Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse: Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie [1 ed.] 9783666406355, 9783525406359

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Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse: Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie [1 ed.]
 9783666406355, 9783525406359

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Almuth Bruder-Bezzel

Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie

Almuth Bruder-Bezzel

Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie

Mit 15 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Café Central, Wien/INTERFOTO/JTB PHOTO Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40635-5

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Alfred Adler, Albert Ehrenstein und der Wiener literarische Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Psychischer Hermaphroditismus, Adlers Aufstand auf dem Nürnberger Kongress 1910 und die Gründung des Zentralblatts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Macht und narzisstische Charakterstruktur. Alfred Bergers »Hofrat Eysenhardt« und Adlers Streben nach Macht . . . . . . . . 65 Alfred Adler und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Otto Kaus: Ein Grenzgänger zwischen Individualpsychologie und Literatur und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Alfred Adler und Otto Gross: Verbindungslinien zwischen zwei ungleichen Dissidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Ist Individualpsychologie eine Wissenschaft? Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Debatte in den 1920er und 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Manès Sperbers marxistische Individualpsychologie . . . . . . . . 213 Wille zur Macht, schöpferische Kraft und Lebenskunst bei Alfred Adler und Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

6Inhalt

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Einleitung

Seit dem Beginn meiner Beschäftigung mit der Individualpsychologie Alfred Adlers in den frühen 1980er Jahren stellte sich mir die Frage, wie die Adler’sche Persönlichkeitstheorie in seinem soziokulturellen Milieu in Wien verankert, woher er als Person biographisch und intellektuell gekommen war und wohin er ging, mit wem er und gegen wen er dachte und schrieb. Um dies nachzeichnen zu können, muss man die Person und die Theorie im Kontext der historischen Zusammenhänge und Ereignisse sehen und die Kreise kennen, in denen er sich bewegte. Die Adler’sche Theorie wäre damit als Teil eines umfassenderen kulturellen Diskurses zu verstehen, als Schnittstelle gesellschaftlich allgemeiner und individuell besonderer Entwicklungslinien, somit als geronnene Form eines geschichtlichen und intellektuellen Prozesses. Seit den späteren 1980er Jahren wurde die Kenntnis der harten biographischen Fakten immer mehr erweitert, ist das Wissen um die Entstehung und Weiterentwicklung der Adler’schen Theorie und seiner Schule sehr stark angewachsen. Zudem sind Adlers Texte seit einigen Jahren in einer siebenbändigen, historisch-kritischen Studienausgabe auch neu zu lesen (2007–2010), und schließlich wurden erstmals Briefe aus der ganzen Welt gesammelt und herausgegeben (2014). So hat sich allmählich ein neues und differenzierteres Bild von Adler herausgeschält. Die Aufsätze dieses Buches sind dazu ein weiterer Beitrag. Adler, Mitbegründer des Freud-Kreises der ersten Stunde (1902), wurde ein sehr wichtiges Mitglied in diesem Kreis und mit seinem Austritt (1911) der erste, und auch ernstzunehmende, Dissident. Er war zwar auch Schüler von Freud geworden – was er selbst später bestreitet, aber hatte doch viel Eigenständigkeit mitgebracht und diese weiterentwickelt.

8Einleitung

Dazu gehörten seine Orientierung an der Sozialmedizin, sein an Nietzsche und am Marxismus geschultes Denken, seine positive Haltung zur Gleichberechtigung der Frau und zur Frauenbewegung und seine Beziehungen zu den Sozialisten und Austromarxisten. Als diese dann mit der Gründung der Republik Regierungsfunktion übernahmen und eine Reihe von Reformvorhaben durchführten, engagierte sich Adler stark, besonders bei den pädagogischen Reformen. Adler war also von vornherein und bis in die späteren 1920er Jahre offen für viele gesellschaftspolitische, künstlerische, literarische, allge­ mein kulturelle Fragen und für moderne, avantgardistische Strömungen in Kultur und Wissenschaft. Dazu gehört sein ganzheitliches Denken, die Überwindung des streng kausal-naturwissenschaftlichen Denkens hin zum teleologischen und soziologischen Denken, in dem das Subjekt als handelndes gesehen und in ein soziokulturelles Ganzes eingebettet wird. Adlers theoretische und persönliche Distanzierung von Freud hat sehr viel mit dieser gesellschafts- und wissenschaftskritischen und modernen intellektuellen Orientierung zu tun. Auch wenn Adler als Person sicher eher solide bis bieder wirkte, hat er neue Strömungen der jüngeren Generation aufgegriffen und zumindest interessiert verfolgt, die in bürgerlichen Kreisen keineswegs selbstverständlich akzeptiert waren. So war Adler z. B. noch vor dem Ersten Weltkrieg und umso mehr danach von Künstlern und Literaten umgeben, die laut und aufgeregt, auch provokant agierten. Die meisten seiner relevanten Verbindungspersonen waren deutlich jünger als er, meist zehn bis zwanzig Jahre, wie auch viele seiner Anhänger. Diese – vor allem die Künstler und Schriftsteller – verstanden sich vorwiegend als oppositionell-politische Individuen, waren Teil der sozialistischen, revolutionären, pazifistischen Bewegungen, besonders in und nach der Zeit des Weltkrieges. Auch Adler verstand sich in diesen früheren Jahren als Sozialist und Marxist, später dann als Pazifist. Er engagierte sich in diesen Bewegungen, unterstützte darin auch einzelne Personen, nahm Stellung zu Zeitfragen. Dabei haben sich Adlers Kreise bis in die Zeit, in der er noch vorwiegend in Wien lebte, verändert und erweitert, wie dies auch sichtbar ist an den Diagrammen, die Edwards Timms für die Wiener Kreise um 1910 und in den späten 1920er Jahren verdeutlicht hat (Timms, 1993, S. 130, 140).

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Die Kreise von Wissenschaftlern, Politikern und Künstlern waren in Wien überschaubar, man lernte sich in politischen und intellektuellen Zirkeln, auch über Publikationen, kennen. Und vor allem gab es ja einen Ort, sich unverbindlich einzeln und in Gruppen zu sehen, zu verabreden und diskutieren zu können: das Wiener Kaffeehaus, »Sammelpunkt von Intellektuellen aus verschiedensten Berufen […], von debattierfreudigen Persönlichkeiten des literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Establishment«, wie Milan Dubrovic als Zeitzeuge darstellt (Dubrovic, 2001, S. 28 f.). Es wurde über alles diskutiert, »über Kunst, Literatur, Philosophie, über Einsteins Relativitätstheorie, die Psychoanalyse, die Individualpsychologie […] und selbstverständlich auch über Politik« (S. 30). Es gibt Namen, die im Zusammenhang mit den berühmten Kaffee­ häusern, dem »Herrenhof« oder »Central« oder »Café Museum«, immer wieder genannt werden und die direkt oder indirekt zum Kreis von Adler gehörten oder diesen berührten. Adler war selbst ein Kaffeehausbesucher und hat dort seine Kontakte gepflegt und vertieft. Er war Mitglied bei verschiedenen Stammtischen, im »Herrenhof«, »Café Central« und »Café Siller«. Nach der Gründung der Individualpsychologie gab es im »Herrenhof« eine eigene Adler-Loge für tägliche Treffen. Allerdings »residierte« dort vor allem Raissa Adler, seine Frau, während Adler selbst zumindest zeitweise das Café Siller (am Schwedenplatz) bevorzugte. Manès Sperber soll an beiden Tischen gewesen sein (Dubrovic, 2001, S. 33 f.). Das vorliegende Buch versammelt Aufsätze, die sich mit Adlers sozialem und persönlichem Umfeld, seinen Kreisen, seinen Bezugspersonen oder Anhängern beschäftigen. In diesem Umfeld ist die Entwicklung seiner Theorien (oben-unten, männlich-weiblich, schöpferische Kraft, Machtstreben) zu begreifen, die selbstverständlich auch hier immer wieder Gegenstand der Darstellung und Auseinandersetzung ist. Es geht um seine letzten direkten Kontakte mit der Psychoanalyse (Kongress 1910) und das psychoanalytische Umfeld (Wilhelm Stekel und das Zentralblatt, Otto Gross), um Literaturinterpretation und die literarische Szene (Ehrenstein, Alfred Berger, Otto Kaus), um die expressionistische, rebellische und pazifistische Künstlerszene, die er begleitet und gefördert hat (Ehrenstein, Rubiner, Kokoschka u. a.), um Adlers Stellung zum Ersten Weltkrieg und um die wissenschaftlichen

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Debatten um die Individualpsychologie. Einen besonderen Platz nehmen Adlers Schüler ein – mehr oder weniger abtrünnige – wie Otto Kaus und Manès Sperber. Kaus ist eine Neuentdeckung und wird hier erstmals und möglichst umfassend vorgestellt. Die Kreise und Szenen, mit denen Adler zu tun hatte und in denen er sich bewegte, haben untereinander Berührungspunkte und Überschneidungen. Das ist spannend, aber dadurch kommt es hier zu gelegentlichen Wiederholungen. Von einer Ausnahme abgesehen – das Kapitel über Otto Kaus – handelt es sich um eine Auswahl von Vorträgen und Aufsätzen, die verstreut bereits einmal veröffentlicht wurden, allerdings wurden alle leicht bis erheblich verändert, meist erweitert.

Literatur Bruder-Bezzel, A. (1983). Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dubrovic, M. (2001). Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés. Berlin: Aufbau. Timms, E. (1993). Die Wiener Kreise. Schöpferische Interaktionen in der Wiener Moderne. In J. Nautz, R. Vahrenkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende (S. 128–143). Wien, Köln, Graz: Böhlau.

Alfred Adler, Albert Ehrenstein und der Wiener literarische Expressionismus

Einleitung Alfred Adler wird üblicherweise, ganz im Unterschied zu Freud, im kleinbürgerlich-proletarischem Milieu verankert gesehen, als weniger gebildet, etwas grob und handfest, mit einem entsprechenden Patientenkreis, vorgestellt. Wir wissen aber oder ahnen schon seit längerem, dass das so nicht stimmt. Es tauchten Hinweise auf, dass Adler selbst, aber auch einige seiner Anhänger in Wien, mit dem Umkreis von (sozialdemokratischen) Intellektuellen und der (expressionistischen) Künstler- und Bohemeszene personell und theoretisch verbunden war oder dort selbst Anerkennung fand. Es geht dabei vorwiegend um die Literaturszene, aber nicht nur. So ist das Porträt Adlers von Oskar Kokoschka 1912 ein Beleg für Adlers Offenheit für die neue avantgardistische kulturelle Strömung. Kontakt hatte Adler auch zur modernen Musikszene: 1906 führte er David Josef Bach (geb. 1874), den Musikkritiker und Gründer der Arbeiter-Symphoniekonzerte in Wien, in die Freud’sche Mittwoch­ gesellschaft ein. Bach wurde Förderer der »Neuen Musik« und mit Schönberg führend in der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Auch therapierte Adler den Komponisten Anton von Webern 1913 wegen Depressionen (vgl. Wengler, 1994). Webern war Hauptvertreter des musikalischen Expressionismus und Vertreter der Zwölftonmusik und ebenso wie Bach am Arbeiter-Symphoniekonzert und dem Wiener Singverein beteiligt. Adlers Jugendfreund Franz Blei entwickelte sich später zu einer Schlüsselfigur in der Literaten- und Bohemeszene in Wien, München und Berlin. Mit ihm teilte er als Schüler und junger Student das gemein-

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same Interesse für Marxismus und für Nietzsche, »Nietzsche war das zweite aufregende Erlebnis unserer achtzehnjährigen Jugend«, Schopenhauer und Nietzsche »hatten hier spirituelle Welten von größter Eindringlichkeit gebaut« (Blei, 1930, S. 123). Diese Interessen verfolgten sie in Studentenvereinigungen weiter, im »Österreichischen Studentenverband« und im Diskutierclub »Veritas«. Dort war Blei zentrale Figur, dazu stieß Adler, der nach Bleis Aussage aus dem Österreichischen Studentenverein erst einen »sozialistischen Studentenverband machte« (S. 144). Ihre Entwicklungen gingen in sehr unterschiedliche Richtungen. Sie verkehrten in anderen Kreisen, und doch gab es noch Kontakt und bestanden enge Verbindungen von Blei zu den Adler-Anhängern Otto und Gina Kaus sowie Paul Schrecker (vgl. Kapitel zu Kaus). Zudem gibt es drei Briefe von Adler an Blei, 1902 und 1912, und diese sind schöne Zeugnisse dafür, wie stark Adler in der literarischen Szene zu Hause war: Adler konnte 1902 über die beruflichen Aussichten von Blei, über die Lage im Insel-Verlag und über die Redaktion der Zeitung »Zeit« mitsprechen und zeigte 1912, wie sehr er auch in der expressionistischen Szene und Zeitschriftenlandschaft beheimatet war (s. u.). Eine ganze Reihe von Namen expressionistischer Schriftsteller in Wien, Berlin, Zürich und Dresden-Hellerau waren mit Adler verknüpft – was meist geheißen hat, dass sie sich gegen Freud wandten – so u. a. Albert Ehrenstein, Carl Ehrenstein, Ludwig Rubiner, Charlot Strasser. Auch Adlers Anhänger Otto und Gina Kaus gehörten zum engeren Kreis der Literaten-Kaffeehausszene und beide waren selbst ausgiebig schriftstellerisch tätig (vgl. Kapitel zu Kaus). Der (wilde) Psychoanalytiker Otto Gross ist das entscheidende Verbindungsglied und Sprachrohr zwischen der Psychoanalyse und all diesen Kreisen, aber er setzte sich selbst auch mit der Theorie Adlers auseinander und pflegte die persönliche Verbindung zu Otto Kaus (vgl. Kapitel zu Gross). Von diesen Wiener Kreisen gab es auch Kontakte zu dem Künstlerkreis in Dresden-Hellerau, zu dem über das Ehepaar Otto und Alice Rühle wiederum Verbindung zur Individualpsychologie bestand (vgl. Kapitel zu Kaus und zu Gross). Diese Verbindung Adlers zur jungen, rebellischen Intelligenz ist nicht überraschend, wenn man dies von seiner politischen und intel-

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lektuellen Herkunft her sieht, durch die er sich gesellschafts- und wissenschaftskritisch jeweils an aktuellen modernen intellektuellen Strömungen orientierte. Aus seinem sozialdemokratischen Umfeld heraus publizierte er bereits ab 1897 in sozialistisch orientierten Zeitschriften (Arbeiterzeitung, Der Kampf, Ärztliche Standeszeitung, Neue Gesellschaft), vorwiegend zur Sozialmedizin (vgl. Bruder-Bezzel, 1999). Er hatte im Weiteren offenbar auch gute Kenntnisse über die avantgardistischen und expressionistischen Zeitschriften und Verlage und damit Einblick in die Szene, auch über Wien hinaus. Und so ging Adler um 1910 ein Stück weit mit den jungen Expressionisten, die laut und aufgeregt, auch provokant agierten. Adler war natürlich selbst nie Expressionist, aber in einigen dieser kulturkritischen Themen und Werthaltungen können wir leicht Übereinstimmung mit Adler herstellen, so z. B. eine pazifistische Grundhaltung, Verkündigung einer neuen Ethik, Übernahme von Verantwortung, Antideterminismus, Kritik am Geschlechterverhältnis und Patriarchat, Gemeinschaftsbegriff und das Schöpferische. Einiges trennt ihn natürlich von den Künstlern, wie z. B. die Propaganda sexueller Libertinage, der Vatermord, die Verherrlichung des Matriarchats. Im Folgenden geht es um diese Verbindungslinien. Ehrenstein und seine Beziehung zu Adler rücke ich in diesem Beitrag ins Zentrum und gruppiere andere Künstler, teils in Exkursen, darum herum, die zu beiden, Adler und Ehrenstein, eine Beziehung hatten.

Albert Ehrenstein (geb. 1886) Albert Ehrenstein war eine der zentralen Figuren des frühen literarischen Expressionismus in Wien. Er schrieb Essays, Erzählungen, Gedichte, Rezensionen und beschäftigte sich sehr viel mit China und chinesischer Lyrik. Er schrieb in allen maßgeblichen expressionistischen Zeitschriften, gründete selbst auch Zeitschriftenreihen. In der Anthologie des Expressionismus »Menschheitsdämmerung«, herausgegeben von Kurt Pinthus 1920, war Ehrenstein mit zwanzig Gedichten stark vertreten. Albert Ehrenstein wurde im Wiener Arbeiterviertel Ottakring als ältester Sohn eines jüdischen Brauerei-Kassierers geboren, legte

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1905 sein Abitur am Hernalser Gymnasium ab, studierte in Wien Geschichte und promovierte 1910 (Mittelmann, 2004, S. 560 f.).1 Ehrenstein lebte abwechselnd in Wien, Zürich und Berlin. Er führte »ein unstetes Dasein, war sehr viel auf Reisen, nicht nur in Europa, sondern ebenso in Afrika, Asien und blieb, wie er angab, eine Zeitlang in China« (Pinthus, 1959, S. 339 f.). Er war stets mittellos und musste um Geld angehen oder für Albert Ehrenstein Geld schreiben. Im Krieg wurde er 1915 militärisch für untauglich befunden, musste im Ersatzdienst im Kriegsarchiv dienen, zusammen u. a. mit Stefan Zweig und Alfred Polgar (S. 562, 580). Ende Oktober 1915 wurde er davon beurlaubt und im April 1916 aus dem Heeresverband ausgeschieden (S. 562). Danach lebte er wieder wechselnd in der Schweiz, Berlin und Wien und war viel auf Reisen. In der Nazizeit hatte Ehrenstein als jüdischer, linker Schriftsteller keinerlei Chancen, war ab 1933 gänzlich mittellos und ständig fliehend unterwegs an vielen Orten, in der Schweiz, Wien, Prag, Berlin, Sowjet­ union, Jugoslawien und England. Er war antifaschistisch engagiert, versuchte z. B. 1933 und 1934 zur Gründung des Vereins »Internationale Rote Hilfe« zur Unterstützung antifaschistischer Schriftsteller-Emigranten aufzurufen (Ehrenstein, 1989, S. 265 f., 270 f.; Mittelmann, 2004, S. 566, 588). Im September 1941 erst landete er schließlich in den USA, New York, wo er 1950 starb. Er war mit sehr vielen Dichtern und Künstlern bekannt, befreundet oder mit vielen auch heftig befeindet, war als solcher auch Vermittler zu vielen wichtigen Personen, Kreisen und Zeitschriften. Lebenslang befreundet war er z. B. mit Stefan Zweig, Oskar Kokoschka und 1 Bei der biographischen Darstellung halte ich mich im Wesentlichen an Hanni Mittelmann, Herausgeberin von Ehrensteins Werken in fünf Bänden von 1991–2004.

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Hermann Hesse, befreundet und dann verkracht mit Arthur Schnitzler und Karl Kraus, verkracht mit Max Brod, Kurt Hiller und Alfred Kerr. Aufsehen erregte seine frühe, zwanzigseitige Erzählung »Tubutsch«2, erschienen im Dezember 1911, mit zwölf Federzeichnungen seines Freundes Oskar Kokoschka, sehr bunt und expressiv illustriert (Ehrenstein, 1991, S. 36–59). Der Verleger kündigte »Tubutsch« warnend an: »keine für Weihnachten hergerichtete Dutzendware […]; künstlerischen Feinschmeckern wird das aparte Buch […] eine eigenartige Bereicherung literarischer Seltenheiten sein« (zit. nach Schweiger, 1983, S. 132). Ehrenstein selbst schrieb an Heinrich Mann: »ich werde mit diesem Bande wohl manchem ein rechtschaffenes Weihnachts­ärgernis bereitet haben« (30.11.1911, S. 132). Später (1946) schrieb Ehrenstein: »Tubutsch – Produkt jugend­ licher Einsamkeit. In einer Woche geschrieben, im Alter von 21 Jahren« (Ehrenstein, 1991, S. 432). Ehrensteins Texte sind meist ironisch, äußerst scharf, sarkastisch, auch sperrig und schwer verständlich. Wahrhaft expressionistisch schreibe er mit »ekstatischem Aufschrei«, »ungestümen Umsturz« (Hamann u. Hermand, 1976, S. 29), ketzerisch gegen den herrschenden Literaturbetrieb, die Epigonen, Spießbürger. Oder wie Hanni Mittelmann in Anlehnung an Adorno schreibt: »Das innerste Gesetz von Ehrensteins journalistischen Schriften ist in der Tat ›die Ketzerei‹3, die Erschütterung aller Normen des etablierten Denkens über Literatur, Politik, Staat und Religion« (Mittelmann, 2004, S. 571). Er habe sich bis 1914 als einen »ästhetisch revolutionären Dichter« verstanden, dem »geistesaristokratischen Selbstverständnis eines Thomas Mann« verbunden (S. 574). Erst dann begann er – nach einer kurzen Phase der »chauvinistisch-patriotischen« Kriegsbegeisterung (S. 574) –, systemkritisch und politisch zu schreiben. Er wurde »antinational«, trat 1915 der »Antinationalen Sozialisten Partei« um Franz Pfemferts »Aktion« bei (Ehrenstein, 2004, S. 108 ff.; Mittelmann, 2004, S. 575) und unterzeichnete 1918, u. a. mit Franz Pfemfert, Carl Zuckmayer, Hans Siem-

2 Ich-Figur Karl Tubutsch. »Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch«, so beginnt und endet der Text. 3 Adorno: »Das innerste Formgesetz des Essays ist die Ketzerei.«

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sen, begeistert für die Oktoberrevolution, das revolutionäre »Manifest der antinationalen Sozialistenpartei« (S. 576). Bald aber setzte die »Desillusionierung« ein, seine Artikel begleiten »den unaufhörlichen Untergang aller Revolutionshoffnungen der expressionistischen Bewegung«. Schuld daran trage »die Sklavenmentalität der deutschen Arbeiter, die sozialdemokratischen »pharisäisch scheinroten Priester« und die literarische Intelligenz als »lyrische Schlagsahne der Zeit« (S. 577). Die Verbindung zu Adler beginnt wohl relativ früh und dauert erstaunlich lange, bis zu Adlers Tod 1937. In den Zeittafeln bei Hanni Mittelmann heißt es, er wurde mit Adler 1910 bekannt – also noch vor der Trennung Adlers von Freud – als sein jüngerer Bruder Carl Ehrenstein Patient bei Adler wurde (S. 561)4. Nähere Kontakte begannen Anfang 1911, als sich Albert Ehrenstein »wegen neurotischer Beschwerden« bei Adler in Behandlung begab, die möglicherweise durch den Konflikt und Bruch mit Arthur Schnitzler (mit-)ausgelöst worden waren (S. 501 f., 561).5 Allerdings verweist Hanni Mittelmann auch auf einen (sehr amüsanten) autobiographischen Text, »Matura«6, in dem eine einmalige Begegnung mit Adler, und zwar bereits 1905, kurz vor seinem Abitur geschildert wird, an die sich sicher nur Ehrenstein, nicht Adler, erinnerte. Es geht um Ehrensteins leidvolle Schulerfahrung, sicher dichterisch, phantasievoll ausgeschmückt: »Wegen unbotmäßigem Verhalten und schlechter Schulleistungen im Piaristengymnasium geflogen, eigentlich von allen Gymnasien ausgeschlossen, wurde er mit Hilfe väterlicher Beziehung im Hernalser Realgymnasium untergebracht.« Lebendig schreibt er dazu: »In Hernals setzte mich Ausgestoßenen der Klassenvorstand […] sofort in die erste Bank. Man wollte mich unmit4 Carl Ehrenstein, ebenfalls Schriftsteller und weiterhin mit Adler verbunden, war Ende der 1920er Jahre nach London ausgesiedelt und wurde Mitglied in der Londoner Adler-Gesellschaft (vgl. Wikipedia-Artikel »Carl Ehrenstein«). 5 In den Zusammenhang mit Schnitzler stellt Hanni Mittelmann auch den »Nervenzusammenbruch und die Einlieferung in ein Sanatorium« bereits im Januar 1906. Zu »nervlichen Überlastungen« und Sanatoriumsaufenthalten kam es später immer wieder. 6 Dessen Entstehungszeit bleibt offen, evtl. erst 1943 (Ehrenstein, 1991, S. 331).

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telbar unter den Augen haben, damit ich nicht in die Versuchung geriete, Allotria zu treiben […]. Ich musste mir Schultag für Schultag durch die Vorträge, Prüfereien, Nörgeleien der Professoren verpesten lassen. Damit aber war ich wehrlos meinem Temperament ausgesetzt […]. Was tun? Vertrauensvoll wandte ich mich an den jovialen Dr. Alfred Adler, den ich vor Jahren im Hause eines Onkels kennen gelernt hatte, wo er – damals noch Internist – Hausarzt war. Ich klagte ihm mein Leid, bat ihn um Schutz vor meinen gefährlichen Einfällen. Sein ärztliches Zeugnis konnte meiner Meinung nach Wunder wirken. Alfred Adler war ganz anderer Ansicht: ›Ich bin noch ein ganz unbekannter Arzt. Ein Wisch von mir kann Ihnen gar nicht helfen. Was mach’n ma do? Wissen’s was? Geh’n’s zum Wagner-Jauregg!‹ K. K. Hofrat Professor Dr. Wagner von Jauregg war Vorstand der I. psychiatrischen Universitäts-Klinik des Wiener Allgemeinen Krankenhauses.« Als Ehrenstein »kleinlaut« wurde, meinte Adler: »Sie werden schon mit ihm fertig werden«. Der junge Ehrenstein spielte dann mit dem großen Professor Schabernack und ließ sich von ihm »Schlafsucht« diagnostizieren, die der Schüler dann, je nach Bedarf, im Unterricht ausleben durfte (Ehrenstein, 1991, S. 337 f.). Von Seiten Ehrensteins gibt es in all den Jahren Zeichen von Anerkennung und Respekt gegenüber Adler. Von einer wirklichen Freundschaft oder Anhängerschaft würde ich aber nicht sprechen, zu groß sind doch die Unterschiede zwischen beiden. Ehrenstein schrieb immer wieder über Adler und in Organen der Individualpsychologie, worin sicher auch Gefälligkeit und eine kleine Verdienstmöglichkeit lagen. Vermutlich bekam Adler über Ehrenstein Kontakt zur Künstlerszene, so zu Oskar Kokoschka, Elisabeth Bergner, Franz Werfel, vielleicht auch zu Ludwig Rubiner. Über Ehrenstein, so meinte Schiferer 1995, habe Adler Möglichkeiten der Veröffentlichungen genutzt, so 1917 »Aphorismen« in der Zeitschrift »Die Jugend« und 1918 über die »Periodenlehre von Fliess« in der Vossischen Zeitung (Schiferer, 1995, S. 101). Und Ehrenstein selbst bewegte sich in Kreisen – mit und ohne Vermittlung von Adler –, die teilweise Adlers Kreise berührten. Dazu gehörten Charlot Strasser, Franz Blei, Gina und Otto Kaus und Ludwig Rubiner.

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1. Exkurs: Oskar Kokoschka (geb. 1886) Adler ließ sich 1912 von Oskar Kokoschka in Öl porträtieren. Es kann durchaus sein, dass es Ehrenstein war, der die Verbindung Kokoschka– Adler hergestellt hatte. 1912 stand Adler in gewisser Weise auf einem ersten Höhepunkt: getrennt von Freud, mit einem eigenen Zirkel und seinem ersten großen Werk (»Über den nervösen Charakter«, 1912). Oskar Kokoschka, der Maler und Dichter, war seit etwa 1908 und 1909 (»Wiener Kunstschau«) verschrien, umkämpft als »junger Wilder« oder »Oberwildling«. Er läutete sozusagen, unter einem Sturm von Entrüstung, das expressionistische Jahrzehnt ein, mit Bildern, Theater Alfred Adler (Oskar Kokoschka, 1912) und Prosa, in Wien und in Berlin (Schweiger, 1983, S. 63 f.). Um diese Zeit (April 1912) begann die wilde, dramatisch werdende Beziehung Kokoschkas zu Alma Mahler-Werfel (vgl. Hilmes, 2004).7 Kokoschka hatte ab 1909 durch die Vermittlung des ebenso provokanten wie umstrittenen Architekten der Moderne, Adolf Loos, über Jahre hinweg eine ganze Reihe von Porträt-Aufträgen übernommen (63 Porträts wurden erfasst, vgl. Lowitzer-Hönig, 2008), das erste in der Schweiz für den bekannten Psychiater und Sozialreformer Auguste Forel. Albert Ehrenstein lernte Kokoschka persönlich im Literatenkreis um Peter Altenberg und Karl Kraus 1911 kennen und befreundete sich mit ihm (Mittelmann, 1989, S. 492).

7 Zur Verarbeitung des Trennungsdramas nach dem Krieg hatte Kokoschka seine Alma-Puppe verbrannt und den Komponisten Ernst Krenek mit der Vertonung des Schauspiels »Orpheus und Eurydike« beauftragt (Oper 1922/23) (vgl. Hilmes, 2004).

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1914/15 schrieb Ehrenstein über Kokoschka einen begeisterten Essay (Ehrenstein, 2004, S. 69 ff.), eine Variante davon erschien 1924/26 (S. 226 ff.). Er nennt Kokoschkas frühes illustriertes Buch »Die träumenden Knaben« (1908) »das schönste Dokument der unwegsamsten Künstlerjugend, die sich in Wien je austobte« (Schweiger, 1983, S. 8; Ehrenstein, 2004, S. 70), lobt an Kokoschkas Lyrik »seine Rhythmen atmen wirkliche Poesie« und stellt sie in den Rang von Georg Trakl und Else Lasker-Schüler (S. 70). Schließlich schreibt er zu Kokoschkas Skandal-Theaterstück »Mörder, Hoffnung der Frauen« (1909), der »Tragödie der Erotik, die Darstellung der ewigen Pein der Sexualität« (Schweiger, 1983, S. 109): »Kokoschka ist eben als Dichter wie als Maler […] Explosionist. Er schafft der Not gehorchend – dem eigenen Triebe!« (Ehrenstein, 2004, S. 71). Ehrenstein blieb mit Kokoschka, den er sehr verehrte, befreundet und bis zu seinem Lebensende verbunden.

Frühe Zeugnisse der Beziehung Adler–Ehrenstein Ehrenstein schreibt im August 1912 an Stefan Zweig über seine »Neigung zum Selbstwegwurf und die Freudschen Späße […]. Ich lernte übrigens diese Art der Psychokatalyse, die ich allerdings in dem Alfred Adler’schen Werk über den nervösen Charakter noch immer sehr hoch schätze – erst vor anderthalb Jahren kennen. Nach diesem vergiftenden Primäraffekt entstanden von den publizierten Arbeiten nur die Katernovelle, Zigeuner und 241« (Ehrenstein, 1989, S. 105).8 Alle drei Erzählungen entstanden 1911, offenbar unter dem Einfluss von Adler und Freud, wie dies Hanni Mittelmann meint (Ehrenstein, 1991, S. 154–170; Mittelmann, 1991, S. 452 ff.). Mittelmann rechnet auch »Frühes Leid« von 1912 zu den durch die analytische Behandlung beeinflussten Erzählungen (Ehrenstein, 1991, S. 184 f.; Mittelmann, 2004, S. 502).

8 Katernovelle: »Der Selbstmord eines Katers«.

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Ebenfalls im August 1912 begann eine literarische und persönliche Fehde Ehrensteins mit Kurt Hiller.9 Sie wurde in den Zeitschriften »Der Sturm«, »Pan« und »Die Aktion« ausgetragen: »Ein Cabaret als literarische Anstalt«, dann schärfer »Anmerkungen«, »Antwort« (Ehrenstein, 2004, S. 21 ff., 561 f.). Ehrenstein hatte eine Veranstaltung im Frühjahr 1912 von Kurt Hiller im Cabaret GNU in Berlin zu Ehren des im Januar 1912 beim Eislaufen ertrunkenen Georg Heym ironisch kommentiert, vorwiegend gegen Hiller.10 Daraufhin brach ein Kampf aus, den Ehrenstein mit ungeheurer zynischer Wucht geradezu bösartig, mit vielen Anspielungen, u. a. aus dem Tierreich, gegen Hiller weiterführte. 14 Schriftsteller, darunter auch Franz Blei, gaben daraufhin gegen Ehrenstein eine Erklärung ab. Dagegen konterte Ehrenstein in einer kurzen, saftigen »Antwort« (Ehrenstein, 2004, S. 25). Im Dezember 1912 versucht nun Adler einzugreifen. Er schreibt an seinen Jugendfreund Franz Blei in Berlin: »Ich habe im Sturm von einer Affaire Ehrenstein – Kurt Hiller, die ich beide sehr schätze, gelesen. Du erinnerst dich, dass ich dir Ehrenstein empfohlen habe. Der Angriff Ehrensteins ist sicher zu weitgehend, und unter normalgesellschaftlichen Normen nicht verständlich, so dass Franz Blei (1930)  9 Kurt Hiller (1885–1972), expressionistischer Schriftsteller, Berlin. Hiller war auch persönlich mit dem Psychiater Arthur Kronfeld befreundet, der später in der Berliner Individualpsychologie eine Rolle spielte (vgl. Bruder-­ Bezzel, 2014). 10 »Gnu« ist eine afrikanische Antilopengattung. Cabaret »GNU« (Berlin, Potsdamer Str.) war seit 1911 eine Veranstaltung der literarischen Vereinigung »Neuer Klub« (Hackescher Markt), gegründet 1909 von Hiller. Dem Cabaret »GNU« ging das »Neopathethische Cabaret« voraus und wurde nach »antihillerischen Auseinandersetzungen« mit Jakob van Hodis gegründet (Mittelmann, 2004, S. 500; s. a. Wikipedia-Artikel »Neopathetisches Cabaret«, Zugriff am 10.07.2018).

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ich annehmen muss, dass Kurt Hiller mit den persönlichen Beleidigungen angefangen hat. Ehrenstein ist ein guter Kerl und einem freundschaftlichen Wort sehr zugänglich. Er wird sich aber wie ein Löwe wehren, wenn man ihm an die Ehre und ans Leben greift, was für ihn mit der Unterbindung von Publikationsmöglichkeiten gleichbedeutend ist. Ich weiß, dass du auch unterschrieben hast. Aber wäre es nicht möglich, dass du kalmierend eingreifst und die unangenehme Sache durch eine Aussprache und durch eine gegenseitige Erklärung aus der Welt schaffst? Tue es doch! Es ist doch schade um beide, wenn sie sich zerfleischen« (Adler, 2014, S. 32). Zweierlei offenbart dieser Brief. Zum einen zeigt er deutlich, dass Adler in dieser literarischen expressionistischen Szene durchaus zu Hause war. Zum anderen erscheint es typisch für ihn, dass er besänftigen, zur Entspannung (»kalmierend«) beitragen will. Er ergreift Partei für Ehrenstein, will aber auch Hiller eher geschont lassen. Im November 1914 schreibt Ehrenstein einen berührenden Nekrolog auf den expressionistischen Lyriker Georg Trakl, der nach traumatischen Kriegserlebnissen zur Beobachtung seines Geisteszustands im Garnisonshospital Krakau lag und sich dann selbst am 4. November mit einem Schlafmittel das Leben nahm (Ehrenstein, 2004, S. 78 f.).11 Es heißt u. a.: »Es starb Trakl in Krakau, starb um Galizien, starb für uns, nahm das Leid auf sich, bis er es nicht mehr ertrug und dahinschwand. Sein Leben war stets umschattet gewesen, sanfte Melancholie vor dem Tod, den er immer sah […]. Georg Trakls Gedichte waren eine Todesahnung, er war ein Dichter der Vergänglichkeit« (S. 80 f.). Dieser Nekrolog wurde mehrfach und in verschiedenen Varianten veröffentlicht. Aus den Varianten 1916, 1918 und 1919 geht eine Zusammenarbeit von Ehrenstein und Adler hervor, der konkrete Sachverhalt ist jedoch nicht ganz klar: »Tatsächlich hatten rechtzeitig, zu Lebzeiten Georg Trakls[,] Dr. Alfred Adler und ich den Vorschlag gemacht, zusammen nach Krakau zu reisen und den Bedrohten nach Wien mitzunehmen. Aber der Vorschlag scheiterte an einer gewissen Indolenz des Architekten Adolf Loos: ›Ach was – der Trakl hat immer Morphium genommen.‹ Die Idee scheiterte an einem obszönen Geldmangel, Inte11 In diesem Spital war später auch Adler im ärztlichen Kriegsdienst, aber erst ab November 1916 (vgl. Kapitel zum Krieg).

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resselosigkeit – weder Karl Kraus noch Loos sprachen von den Mitteln, die für die Reise nötig waren. Darüber starb Georg Trakl. Dem kranken Trakl, Alfred Adler und mir war die Sache ernst, aber Adolf Loos nahm den Fall leicht, Karl Kraus schwieg sich übers Materielle aus« (Ehrenstein, 2004, S. 509). Alle Genannten, auch Adler, seien mit Trakl befreundet gewesen, schreibt Hanni Mittelmann an gleicher Stelle (Ehrenstein, 2004, S. 510). Über Ehrensteins Tätigkeit als Lektor in Berlin kam es zu beruflichen Kontakten zu Menschen, die auch mit Adler verbunden waren. Im Oktober 1916 geht aus einem Brief an Franz Blei hervor, dass er in dessen Auftrag eine Novelle von Andreas Eckbrecht im Fischer Verlag unterbringen sollte, doch ohne Erfolg, wie schon vor einem Jahr bei einer »Erzählung von Gina Zirmer« (eigentlich: Zirner). Es schmerze ihn, dass er auch für andere »befreundete Begabungen (Kaus war nur ein Fall von vielen) wenig oder nichts erreichen konnte« (Ehrenstein, 1989, S. 158). Nun ist Andreas Eckbrecht das Pseudonym von Gina Zirner, die Schriftstellerin und spätere Ehefrau von Otto Kaus und mit »Kaus« müsste dieser Otto Kaus gemeint sein. Franz Blei war mit beiden befreundet, diese wiederum mit Adler verbunden (vgl. Kapitel zu Kaus). Offen ist hier, ob Ehrenstein diese Zusammenhänge bekannt waren. Ehrenstein klagt jedenfalls über »derartige Misserfolge« und über seine »Lektoratsgefangenschaft«, durch die er zu »keiner eigenen Arbeit« mehr komme. Er möchte zu »Schickele, Charlot Strasser, Rubiner, Hardekopf« (S. 158) und sich somit bei Fischer beurlauben lassen, um in die Schweiz zu gehen, wo sich diese Schriftsteller in der Kriegszeit aufgehalten hatten. Das verbindet er mit der dringenden Bitte um finanzielle Unterstützung durch einen »Millionär«, »aus lebenswichtigen Gründen« (S. 159). In einem Brief am nächsten Tag dankt er Max Krell12 für seine »spontane Intervention«, für »Geschenk und Darlehen« als »Baustein einer unabhängigen Schweizer Existenz«. Er erklärt, dass er in Zürich »eine in der Schweiz dauernd gebundene Dame so liebe, dass mir Berlin zur Last fällt« (S. 160).

12 Max Krell: Schriftsteller, Theaterkritiker, Lektor im Ullstein Verlag.

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Gemeint war die Schauspielerin Elisabeth Bergner, die Ehrenstein seit 1915 kannte. Dies war vielleicht sogar der »lebenswichtige Grund« für ihn, nach Zürich zu wollen. Dies tat er nun im Dezember diesen Jahres.

2. Exkurs: Elisabeth Bergner (geb. 1897) Die legendäre Schauspielerin Elisabeth Bergner, aufgewachsen in Wien, hatte Bühnenerfolge in Wien, Zürich, München und Berlin. Zwischen ihrem 10. und 14. Lebensjahr war der Medizinstudent Jacob Moreno ihr Hauslehrer, mit ihm beginnt für sie »eine neue Zeitrechnung«. »Es beginnt meine geistige Geburt«, wie sie in großer Verehrung in ihrer Autobiographie schreibt (Bergner, 1978, S. 12). Ab 1915 war sie in tiefer, lebenslanger Freundschaft mit Albert Ehrenstein verbunden, der sie offen­bar glühend verehrte und ihr in alle Städte folgte. »Nur so langsam wurde es mir klar, dass er einfach immer dort war, wo ich gerade engagiert war. So zog er von Zürich nach Berlin, von Berlin nach Wien, von Wien nach München und wieder nach Berlin« (S. 26). Sie nannte ihn liebe­ voll-abschätzig »Xaverl«. »Xaverl war Dr. Albert Ehrenstein, ein Poet. Und ein lieber, lieber Mensch. Xaverl ist ein österreichischer Spottname für einen Tolpatsch« (S. 26). Aus der Freundschaft entstand aber keine Liebesbeziehung. Bergner schreibt mehrmals, sie »hatte gro- Elisabeth Bergner ßes Talent für Freundschaften und gar kein Talent für Liebschaften« (S. 30), und gleichzeitig führte sie eine sehr enge Beziehung und Lebens­gemeinschaft mit einer Freundin (Viola). Zu Adler scheint sie zweimal als »Patientin« Kontakt gehabt zu haben, vermittelt über Ehrenstein. Einmal, als sich 1919 der Bildhauer

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Wilhelm Lehmbruck umgebracht hatte. Nach der Schilderung der Bergner hatte Lehmbruck offenbar Depressionen durch schwere Ehepro­ bleme und Schuldgefühle. Verliebt in die Bergner aber, die er (durch Ehrensteins Vermittlung) in Zürich porträtiert hatte, setzte er sie unter Druck, ihn zu retten, dem sie sich entzog. Als er daraufhin Suizid beging, brachte Ehrenstein die aufgelöste Bergner zu »seinem Freund Alfred Adler, dem Psychoanalytiker«, der sie sehr unsanft schockierte mit: »Und jetzt glauben Sie, Sie sind schuld? Das könnte Ihnen so passen« (S. 43). Das andere Mal, offenbar 1920, ließ sie sich »mit Xaverls Einverständnis und mit Alfred Adlers Hilfe nach Steinhof« – der Wiener Psychiatrischen Klinik – schicken, »zur Beobachtung, als mental gestört«, in Wirklichkeit aber zur Erfüllung einer politischen Mission: Sie sollte eine Verbindung herstellen zwischen dem »ungarischen Kommunistenführer« Béla Kun, der nach dem Scheitern der Räterepublik im Steinhof festgehalten wurde, und der (österreichischen) kommunistischen Partei – so ihre eigene Darstellung (S. 83).13 Ehrenstein war also im Dezember 1916 nach Zürich gegangen, zeitweise dort auch ins Sanatorium Kilchberg.14 Ab 1917 hatte er eine »Sekretärsstellung beim Adler’schen Verein für Individualpsychologie« (Mittelmann, 2004, S. 563; auch Schiferer, 1995, S. 96), der nun wegen des Krieges seinen Sitz in Zürich hatte. Die »Sekretärsstelle« ist wohl vorwiegend als »Baustein« für Ehrensteins existentielle Absicherung zu verstehen, dafür organisierte er im Namen der Individualpsychologie Vorträge im »Lesezirkel Hottingen«. So lud er u. a. Adler, Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler und auch Franz Blei ein. Adler sollte einen Vortrag über Dostojewski oder Beethoven halten (Ehrenstein, 1989, S. 170 f.).15 Tatsächlich hielt Adler am 18. März 1918 einen Vortrag über Dostojewski in Zürich in der großen Tonhalle (Adler, 1920, S. 101–110). Am 13 In einer Internet-Darstellung heißt es dagegen nur, dass sie sich 1920 auf Anraten von Adler einem längeren Aufenthalt am Steinhof unterzogen habe 14 Auch sein Bruder Carl kam (September 1917) nach Zürich und wurde von Charlot Strasser behandelt. 15 Andernorts heißt es, Adler sei zu einem Vortrag über »Dostojewsky und Tschaikowsky« eingeladen worden (z. B. Schiferer 1995, S. 101).

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Tag zuvor hatte Ehrenstein in der Neuen Züricher Zeitung darauf aufmerksam gemacht. In derselben Neuen Züricher Zeitung erschien am 19.3. von Eduard Korrodi, dem Schweizer »Literaturpapst«, darüber ein Bericht (Heinrich, 1986, S. 31 f.; Schiferer, 1995, S. 99 ff.). Korrodi schreibt: Adler, »ein Wahrredner, kein Prunkredner, ein Beschwichtiger, die Worte Wägender, den Gedanken um des Gedankens willens langsam, sicher, affektlos Prägender, suchte in der kürzesten Spanne Zeit Wesentliches zu sagen« (S. 100). Franz Blei bekam eine sehr offizielle Einladung vom »Verein für Individualpsychologie« mit entsprechendem Briefkopf, unterzeichnet von Strasser und Ehrenstein. Er wurde gebeten, »im Rahmen der psychologisch-philosophischen und literarischen Vorträge unseres Vereins eine Conference über ein Ihnen genehmes Thema zu halten«. Sie machten selbst eine Reihe von Themenvorschlägen, u. a. das literarische Jung-Österreich, Franziskus von Assisi, Franz Werfel, und boten zudem an, »den Reinertrag dieses Vortragsabends wohltätigen katholischen Zwecken zu widmen (Ehrenstein, 1989, S. 173 f.).16

3. Exkurs: Charlot Strasser (geb. 1884) und Vera EppelbaumStrasser (geb. 1885) Charlot Strasser und seine Frau Vera Strasser-Eppelbaum waren beide Psychiater, ausgebildet bei Bleuler im Burghölzli und langjährige Freunde von Adler. Vera Eppelbaum war, wie Adlers Frau Raissa, Russin, die in Zürich studiert hatte. Charlot war zudem selbst expressionistischer Schriftsteller und als Kulturpolitiker tätig, als solcher eine sehr wichtige Vermittlerfigur zwischen Adler und der expressionistischen Szene. Die Strassers hatten ein offenes Haus für Freunde aus Wissenschaft, Kunst, Literatur (Heinrich, 1986, S. 25) und behandelten auch Künstler therapeutisch. In der Kriegszeit und später scharte das Ehepaar emigrierte Künstler und Literaten um sich, die sich u. a. um die Cafés »Terrasse« und 16 Blei war zu dieser Zeit katholisch orientiert, wie dies in seiner Zeitschrift »Summa«, Hellerauer Verlag, sichtbar ist (vgl. Kapitel zu Kaus).

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»Odeon« sammelten (S. 40 ff.). Zu diesen gehörten u. a. auch Ludwig Rubiner und Franz Werfel, die über Ehrenstein und Strasser auch mit Adler bekannt waren, über den beide sich sehr positiv äußerten. Franz Werfel schreibt z. B. an den Leipziger Verleger Kurt Wolff: Adler, »der doch unzweifelhaft neben Freud der grundlegende Psychologe und mehr noch als das der Gegenwart ist« (Wolff, 1966, S. 118).17 Und Rubiner reiht Adler in seinen Kreis ein (s. u.). Nach Kriegsbeginn ermöglichten die Strassers 1916 in der Schweiz eine Kriegsausgabe der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie (IZI) mit zwei Heften. Die Strassers waren darin mit mehreren Aufsätzen vertreten, so über Massenpsychologie, Geschlecht und Persönlichkeit (Vera), Unfall und Militärneurosen (Charlot). Auch der expressionistische Dichter Ludwig Rubiner schrieb darin (s. u.). Die Freundschaft mit Adler begann um 1910/1911 im gegenseitigen Austausch (Heinrich, 1986, S. 28; Schiferer, 1995, S. 96), die Strassers wurden Anhänger von Adler. So schrieben sie einiges Individualpsychologisches, z. B. Vera schrieb 1914 in der »Schriftenreihe freie Psychoanalyse« Nr. 5 über Alkoholismus, Charlot hielt am 7. und 14. Februar 1914 in der Wiener Vereinssitzung ein Referat über Kleptomanie; sie schrieben 1914 und 1916 in der IZI eine Reihe von Aufsätzen ebenso wie in dem Sammelband »Heilen und Bilden« (1914). Die weitere Geschichte der Zusammenarbeit mit den Strassers ist etwas unklar. Während Heinrich lediglich von einer Lockerung der Zusammenarbeit spricht (Heinrich, 1986, S. 33), gibt es Hinweise auf ein Zerwürfnis: So schrieb Vera 1921 ein Buch, in dem sie fast aggressiv zentralen Konzepten der Adler’schen Theorie widerspricht: Wille zur Macht sei keine Kompensation, der Nervöse strebe nach Anerkennung, nicht nach Macht, er betone die Sicherung und sei beziehungsunfähig (Strasser, 1921, vgl. Bruder-Bezzel, 1999, S. 40 f.). Das konnte Adler sicher nicht verkraften und so fehlt auch Veras Beitrag in der zweiten Auflage von »Heilen und Bilden« (1922).

17 Werfel spricht hier von einem Vertragsverhältnis Adlers mit dem Verlag bzgl. einer Gesamtausgabe. Wolff bestreitet dies und er könne »einer so bedeutenden Aufgabe – so reizvoll und interessant sie mir scheint – aus »technischen Gründen zurzeit nicht nähertreten« (Wolff an Werfel, in: Wolff, 1966, 15.4.18, S. 120).

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4. Exkurs: Ludwig Rubiner (geb. 1881) Rubiner gehört, ähnlich wie Ehrenstein, zu den herausragenden expressionistischen Dichtern, war zudem Literaturkritiker und Übersetzer. Er gehörte der Berliner Boheme und Avantgarde an, die politisch eine radikale, sozialkritische, anarchistische Stellung einnahm, hatte Kontakt zur Berliner/Friedrichshagener »Neuen Gemeinschaft« (um die Gebrüder Hart, Bruno Wille, Wilhelm Bölsche, Gustav Landauer, Erich Mühsam), zu Anarchisten, Antimilitaristen und war 1911 Mitbegründer der Zeitschrift »Die Aktion« (Haug, 1988, S. 9 ff.). Er war Kriegsgegner und glühender Unterstützer der Novemberrevolution 1918/19, aktiv im »Bund für proletarische Kultur«. Er wurde als führender Vertreter des »Sozialismus des Herzens«, des »Kommunismus der Gesinnung« oder als »Gefühlssozialist« bezeichnet, zu denen auch Ehrenstein gerechnet wurde (Haman u. Hermand, 1976, S. 29, 171). Als Kriegsgegner flüchtete er Anfang 1915 in die Schweiz, wo sich in seinem Umkreis Künstler und Schriftsteller in einer Emigrantenkolonie sammelten (Haug, 1988, S. 14). Dort hatte Rubiner auch Kontakt zu Charlot Strasser und Vera Eppelbaum. Sein Aufsatz im Kriegsheft der Ludwig Rubiner IZI 1916, »Krise des Geistigen«, liest sich geradezu wie eine enthusiastische Umarmung der Individualpsychologie, während er zur Psychoanalyse kritisch bleibt. Es heißt da: »Der Expressionismus […] ist jene Bewegung neuschöpferischer Menschen, die sich der deterministischen Abhängigkeit von der realen Umwelt […] durch einen ungestümen Befreiungsakt entledigt hat […] Der Mensch […] hat auf einmal sich selbst entdeckt« (Rubiner, 1916, S. 235). »Aber, wenn wir recht sehen, so stehen mit uns in unserer neuen Welt des Geistigen: Alfred Adler und einige seine Schüler. Wir anderen […] waren freudig überrascht, uns in gewissen Feststellungen mit Adlers Kreis zu treffen […] auch

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in Forderungen« (S. 238). Er stellt eine Verwandtschaft zur Zielsetzung »Heilen und Bilden« fest, hebt die Bedeutung des »Verhältnisses« des Menschen »zur Welt« (S. 239) hervor, betont die »Schöpferkraft«, den Mensch als »Schöpfer« und die Bedeutung der »Fiktion als Hochrealität« und wendet sich besonders gegen den »Freudschen Determinismus« (S. 237 ff.). Er zitiert dabei vorwiegend die Strassers. Er wolle Adlers Lehre nicht Psychoanalyse nennen, sondern »Psychagogik«. »Eine Psychagogik ist es auch, die wir anderen auf den Gebieten des rein Geistigen anstreben« (S. 240). Rubiners positive Haltung zu Adler hängt sicher mit Adlers Konzepten zusammen, auch mit seiner Beziehung zu den Strassers, ist aber im Wesentlichen gespeist aus seiner Kritik an der Psychoanalyse, wie er sie bereits 1913 als Kritik an Otto Gross formuliert hatte und hier 1916 wieder zitierte. Rubiner gehörte der Fraktion der Expressionisten an, die sehr entschieden die Psychoanalyse ablehnten, wie u. a. sein Freund Gustav Landauer oder auch Ehrenstein (vgl. Kapitel zu Gross). Etwas später, in der unmittelbaren revolutionär aufgeheizten Nachkriegszeit, wird die Übereinstimmung noch deutlicher, als Rubiner viel von »Gemeinschaft« spricht. 1919 brachte er eine Anthologie heraus: »Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltenwende«. Um diese Zeit lesen wir auch von der »schöpferische[n] Zugehörigkeit zur Gemeinschaft«, die »Gemeinschaft der Geistigen« gehöre zu seinen Zielen (Haug, 1988, S. 13, 19). In gleicher Zeit begann auch Adler, »Gemeinschaft« und Gemeinschaftsgefühl« zu verkünden und zu fordern, stets mit emotionalem und sozialistischem Pathos. Linke Expressionisten und Adler sind sich zu dieser Zeit am nächsten, Adler war ganz sicher auch von ihnen, diesen begeisterten Jüngeren, beflügelt, wie es sich bei Adlers Engagement in den weiteren Jahren bestätigt. Ludwig Rubiner starb im Februar 1920 an einer Lungenentzündung (S. 20).

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5. Exkurs: Genossenschaftsverlag und Jacob Levy Moreno Gegen Ende des Ersten Weltkrieges intensivierte sich die Zusammenarbeit Adlers mit der expressionistischen literarischen und politischen Avantgarde, mit seinem Engagement gegen den Krieg, für die Republik. Adler war um diese Zeit beim »Kreisarbeiterrat Wien« Mitglied der Gesundheitskommission und der Kriegsgefangenenkommission (vgl. Schiferer, 1995, S. 103) und auch im Arbeiterrat des Akademischen Vereins (Schiferer, 1994, S. 105). Adler wurde über solche Vernetzungen 1918/19 Autor bei Zeitschriften wie »Der Friede« (Wien) oder »Internationale Rundschau« (Zürich), beides Zeitschriften, in denen namhafte Intellektuelle zu Wort kamen, die Krieg und Barbarei überwinden wollten (vgl. Adler, 1918b, S. 111). Vor diesem Hintergrund ist es nicht allzu überraschend, dass Adler 1919 zum Mitgründer eines Genossenschaftsverlags in Wien wurde, zumal Ehrenstein hierbei maßgeblich beteiligt war. Der »Genossenschaftsverlag Wien« wurde im Frühjahr 1919, Ende März, gegründet, der Aufruf wurde von Ehrenstein verfasst. Die Gründung stand unter der Losung der »Sozialisierung des dichterischen Schaffens« im »Kampf gegen die ausbeutenden Verleger«. Dies stand in einer breiteren Bewegung der Sozialisierungen der Verlage. So wurde ähnlich im April 1919 auch der Leipziger Kurt Wolff Verlag sozialisiert, d. h. in den Gemeinbesitz seiner Angestellten übergeben. Im Aufruf zum Wiener Genossenschaftsverlag heißt es u. a.: »Noch ist der Dichter, der Denker, in der Hand des Kapitals. Noch entscheidet über Druck und Verbreitung erstarrtes Alter, persönliche Voreingenommenheit der Verleger, der Dünkel ichbefangener Herausgeber […]. Wir wollen weder ausgebeutet werden, noch Ausbeuter sein […]. Das Wort muss frei werden, Gemeinbesitz aller. Unsere Arbeit gehört der Menschheit« (Ehrenstein, 2004, S. 128 f.). Der Aufruf »Für den Genossenschaftsverlag Wien« wurde unterzeichnet von: Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jacob Moreno, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel. Das sind im Wesentlichen Autoren »aus dem Kreis österreichisch-böhmischer neuer Dichter« (Mittelmann, 2004, S. 518), nur Adler fällt hier als wissenschaftlicher Autor eigentlich raus und ist zudem deutlich der Älteste. Der Genossenschaftsverlag Wien sammelte sich um die expressio-

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nistische, literarische Zeitschrift »Daimon«, die ab Februar 1918 von Levy Moreno herausgegeben wurde, 1919 als »Neue Daimon«, herausgegeben vom Genossenschaftskreis, ab 1920 »Die Gefährten«, herausgegeben von Ehrenstein. Ehrenstein hatte evtl. Moreno durch Elisabeth Bergner kennengelernt, der ihr verehrter Hauslehrer war (s. S. 23, Bergner, 1978, S. 57; Seidel, 1995, S. 3 f.; Schiferer, 1994). Zu den Mitarbeitern des »Daimon« gehören u. a. Franz Blei, Albert Ehrenstein, Franz Werfel, Max Brod, Martin Buber, Ivan Goll und Ernst Weiß. Adlers Beteiligung wird aus seiner Verbindung zu Ehrenstein erklärt, vielleicht hat er dies ihm zuliebe gemacht. Angekündigt war in diesem Rahmen 1920 auch ein Beitrag von Adler, »Erziehungskunde und Menschenkenntnis«, der aber nie erschienen ist18 Jacob Levy Moreno (geb. 1889) war Arzt und zugleich expressionistischer Schriftsteller und Theatermann, begründete die Experimente mit dem »revolutionären Theater ohne Zuschauer«, dem »Stegreif­ theater«, aus dem sich später das Psychodrama entwickelte (Seidel, 1995, S. 4). Der Kontakt zwischen Moreno und Adler scheint erst durch den Genossenschaftsverlag zustande gekommen zu sein, hat sich offenbar darüber hinaus auch nicht vertieft. Trotzdem kann man zwischen beiden Übereinstimmungen in ihrer theoretischen und ihrer sozialthera­ peutisch-praktischen Orientierung finden. Uli Seidel sieht als theoretische Konvergenzen soziale Verankerung, Eigenverantwortlichkeit, ganzheitliche Auffassung (S. 6). Das wäre auch eine große Klammer zwischen Adler und dem Expressionismus insgesamt – wie dies am deutlichsten von Rubiner ausgedrückt ist. In den folgenden Jahren um 1920 ebbten die politischen Wogen ab und die direkten Kontakte Adler–Ehrenstein wurden wohl weniger. Adler war stark mit dem Aufbau seiner psychologischen Praxis und seinen Vortragsreisen beschäftigt und begann Mitte der 1920er Jahre immer mehr sich in Amerika aufzuhalten.

18 http://www.verlagsgeschichte.murrayhall.com/index.php?option=co

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Ehrensteins Texte zur Individualpsychologie Ehrenstein erwähnte Adler gelegentlich schon frühzeitig, schrieb einige Male zur Individualpsychologie selbst, u. a. 1930 eine Laudatio auf Adler zu dessen 60. Geburtstag. Auch veröffentlichte er dreimal in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie (IZI), allerdings nicht zu einem im engeren Sinn psychologischen Themen. Und schließlich gibt es zwischen 1927 bis 1937, vorwiegend nach 1936/37, eine Reihe von Briefen von Adler an Ehrenstein und andere schrift­ liche Äußerungen von Ehrenstein. In einem kleinen Text aus 1912 bezieht sich Ehrenstein erstmals öffentlich – soweit wir wissen – auf Adler. Im »Ein ›Fall‹ Karl May?« – vermutlich anlässlich des Todes von Karl May am 30.3.1912 – beruft sich Ehrenstein auf »den Psychoanalytiker Alfred Adler«. Offenbar in Anspielung auf Karl Mays frühe kleinkriminelle Karriere, bevor er zum Erfolgsautor wurde, meint Ehrenstein, Adler würde »mit Recht sagen, es handle sich da um eine nachträgliche Überkompensation, um einen zu zahllosen Bänden angeschwollenen männlichen Protest gegen infantile Gefangenschaften« (Ehrenstein, 1912, S. 234).19 1913 schrieb Ehrenstein einen Bericht über den 4. Kongress des internationalen Vereins für medizinische Psychologie und Psychothera­ pie in Wien, 19./20. September 1913, unter dem Vorsitz von Bleuler (Ehrenstein, 2004, S. 33 ff.). Adler sei mit seinem Vortrag »Kinderpsychologie und Neurosenforschung« (Adler, 1914) »Hauptsensation des Kongresses« gewesen, der »einen Abriss seiner genial konstruktiven Zusammenfassung wahrhaft heutiger Psychotherapie« bot. Den »hie und da talentierten Traumtänzereien der Wiener psychoanalytischen Schule« – was gegen Stekel gerichtet war – stünde Adler fern (Ehrenstein, 2004, S. 35). In Adlers Psychologie sei der »Anreiz zur Zielstrebigkeit […] durch Gefühle der Insuffizienz gegeben«. Die (kompensatorischen) »rastlosen Anläufe […] können nur als Teilerscheinungen eines halb unbewussten Lebensplanes, als Sprungübungen nach einem hoch gesteckten Ziel aufgefasst 19 Dieser Text ist nicht in den Gesammelten Werken, sondern im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Hrsg. C. Roxin, 1971) erschienen. In diesem Band sind auch andere Autoren von 1910/12 abgedruckt, u. a. Robert Müller, Berthold Viertel, auch ein Text von Ernst Bloch 1926, überarbeitet 1962.

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werden. Adlers Lebensphilosophie ist somit im Grunde genommen eine Verherrlichung des ehernen Willens scheinbar Schwacher, die gegen alle Hemmnisse immer wieder unentwegt anrennen« (S. 36). Patienten würden »halb unbewusst zu Nervenkrankheiten greifen«, um »aus ihrer Minderwertigkeit eine Waffe«, »aus ihrem Siechtum eine Wehr«, zu machen (S. 34). 1930 schreibt er zum 60. Geburtstag Adlers (6. Februar) einen langen, natürlich sehr positiven Artikel »Individualpsychologie«, zuerst erschienen in der Zeitschrift »Tage-Buch« vom 1. Februar 1930 (Ehrenstein, 2004, S. 287 ff.)20, in Varianten in verschiedenen Zeitungen (Mittelmann, 2004, S. 533 ff.). Zudem hielt er dazu Rundfunksendungen in Frankfurt und Köln (S. 566). In Alfred Adler und Sigmund Freud sah Ehrenstein die »einzig genialen Wiener Seelenforscher« (Ehrenstein, 2004, S. 289), aber mit der Psychoanalyse gehe es zu Ende und die Individualpsychologie Adlers habe »längst das Erbe angetreten. Seine undogmatische Individualpsychologie kennt […] kein Drinnen und Draußen, eher ein Oben und Unten, den expansiven Drang zur Macht, den Kampf ums Obensein« (S. 289). Adlers Psychologie sei »konstruktiv«, seine Weltanschauung »künstlerisch«, seine Methode »kaustisch« wie die Kokoschkas. Er sehe als Triebkraft die »neurotische Zwecksetzung der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls, wie sie sich im übertriebenen männlichen Protest äußert« (S. 290 f.). Dann beklagte er, dass Adler keinen Ort zur Lehre, keinen medizinischen Lehrstuhl bekommen habe und daher einerseits nun in den USA herumreisen musste, andererseits ins Pädagogische abgedrängt wurde (S. 293). Grund dafür sei die Ablehnung des Habilitationsgesuchs von Adler 1915 gewesen. In einer Variante des Textes (9.2.1930, 2004, S. 533–536) heißt es dazu, dass es neben dem bekannten ablehnenden Gutachten von Wagner-Jauregg auch eines von Freud gegeben habe, »Adlers Spezialund Psychoanalfeind« (S. 535). Das will Ehrenstein selbst gesehen haben. »Freud kämpfte mit vergifteten Waffen«: »im Vordergrund« 20 »Das Tage-Buch«: Gegründet als unabhängige, überparteiliche Wochenschrift von Stefan Großmann und Ernst Rowohlt 1920, wurde eine einflussreiche, radikaldemokratische Zeitschrift (Wikipedia-Artikel »Das TageBuch«; vgl. Kapitel zu Kaus).

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[…] »prangte« […] »der in Kriegszeiten besonders perfide Hinweis auf Alfred Adlers […] sozialistische Gesinnung«, was Adler damit »als inneren Feind« für ein Lehramt als nicht geeignet kennzeichne (S. 535 f.). Ehrenstein nennt Freuds Charakter als »dessen an Schlangenzüngigkeit streifender Opportunismus« (S. 536). Nun wird, zum 60. Geburtstag, Adler Ehrenbürger der Stadt Wien, »die ihn verstieß«. »Diese Ehrung kostet nichts. Durch sie wird Wien geehrt, nicht Alfred Adler, der längst den Nobelpreis verdient hätte« (S. 294).

Ehrenstein in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie (IZI) Ehrensteins Aufsätze in der IZI beschäftigen sich nicht mit Individualpsychologie, sondern mit drei anderen Fragen: mit Ödipus und Kreon (1924), mit einer Kritik am Zionismus (1927) und mit dem Dichter Edgar Allan Poe (1930). Der erste Text von 1924, »Die Verblendung«, war ursprünglich 1918 als Vorwort zu »Trauerspiele des Sophokles« in der Übersetzung von Hölderlin erschienen (IZI, 1924; ich zitiere nach Ehrenstein, 2004, S. 103 ff.). Es geht um die Verblendung des Ödipus und Kreon, um Mord und Totschlag in den antiken Dramen und in der Genesis (Noah, Abraham, Kain und Abel). Dies also 1918, unmittelbar vor dem Ende des kriegerischen Mordens. »Wer nicht weltblind ist, Schicksale hüllenlos sieht, hört [1924: fühlt] durch die Dichtungen Ödipus und Antigone hallen den Donnerstrahl: Du sollst nicht töten!« (Ehrenstein, 2004, S. 103), »denn der Mann, den du mordest, könnte dein Vater sein« (S. 104). »Einigen unter uns sind vor Grauen: angesichts mordwärts aufschießender Kinder buddhistische Ohren gewachsen, sie wissen ›Du sollst nichts tun, du sollst nichts Böses tun‹. Leidensscheu, untätig, lebensenthaltsam hören sie an den Menschen: an Ödipus das Gebot schlagen: Du sollst kein Weib beschlafen, – denn es könnte deine Mutter sein: Mutter werden!« (S. 105). Der Aufsatz von 1927 »Nationaljudentum« erschien damals nur in der IZI (S. 198–206; ich zitiere nach Ehrenstein, 2004, S. 308–320).

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Er steht in einer Reihe von sehr kritischen Auseinandersetzungen mit dem Judentum und dem Zionismus, den Ehrenstein »Nationaljudentum« nennt (1917, 1926, 2004, S. 296 ff.) – ein Thema, mit dem er auch in Konflikte geriet (und heute geraten würde). Ehrenstein hatte als jüdisches Kind bereits schwierige Erlebnisse mit dem Antisemitismus, wie er in einem Aufsatz 1917 berichtet, der so beginnt: »Bittere Erinnerung lebt auf in mir der Tage des Volksschülers, dem auf dem Wege zur Schule schuldlos das ›Geh zum Teufi, Saujud vafluchta‹ der Kameraden traf und durchstach« (Ehrenstein, 1917/2004, S. 296). Die Errichtung eines Staats in Palästina schien ihm »ein jüdischer Nationalpark, ein Indianerterritorium«, »freiwillige Kasernierung, Uniformierung des Judentums« (S. 298)21, vor allem kritisierte er den Zionismus als den »chauvinistischen« Weg (Ehrenstein, 1926/2004, S. 305). Er konstatierte und erklärte den hohen Anteil der Juden am geistigen Leben Deutschlands, besonders in der Dichtung – der »deutsche Adel jüdischer Nation« (S. 304 ff.). Es sei »noch ein Kennzeichen vieler jüdischer Schriftsteller von Rang, zu dem Problem ihrer Geburt und Rasse feig nicht Stellung zu nehmen« (S. 305 f.). Im Aufsatz 1927 in der IZI räumt er zwar – eher ironisch gemeint – ein, dass die zionistische Bewegung »vielen Juden (nicht ohne verständliche Überkompensation diverser Minderwertigkeitsgefühle) zum Selbstbewusstsein verholfen« habe (S. 313), aber das schränkt seine Kritik nicht ein, die scharf und ironisch-polemisch durchsetzt ist, getragen von starker Aversion gegen jeden Nationalismus und Pathos des Auserwählten: »Der Zionismus ist […] eine Reaktion: eine reaktionäre – zurückführende, rückläufige […], anachronistische Bewegung, ausgelöst durch eine kühle oder feindselige Umwelt«. Er ist »der Kreuzzug der Juden […]. Jedes Vaterland ist ein Ghetto. Zionismus ist das Heimweh nach einem größeren Ghetto« (S. 309). »Sie fühlen Heimweh nach einer Heimat, die sie nicht besitzen, nie besaßen« (S. 311). Die Zionisten werden die Juden »zu militanten Aushilfskolonisten der Engländer« erziehen (S. 318), sie sollen für die Engländer eine »Ver21 Um diese Zeit wurde die Besiedelung Palästinas durch Juden als »nationale Heimstätte« durch die britische Mandatsverwaltung vorangetrieben (Wikipedia-Artikel »Balfour-Deklaration«).

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stärkung der weißen, europäischen Front gegen den farbigen Islam« bringen (S. 311). Der letzte Aufsatz in der IZI von 1930, »Das Martyrium des Edgar Allan Poe«, wurde damals ebenso nur in der IZI veröffentlicht und erschien nicht in seinen Werken. Es ist eine biographisch angelegte Studie über E. A. Poe, Beschreibung und psychologische Analyse seiner Person, besonders seiner angeblichen oder tatsächlichen Trunksucht und seiner asexuellen Liebesaffären und Ehe. Ehrenstein bezog sich auf Forschungen von Joseph Wood Krutch, der im Geist Adlers geforscht habe.22 In einem Brief an seinen Bruder Carl vom Januar 1929 schrieb er allerdings eher abfällig, Krutch sei ihm »zu Adlerfreudig« (Ehrenstein, 1989, S. 231). Das bestätigt natürlich, dass Ehrenstein inhaltliche Vorbehalte gegen Adler hatte.

Persönliche Kontakte zwischen Adler und Ehrenstein am Ende Aus den Jahren 1927 bis 1937 gibt es im Nachlass Ehrensteins in Jerusalem sechs Briefe und Karten von Adler an Ehrenstein (nicht umgekehrt) – Adler lebte in dieser Zeit in den USA –, die 2014 in einem Band von Adlers Briefen publiziert wurden (Adler, 2014). Zwei dieser Briefe, 1927 und 1932, sind bloße Nachrichten. In den Briefen 1936/37 (2.10.1936, 15.10.1936, 1.11.1936, 21.4.1937) geht es um ganz praktische Dinge in dieser für Ehrenstein besonders schweren und bedrohlichen NS-Zeit. Adler ist intensiv darum bemüht, Ehrenstein mit verschiedenen Mitteln zu helfen. Er stellt Überlegungen an, bei welchen Verlagen Ehrenstein publizieren und/oder auf andere Art er Geld verdienen könnte, welche Kontakte er brauchte und welche Adler vermitteln könnte. Auch für eine Umsiedlung nach Amerika gibt es Überlegungen.

22 Krutch, geb. 1893, war Schriftsteller und New Yorker Theaterkritiker, schrieb eine ganze Reihe literarischer Biographien. Die über E. A. Poe erschien 1926.

