Psychopathologie den Text »Die psychologische Struktur der Neurose« beigetragen. Nach Wexberg ist das konditionale Denken der Pathologie aus der Betrachtung der Neurose auszuschalten. An ihre Stelle trete das teleologische Denken der Individualpsychologie. Im zweiten Kapitel »Die Rolle des Affekts in der Neurose. Die zentrale Stellung der Angst« verweist Wexberg (1926d) auf seine Arbeiten »Die Angst als Kernproblem der Neurose« (1926a) und »Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl« (1926e) und stellt fest, dass der Angst innerhalb der Psychophysiologie der Neurose eine zentrale Stellung zukommt. Die Beobachtung an Kindern lehre, dass die Angst der unmittelbare Ausdruck des Minderwertigkeitsgefühls sei: Was wir kennen ist einerseits die Aggression des Geltungsstrebens als Manifestation des Minderwertigkeitsgefühls, andererseits der Angstaffekt in sekundärer Verwendung der Aggression mit den Mitteln der Schwäche (Wexberg, 1926b, S. 428).

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Wexberg findet seine Auffassung in Freuds neuem Buch »Hemmung, Symptom und Angst« (1926) bestätigt, das sich auch sonst in mancherlei Hinsicht den Anschauungen der Individualpsychologie annähere. Levy (2002) hebt in Zusammenhang mit dem Thema »Angst« besonders Wexbergs Äußerungen zur Psychosomatik hervor. Der neurotische Mensch benutzt, ausgehend von der Angst, die Affektivität als Übergangssituation zwischen dem psychischen und dem körperlichen Bereich, um die dem Affekt zugeordneten physiologischen Funktionen leichter auszulösen, bis sie wie automatisch bzw. »unbewusst« ablaufen. Ein hoher Blutdruck bleibe dann bestehen, ohne dass die zugrunde liegenden Angst- bzw. Wutaffekte bewusst wären. Bei Wexberg heißt es hierzu: Auf ganz demselben Weg können nervöse Magen-Darm-Erscheinungen, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Sexualstörungen, kurz alle neurotischen Symptome zustande kommen, deren psychogene Entstehung lange bekannt ist, ohne daß man sich über den Mechanismus ihres Entstehens deutliche Vorstellungen machen konnte. Die Übergangssituation zwischen dem psychischen und dem körperlichen Bereich stellt immer, wie wir es oben ausführten, die Affektivität dar, und innerhalb dieser spielt die Angst insofern eine zentrale Rolle, als sie sowohl zu dem Ausgangspunkt des psychischen Geschehens, zum Minderwertigkeitsgefühl, als auch zum neurovegetativen Apparat unmittelbare Beziehung hat (Wexberg, 1926b, S. 444).

Im Kapitel »Der Sinn der Neurose« geht Wexberg (1926c) auf das eigentliche Thema »Die psychologische Struktur der Neurose« ein. Die wesentlichen Merkmale der neurotischen Lebensführung reichen in die früheste Kindheit zurück. Er verweist darauf, dass in der Neurose das Gefühl der Minderwertigkeit nicht primär zutage tritt, sondern dass alles, was wir in der Neurose sehen, schon Kompensationsversuch, sekundäre Verwendung, Arrangement darstellt. Die Folge des verstärkten Minderwertigkeitsgefühls sind Kompensation durch Aggression und Sicherung, die alle den Charakter der Fiktion tragen. Es gibt nur einen realen Weg, vom Gefühl der Minderwertigkeit zum gesicherten Selbstwertgefühl zu gelangen: den Weg der Leistung, der Erfüllung der Lebensaufgaben im Rahmen der Gemeinschaft. Die Individualpsychologie nutzte neben medizinisch naturwissenschaftlichen Methoden des Erkenntnisgewinns immer auch geisteswissenschaftlich orientierte und philosophische Vorgehensweisen: 39

Mit diesem methodischen Rüstzeug, das im Handbuch sehr verständlich und leicht nachvollziehbar dargestellt wird, gelang es der Individualpsychologie besser als der Psychoanalyse, manche Phänomene der Conditio humana (wie etwa die »Person«, »die Struktur und Gestalt des Seelenlebens«, die »Individualität« usw.) zu erfassen und in ein wissenschaftliches Konzept zu bringen. Es verwundert nicht, daß ausgehend von diesem eigenen erkenntnistheoretischen Fundament auch die daraus resultierenden Umrisse des individualpsychologischen Menschenbildes sowie das Verständnis von Krankheit und Gesundheit merkliche Differenzen zu psychoanalytischen Konzepten aufwiesen (Rattner u. Danzer, 1998, S. 64).

Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung Als wichtigstes Werk Wexbergs (1928g) gilt das bei Hirzel in Leipzig erschienene Lehrbuch »Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung«. An diesem Buch hat Wexberg längere Zeit gearbeitet. Am 30. 11. 1927 schrieb er an J. F. Bergmann und teilte ihm mit, dass er sich aus zwingenden Gründen veranlasst sähe, sein Lehrbuch bei Hirzel erscheinen zu lassen. Er verwies darauf, dass der größte Teil der individualpsychologischen Literatur bei Hirzel erscheine und es wegen einer einheitlichen Propaganda für die Bücher günstiger wäre, bei Hirzel zu veröffentlichen. Bergmann versuchte Wexbergs Argumente am 3. 12. 1927 mit einer Aufstellung der individualpsychologischen Veröffentlichungen in beiden Verlagen zu widerlegen, hatte damit aber keinen Erfolg. Vor allem dieses Lehrbuch hat Wexberg den Ruf eingebracht, der Theoretiker und Systematiker der Individualpsychologie zu sein. Wie überzeugt er von seinen eigenen Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten war, geht aus dem von ihm selbst verfassten Vorwort zur ersten Auflage im Februar 1928 hervor: Dagegen fehlte bisher eine systematische Zusammenfassung der Lehre, die geeignet gewesen wäre, den praktischen Psychotherapeuten und Pädagogen in großen Zügen über das Wesen der Individualpsychologie zu orientieren. Die Bücher Alfred Adlers kommen dafür kaum in Betracht. Adlers konstruktiver Geist widerstrebt der Systematik, und so sind seine Bücher, so reiche Belehrung man auch aus ihnen zu schöpfen vermag, doch allzu aphoristisch gehalten, um sich zum ersten Studium für die, die noch gar

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nichts davon wissen, zu eignen. Hier bestand also eine Lücke, die durch dieses Buch ausgefüllt werden soll (Wexberg, 1928g, Vorwort).

In demselben Vorwort äußert er sich aber auch mit größter Hochachtung über seinen Lehrer Alfred Adler: Aber ich weiß, daß das Wesentliche des Gedankengangs dem Geiste meines Lehrers Alfred Adler entspricht, den ganz zu verstehen bisher eigentlich nur denen vorbehalten war, die, wie ich, Gelegenheit hatten durch Jahre seinem persönlichen Kreis anzugehören (Wexberg, 1928g).

In seiner Einführung zu Wexbergs »Individualpsychologie« stellt Lehmkuhl (1987a) die Frage, wie Adler auf den von seinen Schülern beklagten Mangel einer systematischen Darstellung seiner Ideen reagierte. Er weist u. a. darauf hin, dass Adler im Vorwort zu seinem Buch »Die Technik der Individualpsychologie, 1. Teil. Die Kunst eine Lebensgeschichte zu lesen« (1928) argumentiert, dass ihn die Schwierigkeit, jedem Einzelfall gerecht zu werden, bisher davon abgehalten habe, das psychotherapeutische Vorgehen in Regeln einzufangen. Oft und oft trat die Aufforderung an mich heran, die Grundzüge der Technik individualpsychologischer Behandlung, wie ich sie seit mehr als 20 Jahren übe, den weitesten psychiatrischen und pädagogischen Kreisen auseinanderzusetzen. Was mich bisher davon abgehalten hat, war die Schwierigkeit, das immer einmalige Gestalten, das jedem Einzelfall gerecht zu werden versucht, in Formeln oder Regeln einzufangen (Adler, 1928, S. 13).

Adlers Haltung in dieser Frage spricht für eine zunächst durchaus vorhandene grundsätzliche Bereitschaft, unter seinen Anhängern unterschiedliche Auffassungen und auch Kritik gelten zu lassen. In der Einleitung mit dem Titel »Geschichte der Individualpsychologie« gibt Wexberg einen Überblick über die Ursprünge der zeitgenössischen Psychologie, die in Adlers Individualpsychologie gipfeln. Er bezieht sich u. a. auf Philosophen wie Dilthey, Lipps, Husserl, Scheler und Jaspers. Der Grundbegriff der »Persönlichkeit als zielgerichtete Einheit« wird im ersten Kapitel in drei Formen finalen Geschehens dargelegt: der biologischen, der rationalen und als wichtigste der personalen Finalität der zentralen Persönlichkeit, die sich den beiden ersten überordnet. Die Persönlichkeit als zielgerichtete Einheit gilt 41

als oberstes Prinzip der Individualpsychologie. Bedeutung und Sinn menschlichen Verhaltens lassen sich nur verstehen, wenn einzelne Lebensäußerungen in den biographischen Kontext eingegliedert werden: in den Zusammenhang der Persönlichkeit, von der die Lebensäußerung ausgeht, und der Situation, in der sich die Persönlichkeit befindet. Im 2. Kapitel »Entwicklungsgeschichte der Persönlichkeit, Gefühl der Minderwertigkeit, Geltungsstreben, Gemeinschaftsgefühl« werden die Grundbegriffe der Individualpsychologie dargelegt. Zur Grundlagenbestimmung der Individualpsychologie gehört auch das 3. Kapitel, in dem die Bereiche »Organminderwertigkeit, Kompensation und Überkompensation, Begabung« ausführlich besprochen werden. In den folgenden zehn Kapiteln wird konkret ausgeführt, wie die Individualpsychologie unterschiedliche Grundformen des Seelenlebens und des menschlichen Zusammenlebens einordnet und wie sie damit umgeht. Wexberg stellt zunächst die Determinanten der Entwicklungsgeschichte der Persönlichkeit differenziert dar. Es sind die Bedingungen, in die das Individuum hineinwächst und die in ihrer Gesamtheit am Aufbau der Persönlichkeit mitwirken, ohne dass man an ihnen etwas ändern könnte: Soziale und wirtschaftliche Bedingungen der seelischen Entwicklung (4. Kapitel), Die Familienkonstellation als Faktor der seelischen Entwicklung (5. Kapitel), Geschlecht und Charakter (6. Kapitel). Mit dem Kapitel »Die Rolle der Erziehung in der Entwicklung der Persönlichkeit« kommt die planmäßige Beeinflussung des seelischen Verhaltens hinzu. In den folgenden fünf Kapiteln stellt Wexberg differenziert die individualpsychologische Neurosenlehre dar: Die Struktur der Neurose (8. Kapitel), Symptomwahl und Symptomentstehung, Kinderfehler, die Formen der Neurose (9. Kapitel), Die Psychosen (10. Kapitel), Vorbeugung der seelischen Erkrankung und der Kriminalität, Individualpsychologische Erziehung (11. Kapitel) sowie Heilpädagogik und Psychotherapie (12. Kapitel). In »Die Struktur der Neurose« beschreibt Wexberg die Grundgedanken der Kompensation bzw. Überkompensation des Minderwertigkeitsgefühls durch die Ausbildung einer persönlichen Finalität mit dem »Ziel der Geltung, der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls, der Überlegenheit«. In »Symptomenwahl und Symptomentstehung. Kinderfehler. Die Formen der Neurose« stellt Wexberg fest, dass jedes Erlebnis, das das Persönlichkeitsgefühl zu bedrohen scheint, die Entstehung einer 42

Neurose auslösen kann. Meist wird diese Bedrohung mit einer Verkleinerung des persönlichen Aktionsradius beantwortet (Lehmkuhl, 1987a). Wexberg hebt ausdrücklich hervor, dass die Individualpsychologie nicht im Erklären, sondern im Verstehen ihre Hauptaufgabe sehe. Die Frage, wie ein Symptom zustande komme, interessiere auch; viel wichtiger aber sei es zu verstehen, was ein Symptom im Rahmen einer gegebenen Persönlichkeit bedeute. Die Individualpsychologie versucht das Etikettieren der Patienten mit den Diagnosen Hysterie, Zwangsneurose, Depression und Angstneurose möglichst zu vermeiden, um der Gesamtpersönlichkeit des Menschen gerecht zu werden. Die Erläuterungen zu den Kinderfehlern als Vorläufern der Neurose sind besonders einfühlsam geschrieben und durch viele Falldarstellungen belegt. Das Thema »Vorbeugung der seelischen Erkrankungen und der Kriminalität. Individualpsychologische Erziehung« umschreibt einen Grundpfeiler der Individualpsychologie, die Psychohygiene. Erziehen heißt nach Wexberg nichts anderes als Ermutigen. Nicht das Programm entscheide, sondern die Haltung und Eignung des Erziehers. Diese richtige Haltung lasse sich am ehesten durch den Ausdruck »unerschütterliches freundschaftliches Wohlwollen« beschreiben. Eine der wichtigsten Erziehungsregeln sei es, das Kind ungehindert Erfahrungen machen zu lassen mit dem Ziel der Selbständigkeit. Wexberg fügt seinem Beitrag eine Liste von pädagogischen Interventionstechniken bei und bezieht sich dabei auf prominente Individualpsychologen, die sich intensiv mit Erziehungsfragen auseinandergesetzt haben, wie z. B. Ida Löwy: Die freundliche Überredung; Die Ablenkung; Ignorieren; Widerlegung durch Nachahmung; Widerlegung durch das Gegenteil; Die Verblüffung; Der Humor; Schonender, mit Lob verknüpfter Tadel; Appell an die geistige Reife des Kindes; Beschönigung eines Fehlers. Wexberg betont, dass man noch eine Menge solcher Kunstgriffe benennen könne, dass aber keiner von ihnen den Erfolg verbürge. Die wichtigste Bedingung sei, dem Kind niemals das Wohlwollen zu entziehen. 1976 erschien in München das Buch »Steuerung des aggressiven Verhaltens beim Kind« von Redl und Wineman. In diesem Buch werden 17 Interventionstechniken dargelegt. Im Vorwort heißt es: Hiermit wurde die psychoanalytische Pädagogik, die schon in den zwanziger Jahren in Wien (bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft)

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von Pädagogen und Psychoanalytikern in gemeinsamen Bemühungen konzipiert und praktiziert wurde, […] wieder aufgenommen und konsequent weiterentwickelt (Redl u. Wineman, 1976, S. 11).

Auf die individualpsychologischen Arbeiten zu diesem Gebiet wird mit keiner Silbe Bezug genommen. Heilpädagogik und Psychologie verlangen stets eine spezielle Ausbildung und jahrelange praktische Erfahrung. Wexberg verweist auf das Netz von Erziehungsberatungsstellen und erstellt einen individualpsychologischen Fragebogen. Von entscheidender Wichtigkeit bei jeder Form der Behandlung ist nach Wexberg die Haltung des Arztes. Am Schluss des Lehrgangs versucht Wexberg die Individualpsychologie in einen kulturellen und lebensanschaulichen Zusammenhang zu stellen. Das 13. Kapitel lautet: »Kulturpsychologische und lebensanschauliche Ausblicke. Schluss.« In seiner Einführung in Wexbergs »Individualpsychologie« nimmt Lehmkuhl (1987a) ausführlich Stellung zu Wexbergs Gedankengängen: Er setzt sich in seinem Essay mit dem Vorwurf auseinander, Adler und seine Schüler hätten mit ihrer Betonung kognitiver Prozesse in der Therapie und der Überbewertung der Finalität im menschlichen Seelenleben den Blick für das tatsächlich in der Kindheit erfahrene Leid der Patienten verloren. Diese kritische Position vertrat am deutlichsten Heisterkamp in seinem im August 1982 anlässlich des 15. Kongresses des Internationalen Vereins für Individualpsychologie in Wien gehaltenen Vortrag »Kriegskosten der Finalität«: Mein zentrales Anliegen liegt darin aufzuzeigen, daß eine bloße Zielanalyse individuellen Verhaltens und Erlebens die Einfühlung in die belastenden Insuffizienzerlebnisse und Mangelerfahrungen verhindert und daß ohne diese Einfühlung die Grundbedingungen der Ermutigung aufgegeben werden. [...] Obwohl Adler mit geradezu genialer Voraussicht die fundamentale Bedeutung der Ermutigung für alle Formen der Neurose erahnte, fällt er bei seinen therapeutischen und psychohygienischen Maßnahmen immer wieder in kognitive Bearbeitungsformen zurück (Heisterkamp, 1984, S. 144).

Heisterkamp sieht darin eine Verleugnung der originären Insuffizienzerlebnisse durch Finaldeutungen und fordert eine stärkere Einfühlung in die emotionale Lage des Patienten und eine Relativierung der Finalität. 44

Lehmkuhl (1987a) versucht anhand von Wexbergs Schriften unter besonderer Berücksichtigung von dessen zentralem Werk »Individualpsychologie« nachzuweisen, dass der frühe Adler und seine Schüler, vor allem aber Wexberg, durchaus tiefenpsychologisch orientiert waren und auch tiefenpsychologisch gearbeitet haben. Wexberg widerlege die Kritiker; sein Lehrbuch zeige, dass spätere Entwicklungen der Tiefenpsychologie in ihrer Anlage von ihm bereits vorformuliert worden sind – insbesondere was frühkindliche Mangelerlebnisse betrifft. Lehmkuhl verdeutlicht dies zunächst am Phänomen der Angst, der Wexberg bereits 1925 in seiner Schrift »Die Angst als Kernproblem der Neurose« eine zentrale Bedeutung für die frühkindliche Entwicklung und für das Auftreten neurotischer Symptome zuspricht. Die Angst sei mit dem unmittelbaren Ausdruck des Minderwertigkeitgefühls identisch. Sie sei zunächst die richtige Antwort auf eine reale Gefahr im Rahmen der biologischen Finalität. Später werde sie mit der Sicherung vor Gefahren, die das Persönlichkeitsgefühl bedrohen, verknüpft. Das Gefühl der Minderwertigkeit beziehe sich in der kindlichen Wahrnehmung auf drei Erlebnisbereiche: das Gefühl der Hilflosigkeit, des Schwächerseins im Verhältnis zum Du und dem der Abhängigkeit vom Du. Abschließend erklärt Lehmkuhl: Wexbergs Individualpsychologie heute lesen hilft, die theoretische Entwicklung besser zu verstehen, ermöglicht, aktuelle Strömungen mit ihren historischen Wurzeln zu erkennen, und zwar sowohl innerhalb als auch zwischen den verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen. Darüber hinaus stellt Wexbergs Biographie auch ein Stück der individualpsychologischen Identität dar, mit ihren Höhen und Tiefen, und sollte uns ermutigen, die begonnene Konsolidierung und »Renaissance« fortzusetzen (Lehmkuhl, 1987a, S. XV).

Der Münchener Individualpsychologe L. Seif (1928) hat in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« eine ausführliche Rezension zu »Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung« veröffentlicht: Daß es gerade Wexberg ist, der diesen Versuch unternahm, ist gewiß kein Zufall. Einer der ältesten Schüler Adlers, ist er auch einer der hervorragendsten und rührigsten. Es ist sein nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst, in zahlreichen Veröffentlichungen der Sache der Individualpsychologie

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Interesse, Freunde und Mitarbeiter gewonnen zu haben. Was ihn zu seinem Unternehmen besonders prädestinierte, ist sein nahes Verhältnis zur klinischen Psychiatrie. Wozu noch seine in unseren Landen nicht allzu häufige wertvolle und schöne Fähigkeit der lichtvollen und lebendigen Darstellung kommt, mit der er dem wissenschaftlichen wie dem Laienleser seine Ausführungen klar und eindringlich zu machen versteht (Seif, 1928, S. 503).

Individualpsychologische Schriften zur Erziehung Neben den Hauptwerken erschienen in den Jahren 1926 bis 1933 zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Schriftenreihen. Das Hauptthema dieser Veröffentlichungen ist Erziehung im weitesten Sinne. Die Schriften sind in verständlicher Sprache verfasst und wenden sich an eine breite Öffentlichkeit. 1926 publizierte Wexberg in der Schriftenreihe »Schwer erziehbare Kinder« im »Verlag am anderen Ufer« die Arbeit »Das ängstliche Kind« (1926f). Herausgeber dieser Schriftenreihe war das Ehepaar Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel. Die Rühles waren führende Vertreter der sozialistisch orientierten Individualpsychologen im Dresdner Raum. 1926 erschien in der Reihe »Richtige Lebensführung. Volkstümliche Aufsätze zur Erziehung des Menschen nach den Grundsätzen der Individualpsychologie« im Perles Verlag Wexbergs Schrift »Seelische Entwicklungshemmungen« (1926h). Im gleichen Jahr folgte »Das nervöse Kind. Ein Leitfaden für Eltern und Erzieher« (1926g). Fast alle seine erzieherischen Schriften veröffentlichte Wexberg von nun an auch in englischer Sprache.

Sorgenkinder In dem bereits erwähnten Buch »Sorgenkinder« fasste Wexberg im Juli 1931 seine bisherigen Arbeiten zu Erziehungsfragen in überarbeiteter Form zusammen: Aber gerade das intensive Interesse für die individualpsychologische Kinderforschung und Heilpädagogik, das sich hier kundtat, ließ eine sorg-

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fältigere Behandlung des Themas geboten erscheinen, zu der ja auch die in der Zwischenzeit gewonnene größere Erfahrung die Möglichkeit bot. So wendet sich das vorliegende Buch an alle, denen ein genaueres Eingehen und vertieftes Verständnis für seelische Haltung und Lebensschwierigkeiten des Kindes ein Bedürfnis ist (Wexberg, 1931b, Vorwort).

In der Einleitung stellt Wexberg fest, dass die Individualpsychologie in jeder Hinsicht die wichtigste psychologische Schule für die Pädagogik begründe. Sie geht von dem Grundsatz aus, dass eine wirksame Pädagogik nur auf einem umfassenden Verständnis der kindlichen Seele aufbauen kann. Wexberg nimmt in diesem ersten Teil ausführlich Stellung zu den Begriffen Minderwertigkeitsgefühl, Geltungsstreben, Sicherungssysteme, Gemeinschaftsgefühl, Begabung, Vererbung und Charakter. Das Erbgut stelle ein Rohmaterial dar, das mehr oder weniger plastisch und vielseitig verwendbar sei. Eingehend beschreibt Wexberg, aufgelockert durch Falldarstellungen, die fünf Faktoren der Umgebungseinflüsse: »Die körperliche Beschaffenheit des Kindes; Soziale und wirtschaftliche Umgebung des Kindes; Geschlecht; Familienkonstellation und Erziehung«. Lehmkuhl schreibt: Wenn Wexberg zunächst auf die »fünf Faktoren der Umgebungseinflüsse« eingeht, nimmt er die heute allgemein anerkannte Multikonditionalität psychischer Störungen vorweg. Die hierbei als entscheidend angesehenen Bereiche (organische Disposition,kognitive Begabungsstruktur,Erziehungsstil und Persönlichkeitsmerkmale der Erziehungspersonen, psychosoziale Belastungen sowie das Geschlecht) wurden in ihrer Bedeutung bereits von Wexberg mit den möglichen Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Kindes erkannt (Lehmkuhl, 1987b, S. X).

Im »Speziellen Teil« werden in Anlehnung an die frühen individualpsychologischen Arbeiten in den 1920er Jahren acht Kindertypen unterschieden, die, wie Lehmkuhl feststellt, bestimmte Eigenschaften repräsentieren, die in engem Bezug zu den zuvor genannten Umgebungseinflüssen stehen und für bestimmte Symptome disponieren: das schlimme und das kriminelle Kind; das lügenhafte Kind; das ehrgeizige Kind; das Musterkind; das schüchterne Kind; das ängstliche Kind; das faule Kind; das dumme Kind. Im Anschluss diskutiert Wexberg ausführlich problematische Gewohnheiten von Kindern, die Kinderfehler: 47

Im Kapitel »Kinderfehler« geht Wexberg auf einige typische Störungen ein. Auf dem Hintergrund der biographischen Entwicklung, die auch somatische Faktoren als Bahnung für ein bestimmtes Symptom einschließt, erkennt Wexberg die interaktionelle Bedeutung von Verhaltensauffälligkeiten innerhalb der Familie. Besonders eindrucksvoll arbeitet er dies am Beispiel der Schulangst heraus, wobei er darauf hinweist, daß ein Symptom verschiedene Bedeutungen entsprechend dem Kontext seines Auftretens besitzen kann (Lehmkuhl, 1987b, S. XI).

Der dritte Teil der Arbeit »Erziehung und Heilpädagogik« ist den Erziehungsmöglichkeiten durch Eltern, Erzieher, Schule und Gemeinschaft der Kinder gewidmet. Das Ziel jeder Erziehung ist die Erziehung zur Selbständigkeit und zur Selbsterziehung. Wexberg stellt hohe Anforderungen an die Erzieherpersönlichkeit. In den Ausführungen Wexbergs deuten sich bereits Ansätze familientherapeutischer Interventionen und beratender Techniken an. 1937, Wexberg war inzwischen in die USA emigriert, gab er zusammen mit Fritsch das in den Vereinigten Staaten viel beachtete Buch »Our children in a changing world« heraus, das im Aufbau und Inhalt sowie in den Falldarstellungen seinem Werk »Sorgenkinder« entspricht.

Schriften zur Sexualerziehung Zu den Arbeiten mit pädagogischer Zielsetzung kann man sicher auch die aufklärenden Werke Wexbergs zur Frage der Sexualität rechnen. In den zwanziger Jahren gehört die Sexualreformbewegung als vorwiegend libertäre und frauenrechtlerische Bewegung zu den großen Reformbewegungen der Zeit, die alle Alterstufen und Klassen erfaßte. Es ging um Sexualaufklärung, sexuelle Emanzipation und um ein neues Verhältnis von Ehe, Familie und Kindererziehung (Bruder-Bezzel, 1991, S. 113).

Adler und seine Schüler schrieben Aufsätze und Bücher zu diesem Themenkreis. Wexberg selbst hatte bereits 1915 in der »Zeitschrift für Sexualität« den Aufsatz »Die Überschätzung der Sexualität« veröffentlicht und 1917 bei Bergmann »Das Problem der Homosexualität«. In dem Sammelband »Technik der Erziehung« erschien der Beitrag »Sexuelles und erotisches Problem« (1928e). 1930 publizierte Wexberg 48

sein erstes umfangreiches Werk zu diesem Themenkreis: »Einführung in die Psychologie des Geschlechtslebens«, das einen Überblick über Fragen der Erotik, Fortpflanzung, Sexualpädagogik und Sexualpathologie gibt. Im 6. und letzten Kapitel dieser Schrift mit der Überschrift »Sexualpädagogik« fasst Wexberg die wesentlichen Aussagen der vorangegangenen Kapitel zusammen: 1. Sinnlichkeit kann innerhalb der zentralen Persönlichkeit nicht die Autonomie eines »Staats im Staate« beanspruchen, sondern sie ist ihr eingegliedert und ihrer Verantwortlichkeit unterworfen. 2. Fortpflanzung, der biologische Sinn der Sexualität, erweist sich für die überwiegende Mehrheit aller Menschen auch im Sinne ihrer persönlichen Finalität und in Übereinstimmung mit den Forderungen der Gemeinschaft als richtiges Ziel. 3. Geschlecht und Charakter sind nur zum kleinen Teil biologisch, hauptsächlich aber soziologisch in der Richtung auf eine einseitige Überbewertung des Mannes miteinander verknüpft, deren Korrektur dem Selbstwertgefühl der Frau sowohl wie des Mannes zugute kommt. 4. Erotik ist die dem Lebensstil unserer Kultur angemessene Form stärkster persönlicher Bindung zwischen Mann und Frau als Voraussetzung des sexuellen Zusammenseins, die als restlose Hingabe des Ich an das Du nur dem mutigen und verantwortungsbewußten Menschen möglich ist (Wexberg, 1930b, S. 109).

Am Schluss seiner sexualpädagogischen Ausführungen plädiert Wexberg für Geduld und für ein unerschütterliches Wohlwollen den jungen Menschen gegenüber. Eltern sollten über ein genügendes Ausmaß an innerer Ruhe und Sicherheit verfügen, um nicht in Autoritäts- und Prestigekämpfe mit den heranwachsenden Jugendlichen verwickelt zu werden. Dann könne sich ein Vertrauensverhältnis entwickeln, das für den Jugendlichen von größtem Wert sein kann. 1931 erschien in New York »The psychology of sex«, übersetzt von W. Béran Wolfe. Wolfe war ein amerikanischer Psychiater, der ursprünglich aus Wien stammte. 1926 besuchte er als junger Mann Adler in Wien, um von ihm zu lernen. Bald wurde er das erste amerikanische Mitglied der Gesellschaft für Individualpsychologie. Später war er Mitherausgeber des »International Journal of Individual Psychology«. Er hat Adlers Buch »Menschenkenntnis« für die englischsprachige Welt editiert. Im Vorwort schreibt Wolfe: 49

Die Übersetzung von Dr. Wexbergs Psychology of Sex von dem Originalmanuskript vor seiner Veröffentlichung in Deutschland ist die dritte Zusammenarbeit zwischen dem Autor und dem Übersetzer. Das nervöse Kind war die erste Einführung der Kinderpsychologie für ein englisches Publikum von Dr. Wexberg, dem wahrscheinlich brillantesten Schriftsteller der adlerschen Schule. Dieser Arbeit folgte die Übersetzung von Dr. Wexbergs Individualpsychologie, einem Lehrbuch der Grundprinzipien und der Praxis der Individualpsychologie (Wexberg, 1931c, S. V).

1933 schließlich schrieb Wexberg (1933a) den Aufsatz »Lebensstufen der Erotik«. In der Fachzeitschrift »Der Nervenarzt« äußerte sich der Psychoanalytiker v. Gebsattel sehr positiv über diese Arbeit. Hier heißt es u. a.: Ein Abschnitt des Aufsatzes ist der Ehe gewidmet. Ihre Problematik liege vor allem in der »Gestrigkeit der Männer«. Eine neue Form der Ehe kündigt sich an: »War früher das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, so ist nunmehr das zwischen Geschwistern das Leitbild« (v. Gebsattel, 1934, S. 202).

Bruder-Bezzel (1991) kommt in »Die Geschichte der Individualpsychologie« zu dem Schluss, dass die Einstellung von Individualpsychologen zu Fragen der Sexualreform mit aufklärerisch, gemäßigt bezeichnet werden könnte. Sexualrevolutionäre Impulse lagen ihnen fern.

Lehrtätigkeit Neben den erzieherischen und aufklärenden Schriften, die sich an eine breite Öffentlichkeit wandten, entfaltete Adler mit seinen Anhängern eine rege Vortragstätigkeit: Volkshochschulkurse wurden angeboten, Beratungsstellen eröffnet. Die Schulbehörde, deren führende Köpfe wie Furtmüller und Papanek der Individualpsychologie entstammten, unterstützte diese Vorhaben. Die Volkshochschulbewegung in Wien hatte sich ursprünglich zum Ende des 19. Jahrhunderts aus volkstümlichen Universitätskursen heraus entwickelt. Damals wurde die Idee einer Volksuniversität geboren, die sich 1901 unter dem Namen »Volksheim« konstituierte. 50

Zur vollen Blüte entwickelte sich nun diese Bewegung in den 1920er Jahren, die durch die Wiener Reformpolitik geprägt waren. In den verschiedenen Stadtteilen Wiens entwickelten sich Zentren. Eine besondere Bedeutung erlangten in Bezug auf individualpsychologische Dozenten die Volksheime Ottakring, Leopoldstadt und Landstraße. Die Hörerschaft setzte sich aus gemischten, an Psychologie interessierten Gruppen von Eltern, Lehrern und Personen aller sozialer Schichten und Berufsgruppen zusammen (Gstach, 2002). In den Jahren 1915 bis 1924 war es durchgehend Adler, der Vorträge im Volksheim Ottakring und Leopoldstadt hielt. Die Kurstitel waren in diesem Zeitraum: Über praktische Erziehungskunst, Über praktische Erziehungskunst und Menschenkunde, Charakter und Persönlichkeit, Neue Seelenkunde, Psychologisch-pädagogisches Seminar, Menschenkenntnis, Seminaristische Übungen über Menschenkenntnis. Von 1924 an beteiligten sich einige Schüler Adlers an der Vortragstätigkeit: Alice Friedmann, Erwin Wexberg, Ernst Oppenheim, Else Freistadt, Oskar Spiel, Erwin Kranz und Regine Seidler. Erwin Wexberg hielt in den Jahren 1924 bis 1934 im Volksheim Leopoldstadt Kurse zu folgenden Themen ab: Menschenkenntnis (4), Die Lehre vom Charakter (2), Individualpsychologie (3), Individualpsychologie (Wesen und Bedeutung einer Psychologie als Menschenkenntnis) (1) und Theorie des Gemeinschaftsgefühls (1). Im Sommersemester 1926/27 führten Adler und Wexberg die Vorlesung »Die Lehre vom Charakter« im Volksheim Ottakring gemeinsam durch. Besonders großen Zuspruch fanden die Kurse zum Thema »Menschenkenntnis«. Zu Adlers Kurs im Sommer- und Wintersemester 1925/26 kamen zum Beispiel jeweils 580 Hörer, im Wintersemester 1927/28 erreichte Alexander Neuer zum gleichen Thema 650 Hörer. Wexbergs Kurse besuchten im Durchschnitt jeweils etwa 240 Interessierte. Von 1930 an verringerten sich die Hörerzahlen. Nach Bruder-Bezzel ist die Geschichte der Individualpsychologie sehr eng mit der Geschichte der Erziehungsberatungsstellen verbunden. 1918/19 hielt Adler an der Volkshochschule Ottakring eine Vorlesung »Über praktische Erziehungskunst und Menschenkunde« und gründete im Anschluss hieran eine Erziehungsberatungsstelle. Eine weitere Erziehungsberatungsstelle für schwer erziehbare Kinder entstand im selben Jahr im V. Wiener Gemeindebezirk. In seiner Untersuchung zur Entwicklung der individualpsychologischen Erziehungsberatungsstellen in den Jahren 1918 bis 1934 stellt Gstach fest, dass 51

diese nicht in der öffentlichen Fürsorge verankert waren. Vor allem im Bereich privater Vereine, besonders aber in Zusammenarbeit mit den Schulen entstanden individualpsychologisch geprägte Einrichtungen. Am Volksheim gründete Adler 1921 eine Fachgruppe für Erziehungswesen, die sich die Beschäftigung mit individualpsychologischen Themen und die Besprechung der in den Beratungen behandelten Fälle zur Aufgabe gestellt hatte. 1923/24 bot Dr. Fischer hier einen Kurs über Heilpädagogik an, und Adler und Wexberg leiteten im Anschluss daran Besprechungen zu Erziehungsfragen, die während des Kurses auftauchten. An vielen Schulen wurden Elternvereine gegründet. Die Eltern trafen sich einmal monatlich. Gemeinsam mit den Lehrern wurde über Angelegenheiten der Schule und der Kinder beraten und über neue Unterrichtsmethoden diskutiert. Vorträge von individualpsychologischen Ärzten und Lehrern fanden ergänzend statt und dienten anschließend als Diskussionsgrundlage. Gstach hat in seiner Arbeit eine Liste der an verschiedenen Schulen angesiedelten Erziehungsberatungsstellen erstellt. Wexberg leitete in den Jahren 1927, 1928 und 1929 zusammen mit Adler die Arbeitsgemeinschaft der Lehrer aus dem II. und XX. Bezirk in der Schule am Czerninplatz. Ebenfalls in Zusammenarbeit mit Adler leitete Wexberg 1928 und 1929 die Arbeitsgemeinschaft der Lehrer in der Mädchenbürgerschule, Jägerstraße 54/56. Ein weiteres Aufgabenfeld für die führenden Köpfe des Vereins für Individualpsychologie ergab sich aus der Notwendigkeit, individualpsychologische Erziehungsberater auszubilden. Nach Handlbauer (1984) bestand bis 1925 diese Ausbildung lediglich im Nachweis einer längeren, engagierten Mitarbeit in einer Beratungsstelle. Die Lehrer, die an den Beratungen in den Schulberatungsstellen teilnahmen, lernten über das Zuhören und gaben dann ihre Erfahrungen an die Kollegen in ihrer Stammschule weiter. Da die Psychoanalytiker bereits seit 1920 in Berlin und seit 1924 in Wien Ausbildungsinstitute für ärztliche Psychotherapeuten eröffnet hatten, wurde auch unter den Individualpsychologen die Notwendigkeit einer formalisierten Ausbildung im Sinne einer Professionalisierung diskutiert: In einer Sitzung am 2. 11. 1925 beschloß der Verein, die Mitgliedschaft zum Verein für Individualpsychologie genauer zu deklarieren und »einen Stel-

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lennachweis für Ärzte, Pädagogen, Fürsorger, Erzieher und ähnliche Berufe zu schaffen« (I.Z.f.IP, Chronik 1925, Nr. 6, 350).

Die Verleihung von Diplomen wurde beschlossen, die ab 1926 ausgestellt wurden: Für die Erlangung des Diploms in Wien waren eine theoretische und eine praktische Ausbildung erforderlich. Die theoretische Grundausbildung verlief in Kursen, wohl zwei Semester lang, an je zwei Abenden in der Woche. Für die praktische Ausbildung mußte begleitend einmal wöchentlich ein mehrmonatiges Praktikum in einer Beratungsstelle absolviert werden, das mit einer praktischen Prüfung abgeschlossen wurde. Soweit es Lehranalysen gab, waren diese wohl nicht verbindlich. In der Wiener Ausbildung wirkten als Lehrende u. a. Alice Friedmann, Leopold Stein, Erwin Wexberg, Olga Oller, Regine Seidel und Alexander Neuer mit (Bruder-Bezzel, 1991, S. 82).

Anfang Februar 1926 bot Adler einen dreiwöchigen Kurs zur Einführung in die Individualpsychologie an und kurz danach einen vierwöchigen Kurs für Ärzte und Pädagogen. Am 10. März begann Wexberg mit einem ebenfalls für drei Wochen ausgeschriebenen Kurs für Ärzte und Pädagogen zum gleichen Thema. Ein Jahr später, 1927, wurde die Zielgruppe differenziert: Dr. Wexberg […] beginnt in der letzten Jännerwoche 1927 folgende Kurse: Einführung in die Individualpsychologie mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogik. 20 Stunden, Zahl der Hörer: mindestens 6, höchstens 15, Honorar für den gesamten Kurs 50 S. für jeden Teilnehmer. Individualpsychologische Psychotherapie für Ärzte und Mediziner, Honorar für den ganzen Kurs (20 Stunden): Ärzte 100 S., Studenten 60 S. Zahl der Hörer: mindestens 4, höchstens 10 (I.Z.f.IP., Chronik 1927, V).

In der Liste, die Gstach zum Kursangebot für Ärzte und Pädagogen erstellt hat, werden noch weitere Beiträge Wexbergs angeführt: »Einführung in die Individualpsychologie« (1932) und im gleichen Jahr »Klinische Psychiatrie für Nichtärzte«. 1932 übernahm Wexberg den Vorsitz der »Arbeitsgemeinschaft für Berater und Erzieher«. Seit 1924 war Adler auch in der Lehrerausbildung am Pädagogischen Institut der Stadt Wien im Bereich Vorlesungen aus dem Gebiet 53

der Heilpädagogik mit dem Thema »Schwer erziehbare Kinder« tätig. Im Winterhalbjahr 1926/27 übernahm Wexberg diesen Kurs, jeweils dienstags von 17 bis 19 Uhr. Er führte diese Vorlesung im Sommerhalbjahr 1927 weiter. Im Vorlesungsverzeichnis heißt es: Dozent Dr. Wexberg, Schwer erziehbare Kinder (ab Ende April 1927 übernimmt Dr. Alfred Adler die Vorlesung).