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Gleichzeitig bietet Adler, erstmals am 2.10.1936 (Adler, 2014, S. 131), seine Villa in Wien-Salmannsdorf (Dreimarkstein 12) zum Wohnen an, die seit 1935 durch die Emigration der Adler-Familie leersteht. Inbegriffen wären die Benutzung aller Gegenstände dort und praktische Hilfestellungen für Ehrenstein bzgl. Dinge wie Heizung und Wasser. Auch im Brief am 15.10.1936 (S. 137) geht es u. a. darum, während Adler am 1.11.1936 (S. 143) in Aussicht stellt, dass er evtl. einen Käufer gefunden habe und es dann mit dem Wohnen nichts werden würde. Im ausführlichsten Brief vom 1. November 1936 (S. 141 f.) berichtet er von allen möglichen Vermittlungen und Kontakten in Amerika: wie und wo er ihn in New York unterbringen könnte – aber nur sofern Ehrenstein Englisch lernt –, wo es schwierig ist, wo er günstig wohnen könnte. Er empfiehlt ihm auch, erst mal in London Fuß zu fassen und Englisch zu lernen. Adler bezieht sich auch auf alte Wiener Anhänger der Individualpsychologie (Neuer, Zilhai), die Ehrenstein offenbar auch kennt – bei Alexander Neuer scheint Ehrenstein vorübergehend zu wohnen, was aus einem Brief Ehrensteins hervorgeht (Ehrenstein, 1989, S. 291; Adler, 2014, S. 142). Auch äußert Adler eigene Sorgen über das ökonomisch unsichere Leben in Amerika: »US ist kein leichtes Land. Ich bin nun seit 10 Jahren hier und weiß noch immer nicht, was ich nächstes Jahr tun werde« (Adler, 2014, S. 142). Und in dem letzten Brief, aus Amsterdam (21.4.1937, S. 182), vermittelt ihm Adler einen Vortrag in den Niederlanden und erläutert die Umstände. Er hofft, Ehrenstein im Mai in London zu sehen, wo er selbst am 24. Mai eintreffen wird. Dazu wird es nicht gekommen sein, denn Adler stirbt auf dieser Reise, am 28. Mai in Aberdeen. Es gibt noch zwei weitere Verbindungslinien zwischen Ehrenstein und Adler, auch über Adlers Tod hinaus: das Schicksal der Tochter Vali und die Adler-Biographie. Adler hatte sich große Sorgen um seine Tochter Valentine (Vali) gemacht, die um diese Zeit in Moskau lebte und verschwunden war. (Es war die Zeit der Moskauer Verfolgungen und Schauprozesse.) Adler hatte 1937 verschiedene Personen und sicher auch Institutionen um Hilfe gebeten (vgl. Adler, 2014, S. 177 ff.) und offenbar hatte er auch Ehrenstein angesprochen. Darauf weist ein Brief von Ehrenstein an Hermann Hesse (Ehrenstein, 1989, S. 302 f.), in dem Ehrenstein um Hilfe bei der Suche nach

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Vali bittet. Er schildert diesen und einen anderen Fall, den des Schriftstellers Karl Schmückle, Ehemann von Anne Bernfeld (Exfrau von Siegfried Bernfeld). Zu Vali Adler schreibt er: »Dr. Valy Adler, Nationalökonomin, Tochter des verstorbenen Individualpsychologen Prof. Dr. Alfred Adler, in Moskau tätig (stets linientreu gleich Schmückle) ist seit einem Jahr verschollen. […] Was man Valy Adler ärgstenfalls vorwerfen kann ist, dass sie mit einem Ungarn namens Sas (Aquila) verheiratet war, der angeblich in seinem Betrieb befindliche Trotzkisten nicht denunziert haben soll und, vielleicht mit Béla Kun befreundet, demgemäß von Radek denunziert wurde.« Und Ehrenstein bittet Hesse, er möge sich an Romain Rolland wenden, der sich »nach Kräften« bei Stalin für diese irrtümlich Gefangenen einsetze (Ehrenstein, 1989, 28.2.38, S. 302 f.). Alle diese Versuche blieben vergeblich, Vali Adler soll 1943 im Lager gestorben sein. Ehrenstein sollte oder wollte eine Biographie über Adler schreiben, was zumindest aus Briefen 1937 nach Adlers Tod hervorgeht. Laut Schiferer – ohne Quellenangabe – sei das eine »Genehmigung« Adlers gewesen, er sollte sich dazu das Material holen, wenn Adler im Mai in London ist (Schiferer, 1995, S. 211). In einem Brief an Stefan Zweig, 2.11.1937, heißt es: »Sowie ich zur Ruhe komme, mache ich mich an eine Biographie Alfred Adlers und weiß, dass ich dann meine Schuld bei Ihnen begleichen kann« (Ehrenstein, 1989, S. 298). In einem Brief an seinen Bruder Carl am 15.12.1937 deuten sich Konflikte mit dem Verlag dieser Biographie an und Unwille, diese schreiben zu müssen: »Was die Adlerbiographie anlangt, gedenke ich mich keineswegs in eine Synopsis mit Probekapitel zu stürzen, da eine derartige Biographie nur aus einer […] Darstellung des Werdegangs Adlers und seiner Lehre bestehen kann. Meine Bedingungen sind die von mir genannten, gleichgültig, ob die englischen Verleger vorsichtig oder geizig sind und ob ich ihnen zu unbekannt bin. Es ist kein Herzenswunsch von mir, sondern eine Brotarbeit, die nur unter den nicht abhandelbaren Bedingungen, die ich stellte, ausführbar ist. Wenn sie nicht wollen, werde ich mich nicht kränken; ich schätze die Urogenitalphilosophien nicht so hoch, dass ich 6 Monate unbezahlter Arbeit im teuren Wien daran wenden könnte!« (S. 299 f.).

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Allerdings scheint Adler diesen Auftrag (auch) an die Schriftstellerin Phyllis Bottome vergeben zu haben, einer englisch-amerikanischen Schriftstellerin. Von ihr war er sicher viel überzeugter, gerade in den letzten Jahren waren Bottome und ihr Mann für Adler die entscheidende Unterstützung und Begleitung, wie aus den Briefen von Adler deutlich hervorgeht. Offensichtlich hat Adler mit ihr auch persönliche Interviews geführt und ihr viele Details aus seinem Leben mitgeteilt (vgl. Bottome, 2013; Adler, 2014). Ehrenstein sei »verbittert« gewesen, dass die Familie den Auftrag an Phyllis Bottome übertragen habe, was er an Elisabeth Bergner geschrieben habe (Schiferer, 1995, S. 215). In Phyllis Bottomes Darstellung hatte Adler, spätestens auf seiner letzten Reise in England, sie »endgültig« als Biographin bestimmt und viele Gespräche über sich bereits geführt. Bottome sei 1938 nach Wien gereist, um dort für die Biographie Interviews mit Zeitgenossen zu führen (Bottome, 2013, S. 284, 331). Diese Biographie ist dann bereits 1939 in London erschienen. Sicher war Ehrenstein enttäuscht, aber es war ihm kein inneres Anliegen. Seine Anhängerschaft zu Adler war immer eher distanziert, nicht so schwärmerisch wie die von Phyllis Bottome. In Adlers Theorie hat ihm manches wohl imponiert, Adler war ihm politisch näher und vor allem hatte er ihn lebenslang begleitet und ihm geholfen, als Therapeut und materiell. Vor allem in den letzten Jahren hat Adler sich geradezu väterlich um ihn gesorgt. Aber zu groß waren die persönlichen Unterschiede. Ehrenstein stirbt 1950 in einem Armenhospital in New York. Kurt Pinthus hält die Grabrede. Pinthus schreibt in »Menschheitsdämmerung« zu Ehrensteins Leben: Nach dem Kriege […] kam […] er wieder nach New York, wo der Dichter der bittersten Gedichte deutscher Sprache, nach einem bitteren Leben in Armut, nach langer Krankheit einen bitteren Tod starb, am 8. April 1950« (Pinthus, 1959, S. 339 f.).

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Psychischer Hermaphroditismus, Adlers Aufstand auf dem Nürnberger Kongress 1910 und die Gründung des Zentralblatts

Adler und die Vereinsgründung IPV Einleitung Als auf dem internationalen Kongress der Psychoanalyse am 30./31. März 1910 in Nürnberg die »Internationale Psychoanalytische Vereinigung« (IPV) gegründet wurde, war die Psychoanalyse bereits sehr bekannt, umstritten, verbreitet und organisiert. Sie war in regionalen Gruppen (Wien, Berlin, Zürich) organisiert, es gab überregionale Zusammenkünfte, es gab Anhänger in den verschiedenen Ländern – selbst Anhänger in den USA und Russland – und es gab Publikationsmöglichkeiten und Zeitschriften. Diese Verbreitung schien als die angemessene Voraussetzung dafür, einen internationalen Verein mit Statuten zu gründen, damit Zugänge und Zugehörigkeit zu definieren und sich von anderen abzugrenzen. Die Psychoanalyse wurde durch den Verein sichtbarer und dies schuf ein Gegengewicht zu der ausbleibenden akademischen Anerkennung. Freud sah daher zu Recht in der Gründung den »Abschluss der Kindheit«, sah in ihr einen Triumph, einen »schönen Reichstag« (12.4.1910, Freud an Jung, 1974, S. 142). Und tatsächlich kann die Gründung als der organisatorische Beginn einer 100-jährigen glänzenden Karriere gelten – denn welche Bewegung, welcher Name, welche Theorie ist so verbreitet wie der Freuds und »seiner« Psychoanalyse? Nur große politische oder religiöse Bewegungen und Schulen können ihm vielleicht darin den Rang ablaufen. Freud selbst stellte sich in eine Reihe mit den Umwälzern wie Kopernikus und Darwin. Niemand stellte damals diese Gründung selbst in Frage. Aber die Art der Gründung und das dort vorgetragene Verständnis einer Vereinigung waren unter den Anhängern umstritten, vor allem fühlten sich die Wiener Mitglieder brüskiert. Es sei zu einem »Aufstand« der Wiener gekommen, Adler soll der Anführer gewesen sein.

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Psychischer Hermaphroditismus

Kritische Stimmen gab und gibt es bis heute, so z. B. vor 20 Jahren anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der IPV, in Nürnberg, von Jörg Wiesse oder vor allem von Johannes Cremerius. Während Jörg Wiesse (1992) die eigenen Bedenken Freuds und Ferenczis zur Vereinsgründung aufgreift und auf die nicht so stolze Geschichte der Psychoanalyse im Nazideutschland verweist (Wiesse, 1992, S. 12 ff.), wurde Cremerius nicht müde, vom »Elend«, vom »Ungeist« von Nürnberg zu sprechen, den er mit einer ebenso heftigen Kritik an den Psychoanalytischen Instituten verband. In Nürnberg sei nicht eine wissenschaftliche Vereinigung entstanden, sondern eine »Bewegung« mit »machtpolitischen Interessen« (Cremerius, 1992, S. 36), die den »individuellen, freien Umgang mit der Psychoanalyse beenden« sollte (Cremerius, 1986, S. 1066). »Das Elend der psychoanalytischen Institutionen beginnt mit dem totalen Verzicht auf eine wissenschaftliche Vereinigung« (Cremerius, 1992, S. 37). Offensichtlich spielt Cremerius mit »Ungeist von Nürnberg« und »Bewegung« polemisch an Nürnberg im NS und an die NS-Bewegung an – eine Assoziation zu »Bewegung«, die der etwas jüngeren Generation nicht mehr so naheliegt, die selbst anders an »Bewegung« anknüpft.

Die Geschehnisse in Nürnberg und die Folgen Was war in Nürnberg geschehen, dass es solche Emotionen bereits damals erregt hat und es bis heute tut? Und dies vor allem aus der Perspektive der Wiener und von Adler. Adler war als prominentester Wiener und zugleich als der, der seit Jahren mit Freud und den Kollegen wegen theoretischer Differenzen in angespannter Beziehung stand, von den Vorgängen in Nürnberg besonders betroffen – ja vielleicht sollte man auch sagen, er war (z. T. mit Wilhelm Stekel) auch besonders gemeint. Das Schimpfen über »die Wiener« von Seiten Freuds meint vorwiegend diese beiden. Nach Nürnberg war Adler daher der erste Dissident, dem Stekel bald folgte. Die Art der Gründung war ein autokratischer Akt und Ergebnis einer Politik der Spaltung Freuds zwischen den Anhängern. Die Wiener Gruppe, die seit 1902 unmittelbar mit Freud arbeitende Gruppe, und ihr »stärkster Kopf«, Adler (Freud 31.1.1908; Freud, 2011, S. 30), wurden völlig überrollt und übergangen.

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Es muss schon sehr befremdlich und kränkend gewesen sein, seit Jahren wöchentlich zusammenzusitzen und von den Planungen ausgeschaltet zu werden. Allerdings kannten dies die Wiener bereits von der Tagung in Salzburg 1908. Auch diese war nicht von den Wienern geplant und organisiert, sondern von Freud, Sándor Ferenczi und Jung. Und die dort gegründete Zeitschrift, das »Jahrbuch«, wurde in die Hände der Züricher gelegt. Zudem wurden der Nürnberger Kongress selbst und die Absicht der Vereinsgründung äußerst spät geplant und entsprechend spät erst bekanntgegeben (vgl. Brecht et al., 1985, S. 18). Nähere Absichten zur Planung und zur Gründung wurden ganz sicher in Wien nicht besprochen. Am 9.2.1910 heißt es im »Protokoll« der Mittwochgesellschaft lapidar: Einladung zum Kongress.23 Entthront fühlen mussten sich die Wiener natürlich auch durch die Entscheidung, dass der Sitz der Vereinigung nun Zürich sein sollte und Wien damit nur eine Nebenrolle zugewiesen bekam und dass ihnen Jung als Präsident mit weitreichenden Vollmachten vor die Nase gesetzt wurde. In seiner Rede klammerte Ferenczi die Zusammenarbeit und die Leistungen der Wiener gänzlich aus, indem er nach einer ersten Phase der splendid isolation (»heroische Periode«) sogleich als zweite Phase das Auftreten der Züricher folgen lässt: »Die erste, ich möchte sagen, heroische Periode der Psychoanalyse waren die zehn Jahre, in welchen Freud ganz allein den Angriffen begegnen musste […]. Die zweite Periode wird durch das Auftreten der Züricher gekennzeichnet« (Ferenczi, 1910, S. 49 f.). Psychoanalyse wird somit ausschließlich als Einzelleistung von Freud und dann als Leistung aus der Kooperation mit den Zürichern bzw. Jung dargestellt. Die gemeinsame Zeit von 1902 bis 1910 in Wien, in der die Psychoanalyse zu einer produktiven Leistung der Gruppe, einer Gemeinschaftsleistung wurde, wurde von Ferenczi übergangen. Freud will sich 23 In Briefen (Freud/Ferenczi, 1993): Um Weihnachten 1909 wird »Nürnberg« genannt, als Termin »Ostern«: Freud/Ferenczi, 21.12.1909, 27.12.1909, S. 187 f.; am 1.1.1910 spricht Freud von »einer strammeren Organisation«, Freud/Ferenczi, S. 191; am 13.1.1910 hat Freud noch die Idee des Anschlusses an den Ethik-Orden, den er am 13.2. aber verwirft (Freud/Jung, S. 133, S. 137). Erst am 25.2.1910 gibt es konkrete Planungen zu den Vorträgen (Freud/Ferenczi, S. 223).

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als der alleinige Urheber der Ideen sehen, woraus auch die alleinige Definitionsmacht dessen, was Psychoanalyse sei, folgt oder zu folgen scheint. Aus den Protokollen und aus dem Entwicklungsgang der psychoanalytischen Theorie aber ist deutlich nachvollziehbar, wie sehr Freud durch die Diskussionen in der Wiener Gruppe profitiert hat, und sei es auch, um zu einem Gegenstandpunkt angeregt zu werden. Hier kommt Adler sogar ein großer Anteil als Ideengeber (Triebschicksale, Aggressionstrieb, Ichpsychologie) zu. In der Wiener Nachbesprechung nach dem Kongress am 6.4.1910 (Nunberg u. Federn,1977, S. 422–430) wird sehr klar, dass alle, auch die treuesten Anhänger (z. B. Federn) sehr empört waren, sich brüskiert, übergangen fühlten. Die Rede Ferenczis wird von Adler und Federn als (ungeschicktes) »Elaborat« oder »anstößige Bestimmungen des Elaborats« bezeichnet (S. 423, 426). Sie erheben deutliche, vielleicht etwas hilflose und vorurteilshafte, Einwände gegen die Verlegung nach Zürich: Nur Wien sei der geeignete Boden, die Züricher hätten nur einen medizinischen Standpunkt (Tausk), die Züricher seien in der Rasse ganz anders (Hitschmann), die Biederkeit der Züricher (Wittels) (S. 426 ff.). Adler übernahm in dieser Nachbesprechung am 6.4. bereits die Sprecherrolle und zeigte sich darin m. E. erstaunlich vermittelnd und kon­ struktiv – wodurch Freud an Jung am 12.4.1910 schreiben konnte: »sie benahmen sich alle sehr zärtlich« (Freud/Jung, 1974, S. 142). Adler kritisiert die »Gründe der Aktion« als übertrieben, Freud überschätze die Gefahren durch die Gegner. Die »Wiener Schule« – wie er ihren Kreis des Öfteren bezeichnet – sei »in eine oppositionelle Stellung gedrängt« worden. Es sei ihr aber auf dem Kongress größtenteils gelungen, die »Härten des Elaborats zu eliminieren« (Nunberg u. Federn, 1977, S. 423 f.) – gemeint ist der Kompromiss, dass Jung nur für zwei Jahre gewählt wurde und der Sitz der Vereinigung der jeweilige Wohnort des Präsidenten ist (vgl. Handlbauer, 1990, S. 114). Mit gewissem Triumph und vielleicht auch etwas Ironie sagt Adler dann weiter: so dass sie nun »einem Verein angehören, der in einer freien Wahl von gleichgestellten Mitgliedern sich seinen Präsidenten wählt wie jeder andere Verein« (Nunberg u. Federn, 1977, S. 424). Neben der Empörung ist aber auch sehr stark Wehmut und Trauer zu spüren, von einigen wird das auch so benannt, es sei »etwas Trauriges« im Gange (Tausk, Wittels, Friedjung, Reitler), man sieht es als

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Verlust an, Wien als Zentrum und Freud als Vorsitzenden zu verlieren. »Trauer« will Ferenczi auf dem Kongress auch bei dem aufgebrachten Adler beobachtet haben. Er schreibt am 5.4.1910 an Freud: »Andererseits war ich von der tiefen Traurigkeit, die besonders bei Adler die Verlegung der Zentrale nach Zürich hervorrief, betroffen« (Ferenczi/Freud, 1993, S. 238). War Adler traurig, weil Wien so stark an Bedeutung verlor oder/und weil er das Ende seiner Zugehörigkeit spürte und erahnte? Mit der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als Organisation war beabsichtigt, die Psychoanalyse als Lehre Sigmund Freuds abzusichern, zu kanonisieren, nach außen und nach innen zu verteidigen und als reine Lehre zu bewahren. So war in der Rede von Ferenczi zu den Statuten viel von Disziplin und Kontrolle die Rede. Der (angebliche) bisherige »Guerillakrieg«, die fehlende »Bevormundung« und »Disziplin« müssten jetzt beendet werden. Es sollte mit einer Stimme, der von Freud, gesprochen, Abweichungen nicht länger geduldet werden. Und 1914 heißt es bei Freud: Es »sollte gelehrt werden, wie die Psychoanalyse zu betreiben sei, und sollten Ärzte ihre Ausbildung finden, für deren Tätigkeit eine Art Garantie geleistet werden konnte« (Freud, 1914, S. 86). Psychoanalyse sollte quasi mit einem Qualifikationsmerkmal versehen ihre Qualität sichern. In einem solchen Schritt der Professionalisierung, durch den Gegenstand, Theorien und Methoden definiert, Qualifikationsmerkmale und Ausbildungsrichtlinien aufgestellt werden, handelt man sich stets die Gefahr der Verschulung und Dogmatisierung ein. Adler, Bleuler und später u. a. Cremerius, sahen darin das Ende wissenschaftlicher Kreativität und Freiheit. Adler soll bereits auf der Tagung in »leidenschaft­ licher Erregung« »die Befürchtung« ausgedrückt haben, »dass eine Zensur und Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit beabsichtigt sei« (Freud, 1914, S. 86) – womit auch Adlers persönliche Position bedroht war. Darauf spielt Adler noch ein Jahr später an, nach dem Bruch mit Freud 1911, indem er und seine Anhänger ihren eigenen Verein »Verein für freie Psychoanalyse« nannten. Diese Kritik hat Freud offenbar beeindruckt. Denn er schreibt in einer Art von Manöverkritik unmittelbar nach dem Kongress, am 3.4.1910, abwehrend an Ferenczi: »Es wäre leicht gewesen […] das direkte Versprechen wissenschaftlicher Freiheit aufzunehmen, und wir hätten ihnen die Gegenwehr ziemlich erschwert« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 234).

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Und bald nach Nürnberg war es vor allem Bleuler, der diesen Verdacht ausdrückte, dass nicht eine wissenschaftliche Vereinigung, sondern eine Religionsgemeinschaft gegründet wurde. Am 13.10.1910 schreibt er an Freud: Die Statuten athmen eine Ausschliesslichkeit, die meinem Charakter nicht entspricht […]. Man will unter sich bleiben […]. Will man aber […] eine wissenschaftliche Diskussion & will man nach aussen als wissenschaftliche Vereinigung auftreten, so darf man Opposition nicht zum voraus unmöglich machen; im Gegenteil man muss sie begrüßen« (Bleuler u. Freud, zit. nach Ernst Falzeder, 2005, S. 143). Das Prinzip »wer nicht für uns ist, ist wider uns« passe für eine Religionsgemeinschaft, Sekte oder politische Partei, nicht aber für die Wissenschaft. Und er wehrt sich gegen den Zwang, das Ganze der Theorie übernehmen, darin eine »objektive Wahrheit« anerkennen zu sollen, die es ja nicht gebe (S. 144). Nach vielen Versuchen Freuds, Bleuler zu halten, trat dieser ein Jahr später (im November 1911) endgültig aus. Das war ein herber Verlust, muss eine tiefe Enttäuschung für Freud gewesen sein, war doch der sehnlichst gehegte Traum von der Anerkennung und Integration in die Universität damit zerstoben (vgl. Falzeder, 2005, S. 130 ff.). Die Gründung oder Kanonisierung wurde als eine Bastion gegen Gegner verstanden, Gegner von außen, Gegner von innen, und Anhänger an den Rändern. Als Gegner von außen galten Vertreter akademischer, medizinischer Institutionen, besonders Psychiater, die Universität, auch pauschal Staat und Kirche (vgl. Freud/Jung, 1974, 13.2.1910, S. 137). Um deren Anerkennung hatte Freud gerungen und fühlte sich dann von ihnen bedroht. Hierzu gehörten vor allem auch die Antisemiten. Die Gefahr gerade als Juden marginalisiert oder angefeindet zu sein, hat Freud in dieser Zeit sehr stark betont und damit sogar die besondere Rolle von Jung und den Zürichern hervorgehoben. Zu den Wienern sagte er in Nürnberg: »Ihr seid zum größten Teile Juden und deshalb nicht geeignet, der neuen Lehre Freunde zu erwerben«, und dramatisierend: »Die Schweizer werden uns retten, mich und Sie alle« (Wittels, zit. nach Gay, 1989, S. 250).24 Als Gegner von innen galten (ehemalige) Anhänger und Mitglieder, die etwas eigenes aus dieser 24 Dass der Antisemitismus auch von den Zürichern ausgehen konnte, hatte Freud nicht bedacht.

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Lehre machten oder Modifikationen vornahmen und somit als Abtrünnige, als »Dissidenten«, galten, so wie bald Adler, auch Bleuler, dann folgten Stekel, Rank, Jung, Ferenczi und viele andere. Zu den Anhängern an den Rändern, vor denen sich die Psychoanalyse besonders zu schützen wünschte, gehörten sympathisierende Ärzte wie der »Vorstadtarzt« aus der »Wilden Analyse« (Freud, 1910b) und vor allem die ganze Reihe von »Laien« und Intellektuellen, Künstlern, Literaten, Bohemiens, Anarchisten, solche Menschen und Gruppen, die von der Psychoanalyse begeistert waren, bei denen Psychoanalyse »in Popularität« stand (Freud, 1914, S. 85). Dazu gehörten viele aus dem linken oder dem sozial- oder sexualrevolutionären, anarchistischen Milieu aus Schwabing, Ascona und Berlin. Am bekanntesten und einflussreichsten darin z. B. Otto Gross und sein Umfeld, Franz Jung, Erich Mühsam, die Zeitschriften »Pan«, »Aktion« etc. – Kreise, die wiederum eher Adler nahestanden. Gegen alle diese sollte die Psychoanalytische Vereinigung sich abgrenzen, sie sollten ausgeschlossen oder aber eingebunden werden. Der Begriff »Psychoanalyse« müsse geschützt werden. Die »Mitglieder« sollten »sich durch Namensveröffentlichung« zum Verein »bekennen, um die Verantwortung für das Tun aller jener ablehnen zu können, die nicht zu uns gehören« (Freud, 1910b, S. 125). »Es sollte dann eine Stelle geben, welcher die Erklärung zustände: Mit all dem Unsinn hat die Analyse nichts zu tun, das ist nicht die Psychoanalyse« (Freud, 1914, S. 85).

Exkurs: Bruderkomplex Der sog. Aufstand der Wiener, die angeblichen oder tatsächlichen Rivalitäten untereinander, werden in der Psychoanalyse, damals in den Briefen zwischen Freud, Jung und Ferenczi, häufig als Ausdruck eines »Bruderkomplexes«, also der Bruderrivalität, bezeichnet, wie überhaupt, auch in der Nürnberger Rede von Ferenczi, sehr gern die Bilder von Familie, Vater, Übervater, Vaterkomplex, Bruderkomplex bemüht werden: der Verein als Familie mit einem patriarchalischen Vater, um dessen Gunst die Mitglieder wie Brüder rivalisieren. Und am Horizont zeichnet sich das Ergebnis ab: der Bruder- und Vatermord. Cremerius

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nennt diese Beiziehung von Familie durch Ferenczi die »der Sprache des Obrigkeitsstaates des 19. Jahrhunderts« (Cremerius, 1992, S. 37). Freud ermahnt Jung und Ferenczi immer wieder ob ihres Bruderkomplexes, was sie auch nicht bestreiten, aber Ferenczi sieht ihn bei den Wiener Mitgliedern, besonders bei Adler und Stekel, als besonders stark: »Bruderkomplex war bei mir sicher im Spiele […]. Doch auf so einen unkultivierten, unanalysierten Bruderkomplex wie bei Adler und Stekel gegen Jung war ich nicht gefasst […]. Bei den Wienern wütet aber der Vater- und Bruderkomplex« (5.4.1910, Freud/Ferenczi, 1993, S. 238). Den »Vatermord« setzt Freud in Nürnberg sogar noch selbst in Szene, indem er, nach der Schilderung von Wittels, bei seinen Gegnern von außen Mordabsichten beschwört, was dann zum Vatermord wird, wenn die Wiener nicht gehorchen: »Meine Feinde wären froh, mich verhungern zu sehen! Sie würden mir am liebsten den Rock vom Leib reißen« (Jones, zit. nach Zaretzky, 2009, S. 132). Es ist diese Gruppensituation in Nürnberg, reduktionistisch begriffen als Vater-Sohn-Brüder-Konflikt (vgl. Zaretsky, 2009, S. 140), die Freud dann in Anlehnung an Jungs mythologisches Denken, in »Totem und Tabu« (Freud, 1913), in die Urhorde und den Urmord verlagert: Der Vater wird von den Söhnen umgebracht, weil er über einen Schatz verfügt, dort über Frauen, hier über das Wissen, die reine Lehre. Freud hatte an »Totem und Tabu« nach Nürnberg, von 1911 bis 1913, gearbeitet, also in der Hoch-Zeit der Spannungen und Dissidenzen von Adler, Bleuler und schließlich Jung selbst. Dass der Vater-Sohn-Konflikt und der Vatermord in der Psychoanalyse an so zentraler Stelle stehen, gehört zu einer Perspektive aus der Männerwelt, in der Freud sich bewegt. Aber mehr noch: Es ist das Thema der Zeit. Vatermord, Rebellion gegen den Vater lagen in der Luft, neben und verbunden mit dem Geschlechterkampf und mit der Kritik am Patriarchat. Es ist der Explosivstoff der frühen deutschen und Wiener Expressionisten, es prägt das Denken des literarischen »Jungen Wien« und ist Zündstoff für Feministen und Anarchisten à la Otto Gross. Adlers »psychischer Hermaphroditismus« und »männlicher Protest« ist, wie wir noch sehen werden, darauf eine alternative Antwort, auf den ödipalen Konflikt, den Geschlechterkampf, das Patriarchat. Was im »Bruderkomplex« wie eine natürliche, wenn auch pathologische Folge einer »natürlichen« Familie erscheint, scheint dies meines

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Erachtens erst durch die Politik der Spaltung (durch Freud) hergestellt oder befördert und angeheizt zu sein. Erst durch Spaltung, Bevorzugung, Unterdrückung kommt es zur Aggression, gegeneinander und gegen den Vater, kommt es zum Bruder- und Vatermord. Mit Mario Erdheim würde ich zudem die, in der Psychoanalyse beliebte, Familienmetapher als reduktionistische in Frage stellen, als seien alle sozialen Beziehungen denen der Familienbeziehungen analog oder aus der Familie abzuleiten und als sei Geschichte nichts anderes als Familiengeschichte (vgl. Erdheim, 1990, S. 20 ff.).

Die Stellung Adlers auf dem Kongress Adler, der als Anführer der Revolte gilt, hatte auch allen Anlass, sich durch die Ankündigungen von Ferenczi bedroht zu fühlen, denn er vertrat ja von Freud abweichende Positionen. Die Auseinandersetzungen um und mit ihm im Wiener Kreis erreichten um 1910 geradezu einen Höhepunkt und Freud beklagte sich über Adler unendlich viel in Briefen an Jung und Ferenczi. Adler gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Freud’schen Kreises (1902) und entwickelte sich dort zu einem der aktivsten und ideenreichsten Freud-Schüler. Er verstand sich bis zum Schluss als innerhalb und auf dem Boden der Psychoanalyse stehend. 1906 sah er seine Theorie der Organminderwertigkeit und ihrer Kompensation als Grundlage und Ergänzung der Psychoanalyse. So sah das auch Freud. Die Debatten begannen spätestens 1908 mit Adlers Postulierung eines Aggressionstriebs, sie wurden gereizt bis feindselig, umso mehr, als Adler sich dann (um 1909) von der Triebpsychologie und damit vom Sexualtrieb als grundlegender Antriebskraft abwandte und stattdessen die Dynamik von Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation ganz zum Motor normaler und neurotischer Entwicklung machte. Kompensation meint dabei Überwindung der Schwäche und Unterlegenheit, Streben nach Weiterentwicklung, nach Anerkennung oder auch nach Macht. So stieß er mit seinem letzten Vortrag vor Nürnberg, am 23.2.1910, »Psychischer Hermaphroditismus«, auf heftige Ablehnung und Unverständnis (vgl. Nunberg u. Federn, 1977, S. 384–394), aber das hielt ihn nicht davon ab, diesen Vortrag auch in Nürnberg zu halten – vielleicht

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kann man sagen, typischerweise. Denn Adler hatte trotz der Widerstände immer wieder seine Ideen in den Kreis eingebracht und verteidigt. Eigentlich ist das ja selbstverständlich, aber dies wurde ihm sehr heftig angekreidet, quasi als Charakterfehler, als Sturheit, Verbohrtheit usw. So schrieb z. B. Ferenczi am 27.12.1909: »Schade, dass er so gewalttätig alles von seinem Standpunkte (Aggression, Minderwertigkeit) beurteilt« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 189). Diese Eigenwilligkeit sah Adler in Nürnberg bedroht. Adlers Stellung 1910 war aber nicht nur eine abgelehnte (u. a. als platt, unleidlich, paranoid), Freud war ihm gegenüber durchaus ambivalent und Ferenczi fand immer wieder in Briefen an Freud anerkennende Worte (»gute Ideen«, 27.12.1909, Freud/Ferenczi, 1993, S. 189; »sehr viel Gutes«, 5.4.1910. S. 238), Freud nannte Adler »stärksten Kopf« am 31.1.1908 (Freud, 2011, S. 30), »einzige Persönlichkeit« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 234). Im Zusammenhang mit dem Kongress gibt es eine Episode, die dafür aufschlussreich ist: Freud hatte Adler für Nürnberg ein anderes Thema – vielleicht damit auch eine andere Rolle – angetragen. Adler sollte zum Thema »Psychoanalyse und Weltanschauung« sprechen, quasi in seinem Namen. In einem – undatierten, sicher kurz vor dem Kongress 1910 zu datierenden – Brief schreibt Freud an Adler: »Ich möchte nun gerne, dass diese Anregung [Thema »ψA und Weltanschauung«] für den Nürnberger Kongress wiederholt werde, und bin so frei, Ihnen diese Aufgabe anzutragen. Es handelt sich um die Untersuchung, ob die ψA mit jeder Weltanschauung verträglich ist oder ob sie nicht vielmehr zu einer ganz bestimmten freiheitlichen, in Erziehung, Staat und Religion, reformatorischen drängt, die notwendigerweise die Anhänger der ψA zum Anschluss an eine gewisse Partei im praktischen Leben auffordert« (Freud, 2011, S. 35). Diese Themenstellung drückt offensichtlich ein Bedürfnis Freuds aus, die Psychoanalyse anlässlich ihrer organisatorischen Gründung programmatisch zu verankern und kulturell-weltanschaulich einzubinden – durch »eine gewisse Partei«; vielleicht ein Nachklang seiner damaligen Idee, sich dem »Ethik-Orden« anzuschließen. Es war Freuds Idee, »als Gemeinschaft« dem »Internationalen Orden für Ethik und Kultur« beizutreten, der sich gerade gebildet hatte und »ein praktisches

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Arbeitsideal« biete. Dies beschäftigte Freud im Januar 1910 (Jung/Ferenczi, 1974, S. 133), als Alternative zu »einer strammeren Organisation mit Vereinsformen«, wie Freud am 1.1.1910 bei Ferenczi anfragte. Den »Ethikorden« gab Freud dann aber bereits am 13.2.1910 zugunsten der eigenen Organisation auf (Freud/Jung, 1974, S. 137, und Freud/Ferenczi, 1993, S. 213).25 Freud meinte einen Zusammenhang der Psychoanalyse mit einer »freiheitlichen«, »reformatorischen«, gesellschafts- und kulturkritischen »Weltanschauung. Dazu machte er dann, nachdem Adler diese Aufgabe nicht übernahm, selbst in seinem eigenen Vortrag in Nürnberg »zur Zukunft der Psychoanalyse« ein paar wunderbare Ausführungen: Die Gesellschaft »muss sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie« und »zerstören Illusionen«; »wir weisen ihr nach, dass sie an der Verursachung der Neurosen selbst großen Anteil hat«. Und er spricht weiter von der »rücksichtslosen Bloßlegung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten« (Freud, 1910a, S. 111).26 Dass Freud Adler dieses Angebot gemacht hat, kann man nach zwei Seiten hin begründen: Zum einen stand Adler inhaltlich dieser Position Freuds sicher am Nächsten. Es war bekannt, dass er Sozialist oder Marxist war, dies hatte Adler auch in den Diskussionen ab und zu ausgedrückt und 1909 mit seinem Vortrag »Psychologie und Marxismus« unterstrichen. Als solcher hatte Adler auch organisatorische Erfahrungen und Vernetzungen. Zum anderen könnte die Aufforderung Freuds auch heißen, dass er Adler damit, durch ein programmatisches Referat, als »einzige Persönlichkeit« doch irgendwie in die Gründerreihe aufnehmen und damit integrieren wollte – was sich auch in der Folge zeigte.

25 Die Interpretation bzw. Behauptung von John Kerr, Freud überlege bei der »gewissen Partei«, »ob Psychoanalytiker sich bei der Sozialdemokratischen Partei einschreiben sollten«, erscheint mir dagegen wenig überzeugend (Kerr, 1994, S. 334). 26 Wie anders dagegen Freud selbst später: »In Wirklichkeit ist die Psychoanalyse eine Forschungsmethode, ein parteiloses Instrument, wie etwa die Infinitesimalrechnung« (Freud, 1927, S. 360).

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Adler hat dann Freuds Angebot abgelehnt und seinen Vortrag über den »Psychischen Hermaphroditismus« gehalten. Offenbar wollte er nicht auf die Darstellung seines eigenen Beitrags verzichten, in der Hoffnung, in diesem größeren Kreis besser als in Wien verstanden zu werden, vielleicht aber kam die Anfrage (wie die gesamte Ankündigung der Tagung) zu kurzfristig.

Adlers Feminismus im »Psychischen Hermaphroditismus« Der Vortrag Adlers über den »Psychischen Hermaphroditismus« in Nürnberg gehört sicher zu den letzten Tropfen, der zum Bruch führte, weil er noch einmal mehr sein anderes Denken deutlich machte und für die Wiener – scheinbar – nicht verständlich war. Adler trägt dies erstmals am 23.2.1910 in der Mittwochgesellschaft vor (Nunberg u. Federn, 1977, S. 384 ff.). Der Begriff »Psychischer Hermaphroditismus« hat eine »alte Frage«, nämlich die der Bisexualität, wieder zum Leben erweckt. Adler scheint daran anzuknüpfen, aber in Wirklichkeit geht es um eine andere Sichtweise darauf. »Psychischer Hermaphroditismus« bei Adler meint im psycho­ logischen Sinn ein psychisches Zwitterwesen, ein Schwanken zwischen männlichen und weiblichen Tendenzen. Diese »Doppelgeschlechtlichkeit« ist bei Adler aber in keiner Weise organisch oder physiologisch, angeboren oder pathologisch gemeint: Es gehe, wie er ein Jahr später in der Diskussion über den »männlichen Protest« am 22.2.11 sagt, nicht um die Annahme zweier angeborener Sexualregungen wie bei der Bisexualität (Nunberg u. Federn, 1979, S. 169). Vielmehr schwanke das Kind zwischen – als weiblich empfundenen und gewerteten – Unterlegenheitsgefühlen und – als männlich empfundenen – Überlegenheits­ gefühlen. Es habe eine »Doppelrolle« zwischen Weiblichkeit und »männlichem Protest«, »zwischen Unterwerfung und Streben nach freiem Willen« (Adler, 1910a, S. 106), zwischen Trotz und Gehorsam (Adler, 1910b), oben und unten, Unterwerfung und Widerstand. Adler hat damit seine Grundidee des Schwankens zwischen Minderwertigkeitsgefühl und dessen kompensatorischer Überwindung nun im Bild der gesellschaftlich herrschenden Geschlechterverhältnisse

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ausgedrückt, in dem weiblich als minderwertig, als unten, passiv gilt und männlich als überlegen, oben, aktiv, stark. Der kompensatorische Wunsch und die kompensatorischen Anstrengungen nennt er dann »männlicher Protest«, den Versuch, männlich, groß und stark etc. zu sein, Zurückweisung und Protest gegen das Weibliche: »Ich will ein Mann sein«, und dies gelte für beide Geschlechter und für die normale und neurotische Entwicklung. Das Schema der Persönlichkeitsdynamik, in stärkerer Ausprägung der »fertigen« Neurose, sei dann: A. weiblich (gewertete) Züge sind stark, herrschen vor, B. als Folge: hyperthrophischer männlicher Protest, C. Kompromissbildung zwischen A und B (Adler, 1910a, S. 109). Für diese Dynamik, die im Wesentlichen im Unbewussten bleibt, sind, wie generell bei Adler, verschiedene Gesichtspunkte für ihr Verständnis zu beachten: 1. Die beiden Tendenzen, Minderwertigkeitsgefühl-Kompensation oder weibliche Tendenz und männliche Tendenz, versteht Adler als zwar konflikthafte, dynamische, aber sich einander bedingende Einheit oder: Sie bedingen die Einheit der Persönlichkeit. 2. In der Kompensation steckt eine schöpferische, gestaltende Ziel­ gerichtetheit, d. h., Adler lehnt einen kausalen triebgesteuerten Determinismus ab. 3. Triebe wirken sekundär, sie werden von unbewussten Zielen und Bedürfnissen, »psychischen Achsen«, geformt und gerichtet. Adler knüpfte mit dieser Thematik an die Geschlechterdebatten an, die in der medizinischen (Sexologie, Psychiatrie) und kulturanthroplogischen Wissenschaft und in der Frauen- und der sozialistischen Bewegung geführt wurden. Adler zeigt hier deutlich seine feministische und sozialistische Haltung, er ist inspiriert durch die Frauenbewegung, die gerade in Österreich bzw. Wien in ihrem Kampf um Gleichberechtigung zugleich die soziale und moralische Ordnung der Gesellschaft heben möchte (vgl. Anderson, 1994). Die Mehrheit der wissenschaftlichen und kulturellen Intelligenz wehrte sich gegen diese Ansprüche, diffamierte und erniedrigte die

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Frau als intellektuell unterlegen. Eine solche Haltung war auch gerade in Adlers Umkreis, unter Ärzten und Psychiatern, und im Freud-Kreis, eine Selbstverständlichkeit. Adler nahm dieses Thema in der Mittwochgesellschaft immer wieder auf und setzte sich mit seiner Position in Gegensatz dazu, besonders in Diskussionen mit Fritz Wittels, den er dann auch als »Reaktionär« oder als »Spießer« titulierte. So war Adler in der Mittwochgesellschaft der Einzige, der in dieser Schärfe Position für die intellektuelle Gleichwertigkeit bezog, für die Gleichstellung, den Emanzipationskampf und die Berufstätigkeit der Frauen eintrat. Er bezeichnete sich in diesem Zusammenhang als Sozialist, griff die marxistische Analyse von Bebel auf und stellte den Emanzipationskampf der Frau neben den des Klassenkampfs, die beide einer Furcht vor Degradierung entsprangen (vgl. Nunberg u. Federn, 1976: 15.5.1907, S. 187 f.; 11.3.1908, S. 331 f.; Nunberg u. Federn, 1977: 16.12.1908, S. 82, 23.12.1908, S. 88, 12.1.1910, S. 352; Nunberg u. Federn, 1979: 1.2.1911, S. 139 ff.). Die Geschlechterpolarität gehört zu einem kulturellen Deutungsmuster (vgl. Anz, 2005, S. 72), dem andere Polaritäten entsprechen, wie z. B. die zwischen Natur und Kultur oder Trieb und Geist. Das war verbunden mit einer Wertung, hinter der der Kampf der Konservativen und Antifeministen gegen die Frauenbewegung stand. Wissenschaftlich wurde dieser Kampf mit Hilfe von Johann Jakob Bachofens Schrift »Das Mutterrecht« (1861) gegen das Matriarchat ausgetragen, mit der Verteidigung des Patriarchats als dem Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. In manchen feministischen oder sexualrevolutionären Milieus wurde (und wird) diese Polarität übernommen, aber die Wertung umgedreht, sodass das Matriarchat und alles Weibliche verherrlicht wurde (und wird). Männlich und weiblich als Polarität und mit dieser Wertung versteht Adler also nicht biologisch, sondern »kulturpsychologisch« (Nunberg u. Federn, 1979: 23.2.1910, S. 385). Es ist eine geschlechtermetaphorische Ausdrucks- und Erlebensweise, und dies nennt er allgemein einen modus dicendi, hier einen »sexuellen Jargon«, hinter dem unbewusst eben etwas anderes steht, nämlich der narzisstische Konflikt zwischen schwachem Selbstwertgefühl oder Kränkung und Omnipotenzgehabe und Allmachtsgefühl.

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Die Unterdrückung und Geringachtung der Frau führten auch zur Selbstentwertung der Frau und veranlassten beide Geschlechter, nicht Frau und weiblich – und damit unterlegen –, sondern Mann oder männlich sein zu wollen. Der »zu starke Vorrang der Männlichkeit« sei »der Krebsschaden unserer Kultur« (Adler, 1910b, S. 127). »Herabsetzende Bemerkungen« gegen den »Wert der Frau […] vergiften das Gemüt des Kindes und nötigen Knaben wie Mädchen, sich frühzeitig den falschen Schein einer übertriebenen Männlichkeit beizulegen« (S. 130). Eine andere Reaktion ist es, dass das kleine Mädchen als »Notprodukt« sog. »weibliche[ ] Charakterzüge« ausbildet, weil es »einen männlichen Aberglauben von der Aussichtslosigkeit ihres geistigen Strebens in sich aufgenommen hat und nun dauernd mit einer männlichen Stimme zu reden versucht« (Adler, 1914, S. 482). Die Debatte über das Frauenthema und über den »Psychischen Hermaphroditismus« im Freud-Kreis ist äußerst befremdlich, voller Unterstellungen, Verleugnungen und aus der Tiefe des unverarbeiteten Unbewussten heraus geführt. Für Freud ist das Thema »Psychischer Hermaphroditismus« oder Bisexualität von vornherein belastet, weil es ihn schmerzlich an sein Zerwürfnis mit Fließ erinnert: Er war über diese Frage mit Fließ in einen Prioritätsstreit geraten (Weininger-Swoboda-Affäre), was 1906 zum Bruch der Beziehungen geführt hatte (vgl. Schröter, 2002). Freud stellt diese Parallele zu Fließ ausdrücklich allerdings erst im Dezember 1910 her, in einer gereizten Stimmung, kurz vor dem Bruch. An Jung schreibt er (3.12.1910): Adler erweckt »mir das Andenken an Fließ, eine Oktave tiefer. Dasselbe Paranoid (Freud/Jung, 1974, S. 168). An Ferenczi (16.12.1910): »Fließ habe ich jetzt überwunden […]. Adler ist ein »kleiner Fließ redivivus, [wiederlebend] ebenso paranoisch« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 339), und an Jung (22.12.1910): »Mir geht die Sache nur darum nahe, weil sie die Wunden der Fließaffäre aufgerissen hat« (Freud/Jung, 1974, S. 170). Und so bekommt Adler auch dieselbe Diagnose wie Fließ verpasst: Paranoia. Diese Paranoia wird von Freud in seiner Paranoiaarbeit bzw. Schreber-Arbeit, an der er um diese Zeit arbeitete (vgl. Schröter, 2002, S. 358), mit Homosexualität verbunden. Darauf hebt Ferenczi ab (19.12.1910): »Die Lösung: Adler = Fließ ist sicher richtig […]. Merkwürdig […][,] da Fließ wie Adler die Bi­sexu­ alität so unterstreichen; darin äußert sich der homosexuelle Ursprung

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ihres Charakters« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 341). Diese emotionale Verbindung mit Fließ hat also das wissenschaftliche Urteil Freuds über Adlers »Psychischen Hermaphroditismus« und über Adler insgesamt (mit-)geprägt. Die Reaktion der Wiener Kollegen zum »Psychischen Hermaphroditismus« ist, wie auch zu Adlers Grundgedanken sonst, zumindest zwiespältig, vorwiegend ablehnend, manchmal zustimmend, vieles wirkt wie unverstanden, auch gibt es viele Unterstellungen. Federn sagt: Es sei zwar nichts Neues, dass Neurotiker Hermaphroditen seien, aber das sei nicht das Zentrum der Neurose (Nunberg u. Federn,1977 S. 389). Ferenczi findet »eine Menge guter Ideen« (27.12.1909 an Freud, Freud/Ferenczi, 1993, S. 189), »sehr viel Gutes enthalten« (5.4.1910 S. 238 f.). Freud sagt zu diesem Vortrag zunächst mehr allgemein, man stehe Adlers »Ausführungen mit einer gewissen Fremdheit« gegenüber« (Nunberg u. Federn, 1977, 23.2.1910, S. 391), der Vortrag enthalte eine »Menge Irrlichter«, »böse Spekulation« und »anagrammatische Missverständnisse« (Freud/Ferenczi, 1993, 25.2.1910, S. 223). einen »Wechsel der Nomen­klatur« (Nunberg u. Federn, 1977, 23.2.1910, S. 392). »Sogar unsere alte Bisexualität heißt bei ihm psychischer Hermaphroditismus, als ob es etwas anderes wäre« (Nunberg u. Federn, 1979, 1.2.1911, S. 144). Immer wieder wird Adler unterstellt und vorgeworfen, das sei Biologie, Adler »unterwerfe das psychologische Material zu früh biologischen Gesichtspunkten« (Nunberg u. Federn, 1977, S. 391); oder etwas allgemeiner: Adler gebe »statt Psychologie zu großem Teil Biologie« (Nunberg u. Federn, 1979, S. 145). Gleichzeitig wird die Begriffsverwendung von männlich und weiblich zurückgewiesen: Man könne Geschlechtsmerkmale nicht psychologisch fassen, »die Begriffe männlich und weiblich« taugen »in der Psychologie nichts«, sagt Freud. Allerdings sagt er gleichzeitig: Die Neurose hat immer »weiblichen« Charakter […]. Alles, was libidinös ist, hat männlichen, was Verdrängung ist, weiblichen Charakter (Nunberg u. Federn, 1977, S. 392) – also aktiv und passiv. Dann weisen die Kollegen Wertungen zurück und wirken sehr befremdet, dass weiblich als minderwertig empfunden werden könnte – als gäbe und kennten sie diese Wertung nicht und würden sie nicht selbst in diesen Kategorien denken. Verleugnend meinen sie, diese Wertung sei allenfalls »historisch« (Nunberg u. Federn, 1979, S. 388 ff.).

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Der »männliche Protest« wird zum Zentrum der Debatten rund um den Bruch und ist auch später immer wieder Gegenstand der Diskussion. Er wird als Phänomen zuweilen durchaus ernst genommen, aber sie verstehen und missverstehen ihn als »bloß« bewusstes Phänomen, als »Oberflächliches«, »charakterologisches« (Reitler, 1911, S. 582). Es werde wohl manchmal im Bewusstsein so erlebt, aber dahinter stehe mehr. So berichtet Ferenczi (17.3.1911) von einer Patientin mit »Psychischem Hermaphroditismus und männlichem Protest«, »was Adler sagt, das sagte mir die Patientin voll bewusst« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 361). Aber hinter dem männlichen Protest oder den »Machtphantasien« stehe anderes, »die verdrängte Urethral-Analerotik (S. 361), was später bei Freud (30.10.1912) Kastrationsangst und Penisneid heißt (Nunberg u. Federn, 1979, 30.10.1912, S. 105 f.; und Freud/Fercenzi, 1993, S. 145).

Zentralblatt für Psychoanalyse, Adlers Rücktritt und ein Prioritätsstreit Adler erlebte nach Nürnberg (6.4.1910) zunächst einmal eine Art von Aufwertung: Freud machte Adler das Angebot, Obmann oder Vize von Wien zu werden (Nunberg u. Federn, 1977, S. 423 f., 429). Freud behielt sich aber das Recht vor, der wissenschaftliche Vorsitzende zu sein. Warum macht Freud Adler dieses Angebot, wenn er sich doch so unendlich über ihn ärgert? War es nach Nürnberg Beschwichtigung, Beruhigung, Diplomatie oder Toleranz (S. 423 f.)? Freud gibt als Begründung für die Überlassung der »Führerwürde« (Freud/Jung, 1974, 12.4.1910, S. 142) selbst an: »Die Führerschaft werde ich Adler übertragen, nicht aus Neigung oder Befriedigung, sondern weil er doch die einzige Persönlichkeit ist und weil in dieser Stellung er möglicherweise genötigt wird, den gemeinsamen Boden mit zu verteidigen« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 234). Das aber hätte Freud nicht gemacht, wenn er zu diesem Zeitpunkt ernsthaft an eine Trennung von Adler gedacht hätte. Zudem griff Freud die Idee von Adler und Stekel einer neuen Zeitschrift auf, die als Monatsschrift eine Ergänzung des »Jahrbuches« (das C. G. Jung herausgab), vor allem für die Wiener, gelten sollte (Nunberg u. Federn, 1977, S. 423 ff.). Sie sollte, meinte Stekel, »neben selbstän-

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digen wissenschaftlichen Arbeiten kleine Mitteilungen, die Sitzungsberichte unserer Vereinsabende sowie ausführliche Referate enthalten« (S. 429 f.). Dies wurde von Freud bald bestätigt, als neues offizielles Organ der IPV und mit dem Titel »Zentralblatt für Psychoanalyse« versehen (S. 425 ff.). Adler und Stekel werden Schriftleiter, Freud fungiert als Herausgeber, als Kontrolle von Adler und Stekel. Allerdings hatten alle drei jeweils ein Vetorecht. Freud meinte an Ferenczi, dass das Zentralblatt »neben den schweren Waffen des Jahrbuchs Schwärmer- und Plänklerdienste tun soll« (12.4.1910, Freud/Ferenczi, 1993, S. 241), etwas später aber: »Das Zentralblatt ist eine zweischneidige Waffe, allerdings sehr mächtig, wenn sie recht gebraucht wird« (24.4.1910, Freud/Ferenczi, 1993, S. 246). Das klingt angesichts des Schicksals des Zentralblatts, das bald als »Hauszeitung« von Stekel und Adler zum Kampfobjekt geriet und dann von Stekel als seine eigene Zeitschrift übernommen wurde, fast prophetisch. Freud kümmert sich um den Verlag, vermittelt Beiträge, besorgt Korrekturen. So geht es z. B. in den Briefen von Freud an Adler vom Juni 1910 bis Juni 1911 vorwiegend um Redaktionelles des Zentralblatts (Freud, 2011). Es entstehen für Freud immer wieder Ärgerlichkeiten, allerdings steht besonders Stekel im Schussfeld. Freud beginnt, Adler und Stekel im Doppelpack zu behandeln, sie in Briefen als »Dioskuren« (die unzertrennlichen Söhne von Zeus, Kastor und Pollux) (Freud/Ferenczi 12.4.1910, S. 241) oder später als »Max und Moritz« (6.4.1911, Freud/Ferenczi, 1993, S. 368, 10.4.1911, S. 368 und 369) zu bezeichnen und über sie zu schimpfen. So heißt es z. B. an Jung (25.11.1910), Adler sei zwar »ein sehr anständiger und geistig hochstehender Mensch«, aber »paranoid«. Er dränge »seine kaum verständlichen Theorien im Zentralblatt vor, streitet beständig um seine Priorität, belegt alles mit neuen Namen« (Freud/ Jung, 1974, S. 166 f.). Das war dann bereits die Zeit, als der Prozess der Trennung auf seinen letzten Akt zuging. Adler wurde im November 1910 aufgefordert, sich »im Zusammenhang« zu erklären, und hielt im Januar und Februar 1911 zwei Vorträge (4.1. und 1.2.), die man als Angriff und Verteidigung Adlers sehen kann (Adler, 1911a, S. 161–180; Nunberg u. Federn, 1979, S. 103–105 u. 139–143). Im Lauf der Debatten darüber gerät Adler derart unter Druck, dass er nach der Sitzung vom 22.2.1911 schließlich

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die »Inkompatibilität seiner wissenschaftlichen Stellung und seiner Stellung im Verein« erklärt und seine Funktion als Obmann aufgibt (S. 172). Darüber geht es bis zur letzten Sitzung im Semester (31.5.) (vgl. Bruder-Bezzel, 1983, 1999; Handlbauer, 1990). Inzwischen hat Freud damit begonnen, Adler aus der Redaktion des Zentralblatts herauszudrängen. Er schreibt am 28.5.1911 an Ferenczi: »Ich habe […] von Bergmann direkt Adlers Entfernung aus der Redaktion verlangt« (Freud/Ferenczi, 1993, S. 390). Dabei hat Freud sich mit Stekel verbündet: »Ich werde mit Stekel als einzigem Redakteur gut auskommen« (S. 390). In Kenntnis dieses Vorgangs mit dem Verlag erklärt nun Adler im Juni seinen Rücktritt vom Zentralblatt und vom Verein. Vermutlich war der Rücktritt kurz vor dem 10.6., als Freud den letzten Brief an ihn schrieb. Mit Adler sind noch ausgetreten David Bach, Stefan Maday, Baron Franz Hye. Adler gibt eine »Erklärung« zum Redaktionsrücktritt, die im nächsten Zentralblatt I 1911 Juli–August erscheint. Es heißt u. a.: »Der Herausgeber der Zeitschrift, Herr Professor Freud, war der Ansicht, dass zwischen ihm und mir derartige wissenschaftliche Gegensätze bestehen, die eine gemeinsame Herausgabe dieser Zeitschrift in seinen Augen inopportun erscheinen ließen« (Adler, 1911b, S. 433). Am 20. Juni gibt es ein Protestschreiben von einigen Mitgliedern, gerichtet an »den Ausschuß der Wiener psychoanalytischen Vereinigung«. Sie solidarisieren sich mit Adler gegen die wiederholten »unfreundlichen Akte«, gegen die »Machtkämpfe« gegen Adler, gegen das Herausdrängen aus dem Zentralblatt (zit. nach Furtmüller, 1983, S. 300 f.). In der Sommerpause gründet Adler einen eigenen Verein und nennt ihn »Verein für freie Psychoanalyse« – »frei« als frei von Zensur, in Anlehnung an die Proteste in Nürnberg. Mit dem Austritt von Adler blieb das Zentralblatt nun in der Hand von Stekel. Obgleich dieser bald darauf selbst, im November 1912, auch aus der Psychoanalytischen Vereinigung austrat (Mühlleitner, 1992, S. 321), führte er es bis 1914 in vier Bänden weiter. Freud und andere der klassischen Anhänger hatten sich schon lange zurückgezogen und 1913 eine neue Zeitschrift, die »Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse« gegründet, 1920 als »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse«.

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Adler veröffentlichte mit der Gründung 1910 einige Artikel im Zentralblatt und konnte, über die – brüchige – Verbundenheit mit Stekel, auch noch nach seinem Rücktritt dort selbst veröffentlichen. Auch Adlers Anhänger oder die, die sich mit Adler auseinandersetzen wollten, kamen zu Wort, so dass Adler über diese Zeitschrift im psychoanalytischen Umfeld noch präsent war. Aufgelistet kommen wir in erster Durchsicht auf folgende Anzahl und Namen: 1. Aufsätze von Adler selbst: Band I 1910/11: fünf Aufsätze und sieben Rezensionen, Band III 1912/13: zwei Aufsätze. 2. Beiträge oder Rezensionen von Anhängern von Adler: Band I: Carl Furtmüller, Band III und IV: Carl Furtmüller, J. Birstein, Otto Hinrichsen, Otto Kaus, Paul Schrecker, Franz Grüner, Max Cresta, Alex Schmid, Robert Freschl, Stefan Maday. 3. Beiträge, die sich mit Adler auseinandersetzen oder in denen er zumindest erwähnt wird: u. a. von Gaston Rosenstein, Felix Asnaurow, Otto Gross. 4. Rezensionen über Adler: Band I: Stekel, Reitler, Band III: Saler, Stekel, Cresta, Im Band III 1913 findet sich ein »Prioritätsstreit« zwischen Adler und dem Schweizer Psychoanalytiker Alphonse Maeder über die Theorie der Träume bzw. über das Finale (1913, H. 7, 537 f., 562 f., 564–567).27 Adler hatte Maeder nach einem Vortrag (»Über die teleologischen Funktionen des Unbewussten«)28 auf dem Züricher Kongress des Internationalen Vereins für Psychotherapie und medizinische Psychologie« im September 1912 auf seine »Priorität« angesprochen, worauf Maeder nicht reagierte, später aber seinen Vortrag veröffentlichte, wie Adler in seiner Erwiderung schreibt (Adler, Juni 1913, S. 564). Der ausführ­ lichen Erwiderung Adlers im Zentralblatt ging eine Rezension von Maeders Beitrag voraus (S. 537 f.) und eine Darstellung von Maeder selbst (Maeder, 1913, S. 562 f.). In der Rezension geht es um Maeders »Über die Funktion des Trau27 Alphonse Maeder (1862–1971), Psychiater, war Assistent von Bleuler und Jung in Burghölzli und trennte sich 1913 mit Jung zusammen von Freud. 28 Dazu kritisch siehe Brief Freud an Ferenczi, 2.10.1912. (Freud/Ferenczi, 1993, S. 129 f.).

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mes«, veröffentlicht im »Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung«, Bd. IV: Träume seien »mit unerledigten Fragen« beschäftigt und würden eine »Lösung des Konflikts« enthalten, Träume seien somit »Vorübungen, Vorbereitungen zur späteren Wach­ tätigkeit« (Lang, 1913, S. 537). Der Rezensent Jos. B. Lang ergänzt, dass »auf den ersten Blick auffallende Ähnlichkeit vieler Gesichtspunkte […] mit den Theorien Alfred Adlers« bestünden, aber doch »fundamentale Unterschiede« (S. 538). In seinem, durchaus höflichen, öffentlichen Brief an den »Redaktor« (»Offener Sprechsaal«) (18.4.1913) räumt Maeder selbst Übereinstimmungen zwischen seiner und Adlers Auffassung über die Funktion des Traumes ein (vorausdenkende Funktion, Vorübungswert), auch dass seine aktuelle Veröffentlichung nach denen von Adler komme, dass er aber doch – und nun geht er akribisch vor – früher oder vielleicht zeitgleich ähnlich so dachte (Maeder, 1913, S. 562 f.). Adler erwidert daraufhin (10.6.1913) ausführlich und eher geharnischt, er wolle seine »Anschauungen über das ›Finale‹ im neuro­tischen Seelenleben« nicht auseinandergerissen und missverständlich dargestellt bekommen« (Adler, 1913, S. 564). Auf vier Seiten führt er nun mit Tabellen und Veröffentlichungsangaben einzelne Zitate von sich, Maeder und Freud auf, um die tatsächliche Ähnlichkeit, aber auch Eigenständigkeit und auch sein zeitliches Prä nachzuweisen. Diese »Erwiderung« endet mit: »Ich sehe keinen Anlass, in eine ›Teilung des Kindes‹ einzuwilligen« (S. 564–567). Aus einem Brief von Ferenczi vom 26.4.1913, kürzlich aufgetaucht auf einer Auktion, geht hervor, dass Maeder noch eine Polemik gegen Adler in der Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse veröffentlichen wollte. Das wimmelte Ferenczi, mit Bezug auch auf Freud, ab, er wolle sich nicht darauf einlassen, Prioritätsansprüche Adlers in seiner »Zeitschrift« auszutragen (Ferenczi, unveröffentlicht). Das Verhältnis Freuds zu Jung und Maeder stand allerdings um diese Zeit bereits in Hochspannung, kurz vor dem Bruch. Erwähnt werden (in der Korrespondenz zwischen Freud und Ferenczi) dabei öfter die antisemitischen Äußerungen Maeders bzw. der Züricher (17.10.1912, Freud/Ferenczi, 1993, S. 132; 4.5.1913, S. 214). Dieser Streit zwischen Adler und Maeder scheint einerseits von beiden Seiten eher lächerlich, andererseits aber verständlich. Fraglich ist

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immer, wie weit man auf »geistigem Eigentum« bestehen kann, wenn man ja weiß, dass wir in gesellschaftlichen Zusammenhängen und Austauschen stehen. Andererseits ist es wohl so, dass es Adler war, der finale Gedanken in die Psychoanalyse gebracht oder diesen vielmehr Gewicht gegeben hatte, und so ist auch verständlich, dass er sie nicht losgelöst von seiner Theorie sehen will und mindestens hätte genannt werden können. Diese Art der Übernahme Adler’scher Gedanken und Begriffe hat der eher (damals und heute) geächtete Adler häufig erlebt und hat sich im Lauf der Geschichte tatsächlich massenhaft wiederholt.

Resümee Der Bruch mit Adler, der in gewisser Weise als Ergebnis von Nürnberg zu werten ist, steht dafür, dass mit der Vereinsgründung die Vielfalt der Psychoanalyse eingeschränkt wurde. In der 100-jährigen Geschichte der Psychoanalyse hatte diese Verengung Serien von Abwanderungen und Brüchen zur Folge. Diese Prozesse waren schmerzlich und kräftezehrend, sie haben sicher die Kritikfähigkeit und Widerständigkeit der Psychoanalyse, so wie sie Freud einmal (auch) andachte, nicht gefördert, aber die Trennungen haben doch eine Vielfalt von gleichberechtigten Psychoanalysen hervor­ gebracht und damit mehrere Wahrheiten statt nur einer. Die verschiedenen Psychoanalysen heute sind selbst Amalgame, so auch die moderne Individualpsychologie. Sie hat sich auf ihre psychoanalytische Herkunft bezogen, sich auf die verschiedenen modernen psychoanalytischen Strömungen eingelassen und sich für sie geöffnet, aber sie hatte zuvor umgekehrt selbst auf diese psychoanalytischen Strömungen einen starken, wenn auch unausgesprochenen und verdeckt wirkenden Einfluss gehabt.

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Macht und narzisstische Charakterstruktur. Alfred Bergers »Hofrat Eysenhardt« und Adlers Streben nach Macht

Einleitung Adlers »Neuropsychologische Bemerkungen zu Freiherr Alfred von Bergers Hofrat Eysenhardt« von 1913 ist eine Werkinterpretation der gleichnamigen zeitgenössischen Novelle von 191129, die erste der beiden literaturpsychologischen Arbeiten Adlers, die andere ist eine über Dostojewski (Adler, 1920, S. 101 ff.). Solche Literaturinterpretationen standen bereits in der Tradition der Psychoanalyse wie auch der Individualpsychologie (vgl. Kapitel zu Kaus). Adlers Beitrag geht auf einen Vortrag 1912 in seinem »Verein für freie psychoanalytische Forschung« in Wien zurück und erschien im Juni 1913 in der »Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie« (Hrsg. v. Albert Moll). Max Cresta schrieb darüber eine Rezension im Zentralblatt für Psychoanalyse (vgl. Cresta, 1913, S. 616). Der Aufsatz erschien erst wieder 1920 in »Praxis und Theorie« mit kleineren Veränderungen im Text und unter dem veränderten Titel: »Individualpsychologische Bemerkungen zu Alfred Bergers ›Hofrat Eysenhardt‹«30. Der Text in dieser Fassung war bis 1930 in diesem 29 Das Deckblatt der Erstausgabe von Bergers Novelle ist als ein floraler Holzschnitt vom berühmten Wiener Jugendstilkünstler der Wiener Werkstätten, Josef Hoffmann, gestaltet. 30 Der Wechsel von »neuropsychologisch« zu »individualpsychologisch« entsprach der Umbenennung von Adlers »Verein für freie Psychoanalyse« in »Verein für Individualpsychologie« im September 1913 (Schimmer, 2001, S. 125 f.). Die Selbstbezeichnung »Individualpsychologie« statt »Psychoanalyse« gab es allerdings bereits 1912, weswegen sie auch in Adlers Text vorkommt. Der Wegfall des Adelstitels entspricht dem Verbot dieser Titel in Österreich nach dem Krieg. Allerdings hatte Adler auch im Text der Erstfassung nur von »Berger« gesprochen.

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Macht und narzisstische Charakterstruktur

Band »Praxis und Theorie«, wurde aber vom Herausgeber der Fischer– Neuausgabe, Wolfgang Metzger, 1974 herausgenommen, weswegen er weitgehend unbekannt blieb. Inzwischen wurde er in den siebten Band der »Alfred Adler Studienausgabe« »Gesellschaft und Kultur« aufgenommen (2009, S. 72–87). Eine ausführlichere Darstellung fand Adlers Text bereits bei Schimmer (2001). Adler hat beim »Eysenhardt«, anders als bei seinem ­Dostojewski, die Werkinterpretation nicht durch Biographik Bergers ergänzt, er schreibt zum Autor gar nichts. Das ist etwas verwunderlich, da Berger selbst Autobiographisches – anlässlich seines Weggangs aus Wien – über sich selbst, über seine »Natur«, seine Entwicklung und über seinen Vater geschrieben hatte (Berger, 1900, 1901). Zudem scheint Berger im Eysenhardt Erlebnisse seiner eigenen Kindheit und Züge von sich selbst und die seines Vaters miteinander verbunden zu haben (vgl. Schimmer, 2001, S. 124 f.). Die in diesem Beitrag folgenden biographischen Angaben und die Fallskizze bestätigen das. Dagegen scheint die seit Stekel immer wieder kolportierte Behauptung, Eysenhardt gehe auf eine ganz bestimmte Wiener Person zurück (Stekel, 1912, S. 358; so auch bei Metzger, 1974, S. 8), nicht zu stimmen. Vielleicht war es Taktgefühl gegenüber dem erst vor kurzem Verstorbenen (1912), das Adler davon abgehalten hat, auf die Biographie Bergers einzugehen. Darauf könnte ein Satz Adlers hinweisen: Bei der Untersuchung der »Triebkräfte«, die in den »Gestalten eines Kunstwerks« enthalten sind, gelten »die allgemeinen Gesetze des Taktgefühls« (Adler, 1913, S. 76). Denn für die Einschätzung dieser Novelle sind die autobiographischen Schilderungen durchaus interessant.

Der Autor Alfred von Berger Der Autor Alfred Freiherr von Berger (1853–1912) war eine hochbekannte Figur des damaligen Wiener Kulturlebens, eine »geistige und gesellschaftliche Zierde Wiens« (Schrögendorfer, 1966, S. 8). Er war Jurist, Professor für Philosophie und Ästhetik, Schriftsteller, Redner, Kritiker, Kulturjournalist und Theaterwissenschaftler. Er sei »vom Scheitel bis zur Sohle« Monarchist« (S. 114) geblieben und Wiener durch und durch. Er schrieb sehr viel in der Wiener Presse,

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1904 gründete er mit Karl Glossy die Kulturzeitschrift »Österreichische Rundschau« (bis 1924), die eine Weiterführung der Wochenschrift »Die Zeit«, Wien, darstellte. Neben seiner Novelle »Hofrat Eysenhardt« schrieb er noch Autobiographisches. 1889 heiratete er die gefeierte, festangestellte Burgschauspielerin Stella Hohenfels (S. 50). Da er die Direktion des Burgtheaters nicht bekam, musste er weg und übernahm ab 1899/1900 für zehn Jahre Alfred von Berger (Max Lieberdie Stelle als Direktor des Deutschen 31 Schauspielhauses Hamburg  – trotz- mann, 1905) dem war er überwiegend in Wien anwesend und pflegte seine Verbindungen (S. 56, S. 65). 1910 wurde er endlich Direktor seiner ewig geliebten Wiener »Burg«, doch durch seinen plötzlichen (Herz-)Tod allerdings nur zwei Jahre lang. Ein Porträt von Max Liebermann von 1905 (Öl auf Leinwand) zeigt ihn als einen gewaltigen, sehr massigen bis fettleibigen Mann. Eine Pressestimme damals beschreibt ihn: »ein ungelenker, hünenhafter Körper und auf ihm ein mächtiger Kopf; das fleischige Antlitz«, eine »knorrige Stimme« (S. 52). Von seiner Kindheit und Jugend, von seinem »Vaterhaus«, erfahren wir, u. a. von Berger selbst, Folgendes: Die Mutter verstarb in Al­ freds Alter von fünf Jahren, er und sein Bruder wurden von der Großtante versorgt. Der Vater, Johann Nepomuk Berger, war liberaler Jurist, Hof- und Gerichtsadvokat und Politiker in Wien, 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, glänzender, schlagfertiger Redner, er gründete den Klub der Linken im Reichsrat und war Minister ohne Portefeuille (Schrögendorfer, 1966, S. 12; s. a. Wikipedia32). Er wurde 31 Das fiel ihm offensichtlich sehr schwer. Zum Abschied schreibt er über sein Leben, reflektiert über seinen Vater, und um die gleiche Zeit, 1901, lässt er seinen »Eysenhardt« spielen und dessen Leben enden. 32 Wikipedia-Artikel »Johann Nepomuk Berger (Politiker)«, Zugriff am 10.07.2018.

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vom Kaiser in den Adelsstand versetzt, was seine Söhne (1878) vererbt bekamen. Immer mal hatte der Vater Heiratspläne, brach dies aber stets wieder ab (Berger, 1901, S. 37). »Und mein Vater war, bei aller Menschenkenntnis und Menschenverachtung, durch Bestechung seiner Eitelkeit auch durch minderwertige Personen zu gewinnen, namentlich durch Frauen« (S. 36). Als Alfred 17 Jahre war, starb der Vater (1870), der, bereits schwer erkrankt, im Zusammenhang mit heftigen politischen Konflikten (»Memorandenstreit« 1869) übel geschmäht wurde (S. 66 f.). Alfred Berger schildert seine Kindheit und Jugend als beherrscht von großer »Einsamkeit und Eintönigkeit«, er fühlte sich wie in halbdunkler Einzelhaft (S. 20 f.). Er geriet in innere Konflikte, quälende Krisen und Angstzustände, die ihn zum »unbestechlichen Psychologen seiner selbst« machten (Schrögendorfer, 1966, S. 16). Schonungslos und zugleich in höchster Bewunderung schildert er den Vater als »mächtig«, reizbar, gallig, mit diabolischen, dämonischen Zügen, mit weichster Güte neben ingrimmigem Hassen, die seine geistigen Waffen zu Giftzähnen und Krallen machten. Er sei nicht der Erzieher gewesen, »wie ich ihn nötig gehabt hätte«. Das »Gefühl der Vaterpflicht« äußerte sich »in periodischen erzieherischen Anfällen« als »pädagogische[r] Platzregen« (Berger, 1901, S. 2). Alfred schildert sein Ringen zwischen höchster Liebe und Verehrung des Vaters und seine Emotionslosigkeit bis zum Hass gegen den Vater. Er sieht sich selbst als im inneren Kampf zwischen kritischem, sarkastischem Kopf und poetisch künstlerischem Geist, er sieht sich als »Don Juan des Geistes« mit sprudelnden Einfällen und Gedanken (Berger, 1900, S. 8). Er sei einer der bewusstesten Menschen, ihm entgehe nichts, es gebe keine Selbsttäuschung (Berger, 1901, S. 19), und er sieht sich als abgesondert von der Gemeinschaft (S. 74). Berger hatte, wie man an den autobiographischen Äußerungen bereits merkt, auch Bezug zur Psychologie, selbst zur Psychoanalyse. 1896 besprach er Freuds und Breuers »Studien über Hysterie« »in einem feinsinnigen Artikel« (Freud, 1896, zit. nach Worbs, 1983, S. 88) in der »Wiener Morgenpresse« sehr lobend unter dem Titel »Chirurgie der Seele«33. 33 1912 verwendet Freud die Chirurgenmetapher als Haltung des Analytikers (Freud, 1912, S. 380 f.).

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Unter Auslassung der Inhaltsangabe wurde diese Besprechung 1933 im »Almanach der Psychoanalyse« unter dem Titel »Die Dichter hat sie für sich« wieder abgedruckt. Er rühmt das Buch der »zwei bekannten, allverehrten Wiener Ärzte« ob seiner Schönheit, Weisheit, Gemütstiefe und psychologischen Scharfsinns (Berger, S. 287). Er pflichtet Freud bei, dass sich »Krankengeschichten wie Novellen« lesen (S. 286) und dass das Verfahren wie das »Ausgraben einer verschütteten Stadt« sei (S. 287). Davon überzeugt, »dass die großen Dichter die Wikinger sind, die lange vor Kolumbus in Amerika waren«, findet er das positive Urteil: »Die ganze Theorie ist eigentlich ein Stück uralter Dichterpsychologie« (S. 288). Die Besprechung endet mit: »Wir wissen nicht, wie die Wissenschaft die Theorien Breuers und Freuds beurteilt. Die Dichter hat sie für sich, und das will nicht wenig besagen. Denn bis jetzt waren Dichter diejenigen, die von den Geheimnissen der Menschenseele das Meiste und Beste gewusst und ausgesagt haben« (S. 289). Hier gibt es also viel Übereinstimmung zwischen Berger und Freud, der ebenso die Dichter verehrte, die intuitiv Psychologien entwürfen, was die Wissenschaft erst mühselig hervorbrächte, wie er z. B. über seinen »Doppelgänger« Arthur Schnitzler äußerte. Zum weiteren Bezug Bergers zur Psychoanalyse vermerkt Schrögendorfer, dass Berger sich der psychoanalytischen Deutung der Katharsistheorie anschließt, wonach die »tragische Läuterung […] als psychoanalytische Affektentladung anzusehen« ist (Schrögendorfer, 1966, S. 30).

Inhaltsangabe, Fallskizze In aller Kürze sei der Inhalt der Novelle vorgestellt: Hofrat Eysenhardt ist Wiener Strafrichter und Staatsanwalt, bekannt als kriminalistisches Genie und glänzender Redner und wegen seiner »Geisteskraft« und seinem »ungeheuren Gedächtnis« bewundert. Die Härte seiner Strafen (hart wie Eisen) erregt Entsetzen, bei den Advokaten und in der Verbrecherwelt. Er gilt als der Gerechtigkeit verpflichtet und trägt als Staatsdiener seine absolute Kaisertreue zur Schau. Persönlich wirkt er eher erbärmlich, lebt gänzlich zurückgezogen, hat keinen Freund, ist schüchtern, verschlossen, wirkt äußer-

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lich unmodern und ungepflegt. Sein ehemaliger Mitschüler nennt ihn einen »Fall von Umbildung verbrecherischer antisozialer Instinkte ins Richterliche« (Berger, 1911, S. 44; Adler, 1913, S. 78). Seine Leitlinien sind »brutale sexuelle Sinnlichkeit und ein maßloser Ehrgeiz« (Berger, 1911, S. 47; Adler, 1913, S. 78); er will »die Männer beherrschen, womöglich knechten, die Weiber besitzen« (Berger, 1911, S. 52; Adler, 1913, S. 78). Sein Sexualleben spielt sich im Verborgenen ab, in der Kärntner Straße und den Seitengässchen. Umgang mit sog. anständigen Frauen hat er nicht. Als er eines Tages Anlass hat, auf die Berufung zum Minister hoffen zu können, passiert mit ihm ein Wandel (bei Adler Formenwandel): Er pflegt sich, kleidet sich elegant und hell, wirkt gehoben, offen und freundlich. Bald aber bricht ihm ein Zahn aus, und das erschüttert sein »Nerven- und Seelenleben« zutiefst und erfüllt ihn mit »Bangen vor etwas ihn Bedrohendem« (Berger, 1911, S. 91; Adler, 1913, S. 74). Als er dann zudem nicht zum Minister berufen wird, bricht er vollends zusammen: In nächtlichen Albträumen erscheinen ihm die Verbrecher, die er besonders hart verurteilt hat, besonders eindrücklich ein Kinderschänder. Seine Nerven sind zerrüttet, seine sinnlichen Instinkte steigen an, er sinnt auf Rache am Staat. Als er dann aber mit einem staatswichtigen Spionageprozess beauftragt wird, rafft er sich wieder auf, Triumphgefühle erwachen. In der Vorbereitung auf den Prozess wird er mehrmals von der Frau des Angeklagten aufgesucht. Am Abend vor Prozessbeginn wird auch das kleine Töchterchen gesehen, das für eine Zeit in seinem Zimmer verschwand und sich eine Stunde später, zärtlich werbend, verabschiedete. Danach wird Eysenhardt von einem Polizeiagenten in einem Nachtlokal Nähe Kärtner Ring »in einer für ihn ungünstigen Situation« (Adler, 1913, S. 76) mit Dirnen auf dem Schoß erkannt. Er kehrt zurück zu seinem Büro und richtet nun einen Revolver auf sich. Im Abschiedsschreiben heißt es: »Im Namen Seiner Majestät des Kaisers! Ich habe ein schweres Verbrechen begangen und fühle mich unwürdig, fürderhin mein Amt auszuüben und überhaupt weiter zu leben. Ich habe selbst die härteste Strafe über mich verhängt und werde sie in der nächsten Minute mit eigener Hand an mir vollstrecken. Eysenhardt. Wien, am 10. Juni 1901« (Berger, 1911, S. 170).

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Berger als Individualpsychologe? Stekel reklamiert in einer Rezension der Novelle »die kleine meisterhaft geschriebene Novelle« als literarische Verwertung Freuds, in der er das »Verständnis des Charakters aus verdrängtem Triebleben« hervorhebt, das dann, unter dem Einfluss der »klimakterischen Alters­periode«34, zum Verhängnis führt (Stekel, 1912, S. 358 f.). Das ist sicher nicht falsch, aber nur in einem sehr pauschalen Sinn zutreffend. Tatsächlich ist die Nähe von Bergers Text zur Individualpsychologie verblüffend. Unbekannt ist, ob und wie weit Berger mit Adlers Schriften vertraut war, in welchem Licht er Adler um diese Zeit sah. Hat Wolfgang Metzger Recht, wenn er Berger als »literarischen Vorläufer« Adlers bezeichnet, oder sollte man lieber von »Doppelgängertum« sprechen? Wolfgang Metzger hatte Adlers Text in der Fischer-Ausgabe damals nicht aufgenommen mit der etwas seltsamen Begründung, dass der Text die Grenze zwischen Tatsachenbericht, also Falldarstellung, und »dichterischer Eingebung« verwische und (damit) die Beziehung Bergers zu Adler ganz offenlasse. Das würde einen »Leser, der Adlers Gedankenwelt erst kennenlernen will«, »verwirren« (Metzger, 1974, S. 8). Metzger hat insofern Recht, als Adler sich offenbar meist gar nicht bemüht, zwischen Bergers und seiner Darstellung zu unterscheiden, so dass beides ineinander verschmilzt. Adler scheint in seiner Darstellung lediglich zuzuspitzen, was Berger selbst an Charakterbeschreibung geliefert hat bzw. Berger von seiner eigenen Sichtweise her interpretiert. Interessanterweise weist Adler zu Beginn methodologisch gleich darauf hin, dass die Novelle offen für verschiedene Interpretationen ist, dass »jeder der heute wirkenden Fachpsychologen Bergers Schöpfung als eine Bestätigung […] seiner Lehren in Anspruch nähme. Sieht doch jeder nur, was er weiß, und sucht doch jeder dieses Wissen in die Betrachtung der menschlichen Seele und der Kunst hineinzutragen […]. Wir wollen […] ermessen, ob wir auf dem richtigen Wege sind und wie viel wir mit unserer Arbeitsmethode der vergleichenden Individualpsychologie davon begreifen werden« (Adler, 1913, S. 76). Übereinstimmend mit Bergers Kunst sei das »Arbeitsgebiet«, sich mit 34 Bei Adler heißt es »klimakterische Neurose« (Adler, 1913, S. 82).

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»auffallenden Charakteren« zu beschäftigen, »den Keim eines Schicksals bis in die Kindheit […] zu verfolgen«, sich um »Wandlungen der Persönlichkeit« zu interessieren und die verschiedenen »Betätigungsformen« als »einheitlich« zu begreifen (S. 76 f.). Ähnlich wie an verschiedenen Stellen auch Freud, erweist Adler Dichtern generell, dann auch Berger, hohe Reverenz. Er spricht von »Bewunderung für ihre vollendete Menschenkenntnis«, Künstler als »Führer der Menschheit« und von Kunstwerken als Führer »zu den Erkenntnissen der Individualpsychologie« (S. 73). Und von Berger spricht er vom »psychologischen Künstler« (S. 76).

Individualpsychologische Analyse In der Wiedererzählung von Bergers Fall führt Adler in bestechender Weise in seine Gedankenführung und Metatheorie ein, entwirft er geradezu einen Prototypus des »Nervösen Charakters« und des narzisstischen Machtmenschen. Dies ist zugleich eine Grundlage für die Theorie der Macht und der Mächtigen. Im »Nervösen Charakter« (1912) verweist Adler bereits auf Bergers Eysenhardt, bei dem der Typ des »Obenseinwollens« besonders krass hervortrete und ganz dem »von uns gezeichneten Typus« entspreche. Dazu zählt er bei Eysenhardt u. a.: »der allzu starke Elan des Vaters, das Minderwertigkeitsgefühl […] mit dem kompensatorischen männlichen Protest, Steigerung des Sexualbegehrens, des Willens zur Macht, Vorbereitung zum Vatermord, Fetischismus, richterliche Laufbahn […], Konstruktion von Reue, Gewissensbisse, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen als rachsüchtige Verwerfung des staatlichen Autoritätsgedankens; Verlust des Zahnes und verstärkte Furcht vor der Frau als Ursache eines weiter gesteigerten männlichen Protestes und damit abermals das Arrangement gesteigerten Sexualbegehrens« (Adler, 1912, S. 255). Adler arbeitet also diese Charaktermerkmale von Eysenhardt heraus, dabei spielen u. a. folgende Themen eine besondere Rolle: Berufswahl, Kindheit (Vater), Sexualität, Zahnverlust. Eysenhardt wird durch diese Faktoren und Einflüsse einerseits zum Spielball, was sich in seinen stark schwankenden Stimmungen zeigt, andererseits verarbeitet die Figur diese Einflüsse zu Charaktermerkmalen, die auch in ihrer Gegensätz-

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lichkeit eine Einheit bilden. Besonders überzeugend ist Adler da, wo er die schwierige Aufgabe löst, in den verschiedenen, scheinbar sich widersprechenden, Zügen und inneren Konflikten einen Zusammenhang, eine Einheit herzustellen, und wenn er in Charakter- und Verhaltensänderungen nur Wandlungen der Form der Fiktion sieht, die selbst Konstruktionen sind, die den unbewussten Zielen entsprechen. Beruf(swahl): Adlers Analyse setzt mit der Bedeutung des Berufs an, stellt diese sichtbaren Zeichen somit an eine zentrale Stelle: Berufswahl könne »den innersten Kern eines fiktiven Lebensplanes« enthüllen, sie stehe unter dem »Diktat einer vergöttlichten Persönlichkeitsidee« (Adler, 1913, S. 77) – zumindest die eines gestrengen Richters, der mit Macht ausgestattet ist und diese auch so gnadenlos nutzt wie Eysenhardt. Adler übernimmt Bergers Kennzeichnung: Er ist »ein Fall von Umbildung verbrecherischer antisozialer Instinkte ins Richter­liche« (Berger, 1911, S. 44; Adler, 1913, S. 78). Mit seinem Beruf verfolgt er seinen »maßlosen Ehrgeiz« (S. 78), der beim »Nervösen« immer zu hoch, imaginär, gesteckt ist (S. 80), der Beruf gibt ihm »reichlich Gelegenheit, den Schein seiner Überlegenheit einzuheimsen« (S. 79), der Beruf beweist ihm seine Männlichkeit. Kindheit, Vater: Aus »der freudlosen Isolation« in seiner Kindheit erwuchs »sein kriminalistischer Fanatismus, seine Leidenschaft, im Tun und Treiben der Menschen […] das Verbrecherische aufzuspüren« (Berger, 1911, S. 57). Eysenhardt wird vom Vater mit der Reitpeitsche gezüchtet, bis der Sohn ihn mit der Pistole bedroht. Er hat selbst »Züge vom grausamen Vater«, er lernt, den »Starken auszuweichen, die Schwachen zu bedrücken« (Adler, 1913, S. 79), lernt »die scheinbare Unterwerfung unter die Macht« (S. 78). Eysenhardt als Diener des Staats will sich »zum Herrn der Staatsgewalt aufschwingen« (S. 82), »durch Unterwerfung unter die Macht zur Herrschaft […] gelangen« (S. 83). Die »patriarchalische, väterliche Gewalt« erschien, als der Staat, der im Sinneswandel zum »Gegenspieler« wird (S. 82). »Der Umschwung seiner Gesinnung ins Milde«, in »richterliches Mitleid«, war »die kräftigste Revolte gegen den Staat« (S. 82 f.), denn »Mitleid ist eine anarchistische Empfindung« (Berger, 1911, S. 11). Befangen in der Identifikation mit den Aggressoren endet der Kampf mit dem Vater und mit dem Staat schließlich im eigenen Tod: »Er brachte den Staat um einen treuen Diener […]. Noch einmal hatte er, um zu siegen, auf

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den Kopf des Vaters gezielt – da musste er den seinen treffen« (Adler, 1913, S. 87). Zahn: In der Auseinandersetzung mit dem Vater, der Macht, geht es Eysenhardt, in der Darstellung Adlers, stets auch um das Ringen und die Zweifel um die eigene Männlichkeit, um deren Beweis, deren Erhalt und deren Verlust – das, was Adler als »männlichen Protest« bezeichnet. Dieses Ringen und sein Scheitern symbolisieren sich in dem locker gewordenen, schließlich herausgefallenen Zahn: Verlust, Einbuße männlicher Kraft, Entmannung, was schließlich mit Alter zu tun hat und auf den nahenden Tod hinweist (Adler, 1913, S. 81, 84 f.). Sexualität: Eysenhardt wird beschrieben mit dem »Instinkt« »brutale[r] sexuelle[r] Sinnlichkeit« (Berger, 1911, S. 47; Adler, 1913, S. 78). Er will »die Männer beherrschen, womöglich knechten, die Weiber besitzen« (Berger, 1911, S. 52; Adler, 1913, S. 78). Und von seiner Jugend wird berichtet, dass er sich »ein Paar außerordentlich elegante Damenhandschuhe« kaufte und gelegentlich mit »zärtlichen, anbetungsvollen Küssen« bedeckte, in der Vorstellung, die »heimliche Liebesgunst einer der vornehmen schönen Frauen« zu besitzen (Berger, 1911, S. 59). Im Thema »Sexualität« glaubt man bei Berger sowohl Freuds als auch Adlers Einfluss zu spüren: große Bedeutung der Sexualität für Ausbildung des Charakters (Freud) und Sexualität als Ausdruck von Selbstwertgefühl, Machtgefühl (Adler). Immerhin gibt Berger der Sexualität das Gewicht, dass »der Charakterstamm jedes Menschen […] in seiner Geschlechtlichkeit [wurzelt]. Eigenschaften […] sind entfernte Ausstrahlungen und schwer entzifferbare Anagramme des Geschlechtstriebes« (Berger, 1911, S. 52). Bei Adler sind Selbstzweifel, Unsicherheit, ein versteckter Wille zur Macht die Grundlage, die ihn »aus dem Verkehr mit wertvollen Frauen getrieben hat. Er traut sich bloß die Herrschaft über Dirnen und über Verbrecher zu« (Adler, 1913, S. 84). Er »fürchtet die Frau« und muss sie »entwerten« […][,] »kann sich nur mit Prostituierten vergnügen« (S. 85) und lässt sich schließlich noch zum Kind hinreißen. »Gegen die Dame […] konnte er sich wehren […]. Dem Kinde fiel er zum Opfer« (S. 86).

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Merkmale der Macht und der Mächtigen Die Novelle von Berger und der Text von Adler sind als Fallvignette einer autoritären, narzisstischen Persönlichkeit zu lesen, die ihre Machtposition ehrgeizig erhalten und steigern will. Vermittelt über die Figur Eysenhardt werden uns auch allgemeine Merkmale oder Mechanismen der Macht, der Mächtigen, vorgeführt. In der Psychoanalyse wird die Psychologie der Mächtigen in aller Regel mit den Merkmalen des Narzissmus verbunden. Die narzisstische Persönlichkeit gilt als Personifizierung des Machtstrebens, als eine, die die Machtpositionen für sich zu nutzen versteht (so bei Erdheim, 1982; Cremerius, 1990; Wirth, 2002). Hans-Jürgen Wirth hat dem »dynamischen Wechselspiel zwischen Narzissmus und Macht« ein ganzes Buch gewidmet und dies an biographischen Skizzen von Politikern untersucht. »Der Narzissmus ist nicht nur eine der zentralen psychischen Voraussetzungen zur Ausübung von Macht, sondern die Ausübung von Macht ist auch eine wirkungsvolle Stimulans für das narzisstische Selbsterleben« (Wirth, 2002, S. 75). Solche Mechanismen der Macht, wie sie auch bei Eysenhardt vorkommen, will ich nun kurz skizzieren:

Machtposition und Persönlichkeit Eysenhardt hat Macht als Richter und Staatsanwalt eines mächtigen Staats – als Mensch ist er jämmerlich. Er hat eine Machtposition im repressiven Staatsapparat, Macht über andere, mit der er verurteilen, strafen oder gnädig sein, Schicksal spielen kann. Die soziale Position ist es, die Macht verleiht, sie gibt die Inhalte, die Aufgaben und Ziele und die Grenzen ihres Wirkens vor. Die Position stellt besondere Strukturen, Regeln, Netzwerke bereit, die es dem Positionsinhaber erlauben, seine Funktion auszuüben. Somit ist in Teilen zumindest die Bewältigung der Aufgaben oder der Wirkungsgrad der Macht zunächst unabhängig von der Person, relativ egal, ob die Person dazu besonders begabt ist. »Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch den Verstand«, wie der populäre Spruch heißt. Wir können an Politiker, Manager, Präsidenten und Chefs denken, aber auch an die Posi-

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tion des Vaters, Erziehers, Lehrers und Hundehalters. Die Position, nicht in erster Linie der Charakter, bestimmt daher die grundlegende Ausrichtung des Verhaltens. Adler bezieht sich im »Nervösen Charakter« auf diesen Sachverhalt mit seinem Ausdruck der »Positionspsychologie« (gegenüber »Dispositionspsychologie«; Adler, 1912, S. 319), um damit zu sagen, dass aus der Position heraus jemand handelt oder seine Haltung entwickelt, die Position sein Handeln und Denken prägt und bewirkt. Das Marx’sche Diktum, »Sein bestimmt das Bewusstsein«, geht hier bei Adler ein. Adlers Beispiele für Position sind allerdings ansonsten eher solche, die quasi angeboren, ererbt sind, also z. B. die Position in der Geschwisterreihe, der Generationenabfolge, der Geschlechterposition, aber auch Hautfarbe, geographische und soziale Herkunft. In anderen Fällen, auch bei Eysenhardt, geht es um soziale, berufliche Positionen, und die sind auch gewählt. Diese Wahl der Position, Berufswahl z. B. – meist das Ergebnis einer Serie von Wahlen – bringt ein subjektives Moment ein, im Sinn einer Selbstselektion, in die persönliche Merkmale, Fähigkeiten und Vorlieben eingehen, die dann die persönliche Färbung in der Ausfüllung der Position bestimmen. Für Adler geht z. B. stärkere Aggression und Aggressivität in die Wahl der Richterlaufbahn, des Polizeiberufs, Beruf des Lehrers, des Geistlichen (Hölle!), die Heilkunde ein (Adler, 1908, S. 73). Ein anderer subjektiver Faktor ist es, wie jemand diese Position im Einzelnen ausfüllt, innerhalb der vorgegebenen Regeln. Es gibt milde und strenge Ausübung von Macht, starke und schwache, impulsive oder rationale, Väter, Mütter, Chefs, Politiker etc. Bei Eysenhardt spielt Aggressivität bei der Ausfüllung seiner Aufgaben eine besondere Rolle: Er ist besonders streng, urteilt drakonisch, er schöpft die Spielräume der Gesetze voll aus. Eysenhardts Aggressivität erscheint dabei als Identifikation mit dem Aggressor (Vater, Kaiser) oder tritt als Rache am Aggressor auf. Die Machtposition ist Instrument für das Machtstreben, und das ist für Adler immer mit Aggressivität verbunden und mit Männlichkeit. Wille zur Macht ist für ihn »eine Form des männlichen Strebens«, ist männlicher Protest (Adler, 1912, S. 74). Diese Männlichkeit ist Symbol oder Metapher für Überlegenheit, Kraft, Macht, und diese männliche Macht ist zugleich aggressiv.

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Eysenhardt kann, wie auch andere Menschen in Machtpositionen, seine Charakterneurose, seinen Narzissmus sozial einbringen. Er lebt sein Schwanken zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Omnipotenzgefühl, seinen Traum nach mehr Macht, seine Furcht vor Versagen, seine Lust an der Macht, seine kompensatorische Aggressivität oder seinen Sadismus in dieser Position aus. Reiche und Mächtige können, so schreibt Cremerius, ihre »Neurosen derart in gesellschaftlich akzeptierten Formen unterbringen«, »dass sie sie nicht als krankhafte Störung bemerken, nicht an ihr leiden« – daher auch therapeutisch nicht erreichbar sind (Cremerius, 1990, S. 221). Denen, so schreibt Cremerius weiter, »die sozial Erfolg haben, schaut man nicht auf die Finger«, während Menschen, die sozial scheitern, bei gleichem Verhalten leicht als »Psychopathen« klassifiziert werden (S. 220).

Abhängigkeit der Macht Macht ist der Ausdruck einer sozialen Beziehung, ist relational, Macht ist Macht über andere, sie gründet auf Ungleichheit, oben und unten. Dort, wo es Macht gibt, gibt es auch Ohnmacht und Unterworfene, was in unserer Gesellschaft heißt: Die Wenigen herrschen über die Vielen. Aber es gibt auch die Gegenmacht, die sich zur Wehr setzt, individuell oder kollektiv, im Emanzipationskampf, in der Revolte, in der Revolution. Der Gegensatz Macht–Ohnmacht stimmt somit keineswegs absolut und ist im Einzelnen starken Schwankungen ausgesetzt. Weder ist der Mächtige absolut mächtig noch der Ohnmächtige absolut ohnmächtig, er kann auch Gegenmacht entfalten. Absolut mächtig kann nur ein Gott gedacht werden. Den einsamen, souveränen Mächtigen gibt es nicht mehr oder hat es nie gegeben, Mächtige sind abhängig, weil und insofern sie selbst Diener und/oder in ein Netz von Beziehungen eingebunden und selbst darauf angewiesen sind, dass die Unterworfenen mitspielen, zustimmen. Eysenhardt ist als Staatsanwalt eine Machtfigur, aber er hat eine geborgte, delegierte Macht. Er ist Diener, Diener des Staats, des Kaisers, Repräsentant nur der Macht und damit Unterworfener, was er schmerzlich erleidet und mit seiner Kaisertreue auch demonstriert. Er muss warten auf seine Berufung, ist darin abhängig. Sein Sadismus und seine

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Rache richten sich nicht nur gegen seine Opfer, sondern gegen den Kaiser, gegen seine Position des Unterworfenseins. Er ist Herr und Knecht. Das gilt für die meisten sozialen Ränge. Sie üben in ihrer Position jeweils vorübergehend eine autoritative Funktionen aus, mehr nicht, und dies nicht außerhalb. Zu ertragen ist das mit der Identifikation mit dem Aggressor oder, wie Adler dies ausdrückt, mit der Fiktion, groß und stark zu sein, Macht zu haben. In seiner Schrift nach dem Ersten Weltkrieg, »Die andere Seite« (1919), drückt Adler dies in Bezug auf die freiwilligen, angeblich kriegsbegeisterten Soldaten so aus: »Die meisten von ihnen« taten so, als ob sie den Ruf des Generalstabs selbst ausgestoßen hätten, »in der seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung […] träumten [sie] lieber von selbst gewollten und selbst gesuchten Heldentaten« (Adler, 1919, S. 128 f.; vgl. Kapitel zum Krieg). Auch in den höchsten Rängen sind die Funktionsträger von Politik, Wirtschaft, Kirche, Kultur und Medien mächtige Abhängige, in Netzwerke eingebunden. Sie sind darin alles andere als frei und werden auch unter Druck gesetzt und beeinflusst und lassen dies auch gern zu – von Lobbyisten, Leihbeamten, Sponsoren etc., womit sie natürlich ihre Macht abgeben. Diese Abhängigkeit der Mächtigen, bei uns vorwiegend der politisch Mächtigen von den wirtschaftlich Mächtigen, wird dann natürlich auch legitimatorisch benutzt, es sei alternativlos. Schließlich sind die Mächtigen, Chefs, Politiker etc. auch hilflos, wenn die Untergeordneten, Untergebenen oder die Wähler nicht mitspielen, wenn sie sich verweigern. Macht bedarf der Anerkennung und Zustimmung, ohne dies kann sie nicht sein. Das ist das zentrale Thema in Manès Sperbers »Analyse der Tyrannis« (1937), wo er die Abhängigkeit des Herrschers, aber auch seine Angst aufzeigt (vgl. Kapitel zu Sperber). Macht und Ohnmacht, Macht und Gegenmacht liegen also zuweilen haarscharf nebeneinander. Immer muss um den Erhalt der Macht gerungen werden, das Kräfteverhältnis kann sich abrupt ändern. Das Fundament der Macht ist nicht sicher, im gesellschaftlichen Miteinander ist man aufeinander angewiesen und gibt es Konkurrenten, Mitbewerber und Neider um die Macht. Der Mächtige lebt in ständiger Unsicherheit, der Absturz ist stets möglich. Das alles erzeugt Gefühle von Unsicherheiten, Kränkungen des grandiosen Selbst, Ängste. Sperber nennt die Ängste der Mächtigen

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»aggressive Angst«, die als »affektive Aggression« zu Tage trete und aus der heraus kompensatorisch der Wille zur Macht erwachse (Sperber, 1937, S. 45). Wie weit die Mächtigen dies als Angst erleben, ist damit noch nicht gesagt, sie können Abwehrmechanismen und Kompensationen mobilisieren, die bereits diese Gefühle von Angst aus dem Bewusstsein halten. Auf der instrumentellen und technischen Ebene wird kompensatorisch ein ganzes System von Sicherungen aller Art entwickelt, durch Armee und Polizei, durch Panzerglas, Zäune, Mauern, durch Abhörsysteme, online durch Überwachung, Geheimdienste. Der Überwachungs- und Sicherheitsstaat zeugt von diesen Ängsten und schürt sie. In einem Artikel der Zeitung »Die Zeit« (»Die Angst der Chefs«, 5.6.2008) wurde von der »Paranoia« in den Chefetagen gesprochen, von »einem Klima der Angst, das die Manager fast jedes deutschen Konzerns umgibt« – und zwar als Misstrauen und Kampf der Manager untereinander. Eysenhardt ist Spielball seiner Ängste und seines Ehrgeizes. Aufstieg und Fall durchlebt er quälend, Reue und Rachegefühle wechseln ab. Er durchlebt Albträume und Halluzinationen, in denen seine Verurteilten als Rächer erscheinen; er lässt sich niederdrücken von dem Symbol für Verlust von Vitalität und Männlichkeit, dem Verlust des Zahnes, bis hin zu seinem Selbstmord. Als sich Eysenhardt durch die Nichtberufung zum Minister gedemütigt fühlt, wird für ihn der Staat zum »Gegenspieler«. Daraus erwächst für den Staats-»Diener« kompensatorisch der »unstillbare Drang, sich zum Herrn der Staatsgewalt aufzuschwingen« (Adler, 1913, S. 85). Aus der Unsicherheit und Abhängigkeit der Machtposition entsteht auch der Stachel der Kompensation, der Ehrgeiz, das ständige Streben nach Erhalt und nach Steigerung von Macht und Sicherheit, als unersättlicher Ehrgeiz.

Macht und (sexuelle) Lust Macht zu haben, macht Lust, Herrschen gibt Sicherheit und Selbst­ bewusstsein. Eysenhardts Lust an der Macht kann man erschließen: Er wird bewundert und gefürchtet, er ist ein glänzender Redner, er ist ein

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kriminalistisches und detektivisches Genie. Daraus spricht Lust und das bringt narzisstischen Gewinn. Direkt drückt er die Lust an der Macht als Vorfreude auf die erwartete Beförderung aus: Er wird freundlich, elegant. Hans-Jürgen Wirth (2002) macht das immer wieder in seinem Buch deutlich: Macht bringt Anerkennung, Aufmerksamkeit und damit narzisstische Gratifikation, ist Balsam für das grandiose Selbst. Machtpositionen heizen den Narzissmus an, steigern ihn zur Machtgier, Macht wird zur Droge, sie führt zum Machtrausch, Größenwahn, zur Prunksucht, an der so mancher Fürst gescheitert ist. Ähnlich schreibt Stavros Mentzos: »Herrsein«, das ist »der gehobene narzisstische Zustand« (Mentzos, 1993, S. 183). Er spricht auch von der Funktionslust, vom Machterlebnis, als von der Lust am Gefühl der Allmacht, des Herrseins über Schicksale (S. 100). Zuweilen ist Lust an der Macht auch mit Lust am Sex als Macht­ gebaren verbunden, als weitere Quelle narzisstischer Befriedigung. Für Adler ist Sexualität ohnehin ein Ausdrucksfeld auch von Machtbedürfnissen, d. h., Machtstreben und manches sexuelle Verhalten können dieselbe Bedeutung und dasselbe Ziel haben – und dies zeige sich u. a. in der sexualisierten Sprache (»sexueller Jargon«), aber auch in irgendwie auffälliger, übersteigerter oder abgespaltener Sexualität. Diese Sicht Adlers hängt nicht nur mit seiner Skepsis gegen die Triebpsychologie zusammen, sondern auch mit seiner Geschlechtermetaphorik, demgemäß das Streben nach Macht mit dem Streben nach Männlichkeit gleichgesetzt wird. So sei Eysenhardts sexuelles Verhalten eine »Analogie, nicht der Ursprung« des Machtstrebens«: den Starken (den Männern) auszuweichen, die Schwachen zu bedrücken (Adler, 1913, S. 79). »Unsicherheit« habe ihn »aus dem Verkehr mit wertvollen Frauen getrieben« (S. 84). In Zeiten vermehrter Unsicherheit und Enttäuschung gehe Eysenhardt noch häufiger in die einschlägigen Lokale der Kärntner Straße, was nicht »einer biologischen Welle der Sexualkraft entspringt, sondern ein ­Corriger la fortune, eine Selbsttäuschung ist, als deren Grundlage der verstärkte Wille zur Macht […] in Kraft getreten ist« (S. 82), d. h., das verstärkte Sexualleben ist Ausdruck eines gesteigerten kompensatorischen, sich selbstvergewissernden Willens zur Macht, eines männlichen Protests. Eysenhardt, der Hüter der Moral und Sitte, führt ein Doppelleben – an dem er scheitert. Selbstverständlich muss dieses Doppelleben im

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Verborgenen bleiben, steckt in dieser Ebene eine Dimension von Heimlichkeit bis zur Lüge, die ohnehin und auf verschiedenen Ebenen kon­ stitutiv für das Wirken von Macht ist. Von dieser Verknüpfung von Sexualität und Macht erfahren wir auf den Klatschseiten manches über Prominente aus der Politik und Wirtschaft und Kulturwelt. Dort spielen Macht und Geld, das selbst Symbol für Macht ist, ebenso eine Rolle. Weniger harmlos ist der Zusammenhang von Sexualität und Macht natürlich bei sexuellem Missbrauch, wo die Unterwerfung eines Kindes oder eines Abhängigen die Rolle spielt. Eysenhardt hatte Sexualstraf­ täter und »Kinderschänder« besonders hart und drakonisch bestraft und diese Täter erscheinen ihm als rächende Halluzinationen. Wir verstehen dies am Ende der Novelle als aggressive Abwehr der eigenen sexuellen Versuchung, denn nun hat er sich selbst zum sexuellen Missbrauch hinreißen lassen (»schweres Verbrechen«, »dem Kind fiel er zum Opfer«, Adler, 1913, S. 86) – zumindest wird das nahegelegt. Sexueller Missbrauch als Missbrauch von Macht – die vielleicht kompensatorisch eingesetzt wird – aus Mangel an anderen Kompensationsmöglichkeiten oder Angst vor einem starken, unabhängigen Partner oder einer Partnerin oder als Rache an erlittenem Leid. Auch jede Art von Vergewaltigung ist von dem Zusammenspiel von Sadismus und Unterwerfen geprägt, ganz brutal und offensichtlich in Kriegen: Regelmäßig und offenbar universell scheinen militärischer Sieg, der Einmarsch und die Besetzung eines Landes mit Vergewaltigungen verbunden zu sein, bei der sich die geborgte, vorübergehende Macht der Soldaten in brutaler, kruder Form auslebt. Bekannt ist diese Verknüpfung auch von KZs und anderen Gefangenenlagern, auch in der Folter spielt Sexualität regelmäßig eine Rolle, sexuelle Demütigung der Opfer und sexuelle Lust der Folterer. Dort wird die Kontrolle über lebende Wesen, die körperliche und seelische Zerstörung und Demütigung, absolut (z. B. Abu Ghuraib, Guantanamo). In Freud’scher triebtheoretischer Terminologie und Denkweise erklärt man diese sexualisierte Gewalt damit, dass unter solch deprivierten Lebenslagen von Soldaten die Triebe gehemmt werden und nun »zur Befriedigung durchbrechen« (Freud, 1915, S. 335 f., 338). Das wirkt plausibel, ist aber nicht ausreichend. Denn bei dieser Art von sexualisierter Gewalt geht es um den Einsatz von Macht durch den

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Machtapparat, der sich wohl des individuellen Triebdurchbruchs und des Machtrauschs bedient.

Lächerlichkeit Eysenhardt als Person hat etwas Erbärmliches und Lächerliches: seine Lebensweise, sein Auftreten, seine sexuellen Eskapaden. Auch ist er Herr über die Unterwelt, Herr über die Verbrecher- und Dirnenwelt, weil er sich die Oberwelt, die sog. »ehrenhafte« Gesellschaft, nicht zutraut – darin ist er lächerlich, deshalb muss er sich verstecken, lebt er zurückgezogen und einsam. Lächerlich ist auch, dass er in tiefste Depression verfällt, als sein Zahn herausbricht, und damit das Symbol des Zahns, als Symbol von Kraft und Stärke, wörtlich nimmt. In Adlers Theorie der Macht als der Stärke aus der Schwäche ist das Lächerliche von vornherein enthalten: Es ist ein Machtstreben von einem, der es nötig hat, ein Streben nach Geltung und Anerkennung aus einer Schwäche heraus; es ist ein Jagen nach dem Schein, nach einer Fiktion von Größe, eine Aufgeblasenheit, ein Omnipotenzgehabe, ein Gernegroß. Der männliche Protest ist eine lächerliche Pose. Adler war mit dieser Darstellung der tragischen Lächerlichkeit ganz sicher von Nietzsche inspiriert, der sich mit seiner Absage an die »großen Erzählungen« von der Autorität der erstarrten Wissenschaft befreite, der sich allerdings selbst in die Lächerlichkeit der großen Posen stilisierte, mit seinem Übermenschen und seiner Gottähnlichkeit, bis er sich in seinem Wahn als der »Gekreuzigte« verstand. Manès Sperber hat in diesem Adler’schen Sinn verallgemeinernd die »Lächerlichkeit der menschlichen Existenz« (Sperber, 1937, S. 24) aufgegriffen und von der »Komödie« (Sperber, 1971, S. 78 f.) gesprochen, die wir als Darsteller und Schwindler (S. 100, 105) aufführen. Es ist die Lächerlichkeit dieser unendlichen Mühe, die wir aufwenden, um nicht übersehen zu werden, um Anerkennung zu erringen. Und dabei klammern wir uns oft an Fiktionen von Größe, an Unwahrheiten oder Teilwahrheiten und halten an ihnen fest (S. 78 f.). Im »Willen zur Macht« manifestiere sich »die Flucht vor der Lächerlichkeit« (Sperber, 1937, S. 25).

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Horst Gröner hat in seinen Sammlungen von Karikaturen über und zur individualpsychologischen Sichtweise sehr adlerianisch gedacht und diesen Zug der Individualpsychologie zu Humor und Selbstironie aufgegriffen und weitergeführt (vgl. Gröner, 1992). Die andere Seite: Das Lächerlichmachen der Macht und Autorität ist ein beliebter Umgang, um sich von der Schwere der Macht und Unterdrückung zu befreien. In den Streichen gegen den Lehrer, in Karikaturen, Kabarett, Komik und Comics, Comedy, selbst beim rheinischen Karneval oder beim bayerischen Nockerberg, geht es im Wesentlichen um ein – bayerisch ausgedrückt – »Derblecken« der Oberen. Überall, wo es Macht gibt, gibt es das Lachen über die Macht, nichts ist schöner als das, über nichts wird so hemmungslos gelacht wie über sie. Der König ist nackt. Davor haben die Mächtigen auch Angst, aber die Mächtigen können dieses Lachen zulassen, denn es ist Ventil und mildert die Wut und Aggression der Beherrschten. Aber sie haben auch Angst davor, denn die Befreiung von der Macht durch das Lachen kann der erste Schritt sein, sich von der Macht wirklich zu befreien.

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Alfred Adler und der Erste Weltkrieg

Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 rief bei der Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der Intelligenz eine Welle nationalistischer Begeisterung in Deutschland und Österreich hervor. Es erschien eine ganze Reihe von Aufrufen, Unterschriftenaktionen, Vorträgen und Broschüren zu den »Ideen von 1914« – von Psychologieprofessoren, u. a. von Wilhelm Wundt, Eduard Spranger, Oswald Külpe und William Stern. Und für die Mediziner und Psychiater war der Krieg ein neues Aufgabenfeld, dem sie sich mit Eifer und Pflichtgefühl widmeten. Auch die Sozialdemokratie beeilte sich, für die erforderlichen Kriegskredite zu stimmen oder (in Österreich) sich die Kriegsparolen des Staats zu eigen zu machen. Nur eine verschwindende Minderheit protestierte gegen den Krieg. Allerdings hielt die allgemeine Begeisterung nicht lange vor, erste Enttäuschungen und Ernüchterungen machten sich bereits ein paar Monate später breit. Als dann das Blutvergießen nicht mehr enden wollte, wie an der Front von Verdun 1916, als Hunger und Elend in der Heimat und diktatorisches Regiment im Inneren zunahmen, wurden die Stimmen gegen den Krieg zahlreicher, offener und militanter. Und als der junge österreichische Sozialdemokrat Friedrich Adler (Sohn des sozialdemokratischen Parteiführers Victor Adler) im Oktober 1916 in Wien den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh erschoss, war die Partei entsetzt und führte die Tat auf einen getrübten Geisteszustand zurück. Aber für viele galt das als befreiende Tat, die »allenthalben stille Begeisterung weckte« (Adler, 1919, S. 124). Trotzdem aber wurde die Vaterlandsverteidigung noch bis zum Sommer 1918 als Pflicht verstanden und auch die Sozialdemokratie hielt ihre Durchhalteparolen aufrecht. Alfred Adler, der seit seiner Studienzeit der Sozialdemokratie nahestand bzw. Mitglied war, stand zunächst ebenfalls auf der Seite der

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Befürworter des Krieges. Er habe, im Gegensatz zu seiner russischen, politisch bei Trotzki stehenden Frau Raissa, zunächst »zu Österreich gehalten«, wie Adlers Biographin Phyllis Bottome berichtet (Bottome, 1939, S. 127). Und sein Freund Carl Furtmüller schreibt: »Bei Kriegsausbruch war er der Meinung, dass Österreich einen gerechten Krieg führe« (Furtmüller, 1946, S. 260). Ähnlich soll ja auch Freud spontan gesagt haben, »meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn«, wie Jones schildert. Und Freud schrieb entsprechend am 26.7.1914 an Karl Abraham (nach dem österreichischen Ultimatum und der Teilmobilisierung gegen Serbien): »Ich fühle mich aber vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher […]. Die Stimmung ist überall eine ausgezeichnete« (Freud/Abraham, 2009, S. 421). Diese Kriegsbefürwortung schlug bei Adler schon vor Kriegsende um in Entsetzen und in eine pazifistische Haltung, die sich u. a. in der Propagierung eines wirklichen, völkerverständigenden Gemeinschaftsgefühls ausdrückte. Adler war 1914 44 Jahre, niedergelassener Arzt, Vater von vier Kindern, hatte in und nach seiner Studienzeit »gedient« und war ausgemustert. So habe er für sich keine Gefahr gesehen, einberufen zu werden. Aber ab 1916 wurden weitere Jahrgänge rekrutiert (Schiferer, 1995, S. 98; Hoffman, 1997, S. 122). Da bekannt ist, dass Adler als Militärarzt gedient hat, hat es, scheinbar schlüssig, in allen bisherigen einschlägigen Publikationen geheißen, Adler sei 1916 »eingezogen« worden. So bei Ellenberger (1973, S. 787), auch Schiferer (1995, S. 98), dann Hoffman (1997, S. 127). Inzwischen ist durch die Publikation von Feldpostbriefen Adlers offenbar geworden, dass das nicht stimmt. Wir erfahren hier in einem Brief vom 7.10.1914 an den Oberst von Spitzmüller, dass Adler sich »bei Ausbruch des Krieges freiwillig als Arzt gemeldet« hatte und »seit ca. 5 Wochen den Dienst eines Arztes auf der II. chirurgischen Abteilung im Reserve-Spital I in der Stifts-Kaserne« Wien versieht (Adler, 2014, S. 195). Diese Meldung als Freiwilliger und der frühe Zeitpunkt 1914 stehen also völlig im Widerspruch zu allen bisherigen Aussagen. Sie ist angesichts der so berichteten, anfänglich akzeptierenden Haltung zum Krieg nicht wirklich überraschend, vor allem auch, wenn wir sie zusammen mit verschiedenen ambivalenten Positionen sehen, die

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Adler zur Kriegspsychiatrie und zu den Kriegsneurotikern vertritt. Sie ist aber – wie auch immer pragmatisch motiviert – im Hinblick auf die späteren, kritischen Äußerungen zum Krieg und zu den Kriegsfreiwilligen doch etwas überraschend. Noch viel erstaunlicher aber ist, dass, trotz dieser Akzeptanz, diese Freiwilligkeit bisher nie genannt oder erwogen, vielmehr verschwiegen und geleugnet wurde – offenbar sollte ein Bild von Adler als pazifistisch erhalten bleiben und vermutlich hat Adler selbst dazu beigetragen. Durch die falsche Annahme, Adler sei 1916 eingezogen worden, ergab sich eine irrtümliche Datierung der Abfolge seiner Standorte im Krieg. So wird bei Ellenberger, Hoffman und Schiferer die Abfolge angegeben mit: Simmering, Krakau, Grinzing. Nur bei Furtmüller heißt es richtig (aber ohne Angabe der Freiwilligkeit): »Adler begann seinen Dienst als Militärarzt in einem Wiener Krankenhaus. Nach mehreren Versetzungen […] kam er wieder nach Wien, wo er während der letzten Kriegsmonate arbeitete« (Furtmüller, 1946, S. 259). Und der Standort Krakau wird von den Autoren mit 1917 angesetzt, aber Adlers erster Brief aus Krakau stammt vom November 1916 (7.11.1916). In diesem Monat hielt er dort auch einen Vortrag – das war auch bisher bekannt. Mit den inzwischen vorliegenden Briefen (Adler, 2014) können wir die Einsatzorte Adlers anders rekonstruieren, allerdings bleiben auch hier noch Unklarheiten und offene Fragen, z. B. über die jeweilige Dauer der Aufenthalte: 1914 (ca. 1. September) Stiftskaserne Reserve-Spital I, Wien, 1915 (November) Rudolf Spital, Wien, [zudem denkbar: 1915/16 Kriegsspital Simmering; vgl. Schiferer, 1995, S. 98; Hoffman, 1997, S. 127], 1916 November Krakau Garnison Spital 15, Neurologie, 1916/17 Brünn Landwehrspital, 1917 Februar/März Krakau, [zudem denkbar: August/November 1917 auch Grinzing; vgl. Schiferer, S. 101; Hoffman, S. 131]. Mit den vorliegenden Feldpostbriefen ist noch ein anderes Detail zu korrigieren bzw. genauer zu bestimmen: Es war bisher gelegentlich

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erwähnt worden, dass Adler eine ärztliche Beziehung zu der Frau eines hochgestellten Generals hatte, die ihm im Krieg von Nutzen gewesen sei – und zwar mit dem Standort Krakau verbunden, da die Verlegung eines Militärarztes ohne Rang in ein Garnisonshospital in einem unmittelbaren Kriegsgebiet ungewöhnlich war (vgl. Ellenberger, 1973, S. 788; Schiferer, 1995, S. 98; Hoffman, 1997, S. 130). Durch die Briefe wissen wir dies nun etwas genauer: Adlers langjährige Patientin war die Frau »Generalin« Anna Kolarz, woraus sich ein herzlicher Kontakt zur weiteren Familie, zu deren Tochter, Frau »Oberst« von Spitzmüller, und deren Mann, Oberst von Spitzmüller, entwickelt hatte. An diese Familie sind alle diese Feldpostbriefe (mit zwei Ausnahmen) gerichtet, sie haben daher einen rein privat-professionellen Charakter, weitgehend ohne Bezug zur Kriegstätigkeit. Mit Beginn des Krieges konnte Adler nun diese Beziehung – in sehr engen Grenzen, wie ich meine – zu seinem Vorteil nutzen, was an den beiden Briefen an den Oberst von Spitzmüller zu sehen ist: Er bittet den Oberst um Hilfe bei seinem Einsatz im Standort Wien. Er ersucht am 7.10.1914 den Obersten um »eine offizielle Bestätigung« seines Platzes am »Reserve-Spital I in der Stifts-Kaserne« (Adler, 2014, S. 195). Vermutlich ist auch die Verlegung nach Krakau auf diesen Einfluss zurückzuführen, das ist aber nicht erwiesen. Als Arzt versah Adler seinen medizinischen Dienst im Lazarett. Aus den Briefen geht nicht wirklich hervor, was er dort tat, er war wohl vorwiegend in Nervenabteilungen als Nervenarzt tätig, u. a. »mit der Untersuchung von Nervenverletzungen« (Adler, 2014, S. 200). Dazu gehörte sicher nicht zuletzt, Soldaten mit neurotischen Leiden auszulesen, von Simulanten zu unterscheiden oder rasch so zu behandeln, dass sie wieder für die Front oder wenigstens für den »Heimatdienst« dienstfähig wurden. Zum besseren Verständnis der Situation als Nervenarzt im Kriegsdienst möchte ich einige Informationen zur »Kriegsneurose« und Kriegsneurosenbehandlung im Ersten Weltkrieg vorausschicken (vgl. Bruder-Bezzel, 2016). Kriegsneurosen waren in diesem Krieg epidemieartig aufgetreten. Deren Hauptsymptome waren Zittern im Zusammenhang mit Granatexplosionen, aber es traten auch viele andere Symptome auf, wie Tics, Lähmungen, Krämpfe, psychogene Blindheit, Taubheit und mehr. Diese Erscheinungen gefährdeten natürlich in hohem Grad

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die Wehrkraft durch Dienstunfähigkeit und durch »Zersetzung« der Truppenmoral. Die Psychiater waren deshalb aufgefordert, mit allen Mitteln dagegen vorzugehen und zusätzlich alle Rentenansprüche abzuweisen, die sich aus der Krankheit ergeben würden. Die gesamte Psychiatrie und Neurologie bot ihre Kräfte auf, um den kriegführenden Regierungen zu dienen, indem sie ihre Theorie der Neurose und ihre praktischen Behandlungsmethoden den Erfordernissen und Wünschen des Militärs anpassten – die Psychiatrie als Wissenschaft und Profession bekam dadurch großen Aufschwung (Fischer-Homberger, 1975, S. 88; Riedesser u. Verderber, 1996; Hofer, 2004). Eine Fülle von Methoden wurde eingesetzt, die alle mehr oder weniger stark von der militärischen Disziplin bestimmt waren. Ihr Kern war, wie Adler schreibt, den »Eigenwillen zu biegen [1920: brechen]« (Adler, 1918a, S. 294), die Behandlung mehr als den Kriegsdienst und den Tod zu fürchten. Es wurden Therapien entwickelt, die dem Soldaten mit Gewalt, Schreck und Angst sein Symptom so unerfreulich wie möglich machten, Therapien, die als Folter zu bezeichnen waren (Roth, 1987, S. 15; Riedesser u. Verderber, 1996, S. 43; Hofer, 2004, S. 284). Dazu gehörten Isolationshaft, Suggestivtherapie, erzieherische Wachsuggestion, Hypnose, repressive Therapiemethoden wie Schmerz-, Zwangs-, Schreckprozeduren, totale Isolierung, Dauerbäder, Scheinoperationen und sehr schmerzhafte Faradisationen. Die »Kaufmannsche Kur« mit Starkstrom war die bekannteste und zugleich brutalste Methode (vgl. Roth, 1987, S. 15 ff.; Riedesser u. Verderber, 1996, S. 48 ff.). Je länger der Krieg dauerte und je mehr er sich zuspitzte, desto erfolgloser wurden die psychiatrischen Behandlungen – nur eine verschwindende Anzahl erreichte 1918 noch die »Frontdiensttauglichkeit« (Hofer, 2004, S. 361). Die Psychiatrie war gescheitert. Auch die theoretische Erklärung der Erscheinungen, ob es sich um ein Trauma oder um eine Neurose handelt, wurde den Kriegserfordernissen angepasst: Vor und nach Beginn des Krieges galt die Unfalls- und Kriegsneurose als eine durch ein mechanisches oder psychologisches Trauma verursachte Krankheit, die somit einer milden Behandlung und einer Entschädigung bedurfte. Diese Traumatheorie (von Hermann Oppenheim vertreten) war nun während des Krieges nicht mehr opportun und wurde daher auf der »Kriegstagung« 1916

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endgültig gestürzt, zugunsten einer ausschließlich individualisierenden, psychogenen Erklärung, und zwar in ihrer Schuld zuweisenden und moralisierenden Form. Die Kriegsneurose galt nun als ein rein psychogenes »hysterisches Leiden«, für das ein Trauma keinerlei ätiologische Bedeutung habe, sondern Ausdruck einer degenerativen Anlage eines minderwertigen Psychopathen sei (vgl. Riedesser u. Verderber, 1996, S. 32). Es galt als zielgerichtetes, direkt dem Willen unterworfenes Leiden, bei dem das Unbewusste keine Rolle spielt. Ernst Kretschmer und Karl Bonhoeffer machten sich allen voran stark für die Willensidee und für die Kritik am Unbewussten. Dem Willen unterworfen hieß, der eigenen Schuld und Verantwortung anheimgestellt, und von daher rechtfertigte die »Kriegshysterie« eine harte Behandlung und das Versagen von Rente. Für die Ärzte, die sich zunehmend dem »Kollektivethos« unterwarfen, galten Kriegsneurose und Simulation als Boshaftigkeit, Unkameradschaftlichkeit, Feigheit (Fischer-Homberger, 1975, S. 165; Hofer, 2004, S. 350). In der ärztlichen Front gegen Rentenansprüche gab es sogar Stimmen, die den Geschädigten noch haftbar machen wollten, wenn er aus »psychopathischem Eigensinn […] nicht diese Störungen beseitigen will, so wird billigerweise er und nicht die Gesellschaft die Folgen zu tragen haben« (Kretschmer, 1917, zit. nach Riedesser u. Verderber, 1996, S. 89). Die Wende in der Betrachtungsweise von der organischen Traumatheorie zur psychogenen Neurosentheorie, verknüpft mit der sog. soziologischen Erklärung zur Entschädigungsfrage, bewirkte bei den Psychiatern eine gewisse Hinwendung zur Psychoanalyse, die sie freilich selektiv und in ihrem Sinn verstanden. Die psychogene Erklärung, Krankheitsgewinn und Flucht in die Krankheit als Schlagworte, wurden von nun an akzeptiert. Zudem gewann auch die Methode der Psychoanalyse an Interesse, da ja die psychiatrischen Zwangstherapien gescheitert waren. Auch die Psychoanalytiker leugneten letztlich den Kausalzusammenhang und eine direkte Pathogenese durch das Trauma und sparten nicht mit negativen Werturteilen. Aber sie waren in ihren Behandlungen, die das Unbewusste ansprachen und aufs Sprechen Wert legten, milder. So bot sich auch die Psychoanalyse am Ende des Krieges als Alternative an.

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Ende September 1918 fand in Budapest dazu eine internationale Konferenz statt unter Anwesenheit hoher militärischer Gäste. Referenten waren Karl Abraham, Sándor Ferenczi und Ernst Simmel, die in leitender Position in Speziallazaretten bereits Erfahrungen mit der Behandlung von Kriegsneurotikern hatten (vgl. Freud, 1919; Hofer, 2004, S. 361 ff.; Bruder-Bezzel, 2016, S. 251 f.). Für Ferenczi und Abraham sind Kriegsneurosen Angst- oder Konversionshysterie auf Grundlage »narzisstischer Selbstliebe« und »infantilen Narzissmus« (Abraham, 1919; S. 33 ff.; Ferenczi, 1919, S. 25 f.). Simmel spricht 1919 allerdings von »kriegsgeborenen Affekten des Schreckens, der Angst, der Wut« (Simmel, 1919, S. 44). Und Freud sieht in der »traumatischen Neurose« einen »Ichkonflikt« zwischen dem friedlichen und dem kriegerischen Ich (Freud, 1919, S. 5). Wie war nun Adler als Lazarettarzt mit der Auslese und Behandlung von Kriegsneurotikern und mit der Theorie der Kriegsneurose umgegangen? Phyllis Bottome schreibt, dass es »one of Adler’s most painful duties during the war« gewesen sei, »to advice what soldiers after convalescense were fit to be sent back to the trenches« (Bottome, 1939, S. 118; 2013, S. 128). Furtmüller dagegen berichtet, Adler sei zumindest mit Simulanten »äußerst streng« verfahren, auch dann, »als er schon Kriegsgegner war« (Furtmüller, 1946, S. 262). Wir wissen nicht, wie Adler praktisch gehandelt hat, ob er selbst an der »Behandlung funktioneller Neurosen […] mit starken elektrischen Strömen« beteiligt war, auf die er in einem Brief an einen Kollegen hinweist, dass es diese wohl in seinem derzeitigen Spital, dem Rudolf-­ Spital, gab (Adler, 2014, 9.11.1915, S. 199). Aber er hält über diese Thematik im November 1916 einen Vortrag »im militärärztlichen Verein« in Krakau, in Anwesenheit »des Sanitäts-Chefs und des Festungskommandanten«, worauf er in seinem Brief vom 7.11.16 hinweist (Adler, 2014, S. 201; auch Adler, 1918a, S. 304). Wir haben von diesem Vortrag im November 1916 eine – vielleicht veränderte – Fassung vom Januar 1918 (1918a) und eine nur ganz leicht veränderte Fassung von 1920/1974, aus der ich zitiere. Der Vortrag ist im Wesentlichen ein wissenschaftliches Übersichtsreferat über die seinerzeit gängigen Auffassungen zur Kriegsneurose und vor allem ihrer Behandlungsformen.

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Eigene Positionen sind in die Darstellung eingestreut, zum Teil auch durch Zitate anderer individualpsychologisch orientierter Autoren (Wexberg, Strasser) ausgedrückt. Distanzierungen zur Militärpsychia­ trie findet man hier eher nicht – freilich wäre das beim Vortrag im Garnisonsspital auch nicht der geeignete Rahmen gewesen, später aber doch. Adler betrachtet die Kriegsneurose wie jede andere Neurose und sieht darin auch 1917 eine Bestätigung seiner Neurosentheorie: »Das wachsende Verständnis für die Kriegsneurose hat schlagend die Richtigkeit der individualpsychologischen Anschauung ergeben« (Adler, 1917, S. 94). Damit gerät er in große Nähe zu der allgemeinen Auffassung der Militärpsychiater und auch der Psychoanalyse: Er lehnt die Traumatheorie ab, also kausale, traumatisierende Faktoren, betont die mehr oder weniger bewusste oder willentliche Verantwortlichkeit für die Neurose und den sekundären Krankheitsgewinn und lehnt entsprechend auch eine Rentenzahlung ab. Auch die entwertende Tendenz ist sichtbar. Für Adler ist die Kriegsneurose wie jede andere Neurose ein »Mittel des Ausweichens« »unter der Herrschaft des sichernden Ziels der Zukunft«. Der Neurotiker sei ein Mensch, der »in einem subjektiven Gefühl der Schwäche« vor den »allgemeinen Forderungen des Lebens zurückweicht«, der sein Symptom gemäß dem neurotischen Zweck fixiert (Adler, 1918a, S. 296), der aus seiner Schwäche heraus sich einen »sekundären Krankheitsgewinn« auf Kosten der Allgemeinheit erschleichen will. Für die Ablehnung der Traumatheorie bezieht er sich auf seinen jungen Anhänger Erwin Wexberg, der – unklar, wo – ebenfalls sehr abwertend und ohne Verständnis gesagt habe, »wer bei einem Erlebnis […] derart verändert wird, wird nicht erst daran krank, sondern ist schon krank« (S. 300).35 Mit einem längeren, in gleiche Richtung gehenden Zitat von Charlot Strasser, dem Schweizer Psychiater und Schriftsteller (vgl. Kapitel zu Ehrenstein), der Adler in dieser Zeit sehr unterstützte, endet sein Vortrag: »Individualpsychologisch lässt sich hinter der Neurose immer der Schwächling erkennen. Seine Unfähigkeit, sich in den Allgemeinheitsgedanken einzufügen, erweckt gegen denselben Aggression, die 35 Erwin Wexberg, geb. 1889, wurde als Mediziner zur Front eingezogen und bekam zwei Tapferkeitsmedaillen, 1914 und 1917 (vgl. Kümmel, 2010, S. 26 f.).

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sich neurotisch gestaltet. Eine Therapie muss den grundlegenden Konflikt zwischen Staatspflicht und Individualität lösen können« (S. 303).36 Für die Behandlung referiert Adler relativ ausführlich und »neutral« die verschiedenen Ansätze dieser Suggestions- und Zwangsbehandlungen. Er hebt den prinzipiellen Zwangscharakter der Behandlung hervor, bezogen auf ihren Zweck und ihr Ziel: Der »Zweck der Militärneurologie« liege »selbstverständlich« darin, »den Erkrankten nicht sich und der eigenen Verfügung, sondern […] dem Dienste und der Allgemeinheit zuzuführen« (Adler, 1918a, S. 291). Und: »der Neurotiker« befinde sich hier »in einer ihm aufgezwungenen Situation« (S. 291). Auch bleibe das Ziel begrenzt auf Symptomerleichterung/-beseitigung, nicht auf Heilung. Empirisch komme es sogar sehr selten wieder zu einer »Felddienstfähigkeit« (S. 293, 299). Er hebt »die Bedeutung der individualpsychologischen Methode« hervor, »einer erzieherischen Psychotherapie, bei der die seit Kindheit bestehenden neurotischen Grundlinien des Charakters als fehlerhaft und irrtümlich aufgedeckt werden« (S. 296). »Psychotherapie im engeren Sinn«, Methoden, die »vor jedem Eingriff erst die Psyche des Patienten erschlossen haben« (S. 294), schließt er aus. Im Weiteren empfiehlt er das Versagen der Entschädigung, also der Rente (S. 296). In der späteren Zeit, als er gegen den Krieg schrieb, hat er seine theoretische Auffassung der Kriegsneurose als Aktivierung bestehender Neurosen und seine entwertende Haltung gegen den Kriegsneurotiker aber nicht geändert. Auch in der Entschädigungsfrage sehen wir keine andere Haltung. Weiterhin sieht er in der Kriegsneurose eine Bestätigung seiner Neurosentheorie. Dazu gibt es 1920 eine längere Interpretation eines Falls anlässlich des Begehrs einer Invalidenrente. Er sieht bei solchen Kriegsteilnehmern, die tatsächlich in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt seien, keine »Bewegungen«, um sich »die früheren Fertigkeiten wieder zu erobern«. Es zeigten sich hier »alte nervöse Charaktere«, die Entscheidungen ausgewichen und Gemeinschaften gemieden hätten. Die

36 Adler nennt als Quelle: Strasser, Schweizer Korrespondenzblatt 1917. Das könnte Strassers Aufsatz über »Unfall- und Kriegsneurose« in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie 1916 entsprechen. Das Zitat selbst konnte ich dort nicht finden.

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Erkrankung an der Front habe ihnen geholfen, sich aus der (Kriegs-) Gemeinschaft zurückzuziehen (Adler, 1920, S. 26 ff.). Andererseits gibt es auch Relativierungen und Distanzierungen zu den Behandlungen: In einer Anmerkung von 1919 im »Nervösen Charakter« von 1912 heißt es: »Die militärische Einstellung der Kriegsneurologie musste zu dem traurigen Ergebnis der elektrischen Folter führen« (Adler, 1919 in 1912, S. 65). An anderer Stelle im gleichen Buch erklärt er 1919 »die elektrische Folter und ähnliche sadistische Übungen« damit, dass von den Neurologen zwar »Neurose« diagnostiziert, diese aber wie eine »Simulation« behandelt wurde (S. 234). In die Fassung seines Vortrags zur Kriegsneurose von 1916/1918 fügt er 1920 hinzu: Er habe sich in seinem Vortrag (1916) »gegen die Starkstrombehandlung« gerichtet und dazu gemahnt, »alle Behandlungsmethoden zu vermeiden, die die menschliche Würde verletzen« (Adler, 1918, S. 297). Am Ende des Krieges war Adler dann mit aller Entschiedenheit gegen den Krieg, er war Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat, bekannte sich zur »sozialistischen« Republik, beteiligte sich in den 1920er Jahren an der pädagogischen und bildungspolitischen Reformpolitik des »Roten Wien« (vgl. Bruder-Bezzel, 1999). Ohne Zweifel war er entsetzt und mag er aus diesem Entsetzen heraus gesagt haben, »was die Welt braucht, ist Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl«. Es beschäftigen ihn die Frage der Schuld und das Phänomen der Kriegsbegeisterung. Im Juli 1918, also kurz vor Kriegsende, erscheint in der »Internationalen Rundschau«37 eine mit A. A. unterzeichnete knappe, sehr scharf gehaltene Anklage gegen die »Kriegspsychose«, was gegen die Kriegsbegeisterten gemeint war: »Sie können abtreten: Das tiefste Geheimnis des Weltkrieges: dass fast die meisten mit Überzeugung und Begeisterung vertreten, was sie andernfalls unter dem Zwang des Militär-Reglements vertreten müssten. Sie haben die Gottheit in ihren Willen aufgenommen, um dem Gefühl der Ohnmacht nicht zu erliegen. Ihre Strafe ist: sie können uns nie etwas Neues sagen, immer nur das, was 37 Zeitschrift von 1915–1918, erschienen in Zürich: »ein internationales, überparteiliches Organ zur Verständigung und Versöhnung der Menschen der kriegführenden Nationen.

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uns auch das Militär-Reglement sagt. Folglich können sie abtreten« (Adler, 1918b, S. 362). In verschiedenen Äußerungen im Jahr 1919 zum Krieg objektiviert er die Schuldfrage und verlagert sie auf die Kultur und den Kapitalismus. Krieg ist für ihn das Ergebnis »unserer neurotisch-kranken Kultur, zerfressen von ihrem Machtstreben und ihrer Prestigepolitik«, die das »unsterbliche Gemeinschaftsgefühl der Menschheit drosselt oder listig missbraucht« (Adler, 1919 in 1912, S. 30). Krieg ist für ihn auch Ausdruck des Kapitalismus, »der die Raublust in der menschlichen Seele maßlos angefacht« hat (Adler, 1918c, S. 113), so in seinem Aufsatz »Bolschewismus und Seelenkunde«, den er im Dezember 1918 zweimal, in der Wochenschrift »Der Friede«38 und der Zeitschrift »Internationale Rundschau«, veröffentlicht hatte. Die engagierteste und umfassendste Stellungnahme Adlers erscheint 1919, als Anklage der Herrschenden und als Verteidigung des Volkes. In der Broschüre »Die andere Seite: eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes« verteidigt er das Volk gegen den Vorwurf der Schuld an diesem Krieg, schildert er ziemlich plastisch, wie im Inneren des Landes der Druck ins Unerträgliche gestiegen ist, wie sich das Volk zu wehren wusste, und er findet eine individualpsychologische Erklärung für die Unterwerfung der Kriegsfreiwilligen unter die Autorität: Es war die »Dressur« des Volkes, die es »zum Gehorsam gegen die Oberen« (Adler, 1919, S. 121) gebracht, es war die »List und Gewalt«, die es »zur Schlachtbank gezerrt, gestoßen, getrieben« hat (S. 127, 130). Alle wollten dem Dienst entgehen. Die Oberen, die akademisch Gebildeten und Finanzkräftigen entzogen sich dem Dienst durch Bestechungen und Beziehungen, aber »der arme Teufel Volk« desertierte (S. 123) oder ersann »wirkliche, eingebildete oder simulierte Leiden«, und diese Menschen »erklärten so dem Verstehenden ihre Abneigung gegen den Krieg« (S. 124). Adler prangert dann vor allem die Musterungsärzte an, die dem Militarismus »willig zur Verfügung« standen, »die sich wie die Maschi-

38 »Der Friede«: politisch-literarische Wiener Wochenschrift ab Januar 1918 »als Protest gegen Krieg und Barbarei«, hrsg. v. Benno Karpeles. In ihr kamen alle namhaften Wiener Intellektuellen, Literaten und Künstler zu Wort.

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nengewehre hinter den ›kriegslustigen‹ Menschen aufstellten«39, die »gemusterte Krüppel« in den Tod jagten und »immer neue Menschenleiber an die Mündung der Kanonen« spien (S. 123). Die Kriegsfreiwilligen hätten, so Adler weiter, sich aus dem Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung, gegen ihren Willen, in den Krieg gepeitscht zu werden, mit der Selbsttäuschung befreit, als hätten sie selbst den »Ruf, der vom Generalstab ausging«, ausgestoßen, seien Helden, Verteidiger des Vaterlandes. »Im Rausch des wiedergefundenen Selbstgefühls […] wichen sie scheu vor der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein« (S. 128 f.). Obgleich Adler auch hier individualpsychologisch argumentiert, ist seine Position zum Krieg und zur Kriegsneurose nun also eine ganz andere als im Vortrag von 1916. Desertion, Simulation und Neurose sind Mittel oder Auswege, die dem »armen Teufel Volk« bleiben, sie sind »geheime und passive Resistenz« (S. 126) gegen den Krieg, der nicht die Sache des Volkes, der Allgemeinheit ist, sondern die der Herrschenden. Es ist ein »Ausweichen«, aber keines, das zu verurteilen wäre. Und doch: Adler hält zugleich an einem »Kollektivismus« fest, der den Kriegsdienst aus der Perspektive der Kameradschaftlichkeit sieht. Es habe auch »Edelmenschen« gegeben, die den Urlaubsschein nach einer Heilung einer Schusswunde zurückgegeben haben und sagten, »ich bringe es nicht über mich, meine Freunde und Kameraden allein im Felde zu lassen« (S. 129). Adler hatte sich im Krieg und noch danach offenbar in einem moralischen Dilemma befunden – das sehr wohl zu verstehen ist: Kollektivismus und Gerechtigkeitsgefühl einerseits, Ablehnung des Krieges andererseits. So könnte es sein, dass er streng gegen Simulanten gewesen war, wie Furtmüller sagt, weil diese sich Vorrechte herausnahmen, die andere nicht hatten, und zugleich aber diese Arbeit der Auslese im Lazarett auch als eine »painful duty« (Bottome) empfunden hatte, weil auch hier dem einzelnen Unrecht getan wurde, vor allem natürlich dann, wenn leidender »Kriegsneurotiker« und »Simulant« gleichgesetzt wurde, was ja sehr häufig geschah. 39 »Maschinengewehre hinter der Front« ist als Diktum von Freud 1920 bekannt. Hofer verweist da auf Adlers zeitlich frühere Formulierung, Freud habe dies von Adler »entlehnt« (Hofer, 2004, S. 335).

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Dieses Dilemma wird in einem weiteren Dokument zu dieser Frage deutlich, im »Mördertraum«. Adler berichtet darüber zwar erst ab 1929, dann aber an drei verschiedenen Stellen (vgl. Hannen, 1994, S. 85 ff.), was als ein Hinweis auf seine Bedeutung für Adler zu verstehen ist. Adler erzählt darin von einer Situation, wie sie sicher häufig vorkam: Ein Soldat mit »schwachen Nerven« bat ihn dringend um Befreiung vom Heeresdienst. Adler habe das nicht tun können, aber er habe ihm Erleichterung durch den Wachdienst angeboten, was dieser jedoch nicht akzeptierte. In dieser Nacht träumte Adler, dass er ein Mörder sei, schuldig-unschuldig ein Mörder (Adler, 1929, S. 80 f.). Offensichtlich hat ihn sein eigenes Tun belastet. Er stand unter Druck von oben und hatte gegen den Mann gehandelt (schuldig), aber er sah selbst in einer Dienstbefreiung ein »im Stich lassen« der anderen (unschuldig). Wie löste er nun diesen Gewissenskonflikt? Er hält ihn nicht aus, kann das »schuldig« nicht hinnehmen, weicht aus, rechtfertigt sich, und »entschließt« sich sogar, von nun an nicht mehr zu träumen. Sein Traum würde zeigen, wie Träume uns betrügen, benebeln, unsere Gefühle aufpeitschen. Adler spricht sich frei, nicht nur weil er nicht anders hätte handeln können, sondern indem er auf seiner »Auffassung« besteht: Dienstbefreiung bedeute, den einzelnen anderen im Stich lassen, wogegen »beim Kameraden bleiben« Gemeinschaftsgefühl sei. Wir verstehen nun auch, wenn Furtmüller (1946) sagt, die Erfahrungen mit Simulanten zur Zeit des Krieges sei die Wurzel für Adlers »Gemeinschaftsgefühl«. Eine Wurzel zumindest, und eine, die nachdenklich stimmt. Denn ist nicht diese Art von »Kollektivismus« ein Mittel, das Gemeinschaftsgefühl zu missbrauchen, wie es Adler an anderen Stellen formuliert?