Wexberg und der Sozialismus Das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie ließ ein zerschlagenes Österreich und eine aufgebrachte, revolutionär gesinnte Bevölkerung zurück. In ganz Österreich, vor allem aber im Großraum Wien, bildeten sich Arbeiter-Komitees und Soldatenräte. Die Zeit um 1918 gilt als Adlers »röteste Zeit« (Bottome, 1957). Adler war zeitweise Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat, ebenso wie auch Rudolf Dreikurs als studentischer Vertreter. Adler hatte von Jugend an regen Anteil an der Ideenwelt des Sozialismus genommen. Er war ein politisch denkender Mensch und setzte sich mit den Problemen seiner Zeit aktiv auseinander. Im Gegensatz zu Freud und Jung engagierte er sich für die sozial Benachteiligten und betätigte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch politisch. Adler kann u. E. nur aus seinem weltanschaulichen Sozialismus heraus verstanden werden. Dies ist nämlich u. a. die Inspirationsquelle seiner erzieherischen, therapeutischen und philosophischen Überzeugungen, aus denen immer der Geist des Antiautoritarismus und der Solidarität spricht (Rattner, 1987, S. 59).

Alfred Adler und seine Individualpsychologie lassen sich allerdings nicht parteipolitisch in traditionelle Kategorien einordnen. Durch ihre Arbeit in der Reformpolitik standen sie in einem unmittelbaren persönlichen und praktischen Verhältnis zur Arbeiterbewegung. Besonders jüdische Intellektuelle neigten zum Sozialismus, weil sie dem Druck der autoritären, feudalistischen und konservativen Gesellschaft ausgesetzt waren:

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Tatsächlich war der Anteil an Juden am so genannten Austromarxismus ganz beträchtlich. Die österreichische Sozialdemokratie wurde begründet und geführt von Persönlichkeiten wie Victor Adler, Friedrich Austerlitz, Max Adler, Otto Brauer und manchen anderen. Wer in Wien heranwuchs, konnte sich der Ausstrahlung dieser weitblickenden und fortschrittlichen Politiker kaum entziehen (Rattner u. Danzer, 2004, S. 101).

1924 erschien in der sozialistischen Wiener Zeitschrift »Die Sozialistische Erziehung« ein Artikel Wexbergs mit dem Titel: »Alfred Adlers Individualpsychologie und die sozialistische Erziehung«. Am Schluss dieser Schrift formulierte Wexberg: Individualpsychologische Erziehung ist sozialistische Erziehung. Sie ist Erziehung zur Freiheit, weil sie die Menschen ohne Autoritätsglauben, selbstbewußt und verantwortlich will; sie ist Erziehung zur Gleichheit, denn sie bemüht sich, allem Vorurteil von individueller Begabung und von der Minderwertigkeit des Weibes zum Trotz, aus jedem Menschen das Höchste an Fähigkeit zu holen; sie ist Erziehung zur Brüderlichkeit, die sich wahrhaft nur auf der Grundlage eines mutigen, selbstsicheren Gemeinschaftsgefühls verwirklichen läßt. Die unsterbliche Parole der großen Französischen Revolution bekommt durch die Lehre Alfred Adlers einen neuen Sinn. Und dieser Parole gehört, wir wissen es, die Zukunft (Wexberg, 1924c, S. 433).

Wie sehr prominente Individualpsychologen von sozialistischen Überzeugungen durchdrungen waren und sich auch aktiv für die Verbreitung dieses Gedankenguts einsetzten, kann man einem Artikel entnehmen, der im März 1928 in der von Manès Sperber herausgegebenen »Zeitschrift für Individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene« erschien: Um die Wende des Jahres 1926 faßten einige Wiener sozialistische Individualpsychologen den Entschluß, eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben zu rufen. Sie luden im Jänner 1927 Dr. Wexberg zu einem Vortrag »Sozialismus und Individualpsychologie« ein. Diesem Abend schloß sich ein Diskussionsabend an. Professor Max Adler hielt in demselben Kreis einen Vortrag über »Marxismus«, darauf folgte wieder ein Diskussionsabend. Im April 1927 fand in Dresden ein Kongreß der marxistischen Individualpsychologen statt, an dem einige Wiener Genossen teilnahmen. Nach dieser Tagung wurde beschlossen, die Arbeitsgemeinschaft marxistischer Individualpsychologen in

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eine Zentralstelle der sozialistischen Individualpsychologen umzuwandeln. Es schloß sich ein Aktionskomitee zusammen. Dr. Paul Lazarsfeld berichtete in einer größeren Sitzung über den Dresdner Kongreß. Es wurde ein zweiter Kongreß in Wien in Aussicht genommen. Während der Sommermonate wurde dieser Kongreß vorbereitet; er fand am 14. und 15. September in Wien statt (Zeitschrift f. Individualpsych. Pädagogik u. Psychohygiene, 1928, H. 1, S. 65).

Im weiteren Text wird darauf hingewiesen, dass Dr. Wexberg im Januar 1928 innerhalb der Zentralstelle der sozialistischen Individualpsychologen einen Einführungskurs in die Individualpsychologie geben wird und zusammen mit Dr. Wenger und Elly Rothwein im Rahmen der Zentralstelle eine Beratungsstelle für Lebensschwierigkeiten (Erziehung, Ehe, Beruf) eröffnet. Im Heft 2 der »Zeitschrift für Individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene« findet sich ein Bericht über die weitere Entwicklung der individualpsychologischen, sozialistischen Arbeitsgemeinschaften. Die Wiener Arbeitsgemeinschaft hatte inzwischen 40 Mitglieder und wurde von Manès Sperber geleitet: Bei wechselndem Zu- und Abgang konsolidierte sich mit der Zeit ein Stamm marxistisch-sozialistisch orientierter Menschen, die von ihrer weltanschaulichen Einstellung aus an die Fragen der Psychologie herangingen. So wandelte sich die Arbeitsgemeinschaft mehr und mehr zu einer marxistischindividualpsychologischen Arbeitsgemeinschaft um. Die bürgerlichen Elemente fielen ab, und der Kern machte im Verlauf der theoretischen und praktischen Weiterarbeit einen Klärungsprozeß durch, der durch Vorträge von Dr. Alice Rühle-Gerstel, die von Anfang an die geistige Leiterin war, ferner von Otto Rühle, Alfred Adler, Otto Müller, Erwin Wexberg, Dr. Klopfer, Paul Lazarsfeld, Hilde Krampflitschek, Dr. Krause und Manès Sperber lebhaft gefördert wurde (1928, H. 2, S. 48).

Beim Lesen dieser Texte gewinnt man den Eindruck, dass sich die Hauptvertreter der sozialistisch orientierten Individualpsychologen der Zustimmung Adlers zu ihren Projekten sicher fühlten. Mitte der 1920er Jahre lässt sich bei Adler aber eine allmähliche Distanzierung von radikalen sozialistischen Ideen beobachten und eine gegenläufige Tendenz bei den prominenten marxistischen Individualpsychologen wie Alice Rühle-Gerstel, Otto Rühle oder Manès Sperber. 56

1927 erschien Alice Rühle-Gerstels Werk »Der Weg zum Wir« mit dem Untertitel »Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie« mit deutlich klassenkämpferischen Inhalten. Nach Hoffmann (1997) lernte Alice Rühle-Gerstel die Individualpsychologie nach dem Ersten Weltkrieg während ihres Studiums der Literaturwissenschaften und der Philosophie in München kennen. Sie fühlte sich durch die Grundideen der Individualpsychologie und von dem sozialpolitischen Engagement der führenden Individualpsychologen angesprochen und machte schon zu diesem frühen Zeitpunkt in München eine Analyse bei dem prominenten individualpsychologisch orientierten Psychiater Seif. 1921 promovierte sie über Friedrich Schlegel. Im gleichen Jahr heiratete sie den sozialistischen Theoretiker Otto Rühle. Otto Rühle hatte sich schon vor dem Krieg mit proletarischer Erziehung beschäftigt. Durch seine Frau lernte er nun die Individualpsychologie kennen. 1924 gründete Alice Rühle-Gerstel mit ihrem Mann den Verlag »Am anderen Ufer« und die »Marxistisch-individualpsychologische Arbeitsgemeinschaft« in Dresden. In den Blättern für sozialistische Erziehung formulierte Otto Rühle die theoretischen Grundgedanken zu einer sozialistischen Erziehung. Themen in dieser Zeitschrift waren u. a. Erziehung zum Sozialismus, Individualpsychologie und Sozialismus und Marxismus und Individualpsychologie. Manès Sperber schrieb über Alice Rühle: Alice Rühle-Gerstel, eine Frau von ungewöhnlichem geistigen Format, hatte zusammen mit Otto unter anderem den »Weg zum Wir« geschrieben, zweifellos die beste marxistische Darstellung der Probleme der Individualpsychologie (Sperber, 1971/1983, S. 189).

Alice und Otto Rühle arbeiteten gemeinsam an dem Versuch, Marx und Adler zu verbinden. In dieser frühen Zeit war ihre Öffentlichkeitsarbeit durchaus mit den Inhalten übereinstimmend, die Alfred Adler für die Verbreitung der Ideen der Individualpsychologie für wichtig erachtete. Die Eheleute hielten viele Vorlesungen und boten Hunderte von Vorträgen und Kursen über Marxismus, Geschichte, Erziehung und die Emanzipation von Frauen an. Alice Rühle-Gerstel war dabei eine eifrige Verfechterin der Individualpsychologie. Aus einem Brief, den Wexberg am 7. 12. 1927 aus Bad Gastein an Else Freistadt schrieb, geht hervor, dass Alice Rühle-Gerstel zu diesem Zeitpunkt bei ihm eine Analyse machte: 57

Alice Rühle ist ins Stadium der »Übertragung« getreten. Liebt mich. Ich aber […] bin immun gegen Patientinnen, auch wenn sie Persönlichkeiten vom Gewicht der Alice R. sind (EFHAZ).

Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier um eine Lehranalyse handelte. An anderer Stelle erwähnte Wexberg, dass zu den Rühles auch familiäre Kontakte bestanden. Das bedeutete aber nicht, dass er mit ihnen in ihren politischen Auffassungen völlig übereinstimmte. Wexberg liebte keine extremen Positionen. Er lehnte es auch ab, sich politisch vereinnahmen zu lassen. Im Januar 1928 schrieb er an Freistadt: Das »uneheliche Kind« war auf Bestellung geschrieben. Am Nachmittag vorher hatte mich D. Leichter von der Arbeiterzeitung [1889 von Victor Adler gegründet] angerufen und um den Beitrag ersucht. Von selbst schreib ich nicht in Tageszeitungen. […] Die »Partei« ist doch nur eine Bonzenorganisation. Meinen Vortrag vom Kongress der marxist. Individualpsychologen hatte ich Helene Brauner für den »Kampf« gegeben. Die haben ihn nach vielem Drehen und Wenden mit viel Schmeichelhaftem für mich retourniert – weil ich darin die Freidenkerbewegung als Symptom für die Verbürgerlichung des Proletariats beschrieben habe! Mit Rühles kann man sich verständigen. Mit den Parteien nicht2 (EFHAZ, 5. 1. 1928).

Im Jahr 1932 kamen drei interessierte Reisende, der holländische Arzt Casimir sowie die Philosophiestudenten Renthe-Fink und Schneider, nach Wien, um hier die bedeutendsten Vertreter der Individualpsychologie kennenzulernen. Casimir fragte Wexberg bei diesem Besuch auch nach seiner Einstellung zum Sozialismus: Sehr bedeutsam war, was Wexberg über die Beziehungen zwischen Ips. [Individualpsychologie] und Sozialismus sagte. Adler sei durchtränkt von sozialistischen und marxistischen Ideen. Wexberg bekannte sich gleichfalls zum Sozialismus (der Sozialdemokratie). Ja, er ging sogar soweit zu behaupten, der Sozialismus sei die Konsequenz der Ips. Es sei zwar die Ips. weltanschaulich gewissermaßen neutral, sie ließe sich jedoch wegen ihres

2 Redakteur der Zeitschrift »Kampf« war Friedrich Adler, Sohn des sozialdemokratischen Politikers Victor Adler. Friedrich Adler war konsequenter Pazifist. Er agierte gegen die Bewilligung der Kriegskredite zu Beginn des Ersten Weltkriegs.

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neutralen und höchsten Wertbegriffes, des Gemeinschaftsgefühls, mit allen positiven Weltanschauungen in Einklang bringen (Casimir, Renthe-Fink u. Schneider, 1997, S. 46).

Adler verhielt sich weiterhin diplomatisch gegenüber den zunehmenden Bestrebungen, die Individualpsychologie zu politisieren. Er war beunruhigt, versuchte aber, Konflikte, die zu einer Trennung führen könnten, zu vermeiden. 1927 hatten sich der dem Katholizismus nahe stehende Psychiater Rudolf Allers sowie der Urologe Oswald Schwarz und mit ihnen der junge Viktor Frankl von dem Verein für Individualpsychologie getrennt.

Zusammenarbeit mit Viktor Frankl In diesen Jahren hatte Wexberg auch engeren Kontakt zu dem zehn Jahre jüngeren Viktor Frankl. In seinem Vortrag »Die Begegnung der Individualpsychologie mit der Logotherapie«, den Frankl (1984) anlässlich des 15. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie in Wien hielt, erwähnt Frankl, dass er 1924 von Hugo Lukacs eingeladen wurde, an einer individualpsychologischen Erziehungsberatungsstelle zu hospitieren. Er wurde dann Adler im Café Siller vorgestellt und von diesem mit offenen Armen aufgenommen. Der Biograph Klingberg schreibt: Aufgrund seines Engagements bei der Sozialistischen Arbeiterjugend, den adlerianischen Erziehungsberatungsstellen und seiner Beschäftigung mit der Individualpsychologie unter Anleitung von Hugo Lukacs und Erwin Wexberg hielt Viktor bereits mit 21 Jahren Vorträge über Sexualität, Selbstmord und den Sinn des Lebens und reiste sogar ins Ausland (Klingberg, 2002, S. 92).

In dem bereits angesprochenen Vortrag 1982 in Wien erinnerte sich Frankl seines Lehrers: Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang erwähnen, daß er [Wexberg] es auch war, bei dem ich meine offizielle Prüfung in Individualpsychologie

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ablegte – das Zeugnis besitze ich leider nicht mehr, denn es fiel (ebenso wie ein Dutzend von Freud eigenhändig geschriebener Krankengeschichten und mein Briefwechsel mit Freud) im Krieg der Gestapo in die Hände (Frankl, 1984, S. 118).

Unter dem Einfluss des Philanthropen Wilhelm Börner widmete sich Frankl dem Aufbau von Beratungsstellen zur Suizidprävention bei Jugendlichen. Die Zahl von Jugendlichen, die sich das Leben nahmen, hatte damals sehr zugenommen. Suizid- und Krisenintervention haben besonders in Wien eine lange Tradition. So wurden bereits 1927 vom Fürsorgeamt der Wiener Polizeidirektion entsprechende Maßnahmen für Menschen nach einem Suizidversuch entwickelt. 1928 gründete der Philanthrop Wilhelm Börner, der auch Leiter der »Ethischen Gemeinde« war, eine Lebensmüdenstelle, die mit etwa 60 ehrenamtlichen Mitgliedern arbeitete, darunter bekannte Namen wie August Aichhorn, Charlotte Bühler, Rudolf Dreikurs, Viktor Frankl, Michael Pflügler und Erwin Wexberg. Diese frühe Einrichtung setzte sich bereits zum Ziel, prophylaktisch zu arbeiten, also Suizidhandlungen vorzubeugen. Dass die Beratungsstelle bereits 1927 ins Leben gerufen wurde, geht aus einem Brief Wexbergs an Freistadt vom 9.02.1927 hervor: Frankl schickte mir das Plakat seiner Jugendberatungsstelle nebst hektographiert an alle Berater gerichteten Bitte, ein paar Schillinge zu den Kosten beitragen zu wollen (EFHAZ).

Diese Plakate mit der Aufschrift: »Jugendliche! Wendet Euch in jeder seelischen Not an die unten angeführten Jugend-Beratungs-Stellen! Unentgeltlich! Keine Namensnennung nötig! Strengste Verschwiegenheit! Es ist nie zu spät!« wurden überall in der Stadt angebracht. Frankl selbst hatte in der Währinger Straße des IX. Bezirks (Ärzteviertel) ein Büro angemietet. Von hier aus vermittelte er die Jugendlichen, die sich bei ihm meldeten, an die ehrenamtlichen Helfer weiter. Wexberg stand für Beratungen jeweils mittwochs von 17 bis 18 Uhr zur Verfügung. In der Zeitschrift »Der Nervenarzt« erschien ein Artikel von Wexberg (1928f) »Zur Psychopathologie des Selbstmordes«, über den der Individualpsychologe Otto Kauders (1928) in der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene« eine Rezension schrieb: 60

Auch in dieser kleinen Studie zeigt es sich, wie viel Interessantes und vor allem für den praktischen Psychotherapeuten Wertvolles die Individualpsychologie zur Frage des Selbstmordes beizubringen hat. Der Selbstmord ist der Ausdruck der tiefsten seelischen Entmutigung; der äußere Anlaß tritt gegenüber der Wichtigkeit der neurotischen Leitlinie, die ein starres Zukunftsideal einschließt, in den Hintergrund. Das, was sich den Selbstmordtendenzen wirksam entgegensetzt, ist das Gemeinschaftsgefühl, dem auffälligerweise auch die religiösen Gefühle zugerechnet werden,die Beziehung zum Lebendig-Wirklichen, die jedem Menschen in irgendeiner Form gegeben sind. Von den psychopathologischen Phänomenen des Selbstmordes ergeben sich Analogien zur Psychologie der Melancholie. Auch der Melancholiker, in dem Aggressivtendenzen richtig aufgedeckt werden, belästigt mit seinem Leiden und seiner Selbstmordtendenz die Umgebung und überträgt ihr die Verantwortung für seinen Tod. Die Annahme eines triebhaften Moments im Selbstmord wird zurückgewiesen, die Individualpsychologie glaubt ihr Auslangen damit zu finden, daß sie auch den Selbstmord als Arrangement aufzufassen imstande ist. Zum Schluß wird dargestellt, daß, von diesem Gesichtspunkte ausgehend, es Aufgabe der Psychotherapie sei, zur Selbstmordprophylaxe zu schreiten (Kauders, 1928, S. 715).

Wexberg als Psychiater Nach dem Weltkrieg war das Spezialspital des Roten Kreuzes aufgelöst worden. Die Klinik wurde in ein Neurologisches Institut zurückgeführt. Alle Personalakten der Klinik von ihrer Gründung im Jahre 1914 bis 1938, dem Jahr der Enteignung jüdischen Eigentums, sind verloren gegangen. Es ist davon auszugehen, dass Wexberg, sobald es nach dem Kriegsende möglich war, wieder Kontakt zu dem ärztlichen Leiter der Nervenklinik Maria-Theresien-Schlössel, Prof. Dr. Emil Redlich, aufgenommen hat. Redlich hatte die Klinik auch in den Kriegstagen, in denen sie dem Roten Kreuz als Spezialspital diente, geleitet. In den Unterlagen des Kriegsarchivs (Österreichisches Staatsarchiv) befindet sich eine kurze Stellungnahme des ärztlichen Direktors Redlich zu Wexberg in einem Vormerkblatt zur Qualifikationsbeschreibung. Wahrscheinlich war dies eine Voraussetzung für die später erfolgte Ernennung zum Oberarzt. 61

In der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie veröffentlichte Wexberg einen längeren Artikel »Beiträge zur Klinik und Anatomie von Hirntumoren« (1921), versehen mit dem Vermerk: Aus der Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel in Wien. In derselben Zeitschrift folgte ein zweiter Text: »Über Kau- und Schluckbeschwerden bei Encephalitis«. In den Jahren 1922–23 erschienen keine rein medizinisch ausgerichtete Arbeiten. Im September 1925 hielt Wexberg anlässlich der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in Kassel den Vortrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« (1926a). In Kassel trafen sich die bedeutendsten deutschsprachigen Psychiater und Neurologen. Den Eröffnungsvortrag hielt der Neurologe Geheimrat Förster, der zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des Vereins deutscher Nervenärzte war. Seine führende Stellung in der Neurologie Deutschlands war seit 1924 anerkannt. Die kollegiale Zusammenarbeit mit Oswald Bumke (Psychiater, zuletzt Rektor der Münchener Universität) führte zur gemeinsamen Fertigstellung des von Lewandowsky herausgegebenen Handbuches der Neurologie und dann (1935–1936) zu der 17-bändigen Herausgabe des eigenen Handbuches. Erster Berichterstatter der Jahresversammlung war Wexbergs langjähriger Chef aus der Nervenheilanstalt MariaTheresien-Schlössel, Prof. Emil Redlich, und zweiter Berichterstatter Professor Oswald Bumke. Wexbergs Vortrag, der im Januar 1926 in der »Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde« veröffentlicht wurde, spielt neben seiner Beziehung zu Freuds berühmter Schrift »Hemmung, Symptom und Angst« (1926) in Wexbergs Gesamtwerk und in seiner Beziehung zu Adler eine herausragende Rolle. Nahezu zeitgleich mit diesem Vortrag in der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte hat Wexberg (1926e) seinen Vortrag »Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl« anlässlich des 2. Internationalen Kongresses für Individualpsychologie in Berlin gehalten (5.–7. 9. 1925). Obwohl die Vorträge unterschiedliche Zielgruppen ansprachen, gab es inhaltlich viele Übereinstimmungen. Im Zentrum beider Vorträge stand das Phänomen der Angst in ihrer Bedeutung für die Entstehung der Neurose. Im Anschluss an seinen Paris-Aufenthalt veröffentlichte Wexberg (1926n) im Mai den Text »La théorie du ›caractère nerveux‹ selon Alfred Adler«. Im selben Jahr brachte er im Bergmann-Verlag das Buch »Traité de la psychologie individuelle« (1926o) mit einem Vorwort

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von Alfred Adler heraus. Wexberg veröffentlichte auch noch im Jahr 1927 Aufsätze aus der Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel: Vorgestern und gestern habe ich außer dem »Manifest« einen Artikel für den Frankl geschrieben (über Unpünktlichkeit), ferner die Einleitung zu meiner sonst fertigen klinischen Arbeit über Depressionszustände, die ich in diesem Winter bei Redlich gemacht habe. Redlich, der alle aus seiner Anstalt hervorgehenden Arbeiten ziemlich streng zensuriert (er hat recht, denn da über dem Titel die »Nervenheilanstalt Maria Theresien Schlössel« und sein Name steht, ist er sozusagen mitverantwortlich), hat an dieser Arbeit fast nichts ausgesetzt, vor allem die mehrfachen Hinweise auf die Ips. [Individualpsychologie] unbeanstandet gelassen (EFHAZ, 29. 5. 1927).

In den frühen 1920er Jahren gab es in Österreich wie im gesamten deutschsprachigen Raum noch keine staatlich vorgeschriebene Prüfungsordnung für die Anerkennung als Neurologe und Psychiater. Der kanadische Prof. George Weisz (2006), der sich in seinem Buch »Devide and conquer« mit diesen Fragen auseinandersetzt, ist der Auffassung, dass für den fraglichen Zeitraum medizinische Standesorganisationen die Bedingungen für die Anerkennung zum Facharzt vorgaben. Er schreibt: Um 1924 wurde ein Facharzt durch örtliche medizinische Komitees auf der Basis eines Dossiers bestätigt, in dem die Arbeit an einer fachspezifischen Klinik dokumentiert wurde. Wahrscheinlich kam dies nicht vor 1925/26 zur Wirkung und so ist es schwierig zu entscheiden, welche Form der Überprüfung bei Wexberg stattgefunden hat. Wenn er aber tatsächlich formal als Facharzt bestätigt wurde, dann musste er diese Prozedur durchlaufen (Brief von G. Weisz an U. Kümmel, 2. 5. 2006).

Die Frage, ob und wann Wexberg als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie durch eine Kommission bestätigt wurde, konnte bislang nicht geklärt werden. Sicher erfüllte er alle Voraussetzungen für eine solche offizielle Anerkennung: Wexberg arbeitete von 1914 bis 1917 (mit kriegsbedingten Unterbrechungen) als Assistenzarzt und ab 1917 als Oberarzt unter der Leitung des namhaften Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. Emil Redlich, Chef der Nervenklinik Maria-Theresien-Schlössel. Obwohl Wexberg in den folgenden Jahren in den Wintermonaten in seiner privaten Wiener Praxis (als individualpsy63

chologischer Arzt) und in den Sommermonaten im Kurort Bad Gastein (als Kurarzt) tätig war, veröffentlichte er weiterhin bis 1927 eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten im Namen der Klinik. In späteren Jahren äußerte Wexberg in privaten Briefen seine Dankbarkeit gegenüber seinem Mentor und Lehrer Redlich, bei dem er »wissenschaftliches Arbeiten« gelernt habe. Später, in den USA, bezeichnete er seine Tätigkeit an der Neurologischen Poliklinik in Berlin (Wintersemester 1923/24) und seinen Aufenthalt in Paris im »Service de Prophylaxie Mentale« (Wintersemester 1925/26) als seine »Post Graduite«-Trainingszeiten. Die Tatsache, dass Wexberg anlässlich der Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte den Vortrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« (1926a) halten konnte, spricht dafür, dass er sich als Neurologe durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Fachkreisen bereits einen Namen gemacht hatte.

Schriften zur Leib-Seele-Problematik Die ersten Schriften, die Wexberg noch während seiner Tätigkeit an der Nervenklinik Maria-Theresien-Schlössel publizierte, waren rein medizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichtet. Neben diesen Texten, die in entsprechenden Zeitschriften erschienen sind, hat Wexberg in jenen Jahren auch medizinische Beiträge in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« veröffentlicht, die ihn als individualpsychologisch orientierten Arzt und Psychiater ausweisen. Um 1924 verließ Wexberg die rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise psychiatrischer Erkrankungen und bezog psychogene Faktoren in die Diskussion des Krankheitsbildes mit ein.

Ein Fall von Dementia paranoides In seinem Beitrag »Ein Fall von Dementia Paranoides« beschrieb Wexberg (1924a) einen 15-jährigen Jungen, der an der paranoiden Form des Jugendirreseins erkrankt war. Der Begriff »Dementia paranoides« geht auf den Psychiater Kraepelin zurück und wird heute nicht mehr 64

benutzt. Von dem Wissen seiner Zeit ausgehend, wonach die Schizophrenie als unheilbar galt, untersucht Wexberg in der Analyse zunächst die Frage, warum in vielen Fällen psychogene Faktoren zum Auslöser des pathologischen Verlaufs werden. Dabei stellt er fest: Es muß im psychophysischen Organismus eine Stelle geben, die den Überschneidungspunkt des psychischen mit dem physischen Kreise bildet und die den Schauplatz aller körperlich-seelischen Wechselwirkungen darstellt. Diese Stelle ist der Affekt: von der psychischen Seite gesehen ein zielgerechtes Arrangement, das unter Umgehung der Verantwortung dem Persönlichkeitsideal dient; von der physischen Seite ein Apparat von ererbten und trainierten Automatismen und Reflexen des vegetativen Nervensystems in naher und vielfältiger Beziehung mit dem Endokrinum. Über diese Sphäre hinweg kann psychisches Wollen zu körperlichem Geschehen führen, in der Hysterie sowohl wie in der Dementia praecox (Wexberg, 1924a, S. 21).

Die Sphäre des Affekts stellt nach Wexberg ein psycho-physisches Grenzgebiet dar. Die psychogene Auslösung eines schizophrenen Prozesses ist also auf dem Wege über die Affektsphäre wohl möglich und steht durchaus nicht im Widerspruch zu den anatomischen und biochemischen Befunden – eine Vorwegnahme heutiger Auffassung. Nach Wexbergs Überzeugung erweist sich ebenso wie bei vegetativen Neurosen der Versuch einer Psychotherapie auch bei beginnenden Fällen von Jugendirresein als gerechtfertigt. Die Aussicht, hier und da einen Grenzfall durch Psychotherapie zu retten, sei nicht zu verachten, auch nicht, wenn diese individualpsychologischen Bemühungen mehr Spott als Dank von Seiten der traditionellen Psychiatrie bringen würden.

Zur Psychogenese des Asthma nervosum 1924 erschien in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« der Aufsatz »Zur Psychogenese des Asthma nervosum«. Zu Beginn seiner Ausführungen beschreibt Wexberg (1924b) die zu seiner Zeit herrschenden Auffassungen von Erkrankungen, über deren fragliche psychogene Entstehung man sich noch nicht im Klaren war. Bei den funktionellen Erkrankungen unterschied man zwei pathogenetisch voneinander verschiedene Gruppen: die eine, bei der trotz fehlenden 65

anatomischen Befunden eine organische Basis postuliert wurde, die zweite, die als eigentlich psychogene Erkrankungsform galt. Zur ersten Gruppe gehören nach Wexberg die Neurosen des vegetativen Nervensystems, deren mannigfache Formen unter den Begriffen der Vagusneurose, der vasomotorischen Neurose, der Magenneurose, Herzneurose usw. beschrieben werden. Zu diesem Formenkreis gehört auch die Asthmaneurose. Wexberg distanzierte sich von der beliebten Unterscheidung zwischen konstitutioneller Krankheitsursache und der mehr zufälligen Auslösung der Krankheit durch ein psychisches Trauma. Er ging davon aus, dass psychische Traumata völlig unbewusst als Auslöser fungieren können und oft weder von dem Kranken noch von der Umwelt als solche erkannt werden. Die körperliche Disposition des »nervösen Charakters« könne als determinierendes Moment wirken. Wexberg sprach in diesem Zusammenhang auch von einer prämorbiden Persönlichkeit. Man müsse davon ausgehen, dass der somatische Krankheitsmechanismus, einmal zur Auslösung gebracht, danach weitgehend autonom verlaufe. Wexberg verglich den Nervösen mit einem Zauberlehrling, der von der psychischen Seite ein körperliches Geschehen ins Rollen bringe, dessen er später nicht mehr Herr werde: Die körperliche Erkrankung, die sich in den bekannten objektiven Symptomen manifestiert, wäre nach den Grundsätzen der klinischen Medizin zu behandeln. Daneben aber hätte die individualpsychologische Therapie die bedeutsame Aufgabe, den seelischen Nährboden zu sanieren (Wexberg, 1924b, S. 8).

Die Angst als Kernproblem der Neurose Im Januar 1926 erschien in der »Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde« Wexbergs Vortrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« (1926a), den er im September 1925 anlässlich der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in Kassel gehalten hatte. Die Tatsache, dass Wexberg im Rahmen seiner Weiterbildung als Psychiater in Paris 1925 an einer Hilfseinrichtung für geistig Kranke gearbeitet hat, spiegelt sich in mehreren Hinweisen auf neuere Forschungsergebnisse französischer Neurologen wider. Eine besondere Rolle spielt dieser Text über die Angst auch in Bezug auf seine Be66

ziehung zu Alfred Adler. Wexberg ging davon aus, dass Adler seine Forschungen zu diesem Thema als unvereinbar mit den Ideen der Individualpsychologie ablehnen würde. Wexberg eröffnete seinen Vortrag mit der These, die Lösung des Neurosenproblems sei weder auf dem psychologischen noch auf dem pathophysiologischen Gebiet zu finden, sondern nur in einer Gesamtschau beider Komplexe. Von der psychologischen Seite her können alle seelischen Lebensäußerungen als zielgerichtet aufgefasst werden; physiologisch ordnen sich dieselben Lebensäußerungen in eine pathophysiologische Erscheinungsreihe ein. Die Berührungsflächen beider Komplexe liegen nach Wexbergs Auffassung im Bereich der Affektivität: Der Affekt stellt jenes psychophysische Grenzgebiet dar, das gleichzeitig physiologisch-kausal und psychologisch-zielgerecht bestimmt wird (Wexberg, 1926a, S. 272).

In der Psychophysiologie der Affektivität finden sich die Antworten auf die ungelösten Fragen der Neurosenlehre. In diesem psychophysischen Zwischengebiet sammeln sich wie durch eine Linse alle ätiologischen Reihen, körperliche wie seelische. Im Zentrum dieses Zwischenbereichs stehe das Phänomen der Angst. Nach Wexberg ist bei nervösen Patienten der vegetative Apparat, der für die Angstentwicklung erforderlich ist, konstitutionell übererregbar. Die somatische Ausdrucksform der Angst wird durch ein langjähriges Training vervollkommnet und später oft vom seelischen Inhalt dissoziiert. Die neurotischen Ausdrucksformen der Angst sind mannigfaltig. Die Lebensangst des Unsicheren verstärke durch die Angstbereitschaft den überreizten vegetativen Apparat, unverstanden vom Patienten und von der Umgebung. Dies führt zu einem Circulus vitiosus zwischen vegetativer Angstbereitschaft, Minderwertigkeitsgefühlen und Angstentwicklung als Sicherung und verstärkt immer wieder sowohl die körperlichen als auch die seelischen Elemente der Psychoneurose. Zahllose Symptombilder der Neurasthenie lassen sich hier einordnen: funktionelle Herzbeschwerden, Magen- und Darmerscheinungen, Hyperazidität, Obstipation, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Diarrhö, nervöse Schweißausbrüche, Kopfdruck, Kongestionen, Zittern, Schlaflosigkeit. Immer erscheinen drei Fragen wichtig: die Beschaffenheit des Organs (Träger des Symptoms), die vegetative Konstitution (vegetatives System) und die psychologische Situation (Psyche). 67

Im weiteren Verlauf beschreibt Wexberg eingehend die zentrale Bedeutung der Angst beim Problem der Schlaflosigkeit, im Bereich der Sexualfunktionen sowie in der Psychologie der Zwangsneurose. Über die Angst führt nach seiner Auffassung die direkte Brücke zu den in früher Kindheit entstandenen und durch die vegetative Organminderwertigkeit verstärkten Minderwertigkeitsgefühlen. Hierdurch wird entwicklungsgeschichtlich sehr früh jene Reihe von Sicherungstendenzen und Kompensationsversuchen angestoßen, die die Eigenart des nervösen Charakters ausmachen.

Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl Nahezu zeitgleich mit seinem Vortrag in der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in Kassel hat Wexberg (1926e) seinen Vortrag »Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl« anlässlich des 2. Internationalen Kongresses für Individualpsychologie in Berlin gehalten (5.–7. 9. 1925). Auch in diesem Vortrag bezieht sich Wexberg auf die neuen Forschungsergebnisse französischer Neurologen: Was nun die vegetativen Störungen bei Neurosen und funktionellen Psychosen anbelangt, die derzeit den Gegenstand des Hauptinteresses der französischen Neurologie bilden, so ist es nach den bisherigen Beobachtungen sehr wahrscheinlich, daß bei der Mehrheit neurotischer und neuropsychischer Erkrankungen Anomalien des Sympathikus oder des Parasympathikus, gelegentlich auch beider nachzuweisen sind (Wexberg, 1926e, S. 175).

Die französischen Forschungsarbeiten zielten allerdings auf eine Dominanz der körperlich verursachten Störungen ab und auf eine Widerlegung der Psychogenese neurotischer Symptome. Wexberg grenzte sich gegen diese Richtung ab und entwickelte seinen eigenen theoretischen Ansatz, wobei er versuchte, die neueren Forschungsergebnisse in das System der Individualpsychologie zu integrieren: An unserer Auffassung, daß für die Neurose der psychologische Aspekt der angemessenere ist, vermögen die bedeutsamen Feststellungen im Bereich der somatischen Kategorie nichts zu ändern. Sie alle lassen sich, so wie die oben angeführten Beispiele, in das individualpsychologische Schema dort

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einfügen, wo der Begriff der Organminderwertigkeit seinen Platz hat (Wexberg 1926e, S. 176).

Im Anschluss erläuterte Wexberg seine These von der angeborenen Organminderwertigkeit beim nervösen Charakter in Form der Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems. Inhaltlich stimmen seine Ausführungen mit den Kernaussagen in seinem Vortrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« überein. Die Organminderwertigkeiten der vegetativen Sphäre nehmen wegen ihrer Ich-Nähe eine Sonderstellung ein. Die Ich-Nähe bestehe durch die nahe Beziehung des vegetativen Nervensystems zur Affektivität, und hier spiele die Angst eine beherrschende Rolle. In sehr anschaulicher Weise stellt Wexberg dies am Beispiel der Kinderpsyche dar: Die Ängstlichkeit des Kindes ist eine Funktion seines Minderwertigkeitsgefühls, ist also durchaus psychologisch bestimmt. Aber das Gefühl der Minderwertigkeit ist unter anderem durch die körperliche Beschaffenheit des Kindes bedingt, und unter den Organminderwertigkeiten, welche geeignet sind, die innere Sicherheit und das Selbstvertrauen des Kindes zu erschüttern und seine Entwicklung zur Selbständigkeit und zum Gemeinschaftsgefühl zu hemmen, findet auch eine etwa vorhandene Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems ihren Platz, zumal dann, wenn sich diese im Angsterlebnis selbst äußert. Die Angst, körperlich empfunden, potenziert sich zur Angst vor der Angst, wie wir sie bei den Neurosen Erwachsener oft genug beobachten können. Die weitere Entwicklung steht im Zeichen des Trainings. Konstitutionell begünstigt, wird sich der zielgerecht in der Richtung auf Sicherung und Befestigung des Persönlichkeitsgefühls verwertete Angstmechanismus mehr und mehr vervollkommnen. Das bedeutet aber eine weitere Steigerung der körperlichen Angstbereitschaft und damit die Herstellung eines Circulus vitiosus, gebildet von vegetativer Übererregbarkeit, Minderwertigkeitsgefühl und kompensatorischer Sicherungstendenz (Wexberg, 1926e, S. 179).

Die Grundstörung der Zwangsneurose In der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« brachte Wexberg seinen Vortrag »Die Grundstörung der Zwangsneurose« (1929) heraus, den er in der Sitzung der Gesellschaft der Ärzte am 69

19. 4. 1928 in Wien gehalten hatte. Er beschreibt zunächst die bisherige wissenschaftliche Sicht der Zwangsneurose, um sich dann seinem Thema, der bisher ungelösten Frage nach der Grundstörung der Zwangsneurose, zu widmen. Wexberg kommt zu dem Schluss, dass die rein psychogene Auffassung der Zwangsneurose viele Fragen der Pathogenese und Symptombildung offenlasse. Es gebe Zwangsneurosen, die auf der motorischen Insuffizienz der Zeitfunktion als Grundstörung aufgebaut seien. An anderer Stelle spricht er von rhythmischer Insuffizienz und von Störungen, die die Psychomobilität des Denkaktes und der höheren seelischen Funktionen betreffen. Er betont aber, dass man auch Milieufaktoren eine spezifische Bedeutung bei der Ausprägung einer schon bestehenden zwangsneurotischen Anlage zubilligen müsse. Zu diesen gehören nach seiner Auffassung: 1. die Situation des ältesten Kindes in der Geschwisterreihe in Zusammenhang mit autoritärer Erziehung, 2. übertriebener Ehrgeiz der Eltern und 3. eine überspannte, Schuldgefühle verursachende religiöse Erziehung. Eine besondere Rolle müsse dabei im Übrigen der Angst beigemessen werden. Das anlagemäßig vorgegebene Material, gekennzeichnet durch die geschilderte Grundstörung, wird durch erlebnismäßig bedingte persönliche Zielsetzungen sekundär gestaltet, so dass sich schließlich die Zwangssymptome trotz ihrer organischen Bedingtheit in einen psychologisch verstehbaren Zusammenhang fügen. Nach wie vor müsse aber der aufdeckenden und interpretierenden Psychotherapie in der Behandlung der Zwangsneurose der Vorrang eingeräumt werden. Zusätzlich empfahl Wexberg eine rationelle Übungstherapie, die auf dem physiologischen Wege des Trainings jene Automatismen, die dem Patienten fehlen, soweit als möglich aufbaue, um gleichzeitig die falschen Automatismen, die sich im Laufe des Leidens herausgebildet haben, durch ein Gegentraining zu bekämpfen. Von der Vereinigung der beiden Methoden, der aufklärenden und verstehenden Psychotherapie und der rationellen Übungstherapie, versprach sich Wexberg am ehesten Erfolge in der Therapie von Zwangsneurosen.