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Otto Kaus: Ein Grenzgänger zwischen Individualpsychologie und Literatur und Politik

Einleitung Otto Kaus gehörte in Wien zu den Anhängern und Aktivisten der Individualpsychologie der allerersten Zeit, und das als Jüngster, denn er war erst 20/21 Jahre alt. Er ist heute insgesamt nicht mehr bekannt, auch im Internet nicht zu finden. Allenfalls findet er Erwähnung als Ehemann von Gina Kaus, der populären Romanschriftstellerin, die durch die Vermittlung von Otto ebenfalls mit ein paar Beiträgen innerhalb der Individualpsychologie aktiv war, ohne längerfristig oder organisatorisch enger mit der Wiener Individualpsychologie verbunden gewesen zu sein (vgl. Wahl, 2012, S. 158 ff.). Selbst in speziellen Themenfeldern der Individualpsychologie, wo Kaus viel zu sagen hatte, wie in der umfangreichen psychologischen Interpretation von literarischen Werken, wird Kaus nicht genannt, wird er verleugnet. Dabei hat Kaus von 1912 bis 1931 sehr viel geschrieben, so viel wie kaum ein anderer innerhalb der Individualpsychologie – vielleicht mit Ausnahme von Adler, Künkel und Wexberg. Publikationen zur Individualpsychologie im engeren Sinn von ihm gab es 1912/13, dann wieder zwischen 1926 und 1931. Aber viel mehr noch als über individualpsychologische Themen hat er von 1914 bis 1926 über ein breites Spektrum an Themen geschrieben – Literaturwissenschaftliches, Zeitgeschichtliches, Politisches. Er hat in hervorragenden Verlagen Bücher publiziert, in verschiedenen avantgardistischen Zeitschriften veröffentlicht, eine Zeitschrift redaktionell betreut und eine andere selbst gegründet. Er stand sogar von 1925 bis 1932 in »Kürschners Deutschem Literaturkalender«, zusammen mit seiner Frau Gina. Kaus wurde, noch vor und während des Ersten Weltkrieges, derjenige aus der Individualpsychologie, der am meisten Verbindung zur

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Szene der expressionistischen Boheme, dann auch politischen Szene hatte, selbst dieser Generation angehörend: über die Cafés und Salons, literarische und linkspolitische Zirkel und den ihnen entsprechenden Netzwerken und Zeitschriften in Wien. Innerhalb der Individualpsychologie war er Mitglied in der Wiener Ortsgruppe, wohl schon ab Herbst 1911, also von Anfang an, in Berlin war er 1924 Mitbegründer der individualpsychologischen Ortsgruppe mit Fritz Künkel und dort bis etwa 1931 weiter aktiv im Verein und im Institut und publizistisch tätig (vgl. Bruder-Bezzel, 2014). Er veröffentlichte in allen individualpsychologischen Publikationsorganen, sprach auf den internationalen Kongressen, gab zwei individualpsychologische Schriftenreihen mit heraus, eine mit Fritz Künkel (»Mensch und Gemeinschaft«) und eine mit Leonhard Seif und Alfred Adler (»Individuum und Gemeinschaft«). Angesichts dieser aktiven und publizistischen Präsenz in der Individualpsychologie ist das Schweigen über Kaus umso befremdlicher. Allerdings stand er in gewisser Weise über zehn Jahre für die Individualpsychologie publizistisch nur am Rande oder sogar außerhalb, nicht zuletzt aufgrund seines kommunistischen Engagements. Er war eigene Wege gegangen, die sicher von der Mehrzahl der solideren Individualpsychologen abwichen, durch seine breiten literarischen und politischen Interessen und Kenntnisse, seine gewisse Exzentrik, die sich sexuallibertär und kommunistisch, wenn auch wechselnd und vorübergehend, ausdrückte. Es kommt hinzu, dass Kaus’ Schreibweise, sein Stil, seine Sprache, anstrengend sind, zuweilen auch unverständlich – sicher auch schon für damalige Leser. Er schreibt fließend, ausladend, abstrakt, weitschweifig, von einem Strang zum nächsten und zurück, teils hochtrabend-belehrend, elegant, auffallend selbstbewusst, aber er imponiert auch durch Kenntnisreichtum und Zuspitzung. Kaus war auf jeden Fall frühreif und wirkt, wenn man das sagen darf, manchmal, keineswegs durchgängig, etwas unheimlich und verrückt. Da Kaus so sehr ein Vergessener ist, gab es natürlich über ihn so gut wie nichts Biographisches, schon gar nicht Bibliographisches. Biographische Angaben findet man nur in der Autobiographie seiner Exfrau Gina Kaus (1990), die allerdings sowohl stark subjektiv eingefärbt als auch gänzlich unzuverlässig sind. Ich konnte dies mit ein paar Daten aus Archiven ein wenig ergänzen und korrigieren, so dass ein grobes

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Bild seiner Biographie und seiner Person, auch über seine Schriften, konstruiert werden kann. Zur Bibliographie habe ich zu meinem eigenen Erstaunen über Jahre hinweg eine Fülle zusammentragen können, vielleicht sogar nahezu vollständig. Quellen waren das Archiv der DGIP, Literatur­ angaben in anderen individualpsychologischen Publikationen (z. B. Wexberg-Handbuch, IZI, Zentralblatt), Antiquariatsrecherchen und Zufallsfunde. Nahezu alles davon konnte ich einsehen. Nach einem Überblick über Kaus’ biographische Entwicklung und seine Interessenbereiche und Publikationen stelle ich alle seine Schriften vor, soweit sie verfügbar waren. Dies kann natürlich nur kursorisch geschehen, aber so wird zumindest bei einzelnen Beiträgen und im Gesamt eines Themenbereichs ein Einblick möglich. Diese Schriften habe ich unterteilt in vier Themen: Individualpsychologie, Literaturinterpretationen, politische Texte, Feuilletontexte. Innerhalb dieser vier Kapitel ist die Darstellung chronologisch, bei den größeren Kapiteln (Individualpsychologie, Literaturinterpretation) nochmal in Themenbereiche untergliedert. Ich zitiere Kaus stets nach der unten angefügten chronologischen Bibliographie.

I. Biographisches und Bibliographisches Otto Kaus wurde am 19.9.1891 in Triest geboren. Triest war damals eine Hafenstadt mit ca. 120.000 Einwohnern, bis 1918 habsburgisch-­ österreichisch, Hauptstadt des Kronlandes Österreichisches Küstenland, einziger österreichischer Handels- und Kriegshafen. Die Einwohner waren mehrheitlich Italiener, daneben u. a. Deutsche und Slowenen. Nach Auskunft der Behörde in Triest (archivio generale commune di Trieste)40 war der Vater Eugen, geb. 1854 in Venedig, höherer Postbeamter, Mutter Anna, geb. 1869 in Udine, und Schwester Valeria, geb. 1889, alle Italienisch sprechend und römisch-katholisch. Offenbar war der Vater relativ bald abwesend oder gestorben, da auf dem Einschreibungsformular (»Nationale«) an der Wiener Universität 40 Für die Übersetzung dieser Korrespondenz danke ich Dr. Elisabeth Steinberg.

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1911 wie auch in den Archivunterlagen statt des Vaters ein Vormund angeben wurde: Giovanni Cesca (oder Lesca), Hausadministrator. Kaus ist sicher zweisprachig aufgewachsen, gibt aber auf der »Nationale« als Muttersprache Deutsch an. Er besuchte in Triest das deutschsprachige k. u. k. Staatsgymnasium – das wohl ein humanistisches Gymnasium gewesen war –, das er mit dem Reifezeugnis abschloss. Im Wintersemester 1911/12 schrieb er sich an der Wiener Universität ein. Otto Kaus (um 1924) Er schloss sich gleichzeitig offenbar der Individualpsychologie an und verkehrte bald auch in literarischen Kreisen in Wiener Cafés. Dieses Studium war kurz und wenig intensiv, zumindest ist nach dem Wintersemester 1913/14 nichts mehr nachweisbar. Er war im ersten Semester Hörer der Philosophischen Fakultät, mit zwei Einträgen in Kunstgeschichte: »Geschichte der italienischen Skulptur und Malerei im Zeitalter der Renaissance« und »Weltgeschichte der Kunst im Zeitalter der Kreuzzüge«. Im zweiten Semester wechselte er zur Medizin, hörte die Grundlagen Anatomie, Chemie, Experimentalphysik und Biologie (Botanik), ähnlich noch drei weitere Semester bis zum Wintersemester 1913/14. Im Sommersemester 1913 waren einige Einträge gestrichen. So hat Kaus insgesamt fünf Semester, von Wintersemester 1911/12 bis zum Wintersemester 1913/14 studiert, davon vier Semester Grundlagen der Medizin. Kaus hat also nicht, wie Gina Kaus (1990, S. 69) schreibt, sieben Semester studiert und war kein Mediziner, wie dies z. B. Hoffman meint (Hoffman, 1997, S. 105). Offenbar aber war Naturwissenschaft, zumal Medizin, nichts für den psychologisch und literarisch Interessierten, und sicher hat auch der Krieg Kaus so aus der Bahn geworfen, dass er »aus dem Feld mit der Absicht zurück[kam]«, »das Studium aufzugeben und sich ganz dem Schreiben zu widmen«, wie Gina Kaus schreibt (Gina Kaus, 1990, S. 69). Und tatsächlich hatte Kaus bis zum Ende des Krieges bereits schon viel geschrieben.

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Die Adressen in Wien wechselten anfangs stark und manchmal nur sehr kurzfristig. Er wohnte ab Oktober 1911 in der Sandwirtgasse 2, KarlSchweighofer-Gasse 8, Berggasse 3, dann bis Dezember 1919 vorwiegend in der Lustkandlgasse 10 (siehe »Nationale« und »Stadt Wien« Wiener Stadt- und Landesarchiv). Ab Dezember 1919, nach der Heirat mit Gina Kranz (im August 1919) war die eheliche Wohnungsadresse Heyegasse 3. So steht es auch in »Kürschners Deutschem Literaturkalender« Gina Kaus (1927) 1925. Dies blieb auch die Adresse, als Otto lange schon nicht mehr in Wien wohnte, sondern in Berlin. Eine Abmeldung aus der Wiener ehelichen Heyegasse erfolgte erst mit Oktober 1926 (Verzeichnis der Stadt Wien). Kaus hatte sich in Wien der individualpsychologischen Gruppe in der Zeit angeschlossen, als diese noch im Aufbau war und »Freie Psychoanalyse« hieß. Es gibt aus dieser Zeit wenige veröffentlichte Sitzungsberichte, die zudem sehr kurz sind und nicht alle Anwesenden namentlich erfassen, sondern nur die, die einen Redebeitrag geleistet haben.41 Anhand dieser Berichte ist Kaus erst im November 1912, dann im November und Dezember 1913 nachzuweisen. Anzunehmen ist allerdings, dass er schon vorher und viel häufiger präsent war, da ja bereits 1912 seine erste Veröffentlichung in diesem Rahmen erfolgt ist. Erstaunlicherweise hatte dieser nun erst 21-jährige Neuling die Gelegenheit oder den Schreibauftrag bekommen, einen Essay über »Gogol« zu schreiben, der im März 1912 als zweite Nummer der gerade erst gegründeten Adler’schen »Schriftenreihe des Vereins für freie Psychoanalyse« herauskam. 41 Berichte von September 1912 bis Januar 1913 sind von Adlers Ehefrau Raissa Adler verfasst (vgl. Kretschmer, 1982, S. 178 f.), die Berichte 1913 und 1914 sind in der IZI (S. 28 ff., 95 ff., 142 ff.) veröffentlicht.

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Am 14.11.1912 machte er eine Bemerkung zur Homo­sexualität Verlaines (als »Furcht vor der Frau«), und am 28.11.1912 trug er das Referat »Neurotische Lebenslinien« vor, das im Januar 1913 im Zentralblatt für Psychoanalyse gedruckt wurde. An diesem Abend war Stekel, der Herausgeber dieses Zentralblatts, wohlwollender Gast, was für Kaus eine günstige Gelegenheit war, sich mit ihm bekannt zu machen und dadurch im Zentralblatt publizieren zu können (zum Zentralblatt vgl. Kapitel zum Hermaphroditismus). Am 20.12.1913 referierte Kaus im Verein über »Flaubert und Dostojewski« (vgl. IZI, 1914, H. 1, S. 30), was er 1914 in den »Weißen Blättern« veröffentlichte. Am 27.12.1913 machte Kaus zu Thomas Manns »Tod in Venedig« die – irritierende – Bemerkung, dass er den »Roman künstlerisch unzulänglich« finde und »den Grund in der Unsicherheit des Rassenbewusstseins sehe, die auch bei seinem Bruder Heinrich Mann den schwachen Punkt bilde« (IZI 1914, S. 31). Unklar ist, was damit gemeint ist. 1913 erschienen im Zentralblatt von Kaus Anmerkungen zur psychoanalytischen Onaniedebatte, mit einem Disput mit Stekel, und zwei Rezensionen von italienischen Zeitschriften der Psychiatrie. 1914 trug er einen Beitrag im ersten Adler’schen Sammelband, »Heilen und Bilden«, bei, der in der zweiten Auflage (1922) dann aber nicht mehr erschien. Aber Kaus fand auch unabhängig und außerhalb der Individualpsychologie Möglichkeiten zu publizieren, in sehr angesehenen Verlagen und Zeitschriften. So veröffentlichte er u. a. im Hyperion Verlag (1914), im Piper Verlag (1916, 1918), in den expressionistischen Zeitschriften »Die Weißen Blätter« (1914) und in der politisch-expressionistischen »Aktion« (1917, 1919), in der »Summa« (1917/18), die er auch redaktionell begleitete, im »Tage-Buch« 1924/25 und in seiner eigenen Zeitschrift, »Sowjet«, 1919–1921. Kaus’ Zugang zu diesen Medien, in diesen und den weiteren Jahren, hängt mit seiner Zugehörigkeit zu entsprechenden literarischen Zirkeln der Boheme zusammen, anfangs speziell zu dem Kreis von Franz Blei (zu Blei vgl. auch Kapitel zu Ehrenstein). Franz Blei, Jugendfreund von Adler, Schriftsteller und Publizist in Wien, München, Berlin, war vor allem Herausgeber und Gründer einer ganzen Reihe von Zeitschriften, hatte Kontakte zu Verlagen und

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Verlegern. So war er z. B. Redakteur der Zeitschrift »Insel« ab 1900 (vgl. Adler, 2014, S. 26 f.), 1913 Redakteur der »Weißen Blätter«, Herausgeber der Zeitschrift »Hyperion« (vgl. Eisenhauer, 1993, S. 61, 67, 75). Er hatte in der literarischen Welt, auch unter Künstlern, ein ganzes Netz um sich gesammelt, viele waren von ihm abhängig in ihren Publikationsmöglichkeiten. In dem Wiener Kreis um ihn im Café Herrenhof, wo Frauen und Erotik eine besondere Rolle spielten, herrschte ein emanzipatorischer revolutionärer Geist, wovon sexuelle Revolution und freie Liebe ein Teil waren. Gina und Otto Kaus gehörten dazu, Gina war eine Zeitlang eine seiner Geliebten. Es tauchten dort Paul Schrecker, Robert Musil, Hermann Broch, Franz Werfel, Otto Gross und Egon Kisch auf. Dieser Kreis entspricht zugleich auch dem von Ginas Salon, der, je nachdem, auch bei ihr stattfand (vgl. Gina Kaus, 1990, S. 33 f.; Eisenhauer, 1993, S. 37; Dubrovic, 2001, S. 172 f.). Eine lockere Beziehung zum Adler-Kreis ergibt sich durch Otto und Gina Kaus und Paul Schrecker. Otto Kaus war somit der wichtigste Verbindungsmann der Individualpsychologie zur expressionistischen, dann auch politisch linken Szene. Der Krieg 1914 veränderte die soziale Situation. Verschiedene Mitglieder auch dieses Kreises wurden eingezogen oder meldeten sich freiwillig zum Dienst, wie z. B. Adler selbst (vgl. Kapitel zum Krieg). So kam es jeweils zu längeren oder kürzeren Abwesenheiten Einzelner. Kaus hatte verschiedene einzelne Einsätze, den ganzen Krieg über: Im Wiener Stadtarchiv galt er 1914/1915 als abgemeldet aus seiner Wohnung, mit mehreren Unterbrechungen, mit dem Vermerk »in Ungarn« bzw. Bezirk Neutraer Komitat (was heute in der Slowakei liegt). Genaueres, auch über die Dauer, wissen wir nicht. Aber ein psychologisch-psychiatrischer Beitrag (»Flüchtlingsneurose«), veröffentlicht im Dezember 1915, verweist auf eine seiner Tätigkeiten während des Krieges: Wiener Armenambulatorium für Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, Abtl. Nervenkrankheiten (Kaus, 1915, S. 344). Entsprechend schreibt auch der Schweizer Psychiater Charlot Strasser: Kaus habe in einem »Nervenambulatorium« an galizischen Flüchtlingen Beobachtungen« machen können (Strasser, 1916, S. 191, 204). Am Ende des Krieges scheint Kaus nochmal an der Front gewesen zu sein. Ein Artikel im Juli 1918 ist unterschrieben mit: »im Felde«

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(Kaus, 1918b), wo er angeblich, nach der Erinnerung von Gina, »über ein Jahr gewesen war« (Gina Kaus, 1990, S. 69). Kaus war also nur zeitweise in irgendeinem Kriegseinsatz und konnte auch in Wien sein und schreiben. In dieser ganzen Zeit während des Krieges 1915–1918 hatte Kaus sehr viel publiziert, umfangreiche Aufsätze und zwei Bücher, vorwiegend Literatur- und Kulturwissenschaftliches. 1917/18 waren Kaus und Gina maßgeblich bei der Gründung und Redaktion der von Franz Blei gegründeten Vierteljahresschrift, »Summa« beteiligt. Finanziert wurde sie von Ginas Nennvater Kranz42, die Redaktion mit Otto und Gina war in einer von Kranz finanzierten Wohnung eingerichtet, die zugleich Liebesnest war (Gina Kaus, 1990, S. 40, 42, 51; Eisenhauer, 1993, S. 37 f., 113 f.) Alle drei schrieben darin, Gina unter dem Pseudonym Andreas Eckbrecht. Gina Kaus schildert den Beginn ihres unglücklichen Liebeslebens mit Kaus in der Summa-Zeit und charakterisiert dabei etwas von seinem Wesen – rückblickend und ganz aus ihrer Sicht natürlich. Das beginnt nach dem Krieg, also 1918. Sie beschreibt Kaus als »eher schmächtig«, er »hatte ein dreieckiges Gesicht mit dunklem Teint, großen, dunklen Augen, gerader Nase und sinnlichen vollen Lippen […]. Er war ein sehr einsamer Mensch« (Gina Kaus, 1990, S. 69). Als er, »der bettelarme Mensch«, ihr ein »kleines, ein winziges Veilchensträußen« mitbrachte, war sie sehr gerührt. »Es war wie ein Kuss.« So hatte sie für die Nacht »einen schüchternen, eher kühlen Mann erwartet«. Doch: »Es wurde die leidenschaftlichste und längste Liebesnacht meines Lebens«, und da sie ein Kind wollte, »verzichtete ich auf Vorsichtsmaßnahmen«. Im Fall einer Schwangerschaft dachten sie an heiraten, als Konzession an die bürgerlichen Vorurteile dem Kind zuliebe, aber es war für beide »selbstverständlich, frei zu bleiben«, überzeugt, »dass weder Mann noch Frau monogam veranlagt seien« (S. 71). Bald hatte die Beziehung »tiefe Brüche«, aber »ich wollte das Kind« (S. 75), sie stritten sich heftig, »er analysierte mich bis in meinen Schatten, bis ich verzweifelt nachgab (S. 75). Als sie schwanger wurde, heirateten sie im August 1919. Das erste Kind, Otto, kam im Januar 1920. Bereits völlig

42 Kranz war ein sehr reicher, deutlich älterer Geliebter von Gina, der sie aus gesellschaftlichen Rücksichten als Tochter adoptierte.

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zerstritten und getrennt lebend – u. a. wegen Ottos Eifersucht –, kam das zweite Kind Peter 1924 zur Welt.43 Gina schildert Otto auch in seinem Beginn der politischen Phase im unmittelbaren Anschluss an den Krieg: Er sei nach dem Krieg als »Kommunist, ja als Bolschewik« zurückgekommen, der Kreis (Herrenhof) »fand es schwer, mit ihm zu debattieren. Er war fanatisch, aggressiv und hatte überzeugende Argumente«, er »kannte alle intellektuellen Kommunisten und mochte sie alle nicht. Er hatte seine persönliche Spielart von Kommunismus und keinerlei Toleranz für die leiseste Abweichung« (S. 70). Er geriet in heftige Zerwürfnisse u. a. mit Blei oder mit Schrecker (S. 75). Sie waren noch in ihrem ersten Liebesrausch, als in Ungarn die Räterepublik Béla Kuns »ausbrach«, darüber völlig aufgeregt und begeistert. Daraus entstand die Idee, eine kommunistische Zeitschrift zu gründen: Es wurde die Kommunistische Monatsschrift »Sowjet«. Sie hatte von 1919–1921 Bestand, kam bis 1920 in Wien heraus, ab September 1920 in Berlin. Das meiste in der »Sowjet« schrieb Otto Kaus selbst, es waren neun Artikel mit über 100 Seiten. Am Anfang erschien auch ein Beitrag von Gina unter ihrem Pseudonym Andreas Eckbrecht. Es sind grundsätzliche, programmatische Artikel und solche zur Tagespolitik. Auch ließ Kaus den Psychoanalytiker und Bohemien Otto Gross, den er noch aus Wien aus dem Kreis um Blei und Gina kannte, 1919 zwei Artikel schreiben. 1921 kommt es zur Kooperation mit dem kommunistischen Politiker Paul Levi, der die Herausgabe der Zeitschrift dann übernimmt und bald darauf beendet (Weiteres siehe Abschnitt »Politische Texte«, S. 151 f.). Mit den letzten »Sowjets« scheint die politische bzw. kommunistische Zeit von Kaus mehr oder weniger beendet, evtl. sogar im Sinn eines Bruchs. Die linkspolitische, kapitalismuskritische Haltung ist zwar noch in seinen späteren Literaturinterpretationen spürbar, scheint aber etwa ab 1924/25 schwächer und dann eher erloschen, zugunsten einer einzelpsychologischen Ausrichtung, die in der Tendenz sogar traditionelle Haltungen verrät. Kaus hatte sich somit wohl aus enttäusch43 Sohn Otto wurde Richter in Kalifornien, starb 1996; Sohn Peter wurde Professor für Physik, Mitbegründer des Aspen Centre for Physics, gestorben November 2016 (Wikipedia-Artikel »Gina Kraus«, Zugriff 23.8.2018).

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ten politischen Hoffnungen heraus wieder der Psychologie zugewandt, sich allerdings in den theoretischen Grundlagen doch zur marxistischen Orientierung positioniert. Eine Hinwendung zur (Individual-)Psychologie angesichts der politisch aussichtslosen Lage für eine (nicht autoritäre) Revolution kennen wir auch von Otto Rühle, allerdings mit dem linkspolitischen Anspruch, mit Hilfe der Psychologie und Pädagogik den »neuen«, revolutionstüchtigen, Menschen zu schaffen. Ähnlich aber auch Manès Sperber. Kaus war um diese Zeit schon viel in Berlin, zumindest pendelte er häufig zwischen Wien und Berlin, wie dies aus Ginas Bericht hervorgeht. Ab 1923/24 scheint er mehr oder weniger dauernd dort gewesen zu sein (vgl. Hofender, 2013). 1924 hatte er die Möglichkeit, in Berlin wieder in der Individualpsychologie zu arbeiten – nicht zuletzt auch als finanzielle Basis. In Berlin scheint Kaus nie gemeldet gewesen zu sein, im Berliner Landesarchiv und Adressenverzeich­ nis ist er nicht nachzuweisen. Als Adresse wird im Mitteilungsblatt »Gemeinschaft« 1926, Heft 4, bei der Ankündigung eines Einführungskurses durch Kaus Würzburgerstr. 1 angegeben, was in Schöneberg, nähe Fritz Künkel Wittenbergplatz, liegt. Gina erwähnt als Berliner Adresse auch einmal die Geisbergstraße, die ganz in dieser Nähe ist (Gina Kaus, 1990, S. 80, 87). Zudem gibt Kaus 1930 als Ort München an (siehe IZI, 1930, S. 426) und 1931 eine Münchner Adresse (Nikolaistr. 9,I) im »Zentralblatt für Psychotherapie«. Als das Ehepaar Ruth und Fritz Künkel (geb. 1889) die IP-Ortsgruppe im April 1924 gründete, war Kaus im Vorstand (neben Vali Adler und Leo Groeger) und übernahm die Funktion des Kassenwarts (vgl. Bruder-Bezzel, 2014). Er wurde aktiv als Referent, Dozent, Mitglied des Instituts (ab 1927) und beruflich als Berater und Therapeut.

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In den Vereinsnachrichten, auch über das Ausbildungsinstitut (ab 1927), wird Kaus aber auffallend selten genannt, obgleich er z. B. 1926 zweiter Vorsitzender des Berliner Vereins ist (siehe »Gemeinschaft« Februar 1926). Um die Jahre 1925/1926 scheint er nahe an Künkel, schreibt mit ihm gemeinsam, brachte mit ihm eine Schriftenreihe heraus und benutzte Künkels Begriff des Sachlichen (»Lampenfieber«). Das ist ­bemerkenswert, da Künkel zu Recht als Konservativer gilt, sich theoretisch und begrifflich immer weiter von Adler entfernt und auch von der Gesamtindividualpsychologie zunehmend stärker kritisiert wird (vgl. Kapitel zu Sperber). Bei den politisch motivierten Auseinandersetzungen und Fraktionierungen innerhalb der Berliner Ortsgruppe, zwischen Manès Sperber und Künkel, die zur Spaltung der Gruppe 1929 führt und schließlich zum vorzeitigen Ende des Instituts, wird Kaus nicht explizit genannt. Es ist unklar, ob er weiter zu Künkel hielt oder sich »neutral« heraushielt (vgl. Bruder-Bezzel, 2014). Er schrieb und praktizierte von 1924 bis 1931 sehr viel im Rahmen der Psychologie und Individualpsychologie, aber auch außerhalb. Über das persönliche Leben von Kaus in Berlin wissen wir noch weniger als über das Wiener Leben, nur Bruchstückhaftes. Henry (Heinz) Jacoby (geb. 1905), der über die anarchistische »Freie Jugend« und Otto Rühle zur Individualpsychologie kam, berichtet von einem Vortrag, den Kaus im »Antikriegsmuseum« über Psychologie gehalten hat.44 Jacobys weitere Bemerkung kennzeichnet vielleicht Kaus zu Recht: Er war dort »mit ihn begleitenden Freunden und weiblichen Verehrern«, mit denen er »nach der Versammlung dem nächsten Cafehaus zustrebte« (Jacoby, 1980, S. 57). Und Jacoby berichtet, dass er selbst nach der Gründung des Berliner individualpsychologischen Instituts (1927) »in persönlichen Kontakt mit dem Therapeuten Otto Kaus« gekommen sei (S. 128). Ein noch persönlicheres Licht auf Kaus wirft, was Gina erzählt. Sie 44 Das Antikriegsmuseum wurde 1925 von Ernst Friedrich, der führenden Figur der »Freien Jugend«, gegründet. In ihm hielten u. a. auch Rühle und Sperber Vorträge (vgl. Jacoby, 1980, S. 35 ff.).

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plaudert von einer Begegnung, die sie in Berlin mit einer jungen Dame hatte, einer hübschen, etwa 25-jährigen Person, die ihr erzählte, dass sie Adler-Schülerin sei, Vorträge von Otto Kaus besuche und dann einräumte, dass sie mit ihm ein Verhältnis habe (Gina Kaus, 1990, S. 124 f.). Sie sei wohlhabend und besaß eine Villa hinter dem Reichskanzlerplatz (heute Theodor-Heuss-Platz). Aus einer Korrespondenz (Erwin Wexberg u. Else Freistadt 1927) wissen wir, dass diese Frau Grete Kerschbauer hieß, ein Name, der innerhalb der Individualpsychologie sonst nicht bekannt ist. Gina habe ihr versprochen, sich scheiden zu lassen, um ihr Platz zu machen (Gina Kaus, 1990, S. 124 f.). Das war wohl 1926/27, denn in diesem Jahr wurden sie, im April 1927, geschieden (Hofeneder, 2013, S. 23). Da Scheidungen damals schwierig waren, konstruierte Gina als Grund eine religiöse Differenz (Jüdin/Arier) (Gina Kaus, 1990, S. 127; Hofeneder, 2013, S. 156). Gina wusste auch, dass Kaus zu Grete in die Villa gezogen war, er sie aber nicht heiratete (Gina Kaus, 1990, S. 126 f.). Bald darauf wurde Kaus offenbar heftig psychisch krank – jedenfalls geht dies aus zwei persönlichen Briefen von Erwin Wexberg an Else Freistadt aus Wien, hervor. Wexberg war zu dieser Zeit Adlers Vertreter im Wiener Individualpsychologie-Verein, also Vorsitzender, da Adler sich vorwiegend in Amerika aufhielt.45 Wexberg schrieb am 20.5.1927 an sie: »Heute kam ein Brief von Otto Kaus’ Freundin, Grete Kerschbauer, aus Berlin. Ich möge die Vormundschaft für ihn übernehmen (ich hatte mich Gina gegenüber dazu bereit erklärt). Kaus hat die Malariakur absolviert. An seinem psychischen Zustand scheint nicht viel geändert zu sein. Die Größenideen bestehen weiter. Er soll demnächst aus dem Sanatorium entlassen werden«. In einem weiteren Brief von Wexberg an Else am 31.5.1927 heißt es: »Dem Kaus, schreibt mir die Kerschbauer, geht es schlechter als vor der Malariakur. Er mußte wieder in die geschlossene Abteilung gebracht werden. Da seine Schwester nur mühsam das Geld für ihn aufbringt (das Sanatorium ist teuer), will man ihn nach Wien bringen.

45 Wexberg (geb. 1889) ist in dieser Zeit in eine heftige Liebesaffäre mit Else Freistadt (geb. 1899) verstrickt. Davor war auch Adler selbst kurz mit ihr in eine Affäre eingebunden (vgl. Vetsch Padrutt, 1988; Uehli Stauffer, 1995, Bruder-Bezzel 1996, S. 335 f.).

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Hier käme nur der Steinhof in Frage.46 Aber in seinem Zustand ist ja wohl schon alles egal. Ich weiß nicht, ob man ihn nicht lieber gleich nach Italien bringen soll. Dort würde er aus öffentlichen Mitteln erhalten werden« (Archiv Herzka-Freistadt, Zürich). Dies ist offenbar nicht erfolgt, Kaus blieb zumindest in Deutschland. »Malariakur«, ein Verfahren, das der Wiener Psychiater Wagner-­ Jauregg entwickelt hatte und dafür den Nobelpreis bekam, verweist darauf, dass Kaus vermutlich eine Progressive Paralyse hatte, die als Spätstadium der Syphilis gilt. Das passt zu dem, was Henry Jacoby schrieb: »Seine Erkrankung, Folge einer frühen Syphilis, brachte ihn aus unserem Gesichtskreis« (Jacoby, 1980, S. 128). Else Freistadt und Otto Kaus kannten sich, waren wohl einander zugetan und korrespondierten – mehr wissen wir nicht. Bei der Briefsammlung von Else Freistadt ist ein kleines liebevolles Briefchen von Kaus aus München ein Jahr später an sie aufgetaucht, ich zitiere ihn ganz: »München, Gabelsbergerstr. 26/IV. bei Häger am 26.VII,28) Liebe Else. Ich habe schon lange nichts von Dir gehört und habe grosse Sehnsucht nach Dir und Deinem Gekritzel. Bitte, bitte schreibe mir etwas und so ausführlich als möglich. Es ist nun bereits ein Jahr her, dass ich mit Dir und Lotte und Dr. Leitner mich in Baden47 herumtrieb. Wie lange ist das her und gleichzeitig wie kurz! Ich habe ja leider seit damals nicht viel Fortschritte gemacht. Man will mich nach Berlin schicken, um dort die IPs zu inszenieren. Ich fühle mich der Aufgabe so entsetzlich wenig gewachsen. Ich arbeite hier zwar dies und das, hatte einen kleinen Kurs – aber im grossen und ganzen bin ich so unzufrieden als möglich mit mir. Ohne die Hilfe eines netten Wesens, das mich gern hat, komm ich von Tag zu Tag nicht über meinen Pessimismus hinaus. Die Ärzte soll der Teufel holen, die einen nicht besser zusammenflicken als so. Else denke nicht an mich, schreibe mir vor allem von Dir, Grüsse Lotte, Erna, Viki, Dr. Leitner und alle Freunde. Ich würde Euch alle besuchen und bin mit der Seele immer bei Euch. Ach, wie einsam ist das Leben! Ich küsse Dir beide Hände. Immer Dein Otto Kaus« (Archiv Herzka, Else Freistadt).48

46 Steinhof, die große psychiatrische Anstalt in Wien. 47 Baden bei Wien. 48 Lotte und Erna sind Freundinnen von Else, Viki meint Viktor Frankl (Uehli Stauffer, 1995, S. 61 f.); Leitner ist Dr. Hans Leitner, ein frühes Wiener Mitglied, vermutlich Pädagoge oder Lehrer. In der IZI 1914 schreibt er zur »Aus der Praxis der Psychotherapie und Pädagogik« (H. 2, S. 58 ff.), wird im Sitzungsbericht am 24.1.1914 genannt mit der »Mitteilung: »Über eine Gymnasiastenzeitschrift« (IZI, 1914, S. 32), in der Sitzung 18.4.1914 spricht er

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Angesichts der Kenntnis von Kaus’ Erkrankung mindestens ab 1927 wird uns manches verständlicher, seine geringe Beteiligung am Institut und den Auseinandersetzungen, die rapide Reduktion der Publikationen – nach 1926 nur noch wenig, drei Jahre Pause von 1927– 1930 und Ende 1931. Andererseits trat er noch auf, lebte aber wohl an verschiedenen Orten, vermutlich eher nicht in Berlin. Er war allerdings noch 1933 als Dozent tätig. Gina schreibt, er habe nach 1933 »im Untergrund« gelebt, was sie wohl politisch meint – vielleicht ist das aber auch krankheitsbedingt zu verstehen. Es ist auch zu überlegen, ob das Totschweigen von Kaus in der Individualpsychologie, neben politischen Gründen – seiner linken Entwicklung – und seiner evtl. Parteinahme für Künkel, nicht auch mit dieser Erkrankung zusammenhängt. Er soll bei einem der Bombenangriffe in Berlin umgekommen sein (Gina Kaus, 1990, S. 127).

II. Individualpsychologische Texte49 Die Aufsätze über psychologische Themen mit einer individualpsychologischen Ausrichtung erschienen 1913–1915 und 1924–1931.

Beiträge im Zentralblatt (1913–1914) Die ersten psychologischen Arbeiten von Kaus erscheinen 1913 im Zentralblatt für Psychoanalyse50, das damals von Wilhelm Stekel herausgegeben wurde (vgl. Kapitel zum Hermaphroditismus).

über Gerhart Hauptmann »Und Pippa tanzt« (S. 144) und wird 1925 in der IZI (S. 351) als Mitglied der Wiener Gruppe aufgeführt. 49 Im Folgenden sind alle Zitatstellen von Kaus in der Bibliographie am Ende dieses Kapitels zu finden. 50 Da das Zentralblattes bzw. der Reprint keine Jahresangaben macht, bleibt die zeitliche Zuordnung aus dieser Quelle nicht ganz gesichert. Der erste Aufsatz wird aber mit Januar bis Februar 1913 angegeben (Bd. III, S. 337).

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a. Kaus schreibt 1913 gleich zwei Aufsätze zur »Lüge«, einer davon, »Neurotische Lebenslinie«, wurde zuvor im Verein am 28.11.1912 vorgetragen (vgl. Kretschmer, 1982, S. 178). Dieser eher kurze Aufsatz behandelt das Thema »Pseudologie«, Lügensucht. Kaus ordnet das »Einzelphänomen« Lüge adlerianisch ganzheitlich und auf ein Ziel gerichtet ein. Er bringt Fallbeispiele, in denen sich Lüge und Rationalisierung um Männlichkeitsängste und Männlichkeitsstreben drehen und Lüge Insuffizienzgefühle zu umgehen versucht (Kaus, 1913a, S. 230). Er setzt sich länger mit dem von Otto Rank in der Onaniediskussion 1912 vertretenen Zusammenhang von Lüge und Sexualität bzw. Onanie auseinander, mit dem Verheimlichung und Verleugnung zusammenhängen. Das bestreitet er nicht, aber sieht dies als Ausdruck der gleichen Tendenz (S. 231). Letztlich versteht er Lüge als (unbewussten) gelernten, zielgerichteten »Kunstgriff« der Überwindung von Hilflosigkeit und Furcht vor dem Weiblichen, also »als Arrangement im Dienst des »männlichen Protests« (S. 233). Zum selben Thema »Lüge« war für April 1913 der Aufsatz »Lügenhaftigkeit bei Kindern« für das »Jahrbuch für Pädagogik« (Österr. Verlag) vorgesehen (siehe Zentralblatt III, S. 337), offenbar aber nicht erschienen. Er ist vermutlich identisch mit dem 1914 in Adlers Sammelband »Heilen und Bilden« erschienen Aufsatz von gleichem Titel (der bei den späteren Auflagen allerdings fehlt) (Kaus, 1914b). Dieser viel längere Aufsatz ist weniger abstrakt, theoretisch, sondern, ganz auf die kindliche Lüge ausgerichtet, verfolgt er anschaulich und einfühlsam Entwicklungslinien und Situationen des Kindes, in denen es zur Lüge greift. Phantasie, Gefühl von Hilflosigkeit, Kompensation in Großmannsucht etc. spielen hier eine Rolle, der Zusammenhang zur Sexualität/Onanie wird nicht thematisiert. b. Im gleichen Heft 4 des Zentralblattes 1913 schreibt Kaus eine ausführlichere Besprechung der »Onanie-Debatte«, die in der »Wiener psychoanalytischen Vereinigung« vom Februar bis April 1912 geführt wurde (Kaus, 1913b). Der Rezension von Kaus folgt unmittelbar Stekels Gegenkritik, die Kaus am 16.2.1913 mit einem »offenen Brief« beantwortet (Kaus, 1913e, S. 366 f.). Kaus macht Bemerkungen zu einzelnen Referaten, mit gewisser jugendlicher Arroganz, aber auch mit Kenntnis der Psychoanalyse und

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der verschiedenen Positionen darin, u. a. von Hitschmann, Stekel, Tausk, Rank und Ferenczi. In Victor Tausk findet er am meisten Nähe zu den »Fortschritten« zu Adler. Er selbst wolle, ähnlich Tausk, Onanie nicht nur durch Sexualität erklären, sondern durch die – gängigen adlerianischen – psychologischen Gesichtspunkte wie »Kunstgriff« im Lebenskampf oder Auflehnung gegen den Vater (Kaus, 1913b, S. 248). »Der Verzicht auf fremde Hilfe, die Sicherung vor der Frau, die er durch die Masturbation durchführt, kommen seinem Bedürfnis nach Erhöhung seines Selbstgefühls […] entgegen« (S. 248). Eine Grundhaltung der meisten Referenten, die zwar einen Zusammenhang zwischen Onanie und Neurasthenie herstellen, aber liberaler unter bestimmten Bedingungen in der Onanie auch Vorteile sehen, lehnt Kaus ab. Er glaube an »die Schädlichkeit des masturbatorischen Aktes […] insofern, als dieser die Fixierung von krankhaften, tieferen Tendenzen erleichtert […]. Eine Nützlichkeit der Onanie leugne ich für jeden wie immer gearteten Fall. Die Onanie ist […] der Ausdruck einer Niederlage«, wie er in seinem »offenen Brief« an Stekel deutlich schreibt (Kaus, 1913e, S. 367).51 Maximilian Steiner habe eine ähnliche Position wie er, wenn er sage: »Onanie erzeuge nicht die Neurasthenie, doch sei sie imstande, eine schon vorhandene Neurasthenie in hohem Grade zu steigern« (Kaus, 1913b, S. 247). Stekel, der an der Debatte im Freud-Kreis noch teilgenommen hatte, hebt in seiner Gegenkritik hervor, dass er das »Dogma von der Schädlichkeit der Onanie« zerstören wolle »und die vermeintlichen Schäden auf ihre psychischen Wurzeln, Angst und Schuldbewusstsein, zurückzuführen« seien (Stekel, 1913, S. 252). Onanie sei weder schädlich noch ein Zeichen von Neurasthenie. Er verweist hier auf seine »Polemik« gegen Freud in dieser Frage (S. 250). Die Onaniefrage war von Anfang an Teil der Kontroverse Stekels mit Freud, er hatte Masturbation als normale, neugier- und triebbedingte kindliche Sexualität gegen Freud verteidigt (vgl. Mühlleitner, 1992; Goddemeier, 2015, S. 318). In seiner Antwort geht Stekel väterlich, leicht ironisch auf Kaus ein: sein »jugendlicher Eifer«, seine zweifellos »psychologische Begabung«, sein Adler’scher Dogmatismus (Stekel, 1913, S. 249 f.). Kaus 51 Diese strikte Ablehnung von Onanie findet sich bei Adler nicht (vgl. Adler, 1905).

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wehrt sich in seinem »Offenen Brief« sehr gekonnt und polemisch gegen den »Vorwurf« seiner Jugendlichkeit und eines Meister-­SchülerVerhältnisses zu Adler. c. 1913 finden wir im Zentralblatt noch zwei Besprechungen von zwei italienischen psychiatrischen Zeitschriften: »Rassegna di studi psichiatrici« und »Psiche«. »Rassegna« (Revue) war wohl eher psychiatrisch-neurologisch, die neue Zeitschrift »Psiche«, gegründet 1912 von Roberto Assaglioli, war psychoanalytisch orientiert.52 Beide Zeitschriften wurden von Kaus – sehr selbstbewusst und »wissend« – positiv, als fortschrittlich, mit Offenheit für ausländische Psychiatrie und Psychoanalyse eingestuft. Er kündigt die Übersetzung eines Aufsatzes von Agostino Gemelli in den »Monatsheften für Pädagogik« (Österr. Verlag, 1913) durch ihn an.53 1914 ist in »Psiche« die Übersetzung von Adlers »Erziehung der Eltern« (deutsch 1912) erschienen und auch ein Artikel von Otto Kaus – der mir nicht zugänglich ist. d. Rezension von Otto Hinrichsens »Abreagieren« (1914) Es handelt sich um einen kurzen, etwas schwierigen Text, in dem die jeweiligen Positionen, Übereinstimmungen und Differenzen oft nicht so klar werden. Kaus sieht bei Hinrichsen Skepsis gegenüber Freuds Mechanismus des »Abreagierens«, der er wohl indirekt zustimmt. Er teile im Großen und Ganzen Hinrichsens Position, wolle ihn nur »ergänzen«. Hinrichsen mache Ausführungen zur »Bedeutung des Überlegens«, worin Kaus eine »Attitude der Vorbereitung und Sicherung« (also kompensatorisch) sehe, gegebenenfalls als Nicht-handeln-Wollen (S. 187). Eine Person muss sich sichern, wo Gefahr für das Persönlichkeitsideal ist. Das »Abreagieren« muss im Zusammenhang mit dem ganzen Erleben gesehen werden, und auch die Affektbereitschaft sei nur aus der einheitlichen Zielsetzung des Individuums verständlich. Hier gebe es 52 Roberto Assaglioli (1888–1974), Psychiater, aufgeschlossen für die Psychoanalyse, Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, entfernte sich 1914 von Freud, gründete seine Methode der »Psychosynthese« (vgl. Wikipedia-Artikel »Roberto Assaglioli«, Zugriff am 10.07.2018). 53 A. Gemelli 1878–1959: italienischer Arzt, Psychologe, Franziskanerpriester.

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bei Hinrichsen viel Übereinstimmung mit dem Denken Adlers, so dass Kaus die fehlende Zitierung von Adler moniert. Otto Hinrichsen, geb. 1870, war Privatdozent, Psychiater und Dichter in der Schweiz, Klinik Herisau, in der der Dichter Robert Walser betreut wurde. Hinrichsen veröffentlichte öfter im Zentralblatt und war der Adler’schen Lehre sehr zugewandt, wie aus seinem Beitrag von 1913 deutlich wird. »Mein eigenes Eintreten für Adler […] ist bekannt«, wie er anlässlich seiner wohlwollenden Rezension von Adlers »Heilen und Bilden« schreibt (Hinrichsen, 1914, S. 485).

Flüchtlingsneurose (1915) Kaus berichtet in diesem Zeitschriftenaufsatz von »Beobachtungen« an Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina im »Nervenambulatorium« des »Wiener Armutsambulatoriums«54: Diese Flüchtlinge hätten verschiedene »funktionelle Störungen«, keine durch ein äußeres Trauma erlittene. Es handele sich also nicht um eine »spezifische Flüchtlingsneurose«, denn sie sprächen nur von alltäglichen »kleinlichen Dingen«, nicht vom Krieg, sie seien vom Krieg nicht erschüttert. »Der Neurotiker […] blieb vom Krieg unberührt«. Krieg diene Neurotikern allenfalls als Ausrede (Kaus, 1915, S. 347 f.). Vom Krieg beeindruckt seien vielmehr die Gesunden, sie »empfinden das Anormale ihrer Situation […] umso drückender, je gesünder sie sind. Nur bei den Gesunden ist aufrichtiger Schmerz über den Verlust, bitteres Heimweh […] anzutreffen« (S. 349). Kaus diffamiert und leugnet hier ein Trauma durch Flucht im Krieg und verknüpft dies legitimatorisch und elitär damit, dass der »Gesunde« sensibler als der »Neurotiker« sei – eine Position, die im umgekehrten Sinn von anderen vertreten wurde, s. z. B. von Otto Gross, wo das »höhere«, sensiblere Individuum notwendigerweise neurotisch werden müsste. Mit der Leugnung des Kriegstraumas stimmt er in den Chor der Psychiater ein – der im Lauf des Krieges immer stärker geworden ist und die damit die Interessen der Kriegstreiber bedienten, den Krieg 54 Schiferer schreibt, Kaus »lieferte einige Psychogramme von Lagerpsychosen in der Zeitschrift »Die Aktion« (Schiferer, 1995, S. 96). In der »Aktion« habe ich zwischen 1915 und 1925 dazu nichts finden können.

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verharmlosten und die Folgekosten (z. B. Rente) nicht zahlen wollten. Die Psychoanalyse und auch Adler waren zwar zu dieser Zeit hiervon nicht allzu weit entfernt, gingen aber doch etwas sensibler damit um (vgl. Kapitel zum Krieg; vgl. Freud, 1919; Bruder-Bezzel, 2016).

Sexualität, Ehe, Perversion (1924–1926) Kaus äußert sich, wie auch Adler selbst, relativ häufig zu dem Themenkomplex Sexualität und Partnerschaft. Solche Fragen, besonders das Thema Reform der Ehe, hatten in den 1920er Jahren einen sehr hohen Stellenwert und wurden in unendlich vielen, meist populären Schriften verhandelt und waren Gegenstand auch (partei-)politischer Debatten (vgl. Bruder-Bezzel, 1999, S. 130 ff.). Nach den Bemerkungen zur Homosexualität und zur Onanie 1912/13 erscheinen ab 1924 einige längere Beiträge zur Sexualität. Insgesamt muss man konstatieren, dass Kaus zumindest in der Frage der Ehe eher konservativ ist, ganz entgegen seines (angeblich) propagierten eigenen Lebensstils, zumindest des ehemaligen. Einmal, 1926, spricht er vom »Bankrott so vieler abenteuerlicher theoretischer Experimente« im Bereich der Erotik (zit. nach Hofender, 2013, S. 233).

Ehe und Ehelosigkeit (1924a) In einem Aufsatz in der individualpsychologischen Schriftenreihe »Mensch und Gemeinschaft« erweist sich Kaus als ein treuer Schüler der damaligen Individualpsychologie. Ehe war ein wichtiges Anliegen Adlers, Verbindungsstelle zum Gemeinschaftsbegriff, eine der drei »Lebensaufgaben« (neben Arbeit und Gemeinschaft). Und so wie Adler betrachtet auch Kaus Ehe nicht nur als Geschlechtsgemeinschaft, sondern als »Schicksalsgemeinschaft« zur Bewältigung wirklicher Aufgaben und sozialer Verantwortlichkeit (Kaus, 1924a, S. 50). Kaus hat zwar einerseits moderne, fortschrittliche Prämissen zur Sexualität und zu Geschlechterbeziehungen, aber er opfert diese den Forderungen der Gesellschaftsnormen bzw. den vermeintlichen Notwendigkeiten in einer Gesellschaft. So geht er davon aus, dass »die angeborene Sexualität« gestaltlos amorph ist, auf kein Objekt gerichtet« (S. 43), dass es keinerlei bio-

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logische Prädestination gibt, die zu einer bestimmten Geschlechts­ gemeinschaft verpflichte, polygam, polyandrisch oder monogam sei nicht einer »Natur« des Menschen angepasst (S. 45). Man wird polygam oder monogam, indem man sich den kulturellen Vorgaben anpasst. Er polemisiert gegen das »Männerprivileg« vom »Dogma vom »polygamen« Mann«, das besonders verteidigt werde, »je krasser das Männlichkeitsideal als Fetisch […] hervortritt« (S. 55). Auch verteidigt er die Befreiung der Frau. Nicht die Befreiung der Frau zerstöre die Ehe, sondern die Unterdrückungstendenz des Mannes (S. 51). Mit der Anerkennung »der seelischen Gleichwertigkeit der Frau« könne es keine gesellschaftliche Norm eines »Promiskuitätsprogramms« geben (S. 46). Dann aber verteidigt er die Monogamie samt ehelicher Treue, Unlösbarkeit und sozialer Verantwortlichkeit der Partner (S. 47), und zwar mit der Begründung, dass dies die Form sei, die der Gesellschaft den größten Nutzen bringe, Verantwortung für die Gemeinschaft übernehme (S. 46). Da diese Gesellschaft monogam ausgelegt sei (zur Förderung der Fortpflanzung), werde der Einzelne auch monogam und bringe Monogamie zwingend auch den größten Nutzen. Hier geraten kulturelles Produkt (»diese Gesellschaft«) und biologische Begründung ziemlich durcheinander. Schlechte Ehen, deren es viele gebe, kämen vor allem durch eine falsche »Liebeswahl« zustande, von denen er einige Konstellationen aufzählt (S. 53 ff.). Mit dem Wissen um Gefahren und Niederlagen hänge dann auch die Angst vor der Liebe und Ehe zusammen, die dann zur Ehelosigkeit führt, besonders von Frauen, die in »unserer männlich eingestellten Kultur« die »Unterdrückung und Niederlage« fürchten (S. 60 f.).

»Sexuelle Verwirrungen« (1926c, mit Fritz Künkel) Insgesamt ist auch dieser Aufsatz eher konservativ, besonders in der Einschätzung der Homosexualität als Perversion, was allerdings damals weit verbreitet war. Doch bringt der Beitrag einzelne interessante Beobachtungen und Einschätzungen. Schwierigkeiten in der Abgrenzung der perversen von normaler Sexualität seien abhängig von kulturellen Normen, religiösen und moralischen Gesichtspunkten, die sich historisch wandeln. Auch kann Sexua-

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lität »überwertigen Charakter« bekommen, »Tummelplatz gehemmter Aggressions- und Machttendenzen werden« (Kaus u. Künkel, 1926c, S. 556). Allerdings zeigen sich Machtverhältnisse auch in der ganz normalen Sexualität, der üblichen Sexualstellung innerhalb unserer Männerkultur: »Der normale Sexualakt erscheint dadurch als Akt der Machtergreifung, als Äußerung des Herrscherwillens des Mannes« (S. 556). Auf das Vorherrschen einer »Männerkultur«, »Mannesprivileg« und daraus folgendem »männlichen Protest« wird mehrmals kritisch verwiesen (z. B. S. 566 f.). Sexuelle Askese und Perversion seien verwandt, als »Widerspruch zum Lebenswillen« (S. 557), als Angst vor der Liebe und Liebesgemeinschaft (S. 558). Tendenz zur pathologischen Sexualität und Perversion liege bei negativistischer, antagonistischer Haltung zum sozial Förderlichen vor, als Dauerfehde mit dem Kulturensemble (S. 561 f.). Abnorme Sexualhaltungen seien »früh eingeübt« und trügen »daher regelmäßig infantile Züge« (S. 564). In einem zweiten Teil bringen die Autoren Fallbeispiele, und zwar zu Impotenz, Satyriasis (Donjuanismus), Homosexualität und Masochismus. Homosexualität als Perversion sei erworben und »heilbar« und bedeute u. a. eine Flucht vor der Frau, vor dem anderen Geschlecht (S. 570 f., 577). Sie vertreten aber den Standpunkt, »die Aufhebung aller Ausnahmegesetze gegen die Homosexualität § 175 sei […] zu empfehlen« […]. Statt »Zwang […] Erziehung und Aufklärung« (S. 562).

Rezension zum »Ehe-Buch« (1926d) Das »Ehe-Buch« wurde von Hermann Graf Keyserling 1925 herausgegeben, in dem eine Reihe von namhaften Autoren schreiben, u. a. C. G. Jung, Thomas Mann, Ricarda Huch, auch Adler (vgl. Adler, 1925, S. 147 ff.). Es geht eher um ein konservatives Buch, das Kaus wohlwollend bespricht mit dem Bekenntnis zur Ehe »in ihrer strengsten monogamen Form« (zit. nach Hofender, 2013, S. 233).

Du und Dein Partner (1926f) Wieder geht es um das Wesen der Ehe als Liebes- und Schicksals­ gemeinschaft, als eine notwendige Beziehungsform mit sozialen Auf-

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gaben, der Erfüllung der Forderungen der Gemeinschaft, Bereicherung der Menschheit (Kaus, 1926f, S. 47, 55). Nicht zu leugnen sei, dass es viele Schwierigkeiten, Unverträglichkeiten mit der Ehe gibt, aus denen geschädigte Kinder entwachsen (S. 50 f.). Der Beitrag ist, zusammen mit einem zweiten Beitrag (»Du und dein Kamerad«), in dem populären Sammelband »Du und der Alltag« erschienen, in dem ausschließlich namhafte Individualpsychologen schreiben. Der Herausgeber Johannes Neumann kam von der Religionspsychologie und hatte sich um die Münchener individualpsychologische Gruppe geschart (vgl. Bruder-Bezzel, 1999, S. 87, 233).

Drei kleine Beiträge zur psychologischen Dynamik und Entwicklungspsychologie (1926) Lampenfieber (1926b) Der kurze Beitrag stellt einen Zusammenhang her zwischen Ruhmsucht, egozentrischer Einstellung und Lampenfieber, das ein Alibi für gekränktes Selbstgefühl ist. Man kann es nur überwinden durch Bewusstwerden und Anerkennung dieses Zusammenhangs und durch ein Wachsen an der sachlichen, d. h. gemeinschaftlichen, Aufgabe.

Du und Dein Kamerad (1926e) Der Beitrag verfolgt Überlegungen zur Entwicklung von Heranwachsenden, er betont die Wirklichkeit als soziale, als Bedingung, mit der der Einzelne zu rechnen hat. Die Orientierung auf Gemeinschaft gilt als Fortschritt und Unausweichlichkeit der Menschheit, und die Gemeinschaftsfähigkeit selbst sei für den Einzelnen die größte Kraftressource.

Das einzige Kind (1926 g) Der Beitrag gibt konzentriert die Position der damaligen Individualpsychologie zu Familie, Geschwister, Ehe wieder. Diese ist geprägt vom Druck zu angepasster »Normalität« und der moralischen Verurteilung eines vermeintlichen Egoismus bei einem einzigen Kind, das scheinbar zwangsläufig geschädigt werde.

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Kaus geht von der prägenden, aber kritisch zu sehenden Wirkung der Familie aus, von ihrem Grundfehler der Enge und Gegensätzlichkeit gegenüber der Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die allerdings ein Gefühl der Sicherheit vermitteln kann. Fehlerquelle der Familienerziehung sei zudem die Stellung der Kinder in der Geschwisterreihe. Die Schwierigkeiten häufen sich beim einzigen Kind bzw. bei den entsprechenden Eltern. In ihrer Ablehnung eines zweiten Kindes seien sie mutlos dem Leben gegenüber, hätten sie ein liebloses Familienleben oder zeigten Ablehnung der Frauenrolle. Das einzige Kind steht den Erwachsenen ungeschützt gegenüber, muss sich da als minderwertig, schwach fühlen, oder das Kind bekommt zu viel Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Meist liegt beim einzigen Kind ein Mischprodukt aus Verzärtelung und Strenge vor, wodurch es unselbständig und empfindlich bleibt, zwischen dem Gefühl der Selbstherrlichkeit und Feindseligkeit schwankt. Dazu bringt Kaus zwei Fallbeispiele.

Theoretische und philosophische Grundlagen der Individualpsychologie (1926–1931)55 Leib-Seele-Problem (1926i) Es geht auch in diesem Aufsatz, nun viel ausführlicher und grundlegender, um die Verteidigung des Einheitsgedankens der Individualpsychologie. Positiver Leitfaden der Darstellung ist der Sammelband von Oswald Schwarz, »Psychogenese und Psychotherapie körperlicher Symptome« (1925). Es gehe Schwarz um zweierlei: 1. Die Einseitigkeit sei nur mit physiologischer Medizin zu bekämpfen und Medizin als Wissenschaft vom Ganzen zu verstehen, also müsse psychologisches Denken in die Medizin eingebracht werden. 2. Das Leib-Seele-Problem sei das Grundproblem der Medizin (Kaus, 1926i, S. 124 f.).

55 Siehe auch das Kapitel zur Wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Debatte.

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Im Leib-Seele-Problem vertrete Individualpsychologie die Ganzheitsbetrachtung, in der die Wechselwirkung zwischen Physischem und Psychischem durch dasselbe dynamische Prinzip, nämlich die Zielstrebigkeit, gewährleistet und begründet wird. Diese Wechselwirkungstheorie sei in der Kompensationslehre verankert. Die Wechselwirkungstheorie schließe den Dualismus aus, die Individualpsychologie mache »Ernst mit der monistischen Auffassung des Leib-Seelenproblems«, »sie tut es […] durch die Auflösung der scheinbaren Widersprüche in einer höheren Einheit« (S. 139). Individualpsychologie, meint Kaus, treibe Biologie, sie habe es mit Naturtatsachen und naturwissenschaftlichen Gesetzen zu tun (S. 130). Dieses Buch von Oswald Schwarz war am 9.5.1927 Auslöser für eine große Auseinandersetzung mit dem Adler-Kreis, bei dem es zum Austritt oder Rauswurf von Schwarz und einem seiner Beiträger, Rudolf Allers, aus der Wiener Individualpsychologie kam. Oswald Schwarz war ein philosophisch orientierter Mediziner, Privat­dozent für Urologie, Rudolf Allers Privatdozent, Psychiater und Philosoph, beide streng katholisch, konservativ. Es ging um den akademisch-wissenschaftlichen und weltanschaulichen Status der Individualpsychologie, sehr stark aber wohl um die politisch-marxistische Ausrichtung von Teilen der Individualpsychologie, die damals von Adler zumindest noch geschützt wurde (vgl. Levy, 2002a, S. 27 ff., Levy, 2002b, S. 239 ff.; Kümmel, 2010, S. 81 ff.).

Zur Einheit der Persönlichkeit (1926j) Kaus verteidigt in diesem sehr knappen Text das individualpsychologische Konzept der »Einheit« der Persönlichkeit, gegen einen Dualismus verschiedener Strebungen oder Triebe oder gegen den (psychoanalytischen) Konfliktbegriff. Fritz Künkel, dem Kaus offenbar zur Seite steht, vertritt diese Einheit versus Konflikt 1925 in besonderer Entschiedenheit. Es hätten sich, meint Kaus, in der Individualpsychologie dualistische Vorstellungen von zwei Strebungen oder »Trieben« eingeschmuggelt. Die Einheit der Persönlichkeit aber ist durch das eine Ziel im Lebensplan begründet, neben einer Vielheit von einzelnen Leitlinien, die auf eine Vielfalt der einwirkenden Kräfte antworten. Das aber seien nur sekundäre Prozesse, verschiedene Wege bei selbem Ziel.

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Individualpsychologie und Politik (1926k) Es geht um das Verhältnis zwischen den Wissenschaften Politik und (Individual-)Psychologie, Individuum und Gesellschaft. Beide Wissenschaften seien auf Erkenntnis und Veränderung des Lebens aus (Kaus, 1926k, S. 98). Kaus besteht auf dem wissenschaftlichen, gleichwohl aber werthaltigen Charakter von Theorie und Praxis. In der Praxis der Individualpsychologie, Pädagogik, Psychotherapie, kritischer Aufklärung dürfe keine politische Beeinflussung stattfinden. Kaus besteht auf dem naturwissenschaftlichen Charakter der Individualpsychologie als Wissenschaft, daher auf Kausalität gegen Teleologie. Die wertenden Einstellungen, die als soziale Forderungen an den Menschen herangetragen werden, seien »Naturgesetz und kein ethisches Postulat« (S. 109). Die Verbindung von Individualpsychologie und Politik hängt mit der sozialen Bezogenheit des Menschen zusammen (S. 112), Wirklichkeit ist soziale Wirklichkeit. »Es ist unmöglich, eine Psychologie des Individuums zu entwerfen, ohne gleichzeitig eine Psychologie der Gemeinschaft zu konzipieren« (S. 113). Die Individualpsychologie müsse sich ergänzen um eine naturwissenschaftliche Soziologie, welche die Maximen der Individualpsychologie auf das Gesellschaftsganze überträgt« (S. 125). Dafür sei der Marxismus am besten geeignet, da eine prinzipielle Wesensverwandtschaft zwischen den marxistischen Thesen und den Thesen der Individualpsychologie bestehe« (S. 125). Es ist ein ziemlich abstrakter, streckenweise schwer nachvollziehbarer Aufsatz, der allerdings in seinen Auffassungen von Psychologie als Naturwissenschaft und von Marxismus als naturgesetzliche Soziologie zeitgenössischen Auffassungen von linken individualpsychologischen Kollegen entspricht.

Pestalozzi und wir (1927) Der Aufsatz teilt sich in zwei Teile. Im ersten Teil geht es um die Einschätzung Pestalozzis und die Beziehung der herrschenden Pädagogik und der Individualpsychologie zu ihm, im zweiten um die wissenschaftstheoretische Einordnung der Individualpsychologie, ähnlich den vorherigen Aufsätzen, nun in besonders polemischem bis sarkastischem Ton.

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Im ersten Teil erläutert Kaus mit Verweis u. a. auf Prügelerziehung und Dressur, dass die gängige Pädagogik kein Recht habe, sich auf Pestalozzi zu berufen. Dagegen habe keine andere Schule die fruchtbaren Tendenzen Pestalozzis so weiterentwickelt wie die Individualpsychologie (Kaus, 1927, S. 129). Die Schule Adlers sei eine würdige Nachfolgerin des psychologischen Realismus von Pestalozzi (S. 135). Es gebe eine Übereinstimmung der individualpsychologischen Päda­ gogik, der Montessori-Methode und der Arbeitsschule mit Pestalozzis Ansätzen (S. 132). Pestalozzi klagt soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung, sozialen Egoismus und solipsistische Vereinsamung als das Übel dieser Gesellschaft an. (S. 137). Daneben habe Pestalozzi idealistische und religiös-transzendentalistische Tendenzen (S. 135). Im zweiten Teil geht es wieder um die biologisch-naturwissenschaftliche Einstellung der Individualpsychologie, ihr Zusammengehen mit einer naturwissenschaftlichen (marxistischen) Soziologie (S. 144). Er beschwört den »revolutionären Gehalt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis« gegenüber dem »Terror der geisteswissenschaftlichen Verschleierung der Wirklichkeit […] damit diese Welt so bleibe, wie sie ist« (S. 139), und wettert ironisierend gegen transzendentalen Rigorismus, Kant’schen Idealismus und metaphysischen Irrationalismus (S. 138).

Der Begriff der Norm in der Individualpsychologie (1930) Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag fünf Jahre vorher, gehalten auf dem »Internationalen Kongress für Individualpsychologie« in Berlin 1925. Das »Autoreferat« dazu erschien 1926 in der IZI (1926h, S. 102). Formal misst sich Norm an der Erfüllung der Lebensaufgaben, nötig sei auch die Berücksichtigung des Kulturganzen. Es sei in der Normfrage eine Schwierigkeit bei der Individualpsychologie, dass sie »in denselben Tendenzen (Minderwertigkeitsgefühl, Sicherheitsstreben), die eine neurotische Einstellung einleiten können, die Kraftquellen auch aller vollwertigen Kulturleistungen erblickt« (Kaus, 1930, S. 426). Die Gefahr bestehe, dass der Normbegriff der Individualpsychologie, der soziologisch zu verstehen sei, mit dem Normbegriff der medizinischen Nosologie identifiziert wird. Der Krankheitsbegriff der Medizin habe eine »entwertende Tendenz« und rufe Überlegenheitsgefühle hervor (S. 427). Der Normbegriff müsse durch soziologische Erfahrung gewonnen werden und wandelt sich historisch (S. 432). Individualpsychologie

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müsse sich als Teil der Soziologie sehen, daher ihre »Entdeckung […], dass eine Lehre vom Charakter des Menschen eine Lehre von seinen Beziehungen zur Gemeinschaft sein muss, dass der Mensch erst durch die Inbezugsetzung zur Gemeinschaft psychisch zu leben und zu erleben beginnt« (S. 433).

Anmerkungen zur Individualpsychologie (1931) Es ist, soweit wir wissen, der letzte Aufsatz von Kaus überhaupt, und der ist außerhalb der individualpsychologischen Organe erschienen, wendet sich somit nach »außen«. Es ist eine Art Abrechnung mit dem gegenwärtigen Status der Individualpsychologie und seinen »Adepten«. Daran schließt sich eine Falldarstellung oder psychodynamische Analyse einer Paarkonstellation an. Kaus ist die Adler’sche therapeutische Haltung, »Individualpsychologie ist ein künstlerischer Beruf« oder sie erfordere die »künstlerische Versenkung« (Adler, 1913, S. 69), eine Mahnung, weil diesem Zitat von individualpsychologischen »Adepten« keineswegs immer gefolgt werde. Adlers Begriffe würden nicht richtig angewendet, seien der Gefahr der »Schablonisierung« ausgesetzt (Kaus, 1931, S. 88 f.). Auch fehle die Einfühlung, stattdessen werde eine psychologische Erscheinung »in das Netz der erlernten Begriffe« eingefangen (S. 90). Bedenklich ist ihm der Ausdruck »Technik« der Individualpsychologie, was nach Anwendung von Auswendiggelerntem aussehe und dem Geist der Individualpsychologie widerspreche, im Unterschied zum Einfühlen und Künstlerischen. Für die Analyse genüge es eben nicht, einfach individualpsychologische Begriffe wie z. B. Entmutigung, Überkompensation, Trainingslehre als Deutung zu (miss-)brauchen, statt Zusammenhänge herzustellen. In der Öffentlichkeit erscheine daher Individualpsychologie oft als naiv und wie mit »Apothekerrezepten« angewendet (S. 92). Entscheidend sei dagegen die intuitive Zusammenhangsbetrachtung, des Zusammenhangs der ganzen Entwicklung, der verschiedenen Verhaltensweisen, der sozialen Umwelt und einheitlichen Persönlichkeit (S. 92 f.). Zur Erläuterung, wie in seinem Sinn eine Analyse aussehen müsste und wie schwierig sie ist, beschreibt er sehr ausführlich die Dynamik einer Paarbeziehung mit dessen sexuell-erotischen Verwicklungen. Diese Falldarstellung arbeitet in der Tat analytisch ohne vorgefertigte

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analytische oder individualpsychologische Schablonen. Kaus spricht hier selbst stets von Analyse, Analytiker, Analysand und folgt damit Arthur Kronfeld56, was wohl als eine neue Annäherung an die Psychoanalyse, in Verbindung mit einer zugleich beginnenden Abkehr von der Individualpsychologie, gesehen werden kann. Dieser Aufsatz drückt eine große Unzufriedenheit mit der eigenen Schule aus, ja eine Peinlichkeit vielleicht über ihre Verballhornung, niederes intellektuelles und wissenschaftliches Niveau. Kaus beschuldigt die »Adepten« – ohne konkret zu werden – und meint vielleicht auch den »Meister«. Und damit steht Kaus um diese Zeit auch innerhalb der Individualpsychologie nicht allein, was spätestens die Debatte um Schwarz und Allers und deren Austritt 1927 deutlich gemacht haben, die in ihrer Kritik in Wien keineswegs allein standen. Kaus selbst hatte sich 1926 positiv auf Schwarz bezogen (zum Leib-Seele-Problem). Kritiker Adlers war auch Erwin Wexberg, der offizielle Vertreter des bereits vorwiegend in den USA lebenden Adler. Wexberg schildert in Privatbriefen an Else Freistadt eine explosive Stimmung bei Adler auf jede Kritik und Wexberg selbst spart nicht mit Kritik an dem »paranoiden«, starren, rechthaberischen Adler (vgl. Kümmel, 2010, S. 81 ff.). Auch in einer Korrespondenz zwischen Wexberg und Adler 1927 und 1932 äußert Wexberg sehr deutlich Kritik (Adler, 2014, S. 228 ff.). Auch in Berlin kam es ab 1929 zu Abspaltungen und Auflösungserscheinungen, (Spaltung der Berliner Ortsgruppe, Auflösung des Instituts), die mit der Abspaltung von Künkel und scharfer Kritik vom marxistischen Flügel verbunden waren (vgl. Kapitel zu Sperber, vgl. Bruder-Bezzel, 2014).

Einordnung von Kaus in die Debatte zur Erkenntnistheorie Kaus’ Beiträge zu den Grundlagen der Individualpsychologie ab 1926 stehen in einer Reihe mit den Debatten zur Wissenschafts- und Erkenntniskritik in der Individualpsychologie der 1920er Jahre (vgl. Kapitel zur Wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Debatte). 56 A. Kronfeld (1866–1941): Berliner Psychiater und Therapeut, der zeitweise mit dem Berliner individualpsychologischen Institut verbunden war (vgl. Bruder-Bezzel, 2014; Vogelsänger, 2014).

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Kaus positioniert sich zur Gruppe derer, die die Individualpsychologie als Naturwissenschaft verstehen, ja er spitzt den naturwissenschaftlichen Ansatz noch zu. Er betont die Einheit, den sozialen Charakter des Individuums und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Dimensionen. Kaus und diese Gruppe verstehen diese naturwissenschaftliche Individualpsychologie zugleich als Soziologie, was sie auch als »marxistisch« sehen. Diese Zugehörigkeit von Kaus in der Theorie zum marxistischen Flügel ist nicht überraschend angesichts seiner explizit politischen Zeit. Auffallend ist eher, dass er da, wo der marxistische Flügel konkret und organisatorisch auftritt (Kongresse in Dresden und Wien, Berliner Institut), offenbar nicht in Erscheinung tritt und er sich bei der politisch motivierten Spaltung der Berliner Ortsgruppe beim rechten Flügel um Fritz Künkel angesiedelt hat.

III. Literaturinterpretationen: Dostojewski, Strindberg und andere Die Beschäftigung mit Kunst und Künstlern und ihren Werken spielte in der psychoanalytischen Vereinigung von Anfang an eine heraus­ragende Rolle. Dichtung galt als vorbildlich für das Verstehen von psychologischen Zusammenhängen, Dichter als Menschenkenner, die durch »Intuition« erfassen, was die Wissenschaft und die Psychoanalyse selbst »in mühseliger Weise an anderen Menschen aufgedeckt habe«, wie es in dem berühmten Brief Freuds an seinen »Doppelgänger« Arthur Schnitzler heißt (Freud, 1922, zit. nach Worbs, 1983, S. 179). Immer wieder wurden in diesem Kreis einzelne Werke oder einzelne Künstler und Autoren im Sinn einer Psychographie interpretiert. Damit wurden Werke aus der Biographie der Künstler heraus zu erklären versucht, als Ergebnis der frühen Kindheit und des Unbewussten – was von manchen Literaturkritikern scharf abgelehnt wurde. Gern wurden hierin pathologische Prozesse »entdeckt«, Biographie wurde zur Pathographie. Schließlich suchte man aber auch mit psychoanalytischen Mitteln ein Werk zu erschließen, seine Prozesse oder Charakterfiguren psychoanalytisch zu interpretieren und sah darin eine Bestätigung für die eigene Theorie. Daraus entstand eine Fülle von psychoanalytischen

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Literaturinterpretationen, die sich zu einem eigenständigen Interpretationsansatz entwickelten. In dieser Tradition steht auch die Individualpsychologie und hier auch Kaus. In den individualpsychologischen Vereinsabenden und in vielen Publikationen ging es immer wieder auch um Literaturinterpretationen. Neben Adler sind dazu von den frühen Anhängern u. a. Carl Furtmüller, David Oppenheim, Hedwig Schulhof zu nennen. Adlers gesamte Schriften sind sehr reich an Verweisen auf einzelne Künstler(-biographien), auf literarische Figuren und aphoristisch eingefügten Literaturzitaten, mit denen er seine Gedanken illustriert oder belegt findet. Frühzeitig hatte er Kontakt mit der schriftstellerischen Expressionistenszene in Zürich und Wien gepflegt (vgl. Kapitel zu Ehrenstein), 1913 hatte er sich gesondert mit einer Novelle auseinandergesetzt (vgl. Kapitel zu Berger) und 1918 mit Dostojewski (Adler, 1918a). Heute liegen zu dieser Thematik, Individualpsychologie und Literaturwissenschaft, immerhin zwei Monographien vor, von Hoefele (1986) und Schimmer (2001). Auch hat Josef Rattner immer wieder dazu geschrieben (z. B. 1979). In keinem dieser Bücher wird Kaus erwähnt. In den letzten Jahren hat Peter Fräfel eine umfangreiche Arbeit über Individualpsychologie und Dostojewski vorgelegt (2011, 2015), und darin, als Erster, auch Kaus berücksichtigt, wenn auch nur kurz. Die Beschäftigung mit Literatur scheint das primäre Interesse von Kaus gewesen zu sein, mit diesem Thema steigt er in die publizierende Tätigkeit ein, und zwar schon in sehr jugendlichem Alter, mit 18 Jahren. Er schreibt dazu zwischen 1909/1912 bis 1923/26, also vom 18. bis zum 32. Lebensjahr, größere oder kleinere Arbeiten und Bücher, insgesamt elf. Zuvor hat er ein eigenes kleines literarisches Werk verfasst. Kein anderer Autor der Individualpsychologie hat eine solche Fülle von Literatur- oder Dichterinterpretationen vorgelegt wie Otto Kaus, umso erstaunlicher, dass er bis vor Kurzem nicht genannt wurde. Seine Arbeiten konzentrieren sich auf drei bis vier Autoren des 19. Jahrhunderts, zwischen Romantik und Realismus/Naturalismus, und zwar Gogol (1 ×), Tolstoi (1 ×), Dostojewski (5 ×), das Umfeld des Intellektuellen Mereschkowski (1 ×), Strindberg (3 ×) und Flaubert (1 ×) – alles Autoren, besonders Dostojewski und Strindberg, die in dieser Zeit, weltweit und in Deutschland, gerade auch in der Kriegszeit, hochprominent waren, ja Furore gemacht haben. Und Kaus scheint ein

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besonderer Kenner der russischen Literatur zu sein und diese zu bevorzugen. Dostojewski verehrt er, mit vielen Einschränkungen, Strindberg und den Kult um ihn verurteilt er. Ich werde im Folgenden diese Arbeiten nur eher summarisch skizzieren, kann weder umfassende Inhaltsangaben noch eine literaturwissenschaftliche Einschätzung abgeben. Nach seinem eigenen Literaturprodukt, der Tragödie »Phaeton« (erstens), stelle ich dann zweitens die Rezeption der russischen Dichter und Literatur vor, Gogol, Dostojewski und Tolstoi, jeweils in chronologischer Reihenfolge, und drittens seine Auseinandersetzung mit Strindberg. Dies ergänze ich mit kurzen Verweisen auf entsprechende Beiträge von anderen Individualpsychologen der damaligen Zeit.

Phaeton 1909/1914 Kaus’ schriftstellerischer Einstieg beginnt mit einer eigenen literari­ schen Produktion, einer »Tragödie in einem Aufzug«, »Phaeton«, erschienen im renommierten Verlag Hyperion, Berlin. Möglicherweise hatte Franz Blei ihm zu diesem Verlag verholfen, da Blei ab 1913 in diesem Verlag an exponierter Stelle stand. Sie erschien 1914, aber mit dem ausdrücklichen Vermerk, dass sie 1909 verfasst wurde – da war Kaus 18 Jahre, noch Schüler eines gewiss humanistischen Gymnasiums. Es ist ein, dem antiken Stoff angepasster, rhythmisierter Text, in altertümlicher, getragener Sprache und gewissem Pathos. Das Versmaß ist nicht gleichmäßig, besteht überwiegend aus Jamben. Der antike Stoff »Phaeton« hat verschiedene Varianten von Hesiod zu Euripides bis zu Ovid durchlaufen. Phaeton ist der Sohn des Sonnengottes Helios und der sterblichen Klymene, die mit Helios ihren Gatten Merops betrügt. Phaeton bittet seinen Vater Helios, den Sonnenwagen fahren zu dürfen, übernimmt sich damit und stürzt ab, was zu einer Katastrophe universalen Ausmaßes führt. Phaeton steht somit gern für Himmelsstürmer, Überschätzung, Überheblichkeit (vgl. Wikipedia57) – was ein passendes Thema für Individualpsychologie wäre, die Kaus 1909 sicher noch nicht kannte. 57 Wikipedia-Artikel »Phaeton (Mythologie)«, Zugriff am 10.07.2018.

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Die Fassung von Kaus beschäftigt sich allerdings nicht mit dem Sturz selbst, sondern mit einer Szene, bevor er zu seinem Vater entschwindet. Es ist eine heftige, böse Auseinandersetzung mit seiner Mutter Klymene, die sich beklagt über seine »Unrast«, sein ausschweifendes Leben mit »trunkenen Festen« mit »wüsten Freunden«. Sie sieht in ihrem Sohn die Schmach, den Frevel seiner Geburt, klagt sich selbst an, aber gibt auch ihrem harten, kalten Gatten Merops die Schuld, der ihrem Sohn das Geheimnis verraten hat. Und umgekehrt beschimpft Phaeton ganz heftig seine Mutter wegen seiner Geburt, sie betrüge, lüge, er habe Ekel und Hass. Eigentlich wird, vordergründig, ein Mutter-­ Sohn-Konflikt oder ein Familiendrama dargestellt. In einer umfangreichen Studie über den Phaeton-Mythos ordnet Christiane Hansen Kaus’ Phaeton so ein: »Otto Kaus dekonstruiert Phaetons scheinbar tragische Disposition zwischen sterblichem und unsterblichem Dasein zu einer literarischen Studie um Minderwertigkeit und Aggression« (Hansen, 2012, S. 284).

Russische Literatur: Gogol, Dostojewski und Tolstoi Die russische Literatur hat in der Individualpsychologie einen besonderen Stellenwert, russische Autoren kommen in Adlers Hauptwerk, der »Nervöse Charakter« (März/April 1912), als Fallbeispiele mehrfach vor, sowohl Gogol als auch Dostojewski und Tolstoi, und dort zitiert er in einer Fußnote bereits Kaus’ Gogol-Arbeit (Adler, 1912, S. 293).

Der Fall Gogol (1912) Diese Arbeit ist Kaus’ erste überhaupt publizierte Arbeit, sie ist etwa im März 1912 als zweites Heft der neu gegründeten »Schriftenreihe des Vereins freie Psychoanalytische Forschung« erschienen  – so nannte sich der Adler’sche Verein bis 1913 nach Adlers Abspaltung vom Freud’schen Wiener psychoanalytischen Verein 1911. Das erste Heft dieser Reihe war »Psychoanalyse und Ethik« 1912 von Carl Furtmüller, Adlers frühestem und engstem Anhänger noch in der Mittwochgesellschaft. Einen so jungen Menschen mit einer solchen Publikation einer jungen Reihe, die sich erst profilieren musste, zu beauftragen, ist schon

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etwas kühn, offenbar hat Adler gern junge Leute gefördert wie die jungen Künstler oder später Manès Sperber. Kaus’ Essay gehört auch zu den ersten publizierten Literatur- oder Dichterinterpretationen von Individualpsychologen, neben einzelnen Bemerkungen bei Adler und frühen Studien von Furtmüller ab 1913. Der Essay verbindet eine Textanalyse mit einer Pathographie bzw. Psychographie Gogols. Es ist das einzige Mal, dass Kaus so vorgeht. In der Textanalyse werden Szenen oder Protagonisten aus Novellen, Komödien und anderen Stücken Gogols – vorzugsweise aus den Hauptwerken »Revisor« und »Tote Seelen« – gedeutet, psychodynamisch oder literaturhistorisch, also insgesamt ein sehr interessanter und moderner Ansatz, geschult in Gedanken eines kritischen, soziologischen Denkens. Zeitgeschichtlich bilde Gogol einen »Knotenpunkt« zwischen der Romantik Puschkins und des »klassischen Realismus« Dostojewskis. Politisch habe sich Gogol von der »liberalen Strömung« zum (reaktionären) Zarismus und Klerikalismus bewegt (Kaus, 1912, S. 1 f.). Die Psychographie Gogols, als Darstellung der psychischen Entwicklung und als Persönlichkeitsbeschreibung, arbeitet mit Kategorien aus der Individualpsychologie, die aber weniger benannt als konkretisiert eingesetzt werden. So dienen individualpsychologische Konzepte wie Organminderwertigkeit, Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Fiktion, Geschlechterfrage zwar als Leitfaden, bleiben aber als Begriffe angenehm dezent im Hintergrund. Gogol wird ein »Fallbeispiel« eines »Nervösen Charakters« im Adler’schen Sinn (den Kaus nur sehr beiläufig nennt). Sein Leben erinnere an ein »Feuerwerk«, an »mystische Lichtkugeln« (S. 10), sei »Melancholie und Vergänglichkeit«. Gogol habe einen Größen- und Erlösungswahn wie Christus, Posen eines Propheten und Richters (S. 37), er suche Reinheit durch Enthaltsamkeit (S. 80). Sein Ekel vor der Welt sei das Grauen vor den eigenen psychischen Untergründen (S. 69). Typisch für den nervösen Charakter sei besonders sein feindliches Verhältnis zu Frauen, sein »Kampf mit dem Weib«, seine »Furcht vor der Frau« und vor Sexualität. »Die Liebe ist für Gogol immer mit Gefahr und Kampf verbunden« (S. 57). Er sei »von einer tiefen Leidenschaft zu einer Frau erfasst« gewesen, habe aber nie den Sexualakt kennen gelernt, sondern sei »in dem Konflikt zwischen überreizter Sexualität und tyrannischer, unbedingt[er]

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Treue und Reinheit erheischender Liebe […] dem Laster der Onanie anheim« gefallen (S. 65). Kaus hatte zur generellen Schädlichkeit der Onanie in gleicher Zeit geschrieben (1913b). Adler selbst hatte im »Nervösen Charakter« von Gogols »Zwangsmasturbation« gesprochen, auch von Gogols neurotischer »Frauenverachtung« (Adler, 1912, S. 293). Ob Adler sich die Untersuchungen von Kaus zunutze gemacht hat oder umgekehrt, ist nicht geklärt. 1913 erscheint im Zentralblatt eine Rezension zu Kaus’ Gogol, und zwar von Vera Eppelbaum, der Ehefrau von Charlot Strasser, beide Psychiater und Anhänger Adlers in Zürich (siehe Kapitel zu Ehrenstein). Sie lobt seinen Ansatz, übt aber an zwei Stellen gewisse Kritik: Er gehe »unvorsichtig« und unbewiesen mit Adlers Organminderwertigkeitslehre um – Kaus hatte auf Gogols evtl. Augenschwäche und Magendarmminderwertigkeit hingewiesen (Eppelbaum, 1913, S. 540). Vor allem aber habe er Gogols Verhältnis zur Mutter, damit auch zu Frauen, die er idealisiert und entwertet, nicht angemessen herausgearbeitet, was sie durch Briefstellen Gogols an seine Mutter noch ergänzt (S. 540 f.).

Dostojewski und Tolstoi Dostojewski (geb. 1821) gehört zu einem besonders beliebten russischen Autor in der Individualpsychologie, über ihn hat Adler sich häufig geäußert und 1918 einen Vortrag gehalten (Adler, 1918a). Kaus hat sich vor allem als Dostojewski-Autor einen Namen gemacht, er wurde darin beachtet und zitiert, ihm wurde zugestimmt, mit ihm wurde gestritten. Die soziologische und politische Ebene tritt in diesen Arbeiten besonders hervor. Von moderneren individualpsychologischen Autoren über Dostojewski sind u. a. zu nennen: M. Sperber 1972, J. Rattner 1979, R. Schmidt, 1987, R. Taub 1989. Peter Fräfel geht in seiner Arbeit über Dostojewskis Roman »Verbrechen und Strafe« (ehemalig »Schuld und Sühne«) auf diese Beziehungen ein (Fräfel, 2011, 2015).

Flaubert und Dostojewski (1914) In diesem Aufsatz – den er in der Wiener Ortsgruppe vorgetragen hatte (20.12.1913, IZI, 1914, H.1, S. 30) – vergleicht Kaus Dostojewski und

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Flaubert, beide 1821 geboren, jeweils Vertreter des russischen und französischen Realismus. Mit dem Russen verbunden sei Volk, Panslawismus, Allmensch, mit dem Franzosen Ich, Realismus, Rationales, Theoreme. Offenbar war zum selben Thema später noch eine Buchpublikation im Piper Verlag geplant, aber nicht erschienen. Im Buch »Strindberg« 1918 war es als »in Vorbereitung« angezeigt. Adler verweist 1914 in einer Anmerkung (zu Dostojewskis »Petersburger Träume«) positiv auf diesen Aufsatz von Kaus, seine Arbeit erscheine ihm »als ein Untertauchen in der Anschauung des Kunstwerkes« und zeige »die sichere Führung des Problems die in seinem ›Fall Gogol‹ so meisterhaft hervortrat.« Zugleich kündigt Adler eine »größere Arbeit« von Kaus »über den psychologischen Künstler Dostojewsky« an, die er besprechen wolle (Adler, 1914, S. 63). Gemeint ist Kaus’ Buch 1916b, eine schriftliche Besprechung von Adler ist nicht erschienen.

Dostojewski. Kritik der Persönlichkeit (1916b) Kaus sieht Dostojewski als politischen Schriftsteller und als sozialen Dichter und unterscheidet davon Dostojewski als Persönlichkeit, sein verborgenes Wesen, in das die »verschiedenen Strömungen […] einmünden« (Kaus, 1916b, S. 8). Als sozialer Dichter sehe er den Menschen in seiner sozialen Bedingtheit und in sozialen Zusammenhängen. Von Dostojewski könne man lernen, »wie sehr das seelische Wohlergehen des Einzelnen von dem großen Willen der Allgemeinheit abhängig ist« (S. 49). Und er zeige Menschen, die »von einer unmittelbaren Gegenwart gequält, verfolgt, gehetzt« seien (S. 64). Dostojewskis Weltanschauung sei der Panslawismus mit all seinen Auswirkungen und Implikationen: Orthodoxie, Zarismus, Autokratie, russischer Nationalismus, Hass gegen Westen, gegen Kapitalismus, gegen Nihilismus, gegen Egoismus, gegen Banken, Antisemitismus durch Gleichsetzung von Juden mit den Banken. Das alles lehnt Kaus natürlich ab, er kennzeichnet Dostojewski als Reaktionär und als Revolutionär, er spart nicht mit Kritik und verehrt ihn. Er wirft die Frage auf, ob und wie sich die Weltanschauung im Werk widerspiegelt, und kommt zu dem – für mich befremdlichen –

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Schluss, dass der Panslawismus in seinen Werken keine Spuren hinterlasse (S. 107).58 Letztlich gehe es aber Dostojewski um den Kampf gegen die kapitalistische Bourgeoisie, vor der er (irrtümlicherweise) Russland glaubt bewahren zu können. Dostojewski sei der Menschenfreund, der die Menschen, das Volk, liebt, der Antiegoist, seine Mission sei das Christusideal, seine »regulative Idee« der Kommunismus. Er vertrete die sozialen Ideale des vierten Standes, sein Kampf gelte der emporkommenden kapitalistischen Bourgeoisie (S. 84 ff.). Das Buch von Kaus ist mit einer Widmung versehen: »Julius MeierGraefe. Bei seiner Rückkehr aus Russischer Kriegsgefangenschaft zum Willkommen«. Das ist etwas verwunderlich, denn Meier-Graefe hatte m. W. zu dieser Zeit noch nichts über Dostojewski publiziert. Ob Kaus irgendeine Art von persönlicher Beziehung zu Meier-Graefe hatte, ist nicht bekannt. Meier-Graefe (geb. 1867) war ein sehr bekannter und sehr einflussreicher Kunsthistoriker der Moderne, Vorkämpfer und Verbreiter des französischen Impressionismus, Biograph vieler moderner Künstler, Mitbegründer der Kunst- und Literaturzeitschrift »Pan« (1895) und selbst auch Romanschriftsteller. 1926 erst schreibt er ein Buch über Dostojewski und nimmt dort auf Kaus mehrmals Bezug, wie wir noch sehen werden. Ein anderes erstaunliches Echo auf dieses Dostojewski-Buch findet sich bei Gina Kaus, und zwar über Franz Kafka, in einem Brief an Felice59: »Gestern nachmittag hatte ich eine fast glückselige Stunde mit einem Buch, »Dostojewski«, von Otto Kaus. Empfehlen kann ich es Dir nicht, weil es wenigstens anfangs ganz unverständlich scheint, bei einer gewissen Einstellung aber, die allerdings jedem, der sich in der Zeit und Literatur herumtreibt, möglich ist, fast allzu einfach wird« (Kafka zit. nach Gina Kaus, 1990, S. 70). Zwei Jahre später hält Adler seinen Dostojewski-Vortrag in Zürich (Adler, 1918a, S. 101 ff., vgl. Kapitel zu Ehrenstein). Darin verknüpft Adler das Leben und die psychologischen Eigenschaften Dostojewskis 58 Mit dieser Position von Kaus setzt sich positiv Alexander Schmid 1918 auseinander. 59 Felice Bauer, Kafkas Verlobte; Kafka liest Kaus am 7.9.1916, (vgl. Bezzel, 1975, S. 117).

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mit denen seiner Helden. Er hebt die inneren Gegensätze und Widersprüche, das Überschreiten von Grenzen hervor, die seinen Figuren eine geschlossene Einheit verliehen. Dostojewski habe seinen Ehrgeiz in der Nächstenliebe nutzbar gemacht. Es entsteht ein Bild, als sei Dostojewski ein Vorläufer oder Doppelgänger der Individualpsychologie.

Der Russische Konservative (1919a) Gegenstand ist die Aufsatzsammlung des Schriftstellers und russischen Konservativen Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski (geb. 1865) »Vom Krieg zur Revolution« – wir schreiben mit 1919 zwei Jahre nach der russischen Revolution. Die Aufsätze »gewähren einen Durchblick auf die Haltung eines Teils der russischen Intelligenz« (Kaus, 1919a, S. 12). Es folgen bei Kaus drei lange Seiten voller geistreicher Polemiken gegen völkische und christliche Mythen über das russische Volk, die so hoch angesehene Leute wie Mereschkowski, im Nachklang von Dostojewski, verkünden – so wie Kaus dies auch im Beitrag von 1923 darstellt. Mereschkowski, »der russische Konservative«, sei Repräsentant des »guten Durchschnitts« der russischen Intelligenz, er sei Symbol für den Fortbestand des »unentbehrlichen Konservativismus des Lebens und des Geistes«, der »die metaphysischen Kräfte […] eines Volkes verbürgt (Kaus, 1919a, S. 12). Kaus polemisiert gegen das »russische Wesen«, den »russischen Geist« des russischen Volkes »als erratischer Block«, und die »Christusmythe«, die das »russische Gewissen« aufwühlt (S. 13). Mit »Volk« aber meine »der Russe« nicht eine demokratische Majorität, sondern denke »an das Mensch-Sein des einzelnen«. »Der Russe ist äußerster Individualist, wenn er völkisch wird und verzichtet ohne Bedauern auf den äußeren Gerechtigkeitsschein unserer demokratischen Einrichtungen« (S. 14). Kaus’ Aufsatz erschien im Januar 1919, Mereschkowski verließ im November 1919 die Sowjetunion und unterhielt als »christlich-religiöser völkischer Intellektueller« in Paris u. a. einen »theologisch geprägten Literatursalon« (vgl. Wikipedia60). Mit Moeller van den Bruck, dem Propagandisten der »konservativen Revolution«, war er über Über60 Wikipedia-Artikel »Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski«, Zugriff am 10.07.2018.

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setzungen und Herausgaben vom »deutschen Dostojewski« und über die gemeinsame politische Ideologie eng verbunden und gemeinsam schwärmten sie vom »Dritten Reich«. Kaus’ Aufsatz erschien in der politisch-literarischen Wiener Wochenschrift »Der Friede«, die im Januar 1918 von Benno Karpeles gegen den Krieg und für den Frieden gegründet wurde. In ihr schrieben sehr namhafte Autoren, die das gesamte Spektrum von der bürgerlichen Mitte zur Linken abdeckte (vgl. Wikipedia61). Adler veröffentlichte darin im Dezember 1918 seine Kritik am »Bolschewismus« (Adler, 1918b).

Dostojewski und sein Schicksal (1923) Kaus sprüht in diesem Buch besonders stark mit einer Fülle von emotional und leidenschaftlich vorgetragenen Gedankensträngen, aber auch Widersprüchen. Es geht im Wesentlichen um den Siegeszug Dostojewskis in Europa und um den Zusammenhang mit dem Kapitalismus in Europa und im damaligen Russland. Der Kapitalismus war in Russland eingebrochen und hat den russischen Menschen aus seiner Ordnung geworfen. Dostojewski sei so vielseitig, unberechenbar, voller Gegensätze und von Unruhe und Unrast getrieben, so dass sich viele auf ihn berufen können: Realisten, Naturalisten, Mystiker, Romantiker, Symbolisten, Schwärmer, Psychologen, Psychiater, Kriminalisten. Die Anhänger seien gespalten, Dostojewski sei überall umstritten und hoch verehrt (Kaus, 1923, S. 16 ff.). »Die große Wirkung Dostojewskis« erkläre sich daraus, dass er »der entschiedenste, konsequenteste, unerbittlichste Dichter des kapitalistischen Menschen« sei (S. 63), in ihm sei der »fliegende Atem des modernen Menschen«, die »Unruhe und die triebhafte Sehnsucht« (S. 62). Im Russland des 19. Jahrhunderts werde die »russische Seele« gern mit einer ungeheuren »Wucht und Unerbittlichkeit« dargestellt, der »russische Bauer mit einem Heiligenschein« geschmückt (S. 139 f.) und dies als Ausdruck der unverdorbenen Kraft des russischen Volkes behauptet. Das, meint Kaus, sei gerade falsch, das sei eine romantische Überschätzung des russischen Bauern, der Tolstoi wie auch Dostojewski erlegen seien. Es gehe in Wahrheit um den russischen Bauern, 61 Wikipedia-Artikel »Benno Karpeles«, Zugriff am 10.07.2018.

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der durch den Kapitalismus verroht ist, dessen Selbstbewusstsein zerbrochen durch Hunger, Alkohol und Militarismus (S. 140; siehe auch Kaus, 1919a). Kaus analysiert allgemeiner, was das Einwirken des Kapitalismus als Epoche für die Seele des Menschen bedeutet. Er sieht da viele sehr negative Erscheinungen, aber Kapitalismus sei nicht die »Herrschaft des gefühllosen Wirtschaftlichen« (S. 83, 106), sondern er wühle auf und nehme Sicherheit, Freiheit, Selbständigkeit. Die Welt des Kapitalismus sei vielseitig, widersprüchlich, er bedeute »eine ununterbrochene Revolutionierung des Gefühls, raschesten Wechsel aller Hoffnungen und Wünsche (S. 112). »Der moderne Mensch« sei »diese zwischen Kapitalismus und Sozialismus hausende Seele« (S. 61).

Dostojewski: Träume Raskolnikoffs (1926a) Dies ist die letzte Publikation von Kaus zu Dostojewski und zur Literatur überhaupt. Ganz im Unterschied zu den vorherigen Dostojewski-­ Arbeiten ist diese nun ganz (inner-)psychologisch, individualpsychologisch ausgerichtet. Er würdigt Dostojewski stark, »dessen Bedeutung für die Menschheit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann« (Kaus, 1926a, S. 17). Im ersten Kapitel geht es auf 17 Seiten um Traumdeutung nach Auffassung der Individualpsychologie und um den Umgang mit Träumen in einer Dichtung.62 Die weiteren vier Kapitel referieren und analysieren Träume von Raskolnikoff und Swidrigailoff. Wie Kaus im ersten Kapitel darstellt, haben Träume in der Auffassung der Individualpsychologie, im Unterschied zur psychoanalytischen Auffassung, nicht den Stellenwert der via regia, sondern sind Hilfs­mittel der Analyse neben anderen. Die Traumdeutung muss den dynamischen Zusammenhang mit dem Gesamterleben des Menschen herstellen. Individualpsychologie lehnt eine verbindliche Bedeutung der Symbole ab, diese sei subjektiv unterschiedlich und die Symbole seien entsprechend der Funktion des Traumes gewählt. Die Funktion des Traums 62 Vermutlich übereinstimmend mit dem nicht publizierten Vortrag von Kaus auf dem 3. Internationalen Kongress für Individualpsychologie 1926 zum Thema »Das psychologische Problem des Traums« (IZI, 1926, S. 387).

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ist nicht Wunscherfüllung, sondern Vorbereitung auf das Leben, ein Training. Träume in der Dichtung haben nach Kaus den gleichen »seelischen Realitätswert« (S. 14) wie andere Äußerungen der dargestellten Figur. Wenn man vom Werk auf die Persönlichkeit des Dichters schließen will, muss man den im ganzen Werk »enthaltenen Lebenssinn« einbeziehen (S. 14). Die Konflikte und Pathologien seiner Personen stehen im Zusammenhang mit »historischen und sozialen Voraussetzungen seiner Epoche« (S. 17). Kaus betont die »verblüffenden Übereinstimmungen« zwischen Dostojewski mit der Individualpsychologie, beide haben den »Leitgedanken«, dass der Sinn wie auch die Wirklichkeit des menschlichen Lebens […] sich in der Beziehung zur Gemeinschaft erfüllt« (S. 18). Kaus behandelt in den nächsten Kapiteln folgende Träume: der Traum von der erschlagenen Stute, von der Oase, der Wirtin, der geträumte Mord und der Traum Swidrigailoffs. In seiner Traum­ bearbeitung zitiert er das Geschehen aus dem Umfeld des Traums, dann den Traum selbst und was ihm folgte und beginnt dann mit einer sehr differenzierten Analyse des Traums, seiner Zusammenhänge mit der Situation, Figur und anderen Szenen, seiner Funktion und vor allem der psychologischen Analyse des Träumers. Das alles mit einer offenkundigen beeindruckenden Kenntnis und Könnerschaft. Der erste Traum (von der erschlagenen Stute) wird einen Tag vor dem Mord geträumt, bereitet also diesen Mord vor (S. 26). Die Hauptthese ist die der Furcht Raskolnikoffs vor der Frau (S. 29), »eine durch sein überspitztes Überlegenheitsstreben diktierte Überschätzung des Gegensatzes Mann-Weib«, »seine erotische und sexuelle Impotenz« bringt seine »Einstellung auf absolute Machtvollkommenheit zum Ausdruck« (S. 31). Damit exemplifiziert er die individualpsychologischen Thesen zum Geschlechterkampf. »Raskolnikoff steht zur Frau entweder in einer Mitleidsbeziehung oder in einer Beziehung des Abscheus«. »Er kennt die Frau nur als Prostituierte«, »Stute« sei »ein Sammel­begriff für die gedemütigte, versklavte Frau« (S. 40). Der nächste Traum, der von der Oase, unmittelbar vor dem Mord geträumt, ist daher für Kaus ein reiner »Zieltraum«. Und wieder ist es das Geschlechterthema: In einer Oase fühlt er sich befreit, denn da gibt es keine Frauen. Es ist daher der »Traum eines Frauenmörders« (S. 47).

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Im darauffolgenden »Traum von der Wirtin« setzt er sich mit seiner Wirtin auseinander, mit der er sich in einem stummen, zähen Kampf befindet (S. 48 f.). Dann folgt »der geträumte Mord«, in dem Raskolnikoff die Mordsituation reproduziert, ohne Erfolg (S. 50), als nochmalige Auseinandersetzung mit dem Mord. Der letzte Traum ist der des Selbstmörders Swidrigailoffs, eines Falls von »Sexualpathologie«, als »Erotomanen«, woran er zugrunde geht (S. 54 f.). Und zum Selbstmord heißt es: Er kann »sein Persönlichkeitsideal nur im Selbstmord retten«, »der Selbstmord kann nur gelingen, wenn ihn der Selbstmörder als seinen Sieg empfindet« (S. 59). Swidrigailoff hat drei Träume, die »zusammen eine einheitliche Linie« bilden: Er muss sich mit einem »peinlichen Minderwertigkeitsgefühl auseinandersetzen« und einen »Weg nach oben« suchen (S. 65). Kaus hat hier, mit der Verbindung seiner profunden Kenntnisse über Dostojewski und der der Individualpsychologie, eine interessante und solide Arbeit vorgelegt, die zudem noch, ohne Höhenflüge und ohne größere Zusammenhänge herzustellen, gut lesbar ist. Es gibt in dieser Arbeit zwei sehr ausführliche Anmerkungen (Nr. 14, S. 72–74, Nr. 22, S. 75–77), die von allgemeinem Interesse sind, da sie eine Debatte unter den Literaturkritikern und die – negative – Stellung der Psychologie darin thematisiert. Kaus polemisiert hier gegen den »Obskurantismus« der »Schwärmer und Schöngeister«, die gegen psychologische Erklärungen in der Ästhetik, gegen »angebliche Bilderstürmerei von Psychoanalyse und Individualpsychologie«, zu Felde ziehen. Solche Polemik erwarte er gegen seine Analyse von der psychogenen »Impotenz« Raskolnikoffs und verweist auf den Disput, den er 1925 mit Leo Matthias hatte, dem »neuesten Töter[ ] der Individualpsychologie« (Matthias, 1925, S. 72; vgl. Kapitel »Das Tagebuch«, Abschnitt »Nietzsche«). Gewichtiger aber ist, dass zu den Gegnern psychologischer und psychoanalytischer Erklärungen auch Julius Meier-Graefe gehört, den Kaus ansonsten sehr hoch schätzt, dessen »geniales Lebenswerk« Kaus auch als »Richtlinie« dient (S. 73) und dem er ja sein Dostojewski-­Buch 1916b gewidmet hatte. Meier-Graefe hat in seinem eigenen Dostojewski-Buch im selben Jahr, 1926, Kaus in einer Fußnote kritisiert: »Otto Kaus hat mit seiner psychoanalytischen These von der »Flucht« Dostojewskis verhee-

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rend gewirkt« (Meier-Graefe, 1926, S. 508). Meier-Graefe beziehe sich hier, wie Kaus schreibt, auf die von Kaus – nicht öffentlich – vertretene These, dass die Spielleidenschaft Dostojewskis eine »Flucht vor der Ehe« gewesen sei (Kaus, 1926a, S. 73). Auf diese These hatte sich zustimmend Kurt Kersten bezogen, der das Tagebuch von Frau Dostojewski (1925) herausgegeben hatte: »Jene These von Otto Kaus wird schon zu Recht bestehen (Kersten, 1925, S. 538; Kaus,1926a, S. 73).63 Meier-Graefe, so erklärt Kaus, sei bemüht, »aus der Ehe Dostojewskis jede Problematik auszuschalten. Er scheint in jedem Versuch einer psychologischen Eingliederung des Schicksals Dostojewskis in die Logik allgemein menschlicher Konflikte die Tendenz zur Verkleinerung der geistigen Dimension des Dichters zu erblicken« (S. 73). Kaus wehrt sich zwar auch gegen die Gleichsetzung von Psychoanalyse und Individualpsychologie, aber die Verteidigung psychologischer Erklärungen, der »Kampf um psychologische Klarheit und Gewissenhaftigkeit«, sei dann doch noch ein gemeinsamer Kampf beider Wiener Schulen, die wohl zu den »bedeutungsvollsten Erkenntnissen der gesamten geisteswissenschaftlichen Epoche« geführt haben. Und an dieser Stelle verteidigt er auch »eine orthodox-psycho-analytische These von Johann Neufeld (1925), der an einer Stelle den Ödipus-Komplex als Begründung für die Beteiligung von Dostojewski an der Petrascheffski-Verschwörung (gegen den Zar) anführt (S. 74). Meier-Graefe polemisierte dagegen, bezeichnet dies als »Kuriosum«. »Der Versuch wirft ein erheiterndes Licht auf die Methoden dieser Forschung«. Dass Dostojewski mit dem Zaren den Vater meinte, werde »mit der volkstümlichen Bezeichnung des Zaren als Väterchen bewiesen« (Meier-Graefe, 1926, S. 508). Der Enttäuschung und Gekränktheit von Kaus über seinen großen Lehrer Meier-Graefe steht aber entgegen, dass Meier-Graefe Kaus in seinem Buch an einigen Stellen relativ ausführlich und zustimmend zitiert und sich mit ihm auseinandersetzt (so z. B. Meier-Graefe, 1926, S. 491 f.). Dies räumt Kaus dann aber auch ein, Meier-Graefe gehe auf ihn »mit vollem Verständnis und zum Teil mit berechtigten Einwänden 63 Kurt Kersten (1891–1962), Schriftsteller und Publizist, nach dem Kriegsdienst pazifistisch, sozialistisch (siehe Wikipedia-Artikel »Kurt Kersten (Autor)«, Zugriff am 10.07.2018.).

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ein« (Kaus, 1926a, S. 73). Lobend hebt Meier-Graefe hervor: »Kaus hat in viele scheinbare Verworrenheiten hineingeleuchtet und mit dem Kapitalismus, den der Russe seinem Lande ersparen wollte, einen Gesichtspunkt moderner Kritik aufgedeckt« (Meier-Graefe, S. 494). Und in der Anmerkung bei Meier-Graefe heißt es weiter: »Auch Spengler hat den Kausschen Gedanken über das Verhältnis Dostojewskis zum Kapitalismus angedeutet (»Untergang des Abendlandes«, S. 519, Anm. 75).

Tolstois Ehelegende (1925g) Kaus bezieht sich ironisch auf Gerüchte und Legenden zu Tolstois Ehefrau und den Auseinandersetzungen, die es innerhalb dieser Ehe und nach seinem Tod (1910) um das Erbe gab. Diese Ehefrau werde meist negativ geschildert, als »Mittelding zwischen Xanthippe und Gräfin Hanska« (Geliebte von Balzac) (Kaus, 1925g, S. 755), den großen Dichter behindernd. Kaus skizziert Tolstoi (geb. 1828) als durchaus negativ an den ehe­ lichen Auseinandersetzungen beteiligt, als seinen »Kampf um Überlegenheit« aus dem Geiste »der Lieblosigkeit, der Herrschsucht, des Geltungsstrebens«, der die christliche Lehre dazu benutze, den Liebespartner zu versklaven (S. 755). Seine Frau hatte sich einerseits ganz in seine Dienste gestellt, war aber andererseits selbst künstlerisch begabt und aktiv. Das konservative Frauenbild Tolstois habe das nicht vertragen. Diese Ehetragödie eines »Volksheiligen« ist bis heute Gegenstand vieler Debatten. Von Adler gibt es zur Person Tolstoi nur ein paar Bemerkungen, so im »Nervösen Charakter« und zum 100. Geburtstag 1928 zehn Zeilen mit idealisierenden Charakterisierungen des Menschen Tolstoi (Adler, 1928, S. 182). Ebenfalls zum 100. Geburtstag 1928 gibt es von der Individualpsychologin Elise Polak eine längere, durchaus kritische, biographische Darstellung und psychologische Analyse, in der sie auch ihre persönlichen Ambivalenzen ihm gegenüber nicht verbirgt (Polak, 1928).

Strindberg Otto Kaus legt 1917 und 1918 drei Publikationen zu Strindberg vor, zwei kürzere Aufsätze und ein Buch von 165 Seiten, im angesehenen Piper Verlag. Es ist die Zeit am Ende des Krieges, in der Kaus verstärkt in

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publizistische Arbeit einsteigt, und dies ist zugleich der Beginn seiner linkspolitischen Entwicklung. In ähnlicher Weise wie Nietzsche wird August Strindberg (geb. 1849) von unterschiedlichstem Publikum vereinnahmt oder verteufelt: als Dichter des Bürgertums ebenso wie als Dichter der jungen Sozialdemokratie, als »Ikone der Arbeiterbewegung« durch seine Gesellschaftskritik, seine Kritik an Machtstrukturen, an Kirche, an Familie. Der Wiener Egon Friedell spricht von Strindbergs lebensfeindlicher Welt, der lähmenden »Seelenverfinsterung«, dem Hass, in dem »der Sündenfall der Menschheit ins Sexuelle, Kampf und Höllenfahrt der Geschlechter« münde und in dem »die Frau stets der grausame Teufel, der Mann das unschuldige Opfer« sei (Friedell, 1931, 1398 f.). Und es gibt auch Züge von Religiosität, Symbolismus, Okkultismus, Mystik, die ihn zu einer schwer greifbaren Figur machen, die viele Wendungen durchlaufen hat. Es geht Kaus in allen drei Publikationen viel um diesen Kult, um den Erfolg des Dichters, um das Verhältnis Künstler/Werk zur Verfasstheit der Gesellschaft. Und Kaus fragt, was ist das für eine Gesellschaft, die Strindberg zu ihrem Idol erhebt, und was bietet der Dichter diesem Publikum?

Strindbergkult (1917d) Der eher weitschweifige, schwer verständliche Aufsatz dreht sich zu großen Teilen allgemein um Publizistik, deren sachlichen und literarischen Charakter – wozu Kaus auch gleichzeitig in der Zeitschrift »Summa« schreibt (1917a). Eher daneben geht es um die Rezeption Strindbergs, um die Gründe dieses Kultes. Zu Strindberg ist Kaus ebenso polemisch wie zu seinem ihn verehrenden Publikum. In der »Zeit seiner größten äußeren Not, dem Krieg, sei Strindberg vom ›deutschen Geist‹ zum ›Volksgut‹ gemacht worden« (Kaus, 1917d, S. 640). Einzuwenden wäre hier freilich, dass Strindberg schon ab 1892 eine Sensation war, so für Berlin und den »Friedrichshagener Dichterkreis«, und dass sein Erfolg bereits zu seinen Lebzeiten und um die Zeit seines Todes 1912 einsetzte.64 64 Wozu auch seine persönlichen Konflikte und Auseinandersetzungen beitrugen. Die Diagnose »paranoide Schizophrenie« gilt als unbestritten (vgl. Jaspers, 1953).

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Kaus diagnostiziert, dass das Publikum bei Strindberg »psychologisierende Skepsis und die unbestimmte metaphysische Aspiration des Irreligiösen in Reinkultur und selbstbewusster Hingabe« genieße (S. 637). Dabei gebe es aber einen »Gegensatz« zwischen der Welt Strindbergs und der »seiner durchschnittlichen Verehrer«, »von der kleinbürgerlichen Enge schwedischer Lehrer- und Beamtenfamilien zum Amerikanismus eines Westberliners«, »von Swedenborgs Hölle auf Erden zum irdischen Himmel der Durchaus-Wirtschaftlichen« (S. 638).

Strindberg. Eine Kritik (1918a) In diesem ebenso weitschweifigen, vorwiegend theoretisch angelegten Buch geht es um Theorie der Ästhetik, Wirkung von Kunst, Verhältnis von Kunst, Gesellschaft, Publikum und Publizistik. Strindberg wird dabei eher als ein Paradebeispiel eingeführt, ohne konkrete Belege anzuführen. Kaus nennt kaum Titel, keine Beispiele. Das erweist sich wohl als Mangel und als Faktor, der zur Vereinseitigung führt. Strindberg sei der Dichter des kapitalistischen Bürgertums (Kaus, 1918a, S. 109), sein Erfolg sei der Erfolg des Salons (S. 26 f.). Als weitere Merkmale Strindbergs, die den Erfolg erklären könnten, nennt er: Strindberg würde der literarischen »Konvention des Unkonventionellen« entsprechen, die sich in »Selbstherrlichkeit« salbt, die »Leere der Gesinnungslosigkeit« pflegt, zur Anarchie des Gottesgnadentums führe, der Selbstverantwortung ausweiche. Das Publikum fühle sich bedeutungsvoll, geschmeichelt (S. 53). Von Strindbergs Dichtung gehe »der Eindruck des Nichtverpflichtenden« aus, es sei eine »bindungslose Kunst«, eine Kunst ohne Gewissen und Verpflichtung (S. 56), »was ihm seine Beliebtheit bei einem großen Kreis unserer zeitgenössischen Intelligenz sichert« (S. 56).

Strindberg (1918c) Wieder geht es vornehmlich um die Rezeption Strindbergs, die sich nun viel zugespitzter auf die »Träger der Kultur« dieser Gesellschaft, auf die liberale Bourgeoisie, kapitalismuskritisch bezieht. Strindberg sei das Vorbild für die »Ästhetik des Liberalismus« (Kaus, 1918c, S. 137). Es komme bei ihm zum »Abschütteln aller menschlichen Bindungen und Verpflichtungen«, woraus sich »die Moral der grausamsten, unbedingtesten Eigenliebe und die Metaphysik der Gewissen-

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losigkeit« ergebe, dem zeitgenössischen Geist entsprechend (S. 139 f.). »Der Strindbergsche Mensch ist nicht nur ein hemmungsloser Egoist; sein Egoismus hat die Eitelkeit, sich ins Ewige zu steigern« (S. 144). »Wie sollten die Träger einer Kultur, die auf Egoismus und Eigennutz aufgebaut ist, der Verführung dieses Sophisten widerstehen? […] Er birgt alles, was sie von einem Geistesheros verlangen: die revolutionäre Gebärde, die analytische Skepsis, die dialektische Freizügigkeit« (S. 148). Strindberg stehe »den grundlegenden sozialen Problemen unserer Kultur« fern, suche »seine Konflikte ausschließlich in den Beziehungen der Geschlechter. In diesem »Kampf der Geschlechter« ist Erotik »gefährlich«, Ehe nur Tragödie (S. 146).

Strindberg in der Individualpsychologie Von den früheren individualpsychologischen Autoren gibt es Bemerkungen zu Strindberg bei Adler und Beiträge von Robert Freschl (1914) und Hedwig Schulhof (1923). Anders als Kaus zentrieren sich alle drei auf Strindbergs Furcht vor und die Entwertung der Frau, seinen »männlichen Protest« (vgl. Schimmer, 2001). Adler reiht Strindberg in die Reihe der Männer der »neurotischen Richtung« ein, die zur Geschlechterfrage »die beliebtesten Klischees geschaffen« haben, neben Schopenhauer, Moebius, Weininger (Adler, 1912, S. 195), die »die Kampftendenz gegen das andere Geschlecht« pflegen (Adler, 1911, S. 67). Strindberg sei »einer der stärksten männlichen Protestler« (S. 68). Robert Freschl, Anhänger Adlers der frühen Zeit und Anhänger Nietzsches, bespricht Strindbergs Figur »Helene« aus der Novelle »Corinna« vom Novellenzyklus »Heiraten« als Beispiel der neurotischen Furcht des Mannes vor der ihn beherrschenden Frau, als ein Ausdruck seines männlichen Protests. Hedwig Schulhof, eine frühe Autorin der Individualpsychologie, die immer wieder zu literarischen Figuren und zur Frauenfrage schreibt. Sie hat auf dem 1. Internationalen Kongress für Individualpsychologie 1922 (München) über Strindberg und Ibsen »als Frauenpsychologe« gesprochen. Strindberg sei der Statische, Starre, Ibsen der Lebendige, Dynamische. Der Inhalt ist in einem knappen »Autoreferat« (Schulhof, 1923a) skizziert.

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1923 schreibt sie eine Psychographie, oder vielleicht besser, eine Psychodynamik zur Entwicklung Strindbergs hin zum Dichter und zu seiner kompensatorischen, kämpferischen Stellung zur Geschlechterfrage (1923b).

IV. Politische Texte (»Sowjet«) Die mörderischen Verheerungen und schweren Verluste durch den Ersten Weltkrieg wurden mit Revolutionen in Russland, Deutschland, Österreich, Ungarn etc. beantwortet. Revolutionäre Stimmungen gab es überall und auf allen Ebenen, auch in den Wiener literarischen Kreisen, in denen Kaus verkehrte. »Wie durch einen Zauber standen plötzlich alle Menschen entweder rechts oder links. Es war das Ende des unpolitischen Menschen«, schreibt Gina Kaus (1990, S. 58). Auch Otto Kaus wurde politisch in sozialistischer oder kommunistischer Richtung, stand wohl den kommunistischen Parteien und der III. Internationale nahe, aber schloss sich diesen nicht an. In seiner Begeisterung, besonders über die ungarische Räterepublik Béla Kuns, gründete er mit Gina die kommunistische Monatsschrift »Sowjet«, die dann im Mai/Juni 1919 mit ihrer ersten Nummer erschien. Die Zeitschrift wurde im Wesentlichen von ihm selbst bestritten, sprachlich und inhaltlich in – damals gängiger – markiger, unerbittlicher, z. T. dogmatisierender Diktion, inhaltlich auch abgegrenzt von der Sozialdemokratie. Damit entfernte er sich, wie auch später Manès Sperber, von Adler, der sozialdemokratisch blieb und, offenbar auch von seinem literarischen Kreis im Café Herrenhof – »der Kreis fand es schwer, mit ihm zu debattieren«, schrieb Gina (S. 70). Die hier versammelten Texte sind alle außer dem ersten seiner Zeitschrift »Sowjet« entnommen, die 1921 endete.

Völkerbündler (Summa, 1918b) Dieser erste politische Text wurde noch im Juli 1918 verfasst, unterschrieben mit »im Felde«. Kaus reflektiert das Vorhaben »Völkerbund«, das US-Präsident Wilson 1918 mit einem 14-Punkte-Programm vorgestellt hatte. Die Satzung wurde im April 1919 auf der Pariser Konferenz angenommen.

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Kaus polemisiert gegen ein solches pazifistisches Projekt aus einem grundlegenden Misstrauen heraus. Es gaukele die Möglichkeit eines ewigen Völkerfrühlings nur vor, solange die politischen Strukturen oder die bürgerliche Moral nicht geändert würden. Denn Krieg sei Ausdruck des Kapitalismus, »der Geist und die Formen des bürgerlichen Daseins« »gebären« aus sich heraus in unmittelbarer Konsequenz den Krieg als politische Methode« (Kaus, 1918b, S. 111). »Das Gesetz des Hasses und des Misstrauens, auf welches der kapitalistische Mensch […] eingestellt ist«, hört nicht in der Außenpolitik auf (S. 111). Und es »wird [niemals] auf der Welt ewiger Frieden herrschen, solange sich die Menschheit in Völker scheidet« (S. 111). Mag diese Analyse »korrekt« sein, wirkt sie politisch doch eher dogmatisierend, den Handlungsspielraum einengend. Programm. Zum Kommunismus (1919b) Die erste Nummer der »Sowjet« wird eingeleitet von einem 14-seitigen programmatischen Aufruf, »Programm«, datiert mit März 1919, als Programm und Aufgabe der unmittelbaren und drängenden Gegenwart: und das ist der »Kommunismus«. So ist auch der in den ersten zehn Seiten identische Aufsatz der »Sowjet« in der Zeitschrift »Aktion« überschrieben: »Zum Kommunismus« bzw. »vom Kommunismus« (20.9.1919) – beide Male übrigens ohne Autorenangabe, in der »Aktion« erscheint aber Kaus im Inhaltsverzeichnis. Der Name »Sowjet« ist ja schon Programm, orientiert an der Oktoberrevolution, »unter dem Banner der dritten kommunistischen Internationale« (Kaus, 1919b, S. 14). Aufgabe sei »die Befreiung der Menschheit aus wirtschaftlicher Not und seelischer Schmach durch die soziale Weltrevolution« (S. 1). Es geht um: »Diktatur des Proletariats« und die »Übernahme der Wirtschaft durch die Arbeiterräte« (S. 3). Nur »die Zertrümmerung der bürgerlichen Wirtschaftsordnung« [ist] imstande, »die Sklavenketten zu sprengen, welche die moralische Freiheit und das geistige Vermögen […] aller Menschen unserer Zeit, fesseln […]. Kommunismus ist nicht nur ein Wirtschaftsprogramm, sondern ein Kulturprogramm« (S. 10). Die Initiative und Führung muss ausgehen vom Proletariat bzw. von den »fortgeschrittensten Hand- und Kopfarbeitern« (S. 11), »den Denkenden aller Kreise« (S. 12).

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Deutsch-österreichische Reaktion (1919c) In ironischer Weise rechnet er mit der österreichischen Sozialdemokratie und ihrem Parteiorgan der »Arbeiterzeitung« ab, die sich stark machte gegen die Kommunisten und vor Ideen der Weltrevolution warnte. Er nennt besonders Otto Bauer. Er konstatiert eine reaktionäre Wende in der »Republik Deutsch-­ Österreich« unter Führung der Sozialdemokratie, die auch die Arbeiterräte auf reformerischen Kurs halten.

Die Zukunft (1919d) Auch das ist eine ironische Analyse der für die republikanischen revolutionären Bewegungen eher desaströsen Lage, mit vielen internen, zeitbezogenen Anspielungen und Spitzen. Revolutionäre Bewegungen und damit Hoffnungen werden zerschlagen vom Kapital, von monar­chistischen Kräften und von der verräterischen Sozialdemokratie. Hintergrund ist die Zerschlagung der seit März 1919 bestehenden ungarischen Räterepublik Béla Kuns durch die Ententemächte und rumänischen Streitkräfte ab April 1919, mit deren endgültigem Höhepunkt am 1. August.65

Kapp-Putsch. Parlamentarismus. Bürgerlicher Staat (1920a) Der fast 30 Seiten lange Aufsatz ist eine Bestandsaufnahme der politischen Situation in Deutschland nach dem Kapp-Putsch im März 1920. Es sehe stark danach aus, dass die revolutionäre Bewegung vor einer Niederlage stehe und damit die Konterrevolution gesiegt habe. Starken Anteil daran hätten die Sozialdemokratie und die bürgerlich befangene Arbeiterklasse. So sei fraglich, dass das deutsche Proletariat zur Führung der Weltrevolution in der Lage sei, wie dies damals von vielen erwartet wurde.

Mitteilungen (Nekrolog zu Otto Gross, 1920b) Drei Monate nach Otto Gross’ Tod im Februar in Berlin schreibt Kaus diesen fünfseitigen Nachruf.

65 Ein ähnliches Schicksal erlitt die Münchener Räterepublik vom April 1919, die ebenfalls nur vier Wochen währte.

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Gross hatte 1919 in der »Sowjet« zwei Beiträge veröffentlichen können (Gross, 1919a, 1919b; vgl. Kapitel zu Gross). Ob beide in Berlin näheren Kontakt hatten, ist mir nicht bekannt. Neben biographischen Skizzen über Gross’ Leben beklagt Kaus, dass Gross in dieser Gesellschaft kein Platz gelassen wurde (Kaus, 1920b, S. 54), dass er als Irrer behandelt wurde, Gross sei der »entschlossenste, aufopferungsvollste, kompromißloseste Kommunist, den wir kannten« (S. 57) gewesen, »Deutschlands beste revolutionäre Geister wurden durch ihn erzogen […], Erich Mühsam, Franz Werfel, Leonhard Frank, Franz Jung« (S. 55; vgl. Kapitel zu Gross; vgl. auch Hurwitz, 1988, S. 278 ff.). Von diesen eher anarchistischen Autoren hebt Kaus den Typ von Revolutionären ab, die »in kleinbürgerlicher Beschränktheit […] das Erbe von Karl Marx in positivistische Kleinmünze« umsetzten und einen »engstirnigen, deterministischen Terror« entwickelten. Kaus meint Kautsky und die II. Internationale.

Die österreichischen Kommunisten und die Wahlen (1920c)66 Dies ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Beschluss der Kommunistischen Partei Österreichs, sich an der Parlamentswahl nicht zu beteiligen. Kaus hält das für falsch, das sei (Links-)Radikalismus, der von der Arbeiterklasse nicht verstanden werde, die Partei distanziere sich damit von ihr und unterstütze so die Reaktion. In einer Fußnote wird dann korrigiert, dass inzwischen die Partei diesen Beschluss revidiert habe und sich an der Wahl beteilige. Der Beitrag »des Genossen Kaus« sei aber in seiner Argumentation prinzipiell so wichtig, dass er trotzdem abgedruckt werde. Evtl. zeichnet sich hier eine gewisse politische Wende von Kaus ab. Enttäuscht von den Niederlagen der revolutionären Dynamik und der Arbeiterklasse, scheint er sich von der eher rätekommunistischen-­ anarchistischen Begeisterung wegbewegt zu haben.

66 Vermutlich identisch mit dem andernorts angezeigten, aber nicht aufzufindenden Titel: »Der Antiparlamentarismus in der K.P.D.Ö.« (Das Tage-Buch 1920, 2. Halbjahr, 2. Jg., H.1.).

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Die Erholungsbedürftigen und die Rettungslosen (1920d) Es geht um die Darstellung und Interpretation der Rede Lenins auf dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau. Es geht um den Stand des Kapitalismus, seine Krise und seinen möglichen Zerfall und um die Aussichten auf eine Revolution und Entwicklung des Sozialismus/Kommunismus in Westeuropa. Kaus beschäftigt sich – wie schon im Artikel zuvor – vorwiegend mit den »Fehlern« der von Lenin so benannten linken Kommunisten oder Radikalen.67 Er argumentiert, Lenin zustimmend, ausführlich gegen diese – trotz seiner wohl auch anarchistischen Sympathien. Auch hier zeigt Kaus eine enorme Versiertheit im Umgang mit den verschiedenen linken politischen Theorien und Positionen und mit dem Marxismus.

Kooperation mit Paul Levi (1921) Nach den politischen Ereignissen 1920/21 entwickelt Kaus eine Beziehung zu Paul Levi, den er politisch unterstützt hat. Das ergibt sich folgerichtig aus den Positionen von Kaus 1920, bedeutet allerdings, dass Levi nun die Herausgeberschaft der Zeitschrift übernimmt. Paul Levi (geb. 1883), Mitbegründer und ehemals Vorsitzender der KPD, war im Februar 1921 wegen Differenzen (auch von der KI) von seinem VKPD-Parteivorsitz zurückgetreten. Er hatte sich mit einer Broschüre, also öffentlich, gegen die »Offensivstrategie« der »Märzkämpfe« in Mitteldeutschland gewandt (»Unser Weg. Wider den Putschismus«). Diese »Märzkämpfe« waren von der VKPD, auch der linken Opposition und von Komintern-Vertretern unterstützt worden. Daraufhin wurde er im April 1921 wegen dieser Kritik an der Partei ausgeschlossen. Levi gründete nach seinem Parteiausschluss eine eigene Organisation, die »Kommunistische Arbeitsgemeinschaft« (KAG), und suchte offenbar nach neuen Publikationsmöglichkeiten. Im Februar 1921 schrieb er bereits in der »Sowjet«, ab Mai 1921 fungierte er als Herausgeber und machte ab Juli 1921 die Zeitschrift zum Organ seiner 67 Hier ist besonders Anton Pannekoek gemeint. In Deutschland meinte dies die syndikalistisch-rätekommunistische Opposition, die sogenannten Ultra­ linken, die später die Allgemeine Arbeiterunion, dann die KAPD gründete – dazu gehörte an zentraler Stelle auch Otto Rühle.

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»Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft« (KAG) und nannte sie ab April 1922 »Unser Weg«, Halbmonatsschrift für Sozialistische Politik (vgl. Benz, Graml, 1976, S. 231). Die »Zusammenarbeit« hat im Weiteren offenbar nicht geklappt, bald darauf, zum Jahresende, stellte Levi die Zeitschrift ein und ging zur SPD zurück. Es wirkt so, als habe er, der politisch gewiefte Parteimensch, den Einzelkämpfer Kaus umworben und für seine Pläne benutzt. Kaus steht auf der Seite von Levi. Auch ein Bericht von Gina über einen gemeinsamen Urlaub legt dies nahe, ebenso wie ein Flirtverhältnis Levi-Gina (siehe Gina Kaus, 1990, S. 86 f.).

Parteiopportunismus (1921a) Dies ist wieder eine Auseinandersetzung mit den sehr heftigen, auch widersprüchlichen parteiinternen Kämpfen, mit der innerparteilichen Demokratie, Zentralismus, mit den »Linkskommunisten«, auch mit der III. Internationale und Unterstützung von Paul Levi, ehemaliger Vorsitzender der KPD.

Politik oder Mystik? (1921b) Wie schon im Aufsatz vorher sehr deutlich wurde, scheint Kaus von den kommunistischen Organisationen sehr enttäuscht zu sein. Nun greift er Vertreter der Kommunistischen Internationalen, Karl Radek und Grigori Sinonwjew, an, beide Befürworter der »Märzaktion«, die mit der Mystik des »Glaubens« an die Revolution eine eher sektenhafte Politik unterstützten. Dagegen verteidigt er den wissenschaftlichen Marxismus und Sozialismus und schließt daran Überlegungen zum Verhältnis von naiv gläubigen Massen zur Partei und deren Taktik an. Das war nun der letzte explizit politische Beitrag von Kaus, sein politischer Weg ist mehr oder weniger beendet. Er zieht sich von der Zeitschrift ganz zurück. Das linkspolitische Interesse und Engagement von Kaus scheint sehr enttäuscht und schwindet nach und nach. Er zieht sich auf die Psychologie in Theorie und Praxis zurück, zeigt allerdings in den späten 1920er Jahren auch noch zumindest theoretisches Interesse am Marxismus (siehe Abschnitt »Individualpsychologie und Politik, S. 125), auch wenn er in manchen psychologisch-lebenspraktischen Fragen eher autoritär-konservative Positionen vertritt.

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V. Feuilleton Summa (1917) Als Franz Blei 1917 die elitäre, philosophisch-katholische Zeitschrift »Summa« gegründete, waren von vorneherein Gina Kranz und Otto Kaus beteiligt. »Summa« – nach der Summa theologica des Scholastikers Thomas von Aquin (1265) – sollte streng philosophisch mit katholischem Einschlag sein (Gina Kaus, 1990, S. 40, 51 f.; Eisenhauer, 1993, S. 37). Das Katholische wurde von Blei selbst und noch mehr von seinem Verleger Jakob Hegner aus Dresden-Hellerau reingebracht.68 Die »Summa« sollte dem Verfall der Werte durch den Krieg entgegenwirken, »der Steigerung und Vertiefung des Wertgefühls« dienen, einen »mora­lischen Neu­beginn« ermöglichen (Blei an Musil, zit. nach Eisenhauer, 1993, S. 113). Franz Werfel spottete über die »Summa«: »Blätter für Kommunismus und katholische Kirche« (S. 114), Carl Einstein brach deshalb mit Blei (Sarfert, 1995, S. 52). Autoren waren hehre, z. T. aber konservative Namen, u. a. Max Scheler, Carl Schmitt, Ernst Bloch, Robert Musil, Hermann Broch, Rudolf Manasse, Paul Adler und Alfred Wolfenstein (vgl. Eisenhauer, 1993, S. 113 f.; Sarfert 1995, S. 52). Die Zeitschrift wurde im Quartformat auf edelstem Büttenpapier gedruckt, weiß gebunden, inhaltlich-sprachlich anspruchsvoll (Gina Kaus, 1990, S. 52), von vornherein ein »Programm garantierter Erfolglosigkeit«, wie Eisenhauer meint (1993, S. 37). Kaus schrieb den Einleitungsaufsatz und insgesamt fünf umfangreiche, »abstrakte«, geschnörkselte Aufsätze (siehe Feuilleton). Dann ging die »Summa« 1918 ein, da der Finanzier Kranz – Geliebter und Adoptivvater von Gina (siehe oben) – sich mit Blei überwarf und die Zahlungen einstellte. 68 Jacob Hegner (1882–1962), der in Dresden-Hellerau »für Jahrzehnte ein Kristallisationspunkt hoher Buchkultur« wurde (Sarfert, 1995, S. 33), verehrte das Mittelalter, war »Vermittler des katholischen Spiritualismus« (Flake, zit. nach Sarfert, S. 56). Durch ihn wurde das katholische Legendenspiel »Verkündigung« von Paul Claudel am 5.10.1913 nach Hellerau gebracht, was zu einem kulturellen Großereignis wurde (Sarfert, 1995, S. 38 ff.).

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Nachfolgend werden drei der fünf Artikel von Kaus aufgeführt, die ich zum »Feuilleton« rechne (die beiden anderen: 1917 Literatur, 1918 politische Texte). Alle drei Aufsätze drehen sich im weiteren Sinn um Ästhetik, sind in ganz besonderem Maß abstrakt und zugleich weitschweifig und ausladend, genau genommen kaum lesbar.

Publizist (1917a) Das ist der Einleitungsaufsatz zur ersten Nummer der »Summa«, der ohne Autorangabe ist – im »Strindberg«-Buch 1918 wird Kaus aber als Autor angezeigt. Es geht in vielen Varianten und Schleifen um den Publizisten und sein Publikum, um ihr Verhältnis und gegenseitige Abhängigkeiten und Bedingtheiten und um Ästhetik und Kunstbegriff in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Publikum sei das Problem, durch seine »literarische, ästhetisch-liberale Geste« entwerte es die »publizistischen Kräfte« (Kaus, 1917a, S. 3). Für dieses Publikum sei geistiges und künstlerisches Streben gleichbedeutend (S. 12). Der »vorherrschende Literatur- und Kunstbegriff […] bezeichnet eine Einstellung zur Welt […]. [E]r ist ein Lebens- und Weltempfinden« (S. 14). In den Werken »der scheinbar Unbürgerlichen, der Neuen, der Revolutionären und Unabhängigen […] offenbart sich der Geist der bürgerlichen Zeit« (S. 14 f.). Dieses Thema »Publizistik« bearbeitet Kaus ebenso später im Aufsatz »Strindbergkult« (Kaus, 1917d). Gina Kaus schrieb zu diesem Aufsatz: »den Einleitungsaufsatz hatte Otto Kaus geschrieben. Es waren vierzig Seiten abstrakter Philosophie; sie lagen wie ein Sperrriegel vor den übrigen Artikeln, die ebenfalls höchst anspruchsvoll waren« (1990, S. 51). Sie nennt ihn einen »langen und so unendlich schwer verständlichen Einleitungsaufsatz« (S. 69).

Kunstgeschichte (1917b) Hier geht es um die Stellung der Kunstgeschichte im Verhältnis zur Philosophie, Kulturgeschichte und Geschichte als Wissenschaft. In Frage steht auch, wie weit Kunstgeschichte selbst über ihren Status reflektiert wird (Kaus 1917b, S. 94). Es geht um die Ursprünge kunsthistorischen Interesses, durch »die Erinnerung an die ideale Einheit der Kunst und an die kritische Absicht der Untersuchung« (S. 98), um ihre

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Aufgabe, das »unersättliche Zeitbewusstsein« »vor dem Auswuchern« zu schützen und »einen Damm gegen den ewig fortgebärenden Zweifel« zu errichten (S. 100). »Das neunzehnte Jahrhundert hat einen neuen Typus des Publizisten geboren – den Kunsthistoriker großen Stils, die Maniera magnifica der Kritik« (S. 105).

Kino (1917c) Hier handelt es sich um einen kurzen Beitrag unter der Rubrik »Marginalien«. Trotz der Kürze ist er auch weitschweifig. Ausgehend von der Frage, »ob aus dem Kino eine Kunst werden kann; die Kunst der Zukunft, das Theater der Zukunft. Warum nicht?« (Kaus, 1917c, S. 154), spinnt er Fäden über Ästhetik, die Rolle der Phantasie und Realität in der Kunst. Und er hält das Kino als Kunst für eine »unmögliche Sache« (S. 155). Man muss hier einbeziehen, dass Kino noch in den Kinderschuhen steckte, Filme sehr kurz waren und bis 1927 nur als Stummfilm existierten. In dieser Zeit hat eine enorme Entwicklungen eingesetzt.

Tage-Buch (1924/25) In der Zeit, in der Kaus sich wieder der (Individual-)Psychologie zuwendet, beginnt Ende 1924 eine ganze Serie von kürzeren Beiträgen in der politischen Wochenschrift »Das Tage-Buch«. Kaus schreibt hier bis Ende 1925 zehn Aufsätze. Das »Tage-Buch« wurde von Stefan Großmann und Ernst Rowohlt 1920 als unabhängige, überparteiliche Wochenschrift gegründet. Großmann war ein sehr rühriger Wiener Journalist aus dem sozialdemokratischen Umfeld. Die Zeitschrift wurde eine einflussreiche, radikal­ demokratische Zeitschrift (vgl. Wikipedia69). Die allermeisten Beiträge von Kaus behandeln Skurrilitäten, besondere Kriminalfälle, die Kaus psychologisch betrachtet. Sie sind spannend, kürzer, leichter und humorvoller geschrieben als seine anderen Aufsätze.

69 Wikipedia-Artikel »Das Tage-Buch«, Zugriff am 10.07.2018.

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Den ersten Aufsatz, »Die Tragödie der 2. Generation« (1924), könnte man als psychologische Fallanalyse verstehen. Es geht um den Mordfall Leopold/Loeb in Chicago 1924, in dem die beiden hoch­ begabten Studenten, 18- und 19-jährig, aus gutem Haus einen Jungen ermordet haben, aus einem Ehrgeiz heraus, »das perfekte Verbrechen im Sinne der Kunst des Mordes zu begehen« (Wikipedia70). Der Fall und Prozess dieses »Jahrhundertverbrechens« erregte als Medienspektakel großes Aufsehen, heizte die Diskussion über die Todesstrafe an und wurde häufig Vorlage in Film und Literatur (vgl. Wikipedia71). Kaus versucht nun diesen Mord psychodynamisch zu erklären. Die »Tragödie der 2. Generation« besteht nach ihm darin, dass an Söhne erfolgreicher Väter von vornherein Forderungen nach erhöhter Leistung gestellt würden und ihnen mit Misstrauen begegnet werde. Das schaffe Druck, »überspannte Zielsetzung« (Kaus, 1924b, S. 1256), in diesem Fall die »Fiktion der wissenschaftlichen und künstlerischen Genialität […] der Mord sollte der Tatbeweis ihrer Überlegenheit sein« (S. 1257 f.). Für Kaus ist diese Tat aber auch nur »denkbar […] in einer Gesellschaft, in welcher die geltenden Überlegenheits- und Machtideale jeder gemeinschaftsbildenden Bedeutung entkleidet erscheinen« (S. 1258). Das Krankhafte an dieser Tat und das jugendliche Alter der Täter fordern für Kaus den Unzurechnungsfähigkeitsparagraphen heraus und weitere pädagogische Behandlung. Hierfür bietet er »die Erfahrungen der individualpsychologischen Schule« an, die er für berufen hält, »für die Grundsätze einer zukünftigen Erziehung die zentralen Erkenntnisse zu liefern« (S. 1255). Der kurze Beitrag »Die Jungfrau« (1925a) greift eine kleine Pressesensation auf, die Kaus eher humorig behandelt: Eine 53-jährige Lehrerin hatte einen 13-jährigen Schüler geliebt. Das eigentlich Sensationelle daran sei, dass diese 53-Jährige davor noch Jungfrau war. »Wer mit 53 Jahren noch nicht lieben gelernt hat, der kann […] nur absonderlich lieben« (Kaus, 1925a, S. 92). Bei »Gerichtssaalreporter« (1925b) handelt es sich um eine Glosse zu den Gerichtsberichterstattern in der Boulevardpresse. Ein konkre70 Wikipedia-Artikel »Leopold und Loeb«, Zugriff am 10.07.2018. 71 Wikipedia-Artikel »Leopold und Loeb«, Abschnitt »Adaptionen in Literatur, Film und Theater«, Zugriff am 10.07.2018.

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ter Adressat und Anlass sind nicht erkennbar. Kaus mokiert sich über die selbstgefälligen, überheblich die Weisheit und Moral besitzenden »Männer[.] mit unbeirrbarem moralischem Gefühl«, die mit kühnen Sprüchen verurteilen (Kaus, 1925b, S. 128). »Unter dem Hauche der Moral […] sickert Gift«, »eine ganze Unze dickflüssige braune Moraljauche« (S. 130). Es folgen (1925) drei sehr spannende Beiträge zum Thema Eugenik und Sterilisation, ausgehend von »Der Kindermord von Zwickau« (1925c). Diesem Beitrag folgt eine knappe Debatte zwischen Hans Siemsen und Kaus (1925d). Abschließend schreibt Kaus in »Der Fall Boeters« (1925e) noch einmal dazu, seine Haltung bekräftigend, manches korrigierend. Eugenische und rassenhygienische Überlegungen waren in diesen Jahren sehr wohl verbreitet, aber (Zwangs)sterilisierung unter eugenischen Gesichtspunkten wurde damals, wenn auch z. T. aus taktischen Gründen, von der Mehrheit der Ärzte noch abgelehnt und war jedenfalls gesetzlich verboten – dies also noch acht Jahre vor 1933. Kaus vertritt hier eine sehr klare und konsequente Position gegen Sterilisierung. Der Artikel »Kindermord« wendet sich scharf gegen einen Rassenhygieniker und Hereditätsprediger, den Bezirksarzt Dr. Gustav Boeters aus Zwickau, der fanatische Aufrufe und Kampagnen für die Steri­ lisierung »erbkranken« Nachwuchses durchführte und in vielen Fällen bereits tätig war. Boeters beschwor den Untergang der deutschen Rasse, empfahl Kastration bei Sexualstraftätern und Homosexuellen. 1930 wurde er Mitglied der NSDAP.72 Gustav Boeters (1869–1942) war Außenseiter und umstritten und galt als Querulant. Er wurde als psychisch krank vom Dienst suspendiert. Trotzdem gilt er als wesentlicher Anstoß für die Debatte über und schließlich baldige Akzeptanz eugenisch indizierter Sterilisation. Boeters machte 1923 entsprechende Eingaben für ein Sterilisationsgesetz an die sächsische Regierung und 1925 (mit Auguste Forel) an den Deutschen Reichstag (Lex Zwickau), was vorerst scheiterte.73 72 Vgl. Wikipedia-Artikel »Gustav Boeters«, Zugriff am 20.7.2018: Hier wird auch auf einen Beitrag im Tage-Buch verwiesen, ohne Otto Kaus zu nennen. 73 Forel, äußerst vielseitiger und einflussreicher Schweizer Psychiater, Sozialreformer, Sozialist, Pazifist, Direktor von Burghölzli, besonders hervorgetan

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Kaus nennt Boeters einen »zweiten Herodes« (1925c, S. 163), denn Boeters »wütet« auf das »Gerücht von erblichem Verbrechertum und erblicher geistiger Minderwertigkeit hin« gegen ungeborene Kinder »unwürdiger Leute« (S. 163) und sterilisiert lebende Kinder, Irre und Verbrecher. Zudem sei es nur dilettantisch, »Menschenschicksale aus Vererbungstatsachen zu erklären« statt durch »Milieuschäden« (S. 164). Im nächsten Heft antwortet Hans Siemsen.74 Siemsen findet Kaus übertrieben, hält Boeters für nicht einflussreich, verteidigt Boeters und verweist auf eine doch vernünftige »soziale Indikation« von Sterilisation. In seiner Antwort auf Siemsen geht Kaus auf die »soziale Indikation« ein: »imbecile Kinder gehören […] in die Hände von guten Erziehern, nicht von Sterilisatoren«, und für Erotomanen sei die Indikation Psychotherapie (Kaus, 1925d, S. 237). Schließlich ändert sich das Bild etwas nach einem Besuch von Kaus in Zwickau und Gesprächen mit Boeters, was er in seinem dritten Beitrag ausführt. Es sei im Gespräch sogleich klar geworden, dass Boeters nervenkrank sei, er sei vom Dienst suspendiert (Kaus, 1925e, S. 339) und die Zahl der operierten Fälle sei viel geringer, als Boeters angebe. Allerdings seien auch diese Fälle, von namhaften Chirurgen durchgeführt, »peinlich« und beunruhigend, da sich die sog. soziale Indikation als »Bequemlichkeitsstandpunkt« erweist: Sterilisation, um sich die Beaufsichtigung zu erleichtern (S. 341). Hier müssten die Behörden eingreifen. In der »Die Überschätzung des Sexuellen« (1925f) beschreibt Kaus einen Wandel in der Auffassung der Erotik in der heutigen Generation. Es habe in seiner Generation gegolten, dass »in der Erotik des Menschen seine ganze Lebensgenialität kulminiere« und es dem »Aufgeklärten fast unmöglich« war, »erotische Treue zu üben« (Kaus, 1925f, S. 383). Die »Kulturvorstellung von der Gesetzlosigkeit der Erotik« trug in jede Beziehung ein »Beunruhigungsmoment« hinein, »das die in Fragen der Liberalisierung der Sexualität, Alkoholabstinenz und Eugenik (Sterilisationen aus sozialen Gründen) (Wikipedia-Artikel »Auguste Forel«, Zugriff am 10.07.2018). 74 Hans Siemsen, geb. 1891, Journalist, Schriftsteller, Künstler, Sozialist, Mitarbeiter u. a. bei Weltbühne, Bruder der bekannten Anna Siemsen, Pädagogin und Sozialdemokratin.