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Neurosenwahl Vom 26.–28. 9. 1930 fand in Berlin im Bürgersaal des Rathauses Schöneberg der V. Internationale Kongress für Individualpsychologie statt, den O. Kankeleit (1930) als einen Höhepunkt in der Entwicklung der Individualpsychologie bezeichnete. Am ersten Kongresstag, der dem Thema »Die ärztliche Psychotherapie« gewidmet war, hielt Adler den Eröffnungsvortrag zum Thema »Der Sinn des Lebens«. Den medizinischen Teil leitete Adler mit einem Referat über die Zwangsneurose ein. Darauf folgten drei Referate zum Thema »Neurosenwahl«. Dr. Kronfeld begann mit dem Referat »Neurosenwahl, Gestaltungsfaktoren neurotischer Symptome«. Er behandelte das Verhältnis der Individualpsychologie zur Medizin und kam ganz im Sinne Adlers zu dem Schluss, dass man sich um ein gegenseitiges Verstehen bemühen müsse, um zum Wohle der Kranken zu einem therapeutischen Miteinander zu finden. In seiner Rezension über die Tagung berichtete Kankeleit (1930) ausführlich und inhaltlich zustimmend über dieses Referat. Auf Neuers und Wexbergs Beiträge zur selben Thematik ging er nur kurz ein. Das ist überraschend, da Wexberg sich in seinem Vortrag deutlich von vorherrschenden individualpsychologischen Grundsätzen distanzierte. Bereits im ersten Satz seines Vortrags bezeichnete Wexberg (1931a) die Individualpsychologie als eine monistische Theorie. Er bezog sich dabei auf das individualpsychologische Prinzip, psychisches und körperliches Geschehen im Sinne der Einheit der Persönlichkeit innerhalb der Projektionsebene der Finalität darzustellen. Im Sinne Adlers führte er aus, dass die Arbeitshypothese von der finalen Ausrichtung allen psychischen Geschehens sich in der praktischen Arbeit des Psychotherapeuten als sehr fruchtbar erwiesen habe. Nach dieser Einführung wandte sich Wexberg allerdings entschieden gegen eine rein psychogene Anschauung neurotischer Symptome. Er wies zwar darauf hin, dass Adler in seiner Organminderwertigkeitslehre seiner final orientierten Psychologie einen kausalen Unterbau gegeben habe; Wexbergs weitere Argumentation aber ließ nur den Schluss zu, dass er davon ausging, die Individualpsychologie der 1930er Jahre verfolge diese dualistische Denkweise nicht weiter und verschreibe sich ganz dem monistischen Denken mit seinem finalen, psychologischen Verständnis. Im weiteren Verlauf des Vortrags begründete Wexberg die Notwendigkeit eines dualistischen Verständnisses des psychophysischen 71

Geschehens. So ging er zwar davon aus, dass z. B. ein magenneurotisches Symptom in die Persönlichkeitsstruktur eingebaut sei, führte dann aber aus: Aber die Tatsache, daß sich die Persönlichkeit gerade dieses Organdialekts bedient, die Tatsache, daß sie die Ziele eines überspannten Geltungsstrebens gerade mit Hilfe von Magensymptomen und nicht mit Hilfe von Herzbeschwerden, Schlaflosigkeit und Angstzuständen erreicht, ist offensichtlich kausal determiniert (Wexberg, 1931a, S. 89).

Wexberg machte deutlich, dass in die monistische (finale) Betrachtungsweise der Individualpsychologie ein dualistisches (kausales) Moment hineinwirke. Das Symptom selbst ist kausal durch die individuelle somatische Konstitution determiniert und ist nicht psychogen, sondern psychotrop, das heißt, es ist von anderen somatischen Krankheitserscheinungen dadurch unterschieden, daß es sie leichter und vollständiger als diese der persönlichen Finalität unterwirft, sich eingliedern läßt in das System der persönlichen Zielsetzung. Ist dies einmal geschehen, dann kann das Symptom durch eine Änderung des Lebensplans geändert, verstärkt oder ausgeschaltet werden, soweit es nicht Eigenleben besitzt. Aber – und das scheint mir gegenüber der Überspannung des psychischen Prinzips wesentlich festzustellen – das neurotische Symptom besitzt Eigenleben (Wexberg, 1931a, S. 90).

Wexberg wies nun auf den Zusammenhang des neurotischen Symptoms mit dem besonderen Erregungszustand des vegetativen Nervensystems hin: So spricht einiges dafür, daß alle Organminderwertigkeiten, die bei der Determination neurotischer Symptome eine Rolle spielen, nur insofern neurotisierend zu wirken imstande sind, als sie gleichzeitig das vegetative Nervensystem betreffen. Eine Minderwertigkeit des Magen-Darmtraktes wird nur dann eine geeignete Basis für eine Neurose abgeben, wenn der vegetative Apparat, sei es der periphere Apparat, der in die Organe selbst eingebaut ist, sei es der zentrale Überbau, Sympathikus-Parasympathikus und die zugeordneten spinalen und zerebralen Zentren daran beteiligt ist. Vegetative Begleiterscheinungen wird man freilich kaum bei irgendeinem Organleiden ganz vermissen (Wexberg, 1931a, S. 91).

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Sobald man es mit Krankheitszuständen zu tun habe, brauche man eine pathogenetische Theorie. Dort, wo man im Sinne von Alfred Adler von Erscheinungsformen des »nervösen Charakters« spreche, lasse sich je nach Bedarf der Kausalnexus oder der Finalnexus anwenden: Eine Interferenz der beiden Bewegungen kann nur in dem psychophysischen Zwischengebiet des vegetativen Systems erfolgen. Hier läßt sich nach Bedarf der Kausalnexus oder der Finalnexus anwenden. Im ersteren Fall stellen Gemütsbewegungen Erregungen des vegetativen Nervensystems dar, die, eine konstitutive Labilität dieses Systems vorausgesetzt, zur Gleichgewichtsstörung, also zur Neurose führen können. Im letzteren Falle betrachten wir Erregungen des vegetativen Apparats durchaus als Mittel der personalen Finalität. […] Diese doppelte Betrachtungsweise ist auf anderen Gebieten ganz selbstverständlich. Man hat es bisher nur unterlassen, sie bei Neurosen anzuwenden (Wexberg, 1931a, S. 94).

Hier wie auch in Wexbergs Theorie der Angst als Kern der Neurose zeigt sich eine erstaunliche Nähe zu neueren Auffassungen der Integrierten Psychosomatik, die davon ausgeht, dass man in der Therapie von Psychosomatikern je nach Bedarf Perspektivwechsel zwischen den biomedizinischen und den psychosozialen Aspekten einer Erkrankung vornehmen muss. Wexberg setzte sich auch mit der Frage auseinander, warum viele psychosomatische Erkrankungen so langwierige Prozesse durchlaufen und in vielen Fällen Heilungen ausbleiben. Er war der Meinung, dass der Widerstand gegen die Heilung zum großen Teil durch die somatischen Krankheitsanteile bedingt sei. Diese somatischen Erscheinungen seien dem unmittelbaren Einfluss des Patienten entzogen und könnten nicht plötzlich abgebaut werden, da sie durch ein jahrelanges Training automatisiert seien. Diese fortdauernden Beschwerden wirken auf dem Umweg über das Persönlichkeitsgefühl im Sinne einer Verstärkung der neurotisierenden Affektspannungen im vegetativen System. So könne trotz voller Einsicht in die Hintergründe der Neurose in solchen Fällen eine Heilung nur langsam erfolgen und nicht plötzlich, vergleichbar einem zähen Widerstand, immer wieder von Rückfällen durchbrochen. Am Beispiel einer Zwangsneurose deutete Wexberg das psychoneurotische Geschehen als eine »innere Dialektik«. Diesen Sachver73

halt nannte er das Gesetz der psychosomatischen Konvergenz. Abschließend formulierte Wexberg: Aber unbeschadet des in der individualpsychologischen Betrachtungsweise unbedingt gültigen teleologischen Prinzips sind wir verpflichtet, uns über das naturwissenschaftliche Geschehen der Neurosenentstehung und der Neurosenwahl nach naturwissenschaftlichen Methoden, also gemäß dem Gesetz der Kausalität, Rechenschaft zu geben. So besteht neben dem unbestrittenen ontologischen Monismus unserer Persönlichkeitspsychologie ein bewußter Dualismus der Betrachtungsweise, dem sich schließlich keiner von uns entziehen kann (Wexberg, 1931a, S. 105).

Erst ein Jahr nach der Veröffentlichung des Textes in der »Zeitschrift für Individualpsychologie« setzte sich der in Italien lebende Individualpsychologe Dr. med. Horvat (1932) in seinem Artikel »Naturwissenschaft und Individualpsychologie« kritisch mit Wexbergs Beitrag »Neurosenwahl« auseinander. Er wies sehr aufwendig nach, dass Wexbergs graphische Darstellungen zum psychosomatischen Geschehen fehlerhaft seien, und sprach sich deutlich gegen Wexbergs Auffassung aus, dass man somatoneurotische Erkrankungen sowohl final als auch kausal deuten könne. Wexbergs Ausführungen zu diesem Thema seien, konsequent zu Ende gedacht, himmelweit verschieden von den bisherigen Auffassungen der Individualpsychologie. Im Heft desselben Jahrgangs antwortete Wexberg (1932) auf diese Streitschrift mit einer halben Seite. Er wies darauf hin, dass seine graphischen Darstellungen lediglich der Veranschaulichung dienen sollten und es keineswegs von ihm beabsichtigt war, die Neurose als mathematisches Summationsergebnis somatischer und psychischer Faktoren darzustellen. Ansonsten gab er Horvat in seiner Darstellung der final orientierten Individualpsychologie völlig und in allen Punkten Recht, betonte aber abschließend, dass Horvats Ausführungen die von ihm in seiner Arbeit vertretenen Positionen nicht berührten. Wexbergs Vortrag über die Neurosenwahl und die anschließende Veröffentlichung in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« spielten in seiner Beziehung zu Adler eine wichtige Rolle. In seinem Brief an Adler vom 4. 4. 1932 (Anhangs S. 190 f.) nahm Wexberg Bezug auf diesen Vortrag. Er habe hier versucht, neue wissenschaftliche Forschungsergebnisse in das System der Individualpsychologie zu integrieren; er gebe aber zu, dass es besser gewesen 74

wäre, wenn er über die Inhalte vorher im Kreise Adlers diskutiert hätte. Er begründete seine Zurückhaltung mit schon länger andauernden Unstimmigkeiten. Er deutete an, dass ihm zu der Zeit, als er den Vortrag hielt, Äußerungen Adlers hinterbracht worden seien, die es aus seiner Sicht aussichtslos erscheinen ließen, mit Adler zu diskutieren. Horvats ausführliche Streitschrift und Wexbergs kurze, sich klar abgrenzende Antwort veranschaulichen die unterschiedlichen Positionen. Dass diese Konflikte schon lange schwelten und sowohl Adler als auch Wexberg bewusst waren, kann man einer kurzen Briefpassage aus Adlers Brief vom 28. 8. 1928 an Wexberg entnehmen: Ich wehrte mich, als Freudianer zu gelten. Sie wehren sich, nicht als Individualpsychologe angesehen zu werden (Anhang, S. 186).

Gleichzeitig wird in Briefen und Schriften aus dieser Zeit deutlich, dass Wexberg immer noch bemüht war, im Rahmen der Individualpsychologie zu arbeiten und zu forschen und dass er weiter grundsätzliche Positionen der Individualpsychologie vorbehaltlos unterstützte. Aber er war auch nicht bereit, Kompromisse in Bezug auf seine naturwissenschaftlichen Grundüberzeugungen einzugehen. In seinen privaten Briefen spricht er in diesem Sinne öfter von »seiner Individualpsychologie« im Gegensatz zu den Auffassungen der »offiziellen Individualpsychologie«.

Die Beziehung zu Sigmund Freud Wexberg lernte Freud während seines Medizinstudiums persönlich kennen. Er hat an drei aufeinander folgenden Wintersemestern Freuds berühmte Vorlesungen zur Psychoanalyse miterlebt und Freud zweimal zu einem Vorstellungsgespräch in der Berggasse aufgesucht. Freud hat zwar nie ein eigentliches Lehrbuch zur Einführung in die Psychoanalyse geschrieben, die Vorlesungen kamen einer solchen didaktischen Zusammenfassung aber sehr nahe. In diesen Vorlesungen trug Freud Schritt für Schritt, aufgelockert durch viele Vergleiche, Anekdoten und Krankengeschichten, die drei klassischen Forschungsgebiete der Psychoanalyse vor: Fehlleistungen, Träume und neurotische Symptome: 75

Dabei leuchtet der Charme, der Freuds Vorlesungsstil gekennzeichnet haben soll, auch in der gedruckten Prosa auf: Der Duktus des Dialogs mit dem Hörer von damals belebt noch den Leser von heute (Freud, 1914/2004, Covertext).

Wexberg bewahrte zeitlebens seine Hochachtung vor Freud. Er wies immer wieder auf die historische Leistung Freuds und sein Genie hin, distanzierte sich aber unter dem Einfluss Adlers von bestimmten Inhalten der Psychoanalyse, insbesondere von Freuds Libido-Theorie. Es ist interessant festzustellen, dass Wexbergs erster wissenschaftlicher Beitrag »Zwei psychoanalytische Theorien« (1912), den er noch als Medizinstudent veröffentlichte, einige spätere Grundthemen seines wissenschaftlichen Arbeitens schon anklingen lässt. Bereits als Student traute er sich ein Urteil über die Theorien seiner beiden Lehrer, Freud und Adler, zu und veröffentlichte diese Arbeit in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift. Da Freud 1912 noch an der gleichen Universität Vorlesungen hielt, war diese Veröffentlichung sicher ungewöhnlich. Des Weiteren deutet die Tatsache, dass er sich neben seinem Studium in relativ kurzer Zeit in die individualpsychologische Literatur eingearbeitet hat – die zahlreichen Literaturangaben deuten dies an –, auf eine außergewöhnliche Arbeitseinstellung hin. Sein wissenschaftliches Selbstvertrauen und das Arbeitsethos werden ihn sein ganzes Leben begleiten. In dieser ersten Arbeit versuchte Wexberg, zwei aktuelle wissenschaftliche Theorien miteinander zu verknüpfen, eine Schaltstelle zu finden, aus der sich beide Systeme erklären lassen. Er kam zu dem Schluss, Freud erkläre die psychischen Vorgänge von der affektiven, Adler von der funktionellen Seite. Jeder seelische Vorgang könne affektiv und funktionell aufgefasst werden. Die Theorien Freuds und Adlers seien notwendige Korrelate zueinander. Hier bereits zeigte sich Wexbergs Tendenz, neue Erkenntnisse zu analysieren und in das eigene Denksystem zu integrieren. Wenn Wexberg in dieser ersten Arbeit auf die affektiven und funktionellen Seiten seelischer Vorgänge hinwies, so sprach er schon damals ein Gebiet an, das später in seinen Ausführungen zum Leib-Seele-Problem eine zentrale Rolle einnehmen wird. In einer weiteren frühen Arbeit mit dem Titel »Kritische Bemerkungen zu Freud: Über nervöse Krankheitstypen« zeigt Wexberg (1914a), dass Freuds Stellungnahmen zu unterschiedlichen Erkrankungstypen 76

wie Versagen, missglückte Anpassung an die Realität, Entwicklungshemmung und quantitative Steigerung der Libido nur dann zwingend erscheinen, wenn man sich auf den Boden seiner Libido-Theorie stelle. Den Nachweis einer rein energetischen Psychologie und Psychogenetik könne Freud nicht erbringen. In den folgenden Texten »Zur Verwertung der Traumdeutung in der Psychotherapie« (1914b) und »Die Überschätzung der Sexualität« (1915) vergleicht Wexberg die psychoanalytische mit der individualpsychologischen Auffassung des jeweiligen seelischen Geschehens und kommt in Abgrenzung zu Freuds Methode zu dem Schluss, dass zu jeder Traumdeutung und zu jeder Aussage über die Sexualität eines Menschen eine kleine Biographie gehöre. Man könne viel vermuten, aber nichts wissen, wenn nur isolierte Ausschnitte einer Persönlichkeit vorlägen. Zu einer Würdigung von Freuds Entdeckungen findet Wexberg immer dann, wenn er in seinen Arbeiten die Individualpsychologie historisch einzuordnen sucht. In dem gemeinsam mit Furtmüller verfassten Beitrag »Zur Entwicklung der Individualpsychologie« (1922a) werden in einem historischen Abriss die Verdienste Freuds für die moderne Seelenforschung gewürdigt. Noch klarer formuliert Wexberg seine Anerkennung von Freuds historischer Leistung in seiner Einleitung zu »Die individualpsychologische Behandlung«: Dagegen hat die Individualpsychologie den eigentlichen Ausgangspunkt der Freudschen Lehren, die These vom »psychischen Determinismus« und von der Deutbarkeit aller, auch scheinbar dem Willen entzogenen seelischen Äußerungen beibehalten und bedient sich demgemäß auch der Freudschen Deutungstechnik im Bereich der Traumpsychologie, der »Psychopathologie des Alltagslebens« und der Neurosenlehre. Diese Lehre vom psychischen Determinismus stellt vom Gesichtspunkt der individualpsychologischen Schule die wirklich unvergängliche Großtat Sigmund Freuds dar, nicht aber seine Libidotheorie, die mit der ersteren nichts zu tun hat und die von den Vertretern der Individualpsychologie als Irrweg betrachtet wird (Wexberg, 1927b, S. 298).

Im Anschluss an die Darstellung der historischen Verdienste Freuds folgt dann, dies trifft neben den bereits erwähnten Schriften auch für die Einleitungen zu den Hauptwerken »Handbuch der Individualpsychologie« und »Individualpsychologie« zu, eine Beschreibung 77

der neueren Forschungen Adlers in Abgrenzung zur Psychoanalyse. Ähnlich wie vorher bei Freud stellt Wexberg die individualpsychologischen Kernbegriffe dar wie Organminderwertigkeit, Minderwertigkeitsgefühl, Geltungsstreben, männlicher Protest, Kompensationsstreben, Gemeinschaftsgefühl und Ganzheit der Person: Uns die mannigfach und oft widerspruchsvollen Lebensäußerungen eines Individuums als die zusammenhängenden Funktionen einer Persönlichkeit verstehen zu lehren ist also die Aufgabe, die Adler sich stellt (Wexberg u. Furtmüller, 1922a, S. 33).

1925 brachte Wexberg die Schrift »Ausdrucksformen des Seelenlebens« heraus. Dieses Werk nimmt in seiner wissenschaftlichen Arbeit eine Sonderstellung ein. Es ist ein Versuch, die neue Seelenkunde und damit auch die Entdeckungen der Psychoanalyse einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Im Vorwort verweist er darauf, dass Freuds Lehre noch zu sehr die Neigung verrate, sich als eine Art Geheimlehre vor der platten Allgemeinheit zu schützen: Denn es ging mir darum, das, was von der Psychoanalyse für den Ausbau der Individualpsychologischen Menschenkenntnis brauchbar und notwendig ist, sinngerecht zu verwerten und einzubauen. Der Versuch wurde bisher nicht unternommen (Wexberg, 1925a, Vorwort).

In der Einleitung von »Ausdrucksformen des Seelenlebens« würdigt Wexberg das Genie Freuds: Sigmund Freud war der erste, der diese Fragen durch eine Tat beantwortete. Es ist ihm gelungen, Gesetzmäßigkeiten in seelischen Dingen nachzuweisen, wo man bisher nur blinden Zufall oder das Walten irgendeines geheimnisvollen freien Willens annahm. Und vor allem: er hat uns gelehrt, hinter dem Tun und Reden des Menschen seine wirklichen Beweggründe zu erkennen, jene Beweggründe, von denen der Mensch meistens selbst nichts weiß und die man deshalb als »unbewußt« bezeichnet (Wexberg, 1925a, S. 5).

Wexberg bringt hier in einfachen Worten sein wissenschaftliches Credo zum Ausdruck, indem er feststellt, dass Freud und Adler nur am Anfang einer wissenschaftlichen Entwicklung stehen. Auch die Indivi78

dualpsychologie bedeute noch nicht das Ziel dieser Entwicklung, die dem laufenden Jahrhundert und seinen Nachfolgern vorbehalten sei. Die ersten drei Kapitel sind Freuds berühmten Schriften »Traumdeutung« (1900), »Psychopathologie des Alltagslebens« (1904) und »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« (1905) gewidmet. Jeweils zu Beginn jedes Kapitels empfiehlt er dem Leser, das entsprechende Werk Freuds im Original zu lesen. So heißt es zum Beispiel zum Kapitel »Über den Traum:« Sigmund Freuds »Traumdeutung«, erschienen bei Deuticke, Leipzig und Wien, ist für das eingehende Studium der Traumlehre zu empfehlen. Es ist wohl nicht durchwegs so leicht und verständlich wie die Psychopathologie des Alltagslebens, wird aber gebildeten Laien größtenteils zugänglich sein (Wexberg, 1925a, S. 36).

Wexberg erläutert Freuds Meisterwerke in einfachen Worten; er benutzt dabei zum Thema »Fehlleistungen« auch Beispiele aus dem eigenen Erleben, zitiert aber meist Freud selbst. Freud zeigte sich in seiner Einstellung zu wissenschaftlichen Arbeiten bedeutender Individualpsychologen weniger großzügig. Schmidt (2005) erwähnt, dass Freud nach der Trennung von Adler für seine Schüler ein Zitierverbot der Werke Adlers ausgesprochen habe. Ähnlich äußert sich Ringel in seinem Vortrag »Die Begegnung der Individualpsychologie mit der Psychoanalyse« auf dem 15. Kongress der Individualpsychologie 1982 in Wien: Vor einiger Zeit habe ich in einer Ankündigung des Wiener Autographenhändlers Ingo Nebehay einen Brief Freuds angeboten gefunden und habe wegen seines brisanten Inhalts nicht gezögert, ihn in meinen Besitz zu bringen. Dieser Brief ist geschrieben am 28. 06. 1929 in Berchtesgaden, gerichtet offenbar an einen namentlich nicht genannten Schüler: »Das Zusammensein mit Wexberg im Komitee ist recht unangenehm. Es sieht einer Anerkennung der Adlerei von unserer Seite gleich. Ich habe aber aus ihrem Brief den Eindruck, daß diese Gemeinsamkeit nicht zu vermeiden ist. Man kann es durch ein entsprechend abweisendes Benehmen kompensieren« (Ringel, 1984, S. 29).

Das vierte und letzte Kapitel »Die Lehre vom Charakter« ist Adler gewidmet: 79

Während die ersten Abschnitte im Wesentlichen auf Arbeiten Freuds beruhen, verwerte ich in diesem Abschnitt ausschließlich Arbeiten Alfred Adlers und seiner Schüler. Zur Lektüre seien empfohlen: Alfred Adler, Der nervöse Charakter und Praxis und Theorie der Individualpsychologie, beide erschienen bei Bergmann, Wiesbaden, und Heilen und Bilden, herausgegeben von Adler und Furtmüller bei Bergmann, München (Wexberg, 1925a, S. 95).

Ähnlich wie bei Freuds Werken beschreibt Wexberg abschließend die individualpsychologische Charakterkunde und ihre Grundbegriffe in verständlicher Sprache. Im Januar 1926 erschien Wexbergs Vortrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« in der Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde. Im gleichen Monat gab Freud (1926) sein neues Meisterwerk »Hemmung, Symptom und Angst« heraus. Kurz darauf veröffentlichte Wexberg (1926i) in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie eine kurze Stellungnahme zu Freuds Werk mit dem Titel »Die Rezeption der Individualpsychologie durch die Psychoanalyse«, die im Wesentlichen aus 13 Zitaten aus Freuds Werk bestand. Wexberg bot diese Zitate nahezu kommentarlos an. Den wenigen Anmerkungen ist zu entnehmen, dass es ihm darum ging, nachzuweisen, dass Freud in seiner neuen Veröffentlichung Themen ausbreitet, die vorher bereits in individualpsychologischen Arbeiten angesprochen wurden: in Adlers »Über den nervösen Charakter« (1912) und in seinem eigenen Beitrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« (1926a). Fasst man die Aussagen der betreffenden Zitate zusammen, so zeigt sich, dass in Freuds Ansatz die Libido nicht mehr der Ursprung der Angst ist. Die Verdrängung stammt nun aus dem Ich selbst. Die Angst ist nicht mehr Folge, sondern Ursache der Verdrängung. In der neuen Sicht Freuds schafft der Neurotiker seine Symptome selbst, um sich gegen Gefahren für sein Ich abzusichern. Dies entspricht ganz der adlerschen Sicherungstendenz. Was Freud als Abwehr bezeichnet, nennt die Individualpsychologie Sicherungstendenz. Im »Handbuch der Individualpsychologie« nimmt Wexberg (1926d) im Kapitel »Die Rolle des Affekts in der Neurose. Die zentrale Stellung der Angst« ebenfalls Stellung zu Freuds neuem Buch und stellt abschließend fest: So darf diese neue Etappe in der Entwicklung der Psychoanalyse als ein Fortschritt zu besserer Einsicht gewertet werden. Vor etwa einem Jahrzehnt, als

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der Begriff des Minderwertigkeitsgefühls unter dem Namen »Kastrationskomplex« und der des Geltungsstrebens in der Form des »Narzißmus« der psychoanalytischen Theorie einverleibt wurden, schien die sexualistische Terminologie noch unentbehrlich. Heute zieht Freud eine der Grundthesen seiner Lehre, die Auffassung der Angst als »verdrängte Libido« in aller Form zurück und geht in seinen Deduktionen von der Hilflosigkeit des Kindes aus. Die Fähigkeit, umzulernen und Irrtümer zu korrigieren, gereicht dem Meister zur Ehre. Wir wünschen und hoffen, daß ihm selbst noch Arbeitszeit vergönnt sein möge, die ganze Libidotheorie, die offenbar ihre Schuldigkeit getan hat, zugunsten besserer Arbeitshypothesen aufzugeben. Von keinem seiner Schüler getrauen wir uns diese Leistung zu erwarten (Wexberg, 1926d, S. 429).

In seinem Brief an Oskar Pfisterer vom 3. 01. 1926 schreibt Freud: Von mir wird gegenwärtig eine neue Broschüre Hemmung, Symptom und Angst gedruckt. Sie rüttelt an manchem Hergebrachten und will Dinge wieder flüssig machen, die bereits erstarrt schienen. […] Es wäre aber Vermessenheit zu glauben, daß es mir diesmal gelungen ist, das Problem, welches uns die Verknüpfung der Angst mit der Neurose vorlegt, endgültig zu lösen (Freud u. Grubrich-Simitis, 1985, S. 238).

Wexberg hat sich in seiner Arbeit »Die Angst als Kernproblem der Neurose« genau mit dieser Problematik, der Verknüpfung der Angst mit der Neurose, befasst. Wenn wir allerdings heute bestätigen können, dass Freud in »Hemmung, Symptom und Angst« einige Positionen der Individualpsychologie übernommen hat, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass er auf 96 Seiten ein wahres Meisterwerk geschaffen hat.

Die Montagsitzung vom 9. Mai 1927 Man kann das Jahr 1927 als ein Krisenjahr innerhalb der individualpsychologischen Bewegung ansehen. Man muss sich Wexbergs Kommentar zum III. Internationalen Kongress 1926 in Düsseldorf vergegenwärtigen, um den Stimmungsumschwung, der inzwischen stattgefunden hat, nachempfinden zu können. Wexberg schwärmt geradezu 81

von einem warmen Gefühl der Zusammengehörigkeit, von einer großen Familie: Wir alle, die wir uns zum großen Teil nur unserem Namen und unseren Arbeiten nach, vielfach aber auch noch gar nicht kannten, waren von dem Tage an, da wir zur ersten Sitzung im Rittersaal der städtischen Tonhalle zusammenkamen, eine große Familie. Dieses warme Gefühl der Zusammengehörigkeit, das irgendwie zwangsläufig aus dem dunkel gefühlten und doch nie in seiner lebendigen Bedeutung dargestellten weltanschaulichen Inhalt der Individualpsychologie entsprang, gab dem Kongreß sein eigenartiges Gepräge. Man kam zusammen, als hätte man sich vor einer Woche erst getrennt – und hatte einander doch kaum je gesehen (Wexberg, 1926m, S. 387).

Aber seit 1926 hatte Adler bereits damit begonnen, sich in Richtung USA zu orientieren. In einigen individualpsychologischen Kreisen regte sich Widerstand gegen Adlers ablehnende Haltung gegenüber der akademischen Psychologie und den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Medizin. Eine Reihe von prominenten Individualpsychologen wie die Professoren Rudolf Allers und Oswald Schwarz sowie der junge Viktor Frankl waren mit dieser Haltung Adlers wie auch mit seiner kämpferischen Einstellung gegenüber der Psychoanalyse nicht einverstanden. Lück (1990) versucht in seinem Beitrag »Alfred Adler und die akademische Psychologie« zu klären, warum Adler eine so geringe Bereitschaft zeigte, akademische psychologische Arbeiten, Befunde und Methoden in die Entwicklung seines Lehrsystems aufzunehmen. Er weist auf den gescheiterten Versuch Adlers hin, 1912 mit seinem Werk »Über den nervösen Charakter« an der Wiener medizinischen Fakultät zu habilitieren (vernichtende Kritik Wagner Jaurreggs und darauf folgende einstimmige Ablehnung). Einen weiteren möglichen Grund sieht Lück in Adlers Charakter und Denken, in seiner Ablehnung des Formalen und seinem großen Interesse an allem Lebendigen und an gesellschaftlichen Entwicklungen. Die akademische Psychologie wurde zu dieser Zeit im Wesentlichen durch Karl und Charlotte Bühler repräsentiert. Das Psychologische Institut der Wiener Universität war 1922 mit der Berufung von Karl Bühler (27. 5.1879–24. 10. 1963) gegründet worden. Ein wesentliches Charakteristikum dieses Instituts war die Kooperation 82

mit dem ebenfalls neuen Pädagogischen Institut, in dem auch Adler und Wexberg als Dozenten tätig werden sollten. Zu persönlichen Kontakten zwischen Adler und Wexberg auf der einen Seite und Karl und Charlotte Bühler auf der anderen Seite ist es nicht gekommen. Beide Seiten ignorierten die Gegenseite. Es gab aber eine Reihe von Individualpsychologen, die im Laufe der Jahre am Psychologischen Institut tätig wurden, wobei die Frage bleibt, inwieweit sie diese Tätigkeiten gegenüber den individualpsychologischen Kreisen offen gelegt haben: Oliver Brachfeld, Oswald Schwarz, Rudolf Allers, Viktor Frankl und auch Else Freistadt, die sich an Charlotte Bühlers Buchprojekt »Lebenslauf als psychologisches Problem« beteiligte. Die Integration von streng experimenteller psychologischer Forschung mit geisteswissenschaftlichen Methoden kennzeichnet die Arbeit des Psychologischen Instituts. Die Forschungstätigkeit von Karl Bühler und Charlotte Bühler reicht von sprachpsychologischen Arbeiten über ganzheits- und gestaltpsychologische Ansätze bis zu entwicklungspsychologischen Forschungen. Interessant ist, dass auch Freud seine Probleme mit der akademischen Psychologie hatte. Auch zwischen Freud und Bühler soll es zu keinerlei Kontakten gekommen sein. Man nahm öffentlich keine Kenntnis voneinander. Am 9. 5. 1927 fand nun die für die individualpsychologische Bewegung so wichtige Montagssitzung im Großen Hörsaal des Histologischen Instituts der Universität Wien statt, in deren Verlauf Allers und Schwarz aus dem Verein für Individualpsychologie austraten und Frankl von Adler ausgeschlossen wurde. Diese Sitzung war öffentlich und so kam es, dass nicht nur einige Psychoanalytiker zugegen waren, sondern auch Karl Bühler. Frankl (1973) schreibt, dass die anwesenden Psychoanalytiker über diese Auseinandersetzungen sichtlich erfreut waren, und es mag sein, dass das Wissen um ihre und Bühlers Anwesenheit zu einer gewissen Nervosität im Kreis um Alfred Adler im Umgang mit den aktuellen Konflikten beigetragen hat. Adler hatte Schwarz gebeten, dessen neuestes Buch mit dem Titel »Psychogenese und Therapie körperlicher Symptome« (1925) vorzustellen. Es handelt sich um einen im Wesentlichen medizinisch orientierten Sammelband, in dem Schwarz versuchte, die neueren Erkenntnisse der medizinischen Forschung in ihrer Bedeutung für die Psychotherapie darzulegen. Im Verlauf der Debatte kam es zu heftigen Angriffen gegen Schwarz und Allers. Oswald Schwarz (31. 10. 1883– 14. 10. 1949) war Privatdozent für Urologie an der Wiener Universität, 83

ein anerkannter Wissenschaftler, ein Pionier der Psychosomatik. Sein Hauptwerk »Medizinische Anthropologie« brachte er nach der Trennung von Adler 1929 heraus. Nach seiner Emigration im Jahr 1938 schloss er sich der Humanistischen Psychologie im Kreis um Abraham, Maslow und Rogers an. Rudolf Allers (13. 1. 1883–14. 12. 1963) war in seiner Eigenschaft als Psychiater und Philosoph Privatdozent an der Wiener Universität und bis zu der Montagssitzung vom 9. Mai ein bedeutender Mitarbeiter Alfred Adlers. Von 1926 bis zu seinem Austritt war er stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Individualpsychologie. Allers war ein überzeugter Katholik. Zwischen Allers und Wexberg hatte sich 1926 ein wissenschaftlicher Streit entwickelt, der in der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« ausgetragen wurde. Wexberg (1925b) hatte am 9. 12. 1924 im Verein für Psychopathologie und angewandte Psychologie einen Vortrag »Zur Psychopathologie der Weltanschauungen« gehalten, in dem er darstellte, dass auch Weltanschauungen als Mittel zur Sicherung des neurotischen Lebensstils genutzt werden können. Er belegte dies am Beispiel eines Pessimisten. Allers (1926) entgegnete, die Psychologie sei nicht berufen, Weltanschauungen zu kritisieren. Wexberg (1926j) wiederum reagierte kurz, aber prägnant mit dem Hinweis darauf, dass seine Kritik sich in keiner Weise gegen den philosophischen Pessimismus wende, sondern gegen den persönlich motivierten Missbrauch von Reue, Schuld und Buße und gegen zweifelhafte religiöse Bekehrungen im Dienste der Seelsorge. Über den Wahrheitsgehalt von Religionen habe er kein Wort verloren. Nach seiner Trennung von Adler 1927 und der späteren Emigration erhielt Allers 1948 eine Professur für Philosophie in Washington. Hoffmann (1997) berichtet in seiner Adler-Biographie anschaulich über den Verlauf der öffentlichen Sitzung des Wiener Vereins für Individualpsychologie am Montag, den 9. 5. 1927. Allerdings weist Klingberg (2002) in einer Anmerkung darauf hin, dass Hoffmann diese schicksalhafte Sitzung fälschlicherweise auf das Jahr 1925 datierte. Hoffmann folgte in seinen Angaben dem Kapitel »Break with the pedants« in »Alfred Adler. A portrait from life« von Phillis Bottome (1957), den er nahezu wörtlich wiedergab und seine Ungenauigkeiten in Bezug auf das Datum und die Rolle Frankls übernahm. Lesenswert ist dieser Bericht trotzdem:

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Wie sich einige Beteiligte nach fast fünfzehn Jahren erinnerten, wurde ein kurz zuvor veröffentlichtes Buch über die Psychopathologie von Oswald Schwarz, der als angesehener Arzt Mitglied in Adlers Kreis war, zum Auslöser des Bruchs. Einige jüngere Persönlichkeiten der Gesellschaft, mit einer geheimen Tagesordnung gerüstet, baten Schwarz höflich, auf der nächsten Versammlung sein neues Werk vorzustellen. Als er dieser Aufforderung arglos nachkam, sah er sich plötzlich von den jüngeren, politisch orientierten Adlerianern als Reaktionär angegriffen. Zunächst verteidigte sich Schwarz, aber dann übte er scharfe Kritik an dieser jüngeren, von Manès Sperber und Viktor Frankl angeführten Clique. Der Psychiater Rudolf Allers schloß sich der Kritik von Schwarz an, wobei er von vorbereiteten Notizen ablas. Im selben Augenblick sprang der zwanzigjährige Sperber verärgert auf und zerfetzte Allers Papier. Allers reagierte mit ruhiger Gelassenheit auf Sperbers unreifes Verhalten und wandte sich dann an Adler, von dem er eine Verteidigung für sich erwartete. Zur Überraschung und zum Entsetzen der ganzen Gesellschaft stand Adler auf und sagte: »Aber vielleicht hat der Junge ja recht!« und setzte sich ohne weiteren Kommentar abrupt wieder hin. Es folgte eine angespannte und scheinbar endlose Pause, dann verließen Allers, Schwarz und verschiedene gleich gesinnte Kollegen das Gebäude, um nie wieder zurückzukehren (Hoffmann, 1997, S. 181).

Frankls Biograph Klingberg (2002) nimmt zu dieser schicksalhaften Sitzung aus der Sicht Frankls Stellung: »Meine Lehrer Allers und Schwarz, die ich sehr bewunderte«, erinnert sich Frankl, »wandten sich gegen jeden Psychologismus und Reduktionismus und gegen die Einseitigkeit der Adlerianer. Sie drohten damit, aus der Gesellschaft auszutreten.« Die denkwürdige Sitzung fand im Jahr 1927 statt und sollte Frankl in ewiger Erinnerung bleiben. Adler selbst war anwesend, als Allers und Schwarz ihre ketzerischen Ideen erläuterten. Frankl saß unweit von Adler neben einer Dame in der ersten Reihe. Nachdem Allers und Schwarz ihre umstürzlerischen Ansichten vorgetragen hatten, verkündigten sie ihren Austritt aus der Gesellschaft und verschwanden auf Nimmerwiedersehen (Klingberg, 2002, S. 90).

Eine weitere Stellungnahme zu den Ereignissen vom 9. 5. 1927 findet sich in dem Bericht »Bei den Gründern der Individualpsychologie«:

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Sehr wichtig waren auch die Aufschlüsse, die Wexberg uns gab über die Auseinandersetzung von Allers und Schwarz mit Adler im Jahr 1927. Als Adler damals (im Juni ungefähr) aus Amerika zurückkam, habe er Allers und Schwarz aufgefordert, nochmals ihre Bedenken und Ausstellungen öffentlich vorzutragen. Bei dieser Auseinandersetzung sei Wexberg nicht dabei gewesen. Bezeichnend ist, was Adler in dieser Diskussion sagte: »Merkwürdig, alle meine Patienten verstehen, was Gemeinschaftsgefühl ist, nur die Herren Dozenten nicht!« Die Auseinandersetzung sei dann peinlich geworden, weil Manus [sic] Sperber, damals noch ein sehr heftiger und unüberlegter junger Mensch, sich heftig gegen Allers und Schwarz wandte und deren Wissenschaftlichkeit mit einer gewissen Arroganz und obenhin abtat. Der Bruch zwischen Allers/Schwarz und Adler schien somit unvermeidlich. Adler hat später diesen Angriff bedauert (Casimir et al., 1997, S. 45 f.).

Aus der Korrespondenz Wexberg–Freistadt im Mai 1927 geht hervor, dass Frankl Wexberg, der die Sommermonate in Bad Gastein verbrachte, regelmäßig über besondere Vorkommnisse im Verein für Individualpsychologie in Wien unterrichtete. Im Antwortbrief vom 12. 5. 1927 schreibt Wexberg: Lieber Frankl, ich danke Ihnen herzlichst für Ihren ausführlichen Montagsbericht, der mir umso interessanter war, als ich von Adlers Aufforderung an Schwarz, im Verein zu sprechen, und von der Annahme dieser Einladung keine Ahnung hatte (EFHAZ).

Am gleichen Tag äußert sich Wexberg gegenüber Freistadt zu Frankls Brief: Dagegen kam ein wüster Brief von Frankl. Bericht über Montag. Höchst erregt, gespickt mit Invektionen gegen Adler (»Ignorant, Intrigant, Schufterer« und dergl.). Die Montagssitzung scheint mir weniger, wie Frankl behauptet, historisch, sondern unmanierlich abgelaufen zu sein. Auch der Schwarz kann`s, wie man sieht, nicht nur mein süßer Manès Sperber. Aber hat sich bei alledem Adler nicht am anständigsten benommen? Er hat doch wenigstens niemand beschimpft (EFHAZ).

Am 25. 5. 1927 schrieb Wexberg, nachdem er einen Brief Adlers an Weinemann gelesen hatte, an Freistadt: 86

Gestern ging ich also, gleich nachdem ich Dir geschrieben hatte, ins Kaffeehaus, traf dort Weinmann und las Adlers Brief. […] Der Brief Adlers ist bitterböse, von Wut getränkt. Er bezeichnet alle Einwände, die da in den Diskussionen vorgebracht wurden, als Beschimpfungen der Ips [Individualpsychologie], darauf berechnet, sich bei den Bonzen der akademischen Psychologie lieb Kind zu machen. Paul Lazarsfeld gebe sich der trügerischen Hoffnung hin, bei Bühler die Dozentur zu ergattern. Die albernen Fragen nach dem Begriff des Gemeinschaftsgefühls und des Minderwertigkeitsgefühls hätten doch schon längst die Fragenden selbst beantworten können. Sogar der gute alte Oppenheim wird in den Kreis der Feinde einbezogen. Mir wird der Vorwurf gemacht, dass ich nicht nach Amerika fahren will, und dabei werde ich mit Allers zusammen genannt,(Wexberg,Allers usw.),sodass die feindselige Tendenz ganz klar ist. Allers habe gesagt, er sei Akademiker, und deshalb müsse er austreten (was er doch bestimmt nicht gesagt hat. Oder doch?). Gegen Weinmann, Kronfeld u. a. richtet sich ohne Namensnennung der Vorwurf, dass man um Kongressreferenten betteln müsse. Kurz, es bleibt kein Hühnchen ungerupft. […] Ihr habt bei den Diskussionen den Fehler gemacht, ihn nicht zu schonen. Wäre ich dagewesen, so hätte ich bedingungslos seine Partei ergriffen. […] Wer hat etwas davon, wenn er hört, was er nicht hören will? Die Schwarz-Diskussion hätte wie das Hornberger Schießen ablaufen müssen, und Adler wäre strahlend in den Siller gekommen und hätte zu seinen Getreuen gesagt: »Was, dem Schwarz und dem Allers, denen hammens’ zeigt, diesen Trotteln?!« Unsere Einwendungen und Formulierungen hätten wir dann ganz ungestört und viel fruchtbarer im kleinen Kreis, in Adlers Abwesenheit, vorbringen können (EFHAZ).

Dr. phil (Mathematik) Paul Lazarsfeld (13. 2. 1901–30. 8. 1976) war der Sohn der überzeugten Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld. Nach den Ereignissen im Zusammenhang mit der Montagssitzung wurde er tatsächlich Mitglied des Psychologischen Instituts der Universität Wien und Assistent von Karl Bühler. Lazarsfeld emigrierte 1933 in die USA und war in seinen letzten Lebensjahren Professor der Soziologie an der Universität Pittsburgh. Am 26. 5. 1927 schrieb Adler einen freundlichen Brief an Wexberg; er benutzte aber versehentlich ein falsches Datum, den 26. 5. 1926: Lieber Wexberg, Du hast wohl den Brief Weinmanns erhalten und daraus meine Stellung zum Kongress ersehen, die so ziemlich mit der Deinen übereinstimmt. In der Tat fand ich im Verein eine feindliche Stimmung, durch

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nichts motiviert als durch Ressentiment. Ich würde wünschen, dass es Seif besser anstellt als ich, um nicht die gleiche Erfahrung zu machen. Freilich könnte es auch sein, dass das ein spezifisches »Wiener« Gewächs ist. Was das Sachliche betrifft, so war der Vortrag Schwarz höchstens eine Schülerarbeit, die der Korrektur bedurfte. Die hat er ja auch erfahren. Wenn Einzelne mit ihm zu scharf ins Gericht gingen, so war er vielleicht weniger schuld als z. B. Frankl, der die von mir schon lange vorausgesagte Fahnenflucht mit imbeziller Einfachheit bewerkstelligte. Immerhin war der Eindruck unverkennbar, dass wir einigen bereits zu stark erscheinen. Ich glaube, wir haben durch den Austritt Schwarz und Allers und durch die Kaltstellung weniger anderer nur gewonnen. Lazarsfeld brockte sich gerechterweise eine böse Suppe ein. Er sprach sichtlich zu unseren Ungunsten und zu Gunsten der Universitätspsychologie. Bühler war anwesend. Schwarz und Allers liefen ihm darin so sehr den Rang ab, dass er schließlich als gefährlicher Feind der Schulpsychologie dastand. Das Ganze war zum Schießen (Anhang, S. 182).

Am 29. 5. 1927 schrieb Wexberg an Else Freistadt und bezog sich dabei auf Adlers Brief vom 26. 5. 1927: Gestern ein Brief von Adler. Plötzlich sagt er »Du« zu mir. Ich darf, wenn sonst nichts, daraus schließen, dass er Vertrauen zu mir hat (soweit er überhaupt Vertrauen haben kann). Frankl kommt in dem Brief schlecht weg. Ich wollte, er machte es wieder gut. Am besten, man tut, als ob nichts gewesen wäre, und macht weiter mit. Adler vergisst dann wieder (EFHAZ).

Wexberg glaubte zu diesem Zeitpunkt immer noch, dass sich die Unstimmigkeiten wieder bereinigen lassen würden, und überschätzte dabei seinen Einfluss völlig. Im Brief vom 31. 5. 1927 heißt es: Heute kam ein recht demütiger Brief von Frankl. Er bedauert offenbar den Bruch mit Adler und wird mir vermutlich dankbar sein, wenn’s mir gelingen sollte, die Sache wieder einzulenken. Ich will das in Salzburg [Vorbereitung des Kongresses im September] versuchen. Er kann natürlich nicht hinkommen (EFHAZ).

Am 25. 11. 1927 nahm Wexberg noch einmal Bezug auf Frankl: Im Siller soll er mich lieber nicht besuchen mit Rücksicht auf Adler, nicht auf mich. Ich habe mich natürlich nicht gescheut, in Anwesenheit Adlers

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mit ihm zu reden, aber Adler hat es als schweren Affront empfunden. Also schonen wir den Alten (EFHAZ).

Frankl hat sich später in dem Sammelband »Psychotherapie in Selbstdarstellungen« zu der damaligen Situation geäußert: Nur wenige unter den Individualpsychologen hielten mir, wenn schon nicht wissenschaftlich, so doch wenigstens menschlich die Treue, und dankbar gedenke ich in diesem Zusammenhang des so früh dahingegangenen Erwin Wexberg, Rudolf Dreikurs, und last but not least Adlers Tochter Alexandra (Frankl, 1973, S. 187).

Zu Beginn der 1930er Jahre kam es dann auch zu einer Trennung Adlers von Fritz Künkel. Über Wexbergs Beziehung zu Künkel ist wenig bekannt. Künkel war wie Wexberg Psychiater und um diese Zeit in Berlin tätig. Wie Bruder-Bezzel (1991) in ihrer Darstellung der Geschichte der Individualpsychologie feststellt, war Künkel einer der bekanntesten, produktivsten und einflussreichsten Individualpsychologen der 1920er und 1930er Jahre. Auf der Grundlage der Individualpsychologie suchte er früh, zu originellen eigenen Stellungnahmen zu psychiatrischen Problemen zu finden, und schuf so eine Reihe von neuen Begriffen, wie zum Beispiel »Sachlichkeit«, »Dressat«, »Umfinalisierung« und »Ichhaftigkeit«, die teils als Bereicherung angesehen wurden, teils aber wegen ihrer Nähe zu religiösen Auffassungen Unbehagen und Ablehnung unter namhaften Individualpsychologen hervorriefen. Bereits sein erstes größeres Werk »Einführung in die Charakterkunde« (1928a) führte innerhalb der Individualpsychologie zu heftigen Debatten. Wexberg (1928c) schrieb im Jahr des Erscheinens einen ausführlichen Kommentar zu diesem Buch. Besonders Künkels Gleichsetzung der Finalität mit dem Begriff »Ichhaftigkeit« und die Einführung des Begriffs »Infinale«, der einer von außen auf den Menschen einwirkenden Teleologie entsprach, verursachte Wexbergs Widerspruch. Wexberg sah in den Kategorien des Infinalen metaphysische, religiöse Begriffe, die ins Unwissenschaftliche abzugleiten drohten. Trotz dieser kritischen Bemerkungen zu Künkels Buch äußerte sich Wexberg, und dies weist auf sein sachliches, zum Objektiven neigendes Denken hin, ausgesprochen positiv zu Künkels Werk. Er halte diese Arbeit für eine der wertvollsten individualpsychologischen Publikationen über89

haupt. Die grundgescheite, hellsichtige Betrachtung menschlichen Tuns und Leidens, die jede seiner Krankengeschichten auszeichne, und die überaus glückliche Einführung vieler neuer Formulierungen seien eine Bereicherung der Individualpsychologie. Die Kritik gelte allein dem Religionsphilosophen Künkel.

Internationale Kongresse In jenen Maitagen des Jahres 1927, in denen alle Mitglieder des Wiener Vereins für Individualpsychologie durch die Auseinandersetzungen mit Schwarz, Allers und Frankl beunruhigt waren, sollte auch der IV. Internationale Kongress der Individualpsychologie im September 1927 in Wien organisiert werden. Diesen wollte Adler zunächst aufgrund der schlechten Stimmung im Verein absagen. Vor allem war er darüber enttäuscht, dass sich zu wenige prominente Individualpsychologen zu einer Vortragstätigkeit bereit fanden. Nowotny und Wexberg schlugen aus diesem Grund ein Arbeitstreffen zu Pfingsten (4. Juni) in Salzburg vor, mit dem Ziel, hier den geplanten Kongress vorzubereiten. Wexbergs Haltung gegenüber Adler wirkt nach den Ereignissen der Montagssitzung ambivalent. Wie Schwarz, Allers und Frankl kritisierte auch er Adlers kompromisslose Einstellung gegenüber der akademischen Psychologie. Er sah darin aber keinen Grund für eine Trennung und versuchte alles zu tun, um wieder Einigkeit herzustellen. Am 25. 5. 1927 schrieb Wexberg an Freistadt: Nun, Weinmann und ich werden in Salzburg nach Kräften wieder gutmachen. Die Absage an den Kongress hält er ohnehin nicht aufrecht. Nun werde ich mich bemühen, ihm zu zeigen, dass es nicht darum geht, sich mit der akademischen Psychologie zu verständigen, sondern, sie, die ohnehin schon in allen Fugen kracht, zu erobern, ihr den Gnadenstoß zu versetzen, mit fliegenden Fahnen in ihre Positionen einzurücken – wie bezeichnend sind für Adlers Mentalität diese militanten Metaphern, die er so liebt (EFHAZ).

Voller Vertrauen in seine eigene Überzeugungskraft führt Wexberg im Brief an Freistadt vom 27. 5. 1927 aus: 90

Ein deprimierter Brief von Nowotny. Zur Sitzung des Kongresskomitees am Dienstag ist außer ihm und Oppenheim niemand erschienen. Adlers wütender Defaitismus steckt alle an. Ich will den Kongress nicht fallen lassen. Ich möchte für Montag ein Schreiben an den Verein senden, eine Art Manifest (»Seid einig! Einig! Einig!«), das verlesen werden soll. Dann möchte ich ohne Formalitäten zum Kongresskomitee kooptieren lassen, die ein bisschen g’schaftelhuberisch bei der Sache sind – natürlich, Du hast’s erraten: die Lazarsfeld. Daneben etwa die Löwy. Frankl wär auch nicht schlecht. Aber er wird nicht wollen (EFHAZ).

Im folgenden Dienstagsbrief wirkte Wexberg resigniert und ernüchtert, gekränkt: Dieses Manuskript, das wir auf der Heimfahrt von Gastein teilweise zusammen gelesen haben, hab ich vorletzten Mittwoch bei Adler vorgelesen. Vor einer Galerie von Haubenstöcken [?], Oppenheim und Adler ausgenommen. Oppenheim war erschüttert, fanatisiert. Adler lehnte höflich ab, dürfte später, ich schließe das aus den ungeschminkten Urteilen anderer, der Haubenstöcke, die mir zugetragen wurden, kräftig über mich gespottet haben (EFHAZ).

Leider ist dieser seltene Text verloren gegangen. Warum mag Wexberg davon ausgegangen sein, dass Adler ihn verspottet habe, nachdem er an diesem Mittwoch im Kreis der Individualpsychologen ein Plädoyer für die Einigkeit mit für ihn ungewöhnlicher emotionaler Beteiligung vorgetragen hatte? Wexberg hatte sich den Ruf erworben, ein kühler, kontrollierter, rationaler Redner zu sein. Hier war er einmal aus sich herausgegangen, er hatte die sich selbst gesetzte Grenze überschritten. Vom 17.–19. 4. 1926 war in Baden-Baden der erste Allgemeine Ärztliche Kongress für Psychotherapie abgehalten worden. BruderBezzel (1991) hat in ihrem Buch »Die Geschichte der Individualpsychologie« dem Thema »Individualpsychologie im Kreis der ärztlichen Psychotherapeuten« ein Unterkapitel gewidmet. Sie stellt fest, dass die Individualpsychologie in den 1920er Jahren in der Ärzteschaft als zweite große Schule der Tiefenpsychologie zunehmend Anerkennung gewann. Dem einladenden Komitee gehörten auch Adler, Seif, Künkel und Wexberg an. Seif referierte über »Psychotherapie und Kurpfuscherei« und Allers über »Psychotherapie und Psychologie«. 91

Der zweite Kongress erfolgte im April 1927 in Bad Nauheim. Die Individualpsychologie war hier durch Referate und Diskussionen von Künkel, Weinmann, Homburger und Allers vertreten. Der IV. Internationale Kongress für Individualpsychologie, der in Salzburg vorbereitet wurde, fand vom 16.–19. 9. 1927 in Wien statt. Dr. Karl Lenzberg berichtete über diesen Kongress in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie«. Die vorangegangenen Auseinandersetzungen im Verein für Individualpsychologie fanden keinerlei Erwähnung: Das Problem der Psychosen und der Kriminalität war das Hauptthema des diesjährigen vierten internationalen Kongresses für Individualpsychologie, der zum ersten Male in Wien, der Geburtsstätte der Individualpsychologie, tagte und so, in Erfüllung eines schon lange gehegten Wunsches der Wiener Sektion, seine spezifische Atmosphäre erhielt (Lenzberg, 1927, S. 467).

Eine besondere Bedeutung für das Bild der Individualpsychologie in der Fachwelt stellte der III. Allgemeine Ärztliche Kongress für Psychotherapie vom 20.–22. 4. 1928 in Baden-Baden dar. Nachdem im Jahr davor die Psychoanalyse eingehend zu Wort gekommen war, sollte diesmal am ersten Kongresstag, dem 20. 4. 1928, die Lehre Adlers im Mittelpunkt stehen. Der 21. 4. war neueren Forschungsergebnissen der Charakterkunde gewidmet und der 22. 4. der experimentellen Psychologie. Zu dem Thema »Charakterkunde« referierten u. a. Rudolf Allers, der ja inzwischen aus dem Verein für Individualpsychologie ausgetreten war, und der bekannte Charakterologe Ludwig Klages zu dem Thema »Die Triebe und der Wille«. Alexander Neuer berichtete in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie«: Dieser Kongreß ist für die Individualpsychologie deshalb wichtig gewesen, weil der erste Tag der Individualpsychologie gewidmet war. Unsere Wortführer waren Seif, Wexberg, Künkel, die die Hauptreferate des ersten Vormittags ausfüllten, denen sich dann am ersten Nachmittag die Vorträge von Weinmann, Neuer und Lenzberg anschlossen (Neuer, 1928, S. 325).

Adler war durch eine Vortragsreise in Amerika verhindert. Seif referierte über »Individualpsychologie und Psychotherapie«, Wexberg (1928a) über »Alfred Adlers Lehre von der Organminderwertigkeit in ihrer Bedeutung für die innere Medizin« und Künkel über »Der Heilprozess in der Theorie und Praxis der Individualpsychologie«. Als 92

Gegenreferenten der anderen Schulrichtung sprachen die Psychoanalytiker Schultz-Hencke und Paul Schilder. Schultz-Hencke betonte zwar, dass es letzten Endes die gleichen psychischen Vorgänge seien, die sowohl dem Psychoanalytiker wie auch dem Individualpsychologen in der Praxis begegnen würden und dass die Formulierungen beider Schulen nur die unterschiedlichen Sichtweisen mit einer anderen Akzentverteilung ausdrücken würden, er vertrat aber die Auffassung, dass die Psychoanalyse tiefer in die menschliche Seele vordringen könne und die Individualpsychologie nur einen begrenzten Ausschnitt aus der umfassenderen Psychoanalyse darstelle. Paul Schilder stellte in Form einer Übersicht sieben Bereiche innerhalb der individualpsychologischen Lehre heraus, die vom psychoanalytischen Standpunkt aus problematisch seien: Das Prinzip des »Willens zur Macht« sei zu sehr generalisiert, das Gemeinschaftsgefühl sei inhaltlich zu wenig bestimmt und die Besonderheit des Einzelschicksals werde zu sehr vernachlässigt, ebenso kämen die menschlichen Entwicklungsstufen nicht genügend zur Geltung. Nach seiner Auffassung werde das Konstitutionsproblem unterschätzt und die konstitutionelle (nicht kompensatorische) Überwertigkeit von Organen werde übersehen. Schließlich sei ohne den Triebbegriff die Einwirkung seelischer Haltungen auf den Körper nicht verständlich zu machen (Künkel, 1928b). Während die Vorträge von Schultz-Hencke und Schilder einen letzten Endes doch versöhnlichen Ton in ihrer Beurteilung der Individualpsychologie anschlugen, überwogen in den Diskussionsbeiträgen der Psychoanalytiker die kritischen Stellungsnahmen. Der Individualpsychologie wurden eine »Schematisierung ihrer Begriffe« und die »Erstarrung individualpsychologischer Begriffe zu gangbarer Alltagsmünze« vorgeworfen. Frieda Fromm-Reichmann sah in der Individualpsychologie eine statische Betrachtungsweise im Gegensatz zu Freuds dynamischer Sicht, und von Hattingberg schuf die einprägsame Kurzformel für die Individualpsychologie als einer »Psychologie für Oberlehrer«. Das Schlusswort für die Individualpsychologie mit dem Titel »Die Einwände gegen die Individualpsychologie« sprach Wexberg (1928b). Ihm hatten alle Individualpsychologen ihre Redezeit übertragen. Er ging auf die Argumente der Psychoanalytiker im Einzelnen ein und grenzte sich gegen die Interpretationen der psychoanalytischen Schule souverän ab. Wexberg wies den Psychoanalytikern schwerwiegende Missverständnisse in ihrer Argumentation nach. Schilder greife die 93

individualpsychologischen Standpunkte von der Plattform der psychoanalytischen Trieblehre aus an, so werde es schwer, sich zu verständigen. Schultz-Hencke habe Unrecht, wenn er behaupte, dass die individualpsychologischen Befunde bereits in der umfassenderen Psychoanalyse enthalten seien. Wexberg verdeutlichte, dass die Individualpsychologie eine eigenständige Schule mit eigenen Schwerpunkten sei, und distanzierte sich von dem Versuch einer Vereinnahmung durch die Vertreter der Psychoanalyse: Während Schilder die Individualpsychologie durch Negation bekämpft, will Schultz-Hencke sie durch Zustimmung umbringen (Wexberg, 1928b).

Wenn Barbara Hug (1991) in ihrer Rezension der Schriften Wexbergs »Zur Entwicklung der Individualpsychologie und andere Schriften« diese als Juwelen aus der Schatztruhe der Individualpsychologie bezeichnet, so trifft diese Würdigung in besonderem Maße auf Wexbergs Vortrag zu. Wexberg war im Anschluss an diesen Kongress trotz der darin zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Vorstellungen zwischen Individualpsychologen und Psychoanalytikern der Auffassung, dass weitere Gespräche und ein offener Wettbewerb und Austausch um die bessere Lösung der einzige richtige Weg sei, um die Wissenschaft für die Menschen voranzubringen. Adler hat er etwas später geschrieben: Denn ich glaube noch immer, dass uns mit den besseren Psychoanalytikern, z. B. mit Freud, der gemeinsame Wille verbindet, auf gleichen und benachbarten Gebieten den kleinsten Irrtum zu finden« (Brief von Wexberg an Adler, 29. 8. 1928, Anhang, S.187).

Er fand in dieser seiner ureigensten Meinung keine Zustimmung von seinem Mentor.

Die Beziehung zu Adler in Briefen (1927–1933) Schon vor den Auseinandersetzungen innerhalb der Individualpsychologie, die im Mai 1927 zu dem Austritt von Allers, Schwarz und 94

Frankl führten, befürchtete Wexberg, dass seine Arbeiten im neurologisch-psychiatrischen Bereich, insbesondere seine Forschungen zum Thema »Angst«, zu Konflikten mit Adler führen könnten. Er glaubte, bei Adler eine zunehmende Ablehnung der akademischen Psychologie wahrzunehmen und versuchte bereits 1925 mit Argumenten gegenzusteuern und für sein eigenes Wissenschaftsverständnis zu werben. So formulierte er zum Schluss seines Vortrags über »Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl«: Der Zweck meiner Ausführungen bestand hauptsächlich darin, die neueren Ergebnisse pathophysiologischer Forschung, soweit sie das Neurosenproblem betreffen, in die individualpsychologische Theorie und Praxis einzufügen. Daß es hierzu keiner Modifikation unserer Anschauungen bedarf, daß vielmehr die individualpsychologische Lehre, insbesondere was die Organminderwertigkeit und ihre seelischen Folgeerscheinungen anbelangt, durch die erwähnten Befunde bestätigt und bestärkt wird, glaube ich gezeigt zu haben (Wexberg, 1926e, S. 182).

In seinem Kurzreferat anlässlich des 3. Allgemeinen ärztlichen Kongresses in Baden-Baden mit dem Thema »Alfred Adlers Lehre von der Organminderwertigkeit in ihrer Bedeutung für die innere Medizin« bedauert Wexberg Adlers Vernachlässigung seiner frühen Forschungen: Hätte sich Adler nicht später den ihm wichtiger erscheinenden Aufgaben der Psychologie zugewandt, so wäre seine Theorie, die eigentlich ein Fragment geblieben ist, vielleicht grundlegend und richtunggebend für die gesamte moderne Konstitutionsforschung geworden. Heute müssen wir uns damit begnügen, zu zeigen, wie sehr trotz allem die heutige Konstitutionsforschung unter Adlers direktem oder indirektem Einfluß steht, ohne es zu wissen, und wie sich in den genialen Einfällen der Studie [Studie über Minderwertigkeit von Organen, 1907] noch manche unverwertete und doch fruchtbare Anregung finden mag, die man später einmal aufgreifen und mit dem Rüstzeug moderner Tatsachenforschung belegen mag (Wexberg, 1928a, S. 206).

Auch später wird Wexberg nicht müde zu betonen, dass es ihm um eine Integration der neueren medizinischen Forschungsergebnisse in die Theorie der Individualpsychologie geht; er will nicht trennen, sondern verbinden. Gleichzeitig aber verstärkt sich in den kommenden Jahren, 95

wie aus vielen Briefen an Freistadt hervorgeht, seine ambivalente Haltung gegenüber Adler. Er selbst führt dies in einem dieser Briefe auch auf die Unterschiedlichkeit beider Charaktere zurück: Adler, der dynamische Beziehungsmensch voller Emotionalität und Vitalität, er selbst der Verstandesmensch, Stilist, distanziert, unterkühlt, aber auch präzise in allen seinen Äußerungen. Er ist sich der vorbehaltslosen Zustimmung Adlers nicht mehr sicher. Im Briefaustausch zwischen Adler und Wexberg klingen zu dieser Zeit noch keine Unstimmigkeiten an. Adler war sicher bemüht, diesen wertvollen Mitarbeiter zu halten, besonders weil er seine Kräfte nun ganz auf die Aufgabe der Verbreitung der individualpsychologischen Ideen in den USA konzentrieren wollte. Wexberg bemühte sich seinerseits, im Kreis um Adler weiterhin aktiv und gestaltend mitzuwirken. Hoffman erwähnt in seiner Adler-Biographie, dass Adler 1926 seinen ersten Besuch in den Vereinigten Staaten machte und dort bis zum Frühjahr 1927 blieb. Am 4. 3. 1927, noch vor den Auseinandersetzungen mit Schwarz und Allers, schrieb Adler aus dem Hotel Gibson, Cincinnati, an Wexberg: Lieber Wexberg, vielen Dank für Ihren Brief und die erfreulichen Mitteilungen. Ganz Amerika dröhnt von den Erschütterungen, in die es durch die Individualpsychologie versetzt wurde. Die Freudianer haben von uns solche Stöße erhalten, dass sie sich kaum werden erholen können. Man diskutiert lebhaft, mich für 3 Monate an eine Universität einzuladen. Ich möchte Ihnen gerne den Vortritt lassen (Anhang, S. 180).

Zu dem Vorschlag Adlers an Wexberg, nach Amerika zu kommen, nimmt dieser in seinem Brief vom 25. 5. 1927 an Freistadt Stellung: Was die Amerikareise anbelangt, so habe ich erst jetzt von Weinmann erfahren, dass Seif ohne jede greifbare Zusage ganz auf eigenes Risiko gefahren ist mit 2000 M in der Brieftasche. Er äußerte bei der Abreise die Besorgnis, »hoffentlich werde es kein (wirtschaftliches) Fiasko sein«. Adler selbst, der doch vermöge seines Namens nichts riskiert hat, äußerte sich, goldene Berge seien drüben nicht zu holen (EFHAZ).

Wirklich entscheidend für die Störung in der Beziehung zu Adler scheinen die Vorkommnisse in jener denkwürdigen Montagssitzung am 9. 5. 1927 zu sein, in der Schwarz und Allers den Kreis um Adler 96

unter Protest verließen und in deren weiteren Verlauf Frankl ausgeschlossen wurde. Es mag sein, dass Adler diese Klärung für notwendig hielt, um seine Energien ganz seiner neuen Aufgabe, der Verbreitung der Individualpsychologie in Amerika, widmen zu können. Hoffman hat sicher Recht, wenn er schreibt: Selbst wenn andere herausragende Gelehrte wie Oppenheim und Wexberg weiterhin in Adlers Zeitschrift veröffentlichten, würden sie sich ihrem Mentor doch nie mehr so verbunden fühlen (Hoffmann, 1997, S. 182).

Wexberg, der ähnlich wie Schwarz und Allers zur akademischen Psychologie eine positive Einstellung hatte, spürte, dass seine neurologisch-psychiatrischen Forschungsinteressen ihn in Gegensatz zu den vorherrschenden Auffassungen führender Individualpsychologen brachten. Er war davon überzeugt, dass seine Beschäftigung mit dem Thema »Angst« von Adler nicht akzeptiert werden könne. Am 25. 5. 1927, kurz nach der Montagssitzung, schrieb er an Freistadt: Wenn er meine Arbeiten über die Angst oder meine Handbucharbeit gelesen hätte, hätte er mich schon längst als Idioten abgetan, das heißt, er wäre mit mir persönlich weiter freundlich gewesen, aber dritten Leuten gegenüber hätte er sich wie im vergangenen Herbst in Düsseldorf mir gegenüber über den braven Stockholmer Bjerre geäußert: »Der Wexberg? Sie wissen doch: Das ist ein Idiot!« Dass er solches oder Ähnliches schon vor zwei Jahren beim Berliner Kongress sagte, als ich über die Angst sprach, davon bin ich vollkommen überzeugt (EFHAZ).

Es handelt sich um den Vortrag Wexbergs anlässlich des 2. Internationalen Kongresses der Individualpsychologie vom 5.–7. 9. 1925 in Berlin mit dem Titel »Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl«, den Wexberg wenige Tage nach seinem richtungweisenden Vortrag »Die Angst als Kernproblem der Neurose« während der Jahresversammlung der Deutschen Nervenärzte in Kassel gehalten hatte. Wenige Tage nach diesem Brief formulierte er am 29. 5. 1927 in Hinsicht auf seine Arbeit über Depressionszustände, dass Adler, wenn er diesen Text lesen würde, ihn auf der Stelle zu den Abtrünnigen zählen und »kaltstellen« würde, denn es sei in ihm mehr von konstitutionellen und somatischen Momenten die Rede als von Psychologie. Ähnlich beurteilte er seine Texte zu dem Thema »Angst«. Er 97

verwies auf Schwarz und Allers, die, wie er in Klammern bemerkte, in der Sache ja vollkommen Recht hätten. Entsprechend äußert sich Wexberg in seinem Brief an Frankl vom 12. 5. 1927: Meritorisch3 stimme ich mit Schwarz vielfach überein. Die Grundfrage ob »direkte Beeinflussungen des Psychischen vom Köper aus möglich seien« ist meines Erachtens ein Scheinproblem. Man kann »Psychisch« mit »Final«, »Personal« identifizieren, dann ist die Antwort selbstverständlich »Nein«. Man kann aber auch das somatische Substrat, soweit es als Material ins Psychische eingeht (Hirnfunktion, endokrine Drüsenfunktion, vasovegetatives System), in den Begriff des Psychischen einbeziehen, dann lautet die Antwort ebenso selbstverständlich »Ja«. Im Einzelfall kann gewiss die Frage ernsthaft der Entscheidung unterliegen. Da ergibt sich dann der Grundsatz: Was nicht erweisbar somatogen ist, unterliegt der finalen Interpretation. Stimmt’s? (EFHAZ).

In den zwischen dem Frühjahr 1927 und dem Frühjahr 1928 an Freistadt gerichteten Briefen äußerte sich Wexberg häufig sehr kritisch zur Person Adlers. Er nahm Anstoß an dessen mangelnder Wissenschaftlichkeit in seinen Schriften sowie an Adlers unnachgiebiger Ablehnung der akademischen Psychologie und kritisierte Adlers kämpferischen Ton im Umgang mit seinen Gegnern, insbesondere mit Freud – Zeichen einer fortschreitenden Ablösung und Eigenständigkeit. Dem Briefwechsel Wexbergs mit Adler in der Zeit von 1927 bis 1932 kann man entnehmen, dass sich Wexbergs Einstellung zu Freud wesentlich von Adlers Haltung gegenüber Freud und der Psychoanalyse unterschied. Wexberg blieb Zeit seines Lebens der Idee, die 1912 zur Gründung des Vereins für Freie Psychoanalytische Forschung führte, treu. Er lehnte Dogmatismus in der Wissenschaft ab. Der aktuelle Erkenntnisstand war für ihn nur ein Durchgangsstadium zu weiterführenden Forschungen. Es war für ihn selbstverständlich, neuere Forschungsergebnisse anderer Schulrichtungen zur Kenntnis zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Erst in den 1970er Jahren wird diese vorurteilsfreie wissenschaftliche Einstellung von führenden Individualpsychologen wieder aufgenommen werden. Lehmkuhl spricht in seinem Vorwort zu dem 1991 von ihm herausgegebenen Sammelband »Erwin Wexberg. Zur 3

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Im österreichischen Sprachgebrauch »sachlich«.

Entwicklung der Individualpsychologie« den 16. Internationalen Kongress für Individualpsychologie 1976 in Montreal an, in dem Schmidt über neuere Entwicklungen der Individualpsychologie im deutschsprachigen Raum berichtete: Die Feststellung Schmidts, »die Individualpsychologie ist eine tiefenpsychologische Schule in der Tradition der Psychoanalyse«, bezieht sich neben der hier skizzierten historischen Ableitung auf die Situation, dass sich viele europäische Individualpsychologen zum Kreis derer zählen, die ebenso von Adler wie von Freud lernen, aber auch beide kritisieren und ihre Ansätze fortführen wollen (Huttanus, 1986). Man kann diese Beschreibung uneingeschränkt auf Wexbergs Wissenschaftsverständnis, wie er es zeitlich wesentlich früher in Briefen und Schriften offen legte, übertragen. Der nächste von Adler an Wexberg gerichtete Brief, datiert vom 21. 4. 1928, wurde in dem Hotel Cleveland geschrieben und bezieht sich im Wesentlichen auf Wexbergs im Februar 1928 neu erschienenes Buch »Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung«: Lieber Wexberg, besten Dank für das Buch, das ich auf dem Heimweg genießen will. […] In der Einleitung Ihres Buches finde ich die Bemerkung »Adler, Schüler Freuds«. Es dürfte Ihnen entgangen sein, dass diese Wendung von den Freudianern als Rettungsseil benutzt wird. Zur Feststellung des Tatbestandes: Ich bin nicht in größerem Maße ein Schüler Freuds gewesen als alle, die ihn und seine Schriften gelesen oder gekannt haben und gewisse Teile ganz, andere teilweise als richtig angesehen haben, vieles Grundsätzliche aber abgelehnt haben. Insbesondere habe ich nie eine »Vorlesung« von ihm gehört, wurde nie wie alle wirklichen Schüler Freuds analysiert und habe nie bei ihm studiert. Ich werde natürlich immer darauf bestehen, nicht als Schüler Freuds angesehen zu werden. Weiß aber, dass der Begriff »Schüler« sehr dehnbar ist (Anhang, S. 184 f.).

Wexberg (1928b) hatte in der Einleitung seines Werks »Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung« geschrieben: »Vom Standpunkt der historischen Entwicklung aus gesehen, knüpft Adler, einer der ältesten Schüler und Mitarbeiter Freuds, nur an die Psychoanalyse an.« Der Antwortbrief Wexbergs ist verloren gegangen. Es entwickelte sich nun eine Diskussion über die Frage »War Adler ein Schüler Freuds?«, in deren Verlauf Wexberg klar und offen seine Vorbehalte gegenüber Adlers Auffassung ansprach. Adler erwiderte am 28. 8. 1928: 99

Lieber Wexberg, erst heute fiel mir Ihr Brief in die Hände, in dem Sie mich überzeugen wollen, dass ich wirklich ein Schüler Freuds sei. Ich […] offerierte den Freudianern eine Triebpsychologie (was Federn kürzlich klagend bestätigte), die sie annahmen, aber bald wieder verwarfen, und nur den Aggressionstrieb behielten sie bei, der sich bald nicht mehr als Trieb, sondern als Beziehung erwies. So kam ich zum Streben nach Überlegenheit und zur Teleologie. Ich wehrte mich, als Freudianer zu gelten. Sie wehren sich, nicht als Individualpsychologe angesehen zu werden. […] Der Begriff »Schüler« ist dehnbar, sollte aber billigerweise mit der Zustimmung oder Ablehnung des Betreffenden verknüpft sein (Anhang, S. 186).

Wexberg hat von seinem Antwortschreiben eine Durchschrift aufbewahrt. Der Brief ist datiert vom 29. 8. 1928: Lieber Doktor Adler, vorweg will ich bemerken, dass es mir natürlich ein Leichtes sein wird, in der zweiten Auflage meines Buches, die hoffentlich in nicht allzu langer Zeit notwendig sein wird, den Passus, in welchem ich Sie als Schüler Freuds bezeichnet habe, wegzulassen (Anhang, S. 187).

In der überarbeiteten Fassung (Wexberg, 1930c) lautet der entsprechende Satz nun: »Vom Standpunkt der historischen Entwicklung aus gesehen, knüpft Adler, einer der ältesten Mitarbeiter Freuds, nur an die Psychoanalyse an.« Im Folgenden versuchte Wexberg darzustellen, dass Freuds Lehre den Gedanken von der Sinnhaftigkeit und Deutbarkeit des seelischen Geschehens über das introspektive Wissen hinaus mit der Individualpsychologie gemeinsam habe, Freuds Priorität hier aber feststehen dürfte. Er verwies dabei auf Freuds Werke »Psychopathologie des Alltagslebens« (1904) und »Traumdeutung« (1900): Aber darum bleibt doch die historische Tatsache bestehen, dass Freud – sagen wir – die Individualpsychologie vorausgeahnt und ihr einen Weg gewiesen hat, den er freilich später selbst verfehlte (Anhang, S. 187).

Wexberg war der Meinung, dass man mit den »Freudianern« diskutieren sollte, und erinnerte an den Kongress 1928 in Baden-Baden, in dem er den Schlussvortrag »Die Einwände gegen die Individualpsychologie« gehalten hatte:

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Denn ich glaube noch immer, dass uns mit den besseren Psychoanalytikern, z. B. mit Freud, der gemeinsame Wille verbindet, auf gleichen und benachbarten Gebieten den kleinsten Irrtum zu suchen. Hier unseren Standpunkt, den der Individualpsychologie, zu vertreten – nicht weil er unser Standpunkt, sondern weil er unseres Erachtens der richtigere ist – kann nur Sache der leidenschaftslosen Diskussion, nicht irgendeiner wissenschaftlichen Parteipolitik sein. Verstehen wir uns recht: Sie, lieber Doktor Adler, können es sich leisten, die Debatte wie einen persönlichen Kampf zu führen, und werden doch kaum jemals der Individualpsychologie dadurch schaden. Aber wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Führen Ihre Schüler die Diskussion in einer Weise, die auch nur einen Schimmer von Unsachlichkeit aufweist, so diskreditieren wir Sie und Ihre Lehre auf das Schwerste, machen sie vielleicht sogar lächerlich. Wir müssen wissenschaftliche Gegner gelten lassen, Forschungsergebnisse anderer Schulen berücksichtigen, sie der Individualpsychologie organisch einfügen. Sie müssen das nicht tun. Das ist nicht Taktik, sondern, soweit es uns Schüler angeht, wissenschaftlicher Takt, also Selbstverständlichkeit (Anhang, S. 188).

Am 3. 2. 1930 hielt Wexberg in der Festversammlung der Sektion Wien des Internationalen Vereins für Individualpsychologie eine Festrede anlässlich des 60. Geburtstags Adlers mit dem Titel »Alfred Adler, der Arzt«. In seinem Vortrag bezeichnete Wexberg den Tag, an dem der Begriff des Gemeinschaftsgefühls in das Zentrum des Systems rückte, als den Tag der Geburt der Individualpsychologie. Für Adler sei das Gemeinschaftsgefühl eine biologische Tatsache, kein Gebot der Nächstenliebe, überhaupt kein »Du sollst!«. Er wies auf die Bezogenheit des Individuums auf die Gemeinschaft hin. Individualpsychologie sei zugleich Sozialpsychologie. Den Schlussteil dieser Rede könnte man als ein persönliches Bekenntnis Wexbergs zur Individualpsychologie, wie er sie sah, werten: Ich glaube, daß dieser neue Weg, den Adler als Erster beschritten hat und auf dem wir ihm folgen, noch lange nicht zu Ende gegangen ist. Wir sind bei vorläufigen Formulierungen angelangt. Adler selbst war nie der Meinung, das Letzte gesagt zu haben. Er war und ist bloß überzeugt, daß er den »kleineren Irrtum« gefunden habe. Und wir ahnen, wie groß die Stufe zwischen dem kleineren und kleinsten Irrtum noch sein mag. Sie zu überwinden, ist künftigen Generationen vorbehalten, als deren Wegbereiter wir uns fühlen. Aber eben diese künftigen Geschlechter werden wissen, was heute nur ein ver-

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schwindender Bruchteil der lebenden Menschen ahnt: daß Adlers Gedanke eine kopernikanische Wendung in der Geschichte der Seelenkunde darstellt (Wexberg, 1930a, S. 236).

Am 10. 2. 1930 beantwortete Adler aus den USA Wexbergs Geburtstagsglückwünsche: Lieber Wexberg, Ihr Telegramm hat mich außerordentlich gefreut. Ich höre ja von Zeit zu Zeit, wie sehr sich der Verein unter Ihrer Leitung gehoben hat. Die Indps. [Individualpsychologie] hat Ihnen dafür zu danken. Hier ist der Kampf gegen die immer schwächer werdenden Freudianer nun im vollen Gange. Wenn der Sieg unser ist, schreibe ich wieder (Anhang, S. 189).

Liest man diesen Brief, so gewinnt man den Eindruck, dass Adler durchaus bemüht war, diesen wertvollen Mitarbeiter zu bestätigen und zu halten. Dass er während seiner Abwesenheit Wexberg die Leitung des Wiener Vereins übertragen hat, spricht auch für eine positive Grundeinstellung zu Wexberg. Casimir nimmt in seinem Bericht über die pädagogisch-psychologische Studienreise nach Wien, Berlin und Gießen in der Zeit vom 25. 2.–9. 3. 1932 ebenfalls zu Wexbergs Haltung gegenüber Adler Stellung: Trotz aller Kritik im einzelnen hält Wexberg fest an den Grundgedanken der Ips. [Individualpsychologie]. Er steht ganz unter dem Einfluß Adlers, den er außerordentlich hoch schätzt. Jedoch fühlt er sich berufen, eine Schwäche der Adlerschen Schriften auszugleichen: eine stärkere wissenschaftliche und systematische Durchdringung der Gedanken Adlers zu geben. Adler sei kein Wissenschaftler, er stünde seinen Ideen nicht objektiv kritisch gegenüber. Dabei sei er zu keiner objektiven, sachlichen Darstellung und Ausweitung seiner Ideen fähig. Er könne so auch nicht den allgemeinen Zusammenhang mit der Psychologie der Gegenwart finden. Alle Gedanken habe er originell und ohne Anschluß an eine wissenschaftliche Tradition gefunden und ausgebildet.Versuche man nämlich seine Gedanken zu systematisieren und an die Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie anzuschließen, so werde er empfindlich und abweisend (Casimir et al., 1997, S. 45).