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Partner stetig auseinandertrieb« (S. 383). Seine Generation »verstand nicht, dass die Zauberkraft der Liebe einzig darin besteht: dass sie bindet und verpflichtet« (S. 384). Die heutige Jugend dagegen stehe dieser Haltung ganz misstrauisch gegenüber, »sie hat keinen Sinn für das Abenteuer«, sie versucht nicht, »die Ängstlichkeit der Hingabe hinter einem Geflunker von behauptetem Mut zu verstecken« (S. 383). Die neue Generation muss »alles erst lernen«, was kann sie »aus dem Gestern übernehmen«? Sie muss »aufbauen, wo die vergangene ein Trümmerfeld zurückließ« (S. 385). Blickt der 34-jährige Kaus, gedankenschwer, bedauernd, auf sein eigenes Leben zurück? Es klingt sehr stark nach Reue, nach einem Geständnis. Steht Kaus um diese Zeit vor einer inneren Wende? Das lässt sich auch an seinen Aufsätzen zur Liebe und Ehe dieser Zeit aufzeigen (vgl. Abschnitt »Sexualität, Ehe, Perversion«, S. 119 ff.). »Durch Krankheit herrschen« (1925h) ist eine individualpsychologisch gestützte Analyse eines gerichtspsychiatrischen Falls, mit deutlichen Seitenhieben gegen die psychologische Unfähigkeit der Ärzte und lobenden Würdigung des Gerichtspsychiaters Prof. Maximilian Jahrmärker, ohne dass dessen Argumentation hier deutlich würde.75 Es geht um den Prozess Fritz Angerstein, der am 1.12.1924 nacheinander acht Menschen, als Erstes seine Frau, dann Familienmitglieder und Angestellte per Axt ermordet hat. Sein Prozess im Juli 1925 endete mit dem Todesurteil, das im November 1925 vollstreckt wurde (vgl. Wikipedia76). Kaus, offenbar auch Jahrmärker, behandeln den Fall von der Ehetragödie her, vom »Martyrium des Zusammenlebens mit einer Psychopathin«, einer »Hysterika«, die »mit allen Tücken und Listen der […] Aggression, der Herrschsucht« ausgestattet war und durch ihre Krankheit geherrscht hat (Kaus, 1925h, S. 1134). Es wäre so wichtig gewesen, und eine Aufgabe der Ärzte, »diesen labilen Menschen aus den Klauen 75 Jahrmärker, geb. 1872, war Psychiater, Direktor der Marburger Heilanstalt, dann Professor der Universität Marburg. 1933 war er auf der Unterzeichnerliste der Professoren pro Hitler und den nationalsozialistischen Staat und pries das Sterilisierungsgesetz als »hervorragende Kulturtat« (Wikipedia-Artikel »Maximilian Jahrmärker«, Zugriff am 10.07.2018; Klee, 2003, S. 283). 76 Wikipedia-Artikel »Fritz Angerstein«, Zugriff am 10.07.2018.

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der Psychopathin zu befreien« (S. 1138). Hätten das die Ärzte erkannt, wäre das Unglück nicht passiert. Diese Ehe habe Angerstein an den Rand des Wahnsinns getrieben, freilich sei es bereits eine schlechte Liebeswahl gewesen: »Psychopath« suchte die »Psychopathin«, wodurch er eine Situation heraufbeschwor, der er nicht gewachsen war (S. 1137). Die Erklärung der Tat ausschließlich über die Ehe – ohne Analyse der Psychodynamik des Täters –, die emotionale Parteinahme für den männlichen Täter, gegen die Frau, und die Übernahme des Ausdrucks »Psychopath« erscheinen diskussionswürdig, wenn sie auch teils »zeitgemäß« sind. In einem therapeutischen Optimismus wendet Kaus sich gegen die Todesstrafe: »dass auch ein mordender Angerstein noch zu einem lebensfähigen Menschen umgewandelt werden könnte. Die Gesellschaft, die seinen acht Morden einen neunten hinzufügt, handelt jedoch nach einer Logik, deren Untiefen noch geheimnisvoller sind als die der verzopften Weisheit der Zunft« (S. 1139). »Nietzsches Schlaflosigkeit« (1925i) ist der letzte Artikel von Kaus im »Tage-Buch« und auch er löst Widerspruch aus. Es ist ein kurzer, provokanter, sich zwischen Polemik und Pathos bewegender Text zu Nietzsches Pathologie. Nietzsches Schlaflosigkeit vor seinem Zusammenbruch sei entweder »Begleitsymptom eines paralytischen Prozesses« als Folge einer luetischen Infektion oder hatte »rein psychogene Ursachen«, in seiner »Charakterbildung« (S. 1342). Im individualpsychologischen Sinn interpretiert er Nietzsches psychogene Schlaflosigkeit als Zeichen des Unsicheren, der mit Nietzsche ausruft, »O, Mensch, gib acht«, vor den »Gefahren des Lebens« warnend. Nur »der Unsichere« ist schlaflos, der, »der aus der Pein des Selbstmißtrauens in Größenträume flüchtet, der Herrschsüchtige und Ruhmsüchtige« (S. 1343). Zwei Hefte weiter wird Kaus von Leo Matthias unter dem Titel »Medizinisches Pfaffentum« in höchster Polemik angegriffen.77 Er wehrt sich gegen psychologische, pathologisierende Erklärungen Nietz77 Leo Matthias (1893–1970), Journalist, Reiseschriftsteller, schrieb 1926 z. B. über Russland (»Genie und Wahnsinn in Russland«), und habe mit seinem 1964 erschienenen Buch (»Die Kehrseite der USA«) in Deutschland die kritische Sicht gegenüber den USA beeinflusst (Wikipedia-Artikel »Leo Matthias«, Zugriff am 10.07.2018).

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sches und attestiert Kaus eine »unsaubere Logik« und einen »neuen Dogmatismus« mit alten Moralvorstellungen, die Kaus mit seinem »Lehrer Alfred Adler« gemeinsam habe. Nicht zufällig greift Kaus diesen Fall »Matthias« ein Jahr später, in »Träume Raskolnikoff« (1926a) wieder auf, wo es in seinen Fußnoten um die Kritiker geht, die psychologische Erklärungen ablehnen (wie z. B. Meier-Graefe). In dieser Reihe sieht er auch Matthias und bezeichnet ihn als »neuesten Töter der Individualpsychologie«. Außerdem beklagt er, dass ihm eine Antwort auf Matthias vom Herausgeber verwehrt worden war (vgl. Abschnitt »Literaturinterpretationen«, Raskolnikoff; 1926a, S. 72, 76) – vielleicht war dies der Grund für das Ende der Publikationstätigkeit im »Tage-Buch«?

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Bibliographisch offen, nicht zu finden 1913: »Lügenhaftigkeit bei Kindern« war für April 1913 als Aufsatz im »Jahrbuch für Pädagogik« (Österr. Verlag) vorgesehen (siehe Zentralblatt für Psychoanalyse, III, S. 337). Nicht erschienen, aber vermutlich identisch mit 1914. 1926: »Die Angst vor der Frau«. Leipzig: Hirzel. Im Berliner Mitteilungsblatt »Gemeinschaft« 1926, Nr. 12, Dezember, wird dieses Buch von 200 Seiten als »demnächst erscheint« angekündigt. Dies Buch konnte ich nicht finden. 1926: »Der Fall Großmann«. Verl. Die Schmiede, Berlin, ist nicht zu ermitteln. Es war angezeigt im Literaturverzeichnis des »Handbuch der Individualpsychologie«, hrsg. v. E. Wexberg, Bd. 2, und im dortigen Text »Über sexuelle Verwirrungen« (Kaus u. Künkel, S. 567). Bei dem »Fall Großmann« geht es um Carl Großmann, einem äußerst bestialischen Sexual- und Serienmörder, der in Berlin sein Unwesen 1918 bis 1921 trieb, 1921 gefasst wurde und sich 1922 erhängte. 1926: »Das psychologische Problem des Traums«. Kaus hielt einen Vortrag auf dem 3. Internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf 1926 (siehe Kongressbericht 1926, IZI, S. 387). Nicht erschienen, könnte aber eingegangen sein in »Die Träume des Raskolnikoffs«, 1926. 1930 wird ein Aufsatz »Verhaltungsweisen« im Festband zu Adlers 60. Geburtstag, »Selbsterziehung des Charakters«, im Inhaltsverzeichnis im IZI angezeigt. In einer Fußnote ist zu lesen: »Aus technischen Gründen« konnten folgende Arbeiten nicht erscheinen, darunter Kaus. Sie sollen demnächst erscheinen, Kaus’ Beitrag erschien aber nie.

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Alfred Adler und Otto Gross: Verbindungslinien zwischen zwei ungleichen Dissidenten

Einleitung Otto Gross (geb. 1877) gehört zu den herausragenden und zugleich tragischen Figuren aus der Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung. Er war erfüllt von der Psychoanalyse – und wurde von ihr verschmäht, bald ignoriert und denunziert. Er war der Vermittler der Psychoanalyse zur jüngeren, expressionistischen, anarchistischen Intelligenz und deutschsprachigen Boheme, die unter Psychoanalyse dann das verstand, was Gross verkündete, aber diese Boheme war insgesamt in ihrer Haltung zur Psychoanalyse gespalten. So wurde Gross auch von Teilen der Boheme angegriffen, auch wenn er ansonsten hoch verehrt und umschwärmt war, vor allem von Frauen. Er begann mit einer wissenschaftlichen, psychiatrischen Karriere, die er u. a. beim Neurologen Gabriel Anton in Wien, beim Psychiater Kraepelin in München praktizierte, und trat mit einer psychiatrischen Habilschrift und anderen Schriften hervor, die er teilweise bereits mit psychoanalytischen Theorien verband. Dann führte er ein unstetes, anarchistisches Leben in freier Liebe, im Drogenrausch und mit psychoanalytischen »Behandlungen«, die er für die Realisierung der Psychoanalyse hielt. Er schrieb eine Reihe von engagierten und klugen Aufsätzen zur Psychoanalyse, zu Autorität, Macht, revolutionärer Befreiung – darin gibt es allerdings einige Wiederholungen. Er lebte in Graz, Wien, München und Berlin und hielt sich am liebsten in der Lebensreform- und Künstlerkolonie Ascona auf. 1902 war er bereits im Burghölzli zur Entziehungskur, 1908/1909 dort bei C. G. Jung in Therapie, der er entfloh, denn er fühlte sich nicht mehr verstanden. Auch war er – nach einigen diagnostischen Einordnungen, die auch zwischen Jung und Freud diskutiert wurden – mit der »ver-

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hängnisvollen« Diagnose Dementia praecox geführt worden (vgl. Hurwitz, 1988, S. 184). Er wurde vom Vater Hans Gross, einem Grazer Kriminologieprofessor und psychoanalytisch Gebildeten, verfolgt und 1913 psychiatrisch interniert und entmündigt – dem folgte ein Aufschrei der Empörung von Freund und Feind. Nach der Internierung bemühte sich 1914 Wilhelm Stekel therapeutisch um ihn. Gross endete in Drogen, Hunger und Kälte elend in Berlin, Otto Gross im Februar 1920. In seinem Nachruf 1920 bezweifelt Stekel die Diagnose Dementia pracox, er habe vielmehr unter einer »schweren Neurose« gelitten (vgl. Dvorak, 2008, S. 135; Heuer, 2008, S. 140 f.). Von der Psychoanalyse übernahm Gross den Sexualitätsdiskurs und stellte das Unbewusste ins Zentrum. Damit verband er bereits 1908 die Forderung, Psychoanalyse mit gesellschaftlicher Befreiung zu verbinden: »Die Psychologie des Unbewussten ist die Philosophie der Revolution, d. h., sie ist berufen, das zu werden als Ferment der Revolutionierung innerhalb der Psyche als die Befreiung der vom eigenen Unbewussten gebundenen Individualität« (Gross, 1913, S. 59). »Psychoanalytische Heilung« ist für ihn »die Befreiung vom suggestiv fixierten fremden Willen (Gross, 1914, S. 84), sie soll helfen, »eine befreiende Weltanschauung« zu finden. Hierbei beruft er sich auf Marcinowskis »hochherzige Lehre«, ohne Genaueres zu zitieren (S. 88).78

78 Johannes Marcinowski, Dr. med., kam 1909 in Kontakt zu Jung und Freud, hielt 1910 einen Vortrag auf dem Nürnberger Internationalen Kongress für Psychoanalyse (30./31.3., »Sejunktive Prozesse als Grundlage der Psychoneurose«) und war ab 1911/12 Mitarbeiter am Zentralblatt, Mitglied der Wiener und Berliner Psychoanalytischen Ortsgruppe. Er »hatte seine eigene Art der Psychotherapie entwickelt und war ab Mitte der 1920er Jahre keiner bestimmten Richtung mehr zuzuordnen« (Mühlleitner,1992, S. 224).

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Diese Verbindung der Psychologie des Unbewussten zur Revolutionierung des Individuums und der Gesellschaft machte – und macht – Gross für die etablierte Psychoanalyse unmöglich, so wie später auch Wilhelm Reich für die Psychoanalyse unmöglich wurde. Gross sei »von diesem Gedanken aus« von Freud bald »entfremdet«. »Hier liegt die Wegscheide«, schreibt der Schriftsteller und enge Freund Franz Jung dazu. »Man hat ihn unter den zunftgemäßen Psychoanalytikern weiter totgeschwiegen, nachdem Freud das Signal gegeben hatte, und Adler […] ihn nur so nebenbei mit erwähnt« (F. Jung, 1921, S. 10 f.). 1908 habe Freud auf dem Salzburger Kongress den revolutionären Anspruch von Gross zurückgewiesen: Wir wollen Ärzte sein und wollen Ärzte bleiben. Freud habe ihn aus der psychoanalytischen Bibliothek gestrichen und C. G. Jung habe in seiner »Schrift über den Vaterkomplex« »lediglich Grossche Gedanken und Folgerungen« ausgesprochen (S. 10 f.). Trotzdem hat Gross einerseits an der Psychoanalyse immer festgehalten, andererseits sich im Laufe der Jahre doch immer mehr von Freud entfernt und sich somit selbständig gemacht. Er habe, schreibt Franz Jung, »den therapeutischen Charakter bekämpft und auszumerzen gesucht«, dies aber »nicht immer eingestanden«. »Die Begrenzung auf das Therapeutische mag gewiss längst durchbrochen sein, besonders in der Adler’schen Schule, aber es fehlt der Boden, auf dem die heilmäßig gebrachte »Weltanschauung« wurzeln könnte (S. 10). Es war diese revolutionäre, anarchistische Haltung, verbunden mit der Idealisierung der Psychoanalyse als revolutionär, (wie sie heute zuweilen noch vertreten wird), die Gross anziehend machte und – neben oder vor Wilhelm Reich – später zur Ikone der frühen antiautoritären 68er-Bewegung mit ihren Idealen von freier Sexualität, bewusstseinserweiternden Drogen, Befreiung durch Selbsterkenntnis, Kritik an Psychiatrie, Befreiung von Normen und Regeln und vom »Vater«, von der Autorität.79

79 Dieser Geist ist teilweise bis heute noch lebendig in der interdisziplinären, undogmatischen »Internationalen Otto Gross Gesellschaft«, die eine sehr beeindruckende, umfassende, gründliche historische und einfühlende Aufarbeitung von Otto Gross seit 1999 vorgelegt hatte.

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Kontakt zwischen Adler und Gross Zweifellos ist Gross’ Ausgangs- und Bezugspunkt Freud, mit seiner Theorie des Unbewussten und der Bedeutung der Sexualität. Dabei wird gern und regelmäßig die Verbindung zu Adler, die es auch gab, »übersehen« oder oft nur versteckt oder in der Prioritätsfrage etwas verdreht dargestellt: Mehrere Verweise auf Adler gibt es bei seinem Freund Franz Jung, wenige Verweise finden wir bei Emmanuel Hurwitz, dem ersten maßgeblichen Biographen von Gross (1979/1988), und schließlich berührt auch Alfred Springer von der Otto Gross Gesellschaft diese Verbindung Adler–Gross. Etwas verwegen meint Franz Jung, Adler habe Gross so viel zu verdanken – ohne das zu konkretisieren (F. Jung, 1921, S. 11), und ähnlich behauptet auch Alfred Springer: »In Einigem« sei Gross Vorläufer der »individualpsychologischen« Theorien (Springer, 2008, S. 75), nennt dabei z. B. Ichtriebe, Ichpsychologie, Triebverschränkung, Konflikttheorie. Bei Hurwitz kommt Adler eher als der vor, gegen den Gross sich abgrenzt, sieht allerdings Übereinstimmung zwischen beiden in der Bedeutung des »finalen Charakters psychischer Veränderungen« und der »sozialen Bedingtheit der psychoanalytischen Befunde« (Hurwitz, 1988, S. 272). Vermutlich sind sich beide nur einmal persönlich begegnet, nämlich auf dem Salzburger Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1908, wo Adler über den, heftig umstrittenen, Aggressionstrieb und die Triebschicksale mit Triebverschränkung sprach. Bei Gross kommt 1909 der Gedanke (nicht der Begriff) der Verschränkung von Sexualität und Aggression mehrmals vor. 1920 spricht er von »Triebverschränkung von Sexualität und Willen zur Macht« (Gross, 1920, S. 131) und weist den Begriff »Verschränkung« Adler zu, »nach Adlers klassischem Ausdruck« (S. 128) – die Priorität von »Triebverschränkung« liegt also eindeutig bei Adler. Während Adler Gross nur einmal beiläufig erwähnt hat, und zwar 1912, als ein »geistreicher Schüler« des Kompensationstheoretikers Anton (Adler, 1912, S. 49), setzte sich Gross in späterer Zeit explizit in zwei Aufsätzen, 1914 und 1920, mit Adler auseinander (s. u.), griff Adlers Themen und Begriffe auf, verteilte Lob und Zustimmung, blieb aber gleichwohl von Adler unabhängig.

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Es gibt zwischen Gross und Adler ein paar Querverbindungen über Personen aus Adlers Umfeld bzw. Anhänger, so zu Gina und Otto Kaus, Ludwig Rubiner, Grete Fantl. Zumindest gelegentlich gehörte Gross zu dem Kreis, den die Schriftstellerin und zeitweise Anhängerin Adlers Gina Kaus als Gastgeberin von Soireen in ihrem Haus versammelte (vgl. Kapitel zu Kaus und Kapitel zu Ehrenstein). Gina und Otto Kaus standen Gross in mancher Hinsicht nahe, nämlich bezüglich ihrer Auffassungen zur Politik und sexueller Revolution. Ihr Mann Otto Kaus, Anhänger Adlers seit der Frühzeit, ließ Gross in seiner Zeitschrift »Sowjet« 1919 zwei Artikel veröffent­lichen, und zwar im Juli den berühmten »Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik« und im November 1919 »Orientierung der Geistigen« Als Otto Gross dann im Februar 1920 in Berlin stirbt, ist es Otto Kaus, der als Erster einen Nachruf schreibt, und zwar in der »Sowjet«, Rubrik »Mitteilungen«. Kaus rühmt hier Gross als kompromisslosen Revolutionär, als »geistigen Proletarier«, der »seit seiner frühesten Jugend« mit der Gesellschaft »auf offenem Kriegsfuß« stand (Kaus, 1920, S. 53), der gegen die bürgerliche Moral, bürgerliche Autorität und Erziehung kämpfte (S. 55), dem in dieser Gesellschaft, dem »Tollhaus«, eigentlich keinen Platz gelassen wurde (S. 54; vgl. Kapitel zu Kaus, »Politische Texte«). Ludwig Rubiner, der expressionistische und politisch aktive Dichter, repräsentiert in der Frage Psychoanalyse die Fraktion, die die Psychoanalyse kritisierten und ablehnten (zu Rubiner siehe Kapitel zu Ehrenstein).80 Rubiner war daher Kontrahent von Gross, es kam in drei Anläufen zu einer Kontroverse zwischen beiden 1913 in der Zeitschrift »Aktion«, als Kritik an der Psychoanalyse. Rubiner kritisiert an der Psychoanalyse u. a. ihren »biologischen Determinismus« und ihr »System der Seelen-Mechanik« (Rubiner, 1916, S. 232), vor allem aber, dass Psychoanalyse »individualisiert«, »verprivatisiert«. »Der harmloseste Klient des Psychoanalytikers ist im Handumdrehen 80 Dazu gehörte auch Gustav Landauer (1870–1919), mit dem es 1913 auch eine Kontroverse mit Gross gab (siehe Gross, 1913, S. 59). G. Landauer: kommunitärer Anarchist, Wiederentdeckung des Geistes der Gemeinschaft (vgl. dazu Wolf, 2005).

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ein Seelen-Partikulierer«. Und Rubiner sieht darin bei Gross einen Widerspruch, der doch »die Menschen aus ihrer Einsamkeit zu retten« erstrebt (S. 234). Als aber 1913 Gross durch seinen Vater Hans Gross, Professor für Kriminologie, in die psychiatrische Klinik zwangseingewiesen wurde, beteiligte sich Rubiner an der von Franz Jung, Erich Mühsam und Franz Pfemfert initiierten Pressekampagne (Haug, 1988, S. 219). Dieser Skandal habe sein Misstrauen gegen Psychologie und Psychiatrie und Psychologisieren noch weiter verstärkt, die als repressives Herrschaftsmittel zur Pathologisierung von Querdenkern, als Mittel gegen aufbegehrende Söhne eingesetzt werden kann (S. 24).81 Gross hatte immer wieder Kontakte zu Dichtern und Künstlern der Künstlerkolonie Dresden-Hellerau. Dort lernte er auch die Linksintellektuelle Grete Fantl kennen, die mit der Individualpsychologin Alice Rühle-Gerstel befreundet war. Grete Fantl (geb. 1892), spätere Ehefrau von Rudolf Manasse – in der amerikanischen Emigration nannten sie sich Rudolph und Marketa Morris. Grete Fantl lebte seit 1913 in Hellerau, unterhielt einen literarischen Salon, der Anziehungspunkt für Literaten, Künstler, Expressionisten und Links-Oppositionelle war. Es kam, wie Götz von Olenhusen recherchierte, mit Gross zu einer Begegnung 1919, und zwar vor seiner Umsiedelung im Oktober nach Berlin. Gross habe dort mit den Manasses »einige Tage« zugebracht (Götz v. Olenhusen, 2010, S. 370). Als Freundin von Alice Rühle-Gerstel – wie sie aus Prag stammend – gründete sie 1924 die Dresdener IP-Ortsgruppe mit (siehe IZI, (5) Mai 1924, S. 36). Gross selbst zitiert sie zustimmend in seinem Aufsatz »Orientierung der Geistigen«, dass sie den »Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen« als fundamental hervorhebt (Gross, 1919b, S. 122).82

81 Ein ähnliches Schicksal wie Gross hatte der expressionistische Dichter Jacob van Hoddis, den Rubiner aus einer Nervenheilanstalt »entführen mußte« und der später bei den Nazis »verschwand« (Haug, 1988, S. 24). 82 In der Ausgabe Gross 2000 wird Grete Fantl versehentlich Grete Frant benannt.

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Konzeptionelle Verbindungen und Differenzen zwischen Adler und Gross Gross’ geistige Herkunft Otto Gross’ revolutionäre Psychoanalyse hat drei verschiedene intellektuelle Quellen, deren Bedeutung nie ganz erloschen waren, wenn auch in verschiedenen Zeiten unterschiedlich präsent: Neben Freuds Psychoanalyse sind dies die Psychiatrie und die Philosophie Friedrich Nietzsches. In allen drei Quellen gibt es Übereinstimmungen und zugleich Differenzen zu Adler.

Psychiatrische Herkunft Gross ist von seiner geistigen Herkunft her ganz (Neuro-)Psychiater, wenn er auch frühzeitig mit der Psychoanalyse vertraut war. Er war von der Degenerationslehre beeinflusst, wie Alfred Springer schreibt (Springer, 2008, S. 53), und vertrat die »Lehre von den funktionellen Krankheitsbildern«. Gross’ psychiatrische Herkunft schlägt sich in seinen frühen Schriften »Zerebrale Sekundärfunktionen (1902), »Das Freudsche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-­depressivem Irresein Krapelins« (1907) und »Über psychopathische Minderwertigkeiten« (1909) nieder. Freud wird ab 1904 genannt. Die letzte Schrift 1909 ist eine Kombination aus Psychiatrie, Degenerationstheorie (die er positiv beurteilt) und der Psychoanalyse Freuds, »Brücke verschiedener Systeme« (Springer, 2008, S. 64). »Psychopathische Konstitution/Minderwertigkeit« meint die der »Degenerierten«. Er wertet dann allerdings, mit einem »genialen Psychiater«, die »Degenerierten« positiv um, als »das Salz der Erde«, (Gross, 1909, S. 119; vgl. Hofmann, 2010, 157 f.; Springer, 2008, S. 66 ff.). Im Psychiatrischen denkt er, wie es sich ab 1902 zeigt, ganz naturwissenschaftlich mit Kausalität und Determination, in biologischen Gewissheiten und Wesenheiten, obgleich er zugleich auch gleichermaßen in sozialpsychologischen Kategorien denkt (vgl. Springer, 1987; Raub, 2003, S. 216 ff.). Adler dagegen kommt von der Sozialmedizin, dann der klinischen Medizin, er hatte aber auch einen biologischen Ausgangspunkt, und beide beschäftigen sich mit ähnlichen Themen in einem Grenz­bereich

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von Hirnphysiologie und Psychologie/Psychoanalyse. Zu denken ist an Adlers »Studie über die Minderwertigkeit der Organe« von 1906/07 und an Gross’ »Über psychopathische Minderwertigkeiten« von 1909. Ganz sicher kannte Gross Adlers »Studie«, er nennt ihn aber nicht. Auch Adler hat sich mit der Degenerationstheorie, der Darwinschen und Lamarckschen Evolutionstheorie, auseinandergesetzt – wenn auch in unterschiedlicher Weise und Bewertung. Zentral in beiden Schriften ist vor allem der Kompensationsbegriff, der sich von Gabriel Anton, dem Lehrer von Gross speist (vgl. Bruder-Bezzel, 1983, S. 49 f., 53 f.) und den Adler zu seinem zentralen Begriff gemacht hat. Die Dynamik von Kompensation und Minderwertigkeit versteht Adler damals als Ergänzung der psychoanalytischen Neurosentheorie, und dies bleibt auch Zentrum der späteren Adler’schen Theorie. Das Festhalten von Gross an naturwissenschaftlichem Denken unterscheidet ihn von Adler, der genau damit gebrochen hat zugunsten eines zutiefst sozialpsychologischen Denkens. Das ist auch eine wesent­liche Differenz zwischen Adler und Freud, weswegen er Naturgrößen ablehnt, wie z. B. Triebe als »natürlichen« Motor.

Nietzsche Auch die Herkunft von Nietzsche spielt bei Gross und seinem Umfeld, in der Avantgarde von Schwabing und Ascona, im Bereich der freien Liebe und libertären Erotik eine große Rolle (vgl. Aschheim, 2000, S. 57 ff.), und dies verbindet und trennt ihn zugleich von Adler. Nietzsche sei der »Forscher«, »dem wir die fruchtbarste Förderung der biologischen Erforschungsweise sozialer Tatsachen verdanken« (Gross, 1909, S. 47; 1913, S. 65 f.). Er habe die »pathogene Einwirkung der Sozietät auf das Individuum« entdeckt, wodurch gerade die »gesündesten Individuen« mit ihren »Expansionstendenzen« »Repressionen« ausgesetzt seien und es zu ihrer »Ausmerzung« komme, zu einer »negativen Selektion«, zum »Niedergang der Rasse«, was Nietzsche mit der »biologischen Soziologie« begründet habe (Gross, 1909, S. 48; 1913, S. 66). Gross’ positive Einschätzung der Degeneration und »Dekadenz« (Hofmann, 2010, S. 159 f.) stammt ebenfalls von Nietzsche. Und Gross verbindet Nietzsche mit Freud. Mit Nietzsche und Freud werde die »kommende Zeit« von der »Umwertung aller Werte« erfüllt.

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Nietzsche habe die »Hintergründe der Seele« entdeckt, Freud die »analytische Technik« (Gross, 1913, S. 59). Zur individuellen Pathologie gehöre die »pathogene Wirkung zurückgedrängter Affekte«, worin Gross »die Forschung Freuds als die geradlinige Fortsetzung der Forschungen Nietzsches« sieht (Gross, 1909, S. 48; 1913, S. 65 f.). Was Adler nun betrifft, kann man sagen, dass Adler mit Nietzsche geliebäugelt, auch manches von Nietzsche übernommen hat. Am bekanntesten ist der »Wille zur Macht«. Aber Adler war eigentlich nie Nietzscheaner, die negative Haltung der gesellschaftlichen Einwirkung auf das Individuum war ihm fremd. Adler distanzierte sich bald schon scharf von Nietzsche, vom Willen zur Macht, vor allem von Nietzsches elitärem Geist des Übermenschen, der auch bei Gross zumindest anklingt (siehe Kapitel zu Nietzsche, vgl. ­Bruder­-Bezzel, 2004, S. 122 ff.).

Auseinandersetzung von Gross mit Adler Vor allen persönlichen und wissenschaftlichen Differenzen und Übereinstimmungen im Einzelnen verbindet Gross und Adler, frühe Dissidenten der Psychoanalyse zu sein. Und dabei spielen gewisse Übereinstimmungen ihrer politischen und gesellschaftskritischen Orientierung eine zentrale Rolle. Beide sehen die Psyche in einem gesellschaftlichen Kontext, die gesellschaftliche Formung der Psyche und das Bedürfnis nach sozialem Zusammensein – die sie allerdings unterschiedlich bewerten. Beide kritisieren die Vorherrschaft des Mannes in dieser Gesellschaft und diese Kritik am Patriarchat ist verbunden mit der Kritik an autoritären Strukturen und Unterwerfungszwängen, am asymmetrischen Geschlechterverhältnis, Kritik an Autorität und Machtstreben. Zweifellos ist Gross politisch, kulturpolitisch, sexualpolitisch, insgesamt radikaler, konfrontativer als Adler und er lebt die verkündete Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen als Individuum. Adler dagegen ist zwar gesellschaftskritisch, verbindet dies auch mit einer Kritik am Kapitalismus, aber er ist nie revolutionär. Er lebt ein bürgerliches Leben, vertritt bürgerlich-sozialdemokratische Werte. Gross war sehr darum bemüht, Adler und Freud zu ergänzen, er

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habe »nach einer Brücke zwischen Freud und Adler gesucht«, wie Franz Jung (1921, S. 24) oder Alfred Springer von der »Suche nach Synthese« schreiben (Springer, 1987, S. 71). Der Gegensatz zwischen Adler und Freud sei seiner »Meinung nach im letzten Grund nur ein scheinbarer und könnte einer gegenseitigen Ergänzung, einer Kombination von beiden Richtungen […] Platz machen« (Gross, 1920, S. 127). Eine solche »Synthese« von beiden bezieht er auf den Konfliktbegriff oder die Verschränkung zwischen Ichtrieb/Wille zur Macht und Sexualität (S. 128 f.). Die »Komponenten eines antagonistischen Triebkräftepaars« seien einerseits der »Ichtrieb« im Adler’schen Sinn, der »Wille zur Macht«, andererseits »die Sexualität im Sinne Freuds« (S. 128), zugleich aber kommt es zur Triebverschränkung von Sexualität und Willen zur Macht (S. 131). Die ausdrückliche Auseinandersetzung von Gross mit Adler beginnt 1914 und wird 1920 weitergeführt, vor allem über Adlers »männlichen Protest«. Der Aufsatz 1914 »Destruktionssymbolik« ist im Zentralblatt für Psychoanalyse erschienen, das um diese Zeit von Wilhelm Stekel – dem Therapeuten von Gross nach seinem erzwungenen Psychiatrieaufenthalt – herausgegeben wurde. Franz Jung sieht darin eine freundliche Geste, eine »Rehabilitierung« von Gross durch Stekel (F. Jung, 1921, S. 11). Gross bezieht sich für seine Adler-Auseinandersetzung auf eine sekundäre Quelle in eben diesem Zentralblatt, auf einen Beitrag des russischen Psychiaters J. Birstein (1914). Inhaltlich geht Gross im Aufsatz 1914 von den Freud’schen »infantilen Sexualtheorien« aus, die Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung sehen, Schwangerschaft und Geburt als Krankheit, was Gross mit Sabine Spielrein als »Destruktionssymbolik« bezeichnet (Gross, 1914, S. 78). In einem komplizierten, gedankenreichen Text fragt Gross letztlich nach den gesellschaftlichen Wurzeln und Zusammenhängen für diese Destruktionsphantasien, auch nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen des Konfliktmodells überhaupt. Nach solchen gesellschaftlichen Zusammenhängen müsse man fragen, meint Gross, da es doch nicht sein könne und es »unzweckmäßig« sei, wenn diese negativen Dinge »für etwas artgemäß dem Menschen Angeborenes« sein sollen (S. 83).

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Der Aufsatz von 1920 ist der erste von drei Aufsätzen »über den inneren Konflikt« (Gross, 1920, S. 125 ff.) und stellt in weiten Strecken eine Erweiterung des Aufsatzes von 1914 dar, wodurch sich einiges wiederholt, manches auch deutlicher wird. Er ist vor allem eine Auseinandersetzung mit Adlers »Willen zur Macht«. In beiden Aufsätzen greift Gross Adler’sche Begriffe direkt auf, fügt sie in seine Konzeption ein und setzt sich mit ihnen auseinander, und zwar: männlicher Protest, Wille zur Macht, Kompensation/Überkompensation, Lebensplan, Sicherung, Minderwertigkeitsgefühl, Angst, Verschmelzung der Triebe/Triebverschränkung, »Trieb zum Anschluss« (Gemeinschaftsgefühl), Kritik am Patriarchat. Und schließlich versucht er eine Versöhnung zwischen Adler und Freud. An einigen Stellen hebt er Adler besonders lobend hervor, so sieht er z. B. den »Wille[n] zur Macht« als die »geniale Forschung Alfred Adlers« (Gross, 1914, S. 85), das Geschlechterverhältnis als eine der großen Entdeckungen oder »der ›Ichtrieb‹ im Adler’schen Sinne, der ›Wille zur Macht‹ in seiner ungeheuren, von Adler richtig erkannten psychologischen Bedeutung« (Gross, 1920, S. 128). Den »Lebensplan« im Sinne Alfred Adlers, »nach dem sich die Entwicklung des Neurotikers […] gestaltet«, versteht Gross als »Ablauf typischer Erinnerung und Folgerung im Unbewussten« (S. 150). Er verbindet ganz im Sinn Adlers das Minderwertigkeitsgefühl mit den Sicherungstendenzen: »das Minderwertigkeitsgefühl, das solche Sicherungstendenzen weckt und hochpeitscht« (S. 150). Er verknüpft oder identifiziert interessanterweise das Minderwertigkeitsgefühl mit der »Einsamkeitsangst«, man könnte dazu vielleicht auch »Verlassenheitsgefühl« oder Gefühl des Ungeliebtseins sagen. Einen besonderen Stellenwert hat die Auseinandersetzung mit Adlers »Wille[n] zur Macht«, der Gross ja schon wegen seiner Herkunft von Nietzsche interessieren musste. Adlers »Wille zur Macht« sei »Ichtrieb in seiner Gestalt als vergewaltigende Tendenz«, und diese Ausprägung sei »ein sekundäres […] pathologisches Phänomen«, »die hypertrophierte Form jenes ursprünglichen Triebes« zur »Erhaltung der eigenen Individualität« (Gross, 1920, S. 127). Dieser Ichtrieb »in seiner ursprünglichen Form« sei das »revolutionäre Moment« im psychologischen Sinn (S. 127). Die Verwandlung des Ichtriebs in diese vergewaltigende Gestalt sei angetrieben durch die Angst vor Einsamkeit (S. 130).

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Der Ichtrieb als Trieb zur Erhaltung der Individualität sei dem Sexualitätstrieb als Trieb nach Kontakt entgegengesetzt, beide seien also ein »antagonistisches Kräftepaar« (S. 128). Es scheint weitgehend eine Übereinstimmung zwischen Adler und Gross über den »Wille[n] zur Macht zu bestehen. »Wille zur Macht« ist bei Adler im Wesentlichen kein (primärer) Trieb, wie ihm oft unterstellt wird, sondern als Machtstreben ein sekundäres, nämlich kompensatorisches und zugleich gesellschaftlich vorgegebenes Phänomen zur Überwindung von Gefühlen der Schwäche und Unterlegenheit, das man mit Gross ebenso als Schutz gegen Einsamkeit, Abhängigkeit, Schutz des Selbstwerts auffassen kann – somit als Instrument eines Narzissmus. Dieser »Wille zur Macht« ist bei Adler aber nur mehr oder weniger pathologisch. Kurzzeitig, 1912, sprach Adler allerdings »Wille zur Macht« nietzscheanisch an, als Form eines Antriebs oder einer Urkraft, die »tief in der menschlichen Natur begründet« ist und – kompensatorisch – Unsicherheit beenden will (Adler, 1912, S. 62). Das würde sich mit Gross’ »Trieb« zur Erhaltung der Individualität gut vertragen. Der »Wille zur Macht« als kompensatorisches Machtstreben entstammt für Adler der gesellschaftlichen Ungleichheit, ja den kapitalistischen Strukturen und Mechanismen, wie er dies zumindest 1918/19 ausdrückt, wie z. B. in seinem »Bolschewismus«-Aufsatz 1918 (Adler, 1918, S. 113). Ein solcher gesellschaftlicher Bezug scheint bei Gross zu fehlen.

Gross’ revolutionäre Psychoanalyse im Vergleich zu Adlers Individualpsychologie Gross’ Psychologie dreht sich in radikaler Unbedingtheit ganz um den Konflikt um Individualität, um die kaum entrinnbare autoritäre Unterwerfung und Anpassung und um den Kampf gegen das Patriarchat. Es fasziniert das kultur-revolutionäre Pathos in der Beschwörung der Autonomie oder Individualität ebenso wie der darin enthaltene Elitarismus, der die Emanzipation als Bedürfnis nur einer kleinen Elite zutraut. Das soll an drei zentralen Themen von Gross aufgezeigt und mit Adler verglichen werden.

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a. Konflikt zwischen Eigenem und Fremdem als Ausgangspunkt der autoritären Persönlichkeit Mit Nietzsche davon ausgehend, dass die Sozietät eine pathogene, unterdrückende, schädigende Einwirkung auf das Individuum hat – ähnlich bei Freud der Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft – komme es zu einem inneren Konflikts zwischen Eigenem und Fremdem, Individuellem und Suggeriertem im Individuum selbst und so zu einer »zerrissenen Psyche« (Gross, 1914, S. 84). Gross nennt diesen Konflikt zwischen dem Eigenen und Fremden auch einen Konflikt zwischen der Sexualität und dem Ichtrieb, zwischen Hingebungstendenz und Willen zur Macht (Gross, 1920, S. 132). »Der naturnotwenige Konflikt zwischen dem Individuum und der Allgemeinheit verwandelt sich unter dem Druck des sozialen Zusammenlebens naturnotwendig in einen Konflikt im Individuum selbst, weil sich das Individuum sich selbst gegenüber als den Vertreter der Allgemeinheit zu fühlen beginnt« (Gross, 1909, S. 48 f.; 1913, S. 66). »Und so bestehen die meisten geradezu allein aus fremden Willen […] das ihnen völlig als die eigene Persönlichkeit erscheint« (Gross, 1914, S. 85). Die autoritäre Persönlichkeit sei der gesellschaftliche Durchschnitt, »die allermeisten«, die diesen Konflikt zwischen Eigenem und Anderem nicht haben. Sie sind »einheitlich« geworden, »sie haben sich das innere Zerrissensein erspart« (S. 85). Der »zerreißende Konflikt« ist umso stärker, »je reicher in sich selbst, je fester in der Eigenart die Individualität veranlagt ist«, verschont sind nur Naturen mit schwach entwickelter »Individualitätsanlage« (Gross, 1913, S. 60). In dieser Diagnose, der »Durchschnitt« sind autoritäre Persönlichkeiten – quantitativ und auch qualitativ gemeint –, steckt nietzscheanischer Elitarismus, wenn es heißt: »Jedwedes Individuum […] das irgend höher steht als diese Normalität […] ist […] außerstande am krankheitsschaffenden Konflikt vorbeizukommen (S. 61), d. h., der neurotische Konflikt verweist auf ein autonomes, höherstehendes Wesen. Das »Fremde« ist für das Kind die Familie innerhalb der patriarchalischen Gesellschaft, der autoritäre Vater, der als Elterngewalt auf das abhängige Kind einwirkt und zur autoritären Persönlichkeit biegen will (vgl. Nitzschke, 2009, S. 68). In der Familie liegt der »Herd aller Autorität«, wie es sich im Vaterrecht zeigt, die »jede Individualität in Ketten schlägt« (Gross, 1913, S. 61). Die bisherigen Revolutionen sind

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»zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug (S. 61) – eine Einschätzung, die nach der gescheiterten Revolution 1918/19, viele teilten, z. B. Otto Rühle, der sich ab da eher mit (Individual-)Psychologie als mit politischem Aktivismus beschäftigte – ähnlich auch Wilhelm Reich (siehe Kapitel zu Kaus). Adler dagegen kennt keinen Grundkonflikt zwischen Eigenem und Anderem, weil es für ihn so generell diesen feindlichen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft nicht gibt. Da er aber auch kaum von gesellschaftlichen Widersprüchen und Klassen spricht, scheint damit das Tor zum Konformismus geöffnet und Anpassung gerechtfertigt. Er sieht das Individuum durch und durch gesellschaftlich mitbestimmt, geprägt, so dass »das Eigene« gar nicht »naturgemäß« vom Fremden abzugrenzen geht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen prägen oder formen das Individuum umfassend, die Sprache, Kultur, soziale Beziehungen, aber auch Urteile, Werturteile, Vorurteile etc. Aber natürlich entstehen auch hier Spannungen und Konflikte zwischen den Bedürfnissen des Individuums und denen der Gesellschaft bzw. bestimmten gesellschaftlichen Klassenanforderungen. Gesellschaftliche Widersprüche manifestieren sich im Subjekt (Parin), erzeugen Anpassungsdruck, krankmachende Wahrnehmungen, Unterwerfungen und Zwänge, gegen die sich das Individuum zur Wehr setzen, sich emanzipieren muss. Adler zeigt solches zwar an der Übernahme falscher, vorurteilshafter Geschlechtsrollenbilder auf oder am Missbrauch der Gemeinschaftsgefühle in der Propaganda für patriotische, nationalistische Zwecke z. B. zum Krieg. Und auch warnt er von Anfang an (1904) vor Forderungen nach Gehorsam und Unterwerfung, verurteilt Strafen in der Erziehung, fordert starkes Selbstbewusstsein. Trotzdem sieht er, zumindest später, zu wenig das Deformierende und Entfremdende an gesellschaftlich (manipulierenden) Einwirkungen. b. Trieb zum Anschluss und Kritik der Erziehung Gross konstatiert einen »Trieb zum Anschluss« oder ein »Kontakt­ bedürfnis« als die »ursprüngliche Sexualität« (Gross, 1920, S. 129), da kein Kind auf Liebe verzichten kann (Gross, 1914, S. 84). Mit dem »Trieb zum Anschluss, zur »Hingabe«, droht bei Nicht-Erfüllung die Angst vor der Einsamkeit: »Die Angst der Einsamkeit, der Trieb zum

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Anschluss zwingt das Kind, sich anzupassen« (S. 85). Hier liegt die Verführung zur Unterwerfung, womit die »infantile Sexualität« ein »masochistisches Moment« in sich hat. »Das treibende Motiv im Masochismus ist die Angst vor der Einsamkeit« (Gross, 1920, S. 130). Das soziale Bedürfnis kann also ausgenutzt werden als »Zwangsmittel der Erziehung«, »die Erlösung von der Einsamkeit […] wird an die Bedingung des Gehorsams, der Anpassung, des Verzichtes auf eigenen Willen und eigene Art gebunden« (S. 150). Daraus entsteht der Grundkonflikt zwischen Eigenem und Fremdem. »Die Angst der Einsamkeit des Kindes ist der erste […] entscheidende Zwang zur Umwandlung des Willens zur Erhaltung der Individualität in den Willen zur Macht, von dessen unabsehbarer Bedeutung in den inneren Konflikten uns die geniale Forschung Alfred Adlers überzeugt hat« (Gross, 1914, S. 85). Gross formuliert hier wunderbar antiautoritär, worum es bei den inneren Konflikten eigentlich geht: dass Sozialisation, dass das »Zärtlichkeitsbedürfnis«, »Gemeinschaftsgefühl« (der »Trieb zum Anschluss«) und Angst vor Einsamkeit zur Anpassung verführen, zur Auflösung der eigenen Individualität, letztlich zum vergewaltigendem Machtstreben. Der Text endet mit der »Forderung eines umgestaltenden neuen Erziehungsprinzips. Dem Kind muss Liebe absolut bedingungslos gegeben werden, befreit von jedem, auch nur scheinbaren Zusammenhang mit Forderungen welcher Art auch immer, als reines Bejahen der Individualität um ihres Eigenwertes willen und jeder keimenden Eigenart«. Allerdings erscheint Gross diese Forderung heute dann doch als unerfüllbar, als utopisch, »denn sie ist unvereinbar mit dem Prinzip der Autorität, in der Familie sowohl als außerhalb« (Gross, 1920, S. 151). Gross’ »Trieb zum Anschluss« entspricht ziemlich genau dem »Zärtlichkeitsbedürfnis« Adlers von 1908 und Adlers »Gemeinschaftsbedürfnis« ab 1918, was Gross aber nicht erwähnt. Es sind beides früh auftretende Grundbedürfnisse, soziale Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, nach Liebe, nach sozialer Zugehörigkeit (im Unterschied zu Freuds frühem selbstbezogenem Narzissmus). Zärtlichkeitsbedürfnis ist die frühe Form des Bedürfnisses und der Fähigkeit nach Gemeinschaft, des Gemeinschaftsgefühls. Auch bei Adler ist dieses Zärtlichkeitsbedürfnis der »Hebel der Erziehung«, da

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die Befriedigung nach Zärtlichkeit »nicht ganz umsonst zu erlangen« ist (Adler, 1908, S. 79), wie Gross ebenso sagt. Gross aber warnt hier zu Recht ganz drastisch vor der Verführung zur Anpassung, während solche Warnungen, zumindest an dieser Stelle, bei Adler fehlen. Obgleich Adler sich auch kritisch gegen »Gehorsam«, Drill, Anpassung, Strafe wandte, bereits ab 1904, und obgleich er, allerdings viel später (1918/19), die Verführung, den manipulativen Missbrauch verurteilt, die mit den Bedürfnissen nach Gemeinschaft zu solchen falschen Zwecken wie Krieg, Rassismus etc. getrieben werden (vgl. Bruder-Bezzel, 2017). Adler warnt zwar vor »Missbrauch«, sieht diesen aber wohl nicht als unausweichlich mitenthalten oder nicht so grundsätzlich, wie Gross dies tut. Das könnte letztlich daraus resultieren, dass er kein antagonistisches Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft annimmt, sondern eher ein Miteinander-Zusammenwirken. c. Geschlechtsrollen und das Konzept der Weiblichkeit im Patriarchat Ein zentrales Anliegen von Gross ist die Kritik am Patriarchat, der »Vaterrechtsgesellschaft« zugunsten eines Matriarchats. »Die kommende Revolution ist die Revolution für Mutterrecht« (Gross, 1913, S. 62). Patriarchat sei das »menschheitsumfassende Trauma« (Gross, 1914, S. 88), das die untergeordnete Stellung der Frau und den Mann als Vergewaltiger hervorbrachte. Die »bestehende Familienordnung« sei auf den »Verzicht auf Freiheit der Frau« gestellt, sie führt zum Konflikt zwischen Trieb zu Mutter (Mutterinstinkt) und Trieb zum unabhängigen Individuum (S. 89). Für ihn gehört der »Mutterinstinkt« allerdings ganz »zum Wesen der Weiblichkeit«: »Der Trieb zum Muttersein in der Frau ist zweifelloser als irgend ein anderer angeborener […] Grund­instinkt« (S. 89). Mutter zu sein, aber bedeute (im Patriarchat), »auf ihre individuelle Selbständigkeit« zu verzichten, eine passive und masochistische Stellung einzunehmen (S. 90). Die Alternative zwischen dem »weiblichen Trieb zum Mutterwerden« und dem »menschlichen« Trieb zur »unabhängigen Individualität« wird nur als Konflikt erlebt, wenn der Wille zur Selbständigkeit erhalten ist, aber – so nun wieder ein eher elitäres Frauenbild – die Mehrzahl der Frauen finde ihr Gleichgewicht im Verzicht auf Individualität, in Passivität (S. 90).

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Trotz der kritischen Haltung von Gross zur patriarchalischen Gesellschaft scheint er doch auch einem romantischen Frauenbild zu folgen, mit Zerrbildern vom weiblichen Charakter, als schwach, passiv, hysterisch, der Suggestion erlegen, abgeleitet vom biologisch bestimmten, wesenhaften Mutterinstinkt. Gross lobt 1920 besonders Adlers »soziale Zuweisung der Geschlechter. Es sei »eine der großen Entdeckungen Alfred Adlers«, dass »Mann und Weib« im Unbewussten die Bedeutung von »überlegen und unterliegend« annehmen, als »Abspiegelung der bestehenden Institutionen in Sozietät und Familie […]. Es wird, als seelischer Niederschlag der bestehenden Zustände, das gegenseitige Verhältnis der Geschlechter zu einem Symbol der Herrschafts- bzw. Unterwerfungssituation« (Gross, 1920, S. 138). In diesem Zusammenhang greift Gross positiv Adlers »männlichen Protest« auf, »männlicher Protest« als Wunsch, ein Mann zu sein, in Folge des sozialen Vorurteils von der Überlegenheit des männlichen Elements (Gross, 1914, S. 80 f.). »Die innere Gegensatzstellung« zum Mutterinstinkt kann sich nur als Verneinung der eigenen Weiblichkeit selbst, als Wunsch nach Männlichkeit psychologisch manifestieren« (S. 89). Als eine Auswirkung des Patriarchats sieht Gross auch die gewalttätigen Phantasien in den Freud’schen infantilen Sexualtheorien (»De­ struktionssymbolik«). Und so könne der Wunsch, Mann sein zu wollen (»männlicher Protest«), auch der Wunsch sein, Vergewaltiger zu sein. »In allen Frauen erhält sich […] das innere Gefühl, dass sie mit ihrer Sexualität und Mutterschaft sich vergewaltigen lassen«. Frau sein sei die Vergewaltigte sein. Und in allen Männern hielte sich das Gefühl, »dass ihre sexuellen Beziehungen zur Frau im Grunde Vergewaltigung sind« (Gross, 1914, S. 90). Dies aber belaste die Heterosexualität und so verstehe man den Wunsch, homosexuell zu sein, nicht als »männ­ lichen Protest«, sondern als ethisch begründeten Wunsch, der Destruktion der Heterosexualität zu entgehen, als Bedürfnis, nicht Vergewaltiger zu sein und somit nichts Sexuelles mit der Frau zu tun zu haben (S. 82) – eine durchaus sympathische Erklärung von Homosexualität, die Adlers Erklärung als Furcht vor der Frau ebenbürtig ist. Adlers gesellschaftskritische Haltung erweist sich (in seiner Frühzeit) ebenfalls als »feministische«, den Emanzipationskampf der Frau

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unterstützende Kritik am Patriarchat. Er stellte sich im Freud-Kreis 1908 gegen die dort vertretenen überkommenen Haltungen zu Frauen: Er betont die (intellektuelle) Gleichwertigkeit der Frau, verneint den notwendigen Zusammenhang von Mutterschaft und Unterwerfung, verweist auf den Emanzipationskampf der Frau (der damaligen Frauen­ bewegung) und bezeichnet sich in diesem Zusammenhang als Marxist (siehe Nunberg u. Federn, 1976, S. 331 f., 1977, S. 82; vgl. Bruder-­ Bezzel, 1999, S. 138 f.; vgl. Kapitel zum Hermaphroditismus). Weiblich gelte in der männerdominierten Gesellschaft als unten, unterlegen, männlich als überlegen, der »zu starke Vorrang der Männlichkeit« sei »der Krebsschaden unserer Kultur« (Adler, 1910, S. 127). Das Frauenbild von Gross würde Adler nicht teilen, für ihn sind auch die psychologischen Geschlechtsmerkmale nicht festgelegt, auch nicht biologisch determiniert. Für Adler gibt es keine angeborenen oder durch die Biologie ausgebildeten geschlechtsspezifischen, weiblichen Charakterzüge. Sog. »weiblichen Charakterzüge« seien nur ein »Notprodukt«, weil das kleine Mädchen »einen männlichen Aberglauben von der Aussichtslosigkeit ihres geistigen Strebens in sich aufgenommen hat und nun dauernd mit einer männlichen Stimme zu reden versucht« (Adler, 1914, S. 482). So schwanke das Kind zwischen sog. weiblichen und sog. männlichen Tendenzen, was er 1910 »Psychischer Herma­phroditismus« nennt (vgl. Kapitel zum Hermaphroditismus). Adlers Kritik am Patriarchat, an der Vorherrschaft des Männlichen, ist verknüpft mit der Kritik an Autorität, an Unterwerfung und am Willen zur Macht und Machtausübung. Der »männliche Protest« als kompensatorischer Wunsch, Mann zu sein, um dem Minderwertigkeitsgefühl zu entkommen, entstammt zwar einer deformierenden Gesellschaft, ist aber für Adler innerhalb dieser Gesellschaft nicht notwendigerweise pathologisch, besonders nicht für die Frau. Für Mädchen/Frauen ist er – in dieser Gesellschaft – sogar die notwendige Grundlage, der Antrieb, zur Emanzipation, zur Befreiung, zur Selbstbehauptung. Pathologisch wird er erst in seiner hypertrophen Ausprägung, als überzogene oder erstarrte (Über-)Kompensation oder als »Wille zur Macht«. Der Gedanke des Aggressiven und damit des Vergewaltigenden und Erniedrigenden der männlichen Sexualität kommt auch bei Adler vor oder ist bei ihm in manchen seiner Ausdrucksweisen nahegelegt:

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der Ödipuskomplex als »belangloses« Stadium des männlichen Protests« (Adler, 1911, S. 180) oder als »sexuell eingekleidete Darstellung männlichen Kraftbewusstseins, der Überlegenheit über die Frau, »als ob die Mutter die einzige Frau wäre, die man unterwerfen könne« (Adler, 1912, S. 87). Im Unterschied zu Gross folgte für Adler aus der Kritik am Patriarchat nicht als Ziel das Matriarchat, was ja selbst auch eine Herrschaft wäre. Auch ist Adlers Kritik am Patriarchat in eine Kritik an Autorität, Macht und Kapitalismus eingebunden.

Resümee Gross und Adler verbindet vor allem der kritische Bezug zu gesellschaftlichen Verhältnissen, die in die Psyche, in die Formung der Wünsche, Fähigkeiten und Triebe einwirken. Sie sehen psychische Zustände als Niederschlag gesellschaftlicher Zustände, also die sozialpsychologische und politische Ebene. Gross gibt, im Unterschied zu Adler, allerdings einem biologisch begründeten »Wesen« des Menschen einen großen Raum, der bei Adler nahezu verschwindet. Zu ihrer Kritik gehört die Kritik am Patriarchat, auch als Kritik an Autorität, Unterwerfung und Machtausübung. Das Kind ist für Adler von Anfang an auf den anderen bezogen, jeder Mensch habe ein Bedürfnis und die Fähigkeit zu Gemeinschaft – soziales »Zärtlichkeitsbedürfnis«, Gemeinschaftsgefühl bei Adler (1908), »Kontaktbedürfnis«, »Trieb zum Anschluss« bei Gross. In der Stellung zur Gesellschaft gibt es freilich einen fundamentalen Unterschied. Bei Adler geht es nicht um einen feindlichen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern dieses Verhältnis wird eher als dialektische Beziehung gesehen und ist von einem Streben nach Harmonisierung getragen. Gross dagegen geht von einem Anta­ gonismus aus und kämpft um die Unversehrtheit der Individualität – freilich ein impliziter Widerspruch zur Annahme der sozialpsychologischen Geformtheit. Hier spielen Einflüsse von Nietzsche eine Rolle.

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Ist Individualpsychologie eine Wissenschaft? Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Debatte in den 1920er und 1930er Jahren

Einleitung In den Beschäftigungen mit den philosophischen Grundlagen der Individualpsychologie in den 1980er Jahren wurde die Individualpsychologie vorwiegend in einer Nähe zur verstehenden Psychologie, zur Lebensphilosophie, zu Nietzsche gesehen, eine Verbindung zur Gestaltpsychologie und zum Personalismus William Sterns gezogen und ihre Herkunft aus dem Neukantianismus konstatiert (u. a. Bruder-Bezzel, 1983; Böhringer, 1985; Titze, 1985). Das ist eine ähnliche Einordnung der Individualpsychologie wie die der 1920er und 1930er Jahre. Sie wurde vorwiegend als verstehende, sinndeutende Geisteswissenschaft mit Implikationen für Weltanschauung und Ethik verstanden. Darüber gab es eine Debatte. Dabei ging es im Einzelnen um die Fragen, ob die Individualpsychologie als Wissenschaft möglich oder ob sie Weltanschauung sei, welcher wissenschaftlichen Methode sie folge, in welcher Beziehung sie zu anderen philosophisch-psychologischen Schulen und in welchem Verhältnis sie zur Ethik stehe. Die Individualpsychologen oder ihr nahestehende Autoren in den 1920er und 1930er Jahren ordneten die Individualpsychologie in einen philosophischen Kontext ein im Sinne einer Selbstreflexion, eines Anschlusses an die Diskussion der Zeit oder einer Verteidigung gegen Angriffe. Autoren dieser Debatte sind u. a. die Anhänger Otto Kaus, Erwin Wexberg, Alexander Neuer, Alice Rühle-Gerstel, Manès Sperber, im weiteren Umfeld stehend der Berliner Psychiater und Unterstützer der Individualpsychologie, Arthur Kronfeld (1886–1941) (vgl. Vogelsänger, 2014) und der Wiener marxistische Philosoph Max Adler (geb. 1873).

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In der Häufigkeit der Beiträge und in ihrer Gründlichkeit und Präg­ nanz ragt dabei Kronfeld heraus. Adler selbst stand erkenntnistheoretischen Untersuchungen nicht sehr freundlich gegenüber. Gegenüber dem Wiener austromarxistischen Philosophen Max Adler, von dem er sich wohl geschulmeistert fühlte, sagt er einmal abwehrend: »Es war bisher nicht unsere Absicht, auch nicht unsere Aufgabe, die Stellung der Individualpsychologie innerhalb der Geisteswissenschaften und ihr Verhältnis zur Philosophie festzustellen, wenngleich wir diese Zukunftsforderung als wünschenswert, förderlich und ungefährlich betrachtet haben […]. Erkenntniskritisch betrachtet könnten wir recht oder unrecht haben« (Adler, 1925, S. 160) – das scheint für ihn also von keiner großen Bedeutung gewesen zu sein. Die meisten dieser Beiträge stammen aus den späten 1920er und den frühen 1930er Jahren. Es war dies die Zeit, in der in allen Wissenschaften sehr vehement die »Krise der Wissenschaft« diskutiert wurde, in der die Methodologie, der Auftrag der Wissenschaften, die Wertfrage, in Debatte stand – nicht zuletzt, um den Marxismus auch als Theorie bekämpfen zu können. Es gab verschiedene Vorschläge, diese »Krise« zu lösen, indem gegen den naturwissenschaftlich-nomothetischen, »mechanistischen« Wissenschaftsbegriff, Metaphysik und Weltanschauung, Idealismus und Synthese (Ganzheit) gesetzt und mit Wissenschaft versöhnt wurde. Dazu gehörte alles, was sich unter dem Begriff »Lebensphilosophie« zusammenfassen lässt, auch die Renaissance von Nietzsche, der »objektive Idealismus«, die Phänomenologie. Der Neukantianismus dagegen, der seit den späten 1890er Jahren lange Zeit die methodologische und erkenntnistheoretische Diskussion beherrscht hatte, war um diese Zeit bereits in den Hintergrund getreten, wenn nicht sogar erledigt (Ringer, 1987, S. 330 ff.). Eine besondere, wichtige Stelle nehmen hierbei der Marxismus und die dialektische Methode ein. Diese allgemeinen Strömungen und Debatten spiegeln sich erwartungsgemäß in den vorliegenden Aufsätzen wider. Insgesamt sind die Individualpsychologen offen für lebensphilosophische, auch weltanschauliche und metaphysische Überlegungen, doch bleiben sie allzu spekulativen Tendenzen gegenüber meist skeptisch.

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Der Berliner Otto Müller-Main machte 1930 divergierende »Richtungen« der Individualpsychologie aus, die er in verschiedene Unterströmungen einteilte, und ordnete ihnen bestimmte Autoren zu: Er unterschied die 1. biologistische Richtung (Einheit, Finalität, Gemeinschaftsgefühl: Adler, Wexberg), 2. die marxistisch-sozialpsychologische (soziale Bedingtheit, Sozialpsychologie: Adler, Alice Rühle-Gerstel, Otto Rühle, Manès Sperber), 3. die religiöse (katholisch, protestantisch: Allers, Künkel) und 4. die philosophische Richtung (deutscher Idealismus: Adler, Neuer) (Müller-­Main, 1930, S. 258).

Ist Individualpsychologie Wissenschaft? Vor aller Frage danach, welcher Art von Wissenschaft Individualpsychologie sei, stand die Frage, ob sie überhaupt Wissenschaft oder Weltanschauung oder nur Praxis oder alles zusammen sei. Zuweilen scheint es, als habe die Frage »Ist Individualpsychologie Wissenschaft?« nur rhetorischen Charakter, denn wie selbstverständlich wird sie, in aller Regel, mit Ja beantwortet, woraufhin meist eine Auseinandersetzung über den Charakter dieser Wissenschaft folgt. Warum aber wird diese Frage überhaupt gestellt? Anlass waren gewiss Vorwürfe von Kritikern, die die Wissenschaftlichkeit der Individualpsychologie in Frage stellten, aber Hintergrund war die allgemein geführte Debatte um den Wissenschaftsbegriff, genauer, um den Dualismus zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Darüber hinaus steckt in ihr auch die sehr ernstzunehmende Frage – die Kronfeld vor allem expliziert –, ob denn eine Wissenschaft vom Individuum, wie es die Individualpsychologie sein will, überhaupt möglich sei. Die weitergehende Frage »Ist Individualpsychologie Weltanschauung?« ist im Kontext mit der (durch Max Weber ausgelösten) Debatte um Wertfreiheit, um Funktion und Aufgabe von Wissenschaft zu sehen. »Weltanschauung« bedeutete nicht notwendig einen Gegensatz zur Wissenschaft und war nicht immer diskreditierend gemeint. Vielmehr fühlten sich in den späten 1920er Jahren auch Wissenschaftler dazu

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berufen, den herrschenden Weltanschauungshunger zu befriedigen und »heilsame Lehren aus der Wissenschaft abzuleiten« (Ringer, 1987, S. 344). Wenn Alexander Neuer 1930 auf dem Internationalen Individualpsychologie-Kongress in Berlin sagte, Individualpsychologie sei »kritische, d. h. heroisch-optimistische Weltanschauung« (zit. nach Kronfeld u. Voigt, 1930, S. 537), dann traf er gewiss eine Stimmung unter den meisten Anhängern, in deren Verständnis die Individualpsychologie zwar Wissenschaft, aber auch »Bewegung« war, die eine »Lehre«, eben eine »Weltanschauung«, zu vertreten habe. Die wissenschaftlich strenger Denkenden dagegen verneinten dies und warnten die Individualpsychologie »vor Überspannungen ihrer Kräfte in weltanschaulicher Richtung«, wie Arthur Kronfeld zustimmend Bruno Klopfer zitiert (Kronfeld, 1926a, S. 1). Doch sehen beide eine Beziehung zwischen Wissenschaft und WeltanArthur Kronfeld schauung: So meint Klopfer, dass »jede wissenschaftliche Forschung als Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung aus einer bestimmten Betrachtungsweise […] herauswächst, dass sich aber aus wissenschaftlichen Erkenntnissen keine weltanschaulichen Konsequenzen ziehen lassen ebenso wenig wie umgekehrt (Klopfer, 1925, S. 340). Und Kronfeld hält die Individualpsychologie zwar nicht für eine Weltanschauung, »[a]ber wir verkennen natürlich nicht, dass hinter der Individualpsychologie der Schatten eines Weltbildes steht« (Kronfeld, 1929, S. 253). Jede Wissenschaft habe grundsätzliche Voraussetzungen, »die metaphysische Geltung« haben. Insofern sei Wissenschaft nicht weltanschauungsfrei. Die Individualpsychologie habe, anders als die empirische Psychologie, die »Grundsätze der äußeren Naturwissenschaft« nicht übernommen (Kronfeld, 1926a, S. 2 f.).

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Wissenschaft vom Individuum Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Individualpsychologie wurde auch mit ihrem Gegenstand begründet, nämlich Psychologie vom Individuum, vom Individuellen, von der Individualität zu sein. Ist Wissenschaft vom Individuum mit seiner Einzigartigkeit, seiner individuellen Leitlinie und Lebensstil überhaupt möglich? 1914 formulierte Carl Furtmüller bereits das Problem. Im Geleitwort zum ersten Heft der IZI bezeichnet er die Individualpsychologie gegenüber der allgemeinen und differentiellen Psychologie als eine »entschlossene Umkehrung« der Anschauungsweise dahingehend, dass sie das psychische Geschehen aus dem individuellen Zusammenhang versteht, »dass alle psychologische Erkenntnis beim Individuum anhebt«. Sie frage in jedem einzelnen Fall nach dem Woher und Wohin. Aufgabe sei aber trotzdem, zu allgemeinen Bewegungsgesetzen zu kommen und nicht im Einzelfall steckenzubleiben – dafür müsse sie mit einem Persönlichkeitsschema arbeiten (Furtmüller, 1914, S. 1). Auch Neuer hebt hervor, dass der Zentralbegriff der Individualpsychologie das (frei verantwortliche) Ich sei, das, was hinter den psychischen Phänomenen liege (Neuer, 1928, S. 224). Ähnlich schreibt Erwin Krausz: »Der Mensch […] in seiner ganzen konkreten Individualität und in der sozialen Bedingtheit seiner Erfahrungen und ihres Inhalts, er ist der Gegenstand […] der Individualpsychologie« (Krausz, 1931, S. 268). Kronfeld bringt diese Gegenstandsbestimmung und die mit ihr verbundene wissenschaftstheoretische Problematik auf den Punkt: Individualpsychologie – wozu er nicht nur die von Adler zählt – sei die Wissenschaft vom Individuellen, von der »wesensmäßigen Erfassung der Individualität« (Kronfeld, 1926a, S. 4). Das Wesentliche am Individuellen aber sei das, wodurch es sich »von allen anderen Ich unterscheidet« – also seine Einmaligkeit, Ganzheit und Besonderheit (S. 4). Diese Einmaligkeit des Individuellen liege in ihrem »Eigengesetz«, »im individuell Notwendigen«, womit er sich auf die Geschichtsphilosophie (Windelband, Simmel, Rickert) bezieht (S. 13). In der Adler’schen Individualpsychologie liege die Einmaligkeit des Individuellen darüber hinaus in ihrer Ganzheit, in der jeder Teil eine »notwendige, einmalige und sinnvolle Stelle« hat. Dabei sei der Sinn das

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»besondere Gesetz«, es bestehe eine »innere Zweckmäßigkeit, eine ›Organisation‹, gemäß der die Teile zum Ganzen zusammentreten« (S. 15). Die teleologische, sinndeutende Psychologie Adlers ist für Kronfeld ein richtiger Weg, die Einzigartigkeit und Ganzheit des Individuums wissenschaftlich zu erfassen, aber es bleibe »die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Ausrichtung auf das Allgemeine und der Einzigartigkeit und Irrationalität alles Individuellen […] als unvollendbare Aufgabe« bestehen (S. 16).