Wenige Wochen nach diesem Besuch, in dem Wexberg sich trotz einiger Vorbehalte grundsätzlich zu Adler bekannte, kam es durch die 102

Initiative Adlers am 3. 4. 1932 zu einer Aussprache. In seinem Brief an Adler vom 4. 4. 1932 (Anhang S. 190 f.) nahm Wexberg Bezug auf dieses klärende Gespräch und bedankte sich ausdrücklich dafür. Er schlug einen weiteren Termin vor, an dem er seine Haltung zur Individualpsychologie in einem Kurzreferat vortragen wollte. Er schlug vor, an dieser Diskussion nur Dr. Dreikurs zu beteiligen. Im folgenden Text ging Wexberg in kurzer Form auf seine Vorbehalte gegenüber Adler ein. Er bat Adler, ihm zu verzeihen, dass er nach wie vor kein Verständnis für den militanten Stil der Individualpsychologie aufbringen könne. Wexberg kritisierte weiter, dass Adler (1927) seit »Menschenkenntnis« seine Bücher nicht mehr selbst schreibe, da mitgeschriebene Vorträge nie seinem Niveau als deutschem Schriftsteller entsprechen könnten. Wexberg bat um Verständnis dafür, dass die »jüngeren Individualpsychologen« sich mit den neueren Erkenntnissen der Wissenschaft auseinandersetzen müssten, um glaubhaft zu sein, und verwies auf seine Vorträge und Schriften »Neurosenwahl« und »Lebensstufen der Erotik«. Zu diesem Vortrag lud er Adler ausdrücklich ein. Wie Adler auf die in diesem Brief unverhüllt angesprochenen Vorbehalte Wexbergs reagiert hat, ist nicht überliefert. Erstaunlich ist, in welcher direkten Art Wexberg im Brief vom 4. 4. 1932 (Anhang S. 190 f.) Adler ganz persönliche Vorwürfe machte. Man könnte von einem Versuch sprechen, das Lehrer-Schüler-Verhältnis umzukehren, oder es als einen Versuch werten, die Ablösung von seinem Lehrer vorzubereiten. Ob im Anschluss an diesen Brief tatsächlich klärende Gespräche im Beisein von Dreikurs stattgefunden haben, ist ungewiss. Es erscheint auch zweifelhaft, dass es angesichts der unterschiedlichen Zielvorstellungen zu einer dauerhaften Verständigung gekommen ist. Wexberg hatte eine klare Vorstellung von einer wissenschaftlich und medizinisch orientierten Psychologie, allerdings auf der Grundlage der Individualpsychologie und im Gegensatz vielleicht zu Schwarz und Allers in völliger Übereinstimmung mit Adler, was das philosophisch-weltanschauliche Menschenbild betraf. Es mag für Wexberg schmerzhaft gewesen sein, in diesem seinem ureigensten Weg, der Verbindung von wissenschaftlich-akademischer Forschung mit der Lehre der Individualpsychologie, keine Unterstützung durch seinen Mentor Adler erfahren zu haben. Die Entwicklung der Individualpsychologie nahm in den kommenden Jahren durch die Verlagerung ihrer Schwerpunkte in die USA einen anderen Verlauf. Handlbauer beschreibt Adlers Haltung 103

in diesen Jahren: »Adlers Psychologie wurde zunehmend systemstabilisierend, konservativ und moralisch« (2004, S. 279). Hinzu kam eine persönliche Krise Wexbergs. 1927 deuteten sich Unstimmigkeiten in seiner Beziehung zu seiner Frau an, die im späteren Verlauf zu einer Trennung führen sollten. Ein weiterer Faktor, der für eine Neuorientierung sprach, war der in den frühen 1930er Jahren sich andeutende Machtgewinn des Nationalsozialismus mit allen seinen negativen Begleiterscheinungen. Die letzten drei Arbeiten, die Wexberg in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« veröffentlichte, stammen aus dem Jahr 1933: »Der Mensch in der Krise«, »Was ist wirklich eine Neurose?« und »Lebensstufen der Erotik«. Danach erschien von ihm kein Artikel mehr und er wurde bis nach dem Krieg weder zitiert noch in den der Zeitschrift beigefügten allgemeinen Nachrichten erwähnt. Das ist schon ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Wexberg von Beginn an, von der ersten Ausgabe der Zeitschrift im Jahr 1914 an, in jeder Ausgabe mit wesentlichen Beiträgen vertreten war und sogar Ende der 1920er Jahre den Wiener Verein für Individualpsychologie leitete. In diesem Zusammenhang könnte Wexbergs humorvolle Selbstbeschreibung in seinem Brief vom 2. 10. 1943 an seine Frau Friedl einen Anhaltspunkt bieten. Er erinnert daran, dass er inzwischen ein besserer Neurologe sei als noch vor einem Jahr. Aber seine Mängel seien noch die gleichen wie immer: ein schlechtes Gedächtnis für Leute und eine geringe Fähigkeit, Freunde zu gewinnen. Es mag sein, dass sein distanziertes, zur Selbstkontrolle neigendes Wesen, verbunden mit seinem scharfen, trennenden Intellekt, eine Distanz schuf zu der Schar der nach 1934 in Österreich verbleibenden Individualpsychologen. Wexbergs Ehe galt in diesen Kreisen bis zu seiner Trennung von Frau und Kindern als vorbildlich. Auch von dieser Seite betrachtet könnten Vorbehalte ihm gegenüber begründet sein. Eine ausschlaggebende Rolle für die Distanzierung der in Wien verbliebenen Individualpsychologen gegenüber Wexberg mag in seiner sich seit 1927 immer deutlicher ausprägenden eigenen Abgrenzung gegenüber dem damals in den individualpsychologischen Kreisen vorherrschenden Denken zu suchen sein. Adlers Hinweis vom 28. 8. 1928 – »Ich wehrte mich als Freudianer zu gelten, Sie wehren sich, nicht als Individualpsychologe angesehen zu werden« – deutet in diese Richtung. In seinen offiziellen Stellungnahmen bemühte sich Wexberg immer wieder, für seine eigenen Auffassungen zu werben, obwohl ihn diese 104

Auffassungen deutlich in die Nähe der »Abweichler« Schwarz, Allers und Frankl brachten. In seinen privaten Briefen aber nahm Wexberg kein Blatt vor den Mund. Hier sprach er ganz offen von »seiner Individualpsychologie«, die er vertrete, in klarer Abgrenzung zu offiziellen Auffassungen. Die Streitschrift von Horvat aus dem Jahr 1932 zeigt, dass nun auch öffentlich Position gegen seine psychosomatischen Vorstellungen genommen wurde. Schließlich kann Wexbergs Brief an Adler vom 4. 4. 1932 (Anhang, S. 190 f.) nicht ohne Folgen geblieben sein. Bei aller Großzügigkeit Adlers im Umgang mit Wexberg muss ihn die unverhüllte Kritik eines ehemaligen Schülers in ihrer Direktheit persönlich getroffen haben. Wenn man aber von einer Distanz Adlers zu seinem ehemaligen Schüler Wexberg ausgehen darf, so kann das den in Wien verbleibenden individualpsychologischen Kreisen nicht verborgen geblieben sein. Eine Nichterwähnung Wexbergs durch Adlers Wiener Anhänger nach seiner Emigration wäre dann aus der Sicht von Gruppen- und Ablösungsprozessen als nichts Ungewöhnliches anzusehen. Wexbergs Loslösung von der Individualpsychologie als Institution vollzog sich nicht abrupt wie etwa bei Schwarz, Allers und Frankl, sondern seit 1927 allmählich, graduell, in kleinen Schritten, und sie vollzog sich, ohne dass er dabei die Grundideen der adlerschen Individualpsychologie, wie er sie in den frühen Wiener Jahren kennengelernt hatte, aufgab.

Auseinandersetzung mit der Wertfrage in der Psychologie Neben der Betonung des wissenschaftlichen Arbeitens kündigte sich in diesen frühen 1930er Jahren ein anderes umfangreiches Thema an, die Auseinandersetzung mit dem Thema »Werte in der Psychotherapie«. Stellungnahmen zur Frage der Ethik hatte es innerhalb der Individualpsychologie vorher schon gegeben. Der erste Band der Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung, verfasst von Furtmüller (1912), hatte den Titel »Psychoanalyse und Ethik. Eine vorläufige Untersuchung«. Mit der Formulierung »Eine vorläufige Untersuchung« unterstrich Furtmüller die zu dieser Zeit innerhalb der 105

Individualpsychologie noch vorherrschende Auffassung, dass wissenschaftliche Forschung immer für neue Erkenntnisse offen sein müsse. Furtmüller postulierte ein polygenetisches, vorgegebenes Solidaritätsgefühl, einen sozialen Instinkt, eine soziale Veranlagung als Wurzel des ethischen Lebens. Das ethische Bewusstsein, das Gewissen aber habe durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse seinen Absolutheitsanspruch verloren. Mit Hilfe der Kunstgriffe, die die psychoanalytische Methode entwickelt hat, werde versucht, zu einer größtmöglichen Klarheit über die tiefsten Wurzeln des Handelns zu kommen. Dabei sei die Selbstanalyse kein Allheilmittel. Es sei die Aufgabe, an Stelle des naiven Gewissens ein kritisches und mit Skepsis gegen sich selbst gerichtetes Gewissen zu entwickeln. Freud beschrieb nach Furtmüller die Wirkungen der ethischen Imperative auf das psychische Erleben, Adler untersuchte die Kräfte, die die Verdrängung hervorrufen. Ausgehend von der Idee, dass jeder Mensch sich von Beginn an gegenüber den Anforderungen der Realität minderwertig fühlt, sieht Adler in den ethischen Forderungen, die Eltern und Gesellschaft an das Kind herantragen, die Möglichkeit einer Verstärkung dieser Minderwertigkeitsgefühle. Das Kind unterliege einem doppelten Druck: Es soll sich den ethischen Imperativen beugen oder es muss die Ablehnung der Eltern bis hin zum Bestraftwerden in Kauf nehmen. Nach Furtmüller kann das Individuum aber, indem es diesen ethischen Anforderungen zustimmt, sich die sozialen Gebote zu eigen machen und damit einen inneren Befreiungsakt vollziehen. Er bezeichnet dies als Fiktion der Willensautonomie. Diese Fiktion sei Grundlage und Voraussetzung der Ethik. Wexberg (1914e) hat in der ersten Auflage von »Heilen und Bilden« in seinem Beitrag »Rousseau und die Ethik« den Versuch unternommen, eine charakterologische Deutung von Rousseaus Persönlichkeit zu finden, die dessen kulturgeschichtlich bedeutsames Werk aus den Notwendigkeiten seines Charakters abzuleiten versucht. Während Wexberg den pädagogischen Ideen Rousseaus einen die Zeit überdauernden Wert beimaß, beurteilte er die ethischen Postulate Rousseaus sehr kritisch. Unermüdlich versuche Rousseau seine Ethik aus der angeborenen natürlichen Anlage zum Guten abzuleiten. Wexberg sah darin eine Parallele zur christlichen Ethik. Die Natur wurde Rousseau zum mystischen Inbegriff alles Guten: Es mag wundernehmen, daß Rousseau nicht den Versuch machte, aus der sozialen Entwicklung des Menschen die Entstehung und selbst die

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Notwendigkeit der Moral abzuleiten. Hier aber liegt das Charakteristische seiner Anschauungen: Rousseau war ein Feind der Sozialität. Er haßte alle Zivilisation, ihre Grundlagen wie ihre Ergebnisse. Darum mußte er für diese zwangloseste, verständlichste Deduktion des moralischen Gesetzes blind sein (Wexberg, 1914e, S. 201).

In der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« schrieb Wexberg (1927c) eine Rezension zu Heinz Hartmanns (1927) neu erschienenem Buch »Die Grundlagen der Psychoanalyse« in der er u. a. zu Hartmanns Ausführungen zum Wertproblem in der Psychoanalyse Stellung nahm. Er stimmte Hartmann in der Feststellung der ethischen Neutralität der Psychoanalyse zu. In der Psychoanalyse gelte die »Realitätsangepasstheit« als Therapieziel. Im Anschluss beschrieb Wexberg die individualpsychologische Position zur Wertfrage. Die Axiologie der Individualpsychologie beruhe nicht auf ethischen, kategorischen, also jenseitig begründeten Imperativen, aber sie stelle in der Anerkennung der »Logik des Lebens« jene biologischen Gegebenheiten fest, die allgemeiner als jede Sittenlehre seien und gleichzeitig als Vorbild für eine Gemeinschaftsethik gelten könnten. Gemeinschaftsfeindlicher Individualismus sei in diesem Sinne nicht Sünde, sondern Irrtum. In der gleichen Ausgabe der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« findet sich ein Aufsatz des Gießener Philosophieprofessors August Messer (1927) zum Thema »Individualpsychologie und Wertphilosophie«. Messer, der bereits eine Reihe von Werken zur Wertphilosophie verfasst hatte, setzte sich in diesem Beitrag kritisch mit Grundpositionen der Individualpsychologie zu dieser Frage auseinander. Er nahm Anstoß an der biologischen Begründung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und an den im Zusammenhang mit ethischen Fragen eingesetzten Begriffen des Allgemein-Nützlichen und der Einordnung in die Allgemeinheit. Der Begriff »Allgemeinheit« bezeichne zwar in Adlers Sprachgebrauch keine Abstraktion, sondern immer eine konkrete Gemeinschaft wie die Familie, die Schulklasse oder Arbeitsgruppe; aber man könne die empirische Gemeinschaft nicht immer als das wahrhaft Wertvolle ansehen. Der Gedanke einer idealen Gemeinschaft aber gehöre in den Zuständigkeitsbereich der Wertphilosophie. Zum Abschluss seines Beitrags stellte er fest:

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Wie die Pädagogik überhaupt, so muß auch Adlers Individualpsychologie, soweit sie zugleich Pädagogik ist, in einer Wertphilosophie ihre Grundlage finden (Messer, 1927, S. 323).

Wenige Jahre später veröffentlichte der Individualpsychologe Dr. Erwin Krausz (1931) seinen Essay »Psychologie und Moral«, in dem er sich mit dem Vorwurf der mangelnden Wissenschaftlichkeit der Individualpsychologie auseinandersetzte und diesen Vorwurf zu widerlegen suchte. In seiner Argumentation verweist Krausz auf die gesellschaftliche Natur des Menschen, die Tatsache, dass der Mensch innerhalb der konkreten Gemeinschaft nur als wertendes und moralisches Wesen bestehen kann. Jede Verringerung seiner Kontaktfähigkeit, Vergesellschaftungsfähigkeit, seines Gemeinschaftsgefühls führe letztendlich in die Neurose und habe eine Verzerrung seines moralischen Urteils zur Folge. In der Erforschung der sozialen und moralischen Natur des Menschen in seiner konkreten Einmaligkeit erweise sich die Individualpsychologie als keine wertende, sondern als eine psychologische Methode. Man darf davon ausgehen, dass Wexberg die Texte von Messer und Krausz, die in der »Zeitschrift für Individualpsychologie« erschienen sind, kannte. Es nimmt wunder, dass er sich in keiner seiner Arbeiten auf sie bezieht. Die ersten Anzeichen dafür, dass Wexberg nach einer neuen Orientierung in Bezug auf Fragen der Ethik suchte, zeigen sich Ende der 1920er Jahre in seinem Schlusswort zur Diskussion über die Individualpsychologie auf dem III. Internationalen Kongress für Psychotherapie in Baden-Baden mit dem Titel »Die Einwände gegen die Individualpsychologie«. Auf diesem Kongress diskutierten zum ersten Mal Psychoanalytiker und Individualpsychologen öffentlich über ihre Theorien. In seinem Schlusswort wandte sich Wexberg gegen die Wertblindheit der Psychoanalyse: Oswald Schwarz ist es zu danken, daß er in seinem Vortrag »Leistung oder Symptom« eine Frage in die Diskussion brachte, an der man freilich nicht vorübergehen kann. Es ist ihm zuzugestehen, daß Psychotherapie einer Wertaxiomatik nicht entraten kann und daß die Wertblindheit der Psychoanalyse eine ihrer Schwächen bildet. […] Ich meine: Nie kann Wert aus Unwert erwachsen. Der neurotische Künstler ist nicht Künstler, weil, sondern obwohl er neurotisch ist. Es ist der gesunde, gemeinschaftsverbundene Teil seiner Persönlichkeit, aus dem der künstlerische Wert erwächst. So wird

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klar, daß etwa die Frage: War Beethoven ein Neurotiker? kindlich falsch gestellt ist. Beethoven, der Mensch, war so gut Neurotiker wie wir alle, und nach alledem, was man über sein Leben weiß, dürften neurotische Züge in seinem Wesen nicht eben geringfügig und leicht übersehbar gewesen sein. Aber Beethoven, der Künstler, darf uns als Verkörperung höchster Werte von überindividueller Art, wenn man so will, als Ideal der Gesundheit gelten (Wexberg, 1928b, S. 134).

Er sprach von der Problematik der Wertvermittlung, über Wert und Unwert und über die Relativität des Gegensatzpaares »Gesund – Krank« in Bezug auf die Verkörperung überindividueller Werte im Künstlertum. Abschließend heißt es: Unterwegs aber sind wir alle. Wen von uns man krank, wen gesund nennt, das hängt vielleicht mehr von sozialen als von psychologischen Momenten ab (Wexberg, 1928b, S. 137).

In seinem Vortrag »Alfred Adler, der Arzt« anlässlich des 60. Geburtstages von Adler befand sich Wexberg wieder ganz in Übereinstimmung mit der in der Individualpsychologie vorherrschenden Theorie, als er ausführte: Mit Ethik hat das Gemeinschaftsgefühl nichts zu tun. Aber gerade in der Konzeption dieses aller Ethik logisch vorausgehenden Begriffes liegt revolutionäre Neuheit. Für Adler ist das Gemeinschaftsgefühl eine biologische Tatsache, nicht eine ideale Forderung, kein Gebot der Nächstenliebe, überhaupt kein »du sollst«. Er weist nicht nach, daß das Gemeinschaftsgefühl sein soll, sondern daß es ist, dieses Sein des Gemeinschaftsgefühls, diese unerhörte Tatsache, daß es auch dort ist, wo es von seinem Träger negiert wird, das ist es, was Adler bewog, für den Begriff der Gemeinschaft den metaphysisch klingenden Ausdruck der absoluten Wahrheit in Anspruch zu nehmen. […] Psychologie treiben hieß bis dahin: Psychologie des Individuums. Das war »Individualpsychologie« im eigentlichen Wortsinn. Adler war es vorbehalten, das isolierte Individuum, das bisherige Objekt der Seelenkunde, als eine nicht existierende Fiktion zu erkennen (Wexberg, 1930a, S. 235).

1931 promovierte Frieda Vogel mit ihrer Dissertation zu dem Thema »Individualpsychologie und Werttheorie«. In ihrem beigefügten Lebenslauf erwähnte sie, dass sie die Anregung zu dieser Arbeit, Bera109

tung und Förderung durch Professor Messer (Gießen) erhalten habe. In Übereinstimmung mit Messers (1927) Überlegungen zum Thema »Individualpsychologie und Wertphilosophie« setzte sich Frieda Vogel kritisch mit individualpsychologischen Grundbegriffen auseinander, die auch Wexberg zu dieser Zeit noch vertrat. Vogel stellte fest, dass die Psychologie eine Erfahrungswissenschaft sei, deren Aufgabe in der Beschreibung und Erklärung seelischer Tatbestände liege. Die wertende Stellungnahme zum seelischen Geschehen gehöre nicht in den Aufgabenbereich der Psychologie. Die wertende Entscheidung über die Förderung oder Ablehnung seelischer Tendenzen komme der Erziehungswissenschaft und der Wertphilosophie zu. Die Verfasserin versuchte in ihrer Arbeit nachzuweisen, dass zahlreiche individualpsychologische Grundannahmen wie zum Beispiel das Gemeinschaftsgefühl auf wertenden Voraussetzungen beruhten. Im Gespräch mit seinen holländischen Besuchern im Frühjahr 1932 erwähnte Wexberg, dass er sich gerade mit Wertfragen auseinandersetze; er beschäftige sich mit den Werttheorien Nicolai Hartmanns. Das Ergebnis dieses Studiums sollte eine axiologische Fundierung der Individualpsychologie sein. In seinem Aufsatz zu dem Thema »Was ist wirklich eine Neurose?«, der in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« veröffentlicht wurde, bezog sich Wexberg (1933b) zweimal auf Nicolai Hartmann. Er versuchte zu klären, ob z. B. eine Neurose rein naturwissenschaftlich gedeutet werden könne oder ob die individualpsychologische Auffassung, die die Finalität einer psychischen Störung in den Mittelpunkt stellt, das bessere Erklärungsmodell darstelle. Wexberg kam zu dem Schluss, dass beide Modelle, beide Betrachtungsweisen nebeneinander bestehen können. Auf die Neurosenfrage angewandt heißt das: Die Neurose als Naturtatsache – also als Krankheit betrachtet, ist restlos kausal erklärbar. Die Frage nach dem finalen Sinn aber, die der individualpsychologischen Betrachtung geläufig ist, setzt das »kategorische Novum« (Nicolai Hartmann) der personalen Betrachtungsweise, innerhalb deren sie sich beantworten läßt, schon voraus. Wer den Menschen nicht als personale Einheit, sondern als Mechanismus zur Auflösung von Reflexen betrachtet, wird niemals nach dem Sinn eines neurotischen Symptoms fragen (Wexberg, 1933b, S. 166).

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In einem unveröffentlichten und unvollständig erhaltenen Manuskript aus dieser Zeit wies Wexberg darauf hin, dass er schon in seinem Werk »Individualpsychologie, eine systematische Darstellung« versucht habe, die Struktur der menschlichen Persönlichkeit in der Form einer Schichtung der Finalitäten darzustellen: Dergestalt dass jeweils die niedrigere Stufe von der höheren aus gesehen als kausale Determination erscheint. Über der physikalischen Kausalität baut sich zunächst die biologische Finalität auf, über ihr die soziale und rationale Finalität, und all diese umspannt die personale Finalität der menschlichen Persönlichkeit. Für diese stellen alle Determinationen der niedrigeren Stufe im Wesentlichen Material dar, das von ihr souverän gestaltet wird. Die Souveränität der Persönlichkeit in ihrem Verhältnis zu den ihr untergeordneten Determinationsstufen nennen wir Willensfreiheit. Diese Darstellung – bei der allerdings das Problem der Willensfreiheit nicht direkt behandelt, aber implicite mitgedacht war, fand ich durch die von ganz anderer Seite kommenden, von der Individualpsychologie sicher unbeeinflussten Gedankengänge Nicolai Hartmanns bestätigt (Wexberg, 1930d, S. 36).

Aus allen in den Jahren bis 1934 veröffentlichten Texten Wexbergs geht hervor, dass er bestrebt war, neuere wissenschaftliche Forschungsergebnisse in die Theorie der Individualpsychologie zu integrieren. Die Fragen der Werte, der Morallehre, sollten ein zentrales Thema der kommenden Jahre werden. Dass Wexberg in dieser Zeit trotz einiger unterschiedlicher Auffassungen zu seinem Mentor noch als Leiter der Wiener Sektion des Individualpsychologischen Vereins fungierte, kann man einer kurzen Bemerkung des Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld (Ekstein et al., 1988, S. 234) entnehmen, der Ende Oktober 1932 in einem Brief aus Wien Wexberg als den Chef der hiesigen Individualpsychologen bezeichnete. Eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit kritischen Schülern kann man Adler also nicht absprechen. Dabei mag es auch eine Rolle spielen, dass Adler seine Kräfte hauptsächlich für eine weitere Verbreitung der Individualpsychologie vor allem in den USA einsetzte.

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Familie und persönliche Entwicklung in den Jahren 1927 bis 1934 Am 11. 8. 1927 wurde die zweite Tochter Runa in der Villa Frieda in Bad Gastein geboren. Hier standen nur zwei Zimmer zur Verfügung. Im Schreiben vom 12. 4. 2005 teilte das Wiener Stadt- und Landesarchiv mit, dass Wexberg 1927 aus der Israelischen Religionsgemeinschaft ausgetreten sei und sich als konfessionslos angemeldet habe. Am 17. 9. 1928 verstarb Wexbergs Vater. Dessen Testament, das er am 20. 10. 1927 schrieb, schließt mit den Worten: Ihr, meine lieben Kinder, werdet euch ganz friedlich und freundschaftlich verständigen. Bewahrt mir ein gutes Andenken und nehmt die Versicherung entgegen, dass ich in Eurem Besitz die größte Freude meines Lebens empfand. Lebt wohl. Euer Vater Leo Wexberg (E-Mail Paul Wexberg an U. Kümmel, 19. 4. 2004).

Laut Urkunde vom 30. 11. 1928 wurde das Eigentumsrecht für das Elternhaus auf Wexberg und die Schwestern Frieda Brauner und Else Zeidler zu je einem Drittel eingetragen. Die Mutter zog kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes zu der Tochter Frieda in die Testarellogasse. Am 29. 11. 1929 erfolgte, Zeichen eines inzwischen erreichten Wohlstandes, der Umzug der Familie Wexberg in eine großzügige Wohnung in der Wallnerstr. 4 im I. Bezirk. Es handelt sich um ein herrschaftliches Etablissement, das Eszterhazy-Palais. Zu den namhaftesten Besuchern und Gästen des Palais zählen Josef Hayden und Admiral Nelson. Während des Wiener Kongresses gab es im Palais zahlreiche Empfänge und Bälle. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Räume von den Eszterhazys aus Kostengründen vermietet. Heute haben Firmen hier ihren Sitz. Im ersten Stock, den die Wexbergs bewohnten, hat sich die Österreichische Kreditanstalt niedergelassen. Alba Lorman berichtet von hohen Barockräumen mit großen Kristallleuchtern. In der Eingangshalle mit goldenen Seidentapeten hängen Porträts der Eszterhazy-Ahnen. Zentral ist ein langer, prachtvoller Prunksaal. Die Mutter hatte die Räume mit entsprechenden Möbeln ausgestattet, die sie bei Antiquitätenhändlern erworben hatte. Jeden Donnerstag fanden Kammermusikkonzerte statt. Oft begleitete der Vater die Mutter auf dem Klavier. Für kleine Opern wurden Eintrittskarten verteilt. 112

Lili war zu diesem Zeitpunkt eine bekannte Sopranistin. Sie war eine anerkannte Hugo-Wolf-Interpretin, sang die Sopranstimme in Arnold Schönbergs zweitem Streicher-Quartett und war Sopranistin in verschiedenen Oratorien, so in Beethovens »Missa solemnis« und Mahlers 4. Sinfonie. 1934 legte sie ihr Examen als Gesangspädagogin an dem berühmten Wiener Konservatorium ab. Der holländische Arzt Casimir beschreibt in seinem Bericht über die Studienreise auch die Wohnung Wexbergs: Sehr interessant und wichtig war der Besuch bei Dr. Erwin Wexberg, dem Herausgeber des Handbuches (1928), einem der treuesten Schüler Adlers. Er hatte eine geräumige Wohnung im Zentrum der Stadt; die Einrichtung der Möbel und der Räumlichkeiten erinnerte an ein altes Palais aus dem 18. Jahrhundert; etwas verstaubter, alter Wohlstand. W. empfing uns sehr entgegenkommend. Er ist von kleiner, untersetzter Gestalt und spricht mit etwas mühsamer, nach prägnanten Formulierungen suchender, wohltuender Stimme. Er ist das Bild eines zuverlässigen Arztes und kritischen Wissenschaftlers (Casimir et al., 1997, S. 44).

1930 verdichteten sich die Zeichen einer ernsthaften Ehekrise. Die älteste Tochter, Alba Lorman, erinnerte im Gespräch vom 21. 6. 2004, dass es jetzt oft zu Streitigkeiten zwischen den Eltern kam und der Vater nicht mehr in Bad Gastein besucht werden wollte. Vom 24. 4.1934 bis 1. 6. 1934 wohnte Wexberg in der Gonzagagassse im I. Wiener Bezirk. Anschließend meldete er sich nach Bad Gastein ab. Lili Wexberg wohnte mit den Kindern weiterhin in der Wallnerstraße. Der Bad Gasteiner Historiker, Dr. Laurenz Krisch, ermittelte im amtlichen Fernsprechnetz Salzburg, dass Wexberg vom 15. 4.–30. 9. 1934 in der Villa Rosemarie als Arzt praktizierte. Runa Schlaffer ist der Auffassung, dass der Vater aus Karrieregründen in die USA auswanderte. Dies wird durch einen Bericht der »Wiener Sonn- und Montagszeitung«, mit dem Titel »Wiener Psychoanalytiker. Professor in Amerika« bestätigt. Dem Text ist zu entnehmen, dass Wexberg aufgrund seiner hervorragenden wissenschaftlichen Schriften eine Berufung nach Chicago erhalten hatte, sich aber kurz darauf entschloss, an die Universität New Orleans zu wechseln. Wahrscheinlich haben aber noch andere Gründe bei der Entscheidung, Österreich und die Familie zu verlassen, eine Rolle gespielt. Runa Schlaffer erhielt Ende 1933, Anfang 1934 aus Palästina einen unda113

tierten Brief ihres Vaters, der in großen Druckbuchstaben abgefasst war. Runa Schlaffer vermutet, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in der ersten Schulklasse befunden haben muss, und sie erinnert in diesem Zusammenhang, dass sich ihr Vater damals mit dem Gedanken trug, nach Palästina auszuwandern. Man könnte im Zusammenhang mit den Eheproblemen eine Lebenskrise vermuten, aus der »Auswandern« eine Lösung und einen möglichen Neuanfang versprach. Die Tatsache aber, dass Wexberg auch Palästina als mögliche »neue Heimat« ins Auge fasste, lässt darauf schließen, dass die politische Situation in Österreich doch eine wichtige Rolle bei seinem Entschluss gespielt haben muss. In Palästina gab es bereits eine aktive individualpsychologisch orientierte Gruppe. Wexberg ist 1933 wieder in die jüdische Glaubensgemeinschaft eingetreten. Im Brief vom 21. 7. 2005 schreibt Runa Schlaffer dazu: As for calling himself konfessionslos, I’m surprised he waited until 1927 to make this official since religion was never of any importance to him. But perhaps this was a necessary formality before they put »konfessionslos« on my birth certificat that august, which they did. When my father later rejoined the Jewish community, this was probably necessary for his trip to Israel (Brief Runa Schlaffer an U. Kümmel, 21. 7. 2005).

Nach Angaben der Töchter war der Vater ein politisch interessierter Mann, der das Zeitgeschehen bewusst wahrnahm. Der aufkeimende Nationalsozialismus kann nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein. Der Bad Gasteiner Historiker, Dr. Laurenz Krisch (2003), beschreibt in seinem Werk »Zersprengt die Dollfußketten, Entwicklung des Nationalsozialismus in Bad Gastein bis 1938« detailliert das damals in dem Kurort herrschende politische Klima und dessen Veränderungen. Abgesehen von den Parolen der wenigen Nationalsozialisten in den frühen 1920er Jahren trat in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der Antisemitismus zunächst nicht offen zutage. Von 1919 bis 1931 hatte die Sozialdemokratische Partei in Bad Gastein im Gegensatz zu vielen anderen österreichischen Kurorten immer die Mehrheit und stellte auch den Bürgermeister. Die Jahre von 1924 bis 1929 gelten in Bad Gastein als die »goldenen Tourismusjahre«. Jüdische Gäste besuchten in dieser Zeit gerne diesen Kurort. In den Jahren 1916 bis 1923 war auch Freud hier öfter Gast. Es gab in Bad Gastein koschere Hotels und ein großes jüdisches Kaufhaus. Die Ge114

meinde profitierte von den jüdischen Gästen. So hatte die gutbürgerliche Schicht wenig Interesse an einem offenen Antisemitismus. Dies galt aber nicht für die umliegenden Ortschaften und auch nicht für das nahe Salzburg. Am 21. 2. 1924 schrieb das judenfeindliche Salzburger »Wochenblatt«, dass Bad Gastein fast durchweg von der hebräischen Rasse heimgesucht werde. Der Ort sehe einer vollständigen Verjudung entgegen. In einer Landtagssitzung bezeichnete ein Landtagsabgeordneter Bad Gastein als ein »Neu Palästina« (Krisch, 2003). Die durch den Börsenkrach am 24. 10. 1929 in New York verursachte Weltwirtschaftskrise wirkte sich auch auf das politische Klima Bad Gasteins aus. Die Sozialdemokraten verloren bei den Gemeinderatswahlen 1931 ihre Mehrheit. Die Nationalsozialisten verzeichneten Stimmenzuwächse. Allgemein nahmen die Verbalattacken gegen das Judentum zu. Sie waren aber noch nicht gegen die jüdischen Kurgäste gerichtet und auch noch nicht gegen die ortsansässigen jüdischen Ärzte. Allerdings führten die Landtagswahlen vom 24. 4. 1932 zu einem erdrutschartigen Wahlerfolg der Nationalsozialisten. 1932 nahm die Kurkommission drei jüdische Musiker nicht mehr in das Kurorchester auf. Nachdem das renommierte Wiener jüdische Wochenblatt »Der Morgen. Wiener Montagsblatt« einen Artikel über dieses Ereignis verfasste, nahm die Gemeindeverwaltung ihre Entscheidung wieder zurück. Zwei aus Wien angereiste jüdische Gäste erhielten 1933 Drohbriefe, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass ihr Hotel demnächst vergast würde. Im Juni 1933 wurde ein jüdisches Pelzgeschäft beschädigt. Die Täter waren zwei Bad Gasteiner SS-Männer (Krisch, 2003). Das Verbot der NSDAP in Österreich durch die Dollfuß-Regierung in den Jahren 1933 bis 1938 führte zu einer Radikalisierung und zu offen zutage getragenen antisemitistischen Einstellungen innerhalb der Bad Gasteiner Bevölkerung. Die Nationalsozialisten waren nun in die Illegalität gedrängt. Ihre Aktivität blieb ungebrochen und trug ihnen Sympathisanten und Bewunderer zu. Im Januar 1934 kam es in Bad Gastein zu einer spontanen Großkundgebung anlässlich der Abschiebung zweier bekannter Nationalsozialisten durch die Polizei. An dieser Kundgebung beteiligten sich auch bisher indifferente Bürger. Trotz eines hohen Polizeiaufgebots kam es kurze Zeit darauf zu einer zweiten Großdemonstration. Die darauf folgenden Verhaftungen wurden von der Bevölkerung mit Empörung aufgenommen. Im Mai 1934 vermutete der Bad Gasteiner Postenkommandant, dass etwa 80 Prozent der Bad Gasteiner Bevölkerung zumindest als Sympathisanten hinter der na115

tionalsozialistischen Bewegung ständen. Aus der Illegalität heraus kam es nun zu vermehrten Schmieraktionen. In den Bergen wurden Hakenkreuzfeuer abgebrannt, im Ort Streuzettel mit nationalsozialistischen Parolen verteilt und Klebezettel an Türen und Wände geklebt. Der damalige Kurdirektor von Zimburg schrieb am 5. 4. 1934 resigniert in sein Tagebuch: Nun lebt wieder die nationalsozialistische Hetze von Neuem auf! Überall schmieren sie mit Farbe ihre Hakenkreuze hin, die dann wieder übermalt werden müssen. Wo man hinkommt, überall kleben kleine Zettel, die neuen Unfrieden stiften sollen! (Krisch, 2003, S. 191).

Es ist unwahrscheinlich, dass Wexberg diese Entwicklung bei seiner Entscheidung, Österreich zu verlassen, nicht beeinflusst haben sollte. Er dürfte etwa im Spätherbst 1934 abgereist sein. In seinem Brief an die Tochter Runa vom 6. 11. 1936 schreibt er, es seien jetzt genau zwei Jahre, seit er aus Wien weggefahren sei. Seine Frau Lili blieb mit den Kindern Alba und Runa in Wien in ihrer Wohnung in der Wallnerstraße. Am 3. 12. 1934 schloss sie ihre Gesangslehrerausbildung an der staatlichen Akademie für Musik und dramatische Kunst in Wien ab. Die Tochter Alba war zum Zeitpunkt der Abreise des Vaters 15 Jahre alt und durchlief eine dreijährige Buchhandelslehre bei dem bekannten Löwith-Verlag in Wien. Das Wiener Landesgericht für Zivilrecht erklärte am 12. 2. 1936 die Ehe ohne Begründung und ohne Klärung der Schuldfrage für aufgelöst. Am 12. 3. 1938 marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein und es erfolgte der Anschluss an das Deutsche Reich. In der irrtümlichen Annahme, seine Frau sei mit den Töchtern bereits bei einer befreundeten Familie in Paris eingetroffen, schickte Wexberg am 29. 7. 1938 einen Brief an Runa nach Paris. Am 22. 7. 2004 schrieb Runa Schlaffer zu diesem Thema: My father’s letter regarding our going to Paris in 1938 was a mistake. It was his idea that we should go there to get away from Hitler! Luckily we went to London, instead (Brief Runa Schlaffer an U. Kümmel).

Die älteste Tochter, Alba Lorman, erinnert, dass sie, inzwischen 18-jährig und als Gesellin beim Löwith-Verlag tätig, von der Mutter oft bei notwendigen Behördengängen vorgeschickt wurde. Sie schreibt: 116

Als ich von meiner Buchhandlung nach Hause kam, sprach mich ein junger Mann mit einem Hakenkreuz am Arm an und fragte, ob ich jüdisch sei. Ich bejahte es mit bangem Herzen, denn wir hatten schon von anderen Freunden gehört, dass man Juden gezwungen hat, den Gehweg zu reinigen, nachdem Hakenkreuze hingemalt worden waren. Auf die Frage, ob ich österreichische Staatsbürgerin sei, sagte ich, ohne nachzudenken: »Ja, aber die Familie meines Vaters steht unter dem Schutz des amerikanischen Konsulats.« Das war natürlich nicht ganz wahr, nur insofern als mein Vater bereits in Amerika war. Da hab ich halt Glück gehabt (Brief Alba Lorman an U. Kümmel, 8. 7. 2004).

Nach ihren Angaben ist die Familie in der »Reichskristallnacht« am 9. 11. 1938 nach London emigriert. Runa Schlaffer schreibt dazu: Certainly it was hard to leave Vienna on Kristallnacht, but we were lucky. All the men waiting for that train were arrested by the Nazis. Their families probably never saw them again; some of them stayed on because they didn’t want to leave without them. God knows what happened to them (Brief Runa Schlaffer an U. Kümmel, 9. 6. 2004).

Die Möbel wurden in einem Lager untergebracht. Das Haus in der Veithgasse 65, XIII. Bezirk in Wien, war bereits am 14. 5. 1934 zugunsten Erwin Wexbergs und seiner Schwestern Frieda Brauner und Else Zeidler zu je einem Drittel verkauft worden. Die Großeltern mütterlicherseits blieben noch in Wien. Alba Lorman schildert ihren Großvater als einen lebenstüchtigen Mann mit großem Verhandlungsgeschick und Durchsetzungsvermögen. Es sei ihm gelungen, viele wertvolle Stücke noch zu verkaufen und einen großen Teil der Möbel einschließlich des Klaviers wieder auszulösen und nach London zu schicken. Im Allgemeinen war es wohl so, dass das Mobiliar, einmal im Lager eingeliefert, für die jüdischen Besitzer verloren war.