Individualpsychologie als Geistes-, Natur- oder Sozialwissenschaft mit der ihr jeweils zugehörigen Methodologie Seit den 1880er und 1890er Jahren wurde durch Dilthey und Simmel und durch die Neukantianer Windelband und Rickert eine Diskussion um die methodologischen Grundlagen der Natur- und Kulturwissenschaft, der Natur- und Geisteswissenschaft oder der nomothetischen und idiographischen Wissenschaft geführt und bis in die 1920er Jahre fortgesetzt. Die Mehrheit der damaligen individualpsychologischen Autoren ordnete die Individualpsychologie wie selbstverständlich der Philosophie oder Geisteswissenschaft zu, manche von diesen kritisieren die an ihr noch verbliebenen Reste naturwissenschaftlichen Denkens. Einige wollten sie als Naturwissenschaft verstanden haben, und schließlich wurde aber auch, vom dialektisch-materialistischem Standpunkt her (Gruppe Sperber), die Gegenüberstellung Naturwissenschaft–Geisteswissenschaft gar nicht akzeptiert und die Individualpsychologie auch als Sozialwissenschaft/Sozialpsychologie gesehen. Die geisteswissenschaftlich Orientierten umschreiben ihre Auffassung von Individualpsychologie je nach eigener Position als verstehende Psychologie versus erklärende, als idiographische versus nomothetische, als Idealismus versus Materialismus oder als Metaphysik versus Positivismus. Paul Schrecker ordnet 1912 die Individualpsychologie zumindest implizit in die Lebensphilosophie (Bergsons) ein, Alexander Neuer bezeichnet die Individualpsychologie als »Idealismus«, im Sinne von

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Fichte und Kant, da sie als Wissenschaft vom »wirklichen Menschen« die Wissenschaft vom zukunft- und ideengerichteten Seinsollenden und vom verantwortlichen Ich sei (Neuer, 1928, S. 224 ff.). Der kleinste gemeinsame Nenner der geisteswissenschaftlich Orientierten war gewiss verstehende oder (seltener) idiographische Wissenschaft, zumindest wurde die Individualpsychologie von den meisten in diese Nachbarschaft gerückt. Schon die Bezeichnung »Idealismus« oder gar das Bekenntnis – auch Adlers selbst – zur »Metaphysik« wurde wohl auch innerhalb dieser geisteswissenschaftlichen Gruppe nicht mehr von allen geteilt, selbstverständlich schon gar nicht von den naturwissenschaftlich Orientierten. Von Seiten der Geisteswissenschaftler kam der Vorwurf, die Individualpsychologie könne sich nicht recht zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft entscheiden, sie operiere »teils mit kausalen Kategorien der Schulpsychologie, teils mit den teleologischen der Metaphysik« (Neuer, 1914, S. 5). 1928 räumt Neuer allerdings ein, dass die Individualpsychologie in einer Übergangszeit zwischen »sterbendem Materialismus und der beginnenden Wiederbesinnung des neu erwachenden Idealismus« entstanden sei und sie sich um ihrer Anerkennung willen in das »Mäntelchen« des Materialismus, Rationalismus und Pragmatismus gehüllt habe (Neuer, 1928, S. 222). Ganz ähnlich spricht Ferdinand Birnbaum davon, dass Adlers Individualpsychologie zwischen dem Positivismus des 19. Jahrhunderts und der wiedererwachten metaphysischen Besinnung des 20. Jahrhunderts gerungen habe (Birnbaum, 1937, S. 119). Im Unterschied zum Mainstream der Geisteswissenschaftler wollen einige Autoren die Individualpsychologie als Naturwissenschaft sehen. Das sind meist die sozialdemokratisch-marxistischen Autoren – in einem damals verbreiteten Verständnis von Marxismus und dialektischem Materialismus. Zugleich können sie sich ebenso wie die Geisteswissenschaftler auf Adler berufen, da Adler stets auf der biologischen Basis bestanden hatte: in der Organminderwertigkeitslehre, im angeborenen Gemeinschaftsgefühl, in der »Logik des menschlichen Zusammenlebens« (vgl. Müller-Main, 1930). So schreibt Wexberg, »die individualpsychologische Orientierung stammt aus der Biologie des Menschen« (Wexberg, 1925, S. 106). Noch entschiedener heißt es bei Otto Kaus, der Individualpsychologe treibe Biologie (Kaus, 1926a, S. 130). Sie stehe im

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Gegensatz zur idealistischen Philosophie und habe es mit Naturtatsachen und naturwissenschaftlichen Gesetzen zu tun, und zwar sowohl in ihren »Aussagen über die tatsächlichen Zusammenhänge seelischen Geschehens« (»Biographie«) (Kaus, 1926b, S. 103) als auch da, wo sie »lebenstaugliche Lösungen« fordert (Psychagogik), da diese in den Tatsachen des Lebens begründet seien (S. 109). Die damaligen »Dialektiker« stehen den Naturwissenschaftlern durchaus nahe. Für sie muss Psychologie »historische Wissenschaft« sein, und diese sei, »wie es jede Wissenschaft ist«, Naturwissenschaft. Da Subjekt und Objekt in den historischen Wissenschaften zusammenfallen, müsse ihre Methode dialektisch-materialistisch sein (Sperber, 1932, S. 10). Von ebenso sozialdemokratisch-marxistischer Seite wird stets die soziale Verbundenheit und Vergesellschaftung des Individuums besonders betont und daher Psychologie der Sozialwissenschaft zugeordnet. So meint Max Adler, Individualpsychologie sei keine Naturwissenschaft, sondern Sozialwissenschaft (Max Adler, 1925, S. 217), weil das Individuum nur sozial möglich sei (S. 220), die »Theorie der psychogenen Entstehung seelischer Erkrankungen überwinde endlich den Materialismus der Psychiatrie« (S. 209). Alice Rühle-Gerstel, die die theoretische Diskussion über Marxismus und Individualpsychologie anführte, ordnet auch die (Individual-) Psychologie nicht der Naturwissenschaft zu, vielmehr nehme Soziologie und Psychologie eine »Zwitterstellung« ein, »aus biologischen, medizinischen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen Teilen« (Rühle-Gerstel, 1927, S. 142). Bei Otto Kaus heißt es: »Um die soziale Gebundenheit des Menschen zu verstehen, ist es notwendig, ihn hineinzustellen in die soziale Wirklichkeit […]. Es ist unmöglich, eine Psychologie des Individuums zu entwerfen, ohne gleichzeitig eine Psychologie der Gemeinschaft zu konzipieren« (Kaus, 1926b, S. 113). Mit der Einordnung in die Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft sind natürlich Aussagen über Fragen nach der Methode der Erkenntnisgewinnung (verstehen–erklären, kausal–final), nach dem Wahrheitscharakter von Wissenschaft (Fiktion) und nach Ethik verbunden. »Verstehen« ist der Begriff, mit dem die meisten Autoren die Methode der Individualpsychologie bezeichnen. Viele setzen verstehen mit einfühlen oder Intuition (intuitive Schau) gleich, was wiederum

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andere, wie z. B. Kronfeld und Wexberg, als wissenschaftlich nicht haltbar oder als »problematisch« (Wexberg, 1930, S. 6) betrachten. »Verstehen« und »Intuition« in Zustände im Sinne von Dilthey und Lipps sei zwar »unmittelbares Innewerden« (Kronfeld, 1926a, S. 10), biete aber »keine verallgemeinerungsfähige wissenschaftliche Gewähr« (S. 15). Für das intuitive Verstehen von Zusammenhängen fehle gar die Möglichkeit der unmittelbaren Evidenz (S. 11). Meistens wird »teleologisches« Verstehen gefordert. Das Individuum verstehen heiße, es aus seiner »immanenten Teleologie« heraus zu verstehen, aus seinem Lebensplan, seiner Leitlinie, seinem Sinn. Adlers Leitlinientheorie sei die wissenschaftliche, systematische Methode, Psyche zu verstehen (Neuer, 1914, S. 7 f.). Kronfeld spricht in ähnlicher Bedeutung von einer teleologischen, sinndeutenden Betrachtung, welche »die Zusammenfassung all dieser dynamischen Einzelheiten unter einer teleologischen, sinndeutenden Leitlinie versucht« (Kronfeld, 1926a, S. 16). Damit steht Kronfeld in der Nähe von Max Weber, der ebenfalls den intuitionistischen Verstehensbegriff ablehnt zugunsten von Verstehen als Deutung im Sinne der Rekonstruktion des Motivs. Schließt nun das so verstandene teleologische »Verstehen« die kausale Erklärung aus? In der Methodendiskussion seit Dilthey war »verstehen–erklären«, »kausal–final« als sich ausschließende Gegensätze gesehen worden, al1erdings gab es in den 1920er Jahren weithin Versuche, diese Gegensätze miteinander zu verbinden. Innerhalb der Individualpsychologie gab es verschiedene Antworten. Einige Autoren lehnen Kausalität als Wirkprinzip für die Individualpsychologie generell ab (Horvat, 1932; Zilahi-Beke, 1923/24, mit Verweis auf Einsteins Relativitätstheorie), andere lassen umgekehrt die »Finaldeutung« nicht gelten. Die Mehrheit versucht beides, Kausalität und Finalität, zu verbinden. Die Gewichtung beider Prinzipien und die Qualität des Zusammenwirkens werden dabei unterschiedlich vertreten, sei es, dass es in einem Ergänzungsverhältnis oder in einem dialektischen Verhältnis gesehen wird. Vielfach heißt es, etwas vage, »teleologisch-kausal« im Unterschied zu »kausal-mechanisch«. So wirke z. B. das auf die Zukunft gerichtete Motiv (final) im Sinne der Kausalität, so Neuer (1925, S. 262), ähnlich Kronfeld (1926a, S. l0 f.).

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Max Adler betont zwar, dass »das seelische Geschehen in einem strengen Kausalzusammenhang steht«, aber zur Eigenart psychischen Geschehens gehöre, dass »alles psychisches Leben stets auf ein Ziel gerichtet ist« (Max Adler, 1925, S. 211), und so sei »alle Kausalität im psychischen Bereich immanent teleologisch« (S. 213), »psychisches Leben muss erklärt und verstanden werden (S. 212). Für Wexberg hat die Finalität der Persönlichkeit als zielgerichtete Einheit eine sehr große Bedeutung. Das finale Verstehen sei für die Erfassung der Persönlichkeit und für therapeutische Zwecke entscheidend. Gleichwohl besteht Wexberg mit Nachdruck auf der Geltung des Kausalitätsprinzips zur Erklärung des Wie des Geschehens und setzt Leib und Seele, Kausalität und Finalität in ein Ergänzungsverhältnis. Er warnt davor – meines Erachtens völlig zu Recht –, das neurotische Symp­tom nach dem »Finalnexus« (um) zu deuten, denn dies »hat uns hart an die Grenze einer psychologischen Auffassung geführt, der neurotische Symptome eigentlich schon nicht mehr viel anderes bedeuten als simulierte Krankheitserscheinungen [lassen]83 […]. So deuten wir den Kausalnexus, den der Patient erlebt, in einen Finalnexus um« (Wexberg, Erwin Wexberg 1931, S. 88). Davon ausgehend, dass jedes Symptom (auch) eine organische Basis hat, sei für die Symptomwahl der »Kausalnexus« ausschlaggebend, »das Symptom selbst ist kausal durch die individuelle Konstitution determiniert, und es ist nicht psychogen, sondern psychotrop« (S. 90 f.). Wexbergs Position, die er auf dem 5. Internationalen Kongress der Individualpsychologie in Berlin (1930) vortrug, und die insgesamt eine 83 Dafür gibt es viele Beispiele (nicht nur) innerhalb der Individualpsychologie, historisch bedeutsam besonders bei Kriegstraumatisierung (vgl. Kapitel zum Krieg).

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Menge an Kritik an Adler enthielt, stellte wohl für viele Anhänger eine Provokation dar. So meint Adele Horvat, Wexbergs »dualistische Auffassung« führe zu Schlussfolgerungen, »die himmelweit verschieden von unseren bisherigen Auffassungen sind« (Horvat, 1932, S. 94): »Wo Leben ist, ist schon alles zielgerichtet, zweckhaft, und kausal nicht restlos zu erklären« (S. 99 f.). Von dialektisch-materialistischer Seite lehnt auch Benno Stein Wexbergs Dualismus der Gegensätzlichkeit von Psyche und Soma ab und besteht auf der »dialektischen Einheit von Körper und Seele« (Stein, 1932, S. 69). Für viele Symptome stehe die Psychogenie fest (S. 75); eine psychische Determinante könne aber nur wirksam werden, wenn das organische die Bedingung für diese Wirksamkeit erfüllt (S. 76). Zustimmend zitiert er Sperber, der von der »dialektischen Kausalität« spricht, bei der »Finalität eine Form der Kausalität« sei (S. 77) oder, wie Sperber selbst schreibt, dass das Ziel selbst verursacht ist und selbst wieder zur Ursache wird (Sperber, 1932, S. 20).

Vergleich mit anderen Schulen Mit der Zuordnung der Individualpsychologie zur Geisteswissenschaft ist fast immer ein Vergleich mit anderen psychologischen oder philosophischen Richtungen und Methoden verbunden. In Beziehung gesetzt werden diese Schulen in der Frage des Gegenstands, also des Individuums in seiner Beziehung zur Umwelt oder in den Methoden (Einfühlung, Verstehen, Introspektion), oder in der Frage der Ganzheit und Teleologie (vgl. Bruder-Bezzel, 1983, S. 127 ff.). Am häufigsten wird die Nachbarschaft zu den verstehenden Richtungen von Dilthey, Spranger und Jaspers genannt, von vielen aber wird William Stern als der Individualpsychologie am nächsten stehend bezeichnet (vgl. Bruder-Bezzel, 1983, S. 130). Gegenstand des Vergleichs sind daneben auch Nietzsche, Phänomenologie, Marxismus, die Würzburger Denkpsychologie (Furtmüller, 1914; Birnbaum, 1923; Kronfeld, 1926b), die neovitalistische Biologie von Driesch und Roux (Beil, 1926b, 1927; Kaus, 1926a; Wexberg, 1930), gelegentlich Brentano (Kraus, 1925; Neuer, 1925) und – als allgemeiner Trend – die Gestaltpsychologie.

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Ziemlich durchgängig abgelehnt wird die naturwissenschaftlich-­ experimentelle Psychologie, nur Wexberg gibt der »objektiven Psychologie« Bechterews und Watsons einmal eine gewisse Bedeutung (Wexberg, 1930/1987, S. 9 f.). Kritisch gesehen wird auch der Neukantianismus (Beil, 1927; Krausz, 1931) wenngleich Kronfelds Herkunft daraus (aus dem Kreis um Leonhard Nelson) deutlich ist. Der Vergleich mit der verstehenden Psychologie geht natürlich von dem Bekenntnis der Zugehörigkeit der Individualpsychologie zur Geisteswissenschaft, von ihrer Nähe zur idiographischen und verstehenden Methode aus. Hans Seelbach (1932) untersuchte die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Individualpsychologie und Dilthey, Jaspers und Spranger ausführlicher. Der Gegenstand aller dreier sei weniger umfassend und abstrakter als der Adlers, denn sie untersuchten nur jeweils die Abstraktion des »rein Seelischen« (Dilthey, Jaspers) bzw. das Individuum als nur »geistiges Wesen« (Spranger) (also nicht die Einheit der Person). Sie fragten dabei nach Gleichförmigem, nach allgemeinen Regeln und idealtypischen Zusammenhängen (also nicht nach Einzigartigkeit) (S. 266 ff.). Zudem wäre für sie das Individuum stets als Einzelwesen zu untersuchen, dem die Gemeinschaft gegenüberstehe (also nicht als Gemeinschaftswesen) (S. 279 f.). »Verstehen« des Individuums (bei Adler: der Zusammenhänge aus der Zielstrebigkeit) sei bei Dilthey statisches Verstehen einzelner Zustände über den »objektiven Geist«, bleibe bei Jaspers in bloßer Einfühlung und statisch-phänomenologischer Erfassung von Zuständen stecken. Nur Spranger erfasse (wie Adler) verstehend sinnvolle Zusammenhänge, die Wert- und Zielgerichtetheit des Individuums. Allerdings sei »Sinn« eben bei Spranger etwas anderes als bei Adler, nämlich der »objektive Geist« (S. 272 f.). Immer wieder wird die Nähe zu William Stern (geb. 1871) genannt, so bereits von Neuer, der Sterns »kritischen Personalismus« als teleologisch verstehende Psychologie in Übereinstimmung mit Adler sieht (Neuer, 1914, S. 7).84 84 Stern selbst hatte 1914 in einem Protest gegen Psychoanalyse als »psycho-­ sexuelle Infektion« »Sexualisierung des Babys« bezeichnet und Adler positiv davon abgehoben und den Begriff »Überkompensation« als »wertvoll« bezeichnet (Stern, 1914, S. 76 ff.; Bruder-Bezzel, 1983, S. 106).

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Adler selbst stellte die Beziehung her. 1931 schreibt er in der »Festschrift William Stern zum 60. Geburtstag« einen Aufsatz und führt diesen so ein: »Die Individualpsychologie verdankt William Stern in erster Linie den großen Beitrag einer philosophischen Grundlegung des Finalismus und das vertiefte Verständnis der Differenzen und Varianten sowie die Bereicherung der Erfahrung über das kindliche Seelenleben. In bewundernder Anerkennung seiner Kinderforschung im Besonderen sei der folgende Beitrag ihm gewidmet« (Adler, 1931, S. 1). Birnbaum bezeichnet Sterns Personalismus als »legitime Schwester der Individualpsychologie«. Gemeinsam sei beiden das »Prinzip der psycho-physischen Neutralität« (Leib-Seele-Einheit), der teleologische Gesichtspunkt, ihre »doppelte Verwurzelung im Reich der Biologie und im Reich der Werte« und die Einheit der Persönlichkeit. Der Unterschied zu Stern sei – hier aber bezieht Birnbaum sich auf Sterns spätere »Allgemeine Psychologie« – dessen »statische« Auffassung (Birnbaum, 1937, S. 100). In den »Ortsbestimmungen« fehlt nie der Vergleich mit der Phänomenologie. Wissenschaftsgeschichtlich hat die Phänomenologie für Wexberg die »Zusammenhangsbetrachtung des Seelenlebens« der Individualpsychologie vorbereitet, indem sie den »Ganzheitscharakter des seelischen Erlebnisses« geltend gemacht habe (Wexberg, 1930, S. 7). Kronfeld sieht in der Phänomenologie i. S. einer empirisch- psychologischen Methode, die beschreibend das »Immanent-Wesentliche« zu erfassen sucht, einen Versuch, die Eigenart des Erlebens »je nach der Individualität des erlebenden Ichs« zu erfassen (Kronfeld, 1926a, S. 12). Das sei ihr »Vorzug« und mache ihre Vergleichbarkeit mit der Individualpsychologie aus, aber sie könne dabei immer nur »der vorwissenschaftliche Durchgangspunkt sein«, nicht aber »eine grundsätzliche und entscheidende Erkenntnis des Individuellen am Ich« hervorbringen (S. 13). Ähnlich meint Sternberg, das rein Deskriptive könne die Eigenartung des Individuellen nicht erfassen (Sternberg, 1927, S. 189). Die Auseinandersetzung der damaligen Individualpsychologen mit Nietzsche fällt erstaunlicherweise quantitativ und qualitativ spärlich aus, gilt und galt doch Nietzsche geradezu als Urgrund Adlers. Von 1914–1936 sind in der IZI nur vier kleinere Aufsätze zu finden (Freschl, 1914, 1936; Friedmann, 1923; Beil, 1926a), von denen drei sich vorwiegend mit der Person Nietzsches beschäftigen. Daneben gibt es ein-

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zelne knappe Bemerkungen dazu, wie Nietzsche als »Vorläufer« (Beil, 1926b, S. 28) oder »Nietzsche als intuitiver Individualpsychologe par excellence« (Schulhof, 1926, S. 149). Robert Freschl – ganz offensichtlich überzeugter Nietzscheaner – sieht 1914 in Adler »eine seiner [Nietzsches] Philosophie kongruente Psychologie« (Freschl, 1914, S. 111), mit Verweis auf den »Wille[n] zur Macht«. 1936 will Freschl »die manchmal bis zur Identität reichende Gemeinsamkeit« aufzeigen (Freschl, 1936, S. 50). Allerdings gäbe es auch »wesentliche Divergenzen«, nämlich die gegensätzliche Beurteilung des »Wille[ns] zur Macht« (und des Gemeinschaftsgefühls) (S. 56 ff.) und die gegensätzliche Auffassung in der Geschlechterfrage, des »Mann-Weib-Problems« (S. 58 f.). Ada Beil bemerkt zu Schopenhauer und Nietzsche: »Die beiden interessieren den Individualpsychologen deshalb, weil bei beiden Wesenszüge als Vorläufer unserer Anschauungen zu finden sind.« An Schopenhauer hebt sie hervor, dass da »der Intellekt bereits im Dienste des Willens« sei, »das Denken somit seiner Königsstelle entkleidet«. Und erst Nietzsche habe den »Willen zum Leben im heroischen Kampf gegen alles Schwere und Niederdrückende positiv und praktisch« aufgenommen (Beil, 1926b, S. 28). Kronfeld schreibt: »Friedrich Nietzsche, dieser konzeptionskühnste und differenzierteste Psychologe des Verstehens, ist gleichzeitig auch der erste Schöpfer jener psychologisch-dynamischen Sinngebung, die später in Adlers Individualpsychologie ihre wissenschaftliche Systematisierung erfahren hat. Mehr als bisher sollten die Schüler Alfred Adlers sich zugleich auch als psychologische Schüler Friedrich Nietzsches bekennen« (Kronfeld, 1926b, S. 12).

Ada Beil

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Individualpsychologie und Ethik Als Letztes wollen wir untersuchen, in welchem Verhältnis sich die Individualpsychologie zur Ethik und Moral sah, die ja mit dem Gemeinschaftsgefühl angelegt erscheinen.85 Darüber, dass die Individualpsychologie Implikationen hat, die zu Wertungen führen, gab es relative Übereinstimmung, nicht aber darüber, ob dies Ethik sei, ob dies auf die Erfüllung des kategorischen Imperativs hinziele oder wie diese Ethik zu begründen sei. Eine der Ethik gegenüber zurückhaltende bis negative Haltung nehmen vornehmlich die ein, die in der Individualpsychologie eine Naturwissenschaft sehen. Für Wexberg stammt die »Orientierung der Individualpsychologie« für »richtiges« Handeln aus der »Biologie des Menschen« als Gemeinschaftswesen, »frei von ethischen Imperativen«. »Richtiges« Handeln sei das, was dem Individuum und der Gemeinschaft dient (Wexberg, 1925, S. 106 f.). Ähnlich vertritt Paul Fischl, dass das »richtige« Handeln dem »Gesetz der praktischen Vernunft«, der »Logik des menschlichen Zusammenlebens« entspringt. Ein Sollen hieraus sei ein »naturbefohlenes Sollen«: »Mitarbeit, Mitmenschlichkeit, Liebe sind dadurch im Rahmen der Individualpsychologie keine ethischen Imperative« (Fischl, 1926, S. 198 f.). Zugespitzt wird diese Position wieder von Kaus. Für ihn kommt die Wertfrage in zweierlei Weise in die Individualpsychologie, ohne selbst einer Ethik zu folgen: Zum einen stelle sie, in ihrer Psychoanalyse (oder biographischen Arbeit), fest, dass der Mensch von Wertordnungen abhängig ist (Kaus, 1926b, S. 108), zum anderen fordere sie in der Psychagogik, »eine lebenstaugliche Lösung für die Fragen der Liebe, der Gemeinschaft, der Arbeit« zu finden, aber nicht wegen eines »Pflichtgebots«, sondern um das Leben »ohne qualvolle innere Konflikte« zu bestehen (S. 109). Diese Forderungen, die als wertende Einstellung im sozialen Verkehr an den Menschen herangetragen werden, seien »ihrer logischen Struktur nach […] Naturgesetz und kein ethisches 85 Da es mir hier um das Verhältnis der Wissenschaft Individualpsychologie zur Ethik, nicht aber um eine Psychologie der Ethik, also um die psychischen Wurzeln und Folgen ethischen Bewusstseins geht, beziehe ich den ansonsten bemerkenswerten Aufsatz von Carl Furtmüller »Psychoanalyse und Ethik« von 1912 nicht ein.

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Postulat« (S. 109 f.). Die Individualpsychologie könne eine naturwissenschaftlich orientierte, aber keine »spekulative« Ethik rechtfertigen, sie habe »keinen Platz für irgendeine transzendentale Begründung der Ethik« (S. 116). Für größere gesellschaftliche Zusammenhänge wirke sich die psychologische Kenntnis insofern wertend aus, als die Individualpsychologie Faktoren angeben könne, wodurch die Entwicklung der Kultur gehemmt wird (S. 110). Auf der anderen Seite stehen die Autoren, die die ethische Grundlage der Individualpsychologie mehr oder weniger stark betonen. Max Adler kritisiert an Alfred Adler, dass der wichtigste Begriff, das Gemeinschaftsgefühl, nicht wissenschaftlich begründet sei (Max Adler, 1925, S. 213), das aber müsse erkenntniskritisch dargetan werden (S. 216): Es sei die »Grunddialektik des Bewusstseinsprozesses, dass er seinem Wesen nach Vergesellschaftung, seiner Erscheinungsform nach Verichhaftung ist« (S. 219). »Ihrem Wesen nach bedeutet also Ethik die Gesetzlichkeit des gesellschaftlichen Wollens«. Die ethische Forderung des Gemeinschaftsgefühls sei nur »der unmittelbare Erlebnisausdruck für die Bezogenheit des individuellen psychischen Lebens auf seine vergesellschaftete Form« (S. 220). Neuer meint, dass Individualpsychologie eine Wissenschaft vom Seinsollenden ist, da der Mensch auf Ideen und Ideale gerichtet sei (Neuer, 1928, S. 224). Der Mensch handle »vor dem Forum der ethischen Idee«. Daher seien der kategorische Imperativ Kants und die Verantwortlichkeit des Ichs bei Fichte die »Grundpfeiler« der Individualpsychologie (S. 227 f.). August Messer – der als Nicht-Individualpsychologe in der IZI zu Wort kommt – fordert, dass Individualpsychologie »in einer Wertphilosophie ihre letzte Grundlage finden« müsse, da sie in der Praxis see­ lische Entwicklung beeinflusst. Dabei könne aber der von ihr vertretene Wert des »Allgemeinnützlichen« und der »Allgemeinheit« nicht auf die empirischen Gemeinschaften, sondern nur auf die ideale Gemeinschaft bezogen sein, da diese (empirische Gemeinschaft) nicht immer das »wahrhaft Wertvolle« sei (Messer, 1927, S. 322 f.). Kronfeld sieht es als konsequent an, wenn Adler und sein Kreis »soziale Ethiker und Politiker« sind. Ethisch sei in der Individualpsychologie dreierlei, erstens der Begriff Gemeinschaft und das Streben zur idealen Gemeinschaft (Kronfeld, 1926b, S. 29). Gemeinschaft sei

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für Adler »nicht nur ein ontologischer, sondern zugleich ein ethischer Begriff.« Im Gemeinschaftsgefühl spiegele sich die »immanente Logik des menschlichen Zusammenlebens« als ethische Gesinnung. Damit werde das Gemeinschaftsgefühl »zur psychologischen Grundlage der ethischen Normen. Es wird das psychische Korrelat der ›praktischen Vernunft‹ im Sinne Kants« (Kronfeld, 1929, S. 259 f.). Von ethischer Bedeutung sei aber auch, zweitens, die führende Rolle der Einsicht in der Erziehung, als Weg, sich selbst zu durchschauen, um zu innerer Freiheit und Selbstverantwortung zu kommen (Kronfeld, 1926b, S. 29). Und drittens sei ethisch die Ablehnung der biologischen Anlage und der damit verbundenen Annahme der Gleichheit aller Menschen, denn »erst die Gleichheit aller Menschen als praktisches Prinzip […] kann jene ideale Gemeinschaft verwirklichen« (S. 29). Daher »ist sie lediglich vereinbar mit einer rationalen Ethik, aus der die ewigen Gesetze von der Würde der Person in jedem Einzelmenschen und von der normativen Gleichheit aller vor der Gemeinschaft herausleuchten« (Kronfeld, 1929, S. 253 f.). In einem Vortrag auf dem Internationalen Kongress 1930 setzt sich auch Erwin Krausz ausführlich mit der Frage der Moral auseinander: In der Tatsache der Gesellschaftlichkeit des Menschen liege es, dass mit dem Bewusstsein die Beziehungsfähigkeit gegeben und der Mensch ein moralisches Wesen ist (Krausz, 1931, S. 263). Als Gesellschaftswesen brauche er Moral zur Sicherung des Einzelnen und der Gesellschaft (S. 261). Es liege aber im Charakter des Bewusstseins (= der Beziehungsfähigkeit), sich selbst als Zweck, die Welt und den anderen als Mittel zu sehen, also Ungleichheit in der Beziehung, Wertunterschiede herzustellen, was sich konkret als Überlegenheitsstreben oder Herrschsucht zeige (S. 263 f.). Nun fordere Kant im kategorischen Imperativ, Gleichwertigkeit herzustellen, und das sei das, was Adlers »Gemeinschaftsgefühl« meine (S. 267). Das Gemeinschaftsgefühl sei dem Menschen als Gesellschaftswesen (zwar) gegeben, es sei keine »regulative Idee« oder »ethische Forderung«. Aber es müsse erst geweckt werden, indem ihm diese Tendenz des Bewusstseins, den anderen als Mittel zu brauchen, zur Erkenntnis gebracht werde (S. 266). Die Methode der Individualpsychologie sei eine wissenschaftliche, in sich wertfreie, indem sie dem

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Individuum, konkret und individuell, zur (Selbst-)Erkenntnis verhilft, moralisches und soziales Wesen zu sein. »Wir wollen mit dieser Methode allerdings sein Gemeinschaftsgefühl und damit seine Moral entwickeln« (S. 268).

Schluss Ich habe hier insgesamt einen umfangreichen Ausschnitt aus einem lebhaften, intensiven Ringen um den wissenschaftlichen Status der Individualpsychologie aufgezeigt. Gemessen wurde dieser Status damals an den damaligen Themen innerhalb der akademischen Philosophie und Psychologie. Von der Psychoanalyse der Freud’schen Schule ist dies denkbar weit weg. Es scheint deutlich, dass diese Debatte auch einem Bedürfnis entspringt, von diesen akademischen Wissenschaften anerkannt zu werden und daran Anschluss zu finden. Zumindest teilweise war diese Debatte mit einem eher engen, konservativen Denken verbunden, das in dieser Zeit des postrevolutionären Aufbruchs in verschiedenen Bereichen auch im Akademischen bereits zumindest in Frage gestellt war. Die marxistische Linie bis in die frühen 1930er Jahre hinein ist andererseits in der damaligen Individualpsychologie aufgrund der historischen, revolutionären Situation nach dem Ersten Weltkrieg und der geistigen Herkunft Adlers selbst stark vertreten. Auch diese Marxisten suchten Anschluss an die akademische Diskussion, aber orientierten sich zudem an den wissenschaftlichen Theorien der Arbeiterbewegung und der russischen Revolution. Diese breite Anhängerschaft der Marxisten war sowohl nach außen als auch nach innen ein legitimatorisches Problem, das die Anschlussfähigkeit an die akademische Debatte gefährdete – weshalb man sie auch dort, im Akademischen, führen musste. Das offenbar starke Bedürfnis nach wissenschaftlicher Abklärung entspringt somit zum einen dem Bedürfnis nach Rechtfertigung, zum anderen sicher auch einer eigenen Unsicherheit über die Seriosität der von Adler selbst vertretenen Theorie und Praxis. Frühzeitig war die Individualpsychologie Vorwürfen des Banalen, Einfachen ausgesetzt – u. a. vom Konkurrenten Psychoanalyse ausgestreut.

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Nicht unproblematisch für das wissenschaftliche Ansehen war auch der Schwerpunkt der pädagogischen Praxis und der dadurch vielen begeisterten und bewegten Praktiker und »Laien«. Aber auch in den eigenen Reihen, gerade der Anhänger der ersten Stunden, häuften sich die Unzufriedenheiten mit dem, was Adler selbst in den späten 1920er Jahren an Theorie und Publikationen aus den fernen USA heraus produzierte. Das führte zu Zerwürfnissen, Abspaltungen, persönlichen Kritiken an Adler. Und diese Kritik kam zwar auch und besonders von den Marxisten, aber keineswegs nur. Zu denken ist u. a. an Künkel, Wexberg, Kaus und Sperber.

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Manès Sperbers marxistische Individualpsychologie

Das persönliche Verhältnis des Meisterschülers von Adler Manès Sperber (1905–1984) war ein international bekannter und anerkannter Schriftsteller, ein psychologisch und zeitgeschichtlich in­ spirierter Romancier, Essayist, Autobiograph und politischer Aktivist. Die teils kritischen, teils verehrenden Darstellungen und Auseinandersetzungen mit ihm in Büchern, Vorträgen, Tagungen sind in ihrer Anzahl unübersehbar. Die umfassendste biographische Darstellung über Sperbers Leben und Werk legte Mirjana Stancic 2003 mit etwa 700 Seiten vor. Sperber war so vielfältig, wie er sich auch in verschiedenen Kreisen und Orten bewegte, freiwillig und erzwungen. Als Psychologe war er stets getreuer Anhänger Alfred Adlers und brach mit Adler. Schriftsteller zu werden, war sein Wunsch seit seiner Kindheit und Jugend, er ließ sich aber von Adler dazu verführen, diesen Wunsch erst einmal aufzuschieben und sich der Psychologie zu widmen. Erst nach dem dreißigsten Lebensjahr wandte er sich von der Psychologie als Theorie und klinischer Praxis ab und erfüllte er sich diesen Wunsch, Schriftsteller zu werden. Später kam er wieder zur Psychologie zurück. Aber weder die Abwendung von der Psychologie noch die Hinwendung zur Schriftstellerei waren ganz freiwillig. Sie waren erzwungen, durch Brüche in seiner Biographie, die ihm unter den Bedingungen der historischen Situation und seiner persönlichen Verflechtung darin – der politisch motivierte Bruch mit Adler, die erzwungene Emigration in der NS-Zeit, die Entwicklung in der Sowjetunion und der Zweite Weltkrieg – einerseits auferlegt wurden, die er andererseits selbst gewählt und die er schließlich auch bewusst vollzogen hat. Schon von jungen Jahren an war er beides, Aktivist der Individualpsychologie und Aktivist der Politik, der sozialistischen und kom-

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munistischen Bewegung, z. T. innerhalb der zionistischen Jugendbewegung. Psychologie und Politik: Das konnte er um diese Zeit bei Adler und seinem Kreis selbstverständlich miteinander verbinden, denn Adler selbst und die Mehrzahl seiner Anhänger in Wien sahen mit der Gründung der Republik die Aufgaben ihrer Psychologie innerhalb der politischen, sozialistischen Reformbewegung im Roten Wien. Sperber lernte Adler im Herbst 1921 bei einem Kurs in der Volkshochschule kennen, bald darauf hielt er selbst, 16-jährig, zwei Referate: »Massenpsychologie« und »Zur Psychologie des Revolutionärs« (Schiesser, 2014, S. 98). Adler hatte diesen jungen Mann offenbar gleich in sein Herz geschlossen. Sperber wurde Adlers glühender Anhänger und persön­licher Vertrauter, er wurde von ihm gefördert und mit Aufgaben betraut (vgl. Scheer, 1983). Er erhielt im Juni 1926 ein Diplom als Heilpädagoge der Individualpsychologie (vgl. Stancic, 2003, S. 90), er führte Kurse durch, übernahm Beratungen und Therapiefälle. Er bekam den Auftrag, eine Monographie über Adler zu schreiben, die 1926 erschien und ein »bedingungsloses Bekenntnis« (S. 120) zu Adler darstellt. 1927 ging Sperber nach Berlin, teils freiwillig, teils wurde er geschickt. Politisiert und frustriert von der Sozialdemokratie beim Arbeiteraufstand in Wien am 15. Juli 1927, dem sog. »Justizbrandskandal«, wollte er in Berlin an der Seite der Kommunisten mitarbeiten (S. 127 f.). Entgegen dem Rat seiner rätekommunistischen und individualpsychologisch orientierten Mentoren Alice und Otto Rühle trat er auch sogleich in die Partei ein und wurde in diesem Umkreis aktiv. Außerdem war er von Adler nach Berlin geschickt worden, um dort an der Seite von Fritz Künkel das Ausbildungsinstitut mit aufzubauen und Künkel dabei auch zu kontrollieren. Er hatte die Individualpsychologie und die kommunistische Bewegung praktisch und theoretisch verbinden wollen. Darüber spaltete sich später die Berliner Ortsgruppe und deshalb wurde mit ihm von Seiten Adlers und der Individualpsychologie gebrochen, zumal auch Sperber (1931/1932) Adler öffentlich kritisierte und angriff. Sperbers Schriften aus den 1930er Jahren (1932, 1934, 1937) aber, ebenso wie sein späteres Buch von 1970/71 und die Wiederveröffentlichung seiner alten Vorlesungsmanuskripte von (1934) 1978, zeigen, dass er mit der Theorie Adlers nie gebrochen hat, trotz vielfältiger Kri-

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tik. Er ist in seiner Psychologie vom Ansatz her individualpsychologisch geblieben und hat immer wieder den »Kern«, die »Tatsachenbefunde«, Adlers als richtig betont. Er habe, so sagt er in einem Gespräch 1979, Adler »niemals aufgegeben. Er hat sich von mir getrennt oder sagen wir, er hat mich abgestoßen, u. a. weil er fürchtete, dass meine politische Aktivität der individualpsychologischen Bewegung einen schwerwiegenden und furchtbaren Schaden zufügen könnte« (Sperber, 1979, S. 78). Die- Manès Sperber (um 1930) ser Bruch hatte Sperber tief getroffen. 1970 schreibt er: »Mannigfache Meinungsverschiedenheiten, alle Bitternis eines Zerwürfnisses, der stumme Bruch schließlich, den er gewollt und […] herbeigeführt hat« (Sperber, 1970/1971, S. 13 f.; vgl. Scheer, 1983). Aber er verehrt(e) ihn weiter: »nichts von alledem vermindert die Gewissheit […][,] dass Alfred Adler seinen Jüngern […] ein unvergleichlicher Lehrer, Meister und Freund gewesen ist« (Sperber, 1970/71, S. 14). Dieser Bruch, der einen Abbruch des Kontakts zur Individualpsychologie bedeutete, hatte zumindest mitbewirkt, dass sich Sperber in der Emigrationszeit zunächst von der Psychologie, im engeren Sinn von der Individualpsychologie, abgewandt hatte. Der andere, vielleicht noch schmerzlichere und tiefgreifendere Bruch, zu dem Sperber sich durch die politische Entwicklung gezwungen sah, war der mit dem Kommunismus der Stalinzeit, ausgelöst durch die Stalin’schen Prozesse 1936/37. Seine erste öffentliche Auseinandersetzung mit Stalin, zugleich auch mit Hitler, war sein Essay »Zur Analyse der Tyrannis« (Sperber, 1937), eine politische Psychologie autoritärer Diktaturen auf individualpsychologischer Grundlage (s. u., S. 226 ff.). Dieser Bruch war von Sperbers Seite ein echter Bruch, von ihm entschieden und nicht revidiert. Sein Leben lang setzte er sich damit auseinander. Er wurde Feind des Kommunismus, aber er hielt an dem, was »Kommunismus« ja auch bedeutet, nach wie vor fest: an der Hoff-

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nung auf eine friedliche, gerechte Gesellschaft. Er bezeichnete sich später als »skeptischen Humanisten« (Sperber, 1979, S. 77), bekannte sich zum »Reformismus – ohne jede Begeisterung allerdings« (S. 70). »Wissen Sie, ich hatte einmal ungeheuer viele Gewissheiten, ich habe praktisch keine mehr, außer einer Anzahl von negativen Gewissheiten. Ich weiss nicht mehr, was Sozialismus ist, aber ich bin ein Sozialist« (S. 83). Vehement allerdings stellte er sich gegen die 68er-Bewegung (vgl. Stancic, 2003, S. 558–571), später auch gegen die deutsche Friedensbewegung, er sah in deren Überzeugungen eigene »Irrtümer« wiederkehren und bekämpfte sie. Trotzdem hat er in den 1970er Jahren nicht nur seine individualpsychologischen, sondern auch seine marxistischen Wurzeln wiederbelebt und nicht verleugnet, gerade angesichts der 68er-Bewegung, die ja viele politische, psychologische und päda­ gogische Ideen aus den 1920er Jahren aufgegriffen hatte. »Da kam vieles hoch« (Sperber, 1979, S. 78).

 perber in der Berliner Ortsgruppe S der Individualpsychologie Die Berliner Individualpsychologische Ortsgruppe wurde im April 1924 vom Arzt Fritz Künkel und seiner Frau Ruth gegründet und geleitet. Fritz Künkel war neben Adler der bekannteste und anerkannteste Individualpsychologe, äußerst aktiv und rührig, unterhielt viele Kontakte zu Ärzten und den ärztlichen Psychotherapeuten, zur Pädagogik und Sozialpädagogik (vgl. Bruder-Bezzel, 1991; Siebenhüner, 2014). Künkel schrieb eine Vielzahl von Büchern, Aufsätzen und Vorträgen, sowohl theoretisch anspruchsvolle als auch leicht verständliche Texte. Er hatte einen Hang zum Weltanschaulichen, Philosophierenden und Belehrenden, aus dem eine deutlich klerikal-rechtskonservative Haltung sprach, bei der mindestens zu befürchten war, dass er die Individualpsychologie in eine protestantische Heilslehre einbinden wollte. Das wurde sogar begünstigt durch eine ausgeprägte »sozialpsychologische« Neigung und der psychologisierenden Tendenz, einen großen Bogen vom kleinen Kinderleben zu großen historischen und politischen Ereignissen zu schlagen. In der Nazizeit gewann er weiteres Ansehen und zeigte deutlich auch rassistische Tendenzen. Innerhalb der Indivi-

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dualpsychologie schlug er eigene Wege ein, führte viele neue Begriffe ein oder gab diesen bestimmte, neue Bedeutungen. Adler, aber auch andere Individualpsychologen, betrachteten Künkels Aktivitäten und seine theoretische und praktische Selbständigkeit offenbar mit wachsendem Unbehagen. 1928 kam es zu einer breiten Debatte um ihn, die in verschiedenen Zeitschriften geführt wurde, so im Berliner Mitteilungsblatt, in der Zeitschrift IPP, in der IZI, und zwar von den Berlinern Otto Müller-Main, Gottfried Kühnel, Manès Sperber, Ada Beil und den Wienern Erwin Wexberg und Alexander Neuer. Anlass war das Erscheinen von Künkels »Einführung in die Charakterkunde auf individualpsychologischer Grundlage« 1928 (vgl. Bruder-­ Bezzel, 2014, S. 26). Angesichts des Gewichts von Künkel und anlässlich der Absicht, 1927 ein Ausbildungsinstitut zu gründen, schickte Adler seinen jugendlichen, dynamischen, 22-jährigen Schüler und Verehrer Manès Sperber nach Berlin. Und Sperber nahm die Sache aktiv in die Hand und wurde einflussreich, initiierte Publikationsreihen, leitete Kurse und Fortbildungen innerhalb und außerhalb des Instituts, führte Beratungen und Therapien durch, gründete eine marxistisch-individualpsychologische Arbeitsgruppe und brachte eine Zeitschrift heraus – dies neben vielen anderen Vorträgen, Lehrtätigkeiten und Publikationen im eher sozialpädagogischen oder politischen Umkreis, wie u. a. der Wohlfahrtspflege von Sidonie Wronski, Sozialpolitische Hochschule, Marxistische Arbeiterschule (MASCH) (vgl. Stancic, 2003, S. 153 f.; Schiesser, 2014, S. 100 f.). Im Oktober 1927 erweiterte Sperber den von Otto Müller-Main geleiteten »Lesekreis« zu Alice Rühle-Gerstels Buch über die Verbindung von Individualpsychologie und Marxismus, »Der Weg zum Wir« (1927), um ein umfassenderes Vortrags- und Diskussionsprogramm und gründete auf diese Weise eine marxistische AG.86 Er übernahm 1928 die Leitung des individualpsychologischen Berliner »Mitteilungsblatts«. Das Mitteilungsblatt der Sektionen des Internationalen Vereins war in Berlin ab Januar 1926 erschienen unter 86 Um diese Zeit 1927 gab es solche marxistischen Initiativen auch in Dresden und Wien und sogar einen »sozialistischen« Kongress« (vgl. Bruder-Bezzel, 1999, S. 148 ff.)

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der Schriftleitung von Ada Beil.87 Es trug zuerst den Titel »Gemeinschaft« und ab Januar 1927 – unter dem Einfluss von Künkel – den Titel »Sachlichkeit«. Es enthielt Nachrichten aus den Sektionen/Ortsgruppen und übernahm damit die Funktion der »Chronik« in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie (IZI). Die Berliner Ereignisse, vor allem aber die Aktivitäten der Linken – die in der IZI kaum mehr berücksichtigt wurden  – erhielten Alice Rühle-Gerstel dort allerdings später besonderes Gewicht. Das Blatt brachte aber auch kleine Beiträge und Diskussionen. Mit der ersten Nummer im Jahr 1928 war Ada Beil von der Schriftleitung durch Sperber abgelöst worden – vermutlich wurde Ada Beil herausgedrängt. Dies wurde von Adler unterstützt und sehr begrüßt. Das zeigen drei Briefe von Adler an Sperber, vom 22.12.1927, 28.2.1928 und 8.4.1928 (Adler, 2014). Sperber wandelte dann das Blatt ab März 1928 um in »Zeitschrift für Individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene« (IPP), das Mitteilungsblatt »Sachlichkeit« wurde zum Beiblatt, stand somit an zweiter Stelle. Sperber wollte mit der Zeitschrift IPP eine »angewandte Individualpsychologie« befördern, die der Prophylaxe der Neurose dienen sollte. Er versteht die Individualpsychologie als eine »dialektische Wissenschaft, die in Theorie und Praxis an Veränderungen mitwirken wolle und als Sozialpsychologie Stellung nehme gegen all diejenigen Kräfte in unserem gesellschaftlichen Leben, die die Realisierung der Gemeinschaft unmöglich machen« (Sperber, 1928, S. 1). Die Beiträge gingen im Umfang und Aktualität tatsächlich über das Mitteilungsblatt hinaus und waren durchaus vielfältig und anregend. 87 Ada Beil war ansonsten engagiert in der Frauenbewegung (vgl. Stancic, 2003, S. 149).

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Die IPP hatte aber mit zehn Nummern bis zum Ende des Jahres 1928 nur ein kurzes Leben. Mit ihrem Ende wurde zugleich auch ihr Beiblatt »Sachlichkeit« eingestellt – ein trauriger Niedergang, dem bald darauf die Spaltung der Ortsgruppe folgte. Sperber hatte die Rolle einer Gegenfigur zum weiterhin einflussreichen Künkel übernommen. Künkel selbst war aber offenbar in der Lage, die von Sperber initiierte politische Diskussion zu führen. 1932 heißt es: »eine mehrjährige, kontradiktorische Diskussion hat ihn uns – wenn auch antithetisch – verbunden« (Sperber, 1932, S. 5). Später schreibt Sperber: »Wir waren Gegner, aber diskutierten gern« (Sperber, 1975, S. 170). In gewisser Weise haben sich beide sogar als streitende Partner verbündet, vor allem nachdem beide, aus unterschiedlichen Gründen, mit Adler in Streit bzw. Spannung gerieten. Trotzdem kam es im Frühjahr 1929 zur Spaltung der Ortsgruppe und im Institut, die den Zerfallsprozess der Berliner Individualpsychologie einleitete. Es gibt nun zwei Gesellschaften, die (alte) »Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie« als Sperber-Gruppe und den »Neuen Verein Berliner Individualpsychologen« als Künkel-Gruppe, womit also der junge Sperber den alten Künkel zur Bildung einer neuen Vereinigung drängte (vgl. Bruder-Bezzel, 2014, S. 17 ff.). Für die Gruppe um Sperber (Otto Müller-Main, Edith Cohn, Ruth Künkel88) war die Spaltung ganz klar eine politische Spaltung. Im Zentralblatt für Psychotherapie erklärt Sperber 1931 u. a., die Berliner Gesellschaft wolle die »soziologische Fragestellung« in der Individualpsychologie verfolgen und dafür den Marxismus als Grundlage betrachten und Wissenschaft als dialektisch-materialistisch verstehen. Die andere Richtung »suchte eine Fundierung der sinndeutenden Psychologie […] in Fundamenten des Wesens von Individualität« (Sperber, 1931, S. 351 ff.). Adler war über diese Entwicklung bestürzt und über Sperber verärgert. Er schreibt am 21.4.1929 an Sperber: »Sie haben gepatzt«, und will ihn zur Rücknahme und einem Neuanfang bewegen. Er scheint den tatsächlichen politischen Hintergrund nicht sehen bzw. verleugnen zu wollen, wie dies in diesem Brief zum Ausdruck kommt: »Sie 88 Ruth Künkel war zu dieser Zeit bereits von ihrem Mann getrennt. Sie starb im Januar 1932.

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haben es nicht vermieden, Ihre Gruppe als politisch stempeln zu lassen […]. Ich zweifle, ob es Ihnen gelingen wird, den Argwohn von Ihrer Gruppe abzuwehren, als ob diese politisch wäre« (Adler, 2014, S. 72 f.). Auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologie im September 1930 in Berlin kommt es zum Eklat mit Adler, der sich gegen Sperbers kommunistische Propaganda emotional aufgeregt wehrt (vgl. Schiesser, 2014, S. 104). In einem Brief vom Juni 1931 spricht Adler mehrmals von »Schädlingen« der Individualpsychologie und wehrt sich dagegen, die »Indps« zu einer »lächerlich schwachen Dependance der Politik oder der Religion« machen zu lassen. Die Anrede von Adler ist nun: »Sehr geehrter Herr Sperber«, statt: (mein) lieber Sperber (Adler 2014, S. 86). Diesen Auseinandersetzungen folgt eine Reihe von kritischen, teilweise auch polemischen öffentlichen Angriffen Sperbers gegen Adler. So warf er Adler und seinem Kreis »Sektierertum« vor, in dem seine Anhänger, oft ehemalige Patienten, aus Dankbarkeit immer nur hören wollten, dass die Individualpsychologie die alleinseligmachende Lehre sei (Sperber, 1931, S. 351 ff.). Er warf Adler Verbürgerlichung vor, Verrat an seinen eigenen Theorien, so z. B. dass Adler das Dialektische und das Soziale aufgegeben oder verwässert habe. 1932, als die Beziehung Sperbers zu Adler schon gebrochen war, bringt die marxistische Gruppe, nun als »Fachgruppe für dialektisch-materialistische Psychologie« (1932), ein Buch heraus, das sich vom (partei-)linken Ansatz heraus kritisch mit Adler auseinandersetzt. Erstaunlicherweise schreiben auch Künkel und Appelt, der zur Künkel-­ Gruppe gehört, darin. Bei beiden steht allerdings die »soziale Problematik« oder die »soziologische« Sichtweise ebenso wie bei den anderen Autoren im Vordergrund. Inhaltlich setzen sich die Aufsätze, besonders der von Sperber, kritisch mit dem »bürgerlich« gewordenen Adler auseinander: Adler verzichte auf eine gesellschaftlich-materialistische Analyse, er habe das Dialektische aufgegeben und habe sich zu einer irrationalen »schöpferischen Kraft« geflüchtet (Sperber, 1932, S. 18). An anderen Stellen wirft Sperber Adler vor, dass dieser zunehmend mehr seinen Blick eingeengt habe oder umgekehrt sich diffus auf die weltumfassende Menschheit beziehe. Seine »Gemeinschaft« als Ideal sei »ethischer Dunst« (Sperber, 1934, S. 115; vgl. Bruder-Bezzel, 1999,

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S. 164 ff.). Es sei bedauerlich, dass Adler z. B. die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wurzeln der Autorität in Familie und Schule verkenne oder unterschätze (Sperber, 1934, S. 224).

Sperber als kritischer (Individual-)Psychologe Sperber beschäftigt sich in seinen psychologischen Schriften, vor allem in seinem Vorlesungsmanuskript »Individuum und Gemeinschaft« 1934, mit psychischen und sozialen Mechanismen im umfassenden Sinn, er behandelt Fragen wie die der Anlage und Umwelt in ihrer Einwirkung auf die Menschen, Fragen der Moral, Autorität, Familie, Erziehung, Sexualität, die soziale Stellung der Geschlechter zueinander, Probleme der Jugend und beschäftigt sich auch mit einzelnen Krankheitsbildern. Die Adler’sche Theorie ist ganz seine Grundlage, die er erweitert und variiert. Die spezifische Dynamik in Adlers Theorie war auch für Sperber von größter Wichtigkeit. Es ist das Wechselspiel von Wahl und Begrenztheit, schöpferischer Kraft und Fixierung, Bewegung und Erstarrung. So erscheint z. B. der Lebensstil einerseits als beharrendes, konservatives Element, erweist sich aber andererseits als hochgradig anpassungsfähig und flexibel in der Variabilität der Situation – zumindest unter weniger neurotischen Voraussetzungen oder in wenig neurotizierenden Situationen. Umgekehrt ist Kompensation – die in den Lebensstil eingeht – das, womit wir über uns hinauswachsen. Sie zeigt den Menschen als tätiges Wesen, das sich fortentwickelt und erweitert, sie ist »die Tätigkeitsform des Seelischen« (Sperber, 1934, S. 70). Kompensation erscheint aber, bei Adler, andererseits als relativ festgelegt und starr in ihrem Ausmaß und in ihrer konkreten Ausprägung. In diesem Wechsel von Bewegung und Erstarrung ist das Individuum Produzent seiner selbst und seiner Verhältnisse, es determiniert sich – begrenzt – psychisch selbst. »Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit« (Adler, 1930, S. 206). Diese Gedanken sind auch die Grundlage von Sperbers Psychologie, aber Sperber hat eine vielleicht plastischere und lebensvollere Art und Weise damit umzugehen, so z. B., wie er Adlers zielgerichtete Aktivität, die Wahl, den Lebensstil aufgreift: »Anfangs sind die Mög-

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lichkeiten praktisch […] unendlich. Zahllose Türen öffnen sich vor uns. Mit jedem Schritt durch eine Tür vermindert sich die Zahl der Türen […]. So vernichten wir mit jedem Schritt zahllose Möglichkeiten […] und realisieren eine einzige, die unter Umständen gerade jene sein mag, die wir unbedingt hätten vermeiden müssen« (Sperber, 1971, S. 145). 1938 hatte Sperber diese Einschränkungen der Möglichkeiten deutlicher als eine gesellschaftlich erzwungene Einengung für die »allermeisten Menschen« gesehen: »Erwachsen werden das ist bisher die Reduktion vieler Möglichkeiten auf einige wenige. Was sich […] entfalten könnte, es wird durch tausend Schranken beschränkt. Diese Schranken sind genauso durch diese Gesellschaft bestimmt wie der Zwang zur Selbstentfremdung […]. Was sie ihr Leben nennen, ist ein elendes Fragment« (Sperber, 1938, S. 66). Unser Radius wird kleiner, wir werden »Gefangene unserer Voraussetzungen«, unserer Vorwahl (Sperber, 1971, S. 145). Wir kennen diese Gedanken natürlich auch von Adler: In der Wahl eines Lebensstils fixieren wir uns, und zwar frühzeitig. Bei Sperber ist darin sehr deutlich eine Tragik, ist Trauer und Schmerz zu spüren. Bei Adler hingegen spüren wir diese Trauer und Anklage nicht, und doch ist diese Fixiertheit ein Hindernis (»Widerstand«) gegen Veränderungen und pädagogische und therapeutische Einwirkungen. In Sperbers »das Leben ist Fragment« steckt die Kränkung darüber, nicht »das Ganze« zu erreichen, nie zur Vollendung zu kommen (Sperber, 1971, S. 164 f.). Auch hiermit geht Adler anders, unbeschwerter um: Er ermuntert zwar zum Goethe’schen ewig strebend sich Bemühen (Vollkommenheitsstreben), aber er appelliert auch an den »Mut zur Unvollkommenheit«. Für Adler ist mit der »Wahl« das Konzept der »tendenziösen Apperzeption«, also der selegierenden Wahrnehmung und Kognition verbunden – als den Mechanismen oder Auswahlprinzipien, nach denen wir wählen und uns zugleich fixieren. Die »Tendenz« erklärt, warum das gleiche Erlebnis zu unterschiedlichen Erfahrungen führt. Die Tendenz ist auch der »Filter«, der sich vor die objektiven Einwirkungen der Außenwelt oder auch vor innerphysische oder innerpsychische Impulse legt. Auch Sperber räumt der »tendenziösen Apperzeption« einen zentralen Stellenwert ein: Aus den Erlebnissen, die wir haben oder erleiden – und dies sind vor allem soziale Erlebnisse –, machen wir »Erfahrun-

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gen«, die zum Bezugssystem für alle weiteren Wahrnehmungen von Ereignissen werden (Sperber, 1934, S. 138 f., S. 152 f.). »Einmal geformt, wird es fortan alle Beziehungen dieses Menschen formen […]. Dieses Bezugssystem ist die Achse des Bewusstseins, von dem wir ausgesagt haben, dass es alle Wahrnehmungen dirigiert und deren Inhalte assimiliert und verzerrt« (Sperber, 1937, S. 29). Dieses – mehr oder weniger statisch gedachte – Bezugssystem ist im Lebensstil verdichtet, der Erfahrungen ausschließt, die ihm widersprechen. Der Lebensstil schützt vor überwältigenden, korrigierenden neuen Erfahrungen, er ist, so sagt Adler, »der Kritik, auch der Kritik der Erfahrung entzogen« (Adler, 1933, S. 25), der als Vermittlung zwischen innen und außen Erfahrungen des Individuums – mit sich und mit der Umwelt – ermöglicht. Diese Gedanken erscheinen in der modernen Psychologie im kognitiven oder sozialen Konstruktivismus, der im Subjekt nicht mehr nur das passiv rezeptive Subjekt sieht, sondern – in der Entwicklung entstandene – kognitive Strukturen im Subjekt annimmt, mit deren Hilfe Informationen aus der Umwelt aktiv konstruiert werden (vgl. Bruder, 1993). Wahrnehmungen und Kognitionen, Erwartungen und Phantasien sind dann nicht die Widerspiegelung der Realität, sondern kreative »Erfindungen«, »Theorien« über die Realität, die im sozialen Zusammenhang, auf der Grundlage eines kulturellen Konsens entstehen und diesem mehr oder weniger entsprechen. Im Unterschied zur konstruktivistischen Theorie wird allerdings »tendenziöse Apperzeption« oder »Fiktion« bei Adler, z. T. auch bei Sperber, nicht selten mit der negativen Bedeutung von »Irrtum« und »Fehlhaltung« verbunden, als etwas, das überwunden oder korrigiert werden müsse. Nun war es für Sperber und die Linke der 1920er Jahre von äußerster Wichtigkeit, in der Dynamik der Persönlichkeit (Minderwertigkeits­ gefühl und Kompensation) eine »Dialektik« auszumachen. Von Dialektik hatte auch Adler gesprochen, aber Sperber korrigierte ihn darin im Einzelnen und wirft ihm vor, er sehe in (der Antithese) Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation einen Gegensatz (Sperber, 1932, S. 17 f.; 1934, S. 111 f.; vgl. Bruder-Bezzel, 1994, S. 57 f.) Selbstverständlich ist diese Dialektik bei Sperber »materialistisch« gedacht, ist das Wechselspiel nicht nur psychisch (selbst-)determiniert. »Wir werden sozusagen von handfesten Ursachen bestimmt, Ziele zu setzen« (Sperber, 1934, S. 54). »Die Zielsetzung war (bei Adler)

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ursprünglich […] die Wirkung aller Kräfte, die das menschliche Kind von Anbeginn seines Lebens beeinflussen […]. Das Ziel war somit verursacht, eine Wirkung, die selbst zur Ursache wurde« (Sperber, 1932, S. 20) – und darin ist das Individuum Produkt. Sperber hat Adler vorgeworfen, diese Verursachung später aufgegeben und an ihre Stelle die irrationale Willkür« der schöpferischen Kraft gesetzt zu haben. Adler sei »Teleologist«, »Indeterminist« geworden (Sperber, 1932, S. 20). Diese Kritik an Adler kam von allen marxistischen Individualpsychologen, z. B. auch von Henry Jacoby, dies widerspreche »der Einsicht in das dialektische Verhältnis von Mensch und Umwelt« (Jacoby, 1974, S. 34). Diese Kritik unterstellt Adlers »schöpferischer Kraft« die Vorstellung absoluter Freiheit und Beliebigkeit, als stünden uns und jedem alle Tore offen. Diese Kritik ist nicht gerechtfertigt, sie übergeht, dass Adler ausdrücklich von den »Bausteinen«, der Anlage und Umwelt, spricht, die die Wahlfreiheit einschränken, und dass Adler den Lebensstil ab sehr frühem Alter bereits als fixiert sieht. Adlers »schöpferische Kraft« sollte man zudem theorie- und zeitgeschichtlich einordnen: Schöpferische Kraft hatte sich gegen Freuds triebpsychologischen Determinismus gerichtet und war zeitgeschichtlich getragen von dem reformerischen Aufbauwillen in der nach den Kriegszerstörungen errungenen Republik.89 Wenn Sperber, aber auch Adler, von »verursacht« oder »determiniert« sprechen, meinen sie im Wesentlichen »sozial« determiniert. Der Mensch sei ein soziales Wesen, er sei nur als vergesellschaftetes Individuum zu denken, nur in seinen Bedingtheiten durch die Umwelt zu verstehen (Sperber, 1934, S. 52, 90). So sieht Sperber z. B. die Ausprägung des Minderwertigkeitsgefühls in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Lage, aber auch von der gesellschaftlichen Struktur insgesamt (welche Mängel treten auf, was wird als Mangel erlebt? etc.). Ebenso ist die Richtung der Kompensation, ob eher nach Macht oder nach Geltung oder nach Sicherheit gestrebt wird, abhängig von der gesellschaftlichen Struktur (Sperber, 1934, S. 111 ff.). Man könnte in diesen Überlegungen m. E. sogar weitergehen und die These aufstel89 Dagegen sieht Henry Jacoby in diesem Konzept eine »gewisse Affinität zu typisch amerikanischen Konzepten wie »self-realization« oder »adjustment« (Jacoby, 1974, S. 34).

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len, dass das Konzept Kompensation selbst als zentrale Dynamik ein Konzept der »heißen Kulturen« (Levi-Strauss) ist, also von Gesellschaften, die in stetem Wandel begriffen sind und in denen auch Wandel und Aufstieg der Individuen erwartet wird. Daraus wäre Sperbers These zu verstehen, dass sich die kompensatorischen Fähigkeiten selbst im gesellschaftlichen Wandel verändern, gefördert oder behindert werden (Sperber, 1938, S. 67). Neurose ist für Sperber nicht nur eine soziale Beziehungsstörung, sondern »spiegelt die gesamten Widersprüche wider, die unsere Lebensordnung enthält, und entwickelt sich im Einklang mit ihnen« (Sperber, 1934, S. 275). Sperber wirft Adler vor, dass dieser zunehmend mehr seinen Blick eingeengt hat, dass er z. B. die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wurzeln der Autorität in Familie und Schule verkenne oder unterschätze (Sperber, 1934, S. 224). Der Vorwurf der Verengung auf die Familie trifft nach Sperber allerdings viel mehr noch auf die Psychoanalyse als auf Adler zu. Daher schreibt er auch, Adler habe »hinter der Familie entscheidende gesellschaftliche Zusammenhänge gesehen«, während die Psychoanalyse »sich niemals von ihrem Ausgangsmilieu, der der Familie und von ihrem Ausgangskonflikt, dem Familienkonflikt« hat lösen können und es demnach versucht, »Weltgeschichte als eine konfliktreiche Familiengeschichte und die Machtkämpfe, die alle bisherige Geschichte beherrscht haben, aus dem Ödipuskomplex zu erklären« (Sperber, 1937, S. 26).90 Sperbers zentrales Anliegen ist die psychologische Erklärung der Wirkungen von Macht und Autorität, und es ist gerade dies, was die Adler’sche Theorie für ihn so wertvoll gemacht hat, als Theorie der Autorität, des Autoritarismus, der Macht. »Einzig die Adlersche Lehre [hat] den psychologischen Problemen der Macht und Geltung die gebührende, somit eine zentrale Bedeutung eingeräumt« (Sperber, 1937, S. 26). »Die Adlersche Individualpsychologie hat […] aufgezeigt, dass die Autorität […] entmutigende, neurotisierende, die Gemeinschaftsfähigkeit fortgesetzt störende Wirkungen ausübt […][,] sie hat theoretisch und praktisch den Kampf gegen die Autorität auf90 Den Vorwurf des Familiarismus der Psychoanalyse erhebt ähnlich der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim (1991).

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genommen« (Sperber, 1971, S. 168). Solche autoritären Beziehungen untersucht Sperber in verschiedenen Lebensbereichen, in der patriarchalischen Familie, im Geschlechterverhältnis, im Verhalten der Generationen, in der Erziehung – in »privaten« Beziehungen, in denen sich die autoritären gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln. Vor allem aber interessiert ihn die Untersuchung der politischen Systeme seiner Zeit, von denen er selbst in besonderem Maß betroffen ist: die Tyrannis von Hitler und Stalin.

Analyse der Tyrannis (1937) Dieser Essay entstand 1937, erschien erstmals 1939 (in Paris), dann wieder 1975, versehen mit einem »Vorwort und Rückblick« von 1974 und 1987 im dtv-Verlag. Die vorliegende neue Ausgabe ist von 2006. Parallel zu dieser Neuausgabe fand in Wien eine große Ausstellung über Manès Sperber mit dem gleichen Titel, »Analyse der Tyrannis«, statt, kuratiert und mit einem Katalog begleitet von Marcus Patka und Mirjana Stancic (2006).91 Das Buch analysiert die psychologischen Mechanismen des Zusammenspiels von Unterwerfung und repressiver Macht, es erklärt »die Bedingungen der Tyrannis aus einer Verschränkung von Angst, abgewehrter Ohnmacht und dem kompensatorischen Streben nach höchster Macht« (Schmidt, 1996, S. 246). So trägt diese »Analyse« ganz überwiegend (in fünf Kapiteln) die Züge der NS-Herrschaft und der Nazibegeisterung. In Gänze gilt das Buch stets auch als Analyse des Stalinismus und somit als frühe »Totalitarismustheorie«, die eigentlich erst Hannah Arendt zugeschrieben wird. Sperber selbst hat das in seinem Vorwort von 1974 und in vielen anderen Äußerungen auch so gesagt. Dafür spricht auch der biographische Zusammenhang seiner Entstehung, doch sind angesichts des sechsten Kapitels daran auch Zweifel oder Einschränkungen anzumelden. 91 Ausstellung (18.1.–10.03.2006), im Auftrag des Jüdischen Museums Wiens in Kooperation mit dem Österr. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

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Darüber hinaus aber kann dieser Essay als Höhepunkt politischer Psychologie (auf individualpsychologischer Grundlage) überhaupt gelten. Er liefert Erklärungsmuster nicht nur für totalitäre Systeme, sondern – freilich mit nicht unwichtigen Einschränkungen – auch für die psychologischen Faktoren politischer Prozesse allgemein, für die politische Meinungsbildung oder für die Herstellung politischer Zustimmung, die auch in demokratischen Gesellschaften am Werke sind. Die »Analyse der Tyrannis« hat einen sehr bewegenden persönlichen Hintergrund und Anlass, den ich hier skizzieren will (vgl. Stancic, 2003, S. 317 ff.). Im Pariser Exil beginnt Sperber um 1937, sich von seiner politischen Tätigkeit im Widerstand für die Komintern »abzuhängen« und damit seinen Bruch mit dem Stalinismus und den stalinistischen Parteien, nach etwa zehnjähriger Mitgliedschaft in der KPD, herzustellen. Innerlich vorbereitet war dieser Bruch ab Herbst 1936, obgleich Sperber noch weiterhin als linientreuer KP-Mann auftrat und sich gegen Skeptiker und Kritiker noch öffentlich wandte (z. B. gegen André Gide im März 1937) und auch die Moskauer Prozesse – seit 1936, denen bereits 1934 Liquidierungen vorausgegangen waren – stets vehement als notwendig verteidigte, wie verschiedene Zeitzeugen berichten (Stancic, 2003, S. 207 ff.). Ein solcher »unaufrichtiger«, strategischer Umgang mit innerem Zweispalt war, angesichts der Bedrohung der Sowjetunion durch die Nazis und der Gefährlichkeit von Stalin auch im Exil, unter KP-Intellektuellen und NS-Gegner nicht selten. Sperber hat auch später seine früheren Positionen nicht immer offen benannt und »die eigenen Verstrickungen […] im Dunkeln« belassen (Rohrwasser, 2000, S. 65) – so behauptete er z. B. 1974, dass er nie »Stalinist« gewesen sei (S. 15). Er hatte sich für Sommer/Herbst 1937 aus der »Kaderarbeit« in Paris beurlaubt und schrieb in Wien diese »Analyse«. Nach seiner Rückkehr nach Paris im Dezember 1937 schrieb er einen »Brief« (»an die KPD«, wie es im Katalog heißt, abgedruckt in Stancic, 2003, S. 317–320), in dem er seinen Abschied ausführlich politisch begründete. Der Brief wurde nicht abgeschickt und ist undatiert.92 92 Zur Datierung: Da Sperber im Brief auf »die österreichischen Ereignisse« verweist, die ihn in Paris zu bleiben zwingen – und damit muss wohl der Einmarsch der Nazis in Wien im März 1938 gemeint sein –, muss der Brief danach oder – auf die Ereignisse vorausschauend – kurz zuvor geschrieben sein.

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Noch in diesem Brief wird sein Zwiespalt deutlich: seine Treue zur Arbeiterklasse und selbst zur Sowjetunion, aber auch die Qual, mit seiner Kritik an der deutschen Oppositionspolitik weiter zu schweigen und sich zu unterwerfen. Er wollte die selbst auferlegte Unterwerfung, die »Unaufrichtigkeit« im »Verschweigen« (Stancic, 2003, S. 318) nicht mehr ertragen. Er nennt vier Gründe: 1. Meinungsverschiedenheiten in den Methoden der KP-Opposition, 2. Wirkungslosigkeit dieser deutschen antifaschistischen Politik, 3. »autoritären« Führungsanspruch aller nicht-sowjetischen Parteien, 4. Verfolgung unschuldiger Genossen in der Sowjetunion, die zu einer »Vergiftung meiner Gefühle für die S.U.« geführt haben.93 Vor dem Hintergrund dieser Situation des Abschieds oder Bruchs mit der KPD und Komintern ist es also verständlich, dass er über den Nazifaschismus, der nach wie vor der Hauptfeind ist, schreibt und – in Teilen und als Warnung – auch das andere autoritäre Regime, den Stalinismus, meint. Der Essay kann somit die verdeckte Veröffentlichung dieses Bruchs darstellen und als Selbstrechtfertigung und Selbstbefreiung verstanden werden. Denn der Bruch aus dem Entsetzen heraus wird als Niederlage seines Lebenskonzepts empfunden worden sein, er war für ihn, wie man gut nachvollziehen kann, ein »Sprung ins Nichts« (Stancic, 2003, S. 321), eine ihn erschütternde Wahl der Isolation gewesen. Als psychologische Analyse der Naziherrschaft steht diese in einer Reihe früher psychoanalytischer und individualpsychologischer Untersuchungen zum autoritären Charakter, zu psychologischen Mechanismen politischer Machtbeziehungen, von der Kaiserzeit bis zum Faschismus (u. a. Reich, Fromm, Adler, Rühle). Sperber selbst sieht diese Analyse als eine psychologische Studie, die sich ausschließlich der »subjektiven Seiten von Macht« widmet. »Der nach Macht strebende, der von ihr berauschte und der von der Macht des anderen faszinierte Mensch ist ihr Gegenstand« (Sperber, 1937, S. 23). Sperber ist sich dessen bewusst, dass durch diese subjektive Seite allein der Faschismus noch nicht erklärt ist, er nennt dies die »Grenze der Psychologie«, die er auch 1970/71 so stark betont.