Emigration in die USA (1934) Für die meisten Emigranten aus Deutschland und Österreich war nach Hitlers »Machtergreifung« (1933) Exil gleichbedeutend mit Orientie117

rungslosigkeit, Existenzbedrohung, Geldmangel, Sprachproblemen und allgemeiner Verunsicherung. Hinzu kamen oft Heimweh und die Sorge um die zurückgebliebenen Verwandten und Freunde (Kenner, 2000). In diesen Jahren war das Ziel deutscher und österreichischer Juden und politisch Verfolgter meist Frankreich oder die Tschechoslowakei, die damals zu Zentren des politischen Asyls wurden. Für ausreisewillige Individualpsychologen lag es dagegen nahe, sich auch mit der Frage auseinanderzusetzen, in die USA zu emigrieren. Seit 1926 hatte Adler damit begonnen, in den USA für eine Ausbreitung seiner Individualpsychologie zu werben. Er gründete in New York, Chicago, an der West- und Ostküste nach und nach Ortsgruppen der Individualpsychologie. Das Institut für Individualpsychologie in Chicago wurde bereits 1933 ins Leben gerufen. Bereits 1926 hatte Adler eine Gastprofessur am Medical Center der Columbia University angenommen, 1932 erhielt er einen Lehrstuhl für klinische Psychologie am Long Island Medical College. Von 1928 an trug er sich mit dem Gedanken, ganz nach New York zu ziehen. Verwirklicht wurde dieser Entschluss allerdings erst im Jahre 1934. Von Anfang an bemühte sich Adler, wichtige individualpsychologische Mitstreiter davon zu überzeugen, dass die Zukunft der Individualpsychologie in Amerika liege. Kenner hat in ihrer Dissertation »Der Wiener Verein für Individualpsychologie. Emigration und Exil seiner Mitglieder« die Hintergründe der Emigration einer großen Anzahl von Individualpsychologen in den Jahren 1934 bis 1938 dargestellt. Sie schreibt: Alfred Adler, der Gründer des Vereins, emigrierte schon während der frühen dreißiger Jahre aus beruflichen Gründen in die Vereinigten Staaten. Der von ihm initiierte Aufbau weiterer Zentren für Individualpsychologie und andererseits gute berufliche Aussichten für einige Mitglieder aus der Ärztegruppe ließen schon bald danach mehrere Individualpsychologinnen und Individualpsychologen nach Amerika folgen, wie etwa Olga Knopf, Erwin Wexberg und Rudolf Dreikurs (Kenner, 2000, S. 42).

Leider liegen uns bisher wenige Zeugnisse der Werbungsaktivitäten Adlers vor. Beispielhaft ist diesbezüglich die Korrespondenz mit Oskar Spiel aus dem Jahr 1935. Adler schreibt: Lieber Spiel, es schaut aus wie ein Aprilscherz. Lernen Sie fleißig Englisch. Ich kann mich nicht von dem Gedanken trennen, Sie hier zu haben (Handlbauer, 1984).

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Am 21. 9. 1936 schrieb Adler von New York aus an Spiel, er habe für ihn vereinbart, im Oktober des folgenden Jahres mit einer Vortragsreise in Chicago zu beginnen. Chicago brauche einen guten Individualpsychologen. Allerdings sei eine gute Kenntnis der englischen Sprache Voraussetzung. Aufgrund seiner geringen englischen Sprachkenntnisse lehnte dies Spiel (ÖNB) in seinem Antwortschreiben vom 28. 11. 1936 ab. Aus den wenigen verfügbaren Briefen Adlers an Wexberg geht hervor, dass Adler bereits 1927 Wexberg zu Aktivitäten in den USA motivieren wollte. Im Brief vom 4. 3. 1927 (Anhang S. 180 f.) berichtete Adler, er sei eingeladen worden, eine dreimonatige Vorlesungsreihe an einer amerikanischen Universität anzubieten, er würde Wexberg hierzu gerne den Vortritt lassen. Dem Brief Wexbergs vom 25. 5. 1927 an Freistadt ist zu entnehmen, dass Wexberg zu diesem Zeitpunkt einen längeren Aufenthalt in den USA noch als ein unkalkulierbares wirtschaftliches Risiko ablehnte. Er wies auf die Tatsache hin, dass er in den USA völlig unbekannt sei, und drückte damit indirekt aus, wie wichtig für ihn ein vorhandenes Beziehungsgeflecht und wirtschaftliche Sicherheit waren. Im gleichen Brief erwähnte er, dass Seif ohne jede greifbare Zusage auf eigenes Risiko mit nur 2000 Mark in der Brieftasche in die USA gereist sei und bei seiner Abreise die Besorgnis geäußert habe, dass das Unternehmen hoffentlich nicht in einem wirtschaftlichen Fiasko ende. Am 21. 4. 1928 (Anhang S. 184 f.) berichtete Adler, dass er zwei Verleger auf Wexbergs, Künkels, Oppenheims und Lazarsfelds Buch aufmerksam gemacht habe und er es begrüßen würde, wenn sie alle selbst nach New York kämen. Angesichts der imposanten Aufnahme der Individualpsychologie in Amerika sei er davon überzeugt, dass sie hier reüssieren würden. Es vergingen noch sechs Jahre, bis sich Wexberg aus vielschichtigen Motiven entschloss, Österreich den Rücken zu kehren und in die USA zu emigrieren. Zu diesem Zeitpunkt genoss er bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad in Amerika. In einer Ausgabe der »Wiener Sonn- und Montagszeitung« aus dem Jahr 1935 erschien unter der Überschrift »Wiener Psychoanalytiker. Professor in Amerika« ein entsprechender Artikel über Wexberg. Hier heißt es: Wie wir erfahren, wurde der überaus bekannte Wiener Psychoanalytiker, Doktor Erwin Wexberg, vor einiger Zeit nach Amerika berufen. Dr. Wexberg wurde in Amerika aufgrund seiner Publikationen der Professortitel zu-

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erkannt. Er führt heute ein eigenes Universitätsinstitut in New Orleans, das insbesondere von Negern frequentiert wird. Der Weg eines österreichischen Gelehrten. Dr. Erwin Wexberg war bereits in Wien durch eine Reihe wissenschaftlicher Schriften hervorgetreten, doch gelang es ihm nicht, sich restlos durchzusetzen. Während der Sommermonate war Dr. Wexberg ständig in Badgastein tätig. Dr. Wexberg hat nun vor einigen Monaten ein neues von ihm erschienenes Werk nach Amerika gesendet, das dort einen derartigen Erfolg erzielte, daß der Wiener Psychoanalytiker sofort eine Berufung nach Chicago erhielt. Dort hielt er sich aber nur kurze Zeit auf, denn inzwischen hatte sich die Universität New Orleans entschlossen, dem Wiener Psychoanalytiker ein eigenes Institut zu errichten. An diesem vornehmlich von Negern besuchten Universitätsinstitut feiert der Wiener Gelehrte zurzeit große Erfolge, die wissenschaftlich in ganz Amerika große Anerkennung finden (Schiferer, 1995, S. 197).

In der Einleitung zu ihrer oben erwähnten Dissertation formuliert Kenner: Auch der Psychiater und Individualpsychologe Erwin Wexberg folgte einer Berufung im Jahr 1934 in die Vereinigten Staaten. Seine Tochter Runa schreibt dazu Folgendes: I do believe that my father’s move to the USA was primarily a career move, further influenced by ominous developments in Germany. Die Tatsache, daß Wexberg zuerst nach Chicago ging und bald darauf in New Orleans an einer Child Guidance Institution arbeitete, gibt Anlaß zu Spekulationen. Es ist anzunehmen, daß Wexbergs Emigration zumindest teilweise auf die Vermittlung Alfred Adlers zurückzuführen ist bzw. Wexberg die Möglichkeit wahrnahm, auf die zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden personellen und institutionellen Netzwerke der Individualpsychologie in den Vereinigten Staaten zurückzugreifen (Kenner, 2000, S. 42).

Wexbergs Situation war demnach wesentlich günstiger als bei vielen späteren Emigranten. Vorteilhaft wirkten sich auch seine guten Englischkenntnisse aus. So hatte er während des V. Internationalen Kongresses 1930 in Berlin den Vortrag des Amerikaners William Day »Interne Medizin und Individualpsychologie« simultan übersetzt. Wexberg war sehr sprachbegabt. In ihrer E-Mail vom 9. 9. 2005 schreibt die Tochter: Ich weiß, dass mein Vater mit etwa zehn Sprachen vertraut war. Ich bin nicht sicher, welche es genau waren. Natürlich sprach er fließend Englisch und

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ich bin mir sicher, dass ihm das half, als er in die Vereinigten Staaten kam. Er brachte sich selbst in kürzester Zeit Spanisch bei, als er während des Krieges in Panama stationiert war (E-Mail Ruth Wexberg-Poh an U. Kümmel, 9. 9. 2005).

Wie lange sich Wexberg in Chicago aufhielt, ist ungewiss. Er hat in dieser Zeit zwei Briefe seiner siebenjährigen Tochter Runa erhalten und, leider undatiert, aus dem Plaza Hotel, Chicago, beantwortet. Er berichtet von der angenehmen Schiffsreise und kündigt an, dass er in Kürze in New Orleans leben werde. Dass es aber auch für Wexberg trotz dieser guten Voraussetzungen nicht einfach war, seinen Weg in der »Neuen Welt« zu finden und sich eine sichere Existenz aufzubauen, geht aus einem Brief von Dreikurs vom 26. 11. 1937 hervor, den Handlbauer in seinem Essay »Lernt fleißig Englisch! Die Emigration Alfred Adlers und der Wiener Individualpsychologen« (2004) erwähnt: Dreikurs berichtete, er habe gehört, dass es auch Wexberg am Anfang sehr »dreckig« gegangen sei, er sei ganz deprimiert und verzweifelt gewesen. Wexberg war inzwischen 45 Jahre alt und befand sich wie viele der späteren Emigranten in der Mitte seiner beruflichen Laufbahn. Er war tief verwurzelt in der westeuropäischen wissenschaftlichen und kulturellen Tradition. Wexberg hatte eine strenge Vorstellung vom wissenschaftlichen Arbeiten und betonte wiederholt, wie dankbar er seinem Lehrer Professor Redlich für die wissenschaftliche Schulung sei, die er bei ihm durchlaufen habe. Wexberg verfügte über detaillierte Kenntnisse der europäischen Geschichte, der Literatur, der europäischen Philosophie und war musisch hoch begabt. So konnte es für ihn nicht einfach sein, sich in die amerikanische akademische Welt einzufügen, die so ganz anders war als die europäische. Viele Emigranten beobachteten in dieser Zeit latente Formen von Antisemitismus im amerikanischen akademischen Milieu. Die Weltwirtschaftskrise war noch aktuell. Es gab auch für Amerikaner nicht genug akademische Stellen, geschweige denn für europäische Einwanderer. So war der Konkurrenzdruck besonders hoch. In der Welt des amerikanischen Geisteslebens herrschte eine Haltung vor, Inländer bei der Stellenvergabe zu bevorzugen (Rutkoff u. Scott, 1988). Sich unter diesen schwierigen Bedingungen einen den eigenen Ansprüchen und der eigenen Identität entsprechenden Platz zu erobern, kann man durchaus als eine Schwellensituation im adlerschen Sinne bezeichnen. Bühring schreibt: 121

Abbildung 8: Wexberg, 1936 als Professor an der Lousiana State University

Schließlich waren unter den Nordamerikanern gewisse Vorbehalte gegen Ausländer weit verbreitet. Vor allem Juden, Katholiken und Kommunisten scheinen ihnen höchst suspekt gewesen zu sein. Auch fürchtete man der knappen Arbeitsplätze wegen die Massen der arbeitslosen Immigranten (Bühring, 2007, S. 239).

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Professor an der Louisiana State University Der erste undatierte Brief Wexbergs aus New Orleans an seine damals siebenjährige Tochter Runa wurde wahrscheinlich Mitte Januar 1935 verfasst, da Wexberg darin ausdrückt, dass die Tochter ihm gerade noch zu seinem Geburtstag am 12. Februar werde antworten können. Der Brief ist mit Skizzen versehen. Die Universität, an der er inzwischen Professor ist, wird kurz beschrieben. Folgt man dem Artikel der »Wiener Sonn- und Montagszeitung« aus dem Jahr 1935 mit der Überschrift »Wiener Psychoanalytiker. Professor in Amerika«, so wurde Wexberg von der Louisiana State University, New Orleans, ein eigenes Institut zur Verfügung gestellt. Ein Brief an Dr. Freistadt Herzka vom 4. 2. 1935 mit dem Briefkopf der Louisiana State University, Medical Center, New Orleans, Department of Neuro-Psychiatry, bestätigt die Angaben des Zeitungsartikels im Wesentlichen: Mir geht’s unberufen gut. Ich bin, dem Wissen und Können und vermutlich bald auch dem Ansehen nach, so ungefähr der Wagner Jauregg der Südstaaten. Einäugiger unter den Blinden. Zum Größenwahn habe ich glücklicherweise keine Anlage. Ich arbeite viel, gut und mit Feuereifer. Kann eigentlich mehr Neurologie, als ich dachte. Freilich ist niemand da, der meine etwaigen Fehler korrigieren könnte. Außer den Vorlesungen an meiner Universität (3 Jahrgänge mit je einer Wochenstunde nebst klinischem Unterricht) habe ich nun auch noch zwei Abendstunden in einer katholischen Negeruniversität angenommen, wo ich für anständige Bezahlung Soziale Psychiatrie vortrage (EFHAZ).

Im Brief vom 4. 11. 1936 an seine Tochter Runa beschreibt Wexberg auch seine Tätigkeit an der Universität: Ich habe natürlich immer viel zu tun, mindestens so viel wie Du. Die Vorlesungen an der Universität haben wieder begonnen, und weil ich derzeit keinen Assistenten habe, muss ich den ganzen Unterricht allein machen. Außerdem habe ich für meine Patienten im Spital zu sorgen und muss mit Kindern und Eltern in der Erziehungsberatungsstelle sprechen. In einer Woche fahre ich zu einem Ärztekongress nach Baltimore, wo ich einen Vortrag halte (Brief von Wexberg an die Tochter Runa, 4. 11. 1936).

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Vorlesungsskripte: Introduction to Medical Psychology In seinem 1947 in New York erschienenen Lehrbuch »Introduction to Medical Psychology« sind die Inhalte seiner Vorlesungen nachzulesen. Im Vorwort berichtet Wexberg (1947), dass er von 1935 bis 1942 an der Louisiana State University, School of Medicine, unterrichtete. Für Studenten im zweiten Studienjahr war im Curriculum ein Kurs über Medizinische Psychologie vorgesehen. Da es zur damaligen Zeit für dieses Fach noch kein entsprechendes Lehrbuch gab, habe er seine in Louisiana entwickelten Vorlesungsskripte zu einem Lehrbuch für Medizinstudenten und praktizierende Ärzte zusammengefasst. Das Buch enthält 6 Kapitel und gibt einen Überblick über Wexbergs Konzepte und Schwerpunkte in seiner Arbeit mit den Medizinstudenten: Individual and Community, Knowledge and Action, Emotions and Instincts, Temperament, Personality and Character, Genetic Psychology, Methods and Technic of Clinical Psychology. In der Einleitung gibt Wexberg einen historischen Überblick über die Weiterentwicklung und die Bedeutung psychologischer Kenntnisse in der Geschichte der Medizin und Psychiatrie vom Altertum bis zur Neuzeit. Die Darstellung der modernen Psychologie beginnt mit einer kurzen Beschreibung der Experimentalpsychologie Wilhelm Wundts und der klassischen Psychiatrie mit ihrem Hauptvertreter Emil Kraepelin und führt weiter zu den Entdeckungen des Behaviorismus bis hin zur Gestaltpsychologie. Eine besondere Beachtung schenkt er Sigmund Freud und seiner psychoanalytischen Methode, die gegenwärtig weder von der Psychologie noch von der Psychiatrie mehr ignoriert werden könne. Die gegenseitige Blockierung von Psychologie und Psychiatrie sei nunmehr überwunden. Beide würden beginnen, die gleiche Sprache zu sprechen. Besonders wichtig ist Wexberg, und hierin zeigt sich seine individualpsychologische Schulung, die psychologische Erhellung des Beziehungsgeflechts zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Hier gehe es um Ziele, Einstellungen und Motivationen, die das menschliche Handeln begründen. Menschliche Verhaltensmuster auf höchstem Niveau können unter den vereinfachenden Bedingungen von Laboratoriumsexperimenten nicht dargestellt werden. Tiefere psychologische Einsichten sind nur aus einer systematischen Beobachtung des tatsächlichen Verhaltens und aus einer Beschreibung eines aktuellen Beziehungsgeschehens zu erwarten. Es folgt eine 124

Würdigung der Leistungen der Individualpsychologie. Das sensible Beziehungsgeflecht zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft wurde in seiner ganzen Bedeutung zuerst von Alfred Adler und seiner Schule, der Individualpsychologie, erkannt. Seine Ideen erwiesen sich in dem neuen Feld der »Mental Hygiene« als richtungweisend, insbesondere in Bezug auf die Behandlung von Kindern. Von praktischer Seite öffnete dies das Feld für die präventive Arbeit in der Psychiatrie. Verhaltensprobleme und Kriminalität konnten nun als Ausdrucksformen fehlgeleiteter zwischenmenschlicher Beziehungen und sozialer Motivationen verstanden werden. Hieraus habe sich eine vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie, Psychologie und Soziologie entwickelt. Wexberg verweist auf die interdisziplinären Teams in Erziehungsberatungsstellen, Schulen und Familiengerichten. Zum Abschluss seiner Einleitung begründet Wexberg die zunehmende Wichtigkeit psychologischer Kompetenzen für Ärzte, indem er darauf hinweist, dass die psychosomatische Medizin in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen habe. Wenn mehr als 50 Prozent aller Krankheitsbefunde in der Arbeit eines praktischen Arztes psychosomatische Ursachen hätten, sollten die Ärzte psychotherapeutische Methoden kennen. Eine klare Grenzziehung zwischen somatischen und psychosomatischen Beschwerden sei nicht möglich: Deshalb ist Psychologie eine der Fertigkeiten, die der Arzt an der Bettkante unabhängig von den gegebenen Bedingungen braucht. Der alte Spruch, dass wir nicht Krankheiten behandeln, sondern kranke Menschen, wird jetzt verwirklicht, indem wir die Mediziner lehren, nicht nur die Pathologie zu verstehen, sondern auch die Persönlichkeit (Wexberg, 1947, S. 8).

Während die Kapitel 2 bis 6 seiner »Introduction to Medical Psychology« Themen behandeln, die mehr oder weniger auch in späteren Einführungen in die Medizinische Psychologie besprochen werden, fällt das erste Kapitel mit dem Titel »Individual and community – Cross section of a man’s life« aus dem Rahmen üblicher medizinischer Abhandlungen. Wexberg versucht in diesem Kapitel den werdenden Ärzten die philosophischen und soziologischen Grundlagen ihres Berufes nahezubringen. Zu Beginn des Textes analysiert er in sich erweiternden Kreisen die sozialen Beziehungen eines fiktiven Medizinstudenten, um dann zu seinem eigentlichen Thema zu führen, den unterschiedlichen Wertesystemen der Gruppen, in die der Student integriert ist. 125

Über die Diskussion von moralischer und intellektueller Verantwortung für das eigene Handeln führt der Weg zu den Wertesystemen, die jeder Gesellschaft zugrunde liegen. Die im Wesentlichen sozialen Werte lassen sich in ethische, ästhetische und Erkenntniswerte gliedern. Schließlich gelangt Wexberg zur Darstellung der Persönlichkeitswerte. Wenn er danach ausführlich die Werte von Arbeit und Gemeinschaft diskutiert und die Beziehung zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts beschreibt, befindet er sich wieder auf dem Boden der individualpsychologischen Theorie. In der Beurteilung jedes Beziehungsgeschehens müsse man auf die dynamischen Interaktionen aller Beteiligten achten: Immer wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, wie z. B. bei Eheleuten oder Eltern und Kindern, sollte die psychische Beobachtung die Einstellungen aller Beteiligten berücksichtigen (Wexberg, 1947, S. 43).

Wexberg spricht hier von Gesetzen der dynamischen Interaktion im Beziehungsgeschehen und nimmt hierin spätere Erkenntnisse der Familientherapie vorweg. In diesem ersten Kapitel, in dem es vornehmlich um Ethik geht, wird besonders deutlich, dass Wexberg hohe Ansprüche an seine amerikanischen Medizinstudenten stellte, wenn er sie mit den Ergebnissen der europäischen Philosophie, Psychologie und Soziologie konfrontierte. Wichtige Schriften aus den Jahren 1934 bis 1942 In dem monumentalen 17-bändigen »Handbuch der Neurologie«, das Otfried Foerster und Oswald Bumke in den Jahren 1935 bis 1936 herausbrachten, verfasste Wexberg zunächst zwei kurze Artikel zum achten Band mit den Titeln »Allgemeine Neurologie: Balneotherapie« und »Klimatherapie«. Zum 1. Band des neuen Handbuches schrieb Hallervordern eine Rezension: Dieser umfangreiche Band, welcher das mit Spannung erwartete neue Handbuch der Neurologie einleitet, ist mehr als eine bloße Übersicht für den Neurologen; es ist gleichzeitig ein selbständiges Werk, wertvoll auch für den Anatom, das über eine bloße Zusammenstellung des Bekannten weit hinausgeht. […] Die Ausstattung ist glänzend, auch in der Wiedergabe der wunderschönen Abbildungen ist der Fortschritt gegenüber dem alten Le-

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wandowsky unverkennbar. Wir haben allen Grund, dem Verleger dankbar zu sein, daß er ein solches Werk ins Leben rief, welches geeignet ist, zur Weltgeltung unserer Wissenschaft beizutragen (Hallervordern, 1935, S. 196).

Die Tatsache, dass Wexberg, Professor in New Orleans, in den Kreis der Autoren dieses Monumentalwerkes aufgenommen wurde, weist ihn als anerkannten Neurologen im deutschsprachigen Raum aus. 1937 veröffentlichte Wexberg »Our children in a changing world«. Dieses Buch wurde 1949 ausführlich und sehr positiv in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« von Paul Fischl, Wien, rezensiert. Fischl zeigte sich zu Beginn seines Beitrags erfreut, »endlich einiges von unseren Amerikanern zu erfahren«. Er ging irrtümlich davon aus, dass Wexberg noch Professor für Neuropsychiatrie an der Louisiana State University und Direktor des »New Orleans Institute for Child Guidance« sei, und stellte mit Genugtuung fest: Inhaltlich ist »Our children« der Wexberg, den wir alle kennen. Vergleicht man allerdings Wexbergs Text, »Our children in a changing world« (1937) genauer mit dem 1931 in Leipzig erschienenen Buch »Sorgenkinder«, so stellt sich heraus, dass der neue Text inhaltlich mit wenigen Abweichungen ganz dem früheren Text entspricht. Dies vermindert allerdings nicht die Bedeutung des Werkes. 1936 erwarb Wexberg an der Louisiana State University das amerikanische Doktorat. Im Dezember 1938 qualifizierte er sich vor der American Psychiatric Association als Psychiater und Neurologe.

Die Rolle der Individualpsychologie in den USA Zu Lebzeiten Alfred Adlers erlebte die Individualpsychologie eine Blütezeit in den USA. Seine Ideen fanden eine große Resonanz, vor allem im Erziehungsbereich. Zeitweise hatte er bei seinen zahlreichen Vorträgen bis zu 2000 Hörer (Rattner, 1972). Schon 1935 gründete er das amerikanische »International Journal of Individual Psychology«. Nach dem Tod Adlers am 28. 5. 1937 in Aberdeen veränderte sich die Stimmung gegenüber der Individualpsychologie. Mit der Machtergreifung Hitlers hatte eine Emigrationswelle eingesetzt. Zahlreiche führende künstlerische und intellektuelle Persönlichkeiten, unter 127

Abbildung 9: Wexberg in New Orleans, um 1941

ihnen eine große Anzahl prominenter Psychoanalytiker, Ärzte und Psychiater, emigrierten nach Amerika, bauten ein Netzwerk auf und besetzten bald die wichtigsten freien Stellen in Kliniken und entsprechenden Verwaltungen. 1938 stellte das erste individualpsychologische Magazin, das »International Journal of Individual Psychology«, sein Erscheinen ein. 1940 gab dann Rudolf Dreikurs die Zeitschrift mit dem neuen Titel »Individual Psychology News« heraus, die 1941 in »Individual Psychology Bulletin« umbenannt wurde. 128

Terner (1978) erwähnt in seiner Dreikurs-Biographie, dass Wexberg seine individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle, die er am Medical Center der Universität in New Orleans gegründet hatte, aufgrund des Drucks von psychoanalytischer Seite wieder aufgeben musste. Von Wexberg selbst liegen hierfür keine entsprechenden Hinweise vor. In seinem Brief an Dr. Freistadt Herzka vom 13. 6. 1941 berichtet Wexberg, er sitze immer noch in New Orleans, materiell recht schäbig versorgt, ansonsten aber sei er mit seiner klinischen und pädagogischen Arbeit zufrieden. Von einer Schließung der individualpsychologischen Erziehungsberatungsstelle ist hier keine Rede. Allerdings beschreibt Terner anschaulich die Schwierigkeiten, denen individualpsychologische Therapeuten in ihrer Arbeit mit Kindern und Familien in dieser Zeit ausgesetzt waren: Die führenden Freudianer, die jetzt innerhalb der Psychohygiene und der Erziehungsberatungsbewegung die Entscheidungen trafen, waren unnachsichtig in ihrer Opposition gegenüber allen nichtpsychoanalytischen Konzepten und Praktiken, und zwar besonders in Bezug auf jene, die als adlerianisch erkannt wurden. Sie lehnten diese als vereinfachend und oberflächlich ab, unfähig, das Unbewusste des Patienten auszuloten, um die unterdrückte Sexualität und Feindseligkeit zu enthüllen. Die adlerianische Methode in der Erziehungsberatung mit ihren offenen Sitzungen, ihre Auffassung, dass Probleme eher durch zwischenmenschliche als durch intrapsychische Schwierigkeiten verursacht werden, die Praxis, Kinder in einer offenen und nicht herablassenden Diskussion über die Hintergründe ihres Verhaltens anzusprechen, wurden mit Nachdruck verurteilt. Da ihnen jegliche Unterstützung in der Berufsgemeinschaft fehlte und sie ihre Stellen in den Krankenhäusern, Kliniken und Universitäten gefährdet sahen, waren die adlerianischen Therapeuten in ihrer klinischen Arbeit mit Kindern und Familien buchstäblich gezwungen, die Tür zu schließen (Terner u. Pew, 1978, S. 146).

Diese Diskriminierung blieb nicht ohne Wirkung. Es war in dieser Zeit nicht opportun, sich als Individualpsychologe zu erkennen zu geben. Es gab aber einen Gegenpol, das war der Kreis um Rudolf Dreikurs in Chicago. Rudolf Dreikurs (1897–1972) hatte sich, nachdem er 1940 die Vierteljahreszeitschrift »Individual Psychology News« neu herausgegeben hatte, nach und nach eine führende Stellung in den individualpsychologischen Kreisen erobert und wurde zum bedeutendsten 129

Vertreter der Individualpsychologie in den USA. Er engagierte sich insbesondere in pragmatisch-pädagogischen Bereichen. Dabei kam es zu einer Überbewertung des finalistischen Ansatzes und zu einer Vernachlässigung der tiefenpsychologisch-analytischen Seite der Individualpsychologie. Mit seiner starken Persönlichkeit und seinem Machtbewusstsein widersetzte sich Dreikurs kämpferisch dem Druck, der von der psychoanalytischen Vorherrschaft ausgeübt wurde. Wenig Verständnis allerdings brachte er für ehemals prominente Individualpsychologen auf, die seiner Meinung nach dem Druck nachgaben und damit die Sache Adlers und der Individualpsychologie verrieten. Später hat dann der Individualpsychologe Michael Titze (Brunner, Kausen u. Titze, 1985) den Begriff »Kryptoadlerianer« geprägt und dabei ausdrücklich auf Wexberg hingewiesen. Es ist fraglich, ob diese Zuschreibung Wexberg gerecht wird. Wexberg hatte sich schon in den frühen 1930er Jahren in seiner Korrespondenz mit Adler von dessen kämpferischer Einstellung gegenüber Freud und der Psychoanalyse distanziert. Seine allmähliche Distanzierung von der Individualpsychologie als Institution vollzog sich nicht aus opportunistischen Motiven, sondern aus inhaltlichen Gründen. Titze gibt als Quellen für seine Formulierung Terners Biographie über Dreikurs (1978), dessen Selbstbeschreibung in »Psychotherapie in Selbstdarstellungen« (1973) und Freuds »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« (1914) an. Von nun an wurde immer, wenn es um Wexbergs Lebenszeit in den USA ging, der Begriff »Kryptoadlerianer« ins Spiel gebracht. Im Jahr 1942, noch in New Orleans verfasst, erschien ein Beitrag Wexbergs zu dem vorgegebenen Thema »The future progress of individual psychology« in den seit 1940 herausgegebenen »Individual Psychology News« (Wexberg, 1942). Zu demselben Thema nahm in dieser Ausgabe auch der Individualpsychologe Heinz L. Ansbacher Stellung. 1987 wandte sich Ansbacher (1988), der den Text »Kryptoadlerianer« in dem »Wörterbuch der Individualpsychologie« (Brunner, Kausen u. Titze, 1985) sicher kannte, an den Psychologieprofessor Harrison Gough mit der Frage, ob sich Wexberg in der gemeinsam verbrachten Zeit vor dem Kriegsende als Individualpsychologe zu erkennen gegeben habe, und benutzte dabei eine Wendung aus Wexbergs Artikel aus dem Jahr 1942. Er fragte Gough »wether Wexberg mentioned his Adlerian background because in his later years he saw no use in continually reminding people of Adler«. 130

Wexberg (1942) hatte sich in seinem Artikel von den vorherrschenden Einstellungen führender amerikanischer Individualpsychologen distanziert und ihnen seine Auffassung entgegengestellt, indem er seine Haltung zur Individualpsychologie und zu dem Anspruch, sich für eine weitere Verbreitung der individualpsychologischen Ideen einzusetzen, kurz, aber eindeutig darlegte. Ähnlich wie früher in seinen Diskussionen mit Adler lehnte er es ab, wissenschaftliche Theorien in öffentlichen Debatten zu bekämpfen. Es sei wenig sinnvoll, Sozialarbeiter, Lehrer oder Eltern zu lehren, dass die Psychoanalyse insgesamt falsch sei, selbst wenn man es glaube. Derartige Diskussionen sollten den Psychologen und Psychiatern vorbehalten sein. Aus diesem Grund und nicht, weil er gezögert habe, sich als Adlerianer zu bekennen, habe er nur in Ausnahmefällen den Namen Adler in seinen Veröffentlichungen genannt. Wenn man die Bemühungen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten, immer mit dem Namen Adler verbinde, käme man in den Verdacht des Sektierertums. Dass Wexberg mit diesem Urteil (1942) nicht ganz Unrecht hatte, kann man einem Artikel von Rainer Schmidt entnehmen, den er im Anschluss an den 16. Kongress der Individualpsychologie in Montreal schrieb: Es gab Zeiten; da erlebte ich die Individualpsychologie durchaus in der Gefahr, zu einer starren Heilslehre zu entarten. Manche Individualpsychologen schienen zu glauben, daß sie – dank Adler und Dreikurs – in den Besitz der einzigen richtigen psychologischen Theorie über den Menschen gekommen seien, ja daß die Individualpsychologie mehr sei als eine psychologische Theorie, nämlich eine Weltverbesserungslehre, die grundsätzlich nicht mehr geändert werden müsse, sondern allenfalls einiger Ausfeilungen und Ergänzungen bedürfe. Die Individualpsychologie – so schien es mir – drohte aus dem dialogischen Zusammenhang mit den anderen Schulen und der gegenwärtigen realen Welt überhaupt zu fallen (Schmidt, 1986, S. 124).

Wexberg wollte sich nicht mehr in eine individualpsychologische Mission einbinden lassen: Das schadet Adler kaum. Lasst doch seine Biographen und uns als seine Freunde uns seines Rufs als Mensch und als großer Lehrer annehmen. Aus diesem Grunde sehe ich keinen Sinn darin, individualpsychologische Zentren zu gründen. Stattdessen lasst uns das Wissen, das wir für wichtig und nützlich halten, überall dort ausbreiten, wo immer wir bereits existierende

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Laienorganisationen finden, die an praktischer Psychologie, Erkenntnissen über die Natur des Menschen oder Erziehung interessiert sind. Die Tatsache, dass wir in derartigen Zirkeln auch Freudianer, Jungianer, Rankianer, Semantiker und wen auch immer treffen werden, macht die Sache nur interessanter. Es bringt nichts, uns gegenseitig zu bekriegen. Die anderen könnten von dem, was wir zu sagen haben, profitieren und umgekehrt. Vielleicht ist auch in ihren Fehlern etwa Wahres verborgen (Wexberg, 1942, S. 58).

Mit diesem Artikel distanzierte sich Wexberg deutlich von den bereits in den USA existierenden individualpsychologischen Gruppen und ihrer Tendenz, die tiefenpsychologischen Grundlagen der Individualpsychologie weiter zu vernachlässigen. Eine noch von Adler und Künkel ausgebildete Individualpsychologin berichtete, wie sie tief deprimiert und entsetzt nach einem von Dreikurs abgehaltenen Seminar feststellte, dass die für sie wichtigen tiefenpsychologischen Erkenntnisse Adlers durch eine kognitive, finalistische Betrachtung völlig verdrängt waren (Lehmkuhl, 1991, S. 16). Interessant ist, dass Wexbergs Schwägerin und Schwager, Danica Deutsch und Leonhard Deutsch, leidenschaftliche Vertreter der zu dieser Zeit in den USA vorherrschenden individualpsychologischen Richtung waren und sich im New Yorker Institut für Individualpsychologie engagierten. Hieraus ergab sich auch privat eine gewisse Distanz zu Wexberg. Bis 1943 wurde Wexberg noch als Mitglied des recht umfänglichen »Advisory Board« der Zeitschrift »Individual Psychology Bulletin« genannt und sogar in die »Honor Role« aufgenommen. Im Frühjahr 1944 aber änderte Dreikurs die Aufmachung der Zeitschrift, und der »Editoral Staff« beschränkte sich jetzt nur noch auf vier Mitglieder: Rudolf Dreikurs, Lela Lewis Boylas, Irwing Moore und Elisabeth C. Lewis. Von diesem Zeitpunkt an erschien kein Artikel mehr von Wexberg. Er wurde auch nicht mehr erwähnt bis auf einen Artikel des Psychologen Paul Rom [Pseudonym von Paul Plottke] (1947) zum Thema »Adler and the others«, in dem Plottke Wexbergs »Handbuch der Individualpsychologie« als das vollständigste und systematischste Lehrbuch der Individualpsychologie bezeichnete.

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Familiäre Veränderungen Die jüngste Tochter Wexbergs berichtet in einer E-Mail vom 11. 1. 2004, dass ihre Mutter, Friedl Hoffmann, geb. 27. 7. 1906, 1935 von ihrem Vater nach New Orleans geholt wurde. Kennengelernt hatte Wexberg seine spätere Frau im Jahr 1929. Die Familie Hoffmann stammt ursprünglich aus dem polnischen Buchacz. Frau Hoffmanns Vater war in diesem Ort als erfolgreicher Bankier ein angesehener Mann. Während der Judenpogrome im Ersten Weltkrieg musste die Familie Buchacz verlassen und zog in die österreichisch-ungarische Metropole Wien. Hier konnte der Vater nicht mehr Fuß fassen. Klingberg beschreibt in seiner Viktor-Frankl-Biographie sehr anschaulich die Schwierigkeiten, denen sich zur damaligen Zeit jüdische Emigranten aus Russland und Polen ausgesetzt sahen: In der Epoche der österreichisch-ungarischen Monarchie kamen, wie Viktor betonte, zahlreiche Juden aus Polen nach Wien, und dieser Zustrom veränderte das Gepräge der Stadt. Vor allem die Ostjuden wurden zur Zielscheibe des Antisemitismus. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung gab es große soziale und kulturelle Unterschiede. Manche waren reich, andere gehörten der Mittelschicht an, viele waren bettelarm. Insbesondere zwischen den galizischen oder Ostjuden, die hauptsächlich aus Russland oder Polen kamen, und der Mehrheit der alteingesessenen, assimilierten Juden, die auf die galizischen Einwanderer herabsahen, bestand eine tiefe Kluft. »Polnischer Jude« war eine abschätzige Bemerkung, die auch von ungarischen und österreichischen Juden benutzt wurde (Klingberg, 2002, S. 81).

Ruth Wexberg-Poh schreibt, dass sich ihre Mutter in ihrer Wiener Zeit in der Tagespolitik engagierte. Friedl war liberal eingestellt und kannte sich, wie aus einem Brief Wexbergs an sie hervorgeht, auch im individualpsychologischen Umfeld aus. Sie war in Wien als Lehrerin für geistig behinderte Kinder tätig gewesen. Die Heirat erfolgte am 6. 3. 1936, einen Monat nach der Scheidung Wexbergs von Lili. Ruth wurde am 26. 2. 1938 geboren. Lili Wexberg reiste mit den Kindern Alba und Runa in der »Reichskristallnacht« 1938 direkt nach London. Alba fuhr weiter nach Schottland, um dort eine Stelle als Nurse bei zwei kleinen Kindern anzunehmen. Dies war damals notwendig, um ein englisches Visum zu erhalten. 133

Die Mutter nahm in London eine Wohnung. Ursprünglich wollte die Familie in die USA einreisen. Für diese Einreise waren aber Quoten festgelegt, die Lili Wexberg noch nicht erfüllte. Nur Runa durfte angesichts der drohenden Bombardierung Londons bereits im Juni 1940 nach New Orleans auswandern. Sie hat die Wiederbegegnung mit dem Vater und seiner zweiten Frau in zwiespältiger Erinnerung. Das Zusammenleben mit Vater und Stiefmutter fiel der inzwischen Dreizehnjährigen nicht leicht. Als sich 1942 abzeichnete, dass die Familie nach Newton, Massachusetts, umziehen würde, zog Runa zunächst in eine Studentenwohnung der Louisiana State University, um danach nach New York umzusiedeln, wo sie bei einer Cousine wohnen konnte, bis ihre Mutter im Herbst 1943 nach New York immigrierte. Hier lebte Runa bis zu ihrer Heirat im Juni 1945.

Abbildung 10: Wexberg als Major des Medical Corps der Armee der Vereinigten Staaten. Er hatte sich im Winter 1942 freiwillig gemeldet, leitete bis 1945 eine Reihe von neurologischen Kliniken.

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Ruth Wexberg-Poh vermutet, dass gesundheitliche Gründe für den Umzug der Familie nach Newton ausschlaggebend waren. Die Mutter vertrug das feuchtheiße Klima in New Orleans nicht. Klimaanlagen gab es damals noch nicht. Sie litt an einem Hautausschlag an den Händen (Pilzinfektion), der sich auch durch ärztliche Behandlung nicht besserte. Wexberg arbeitete in Newton an einer psychiatrischen Klinik, in deren Bereich auch die Familie wohnte. Nachdem sich Wexberg im Herbst 1942 freiwillig zum Medical Corps der Armee meldete und feststand, dass er im Panamagebiet eingesetzt werden würde, zog seine Frau mit der kleinen Tochter Ruth für eineinhalb Jahre nach New York. Erst nach Wexbergs Versetzung nach Cornvallis/Oregon fand die Familie wieder zusammen.

Freiwilliger Dienst in der Armee (1942–1945) Nachdem die Japaner am 7. 12. 1941 Pearl Harbour angegriffen hatten, erklärten die USA am 8. 12. 1941 den Japanern den Krieg. Am 11. 12. 1941 folgten die Kriegserklärungen von Deutschland und Italien an die Vereinigten Staaten. Wexberg meldete sich im Alter von 53 Jahren 1942 als Freiwilliger zum Medical Corps der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika. Er begann seine Tätigkeit als Armeearzt im Range eines Majors in der Neuropsychiatrischen Sektion des Armeehospitals Gorgas, Ancon, in der Panamazone. Die Panama Canal Zone wurde von 1903 bis 1977 von den USA kontrolliert und im Wesentlichen militärisch genutzt. Das Gebiet liegt in der Tropenzone. Das Klima ist während des ganzen Jahres sehr heiß und feucht. In dem Zeitraum von Ende 1942 bis Ende 1943 hat Wexberg etwa 400 Briefe an seine junge Frau geschrieben. Der größte Teil der Briefe ist privater Natur. Wexberg interessierte sich für die täglichen Sorgen seiner Frau, er fragte nach der Tochter Ruth und gab Ratschläge in Erziehungsfragen. Wexberg berichtete aber auch ausführlich über seinen beruflichen Alltag, über gesellschaftliche und politische Fragen und nahm zu den Problemen seiner Zeit Stellung. Hinzu kamen aufschlussreiche Erinnerungen an seine Kindheit und sehr persönliche Anmerkungen zu sich selbst.

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Arbeitssituation an der Neuropsychiatrischen Militärklinik im Panamagebiet In seinem Brief vom 31. 12. 1942 aus der Anfangszeit seiner Tätigkeit an der Neuropsychiatrischen Klinik beklagte sich Wexberg noch über die aus seiner Sicht eintönige Arbeitssituation. Am 16. 1. 1943 hatte sich dies verändert: Neben der Behandlung von Patienten mit Gehirntumoren beschäftigte sich Wexberg nun auch mit der Alkoholproblematik vieler Soldaten. Die meisten Fälle psychischer Erkrankungen, die in die Gorgas-Klinik aufgenommen wurden, seien Alkoholiker. Es gebe einen speziellen Bereich in der Klinik für Alkoholiker, eine Vorhalle mit acht Betten, in die überwiegend Samstag- oder Sonntagnacht betrunkene Soldaten aufgenommen wurden, die von der Militärpolizei aufgegriffen worden waren. Es habe sich sich meist um junge Menschen gehandelt, die es schwer hätten, sich den harten Bedingungen des Militärs anzupassen. Am 11. 8. 1943 gab Wexberg eine detaillierte Beschreibung seines Tagesablaufs an der psychiatrisch-neurologischen Abteilung der Klinik. Er sei inzwischen in der zeitlichen Gestaltung völlig frei. Angesichts der besonderen klimatischen Bedingungen der Panamazone bevorzugte es Wexberg, die Hauptarbeit in die Morgenstunden zu verlegen und sich die Nachmittage möglichst freizuhalten. Die Arbeit beginne gewöhnlich um 7.45 Uhr mit der Visite der neuropsychiatrischen Patienten, die über das ganze Klinikareal verteilt seien. Danach treffe er sich mit Dr. Scott, der inzwischen ebenfalls seine Visiten abgeschlossen habe und ihm über Verlegungen oder Neuzugänge sowie über wichtige Ereignisse Bericht zu erstatten habe. Anschließend besuche er noch zwei bis drei Patienten, falls nichts Unvorhergesehenes dazwischenkomme. Das Mittagessen nehme er zu Hause ein, meist ein kleines Sandwich und eine Tasse Kaffee, höre Nachrichten und lasse es sich bis ca. 13 Uhr gutgehen. Nun begebe er sich wieder in die Klinik, in der sich inzwischen eine Anzahl von Patienten angesammelt habe. Die Konsultationen seien meist gegen 16 Uhr beendet. Immer wieder aber kämen Kleinigkeiten dazwischen, wie etwa das Ausfüllen von Verlegungspapieren oder Stabskonferenzen. Nächtliche Anrufe ließen sich meist telefonisch regeln. Im Ganzen sei die Arbeit abwechslungsreich und interessant.

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Zwischen Neurologie und Psychotherapie Seit er zur klinischen Arbeit, insbesondere zur Neurologie, zurückgekehrt sei, schreibt Wexberg am 3. 6. 1943, habe er seine Berufung gefunden. Innerhalb des Rahmens der Neuropsychiatrie erscheine ihm sogar die psychotherapeutische Arbeit befriedigender als zu jener Zeit, in der er mit ihr sein Brot verdienen musste. Er möge es, wenn Soldaten zu ihm kämen und mit ihm über ihre Probleme sprächen. Meist seien es junge Männer mit einer Vaterfixierung, wie es die Psychoanalytiker nennen würden. Er nehme die Vaterrolle bereitwillig an, nenne sie »Sohn« und spende Weisheiten des gesunden Menschenverstandes. Ein Pfarrer könnte es genauso gut, dieser wüsste allerdings nicht, in welcher Weise und wie alles zusammenhinge. Der Abstand, den Wexberg inzwischen zu seiner früheren Tätigkeit als Psychotherapeut eingenommen hatte, drückt sich besonders deutlich in einem Textabschnitt des Briefes vom 21. 7. 1943 aus. Hier äußerte er, er habe die Psychotherapie schon immer gehasst. Das einzig Wahre sei, etwas in einem einzigen Gespräch zu klären. Es werde nicht analysiert, Verstehen sei alles. Das sei vielleicht etwas oberflächlich, aber oft sei es tief genug, »um das Rad zu drehen«. Manchmal helfe es, manchmal nicht. Vielleicht nur deshalb, weil der Patient die Therapiestunde mit der Vorstellung verlasse, dass das alles war, was der Therapeut für ihn tun könne, und dass er den Rest allein bewältigen müsse; etwas, was er natürlich nicht empfinden würde, wenn er mit einer kontinuierlichen Behandlung rechnen könne. Im Brief vom 23. 11. 1943 nahm Wexberg dieses Thema wieder auf. Er könnte mehr tun, wenn er in allen Fällen, die es nötig hätten, psychotherapeutische Gespräche anbieten würde. Aber er hasse diese Art der Arbeit, und da er nicht dazu gezwungen sei, begrenze er seine Anstrengungen in dieser Hinsicht auf ein bis zwei Gespräche. Wahrscheinlich sei dies für den Patienten auch besser. Manchmal sei man in der Lage, ihn mit einer völlig neuen Sicht zu überraschen, und er gehe seiner Wege und probiere es aus. Jede Folgestunde würde nur seine Kritik und Opposition hervorrufen: Ich habe in dieser Art mit Heranwachsenden in Wien gearbeitet. Jetzt, da ich älter bin, kann ich es auch mit Erwachsenen. Natürlich hilft es nicht immer. Es ist nicht die grundsätzliche Änderung der Persönlichkeit, die wir mit Hilfe der analytischen Behandlung anstreben. Nur glaube ich nicht mehr

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an diese radikale Kur. Vielleicht ist es ratsamer und weniger radikal, dem Patienten einen deutlichen Anstoß zu geben, sich selbst aus eigener Kraft aus seinen Problemen herauszuarbeiten. Natürlich muss man, um das zu schaffen, wissen, an welcher Stelle man anstoßen sollte. Und das würde ich wohl kaum wissen, hätte ich nicht so viele Jahre an analytischer Erfahrung. Aber zum jetzigen Zeitpunkt scheint mir dies ein neuer Weg der Psychotherapie zu sein, wenn man daraus ein lehrbares System entwickeln könnte. Die Basis dafür läge eher in der Gestaltpsychologie als in der Individualpsychologie oder Psychoanalyse, etwa in der Art von Ida Löwys Tricks in ihrer Arbeit mit Kindern, die nichts oder sehr wenig mit Adler zu tun hatten. In einem Patienten die Erkenntnis in Form einer Einsicht aufleuchten lassen, dass das, was er bisher für einen Wolf hielt, von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet ein Lamm ist, oder, was er für einen Drachen hielt, sich als ein Berggipfel mit unbegrenzten Möglichkeiten offenbart. Natürlich muss es wahr sein. Es bringt nichts, jemanden etwas vorzumachen. Manchmal braucht man einige wenige Interviews, um jenen großen Augenblick der Umwertung der Werte hervorzurufen, aber wenn das geschehen ist, sollte man die Behandlung sofort abbrechen und den Patienten erst nach einem oder zwei Monaten zu einer Überprüfung wiedersehen (Brief von Wexberg an Friedl vom 23. 11. 1943).

Der Brief vom 3. Juni 1943 Der bereits erwähnte vierseitige Brief vom 3. 6. 1943 ist für das Verständnis von Wexbergs negativer Einstellung während seines Militärdienstes zur Individualpsychologie und zu Alfred Adler von Bedeutung. Der Brief beginnt mit einer ebenfalls schon zitierten stimmungsvollen Erinnerung an den Geburtstag seiner Mutter und endet abrupt mit einem Stimmungsbruch: »Next day, I might be whipped again, deservedly. Even Dad used to be nice to mother, on June 3.« Danach berichtet Wexberg, dass er mit einer neuen, viel versprechenden Idee spiele. Dabei gehe es um festgelegte Verhaltensmuster, ererbt oder erworben, und ihre Bedeutung für das Verständnis von Neurosen, Psychosen und für das Alter. Mit Gedanken zu spielen, sei das richtige Wort. Es folgt nun ein äußerst selbstkritischer Text. Als er jünger gewesen sei, habe er sich hingesetzt und Gedanken, die ihm bedeutungsvoll und klar erschienen seien, niedergeschrieben, so dass er darüber ein Buch schreiben wollte, was er aber nie getan habe. 138

Nach einigen wenigen Wochen sah die Idee verwittert aus und lieferte einen faden Geschmack. Was ihm sein ganzes Leben gefehlt habe, sei eine kreative Hartnäckigkeit. Wexberg verweist auf seinen Schwager Leo Deutsch, den individualpsychologischen Musiktheoretiker, dem es nicht an dieser Hartnäckigkeit gefehlt habe. Dieser konnte eine Idee über Jahre verfolgen. Was diesen Ideen allerdings fehlte, war die Wirklichkeitsnähe. So seien sie aus unterschiedlichen Gründen keine Genies geworden. Nun folgt der bereits zitierte Abschnitt über Wexbergs Einstellung zu Neurologie und Psychotherapie am Beispiel der jungen Soldaten mit dem Hinweis auf die Arbeit des Pfarrers, die derjenigen des Therapeuten in gewisser Weise vergleichbar sei: Der Pfarrer könnte es genauso gut, nur weiß er nicht wie und welche Hintergründe alles hat. Andererseits verfügt er über ein ethisches Training, das meinem weit überlegen ist, da ich so viele Jahre in der Individualpsychologie verhaftet war. Ich habe viel von Adler gelernt. Das ist wahr, aber, alle seine Bücher – und meine – sollten neu geschrieben werden, entweder alle Ethik beiseite lassend, was sie der Psychoanalyse deutlich näher brächte, oder mit einem besseren ethischen Unterbau: Seiner oder meiner waren entschieden armselig und dem, was die Philosophie und die Ethik in Jahrhunderten herausgearbeitet hat, sehr unterlegen. Und wenn man bedenkt, in New York und Chicago diskutieren immer noch Leute über das Gemeinschaftsgefühl, den größten Unsinn, den Adler je hervorgebracht hat (Brief von Wexberg an Friedl, 3. 6. 1943).

Hatte Wexberg nicht am 3. 2. 1930 anlässlich des 60. Geburtstages von Adler betont, dass der Tag, an dem Adler den Begriff des Gemeinschaftsgefühls eingeführt habe, zur Geburtsstunde der Individualpsychologie erklärt werden müsse und dass dieser Begriff nichts mit Ethik zu tun habe? In diesem Zusammenhang ist an das Gespräch Wexbergs mit den drei holländischen Besuchern im Jahre 1932 zu erinnern, in dem Wexberg darauf hinwies, dass er sich seit einiger Zeit mit den Werttheorien Nicolai Hartmanns auseinandersetze, mit dem Ziel, eine axiologische (wertphilosophische) Unterbauung der Individualpsychologie zu erarbeiten. Die harte Kritik an Adler und seinen Ideen könnte sich als Selbstkritik entpuppen, weil er seinen Vorsatz in den 1930er Jahren, die Individualpsychologie durch eine wertphilosophische Unterbauung weiterzuentwickeln, bisher nicht verwirklichen konnte. 139

Kritische Gedanken In einem späteren Brief zeigen sich deutlich resignative Züge. Er gesteht, dass er nichts mit sich anzufangen wisse, wenn er nicht arbeite. Es sei ein schwacher Punkt in seinem System, dass er nicht einfach nichts tun könne: Ich lungere einfach herum und lese Zeitschriften oder höre Radio und fühle mich unzufrieden. Ich hoffe, ich werde nicht viel länger leben, wenn ich mich einmal zur Ruhe gesetzt habe und nicht mehr arbeiten kann (Brief an Friedl vom 10. 9. 1943).

Früher habe ihm eine solche Zeit nichts ausgemacht. Er habe einfach angefangen, ein neues Buch zu schreiben; das aber würde er jetzt aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr tun. Zunächst, weil er sich über eine große Anzahl von Dingen nicht mehr so sicher sei wie vor 15 Jahren; auch weil er nicht mehr so von dem Ewigkeitswert jeder seiner Ideen überzeugt sei. Außerdem würde er in diesem Land keinen Verleger für seine Bücher finden. Nur für den Schreibtisch zu schreiben, gäbe wenig Sinn. Er ist überzeugt, dass er vieles zu sagen habe, was bisher nicht gesagt wurde, aber er habe seine Zweifel, ob es genug Leute gebe, die diesen Ideen lauschen würden. Allerdings, wenn er die Hartnäckigkeit besäße, diesen Ideen bis auf den Grund zu folgen, würde er wahrscheinlich trotzdem schreiben. Zum jetzigen Zeitpunkt mache er es nicht. Was ihm gegenwärtig Befriedigung verschaffe, sei die klinische Neurologie. Die Zeit, wieder zu schreiben, werde vielleicht später kommen. Im Brief vom 25. 8. 1943 äußerte sich Wexberg ausgiebig zu seiner Einstellung zum wissenschaftlichen Arbeiten. Zwei junge amerikanische Ärzte, die gemeinsam einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichen wollten, hatten ihn gebeten, für sie einige französische und italienische Texte zu übersetzen. Dabei stellte sich heraus, dass sie nicht an den ganzen Texten interessiert waren, sondern lediglich an den jeweiligen Zusammenfassungen. Wenn er früher so schlampig gearbeitet hätte, wie viel mehr hätte er veröffentlichen können! Er frage sich, wie viele amerikanische wissenschaftliche Arbeiten in derselben Weise zustande gekommen seien. Wenn man einen echten wissenschaftlichen Beitrag leisten wolle, wie klein er auch sein möge, dürfe man so nicht arbeiten. Er sei Emil Redlich für seine neurologische 140

Ausbildung zu Dank verpflichtet, eine Ausbildung, die er in diesem Lande nie erhalten hätte. Etwas später äußert Wexberg die Besorgnis, dass die französische und deutsche Gründlichkeit verloren gehen werde. Es sei eine gute kulturelle Mission für sie als Ausländer, den europäischen wissenschaftlichen Geist in dieses Land einzubringen. Unglücklicherweise würde niemand, ihn selbst eingeschlossen, den Kopf herausstecken, sei doch die typische Antwort hierauf: Warum gehen Sie dann nicht in ihr Land zurück? Es sei eine Schande, aber sie (die Amerikaner) nähmen keine konstruktive Kritik von Ausländern an. Das Einzige, was man tun könne, sei, sich nicht anzupassen und die besseren Standards aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob sie gewürdigt würden oder nicht.

Politische Überlegungen Am 26. 6. 1943 schrieb Wexberg, dass er mit seinen Mitbewohnern gut auskomme, solange nicht über Politik gesprochen werde. White sei ultrakonservativ und wüsste von seiner (Wexbergs) liberalen Einstellung, aber erst seit Ralstan dazugestoßen sei, genauso konservativ wie White, fühlten sich die beiden stark genug, um politische Debatten zu provozieren. Selbst harmlose unpolitische Unterhaltungen enden mit Äußerungen über die Minderwertigkeit der schwarzen Rasse. So etwas könne nicht unbeantwortet bleiben; dieser Geist amerikanischer Reaktionäre sei nicht weit vom Hitlerismus entfernt. Die Debatte über die Minderwertigkeit der Farbigen entwickelte sich, nachdem der Nachrichtensprecher über die Rassenunruhen in Detroit berichtet hatte. Am 20. 6. 1943, war es in Detroit, einem Zentrum der amerikanischen Kriegsindustrie im Bundesstaat Michigan, aufgrund des gewünschten Zustroms billiger Arbeitskräfte aus dem Süden zwischen der alteingesessenen weißen Bevölkerung und den farbigen Zuwanderern zu Rassenunruhen gekommen. 34 Menschen wurden getötet. Die Mitbewohner Wexbergs äußerten keinerlei Missbilligung über das Vorgehen weißer Rassisten. Im Gegenteil, als im Radio bekanntgegeben wurde, dass der Kongress das Veto des Präsidenten gegen die Antistreikgesetze überstimmte, tanzten die Mitbewohner Wexbergs vor Freude über die Niederlage der Arbeiter und des Präsidenten im Raum herum. 141

Etwas später meinte Wexberg, der amerikanische Konservatismus sei keine politische Doktrin, sondern ein Geisteszustand, der für Argumente völlig unzugänglich sei, ähnlich einer paranoiden Wahnvorstellung. Gegenargumente gälten nicht. Alle diese Leute seien für die Religion, aber die christliche Idee von der Unzerstörbarkeit der Würde der menschlichen Seele halte sie nicht davon ab, den »schmutzigen Nigger«, den »schmutzigen Juden« oder den »schmutzigen Dago« (Schimpfausdruck für Italiener) oder wen auch immer zu verachten. Faschisten in Europa hätten ähnliche Vorstellungen, würden sich aber nicht als Demokraten oder Christen bezeichnen. Der politischen Zukunft sah Wexberg in diesen Tagen äußerst pessimistisch entgegen. Er sei sich sicher, dass der Krieg gewonnen werde, fürchte aber den Frieden danach. Jeder könne sehen, dass es keinen Sieg der Demokratie geben werde, da niemand in den Vereinten Nationen die Demokratie wirklich ernst nehme. Wexberg beklagte die mangelnde Einigkeit in den Vereinten Nationen, wo jede Nation um ihre eigenen Interessen kämpfe und niemand bereit sei, irgendetwas für die Ideen der Gerechtigkeit und der Freiheit zu opfern. Auch in den westlichen Demokratien sah er Uneinigkeit und befürchtete, dass die USA und Großbritannien sich irgendwann mit einem wieder bewaffneten Deutschland und Japan zusammentun könnten, um das zu stark gewordene Russland niederzuringen. Schließlich, in einer späteren Zeit, komme es zu Auseinandersetzungen der westlichen Welt mit der Großmacht China, und wenn dieses ganze Durcheinander einmal vorbei sei, dann könnte vielleicht so etwas wie die Demokratie geboren werden.

Zukunftsperspektiven Am 2. 10. 1943 antwortete Wexberg auf einen Brief seiner Frau, die sich aufgrund seines Alters Sorgen um die gemeinsame Zukunft nach dem möglichen Kriegsende machte. Wexberg suchte seine Frau zu beruhigen. Es sei zwar nicht einfach, die Bedeutung des Alters für eine berufliche Zukunft angemessen zu beurteilen, seine körperliche und geistige Verfassung aber habe sich nicht verschlechtert. Er sei fähig, sich dem tropischen Klima ohne Schwierigkeiten anzupassen. Er weist darauf hin, dass sein nächtlicher Husten nahezu völlig aufgehört habe, obwohl er noch genauso viel wie früher rauche. Wexberg 142

erinnert daran, dass er inzwischen ein besserer Neuropsychiater sei als noch vor einem Jahr. Er sei sanfter geworden und diplomatischer, etwa in der Art des »keep smiling«. Aber das sei wohl eine sehr vordergründige Veränderung. Das Alter [54 Jahre] könne bei der Suche nach einer guten Anstellung ein Problem werden, aber für einen Psychotherapeuten sei dies nicht unbedingt ein Nachteil. Was die Positionen angehe, sei er für einige vielleicht überaltert. Dies werde aber durch die Tatsache kompensiert, dass er sich nach dem Krieg als Kriegsveteran bewerben könne. In den Gehaltsgruppen höherer Positionen werde die Konkurrenz für Kriegsveteranen nicht so groß sein, da die Mehrheit der Ärzte wieder nach Hause wolle, andere würden ihre früheren Positionen einnehmen, so dass er unter den dann Übrigbleibenden eine gute Chance hätte. Seine dienstlichen Beurteilungen lägen sowohl in wissenschaftlicher als auch in praktischer Hinsicht über dem Durchschnitt. Natürlich könne er jetzt nicht sagen, welche Position er dann tatsächlich einnehmen werde. Es schwebe ihm eine Anstellung etwa in einem Gesundheitsministerium vor. Qualifizierte Spezialisten würden in Zukunft gut bezahlt werden. Ein weiterer Vorteil sei, dass diese Stellen in großen Städten angesiedelt seien. Auf keinen Fall aber strebe er wieder eine Lehrposition an.

Bericht von Prof. Harrison Gough über seinen Dienst unter Wexberg Am 19. 11. 1987 bat der emeritierte Psychologieprofessor der Berkeley University, Kalifornien, Harrison Gough, den Individualpsychologen Prof. Heinz L. Ansbacher um biographische Informationen zu Erwin Wexberg. Gough beabsichtigte, einen Text über seine frühesten Begegnungen mit der Psychologie zu schreiben, und hierzu gehörte die kurze Zeit während des Krieges, in der er unter Wexberg in Camp Beale gearbeitet hatte. Ansbacher seinerseits bat Gough um eine Stellungnahme, wie er Wexberg erlebt hätte, ob Wexberg ihn beeinflusst hätte und ob Wexberg seinen individualpsychologischen Hintergrund erwähnt hätte. Ein Motiv für Ansbachers Fragestellung mag die Kenntnis des »Wörterbuchs der Individualpsychologie« (Brunner, Kausen u. Titzes, 1985) gewesen sein und die Erinnerung an Wexbergs kurzen Beitrag aus dem Jahr 1942 in der Zeitschrift »Individual Psychology Bulletin« zum Thema »The future progress of individual psychology«, 143

in dem Wexberg betont hatte, dass er keinen Sinn darin sehe, die Leser immer auf Adler zu verweisen. In seiner Stellungnahme schrieb Gough, dass er damals noch nichts über klinische Psychologie wusste, als Second Lieutenant aber direkt dem Leiter der Abteilung für klinische Psychologie, Dr. Wexberg, zugeteilt war: Was passierte, war: Er nahm mich als Auszubildenden oder Referendar an, erzählte mir, was ich lesen sollte, ließ mich an seinen neurologischen Aufnahmeuntersuchungen teilnehmen, unterhielt sich mit mir, stellte mir Fragen, um sicherzustellen, dass ich etwas gelernt hatte, und wies mich allgemein in die klinische Arbeit ein, bis ich wusste, was man als Psychologe wissen muss und wie man vorgeht. Er war ein wunderbarer Lehrer, ein freundlicher und sanfter Mann und einer der zwei oder drei begabtesten Kliniker, die ich je kennengelernt habe. Seine empathischen Talente waren hoch entwickelt, zudem verfügte er über einen klaren Blick für Lösungen, die dem gesunden Menschenverstand und alltäglichen Wissen entsprachen. Ein anderes Merkmal seines Vorgehens war eine Art stetiger, reflektierender, unaufgeregter Bewertung aller Merkmale eines Falles, bevor er zu einer Schlussfolgerung gelangte. Er hörte gut zu […] und wenn die Dinge nicht eindeutig schienen und ein klares Urteil erlaubten, wartete er oft ein bis zwei Tage, bevor er eine Diagnose erstellte und einen Behandlungsplan entwickelte. Wexberg hat nie direkt über seine Arbeit mit und unter Adler gesprochen, noch hat er mich auf seine eigenen Bücher hingewiesen außer auf ein Kapitel über tropische Psychiatrie in einem Buch, das gerade erschienen war. In meinen Recherchen stieß ich auf seinen Namen und las »Our children in a changing world«. Nach dem Krieg las ich »Introduction to medical psychology«, Ihr Buch »Superiority and social interest« und entwickelte allmählich eine Wertschätzung von Wexbergs Rolle in der adlerschen Psychologie. Ich wünschte, ich hätte dies alles gewusst, als ich nach Camp Beale kam und unter ihm arbeitete. Wexberg hatte einen bedeutenden Einfluss auf mich, mehr von seiner scharfsinnigen und einfühlsamen Art mit Patienten umzugehen und seiner nahezu perfekten Fähigkeit der Falldarstellung vor unserem Ärzteteam als durch eine formale oder systematische Präsentation der Theorien Adlers (wie ich schon erwähnte, wünschte ich, er hätte mehr davon ausgebreitet). Zweifellos waren wesentliche adlersche Gedanken in Wexbergs Methoden eingebunden und wurden bis zu einem gewissen Grad an mich vermittelt. Sie waren jedoch als solche nicht kenntlich gemacht und so war es mehr eine praktische Art des Lernens als die

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Integration einer Theorie, wie man sie an einer Hochschule vermittelt bekommt (Gough, 1988, S. 21).

Es ist schon erstaunlich, dass Wexberg seinem Assistenten Gough, den er in jeder Hinsicht zu fördern suchte, nichts von seiner herausragenden Stellung in der Wiener Individualpsychologie erzählte und ihm auch keinen Hinweis auf seine zahlreichen Veröffentlichungen gab. Dass er dies aus opportunistischen Gründen getan haben sollte, scheint sehr unwahrscheinlich. Eher könnte man davon ausgehen, dass Wexberg, seinem Charakter entsprechend, es vermied, über Dinge zu sprechen, die mit den aktuellen Gegebenheiten der neurologisch-psychiatrischen Klinik nichts zu tun hatten.

Direktor im Health Department, Washington Nach seiner Entlassung aus dem Medical Corps der Armee zum Kriegsende nahm Wexberg am 29. 10. 1945 die Stelle als leitender Direktor des neu geschaffenen »Bureau of Mental Hygiene« des Health Departments in Washington D. C. an. In dieser Eigenschaft leitete er eine Anzahl bestehender Kliniken. Seine herausgehobene Position gab ihm die Möglichkeit, gesundheitspolitisch in die etablierten Systeme einzugreifen und gesundheitsreformerisch tätig zu werden. So gelang es ihm, ein ambulantes städtisches Betreuungsnetz für psychisch Kranke aus den ärmeren Bevölkerungsschichten aufzubauen, die bisher ohne jegliche Hilfe dastanden, da sie die teuren Praxisgebühren der niedergelassenen Psychotherapeuten und Psychiater nicht aufbringen konnten. Wexberg schuf eine Reihe von städtischen Erziehungsberatungsstellen für Eltern und Kinder und für Erwachsene in seelischen Nöten. Seinem Sinn für die Lösung praktischer Probleme ist es zuzuschreiben, dass er für Krankenschwestern Fortbildungsmöglichkeiten für die ambulante oder stationäre Betreuung psychisch Kranker schuf, um so auch das notwendige geschulte Personal für seine Gesundheitsreformen zur Verfügung zu haben. Von staatlicher Seite war zu dieser Zeit für psychisch Kranke nur eine stationäre Unterbringung im St. Elisabeth Hospital, Washington, vorgesehen. In Wexbergs Kliniken fanden unter seiner Leitung regelmäßig 145

Stabskonferenzen statt. Einen Eindruck der Atmosphäre, die hier herrschte, vermittelt der Text »Remembering Erwin Wexberg«, den Paul Rom [Paul Plottke] 1979 in den »Individual Psychology News« veröffentlichte. Er zitiert Margaret Beecher, die ihm im Oktober 1978 u. a. schrieb:

Abbildung 11: Wexberg in seinem Washingtoner Behandlungszimmer. Neben dem Bild Freuds hing ein entsprechendes Bild von Adler.

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Williard und ich näherten uns dem Ende unserer ärztlichen Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs in Washington D. C., als wir in einer Zeitungsanzeige die Ankündigung bemerkten, dass Dr. Wexberg in Washington die »Mental Hygiene Clinics« in der Gesundheitsbehörde leiten werde. Wir beschlossen, dem nachzugehen, und es endete damit, dass wir in zwei von Wexbergs Kliniken über ein Jahr arbeiteten, bevor wir nach »NYC« zurückkehrten, um dort unsere eigene Beratungstätigkeit wieder aufzunehmen. Wir fanden in ihm einen feinsinnigen, hilfsbereiten, gebildeten adlerianischen Therapeuten. Er leitete die Mitarbeiterbesprechungen so, wie Adler seine Seminare führte. Er lehnte sich ruhig in seinem bequemen Sessel zurück, hörte den Berichten zu und begann dann, die Inhalte zusammenfassend: »Man sollte vorsichtig sein, jemand als schizophren zu bezeichnen. usw.« Wenn man die Augen schloss, war es fast so, als ob Adler da säße! (Rom [Plottke], 1979, S. 62).

Ruth Wexberg-Poh berichtete beim Besuch vom 8. 7. 2006, der Vater habe in seinem Washingtoner Behandlungsraum zwei große Porträts von Freud und Adler angebracht. Auch hierin kann man einen Hinweis darauf sehen, dass Wexberg seine geistige Herkunft nicht verleugnete. Schon während des Zweiten Weltkriegs, in dem Wexberg die Psychiatrischen Abteilungen verschiedener Militärkliniken leitete, befasste er sich mit dem Problemkreis des Alkoholismus. In seiner einflussreichen Position in Washington sah er nun die Möglichkeit, gestalterisch auf diesem Gebiet tätig zu werden. In der Eigenschaft als Direktor des »Bureau of Mental Hygiene« gründete er die erste städtische Klinik für Alkoholkranke. Am 3. 11. 1945, eine Woche nach seiner Ernennung zum Direktor, war in der »Washington Post« zu lesen: Dr. Wexberg, der neue Direktor des District Health Departments, eröffnete gestern Abend seine erste Klinik für Alkoholiker. Zum Saisonende hat Dr. Wexberg ganz allein 42 Patienten interviewt, davon 12 neue. Letzte Nacht benutzte die Klinik erstmals ihre neue Zentralstelle […] Grauhaarig, blauäugig, trug Dr. Wexberg, 56, immer noch seine Uniform als Major, obwohl er letzte Woche aus der Armee entlassen wurde. »Ich habe einfach noch keine Zeit gehabt, mir Zivilkleidung zu kaufen«, sagte er. Er hofft, dass er bald in der Lage sein wird, eine zweite Stelle eines Psychiaters sicherzustellen. Sobald dies soweit sei, plane er, eine Klinik für Schwarze zu eröffnen. Es wurde

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ein zweiter Psychiater erwartet. Dieser ist aber nicht erschienen (Washington Post, 3. 11. 1945).

Wexbergs besondere Aufmerksamkeit galt der ambulanten Behandlung von Alkoholikern und der Sicherung der Nachbetreuung nach Klinikaufenthalten. Bisher gab es ein derartiges städtisches Versorgungsnetz in Amerika noch nicht. Wexberg bemühte sich um enge Kontakte zu bereits bestehenden Selbsthilfeorganisationen, insbesondere zu den Anonymen Alkoholikern. Verschiedenen Beiträgen der »Washington Post« ist zu entnehmen, wie schwierig es war, die personelle Ausstattung der Kliniken und Betreuungsstätten zu gewährleisten. Wexberg wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass neben den vielen ehrenamtlich Tätigen unbedingt professionelle Mitarbeiter eingestellt werden müssten. Viel Überzeugungsarbeit musste geleistet werden, um der amerikanischen Öffentlichkeit nahezubringen, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Die Einweisung eines Alkoholikers in die Klinik erfolgte oft nach dessen Entlassung aus dem Gefängnis durch richterlichen Beschluss. Es kam einer Sisyphosarbeit gleich, den staatlichen Stellen für diese Klientel finanzielle Mittel abzuringen. Die »Washington Post« schrieb anlässlich einer Konferenz von Fachleuten zum Thema »Nachbetreuung von Alkoholikern« am 23. 11. 1945: Dr. Wexberg wies darauf hin, dass die medizinische Behandlung von Alkoholikern zwar für eine gewisse Zeit den Alkohol von ihnen fernhalten könne, es würde aber »ein Loch« bleiben, das gefüllt werden müsse, wenn die Behandlung erfolgreich verlaufen solle. »Wir brauchen dringend ein Sanatorium oder Heim, um Erholung und Beschäftigungstherapie zu gewährleisten«, sagte er. Die Klinik arbeite ausgezeichnet, aber mit einem Stab, der sich nahezu vollständig aus freiwilligen Helfern zusammensetze, müsste die Behandlung bruchstückhaft bleiben. Was die Klinik als Erstes benötige, sei geschultes Personal wie Sozialarbeiter, psychiatrisch ausgebildete Krankenschwestern und erfahrene Psychologen (Washington Post, 23. 11. 1945).

Neben seiner Funktion als Direktor des »Bureau of Mental Hygiene« wurde er im Dezember 1948 zum Direktor des nun eigenständigen städtischen »Alcoholic Rehabilitation Centers« ernannt und Leiter der neuen Klinik für Alkoholiker. In der Behandlung von Alkoholkranken stand für Wexberg (1948) die psychotherapeutische Betreuung im Vordergrund. Neben rein wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema »Al148

koholismus« in entsprechenden Fachzeitschriften lag ihm viel an einer allgemeinen Aufklärung über die Alkoholproblematik. In seinem Aufsatz »Alcoholism as a sickness« beklagte er die puritanisch-moralisierende Einstellung vieler Amerikaner gegenüber diesem Personenkreis und setzte sich detailliert mit den unterschiedlichsten Auffassungen zum Thema »Alkoholismus« auseinander, indem er versuchte, voreiligen und unwissenschaftlichen Meinungen entgegenzutreten. Wexberg (1951) wandte sich strikt gegen die Annahme einer genetisch bedingten Alkoholikerpersönlichkeit. Er sprach von einer multikonditionalen Ätiologie. Konstitutionelle Faktoren seien pathoplastisch. Psychodynamische Faktoren, die die Krankheit begünstigen, seien eine geringe Frustrationstoleranz, neurotische Entwicklungsstörungen wie mangelnde Selbstsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle und ein äußerst starkes Lustbedürfnis, entsprechend der psychoanalytischen Fixierung der Libido auf der oralen Stufe. Die Symptomwahl Alkoholismus werde durch eine Vielzahl körperlicher, umweltbedingter und biographischer Begebenheiten bestimmt. Vorbilder, Gelegenheit und gesellschaftliche Sitten spielen eine wichtige Rolle. Die Alkoholikern zugesprochenen gemeinsamen Persönlichkeitsstrukturen sind Wexbergs Auffassung nach nicht Ursache, sondern Folge eines gewohnheitsmäßigen Alkoholmissbrauchs. In diesem Sinne könne man allerdings durchaus von einem Typus »alkoholische Persönlichkeit« sprechen. Er sprach an dieser Stelle von einer geschlossenen Gestalt im Sinne der Gestaltpsychologie. An anderer Stelle verglich er die zu beobachtenden Charakterveränderungen eines exzessiven Trinkers mit den Metastasenbildungen bei Tumoren. Ein wesentliches Merkmal dieses Typus sei der fortschreitende Werteverlust bei lang andauerndem Alkoholmissbrauch. Moralische, ästhetische, soziale oder kulturelle Werte werden nach und nach aufgegeben. Das Leben des Süchtigen kennt schließlich nur ein Ziel: sich ausreichend mit seinem Suchtmittel zu versorgen. Alle anderen Ziele verlieren mit fortschreitendem Missbrauch ihre Bedeutung (Wexberg, 1948). Der Werteverlust ist allen Suchtformen gemeinsam. Wexberg war allerdings der Auffassung, dass bis auf wenige Extremfälle an diesem Verlauf keine organischen Veränderungen wesentlich beteiligt seien. So seien diese Persönlichkeitsveränderungen auch nicht irreversibel. In der Therapie kann der Prozess der Werteverminderung als Reaktion auf die Vergiftungserscheinungen im Zusammenhang mit dem exzessiven Alkoholkonsum nicht allein durch den Alkoholentzug 149

rückgängig gemacht werden. Das Loch in der Persönlichkeit bleibe und führe früher oder später zu Rückfällen. Eine aktive Psychotherapie habe zunächst die Aufgabe, früher vorhandene Wertebereiche wieder wahrzunehmen, sie erlebbar zu machen und sie weiter aufzubauen. Dies könne nur durch eine biographisch-historisch orientierte

Abbildung 12: Wexberg mit seiner zweiten Frau Friedl, geb. Hoffmann, in der ersten dreizimmrigen Wohnung in Washington, Macomb Str.

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Therapie geleistet werden, wobei Wexberg allerdings eine orthodox ausgerichtete Psychoanalyse nicht für sinnvoll hielt. Erfolg oder Misserfolg der Therapie hängen von dem Einfühlungsvermögen und dem Geschick des Therapeuten ab und davon, ob es in der Zusammenarbeit gelingt, ein neues Wertesystem aufzubauen, in dem die Gruppe mit ihren sozialen Kontakten und möglichen Freundschaften eine bedeutende Rolle spielt.

Die letzten Jahre Die Familie Wexberg bewohnte zunächst in der Macombs Street 3725, NW. Washington D. C., eine Dreizimmerwohnung, die aber, nachdem Wexberg wieder eine private Therapiepraxis eröffnete, zu klein wurde. Anfang der 1950er Jahre bezog man in der 16th Street, 2440 NW. Washington 9, D. C. eine geräumige Wohnung. Die Tochter erinnert sich an viele gemeinsame Spaziergänge mit den Eltern, auf denen viel diskutiert wurde. In den Ferien wurden auch längere Bergwanderungen unternommen. Der Vater liebte es, mit seiner Frau über seine aktuellen Vorhaben zu sprechen. Diese war seit ihrer Emigration im Jahre 1935 nicht mehr berufstätig. Sie führte aber den Terminkalender ihres Mannes und war für organisatorische Fragen, Einladungen und gemeinsame Vorhaben zuständig. Auch in Bezug auf seine schriftstellerischen Arbeiten war sie ihm eine wertvolle Hilfe. In die Erstausgabe von »Our children in a changing world«, die Ruth Wexberg-Poh besitzt, schrieb Wexberg die Widmung: »This book belongs to you, Friedl. It is yours as well as mine.« Die Wexbergs führten ein offenes Haus. In einer Zeit, in der in den USA die Rassentrennung noch strikt eingehalten wurde, hatte Wexberg als Leiter der Abteilung »Mental Hygiene« bei Neueinstellungen keine Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Bewerbern gemacht, sondern immer nach der persönlichen Eignung des jeweiligen Bewerbers entschieden. Farbige waren oft Gäste im Hause Wexberg, und zu den jährlich stattfindenden Weihnachtsfesten wurden Farbige wie Weiße eingeladen. Ruth Wexberg-Poh hatte farbige und weiße Freundinnen. In der Schule und im öffentlichen Leben wurde die Trennung noch strikt eingehalten. 151

Wexberg war ein vielseitig begabter Mann. In seiner Wiener Zeit hatte er neben Klavier auch Violine in Konzerten gespielt. Die Tradition von Kammermusikabenden im eigenen Haus wurde auch in Washington beibehalten. In der Musik fand Wexberg Entspannung und Ausgleich für seine Kraft raubende berufliche Tätigkeit. In den Jahren 1951 bis 1953 nahm er als Pianist und Violinist an Konzertauf-

Abbildung 13: Wexberg mit Friedl auf der Terrasse des Shorham Hotels in Washington, 1952

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führungen der »American Ethical Society« in Washington teil, deren Mitglied er bis zu seinem Tod blieb. Aus dem Jahrbuch der »Ethical Society« geht hervor, dass das »Wexberg String Quartet« viele musikalische Abende in Washington gestaltete. Wexberg engagierte sich hier auch mit Vortragsserien zu Erziehungsfragen und Elternberatung. Die »Society of Ethical Culture« wurde 1876 von dem jüdischen Professor für Hebräische und Orientalische Literatur, Felix Adler, in New York gegründet. Wesentliche Grundüberzeugungen dieser ethischen Bewegung sind die Einzigartigkeit und Würde jedes Menschen, die Bereitschaft, den Mitmenschen in seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu sehen und zu fördern und die Verflochtenheit (interrelatedness) des einzelnen Menschen mit der Gesamtheit der Menschheit. 1953, im Alter von 65 Jahren, gab Wexberg einen Teil seiner leitenden Funktionen aus Altersgründen auf, er blieb aber Chef der Kliniken und führte auch seine private psychotherapeutische Praxis fort. In den folgenden Jahren widmete er sich einem Thema, das ihn bereits in den 1930er Jahren angesprochen hatte: der Beziehung zwischen Ethik und Moral und der Psychologie. Nun fand er die Zeit, sich intensiv mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, und es hielt ihn auch nicht die Tatsache von seinem Entschluss ab, dass bis auf weiteres kein ame-

Abbildung 14: Grab Leopold Erwin Wexbergs

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rikanischer Verleger bereit schien, ein Buch zu dieser Problematik zu veröffentlichen. 1954 kam es zu einem ersten schweren Herzinfarkt. Wexberg hatte sich zeitlebens nie geschont. Hinzu kam als weiterer Risikofaktor ein jahrzehntelang ausgeübtes exzessives Rauchen. Sobald er wieder einigermaßen genesen war, nahm er sein tägliches Arbeitspensum wieder auf, blieb aber auch seinen Rauchgewohnheiten treu. 1955, am 30. Juni, starb völlig unerwartet Wexbergs Frau Friedl im Alter von nur 49 Jahren. Dies muss für seine inzwischen 17-jährige Tochter und für ihn ein großer Schock gewesen sein. Wexberg vergrub sich in seine Arbeit. Sein Arbeitspensum erreichte trotz andauernder Herzprobleme nahezu den Stand vor dem schweren Infarkt. Zur Unterstützung der beiden Hinterbliebenen kam Wexbergs verwitwete Schwester Else aus Schweden ins Haus und versorgte den Haushalt. In dieser Zeit besuchte ihn auch seine erste Frau Lili. Im Januar 1957 brach Wexberg nach einem erneuten Herzinfarkt in einem Washingtoner Schuhladen zusammen (Rom [Plottke], 1958). Er verstarb am 10. 1. 1957. Lili Wexberg überlebte ihren früheren Mann um viele Jahre. Sie hatte 1934 nach ihrem Examen als Gesangslehrerin an dem berühmten Wiener Musikkonservatorium bereits damit begonnen, neben ihren Engagements als Sopranistin junge Sängerinnen und Sänger auszubilden. Auch in ihrer Londoner Zeit von 1938 bis 1943 arbeitete sie als Gesangspädagogin und leitete einen Kirchenchor in einem kleinen Dorf. Nachdem Lili 1943 nach New York umgesiedelt war, schuf sie sich bald einen Ruf als hervorragende Musikpädagogin. Neben dem Unterricht in ihrem privaten Studio lehrte sie Gesang an der New Yorker Musikhochschule. Viele namhafte Konzert- und Opernsänger wurden von ihr ausgebildet. Die Tochter Runa war nach ihrer Heirat im Jahr 1945 nach San Francisco gezogen. Durch Lilis Besuche bei der Tochter ergaben sich neue berufliche Kontakte. Von 1959 an verbrachte Lili die Sommermonate in San Francisco und unterrichtete an der dortigen Oper. In den Wintermonaten lebte sie dann in New York und nahm ihre Tätigkeit an der Metropolitan Opera wieder auf. Im Herbst 1971 zog Lili aus Altersgründen ganz zu ihrer Tochter, betreute aber bis zu ihrem Tod im Jahre 1972 privat noch eine kleine Anzahl von Gesangsschülern. Lili war Mitglied der »California State Music Teachers Organisation« und der »National Opera Guild«. 154

Moralität und psychische Gesundheit, Wexbergs Vermächtnis In den Washingtoner Tageszeitungen gab es zahlreiche Nachrufe auf Wexberg. In der monatlich erschienenen »Capital’s Health« (hrsg. v. Department of Public Health, Municipal Center) hieß es: Am 10. Januar 1957 verstarb unser Freund und Mitarbeiter Dr. Leopold Wexberg im Alter von 67 Jahren an einem Herzinfarkt. Sein vorzeitiger Tod wird von vielen Freunden beklagt und er wird von einer großen Anzahl von Patienten, denen er so viel gegeben hat, vermisst werden. Er war hoch geachtet und wir werden ihn lange als einen feinsinnigen, mitfühlenden, aber auch bescheidenen Arzt in Erinnerung behalten, der sich ganz dem von ihm gewählten Fachbereich widmete. Er war ein unbeirrbarer Fürsprecher der öffentlichen Gesundheitsversorgung, besonders glücklich aber war er in seiner Arbeit mit Kindern (Capital’s Health im Januar 1957).

In dem von Dreikurs herausgegebenen »Journal of Individual Psychology« gab es in der Ausgabe von 1957 in den »News and Notes« keinen Hinweis auf Wexbergs Tod. Es blieb Paul Rom [Plottke] (1958) vorbehalten, in den »Individual Psychology News Letter« einen Nachruf auf diesen individualpsychologischen Pionier der Wiener Jahre zu veröffentlichen. Ein Freund der Familie, Dr. Henry Walter Brann, würdigte Wexberg in einem Zeitungsnachruf und wies auf die Bedeutung der unveröffentlichten Manuskripte Wexbergs hin: Noch eine andere Frage rückte in den Vordergrund seines Denkens in diesen Jahren der schnellen Entwicklungen in Psychologie und Psychiatrie in einer Zeit, in der die wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden sich mit gnadenloser Schnelligkeit ausbreiteten: das Problem von Moral und Ethik in der Psychologie. Diese Frage, die die größten Geister seiner Zeit nicht zu lösen vermochten, bildet das Thema eines herausfordernden Buches, an dem Wexberg arbeitete, als ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm. Er sprach mit mir oft über seine Gedanken zu diesen schwierigen Fragen. Ich hoffe, die fertigen Kapitel dieses Werkes werden der Menschheit mit allen anderen Manuskripten, die Wexberg hinterlassen hat, erhalten bleiben (Washington Post, 18. 1. 1957).

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Der englische Originaltext »Morality and mental health« wurde nie veröffentlicht, da kein amerikanischer Verleger bereit war, sich für diese Thematik zu engagieren. Auf Initiative der jüngsten Tochter Wexbergs, Ruth Wexberg-Poh, kam der von Mathias Reiss ins Deutsche übersetzte Text 1998 unter dem Titel »Moralität und psychische Gesundheit« im Fischer-Verlag in der Reihe »Geist und Psyche« heraus. Wexberg hatte bereits in den Wiener Jahren damit begonnen, sich in wertphilosophische Themen einzuarbeiten. Schon damals spielte er mit dem Gedanken, eine axiologische Fundierung der Individualpsychologie zu verfassen. Auch andere Individualpsychologen haben sich in der Nachkriegszeit mit der Wertproblematik der individualpsychologischen Lehre auseinandergesetzt. Oskar Spiel (1948) befasste sich mit dem Thema »Gemeinschaft als Idee und Realität«, Ferdinand Birnbaum veröffentlichte im gleichen Jahr in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« seine Arbeit »Wertpädagogik und Individualpsychologie« (1948) und Erwin Ringel schrieb den Artikel »Der Wertbegriff in der Individualpsychologie« (1950). Nach Birnbaum ist der Prozess des Wertens, wie er sich im Menschen abspielt, das eigentliche Objekt des individualpsychologischen Forschens. Genauer gesagt sei es der Prozess, durch den der Mensch die echten Werte durch Scheinwerte ersetzt. Ringel schreibt dem Wertbegriff in der Individualpsychologie ebenfalls eine zentrale Stellung zu. Werte seien nicht selbständig, sie realisieren sich nur in ihrer Beziehung zu wertenden Menschen. Trotz dieser Subjektbezogenheit begründet der transzendental-soziale Charakter unseres Bewusstseins die Allgemeingültigkeit von Werten. Die Gesamtheit der allgemeingültigen Werte hat Aufforderungscharakter, die Werte weisen den Weg zu ethischem Verhalten. Die Individualpsychologie erscheine besonders geeignet, einen Beitrag für eine wertgerichtete Psychotherapie zu leisten. Wexberg hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach unabhängig von diesen deutschsprachigen Konzepten mit der Wertfrage auseinandergesetzt. In den fragmentarischen Skripten zu dem geplanten Werk »Morality and mental health« fasste Wexberg in seinen letzten Lebensjahren die Erkenntnisse einer Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit den Themen Gesundheit, Psychotherapie und Moralität zusammen. Im ersten Teil erörtert Wexberg die philosophischen Wurzeln des 156

Themas. Danach untersucht er die Entwicklung moralischer Einstellungen vom Kleinkind bis zum Erwachsenenalter. Im dritten und letzten Teil diskutiert Wexberg Fragen der Moral in der therapeutischen Praxis. Wexberg betont einleitend, dass er nicht beabsichtige, eine wertphilosophische Abhandlung zum Thema Ethik vorzulegen, sondern er habe im Sinn, diese schwer zugänglichen Fragen vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus zu erörtern. Die Nähe von Wexbergs Auffassung des gesunden Menschenverstandes zu Adlers »common sense« ist offensichtlich. Adler und Wexberg verstehen gesunden Menschenverstand/common sense nicht wie Hegel als die Summe aller Vorurteile einer Epoche, sondern als die Summe der Vernunfteinsichten, die in einer Epoche möglich sind (Rattner, 1994). Nach Wexbergs Auffassung sind die Daten der uns umgebenden Welt real. Er bezieht sich hier auf den »Phänomenologischen Realismus«. Wahrnehmung versteht er nicht nur als Sinneswahrnehmung, sondern als Versuch des Einzelnen und der Gesamtheit, sich in fortschreitender Zeit immer besser der Wahrheit des Universums von Tatsachen anzunähern. Ähnlich vollziehe sich im Einzelnen wie in der Gesamtheit der Menschheit die Annäherung an das Reich der Werte. Wexberg setzt sich mit den moralphilosophischen Ansätzen von Plato, Thomas von Aquin, Kant, Freud und Adler auseinander und entwickelt seine eigenen wertphilosophischen Vorstellungen auf der Grundlage der Ethik Nicolai Hartmanns. Nicolai Hartmann spricht von einem »an sich seienden Wertreich«, das unabhängig vom Menschen existiert. Werte haben keine »reale«, sondern eine »ideale« Seinsweise. Wexberg geht von dem A-priori-Charakter der Moralität und von der selbsttranszendierenden Gültigkeit moralischer Werte aus. Von diesem Standpunkt erläutert er die Begriffe »Determinismus« und »Indeterminismus«, »Verantwortung« und »Person«: Also ist die Verantwortung offenkundig ein wesentlicher, wahrscheinlich der wesentliche Bestandteil dessen, was eine Person ausmacht. Zu diesem Begriff gehört auch die Reife des moralischen Urteils. Es ist evident, daß letztere nur in einem sozialen Bezugsrahmen von Bedeutung ist. […] Der Bezugsrahmen für moralische Verantwortung reicht so weit wie unsere Kommunikationsfähigkeit. […] Indem Menschen miteinander verbunden sind, wie es auf sie immer schon zutraf, gibt keiner seine Verantwortung als

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Person preis, und die Verantwortung geht auch nicht auf die Gesellschaft als solcher über. Es gibt keine kollektive Verantwortung (Wexberg, 1998, S. 37).

In den Unterkapiteln Pflichtethik oder Gesinnungsethik, Humanistische Ethik sowie Biologismus, Psychologismus und Soziologismus stellt Wexberg die ethischen Prämissen seiner beiden wichtigsten Lehrer, Freud und Adler, dar; eine Auseinandersetzung, die wie Wexbergs Postulat der selbsttranszendierenden Gültigkeit moralischer Werte das gesamte Spätwerk Wexbergs durchzieht. Der Begriff der Pflicht stehe im Zentrum eines philosophischen Moralsystems, dessen psychologische Grundlage von Freud entdeckt wurde. Wexberg wendet sich leidenschaftlich gegen Freuds pessimistische Sicht des Menschen und die Prämisse, Ethik sei nichts anderes als sublimierte, verdrängte Libido, hervorgegangen aus einem Konflikt zwischen dem Ich einerseits und dem Es oder dem Über-Ich andererseits: Freud sei der Auffassung, dass der Liebe Hass vorausgeht und dass Nächstenliebe zielgehemmte sexuelle Libido ist. Seiner Auffassung nach sei nichts so vollständig unvereinbar mit dem menschlichen Wesen wie das Gebot, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben. Moralität werde daher im psychoanalytischen Sinne nur durch die Drohung des strafenden Über-Ich repräsentiert. Freuds soziologischer Ansatz zum Moralitätsproblem sei ohne Einschränkung rationalistisch und erinnere an den Rationalismus des 18. Jahrhunderts und an den »Gesellschaftsvertrag«. Wexberg beschreibt Freuds Entwicklungsmodell der frühen Kindheit bis hin zur Verinnerlichung des ödipalen Konflikts, die den Aufbau der Über-Ich-Struktur vollende, die mit der analen Phase begann. Moralität entstehe bei Freud aus der Verdrängung der libidinösen Tendenzen. Die äußere Autorität der drohenden und strafenden Eltern werde allmählich durch das größtenteils unbewusste Über-Ich abgelöst. Die elterliche Autorität einschließlich der Strafandrohung bei Zuwiderhandlung bleibe erhalten. Sie überdaure bei Fehlverhalten in Reue und Schuldgefühlen. Die moralische Einstellung bei Freud entspricht nach Wexberg der Pflichtethik. Wexberg stellt der Pflichtethik die Gesinnungsethik gegenüber. In Adler sieht er einen herausragenden Vertreter einer humanistisch geprägten Ethik. Es handle sich um ein ethisches System, das ganz und gar auf der theoretischen Entwicklung eines angeborenen biologischen 158

Faktors aufbaue: der Geselligkeit. Die Gültigkeit dieses Faktors ist für Wexberg unbestritten: Wenn man Gemeinschaftsgefühl als Sinn des Lebens einführt, dann scheint dies mit dem biologischen Charakter des Menschen übereinzustimmen und daher für eine Grundlegung der Ethik ausreichend zu sein (Wexberg, 1998, S. 102).

Der Begriff »Gemeinschaftsgefühl« ist Wexberg jedoch begrifflich zu vieldeutig. Es sei nicht zulässig, diesen Begriff zur absoluten Wahrheit zu erklären. Wexberg weist auf die Bedeutung eines autonomen Gewissens hin, das nicht pragmatisch oder utilaristisch sei. Es gehe nicht an, Individualismus (z. B. eines Künstlers) nur insoweit zu akzeptieren, als er unser Gemeinschaftsgefühl nicht störe: Daher stellt die Theorie des Gemeinschaftsgefühls nicht einen Bestandteil der Physiologie des Menschen dar, sondern sie gehört zu einer Wissenschaft eigener Art: der Ethik, der Theorie höherer Werte. Sie wird ganz und gar vom Faktum der Individuation beherrscht, der Tatsache, daß der Mensch gleichzeitig eine Person und ein soziales Wesen ist (Wexberg, 1998, S. 104).

Für die moralische Kultur der Menschheit sei wahrscheinlich nichts wichtiger als diese doppelte Bestimmung des menschlichen Wesens: seine Selbständigkeit als Individuum und seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen wie es selbst. Die menschliche Individualität müsse allerdings immer auf der Hut sein vor der Sozialität, der älteren und stärkeren Eigenschaft des Menschen. In Anlehnung an die Ethik Nicolai Hartmanns spielt die Theorie der Liebe in Wexbergs ethischem System eine besondere Rolle. In der Diskussion dieses Themas (Liebe, Selbstliebe, reife Liebe, Moralität der Liebe, Freundlichkeit und seelische Gesundheit) setzt sich Wexberg zunächst wieder mit Freud auseinander. Individuelle Verhaltensmuster werden oft verständlicher, wenn sie auf vergleichsweise einfache Kindheitssituationen zurückgeführt werden können. Es sei aber eine Sache, moralische Einstellungen auf die Säuglingszeit und die Kindheit zurückzuführen, und etwas völlig anderes, ihre Bedeutung im Hier und Jetzt zu begreifen. Es sei eine Tatsache, dass das Über-Ich sich aus der Verinnerlichung von Tabus und Verboten entwickelt hat, die dem Kind von seinen Eltern auferlegt 159

wurden. Das sei jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass wir unser Über-Ich und seine selbstbestrafenden Tendenzen »als nichts anderes« als die verinnerlichte Elternfigur und deren disziplinierende Handlungsweise betrachten. In Bezug auf die Liebe gelang es der Psychoanalyse nicht, den Fehler zu vermeiden, ihre Entstehung für ihr Wesen zu halten. Im Großen und Ganzen sei die Bedeutung des kindlichen Sexuallebens überbewertet worden, nicht aber die Bedeutung der Entwicklung ihres Gefühlslebens. Die Ödipussituation, wie Freud sie beschrieben habe, mit ihren Verwicklungen im Leben der meisten Kinder sei ernst zu nehmen, man müsse aber von der Überbewertung der sexuellen Aspekte absehen. Auch der Kastrationskomplex, der nach der Psychoanalyse seinen Ursprung im ödipalen Konflikt ebenso wie in der Ausbildung der genitalen Libido, der Masturbation und der Objektbeziehung hat, sei eine wichtige und zeitlose Entdeckung Freuds, die aber einer gewissen Desexualisierung bedürfe, um sie richtig würdigen zu können. Freud lasse die Liebe, den Kernbestandteil der Gesinnungsethik, als moralische Kraft außer Acht. Die Stellung der Liebe im Leben des einzelnen Menschen hänge von seiner Reife ab. Der Ausgangspunkt in der Säuglingszeit sei nur die empfangende, passive Liebe, auch wenn man eine interpersonale Beziehung mit einer identischen Erfahrung von Wärme und Wohlgefühl bei Mutter und Kind voraussetzt. Die Entwicklung zum emotionalen Wachstum verlangt, dass das Kind lernt zurückzugeben. Die ersten Schritte in Richtung auf aktive Liebe gegenüber anderen Menschen hängen von einer positiven Identifizierung mit einem Elternteil ab. Reife Liebe, die in der Kindheit bei Null anfing, entwickle sich über das ganze Leben in persönlichen Sprüngen und erreiche bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Grade der Vervollkommnung. Je stärker die Fähigkeit ausgeprägt sei, Liebe zu geben, und je weniger eine Person ihren primären Narzissmus beibehalte, desto reifer sei sie. Bei der moralischen Bewertung von Liebe haben wir es mit Gesinnungsmoralität zu tun, die auf Liebe, Freundlichkeit und gutem Willen (agape) beruhe. Ihr Ursprung ist nach Wexberg ein anderer als der Moralkodex des Über-Ich. Liebe, Freundlichkeit und guter Wille sind im höchsten Bereich moralischer Werte anzusiedeln und gründen sich nicht auf elterliche Autorität wie das Über-Ich, sondern auf elterliche Liebe. Für die Entwicklung der Moralität ist die elterliche Liebe wichtiger als Autorität: 160

Ein ausgeglichener Mensch ist zur Liebe in ihrer sublimsten Form (nicht sublimiertesten Form) fähig: der unbegrenzten Bereitschaft zu geben. […] Die Fähigkeit zu geben hat ihren Ursprung in der eigenen Person und kann nicht verloren gehen. Sie ist Bestandteil der Kreativität im umfassendsten Sinn des Wortes. […] So betrachtet ist Liebe nicht nur ein Gefühl, eine Emotion oder ein Affekt, sondern eine Geisteshaltung. Nur als solche ist sie ethisch von Bedeutung (Wexberg, 1998, S. 117).

Wexberg hält die Worte »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« nicht für ein Gebot, sondern für eine Ermutigung, die kreativen Kräfte in sich zu nutzen, deren wir uns vielleicht gar nicht bewusst sind: Wir haben es nicht gewagt, freundlich zu sein, weil wir nicht wußten, daß wir die Stärke besitzen, freundlich zu sein. Dann ist »Liebe deinen Nächsten« der Rat, zu werden, was wir sind (Wexberg, 1998, S. 118).

Nach Wexberg hängen Liebe und Mut eng zusammen. Ohne Mut sei echte Liebe kaum möglich. Man müsse davon ausgehen, dass in jedem Menschen konstruktiv evolutionäre Kräfte vorhanden seien, die ihn zur Verwirklichung der ihm gegebenen Möglichkeiten drängen: Es scheint, als könne er z. B. sein gesamtes Potenzial nur dann entwickeln, wenn er aktiv und produktiv ist und wenn er zu seinen Mitmenschen in einer Beziehung echter Gegenseitigkeit steht. Wachsen im eigentlichen Sinne kann er nur dann, wenn er die Verantwortung für sich selbst übernimmt (Wexberg, 1998, S. 124).

An den Anfang des dritten Teils seines Buches »Moralität und das Ziel der Psychotherapie« stellt Wexberg zwei scheinbar gegensätzliche Schlussfolgerungen, die sich aus den beiden ersten Teilen ergeben: Psychotherapie kann nicht zum Ziel haben, jemanden nach Grundsätzen irgendeiner speziellen Art von Ethik zu erziehen. Es gibt jedoch eine positive Korrelation zwischen dem Ziel der Psychotherapie und der allgemeinen moralischen Orientierung (Wexberg, 1998, S. 141).

Diese beiden Schlussfolgerungen treffen allerdings nach Wexbergs Auffassung nur auf ein bestimmtes Therapiekonzept zu, das der ana161

lytisch orientierten, dynamischen Therapien. Diesen Therapieformen seien bestimmte Elemente gemeinsam: Die prinzipielle Anerkennung der grundlegenden Lehre Freuds trotz vieler Nichtübereinstimmungen bei spezifischen Problemen, der Grundgedanke unbewußter psychischer Prozesse, die Psychogenese menschlichen Verhaltens, die Gültigkeit der Freudschen Deutungstechniken einschließlich der Traumdeutung und der Symbolik, die Bedeutung der in der Säuglingszeit und in der Kindheit entwickelten emotionalen Muster und Verhaltensmuster für die späteren Stufen des emotionalen Lebens und der Zugang zum Patienten über seine innere Lebensgeschichte (Wexberg, 1998, S. 141).

In der Frage des Übertragungsgeschehens stimmt Wexberg mit Freud überein. Die Relevanz der Übertragung erkläre sich nach dem, was zur Gesinnungsethik, zum guten Willen und zur Bedeutung der Liebe gesagt wurde, von selbst: Seit Freuds Beobachtungen weiß man genauer, daß die Übertragung eine Neuinszenierung der ersten wichtigsten Fixierung des Patienten darstellt. Die Beziehung war häufig sehr ambivalent, und dementsprechend wird sich die Übertragung als eine Mischung aus Liebe und Haß erweisen (Wexberg, 1998, S. 145).

Das Durcharbeiten dieser personalisierten Schicht negativer Übertragung, der Feindseligkeit gegenüber dem Therapeuten, stelle sich als die entscheidende Behandlungsphase dar. Übertragung und Gegenübertragung gehören zum normalen Ablauf einer Therapie und stehen in Verbindung und in Wechselbeziehung miteinander, um den Patienten in eine neue Welt zu führen, eine Welt der Selbstanerkennung und der Anerkennung durch andere und damit einer neuen Form von Moralität. Mit der Wiederherstellung der Liebesfähigkeit müsse sich auch die moralische Einstellung ändern. Wachsende Ich-Stärke befähige den Patienten, harmonischer mit seinem Über-Ich zu leben, vorausgesetzt, es habe eine eher normale und weniger neurotische Struktur angenommen. Mit »neurotisch« meint Wexberg den sadomasochistischen Typ des Über-Ich, wie er für zwangsneurotische und für depressive Krankheitszustände charakteristisch ist. Selbstbestrafende Tendenzen in Form von Depression, Reue und Buße (Zwangsrituale) müssen 162

ebenso wie die mit Liebe unvereinbare Selbstablehnung überwunden werden. Freuds pessimistische Sichtweise, die sich in seiner Libidotheorie wie auch in seiner Lehre vom Todestrieb niederschlage, gefährde sowohl die Lebensphilosophie wie auch die therapeutische Vorgehensweise. Wexberg distanziert sich von Freuds Vorstellungen, die in dessen Werk »Unbehagen in der Kultur« (1930) zum Ausdruck kommen. In der Geschichte der Zivilisation sieht Wexberg trotz vieler Rückfälle in Destruktion und Barbarei eine Entwicklung zu mehr Menschlichkeit. In diesem letzten Teil seines Werks zeigt sich deutlicher als in den vorangegangenen Kapiteln Wexbergs Nähe zu der Weltanschauung Alfred Adlers. Die Liebesfähigkeit sei eng mit Gemeinschaftsgefühl, Ich-Stärke und Mut verbunden. Mut, das von Adler und Tillich (1953) verwendete Wort, sei nur ein anderes Wort für Ich-Stärke. Das Konzept der Ich-Stärke verweise auf die grundlegende Schwäche des Neurotikers oder Psychotikers. Weil die Ich-Stärke einer Person anhand ihrer Fähigkeit gemessen wird, sich an die Realität (die soziale Umwelt) anzupassen, lässt sich die Neurose als emotionale Unreife oder als Misslingen des Erwachsenwerdens definieren. Wenige Zeilen danach fasst Wexberg zusammen: Wir verstehen jetzt, warum das Ziel der Psychotherapie nicht die restitutio ad integrum sein kann: weil dieses integrum zu keinem vorherigen Zeitpunkt existiert hat und weil die emotionale Störung für sich genommen einen erfolglosen Versuch darstellt, zum integrum zu regridieren, nicht zu der reifen Person, sondern zu dem des Kindes mit seinen irrationalen Abwehrmechanismen (Wexberg, 1998, S. 162).

Die Aufgabe der Psychotherapie besteht nach Wexberg darin, dem Patienten zu helfen, emotional erwachsen zu werden. An dieser Stelle befindet sich Wexberg wieder ganz auf dem Boden der Individualpsychologie: Der neurotische Patient kann die Aufgaben, mit denen er in der Gemeinschaft, am Arbeitsplatz und in seiner Beziehung zum anderen Geschlecht konfrontiert ist, nicht leugnen und tut dies auch nicht. Er setzt seine Neurose als Entschuldigung ein, den prekären Fragen auszuweichen. Wenn der Therapeut immer wieder versucht, ihm zu beweisen, daß seine neu-

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rotischen Symptome, die er selbst produziert, um diesen Fragen aus dem Weg zu gehen, nicht wirklich als Entschuldigung dienen können, dann wird die Antwort des Patienten von der Art eines »Ja, aber …« (Adler) sein. Das Grundprinzip der Adlerschen Therapie, die im Wesentlichen eine stützende Therapie ist, besteht darin, den Patienten auf die unbewußte Absicht hinter seinen Symptomen hinzuweisen, dadurch deren Realität im Sinne einer eigentlichen Pathologie in Abrede zu stellen, und ihn zu ermutigen, einen Versuch zu wagen. Der Patient, eher durch die mitfühlende Einstellung des Therapeuten als durch seine Worte ermutigt, kann schließlich ungeachtet seiner Symptome aktiv werden (Wexberg, 1998, S. 163).

Die ethische Relevanz des adlerschen Ansatzes liege auf der Hand. Die Vorgehensweise stütze sich darauf, dass die Gültigkeit von Werten gesellschaftlicher Moralität unbestritten sei. Diese Werte stehen nach Adler für die »Logik des Lebens«, für »absolute Wahrheiten«. Indem die adlersche Psychotherapie den Patienten ermutige, versuche sie, sein Ich oder gleichbedeutend sein Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Im Sinne einer Wechselwirkung von Selbstanerkennung und Anerkennung durch andere bedeute die Ich-Stärkung gleichzeitig die Verringerung des Minderwertigkeitsgefühls (Selbstablehnung) des Patienten und »Mut zum Sein«. An dieser Stelle erweitert Wexberg Adlers individualpsychologisches Konzept. Gemeinschaftsgefühl sei nicht mit Ich-Stärke oder Mut gleichzusetzen, sondern es habe beides zur Voraussetzung. Für die Psychotherapie bedeutet dies, dass die Betonung nicht mehr auf dem Erlernen der sokratischen Tugend liegen könne, sondern auf der Dynamik einer tief liegenden emotionalen Störung, die das Haupthindernis für die Anerkennung der sokratischen Ethik sei. Nach Wexbergs Auffassung können diese unbewussten Dynamiken aufgedeckt werden, wenn man sich näher mit der Lebensgeschichte des Patienten beschäftige. An diesem Punkt bringt er die Psychoanalyse ins Spiel: Wir kennen zur Zeit keinen besseren technischen Ansatz als den der Freudschen Psychoanalyse, trotz der Tatsache, daß wir deren theoretische Grundlage, die Libidotheorie, nicht anerkennen, demzufolge der heilende Faktor darin besteht, daß verdrängtes Material ins Bewußtsein gebracht wird. […] Was unserer Erfahrung nach tatsächlich ins Bewußtsein gebracht wird, sind eher dynamische Beziehungen als verdrängtes Material (Wexberg, 1998, S. 167).

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Für Wexberg ist eine Therapie nur dann erfolgreich, wenn es zu einer moralischen Neuorientierung des Patienten komme. Die verzerrte Moralität von Buße und Selbstbestrafung zum Beispiel bei depressiven Zuständen sei eine ernsthafte Herausforderung für jeden Therapeuten. Es sei allerdings gefährlich, die gut getarnte Feindseligkeit des Patienten zu entlarven. Dies könne zum Suizid führen: Daher gibt es nur eine Möglichkeit, sanft und ein für alle Mal die Selbstverdammung des Patienten zurückzuweisen und dann über etwas anderes zu reden, vorzugsweise über Zukunftsaussichten und unerledigte Dinge. […] Nichts kann die gute Meinung des Therapeuten über den Patienten erschüttern (Wexberg, 1998, S. 172).

Erfolg in der Therapie sei nicht in erster Linie eine Frage der Technik, sondern der Einstellung des Therapeuten. Eine Technik könne gelernt werden, eine Einstellung jedoch nicht. Deshalb werden nur die Therapeuten mit schwierigen Patienten erfolgreich arbeiten, die der ethischen Evolution voraus seien.

Abschließende Bemerkungen Wexberg war im Wien der 1920er und 1930er Jahre einer der einflussreichsten und produktivsten Individualpsychologen. Sein Werk ist umfangreich und thematisch weit gespannt. Als Facharzt für Psychiatrie und Neurologie mit vielseitigen Kenntnissen in Medizin, Philosophie, Psychologie, Kunst und Literatur schrieb er 20 Bücher, etwa 75 Artikel und Buchbeiträge. Besondere Beachtung findet noch heute das von ihm 1926 herausgegebene, zwei Bände umfassende »Handbuch der Individualpsychologie«, in dem die Vielseitigkeit der individualpsychologischen Forschungen der frühen 1920er Jahre zum Ausdruck kommt, und sein Lehrbuch der Individualpsychologie, in dem er erstmalig eine systematische Darstellung herausbrachte (Wexberg, 1928g). 1991 veröffentlichte Lehmkuhl eine Zusammenstellung von Aufsätzen Wexbergs, aus denen hervorgeht, dass Wexberg an dem Prozess der Weiterentwicklung der Individualpsychologie von ihren frühen 165

Anfängen an maßgeblich beteiligt war. Wexbergs Aufsätze bekunden eine Eigenständigkeit individualpsychologischer Konzepte, die in vielen Bereichen spätere Entwicklungen der Psychoanalyse differenziert vorformulieren. Wexberg war ein eigenständiger und nach geistiger Unabhängigkeit strebender Denker. Briefen und vielen wissenschaftlichen Beiträgen aus dieser Zeit kann man entnehmen, dass er nicht bereit war, sich in fertige Denkschemata einbinden zu lassen, dass Dogmatismus ihm fremd war und er sich immer offen hielt, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse ohne Vorurteile zu prüfen und, so sie der Überprüfung standhielten, in sein Denksystem einzuordnen. Wenn Wexberg, noch Student, sich zutraute, Psychoanalyse und Individualpsychologie zu bewerten und nach Integrationsmöglichkeiten beider Richtungen zu suchen, so zeigt dies eine Tendenz zum selbstbewussten unabhängigen Denken, die ihn sein ganzes Leben begleiten sollte. Wexbergs strenges Wissenschaftsverständnis war geprägt durch das deutschfranzösische, europäische naturwissenschaftliche Denken des frühen 20. Jahrhunderts. 1912 klingt ein weiteres Grundthema seines Schaffens an: die theoretische Auseinandersetzung mit der zentralen Stellung der Angst für das Verständnis der Neurose. Dies führte ihn zu Überlegungen in der Frage der Leib-Seele-Problematik, die eine erstaunliche Nähe zu neueren Auffassungen der Integrierten Psychosomatik zeigen, die davon ausgeht, dass man in der Therapie von Krankheiten je nach Bedarf Perspektivwechsel zwischen biomedizinischen und psychosozialen Aspekten einer Erkrankung vornehmen muss. Man kann Wexbergs Bemühen, seine naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse in das System der Individualpsychologie zu integrieren, bei der Lektüre von »Die Angst als Kernproblem der Neurose« (1926a), »Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl« (1926e), »Neurosenwahl« (1931a) und »Was ist wirklich eine Neurose?« (1933b) nachvollziehen. Wexbergs Überlegungen standen zwar im Einklang mit dem frühen Adler, entsprachen aber in keiner Weise der weiteren theoretischen Entwicklung innerhalb der Individualpsychologie, nachdem sich der Schwerpunkt von Adlers Aktivität in die USA verlagert hatte. Im Bemühen, der Individualpsychologie ein sicheres Fundament zu geben, wurde Adlers Psychologie zunehmend konservativ und systemerhaltend. Hatte Wexberg bereits um 1927 der Individualpsychologie und 166

damit Adler eine mangelnde Wissenschaftlichkeit vorgeworfen, so konnte er der weiteren Entwicklung zu Pragmatismus und kognitiver Wende in keiner Weise folgen. Eine zunehmende Entfremdung noch vor Wexbergs Emigration ist nicht zu übersehen. Wexberg stand in einer weiteren Frage in den frühen 1930er Jahren im Widerspruch zu vorherrschenden individualpsychologischen Auffassungen. Er konnte sich mit dem aggressiver werdenden Ton, in dem prominente Individualpsychologen sich gegenüber der psychoanalytischen Bewegung äußerten, nicht abfinden und hat sich dieser Tendenz auch nach seiner Emigration in die USA nicht angeschlossen. Seit seiner Studienzeit bewahrte er sich eine Hochachtung vor der historischen Leistung Freuds und dessen Genie, obwohl er die freudsche Libidotheorie ganz im Sinne Adlers ablehnte. Wexberg scheute sich nie, seinen Lesern die Lektüre der freudschen Schriften zu empfehlen. In seinem Brief an Adler vom 29. 8. 1928 warb er für seine Einstellung: »Denn ich glaube immer noch, dass uns mit den besseren Psychoanalytikern, z. B. mit Freud, der gemeinsame Wille verbindet, auf gleichen und benachbarten Gebieten den kleinsten Irrtum zu suchen.« Auch in dieser Frage fand Wexberg keine Zustimmung durch seinen Mentor. Ähnlich wie gegenüber Freud verhielt sich Wexberg zeitlebens auch gegenüber seinem Lehrer Adler. Er lehnte zwar gewisse Entwicklungen innerhalb der Individualpsychologie ab und beklagte die mangelnde Wissenschaftlichkeit und die Unklarheit vieler Begriffe; in Bezug auf die geistige Grundhaltung Adlers aber, seine Vorstellung vom sozialen Wesen des Menschen, sein Menschen- und Weltbild, stimmte er völlig mit seinem Lehrer überein und hat dies auch nie in Frage gestellt oder verleugnet. Wexberg konnte sich mit der Richtung, die die Individualpsychologie inzwischen in den USA genommen hatte, nicht identifizieren, sein Denken und Handeln war aber geprägt durch das Wertesystem, in dem er aufgewachsen war. Dies zeigte sich insbesondere in seinem sozialen Engagement für Minderheiten und sozial Schwache, seinem unermüdlichen vorurteilsfreien Einsatz für eine Verbesserung der Situation von Alkoholikern und ausgegrenzten Menschen. Wexbergs Loslösung von der Individualpsychologie als Institution vollzog sich nicht abrupt wie bei Schwarz, Allers und Frankl, sondern allmählich, graduell, in kleinen Schritten und sie vollzog sich, ohne dass er die Grundideen der adlerschen Individualpsychologie, wie er sie in den frühen Wiener Jahren kennengelernt hatte, aufgab. Man könnte sagen, Wexberg blieb den Überzeugungen, die 1911 zu 167

der Gründung des Vereins für freie psychoanalytische Forschung geführt hatten, zeitlebens treu. Im Behandlungszimmer seiner Washingtoner Klinik hing neben dem Bild Freuds eines von Adler. Die individualpsychologische Bewegung fand erst in den 1970er Jahren zu einer Haltung, die Wexberg bereits Jahrzehnte vorher praktiziert hatte: ebenso von Freud zu lernen wie von Adler, beide aber auch zu kritisieren und ihre Ansätze weiterzuentwickeln. Wexberg fühlte sich keiner Methodendoktrin verpflichtet und lehnte Auseinandersetzungen der unterschiedlichen Schulrichtungen ab. Er war der Auffassung, dass es in der Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten geben könne und alle Erkenntnis vorläufig sei. In dem Text »The future progress of individual psychology« wies Wexberg darauf hin, dass auch andere Schulen Wichtiges zu sagen haben und auch in ihren »Fehlern« Wahres verborgen sein könne. Vielleicht war Wexbergs wesentlichster Charakterzug das Bemühen, eine Vielfalt an unterschiedlichen Strebungen in sich zu integrieren. Als junger Mann stand er vor der Wahl, Dirigent oder Naturwissenschaftler zu werden (er spielte mehrere Instrumente). Wexberg wählte die Naturwissenschaft, um, wie er später sagte, die Musik nicht zu seinem Brotberuf zu machen. Nach dem Medizinstudium und parallel zu seiner Ausbildung zum Neurologen/Psychiater wurde er zu einem herausragenden Mitarbeiter Alfred Adlers, ohne seine naturwissenschaftlichen Interessen aufzugeben. In den Wiener Jahren arbeitete er sich in das Gebiet der Psychosomatik ein und integrierte das kausal determinierte Denken des Mediziners und die final orientierte Sichtweise des Individualpsychologen in sein Denksystem. Besonders deutlich wird sein Bestreben, gegensätzliche Richtungen zu integrieren und damit ein neues größeres System zu kreieren, in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit den Grundgedanken der Psychoanalyse und der Individualpsychologie. Man kann das posthum erschienene Buch »Moralität und psychische Gesundheit« als eine Art Bekenntnis Wexbergs zu seiner Art des wissenschaftlichen Forschens und therapeutischen Handelns betrachten. Deutlicher als in früheren Werken tritt hier sein alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassender Humanismus zutage. Seine Ausführungen zu den Fragen von Moralität und psychischer Gesundheit sind hochaktuell und lesenswert. Wexbergs Schriften sind sprachlich präzise formuliert, gründlich erarbeitet und bezeugen die Vielseitigkeit und Originalität seines Denkens. 168

Quellennachweis

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Literatur

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Anhang: Korrespondenz Wexberg – Adler

Brief von Adler an Wexberg, 28. 9. 1926 (?)

177

Brief von Adler an Wexberg, en route

178

179

Brief von Adler an Wexberg aus dem Hotel Gibson, 4. 3. 1927

180

181

Brief von Adler an Wexberg, 26.5.1927 [Adler benutzte fälschlicherweise das Datum 26. 5. 1926.]. Seite 1 und 3 (Seite 2 fehlt).

182

183

Brief von Adler an Wexberg, 21. 4. 1928

184

Brief von Adler an Wexberg, etwa Mai 1928

185

Brief von Adler an Wexberg, 28. 8. 1928

186

Brief von Wexberg an Adler, 29. 8. 1928

187

188

Brief von Adler an Wexberg, 10. 2. 1930

189

Brief von Wexberg an Adler, 4. 4. 1932

190

191

Alfred Adler Studienausgabe herausgegeben von Karl Heinz Witte Diese Studienausgabe veröffentlicht in sieben Bänden Alfred Adlers wichtigste deutschsprachige Werke. Sie dokumentiert Adlers Theorieentwicklung in den verschiedenen Feldern. Die einzelnen Bände werden von namhaften Autoren der Individualpsychologie herausgegeben und kommentiert.

Band 4: Alfred Adler Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung (1913–1937)

Band 1: Alfred Adler Persönlichkeit und neurotische Entwicklung

Band 5: Alfred Adler Menschenkenntnis (1927)

Frühe Schriften (1904–1912) Herausgegeben von Almuth Bruder-Bezzel. 2007. 291 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46051-1

Band 2: Alfred Adler Über den nervösen Charakter (1912) Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie Herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn. Unter Mitarbeit von Michael Hubenstorf. 2., korrigierte Auflage 2008. 438 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-525-46053-5

Band 3: Alfred Adler Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937) Herausgegeben von Gisela Eife. 2010. 672 Seiten mit 3 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-46054-2

Herausgegeben von Wilfried Datler, Johannes Gstach, Michael Wininger. 2009. 432 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-40106-4

Herausgegeben von Jürg Rüedi. 2007. 235 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46052-8 »Diese verdienstvolle Studienausgabe ist ein bereicherndes Buch, das man mit Gewinn liest.« Susanne Till, Psychologie heute

Band 6: Alfred Adler Der Sinn des Lebens (1933). Religion und Individualpsychologie (1933) Herausgegeben von Reinhard Brunner, Ronald Wiegand. 2008. 252 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-40554-3

Band 7: Alfred Adler Gesellschaft und Kultur (1897–1937) Herausgegeben von Almuth BruderBezzel. 2009. 239 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46055-9 Mehr Informationen unter www.v-r.de