93 Im Katalog wird leider nur Punkt 4 zitiert.

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Theoretisch getragen ist die »Analyse« – neben dem Marxismus – von der Adler’schen Psychologie und ist darin über Adler hinausgehend. In den beiden ersten Kapiteln führt er mit Adler lebensnah zum Thema hin und geht mit seiner interessanten Unterscheidung von »sozial adressierter« und »aggressiver« Angst über ihn hinaus (S. 39 ff.). Die Adler’sche Theorie der Macht und des Autoritarismus ist durchgängig präsent (von Nietzsche und Freud grenzt er sich ab). Autoritäre Beziehungen haben für Sperber als Grundlage die Angst und sie arbeiten mit der Angst. Es ist auf Seiten der Abhängigen die Angst als eine Form des sekundären Minderwertigkeitsgefühls, d. h. als kompensatorisch, arrangiertes, überhöhtes Minderwertigkeits­gefühl. Es ist die Angst als sozial gerichtete (adressierte), die auch verhüllte Aggressivität enthält. Die Entstehung von Diktaturen oder von vergleichbaren autoritären Erscheinungen ist für Sperber, so wie wir dies heute allgemein auch wissen, mit gesellschaftlichen Krisensituationen verbunden. Einschränkungen von Freiheitsrechten, Verschärfung sozialer Ungleichheiten, Inszenierung bis zur Erfindung und Verfolgung von innerstaatlichen oder außerstaatlichen »Feinden« bis hin zur Anzettelung von Kriegen sind mögliche Folgen solcher Krisensituation – einer tatsächlichen oder auch nur behaupteten. Dies wird jedenfalls zur Rechtfertigung solcher Maßnahmen eingesetzt und soll die Akzeptanz und Unterwerfung erzwingen. Das kann auch für oppositionelle, damals antifaschistische Strukturen und Bewegungen gelten, in dessen Strudel ja dann auch Sperber geriet: Die Bedrohung der Sowjetunion durch die Nazis stärkte die Treue zu ihr und zur Partei und machte die Abkehr von ihr so schwer. Angst und das Ausnutzen dieser Angst bei einem weiter erniedrigten Selbstbewusstsein sind für Sperber die Grundlage tyrannischer oder autoritärer Beziehungen. Sperbers zentrale These ist das Zusammenspiel derer, die am Machtverhältnis beteiligt sind, Herrschaft und Volk: Es gibt »keinen Tyrannen ohne diejenigen, die ihn machen und ohne diejenigen, die an ihn glauben« (Sperber, 1937, S. 86). »Die Tyrannis, das ist nicht nur der Tyrann allein […][,] sondern das sind auch die Untertanen, seine Opfer, die ihn zum Tyrannen gemacht haben« (Sperber, 1974, S. 16). »Denn die Tyrannis kann nicht entstehen ohne die Zustimmung wenigstens eines

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Teils des Volkes« (Sperber, 1937, S. 48). Macht bedarf der Anerkennung und Zustimmung der Beherrschten und erzwingt die Abgabe von Verantwortung. Das ist natürlich die altbekannte Hegel’sche Herr-Knecht-Dialektik oder was von Marx einmal so schön ausgedrückt wird: »Dieser Mensch ist z. B. nur König, weil sich andere Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt Untertanen zu sein, weil er König ist« (Marx, Kapital I, S. 72, zit. nach Marian, 2006, S. 123). Mit der Betonung der gegenseitigen Bedingtheit vermeidet Sperber, Tyrannis aus der Persönlichkeit des Tyrannen erklären zu wollen – auch wenn trotzdem richtig ist, dass sich nicht alle dafür eignen und in solchen Zeiten bevorzugt bestimmte Persönlichkeiten hier zum Zuge kommen, wie Sperber das auch im vierten Kapitel schildert (Sperber, 1937, S. 62 ff.). Aber solche Persönlichkeiten können sich nur in bestimmten vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen (ökonomische Grundlagen, Organisationen, Parteien) entfalten und durchsetzen. »Die Tyrannis [kann] nur entstehen, wenn ganz bestimmte gesellschaftliche Bedingungen sie ermöglichen« (Sperber, 1937, S. 48). Sperber vermeidet aber auch eine – vielleicht naheliegende – Zuschreibung von kollektiver Schuld, wendet sich gegen die Massenpsychologie Le Bons (S. 48, 58) (er meint damit auch Freud). Denn er gibt weitere Bedingungen dafür an, dass Untergebene oder ein Volk sich in diese Position versetzen lassen. Die Aufzählung oder Schilderung dieser psychologischen »Voraussetzung der Tyrannis« (drittes Kapitel), der Mechanismen der Zustimmung und Unterwerfung, also die Frage, wie hat es dazu kommen können, ist das Zentrum des Buchs. Es berührt die Grundlagen der Mechanismen der Machtbeziehung, wie sie bereits Adler beschrieben hat und von Sperber zugespitzt werden. Daher ist dieses Kapitel am leichtesten auf durchschnittlich hierarchische oder auch demokratische Machtverhältnisse anwendbar. Sperber nennt und beschreibt als Voraussetzungen der Unterwerfung: mangelnde Lebensfreude (Entfremdung), keine Chance zu gesellschaftlicher Anerkennung, Sehnsucht nach Ausbruch aus dem gehassten Alltag, Sehnsucht nach Abenteuer, mangelnde Fähigkeit, gesellschaftliche Vorgänge zu erkennen, Angst vor einem Feind, sozia-

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les Ressentiment (S. 49 ff.) – Bedingungen, die in Zeiten der Not schärfer ausgeprägt sind, aber den Alltag einer großen Zahl von Bürgern bestimmen. Diese die Unterwerfung begünstigenden Lebens- und Affektlagen werden immer wieder hergestellt, aufrechterhalten, geschürt, durch entsprechende Lebensbedingungen, durch Versprechungen, Desinformationen, Lügen und eventuell auch Schrecken. Wenn dann ein politischer oder auch ein religiöser Führer, oder eine Bewegung, versprechen, diese Mängel, diese Krise zu überwinden, wenn sie Selbstbewusstsein versprechen, den Ausbruch aus dem Alltag etc., dann können rassistische oder nationalistische oder fundamentalistische Bewegungen oder auch die Mobilisierung zu feind­ seligen Handlungen und zum Krieg Anklang finden und Aggressionen sich Bahn brechen. In dieser Position der Unterlegenheit, Entmutigung, Verängstigung streben die Unterworfenen, das Volk, nicht selbst nach (gesellschaftlicher) Macht, sondern haben keine andere Chance – oder vermeinen, keine andere Chance zu haben –, als ihre Kompensationsbedürfnisse zu delegieren, an eine starke Hand abzugeben. Ihre Angst und Unselbständigkeit erwartet kompensatorisch Hilfe – das nennt Sperber die »sozial adressierte« Angst (S. 39 f.). Dann sind die Unterworfenen offen für alle Versprechungen – was bis zum Aber- und Wunderglauben gehen kann, in der Illusion, an der Macht, gesellschaftlichen Anerkennung, Sanierung und Heilung teilzuhaben. Die Untertanen ersehnen ihre Kompensation vom Retter, »die nicht selbst kompensieren, erwarten, dass es einer für sie tue« (S. 56). Sie haben keinen eigenen Mut, sie sind daher von seiner Macht fasziniert, sie genießen in seinen Versprechungen »die Vorteile der Kindheit, die Verantwortungslosigkeit« (S. 58). Autorität zwingt anderen eine Unterlegenheitsposition auf. Da diese Position als unerträglich erlebt wird und überwunden werden muss, bringen autoritäre Beziehungen »Sklaven mit Usurpator-, mit Herrschaftsgelüsten« hervor (Sperber, 1934, S. 133). Daher die Faszination der Macht und der Glaube an das Versprechen, teilzuhaben an der Macht des Herrschers (z. B. durch die Übernahme einer ihm dienenden Funktion oder durch die Teilnahme an einem Krieg). Es ist »der Machtrausch des Entmutigten« (Sperber, 1937, S. 58), der den Mythos

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Feind schafft, durch den der Hass gegen unten, gegen andere, gegen Fremde, geschürt und legitimiert wird. Der Tyrann »erweckt Hoffnungen«, »verspricht Macht« (S. 52 f.). »Das Wunder ist die Hoffnung der Untätigen und untätig Leidenden. Somit der Feigen. Diese Feigen sehnen sich nach einem, der Mut für sie alle hätte« (S. 56). Offen für geliehene Größen- und Machtphantasien sind sie bereit zum Hass gegen vermeintliche Feinde, gegen Fremde, gegen die, die noch weiter unten sind. »Wer seine Situation abgründig hasst, […] wird ihr jegliche Änderung vorziehen« (S. 53). 1919 hatte Adler ganz Ähnliches über die Kriegsbegeisterung in ungeheuer plastischer und eindrücklicher Weise beschrieben, z. B.: Aus dem Gefühl »tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung […] wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein, und träumten von selbst gesuchten Heldentaten« (Adler, 1919, S. 128 f.). Auf der anderen Seite sind die (politisch) Mächtigen natürlich bestrebt und getrieben, ihre Macht aufrechtzuerhalten. Sie müssen Erfolg haben, müssen Anerkennung, Gefolgschaft, Zustimmung und auch Liebe erringen. Damit werden sie abhängig von ihrem Volk, sie wittern Gefahr und werden misstrauisch, bis zur Paranoia. Sie müssen daher einen mächtigen Herrschafts- und Propagandaapparat in Szene setzen, Feindbilder aufbauen. Sie fürchten das Volk, und sie fürchten auch ihre »Chefs«, die »heimlichen Dirigenten«, die »Herren im Hintergrund« (Sperber, 1937, S. 83) – womit Sperber wohl, bezogen auf Hitler, das Kapital, die Großindustrie, meint. Auch die Mächtigen also, die Unternehmen und die politische Klasse, haben Angst, aber diese Angst ist eine andere als die der Untergebenen, es ist die »aggressive Angst«, die als »affektive Aggression« erscheint und die aus Verachtung und Selbstverachtung des Tyrannen gespeist ist. »Der Wille zur Macht, das ist die Kompensation der aggressiven Angst« (S. 45). Mächtige, so diese Vorstellung, sind auch getrieben von Unsicherheit und Angst um ihre Stellung und setzen dies in aggressiven Machtwillen um. Dass auch dies alles keineswegs nur auf Diktaturen zu beziehen ist, ist klar. Aufgrund dieser, aus der Machtausübung folgenden, Angst der Mächtigen, dass das Volk nicht so will und tut, wie sie es wollen, dass sie in Meinungsumfragen abgelehnt oder durch Wahlen abgewählt

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werden, ihre Angst vor Konsumverweigerung, Gebärstreik, Straßenrebellion etc., werden wir mit Analysen, Warnungen, Versprechungen in den Berichterstattungen und Talkrunden von Experten, den Vermittlern der »heimlichen Dirigenten« (getarnten Lobbyisten der Wirtschaftsverbände) überzogen, um uns, gegen die eigenen Interessen, die neuen »Reformen« schmackhaft, »verstehbar«, akzeptierbar zu machen. In den bisherigen fünf Kapiteln der »Analyse« Sperbers sind die Züge des Nazifaschismus klar erkennbar: Macht herrscht durch Schrecken und Schrecken zieht an. Angst, Hass und Wunderglaube halten die tyrannische Beziehung aufrecht. »Die Macht herrscht durch den Schrecken (S. 75) und vereinzelt seine Gegner« (Sperber, 1939, S. 104). Das nun folgende sechste Kapitel ist so ganz anders als die bisherigen, es springt aus dem Rahmen der möglichen Gleichsetzung, zumindest was die Entstehung der Tyrannis anlangt. Hier wechselt Sperber von einer allgemein gehaltenen Analyse zu einem konkreten Modell, dem der Französischen Revolution – sicher ein Deckmodell für die deutsche und russische Revolution. Er unterscheidet nun zwischen »Führer« und »Tyrann«, beschreibt und beklagt die Wandlung der revolutionären Führer (Robespierre, Danton) zu Tyrannen. Diese Führer hätten sich im Namen der Freiheit und des Fortschritts zu Tyrannen gewandelt und seien damit zu »Schwindlern« (Sperber, 1937, S. 96), »Mördern der Revolution« (S. 97) geworden. Sie wurden verführt, von der Macht, von »zurückgebliebenen« Teilen des Volkes, die sie »magisch« überhöhten (S. 92).94 Dieses Kapitel ist – so bin ich überzeugt – sein eigentliches Stalin-­ Kapitel; Stalin, der als Tyrann aus der Revolution hervorgegangen ist, das ist nicht Hitler. Sperber verweist 1974 vor allem auf seine sechs Punkte der »Prophylaxe zur Vermeidung der Tyrannis« am Ende des Buchs, die als Warnung vor der »Stalinisierung« der nicht-sowjetischen KPs gedacht sein könnten – oder vielleicht bereits einen Ist­ zustand beschreiben. Der ganz andere Umgang in diesem Kapitel, der andere, revolutionäre Ausgangspunkt der Tyrannis, weist darauf hin, dass Sperber zu dieser Zeit zwar jede Tyrannis anklagt, dass er aber in den zwei Formen 94 Mit der Betonung der »zurückgebliebenen Teile« übergeht Sperber die zentrale Rolle der Intellektuellen, denen er selbst angehörte.

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von Tyrannis die gegensätzlichen Ausgangspunkte und Intentionen für bedeutungsvoll hält. »Die wohlorganisierte Hysterie des ›Heil Hitler!‹«, so schreibt er 1974, gehöre zum »Wesen des Faschismus, indes die systematisch organisierte Vergötterung Stalins nur im eklatanten Widerspruch zum historischen Materialismus und zu den Prinzipien der marxistischen Arbeiterbewegung betrieben werden konnte« (Sperber, 1974, S. 10). So kann vieles der vorherigen Analyse nicht auf die (ehemals) revolutionären Bewegungen bezogen werden, mag manches von der dann entstandenen Dynamik der Tyrannis bereits auch in ihren Anfängen schon zutreffen – so die autoritäre Struktur der Parteien und die Autoritätsgläubigkeit der Arbeiter, wie sie bereits Rosa Luxemburg oder Otto Rühle und viele andere kritisiert haben. Im sechsten Kapitel steckt auch solidarische, bedauernde Kritik, vielleicht sogar auch Verteidigung. Sperber hat sich mit dieser »Analyse der Tyrannis« sein Entsetzen über beide Diktaturen seiner Zeit vom Herzen geschrieben. Und es ist daraus eine vorbildliche, differenzierte Theorie und Beschreibung der psychologischen Mechanismen der Diktatur oder spezifischer der Nazidiktatur geworden, weniger eine Analyse des »Stalinismus« bzw. seiner Entstehung. Aber Sperber beschreibt darin ebenso Machtprozesse in modernen, parlamentarischen demokratischen Gesellschaften und Kontexten. Sperbers Buch unter dieser Perspektive der Mechanismen von Macht zu lesen, macht es für mich aktuell. Sperber verwendet also die individualpsychologische Theorie zur Beschreibung und Erklärung politischer Prozesse, ähnlich wie Adler in seiner Frühzeit. Sperber steckt der Psychologie allerdings hier deutlich ihre Grenzen: Psychologie könne die subjektive Seite historischer, politischer Prozesse, die psychologischen Gründe und Begleiterscheinungen ihrer Verläufe und Wirkungen beschreiben und erklären, aber die Ereignisse selbst, also Diktatur, Macht, Ausbruch eines Krieges, Abwurf der Atombombe etc., nicht selbst (allein) erklären – z. B. aus der Aggressivität der Menschen, dazu seien ökonomische und politische Zusammenhänge aufzuzeigen. »Jeder Versuch, geschichtliche Vorgänge psychologisch zu erklären, ist wie jede andere Form von Psychologismus verfehlt« (Sperber, 1971, S. 162). Darin liegt für Sperber die eine Grenze der Psychologie. Umgekehrt kann Psychologie (allein) auch keine tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen bewirken, das ist, was Sperber das »Elend« der Psychologie nennt (S. 167 ff.).

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Kann die Psychologie überhaupt gesellschaftlich irgendetwas bewirken? Im Vorwort zur »Analyse der Tyrannnis« gibt Sperber folgende Antwort: So »hat der Psychologe, entmutigt zwar in Bezug auf seine erzieherische Chance, doch eine Aufgabe: nachdenklich zu stimmen. Das ist nicht viel, gewiss! Doch würde einer unsere Bescheidenheit kränken wollen mit der Frage: nicht mehr? – so würden wir ihm antworten: nicht weniger! Denn wir sind Optimisten. Wir sind es, obschon wir […] die Lächerlichkeit erkennen, die damit verbunden ist. Doch mit der Lächerlichkeit der menschlichen Existenz musste sich der Psychologe abfinden, da er begann, einer zu sein. Also zu jener gleichen Zeit, als ihm die Grösse der menschlichen Existenz aufging« (Sperber, 1937, S. 24).

Schluss: Sperber und die moderne deutsche Individualpsychologie Sperber trat nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum für einen größeren Kreis von Individualpsychologen erstmals mit seinem Buch von 1970/71 »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie« auf. Das Buch erschien 1970, im Jahr von Adlers 100. Geburtstag, im Molden Verlag als Auftrag des Verlags für die Essay-Reihe »Glanz und Elend der Meister«. Sperber nannte das Buch sein »psychologisches Testament« (Stancic, 2003, S. 540). Bekannter und greifbarer wurde dieses Buch aber erst ein Jahr später, als es 1971 der Fischer Verlag als Taschenbuch übernommen hatte. Dieser Fischer-Ausgabe 1971 folgte bald die Darstellung über Adler als Rororo-Bildmonographie von Josef Rattner (1972), dann, wieder als Fischer-Taschenbuch, die kritische Darstellung der Adler’schen Theorie von Henry Jacoby (1974), der, mit Sperber gleichaltrig, ebenso in Berlin im linken Milieu gelebt hatte, aber im anarchistischen, rätekommunistischen Umkreis. Die Bedeutung dieser Publikationen ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch recht wenig von Adler wiederaufgelegt gab. Es gab zwar die Alfred-Adler-Gesellschaft ab 1962 und Weiterbildungskurse ab 1967, und es gab 1966

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Adlers »Menschenkenntnis« im Fischer Verlag. Erst in den 1970er Jahren (ab 1972), als auch die Ausbildungsinstitute gegründet wurden, erschienen Adlers Werke als Fischer-Taschenbuch, die dann das AdlerBild über Jahrzehnte prägten. Sperbers Buch kann somit als Auftakt für ein Wiederaufleben von Adler für einen breiteren Kreis gelten und hat damit viel und prägend zur Renaissance Adlers in der BRD beigetragen. Das Buch ist eine hoch spannende und auch kritische, biographisch orientierte Gesamtdarstellung der Adler’schen Theorie, eingebettet in ihre vielen historischen und politischen Bezüge und Vernetzungen. Eines der Anliegen Sperbers war, die Bedingungen der Emanzipation der Individualpsychologie von der Psychoanalyse zu klären (Stancic, 2003, S. 540). In den 1970er Jahren entwickelte sich ein gewisser Kontakt zwischen Sperber und der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie, vermittelt vor allem durch Rainer Schmidt, der lange Zeit deren Vorsitzender war. Sperber wurde zu einem oder mehreren Vorträgen eingeladen und bekam, auf Anregung von Schmidt, 1974 die Ehrenmitgliedschaft verliehen. 1980 gaben Sperber, Jacoby und Schmidt das Buch von Alice Rühle-Gerstel, »Der Weg zum Wir« (1927), wieder heraus. Sperber wurde in der Individualpsychologie geachtet, man hat auch mit gewissem Stolz auf diese Verbindung blicken können. Doch war Distanz der individualpsychologischen Gesellschaft insgesamt spürbar, war Sperber – außer von Schmidt – nicht mit den offenen Armen begrüßt worden, wie es ihm gebührt hätte. Das hat wohl inhaltliche und politische Gründe. Bereits im Buch von 1970 entfaltete Sperber insgesamt ja ein Bild der Adler’schen Psychologie, das die Enge der therapeutisch-pädagogisch und moralisch geprägten ins Konservative gehenden Individualpsychologie dieser Zeit überstieg. Sperber zeichnet sich und Adler, ebenso im Buch von 1934, als Sozialpsychologen, Humanisten und als Marxisten. Sperber distanzierte sich davon nicht – auch wenn er doch seiner kommunistischen Wurzel abgeschworen hatte, aber nicht reumütig, sondern sogar kämpferisch, nun gegen die 68er gewandt. Er meldete sich auch um diese Zeit immer wieder öffentlich politisch zu Wort, auch streitbar, und war darin umstritten.

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Umgekehrt gab es seitens der meisten Individualpsychologen kein Interesse, an diese linke Tradition anzuknüpfen oder auch nur daran erinnert zu werden. Sperber hatte also seine eigenen Interessen und seine eigene Interpretation der Individualpsychologie und der Aufgabe der Psychologie. Für ihn war die Psychologie als Kulturtheorie und als Instrument zur Verbesserung gesellschaftlichen Lebens zentral, er blieb generell der Therapie gegenüber eher kritisch. Auch blieb er bei seiner Kritik an der Freud’schen Psychoanalyse, die er attackierte – so den Triebbegriff, den Ödipuskomplex, Freuds Kulturtheorie (zu Krieg und Massenpsychologie), die Rolle der Sexualität und die Verengung auf die Familie. Die institutionalisierte Individualpsychologie war dagegen in dieser Zeit stark mit sich und ihren Wandlungen beschäftigt. Sie begann in den 70ern, sich von ihrer tendenziell kanonisierten Sichtweise nach Rudolf Dreikurs zu befreien, sich als Psychotherapierichtung von ihren pädagogischen Wurzeln loszusagen und sich als psychotherapeutische Schule der Psychoanalyse stark anzunähern und entsprechende anerkannte psychoanalytische Institute aufzubauen. Sperber machte also die Entwicklung der modernen Individualpsychologie nicht mit. Aus all diesen Gründen wurden Sperbers Schriften nicht wirklich in die Individualpsychologie integriert. Sperber wäre durchaus eine Chance für die Individualpsychologie gewesen, ein markantes Profil zu bekommen.

Literatur Adler, A. (1919/2009). Die andere Seite: eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes. In A. Adler, Gesellschaft und Kultur (1897–1937). Hrsg. v. A. Bruder-Bezzel. Studienausgabe, Bd. 7 (S. 120–130). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1930/2009). Kindererziehung. In A. Adler, Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung. Hrsg. von W. Datler, J. Gstach, M. Wininger. Studienausgabe, Bd. 4 (S. 203–273). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1933/2008). Der Sinn des Lebens. In A. Adler Sinn des Lebens, Religion und Individualpsychologie. Hrsg. von R. Brunner, R. Wiegand. Studienausgabe, Bd. 6. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (2014). Briefe 1896–1937. Hrsg. von A. Bruder-Bezzel, G. Lehmkuhl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder, K.-J. (1993). Subjektivität und Postmoderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Wille zur Macht, schöpferische Kraft und Lebenskunst bei Alfred Adler und Friedrich Nietzsche

In Nachfolge der griechischen Philosophie gilt Nietzsche schlechthin als Vertreter von »Lebenskunst«, wird so auch eingeführt im Rahmen von Foucaults »Selbstsorge« und »Ästhetik der Existenz« (Foucault, 1984, 1989). Lebenskunst konzentriert sich bei Nietzsche auf Selbst­ gestaltung, Selbsterschaffung und Selbststilisierung, um dem Individuum als Künstler, befreit von Normen und Moral, gerecht zu werden – was Wolfgang Kersting als »Stilwille«, »Individualitätsfeier«, »Selbsterfindungspathos« beschreibt: Nietzsche und Foucault präsentieren somit die Figur eines »heroischen Individualismus« (Kersting, 2007, S. 15,18). Auch bei dem Mitbegründer der Psychoanalyse und ehemaligem Freud-Schüler Alfred Adler ist in einigen seiner Grundbegriffe, in seinem Menschenbild, in seinen therapeutischen und pädagogischen Vorstellungen, ein Beitrag zur Lebenskunst zu vermuten, in dem zugleich Spuren von Nietzsche zu entdecken sind. Rainer Lemm-Hackenberg hat m. E. als Erster eine solche Verbindung zwischen Lebenskunst (i. S. von Wilhelm Schmid) und Adler hergestellt, und zwar über Adlers Konzept der »Lebensaufgaben« (Lemm-Hackenberg, 2013). Adlers Beitrag zur Lebenskunst kann darüber hinaus noch weiter gefasst und eine ganze Reihe seiner Konzepte können dazugerechnet werden, die ihn zum Teil mit Nietzsche verbinden, zum Teil aber auch in eine Gegenposition zu ihm bringen, die bei Adler zu Instrumenten für ein humanes Zusammenleben gehören: als »Kompensation« im Sinne einer zielgerichteten Überwindung, als Erweiterung seiner Selbst oder auch als Streben nach »Macht«. Das Schaffen des Selbst versteht Adler als »schöpferischen Akt« durch eine schöpferische Kraft, die dem Einzelnen dazu verhilft, einen »Lebensplan« als Leitlinie in der Gestaltung des Lebens zu entwickeln

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Wille zur Macht, schöpferische Kraft und Lebenskunst

und einen »Lebensstil« zu kreieren. Zu einem befriedigenden, glück­ lichen und bei Adler sozial »nützlichen« Leben kann dies führen, wenn die verschiedenen Bereiche oder (Lebens-)Aufgaben ausgewogen sind, in einer guten Balance oder Kohärenz zueinander stehen, im Zusammenspiel und in der Auseinandersetzung mit den anderen und den kulturellen Erfordernissen oder wenn sie sich von den Fesseln starrer oder verzerrter Fiktionen befreien können. Die betont pädagogischen, aber auch psychotherapeutischen Ansätze Adlers wären dann Anleitungen zu dieser befreienden Lebenskunst, zum guten Leben, das bei Adler nicht individualistisch, sondern nur im Zusammenleben verstanden wird.

Adlers ambivalentes Verhältnis zu Nietzsche Adler wurde oft, bereits zu seinen Lebzeiten, in einen mehr oder weniger engen Zusammenhang zu Nietzsche gebracht, vor allem, weil er den Begriff des »Willens zur Macht« verwandte (vgl. Bruder-Bezzel, 2004a; 2010). Diese Zuordnung wird immer wieder, stolz oder bedauernd, vorgenommen, aber Adler selbst wies dies in seinen späteren Jahren zurück. Er gab allerdings zu diesen Zuschreibungen Veranlassung, indem er Nietzsche verschiedentlich zitierte, ja ihn einmal als eine »ragende Säule« seiner Theorie (Adler, 1913b, S. 123) bezeichnete und vor allem der Dimension der Macht in seiner Theorie einen zentralen Stellenwert einräumte. Darin schien er Nietzsche-Anhänger, aber gerade hinsichtlich des »Willens zur Macht« stand er später Nietzsche kritisch gegenüber. Man musste Nietzsche nicht gelesen haben, um ihn zu kennen, er war bereits vor der Jahrhundertwende in aller Munde. Auch für Adler gehörte Nietzsche zu einem »Jugenderlebnis«, in seinem Fall verbunden mit sozialdemokratischen Studentenverbänden, zusammen mit seinem Freund, dem literarischen Rebellen Franz Blei. Nietzsche-­Begeisterung und -Kult war in breitesten Kreisen zu finden, so auch bei manchen Sozialdemokraten. 95

95 »Nietzscheanischer Sozialismus« um die Zeitschrift »Neue Gesellschaft«, in der auch Adler 1905 publiziert hatte (vgl. Aschheim, 2000, 168 ff., 180).

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Akademisch-wissenschaftlich wurde Adlers Aufmerksamkeit durch den Philosophen Hans Vaihinger (1902, 1911) auf Nietzsche gelenkt. Dessen Begriffe der »Fiktion« und des »Als-Ob« spielten in Adlers Hauptwerk »Über den nervösen Charakter« 1912 eine wichtige Rolle. Es könnte auch sein, dass Adlers Interesse an Freud über Nietzsche vermittelt war, dass er in ihm Nietzsches Spuren (als »Entlarvungspsychologe«) sah und suchte. Mit dieser Auffassung stand Adler in der psychoanalytischen Mittwochgesellschaft keineswegs allein, über Nietzsche wurde dort häufig diskutiert. Freud dagegen neigte dazu, diese Verbindung zu leugnen – darüber gibt es eine breite Literatur (u. a. Gasser, 1997; Gödde, 1999; Bruder-Bezzel, 2004b). Dass Adler Nietzsche selten wörtlich zitiert, Schlagwörter benutzt oder nur sinngemäß auf ihn verweist, ist noch kein Beleg dafür, dass er Nietzsche nicht gelesen hat. Die verschiedenen Bezüge, die Adler zu Nietzsche herstellt, deuten auf genauere Kenntnis, so dass von einer Nietzsche-Lektüre Adlers ausgegangen werden kann. Er bezieht sich auf Gedanken, die aus verschiedenen Nietzsche-Werken stammen, so auf »Geburt der Tragödie«, »Genealogie der Moral«, »Menschliches, Allzumenschliches«, »Ecce Homo«. Auch »Wille zur Macht« in der Ausgabe von 1901 könnte er, wie Kühn (1996, S. 242) vermutet, gelesen haben.

Vier Zeitabschnitte für Adlers Umgang mit Nietzsche 1908–1912: Adler nennt oder zitiert Nietzsche bis 1912 interessiert, aber nur gelegentlich. In der Psychoanalytischen Mittwochgesellschaft, der Adler von Anfang an (1902) angehört, wird sein Interesse an Nietzsche mehrmals deutlich. 1908 – noch ganz Freudianer – meint er, in Nietzsche einen Philosophen zu sehen, der »unserer Denkweise am allernächsten stehe« (Nunberg u. Federn, 1976, S. 336). Nietzsche habe »den Urtrieb unter allen Erscheinungsweisen der Kultur« entdeckt, der dann »in der Kultur eine Umwandlung erfahren hat« (S. 337). Mit »Urtrieb« war wohl bereits hier der »Wille zur Macht« gemeint, den er erst 1912 explizit als Begriff verwendet. Mit »Umwandlung« spricht er zugleich das Thema »Triebschicksal« an, worüber er zu dieser Zeit in seinem Aufsatz »Aggressionstrieb« (1908) selbst schreibt. So scheinen auch die Betonung des Aggressiven, die Annahme eines

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Wille zur Macht, schöpferische Kraft und Lebenskunst

Aggressionstriebs, dann die allmähliche Abkehr von einem biologischen Triebmodell und vor allem der zentrale Begriff der Kompensation als ein Überwinden und Über-sich-hinaus-Wachsen auf einen Einfluss von Nietzsche hinzudeuten. 1912/13: Nach dem Bruch mit Freud (1911) bezieht sich Adler 1912 nun an zentralen Stellen explizit und bekenntnishaft auf Nietzsche – womit er seine Diskrepanz zu und zugleich seine Befreiung von Freud unterstreicht. Gegen Freuds Lust- und Selbsterhaltungstrieb, gegen Freuds »Libido als treibender Kraft« übernimmt er Nietzsches »Willen zur Macht« als »Primärtrieb« und bekennt sich in seinem Hauptwerk »Über den Nervösen Charakter« (1912a) zu ihm. Auch rühmt er Nietzsches »Intuition«, das »starke intuitive Erfassen«, das »Seelenkunde« verlange: »Wenn ich den Namen Nietzsche nenne, so ist eine der ragenden Säulen unserer Kunst enthüllt« (Adler, 1913b, S. 123). 1918–1928: Mit der Einführung des »Gemeinschaftsgefühls« nach dem Ersten Weltkrieg wendet sich Adler offenbar von Nietzsche ab. Er zitiert ihn so gut wie gar nicht mehr. Der Wille zur Macht (als »Grundtrieb«) verschwindet in seiner Sprache. Gemeinschaftsgefühl als Bedürfnis und Fähigkeit des Menschen als soziales Wesen wird zum Gegenspieler des Machtstrebens: Es lenkt und formt die Kompensation in eine soziale Richtung. 1928: Ab 1928 grenzt Adler sich dann ausdrücklich und geradezu aggressiv von Nietzsche ab. Adlers Faszination von Nietzsche ist in Gereiztheit umgeschlagen. Er kritisiert verschärft das Machtstreben, Nietzsches Übermenschen und das Fehlen des Gemeinschaftsgefühls. Es sei ein »Missverständnis«, dass man die Individualpsychologie »in die Nähe Nietzsches versetzt hat« (Adler, 1931c, S. 489). In dieser späteren Zeit aber führt er die Begriffe der »schöpferischen Kraft« und des »Lebensstils« ein, die dann wieder an Nietzsche denken lassen. Adler war sicher von Nietzsche fasziniert und er war von seiner Zeit beeinflusst, die von Nietzsche durchdrungen war. So sind seine Grundgedanken der Kompensation und ihre Ausprägung als Wille zur Macht, auch die schöpferische Kraft als treibende Kraft sicher nicht ohne Nietzsche und ohne den damaligen antipositivistischen, neo­ romantischen Geist denkbar. Andererseits darf der Einfluss Nietzsches auf Adler auch nicht überschätzt werden, nicht nur, weil Adler dies selbst zurückweist, sondern

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weil die Differenzen zwischen beiden beträchtlich sind – bis zur Gegensätzlichkeit in ihrem Menschenbild. Zudem gab es noch andere gesellschaftliche und kulturell-wissenschaftliche Strömungen, die Adlers Denken geprägt haben.

Adlers Konzepte zur Lebenskunst im Vergleich zu Nietzsche Kompensation Adlers Grundgedanke individueller Psychodynamik ist der der Kompensation als zielgerichteter Überwindung von Schwäche und Mangel (»Minderwertigkeitsgefühl«), als Über-sich-Hinausgehen, als Antriebskraft für Entwicklung. Zweifellos ist Nietzsche darin zumindest eine seiner Quellen. Dieses Instrument der Lebensgestaltung steht stets in Gefahr, in Übersteigerung und Erstarrung (Überkompensation) neurotisch zu entgleisen. Lebenskunst, als Mittel gedeihlicher Entwicklung, fordert eine Balance, ein Gleichgewicht zwischen Antrieb und Übersteigerung herzustellen. Kompensation als Überwinden hat ein aggressives Moment, das sich im Machtstreben oder im »männlichen Protest« ausdrückt – als Wunsch, die gesellschaftlich unterlegene Stellung des Weiblichen zu überwinden, als Wunsch, ein Mann sein zu wollen. Bei Adlers Kompensation als Überwindung geht es, im Unterschied zu Nietzsches »Überwinden«, nie um ein Überwinden zu einem Höheren schlechthin und nie um ein Überwinden des Menschen als Gattung, zum Übermenschen. Auch ist Überwinden keine Leistung besonderer Menschen, keine Auszeichnung, sondern die Fähigkeit eines jeden Menschen und sogar eher dann erzwungen, je weiter »unten« sich jemand wähnt. Bei Nietzsche aber ist das Überwinden und Sich-Gestalten eine Auszeichnung, eine besondere Leistung: »Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein« (Nietzsche, SE 1, KSA 1, S. 338). Bei dem kompensatorischen »männlichen Protest« verweist Adler kritisch auf eine Differenz zum Antifeministen Nietzsche: »Die Gleichstellung von Zügen der Unterwerfung mit Weiblichkeit, der Bewälti-

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Wille zur Macht, schöpferische Kraft und Lebenskunst

gung mit Männlichkeit«, sei eine gesellschaftlich herrschende »falsche Analogie«, »die eine ganze Anzahl der feinsten Köpfe – ich nenne nur Schopenhauer, Nietzsche, Moebius, Weininger – mit geistreichen Sophismen zu stützen gesucht haben« (Adler, 1910, S. 119).

Wille zur Macht und Streben nach Vollkommenheit Adler hat 1912 den Begriff des »Willens zur Macht« als Kompensation eingeführt. Natürlich hat er diesen Begriff von Nietzsche übernommen und verweist auch explizit auf ihn. Er unterscheidet dabei zeitweise – mehr oder weniger (un-)deutlich – zwischen Wille zur Macht als »Grundkraft« und als Machtstreben. Wille zur Macht als Grundkraft meint eine unbewusste psychologische Kraft, einen »Grundtrieb« (1908: Urtrieb), der Leben in Bewegung bringt, »ein Streben und Begehren, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind« (Adler, 1912a, S. 62; siehe auch S. 41 f., 67, 74, 91 f.). Wille zur Macht als Machtstreben ist dagegen bei Adler einer radikalen Kritik ausgesetzt. Machtstreben des Einzelnen und in der Gesellschaft ist für ihn aggressiv, zerstörerisch, ein Gift, das »hervorstechendste Übel in der Kultur« (Adler, 1927, S. 75). In übersteigerter Form wird das Machtstreben als krankhaft und krankmachend gesehen und kritisiert. Das Machtstreben ist eng mit sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft, es impliziert eine hierarchische Achse von Oben und Unten und einen sozialen Vergleich. Wille zur Macht erscheint im Sinn von Machtstreben als »Herrschaft und Überlegenheit erstreben« (Adler, 1912a, S. 67), »Verlangen nach ausschließlicher Macht« (S. 125), »Herrschaft gewinnen«, »Kampf­bereitschaft« (S. 213), als Neigung zur Despotie, Machtbegehren, Machtphantasie, Machtgier. Auch die »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls« oder der »männliche Protest« bedeuten, nicht nur über sich hinauswachsen, sondern Macht über andere haben, andere dominieren und erniedrigen wollen. Darin ist Adler als schärfster Kritiker Nietzsches zu sehen – in dem er Nietzsche als Verherrlicher der Macht versteht. In diesem Sinne schreibt Manès Sperber: »Jedenfalls ist der Wille zur Macht, wie Nietzsche ihn auffasste, durchaus verschieden von jenem Machtstreben, dem

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Adler besonders in seiner Neurosenlehre einen großen Platz einräumt […]. Man kann sich kaum etwas Gegensätzlicheres denken« (Sperber, 1971, S. 75 f.). Einmal reklamiert Adler für seine Kritik an Macht und Despotie Dostojewski: »Wer gesehen hat, wie Dostojewski […] alle Phantasien ausströmen lässt in dem einen Begriff: Macht! […] wer in der menschlichen Seele die Neigung zur Despotie so erkannt hat wie Dostojewski, der darf heute noch als unser Lehrer gelten, als den ihn auch Nietzsche gefeiert hat« (Adler, 1918, S. 110). Mit der Einführung des »Gemeinschaftsgefühls« 1918/19 verschärft Adler seine Kritik am Machtstreben, stellt ihm das »Streben nach Vollkommenheit« gegenüber und verbindet es mit einer Kritik an Nietzsches Idee des »Übermenschen«. Dieses Streben nach Vollkommenheit ist Kompensation (oder besser: Überkompensation), die im Einklang mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft stehe. Er betont, »dass jedes Individuum von diesem Streben nach Vollkommenheit erfasst ist […], dass es gar nicht notwendig ist, wie der kühne Versuch Nietzsches gezeigt hat, es erst den Menschen einzuimpfen, dass sie sich zum Übermenschen entwickeln sollen« (Adler, 1933b, S. 552). Adler setzt somit ein generelles, vielleicht gar anthropologisches Streben nach Vollkommenheit in Gegensatz zum individuellen, vereinzelten Streben nach dem Übermenschen, als der »Formel der Selbstüberwindung des Menschen« (Schmid, 1992, S. 199) schlechthin. In den 1930er Jahren polemisiert er gegen den Übermenschen und verbindet ihn mit Nietzsches Krankheit. Das Streben nach dem Übermenschentum ist für Adler das gesteigerte, ja krankhaft egoistische Machtstreben, Streben nach persönlicher Überlegenheit. Das Ziel der »persönlichen Überlegenheit« – bis hin zur »Gottähnlichkeit« – bilde einen »Gegensatz zur Mitarbeit« (Adler, 1933a, S. 79 f.). »In bescheidenerer Form erscheint das Ziel der Gottähnlichkeit in dem Gedanken vom ›Übermenschen‹« (S. 56). Nietzsches Übermensch ist für Adler das Überspannte, Despotische, Elitäre. Ein solcher »Aristokratismus« – der ja für Nietzsche insgesamt charakteristisch ist (vgl. Losurdo, 2009) – steht Adlers Verständnis ganz entgegen.

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Schöpferische Kraft In den 1920er und 1930er Jahren führte Adler, gleichzeitig mit dem Streben nach Vollkommenheit, das Schöpferische, den Begriff der »schöpferischen Kraft« im Menschen ein, den er davor nur gelegentlich ins Spiel gebracht hatte. Und damit sind wir sozusagen im Zentrum einer Lebenskunstlehre – auch der von Nietzsche – angekommen. Adler fokussiert das Schöpferische in einer Zeit, in der er sich schon längst von Nietzsche abgewandt hat. Er hat daher diesen Begriff nie mit dem Namen Nietzsche verknüpft, obgleich gerade der Gedanke des »Schöpferischen« mit Nietzsche verbunden werden kann. Da Adler in dieser Zeit in Amerika lebte, liegt es nahe, das »Schöpferische« mit damaligen amerikanischen Konzepten von Selbstfindung und Selbstproduktion zu verbinden, die ideologisch die Ungebundenheit und Freiheit des Westens ausdrücken. Henry Jacoby sieht diese Affinität und verweist u. a. auf »self-realization« und »improving themselves« (Jacoby, 1974, S. 34). Schöpferisch oder schöpferische Kraft nennt Adler die basale Fähigkeit jedes Menschen, unbewusst aktiv, gestaltend zu sein, sie gehört für ihn zur Grundausstattung des Menschen: »Schon die einfache Wahrnehmung ist nicht objektiver Eindruck oder nur Erlebnis, sondern eine schöpferische Leistung von Vor- und Hintergedanken, bei der die ganze Persönlichkeit in Schwingung ist« (Adler, 1912b, S. 262). Darin kommt sein demokratisches, egalitäres Menschenbild zum Ausdruck, aber auch sein Plädoyer für die Finalität und seine Auffassung von der Dynamik der Persönlichkeit. Mit dem Schöpferischen kommt etwas ins Spiel, das Züge von Freiheit, Unbestimmtheit, nicht Vorhersagbarem, nicht Determiniertem hat. Das Schöpferische ist relativ frei gegenüber den Determinanten von Anlage und Umwelt, aber bewegt sich doch im vorgegebenen Rahmen. Es bleibt ein Rest, der sich nicht deduzieren, ableiten, erklären lässt. Adler lässt Wahrscheinlichkeiten zu, einen spielerischen Umgang auch im Unbewussten: »Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten […]. Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums« (Adler, 1933a, S. 116). Dabei ist nicht gesagt, ob dieser frei gewordene Spielraum segensreich wirkt oder destruktiv gegen sich selbst und andere.

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Schöpferische Kraft ist auch »Lebenskraft«, »die identisch ist mit dem Ich« (Adler, 1932a, S. 518), und das »Ich« ist »eine Gebundenheit […], die sich selbstschöpferisch bildet, unter Gebrauch aller Möglichkeiten« (Adler, 1932b, S. 529). Das Schöpferische oder der schöpferische Lebensstil manifestiert sich in der »subjektiven Einschätzung«, »Meinung«, »persönlichen Auffassung«. »Jeder gestaltet sich in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Sicht der Dinge« (Adler, 1930a, S. 207). Und diese Sicht der Dinge hat sich durch vielfältige Erfahrungen, durch die Auseinandersetzung mit der materialen und kulturellen Umwelt, entwickelt und hat Grundlagen in gewissen »Anlagen«. Anlage und Umwelt mit ihren vielfältigen Instanzen sind ihre »Bausteine«, begrenzen die Freiheit, seines Glückes Schmied zu sein. Das Schöpferische ist es also, was die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Menschen ausmacht, was Adler stets und mit einiger Emphase hervorhebt und was das Subjekt zum »Kunstwerk«, »Bild« erhebt, was es aber andererseits für seine eigene Lebensführung verantwortlich macht. In der Einzigartigkeit des Individuums ist Adler sehr nahe an Nietzsche, der geradezu der Prophet der Einzigartigkeit war, aber – im Kontrast zu Adler – zugleich immer verbunden mit einer Absetzung von jeder Form von Normierung, was Nietzsche zum Verächter der Gemeinschaftlichkeit treibt, die ihm zur Herdenmäßigkeit gerät. Hierzu führt Nietzsche etwas länger aus: »Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist.« Darauf folgt die Anklage: »er weiss es, aber verbirgt es«. Die Menschen »verstecken sich unter Sitten und Meinungen«. Aus Furchtsamkeit und Faulheit werden sie zur »Fabrikware«. Ging es bis dahin um »den Menschen«, dann beginnt er nun zu differenzieren: »Die Künstler allein hassen dieses lässige Einhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen«, oder »der große Denker, [der] die Menschen verachtet«, oder »welcher nicht zur Masse gehören will« (Nietzsche, SE 1, KSA 1, S. 338 f.). Dieses Sich-Absetzen, die Angst vor Selbstverlust, finden wir bei Adler nicht – eher im Gegenteil. Adler verwendet die Idee des Schöpferischen zu seinem Bild der Persönlichkeit als Künstler und Kunstwerk, wie dies auch im Lebenskunstkonzept allgemein aufscheint und bei Nietzsche sehr ausgeprägt zu finden ist. So heißt es bei Adler: »Das Individuum ist sowohl das Bild als auch der Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persön-

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lichkeit« (Adler, 1930a, S. 206). Die Persönlichkeit ist also »Bild«, d. h. Kunstwerk. Sie ist »gemacht«, kunstvoll aufgebaut und als solches ein Unikat, einzigartig. Und die Persönlichkeit ist zugleich selbst der Künstler oder Handwerker dieses Produkts. Die Person schafft sich selbst, erfindet ihre Person, erzählt sich ihre Geschichte, ist Subjekt ihrer Geschichte. Trotzdem ist das Subjekt kein Übermensch, keineswegs fehlerlos oder gottgleich: »als Künstler ist er [der Mensch] weder in der Ausführung unfehlbar noch besitzt er ein umfassendes Verständnis von Seele und Körper« (S. 206). Das hat für die klinische Betrachtung und für den therapeutischen Umgang natürlich besondere Bedeutung: Auch die Neurose und die Symptomwahl sind »konstruktive Leistungen der Psyche« (Adler, 1912a, S. 317), auf Irrtümern oder starren Fiktionen aufgebaut, oder: »Wir werden die Symptomwahl nur verstehen, wenn wir sie als Kunstwerk betrachten« (Adler, 1931b, S. 464 f.), das auf Irrtümern oder starren Fiktionen aufgebaut ist. Wenn die Persönlichkeit und ihre Äußerungen samt ihrer Neurosen Kunstwerke sind, sich nicht nach verallgemeinerbaren Gesetzen herstellen und ableiten lassen, dann ist auch therapeutisches »Verstehen«, die »intuitive Einfühlung« eine »künstlerische Versenkung« und diesem Psychischen angemessen (Adler, 1913a, S. 69). Therapie wie auch »Menschenkenntnis« sind für Adler daher eine Kunst, ein schöpferisches Wechselspiel. Auch hier, zum Leben als Kunstwerk und Künstler seines Lebens sein, finden sich viele Ähnlichkeiten zu Nietzsche, z. B.: »wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst« (Nietzsche, FW 299, KSA 3, S. 538). Die Gestaltung seiner selbst erscheint als Gegenentwurf zu der durch Norm, Moral und Pflicht bestimmten Existenz notwendig (vgl. Schmid, 1992, S. 191) – wobei mit Gegenentwurf wieder das Besondere zum Tragen kommt. Und die aktive und passive Seite in der Menschwerdung wird in einer anderen Formulierung Nietzsches deutlich: »Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint«, wobei hier »Geschöpf« nicht wie bei Adler »Produkt«, »Kunstwerk« meint, sondern etwas Negatives, etwas, »was geformt, gebrochen, geschmiedet […] geläutert werden muss« (Nietzsche, JGB 225, KSA 5, S. 161). Der normierenden Moral, der »Sittlichkeit der Sitte«, stellt er die Selbstkonstituierung gegenüber

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(Schmid, 1992, S. 186). Darin kommt wieder der Aristokratismus zum Vorschein: Nietzsche spricht von den »Besten«, die »ihr Leben nicht in fremde Hände legen, […] sondern […] mit gottgleichem Schaffenswillen als Selbstexperiment führen« (Kersting, 2007, S. 17). Bei Adler hingegen ist das Schöpferische begrenzt durch äußere, vorgegebene kulturelle und materiale Bedingungen (die sich auch in psychologischen Mechanismen niederschlagen), Anlage und Umwelt seien die »Bausteine« des Schöpferischen. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Formulierungen, die diese Basis zu übersehen scheinen. Darauf beruht die Kritik der damaligen marxistischen Anhänger Adlers, wie z. B. Manès Sperber und Henry Jacoby, am Konzept des Schöpferischen, das sie ablehnten: Adler sei zur »irrationalen Willkür der Persönlichkeit« geflüchtet, sei »restlos vom Kausalitätsprinzip abgewichen«, sei »Teleologist«, »Indeterminist« geworden (Sperber, 1932, S. 15 f., 18 f.; vgl. Bruder-Bezzel, 2004a, S. 69). Oder Jacoby meint, »die Idee von der Schöpferkraft des Kindes« widerspreche »der Einsicht in das dialektische Verhältnis von Mensch und Umwelt« (Jacoby, 1974, S. 34). Beide, meine ich, schießen in ihrer Kritik übers Ziel hinaus. Im Vergleich dazu scheint Nietzsches »Selbsterfindungspathos« (Kersting, 2007, S. 18) noch weit mehr von einer fiktiven Autonomie getragen zu sein. Eine von vielen Stellen dazu: »Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten, folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben« (Nietzsche SE, KSA 1, S. 339). Dieses »Wollen« drückt bei Nietzsche wohl eher den Glauben an eine »bedingungslose Autonomie« aus (Gödde u. Loukidelis, 2014, S. 93), die damit nicht nur die realen Grundlagen nicht einbezieht, sondern auch das Unbewusste nicht kennt, das doch die Ebene ist, aus der heraus wir vornehmlich handeln, und wodurch das »Ich« nach Freud nicht souverän ist, sondern zum »dummen August« wird. Gödde und Loukidelis heben an dieser Stelle den »appellativen Charakter« des Textes hervor, »anzuspornen«, den »Spielraum der Selbstgestaltung zu benutzen« (Gödde u. Loukidelis, 2014, S. 93). Dagegen gehört bei Kersting, auch bei Heidbrink (2007), diese Autonomie­ illusion, wie sie sich dann auch in den neuen, neoliberalen »Selbst­ management«-Versprechungen finden, zu den Einwänden gegen Nietzsche und gegen Lebenskunst.

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Lebensstil Aus den wiederholten Erfahrungen im Leben und den daraus geformten Meinungen bildet sich das, was Adler den Lebensstil nennt. Lebensstil ist ein »Schema«, ein »Bewegungsgesetz« des Lebens, ist »Aktionslinie«, »Melodie«, in der alle Äußerungen und Charakterzüge zusammengefasst sind. Lebensstil meint die charakteristische, »immer wiederholte Art, wie einer sich […] den Fragen des Lebens gegenüber benimmt« (Adler, 1930b, S. 358); er enthält die »Meinung« über sich und die »Welt« (vgl. Bruder-Bezzel, 1999, S. 196 ff.). So ist es nicht verwunderlich, dass Adler Lebensstil sowohl mit dem »Ich« (Adler, 1935, S. 72) als auch mit dem »Unbewussten« gleichsetzt: »Das Unbewusste, das ist der Lebensstil« (Adler, 1930b, S. 369). Lebensstil ist eine Abstraktion von der Vielfalt der konkreten Erlebnisse und eine Generalisierung. Darin liegt die Verbindung zur Herausbildung eines ästhetischen Stils, worauf Adler selbst hingewiesen hat (Adler, 1930b, S. 358). Lebensstil ist Produkt der schöpferischen Kraft, ist das Werk des »Künstlers« Individuum. Der Lebensstil hat die Einflüsse und Erfahrungen in schöpferischer Weise verarbeitet, er ist die Antwort, die Stellungnahme auf die – physische oder psychologische – Realität, steht auf der Grundlage und in Abhängigkeit von bestimmten Umweltbedingungen. Damit aber ist der schöpferischen Kraft eine Grenze gesetzt, nun durch den Lebensstil. Der Lebensstil wird nach Adler frühzeitig festgelegt und beeinflusst, prägt alle weiteren Erfahrungen, er hat einen statischen Zug, er ist »der Kritik, auch der Kritik der Erfahrung entzogen« (Adler, 1933a, S. 25). Der »schöpferische Geist« wird »in die Bahn des kindlichen Lebensstils gezwängt« (S. 26). Das geschieht Adlers Meinung nach im Laufe der Entwicklung bereits im Alter von etwa drei bis fünf Jahren, was etwa Freuds Vorstellung vom frühkindlichen Entwicklungsabschluss entspricht. Die »freie« schöpferische Kraft »in der ersten Kindheit« wird zur »gebundenen Kraft«, also determinierend, »sobald das Kind sich ein festes Bewegungsgesetz für sein Leben gegeben hat« (S. 25). Nietzsche kann auch in der Frage des Lebensstils für Adler anregend gewesen sein. Allerdings waren in den 1920er Jahren, als Adler diesen Begriff einführte, Lebensstil und Stilisierung des Lebens auch

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mit der Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existentialphilosophie, Soziologie und u. a. mit den Namen Dilthey und Simmel verbunden (vgl. Bruder-Bezzel, 1999, S. 198 ff.). Wenn Nietzsche schreibt, »Eins ist Noth. Seinem Charakter Stil geben – eine große und seltene Kunst« (Nietzsche, FW 290, KSA 3, S. 530), umschreibt er die Art der Selbstkonstituierung des Subjekts oder auch das, was Foucault die »Ästhetik der Existenz« nennt, »die vom Subjekt erwartet, sein Leben als Kunstwerk zu gestalten« (Kersting, 2007, S. 22). Günter Gödde und Jörg Zirfas heben mit der »Stilisierung« Fähigkeiten und Fertigkeiten hervor, deren Zusammenspiel ein befriedigendes Leben garantiert (Gödde u. Zirfas, 2014, S. 35). Wiederum aber gilt die Fähigkeit zur Stilisierung bei Nietzsche nicht für alle, sondern ist eine Aufforderung an Einzelne, an eine Elite: »Starke Naturen suchen sich zu stilisieren« (zit. nach Schmid, 1992, S. 191) – es ist ja eine »große Kunst«, während Lebensstil bei Adler wiederum eine Fähigkeit für alle ist, und auch kein »Gegenentwurf zur normierten Moral«, wie dies für Nietzsche zutrifft.

Lebensaufgaben im gemeinschaftlichen Zusammenhang Lebensaufgaben sind bei Adler Bereiche des Lebens, mit denen sich jeder Mensch auseinandersetzen muss und an denen sich der Lebensstil, die Art des Umgangs, als Fähigkeit oder Unfähigkeit der Lebensbewältigung zeigt. Es sind die Herausforderungen, die dem Leben eine Gestalt, vielleicht einen Sinn geben, an denen sich die Lebenskunst erweist. Adler spricht von drei Lebensaufgaben, nämlich Arbeit, Gemeinschaft/Freundschaft und Liebe/Ehe. Er nennt dies auch »die drei Bindungen« und fügt hinzu, »dass keine Aufgabe […] für sich allein gelöst werden« kann (Adler, 1931a, S. 188). In einem gelungenen Leben würden sie in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander und stets in einem sozialen Kontext stehen, nie nur individuell zu bewältigen sein. Rainer Lemm-Hackenberg (2013), der die Adler’schen Lebensaufgaben mit Lebenskunst verbindet, erweitert die Lebensaufgaben auf acht und bezieht sich darin auch auf Adler. Zu den drei Aufgaben kämen dann noch: Kunst und schöpferische Gestaltung, Individuation, Sorge um das leibliche Wohl, Hingabe und Berufung und Lebens­

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zyklus. Dies führt Lemm-Hackenberg einfühlsam aus. »Lebenskunst« sei demnach die gute Bewältigung dieser Lebens- oder Entwicklungsaufgaben oder mit Wilhelm Schmid, den Lemm-Hackenberg zitiert, die »fortwährende Gestaltung des Lebens und des Selbst«, die letztlich den »Sinn« des Lebens verleiht (Schmid, 1998, S. 71 f.; Lemm-­ Hackenberg, 2013, S. 171). Diese Lebensaufgaben erinnern stark an Kerstings vier »Großbereiche« menschlicher Interessen und Bedürfnisse, von deren Bewältigung die »Lebenskönnerschaft« abhängt: nämlich: 1. Gesundheit, 2. materielle Interessen (Konsum, Besitz), 3. soziale Interessen/Bedürfnisse und 4. Bedürfnis nach Sinn (Kersting, 2007, S. 39 f.). Auch Kersting betont, dass gelingendes Leben oder eine »Lebenskönnerschaft« (S. 38) ein ausgewogenes Maß, eine Balance, erfordert, »hinreichende Berücksichtigung aller Interessenregionen« (S. 41), keine »Verabsolutierung der einen Interessensphäre zu Lasten der andern« (S. 40). Für die Adler’sche Psychologie, alle seine Konzepte, die die Haltung und Ableitung zu einer Lebenskunst ausmachen, ist spezifisch, dass er nicht ohne seine Vorstellung vom zutiefst sozialen Wesen des Menschen und aller damit verbundenen Folgen auskommen kann. Das drückt er im Begriff »Gemeinschaft« oder »Gemeinschaftsgefühl« aus, und Gemeinschaft war ja auch eine seiner von ihm herausgestellten drei Lebensaufgaben – aber alle drei haben einen sozialen Bezug. Gemeinschaftsgefühl, Mensch als soziales Wesen, meint prinzipiell, dass wir, unser Denken, Fühlen, Sprechen etc., von sozialen Zusammenhängen geprägt sind, dass wir auf sie angewiesen bleiben und sogar ein Bedürfnis nach ihnen haben. Gemeinschaftsgefühl oder soziales Interesse gilt als Fähigkeit, als Disposition zu sozialem Verhalten, zu Zugehörigkeit, Kooperation, Mitarbeit, zu Rücksichtnahme und Gleichrangigkeit aller, als egalitäres, demokratisches Ideal, aber auch als Zwang und Forderung, Gemeinschaftsregeln zu erfüllen. Ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl zu haben, gilt für Adler als Zeichen der seelischen Gesundheit, Mangel an Gemeinschaftsgefühl als Zeichen neurotischer Entwicklung. Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl gehören also zu der Vorstellung eines guten, sinnvollen, »nützlichen« Lebens und somit zur Lebenskunst. Auch für Kersting gehört, wie wir gesehen haben, ein soziales Bedürfnis zu den elementaren Bedürfnissen, und dies ist auch der

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Ansatz seiner Kritik der Lebenskunst: »wir haben auch soziale Bedürfnisse, wir wollen geliebt werden und anerkannt werden, wir wollen Gemeinsamkeit mit anderen erleben. Wir benötigen die anderen, um uns in ihnen zu erkennen, um aus ihrer Wertschätzung Selbstwert­gefühl zu gewinnen« (Kersting, 2007, S. 40). Adler wird – nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, affirmativ, angepasst, ja geradezu naiv den gesellschaftlichen Forderungen gegenüber gewesen zu sein, dass er die Gesellschaft über das Individuum stelle, die Notwendigkeit der Individuation nicht würdige und das Individuum leicht in Ungnade falle, wie dies u. a. auch Lemm-Hackenberg (2013, S. 174,176; ähnlich Gstach, 2016; vgl. dagegen Kluge, 2016; ­Bruder-Bezzel, 2017) bedauert. Dagegen ist allerdings noch einmal daran zu erinnern, dass das Individuum bei Adler gerade als einzigartig, schöpferisch-selbst­ bewusst, in einem dialektischen Verhältnis zu seiner sozialen Verwobenheit, gezeichnet wird. Zudem ist Adlers Gemeinschaftsbegriff aus einer Kritik an der kriegerischen und wettbewerbszentrierten, entfremdenden kapitalistischen Gesellschaft heraus entstanden, der gegenüber ein emanzipatorisches, unabgegoltenes Bedürfnis nach solidarischen, gleichwertigen Beziehungen einzuklagen sei. In dieser Frage ist Adler auf jeden Fall nicht Nietzscheaner, sondern Antinietzscheaner. Zutiefst lehnt dieser jeden positiven Bezug zu einer sozialpsychologischen Orientierung ab, als Niederung, als zu verach­ tendes Herdentum. Aus seinem antidemokratischen Aristokratismus schöpft Nietzsche allerdings seine sehr feine, treffende und stechende Kritik an der Normierung, Kleinstädterei etc. (vgl. Nietzsche, SE 1, KSA 1, S. 339), lastet dies allerdings dem Einzelnen an statt der gesellschaftlichen Repression. Steht Adler mit seinem sozialpsychologischen, sozialen Blick auch im Gegensatz zum Konzept Lebenskunst insgesamt, wie man mit Kersting vermuten könnte? Soweit ich das richtig sehe, ist »Lebenskunst« in der Tat heute in aller Regel individualistisch, vielleicht sogar solipsistisch angelegt. Geht es nicht ständig um das Selbst, um Selbstgestaltung, Selbstentwurf und Selbstverwirklichung? Einen kulturellen, gesellschaftlichen Kontext scheint es hier nicht zu geben, und wenn, dann nur als Hindernis und Barriere. Liegt hierin nicht gerade ein Web-

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fehler dieses Konzepts und der Grund für Illusionen und Ideologien, die dem Muster neoliberalen Versprechens folgen? Das Soziale ist für Kersting der Ansatz seiner Kritik der Lebenskunst. Er schreibt hierzu ernüchtert: »Wir leben in einem dichten Netz von Abhängigkeiten. Der demiurgische Ausweg in die Freiheit der Selbsterschaffung ist nicht in Sicht. Wir haben lediglich einen Spielraum, den wir für eudaimonistische Verbesserungsreparaturen nutzen können« (Kersting, 2007, S. 38). Und weiter entschieden: »All die Selbstbestimmungseuphemismen, mit denen die individualis­ tische Gegenwarts­gesellschaft sich selbst feiert, sind zurückzuweisen« (S. 37 f.); und man könnte ergänzen, diese Verheißungen der Selbstverwirklichung etc. sind blind, verleugnen die Zwänge, die Vorgaben, die Entfremdungen, sie sind oft nichts anderes, als glücklich darüber zu sein, die Unterdrückung in eigene Regie genommen zu haben: Freuds »dummer August«. Von dieser Sicht her können wir dann die weitere Frage stellen, ob es bei Adler überhaupt um Lebenskunst geht oder um Moral, wie dies Kersting unterschieden hat. Die Lebenskunst erzählt, beschreibt, rät, es gehe in ihr um das einzelne Individuum, um Einmaligkeit der Lebensführung. Dagegen gehe es bei der Moral um den Allgemeinheitsmenschen, um Verwirklichung von Grundsätzen, der Einzelne soll wie jeder sein (S. 10 f.). Schauen wir uns Adler an, dann sehen wir sehr viel, was eher auf Moral als auf Lebenskunst verweist – was Adler auch immer wieder vorgeworfen wird. Andererseits betont er ja immer wieder die Einzigartigkeit, Einmaligkeit und Einheit/Ganzheit des Individuums, auch die nicht kausale Determinierung, das freie Schöpferische. Wenn wir allerdings Adlers Begriff von »Individuum« nehmen, wie ihn Adler von Virchow ableitet und wie er im Begriff »Individualpsychologie« verstanden werden will, wird klar, dass Individuum bei Adler immer schon gesehen wird als im Verband, als »eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken« und in der sich der Mensch »zu einer planvoll gerichteten, einheitlichen Persönlichkeit« aufbaut (Adler, 1912a, S. 29). Dieses »Zusammenwirken« soll für Adler zu einem guten gemeinsamen, solidarischen Leben führen. Lebenskunst ist für Adler nur als soziales Ereignis und Ergebnis denkbar.

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Bildnachweis

Leider konnten trotz intensiver Bemühungen nicht alle Rechteinhaber der im Buch wiedergegebenen Fotografien ausfindig gemacht werden. Wir bitten daher darum, berechtigte Ansprüche an den Verlag zu richten. Albert Ehrenstein (S. 14) Albert Ehrenstein, Werke. Aufsätze und Essays. Hrsg. v. H. Mittelmann. Bd. 5. Göttingen: Wallstein, 2004

Franz Blei (S. 20) Blei, F. (1930). Erzählung eines Lebens. Leipzig: List.

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Personenregister

A Abraham, Karl 86, 91 Adler, Max 191 f., 198, 200, 206, 209 Adler, Paul 153 Adorno, Theodor W. 15 Allers, Rudolf 124, 128, 193 Altenberg, Peter 18 Angerstein, Fritz 159 f. Anton, Gabriel 169, 176 Aschheim, Steven E. 176, 242 B Bach, David Josef 11, 59 Bachofen, Johann Jakob 54 Balzac, Honoré de 143 Bauer, Otto 149 Beil, Ada 201–204, 217 f. Benz, Wolfgang 152 Berger, Alfred 5, 9, 65–83, 130 Bergner, Elisabeth 17, 23, 30, 38 Bernfeld, Siegfried 37 Birnbaum, Ferdinand 197, 201, 203 Birstein, J. 60, 178 Blei, Franz 11 f., 17, 20, 22, 24 f., 30, 106, 108 f., 131, 153, 242 Bloch, Ernst 31, 153 Boeters, Gustav 157 f. Böhringer, Hannes 191 Bölsche, Wilhelm 27 Bonhoeffer, Karl 90 Bottome, Phyllis 38, 86, 91, 96 Brentano, Franz 201 Broch, Hermann 107, 153 Brod, Max 15, 30 Bruder, Klaus-Jürgen 166, 188, 223, 238, 262 Bruder-Bezzel, Almuth 3, 13, 20, 26, 59, 88, 91, 94, 102, 110–112, 119,

122, 128, 176 f., 184, 186, 191, 201 f., 216 f., 219 f., 223, 242 f., 251– 253, 255 Buber, Martin 30 C Charlot Strasser 12, 17, 22, 24 f., 27, 92, 107, 134 Claudel, Paul 153 Cohn, Edith 219 Cremerius, Johannes 42, 45, 47 f., 75, 77 D Dilthey, Wilhelm 196, 199, 201 f., 253 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 24, 65 f., 106, 129–143, 247 Driesch, Hans 201 Dvorak, Josef 170, 188 E Ehrenstein, Albert 5, 9, 11–40, 92 Ehrenstein, Carl 12, 16, 24, 35, 37 Einstein, Carl 153 Eisenhauer, Gregor 107 f., 153 Ellenberger, Henry 86–88 Erdheim, Mario 49, 75, 225 F Falzeder, Ernst 46 Fantl, Grete 173 f. Federn, Ernst 44, 49, 52, 54, 56–58, 186, 243 Ferenczi, Sándor 43, 45, 47–51, 55–61, 91, 116 Fischer-Homberger, Esther 89 f. Fischl, Paul 205 Flake, Otto 153

266Personenregister Flaubert, Gustave 106, 130, 134 f. Forel, Auguste 18, 157 f. Foucault, Michel 241, 253, 258 f. Fräfel, Peter 130, 134 Frank, Leonhard 150 Freistadt, Else 112 f., 128 Freschl, Robert 60, 146, 203 f. Freud, Sigmund 7 f., 11 f., 16, 18 f., 26, 32 f., 41–52, 54–62, 68 f., 71 f., 74, 81, 86, 91, 96, 116 f., 119, 129, 132, 169–172, 175–179, 181, 183, 185 f., 208, 224, 229 f., 237, 241, 243 f., 251 f., 256 Friedell, Egon 144 Furtmüller, Carl 60, 86 f., 91, 97, 130, 132, 195, 201, 205, 257 G Gasser, Reinhard 243 Gay, Peter 46 Gemelli, Agostino 117 Gide, André 227 Gödde, Günter 243, 251, 253 Goddemeier, Christoph 116 Gogol, Nikolai Waassiljewitsch 105, 130–135 Goll, Ivan 30 Götz von Olenhusen, Albrecht 174 Graml, Hermann 152 Gröner, Horst 83 Gross, Otto 5, 9, 12, 28, 47 f., 60, 107, 109, 118, 149 f., 169–187 Großmann, Carl 164 Großmann, Stefan 32, 155, 163, 167 f. Gstach, Johannes 255 H Hamann, Richard 15 Handlbauer, Bernd 44, 59, 64 Hannen, Hans-Wilhelm 97 Hansen, Christiane 132 Hardekopf, Ferdinand 22 Haug, Wolfgang 27 f., 174 Hegner, Jakob 153 Heidbrink, Ludger 251 Heinrich, Daniel 25 f., 40 Hermand, Jost 15, 27 Hesse, Hermann 15, 36 f. Heuer, Gottfried 170 Hiller, Kurt 15, 20 f.

Hilmes, Oliver 18 Hinrichsen, Otto 60, 117 f. Hitschmann, Eduard 44, 116 Hodis, Jakob van 20 Hoefele, Joachim Bernd 130 Hofeneder, Veronika 112 Hofer, Hans-Georg 89–91, 96 Hoffman, Edward 86 ff., 99, 104, 167 Horvat, Adele 199, 201 Hurwitz, Emanuel 150, 170, 172 Hye, Franz 59 J Jacoby, Henry 111, 113, 224, 235 f., 248, 251 Jahrmärker, Maximilian 159 Jaspers, Karl 144, 201 f. Jung, Carl Gustav 57, 63 f., 121, 169, 171 Jung, Franz 47, 150, 171 f., 174, 178, 189 K Kafka, Franz 136 Karpeles, Benno 95, 138 Kaus, Gina 12, 17, 101 f., 104 f., 107 ff., 114, 136, 147, 152–154, 167 f., 173 Kaus, Otto 9 f., 12, 17, 22, 25, 60, 65, 101–168, 173, 191, 197 f. Kaus, Peter 109 Kautsky, Karl 150 Kerr, Alfred 15, 51 Kersten, Kurt 142 Kersting, Wolfgang 241, 251, 253–256 Keyserling, Hermann Graf von 121 Kisch, Egon 107 Klee, Ernst 159 Klopfer, Bruno 194 Kluge, Sven 255, 259 Kokoschka, Oskar 9, 11, 14 f., 17–19, 32 Korrodi, Eduard 25 Kraus, Karl 15, 18, 22 Kraus, Oskar 201, 210 Krausz, Erwin 195, 202, 207 Krell, Max 22 Krenek, Ernst 18 Kretschmer, Ernst 90, 164 Kretschmer, Wilhelm 105, 115, 167 Kronfeld, Arthur 20, 128, 191–196, 199, 201–204, 206 f.

Personenregister267 Krutch, Joseph Wood 35 Kühn, Rolf 243 Külpe, Oswald 85 Kümmel, Ulrich 92, 124, 128 Kun, Béla 24, 37 Künkel, Fritz 101 f., 110 f., 114, 120 f., 124, 128 f., 163 f., 167, 193, 209 ff., 214, 216 ff., 238 Künkel, Ruth 110, 216, 219 L Lampl, Fritz 29 Landauer, Gustav 27 f., 173 Lasker-Schüler, Else 19 Lehmbruck, Wilhelm 24 Lemm-Hackenberg, Rainer 241, 253– 255 Leopold, Nathan 156 Levi, Paul 109, 151 f., 225 Levy, Alfred 29 f., 124 Loeb, Michael 156 Losurdo, Dominic 247 Loukidelis, Nikolaos 251 Lowitzer-Hönig, Else 18 M Maday, Stefan 59 f. Manasse, Rudolf 153, 174 Mann, Heinrich 15, 106 Mann, Thomas 15, 106, 121 Marian, Esther 230 Marx, Karl 76, 150, 230 Matthias, Leo 141, 160 f., 167 May, Karl 31 Meier-Graefe, Julius 136, 141–143, 161 Mentzos, Stavros 80 Mereschkowski, Dmitri Sergejewitsch 130, 137 Messer, August 206 Mittelmann, Hanni 14–16, 18–20, 22, 24, 29, 32 Moebius, Paul Julius 146, 246 Moreno, Jacob Levy 23, 29 f. Morris, Marketa 174 Morris, Rudolph 174 Mühlleitner, Elke 59, 116, 170 Mühsam, Erich 27, 47, 150, 174 Müller-Main, Otto 193, 197, 217, 219 Musil, Robert 107, 153

N Neuer, Alexander 20, 36, 191, 193–197, 199, 201 f., 206, 217 Neufeld, Johann 142 Neumann, Johannes 122 Nietzsche, Friedrich 5, 8, 12, 82, 141, 144, 146, 160, 175–177, 179, 181, 187, 191 f., 201, 203 f., 229, 241–256 Nitzschke, Bernd 181 Nunberg, Heinrich 44, 49, 52, 54, 56–58, 186, 243 P Pannekoek, Anton 151 Patka, Marcus 226 Pestalozzi, Johann Heinrich 125 f. Pfemfert, Franz 15, 174 Pinthus, Kurt 13 f., 38 Poe, Edgar Allan 33, 35 Polak, Elise 143 R Radek, Karl 37, 152 Rank, Otto 47, 115 f. Rattner, Josef 130, 134, 235 Raub, Michael 175 Reitler, Rudolf 44, 57, 60 Rickert, Heinrich 195 f. Riedesser, Peter 89 f. Ringer, Fritz 192, 194 Rohrwasser, Michael 227 Roth, Karl Heinz 89 Roux, Wilhelm 201 Rowohlt, Ernst 32, 155 Rubiner, Ludwig 9, 12, 17, 22, 26–28, 30, 173 f. Rühle, Otto 110 Rühle-Gerstel, Alice 174, 191, 193, 198, 217 f., 236 S Sarfert, Hans-Jürgen 153 Scheer, Peter 214 f. Scheler, Max 153 Schickele, René 22 Schiesser, Hans Rudolf 214, 217, 220 Schiferer, Rüdiger 17, 24–26, 29 f., 37 f., 86–88, 118 Schimmer, Leopold 65 f., 130, 146 Schmid, Alexander 136, 168

268Personenregister Schmid, Wilhelm 241, 247, 250 f., 253 f. Schmidt, Rainer 134, 226, 236 Schmitt, Carl 153 Schmückle, Karl 37 Schnitzler, Arthur 15 f., 24, 69, 129 Schopenhauer, Arthur 12, 146, 204, 246 Schrecker, Paul 12, 60, 107, 109, 196 Schrögendorfer, Konrad 66–69 Schröter, Michael 55 Schulhof, Hedwig 130, 146, 204 Schwarz, Oswald 123 f., 128 Seelbach, Hans 202 Seidel, Uli 30 Seif, Leonhard 102 Siebenhüner, Sabine 216 Siemsen, Anna 158 Siemsen, Hans 15, 157 f., 163, 168 Simmel, Ernst 91, 99 Simmel, Georg 196, 253 Sinonwjew, Gregori 152 Sonnenschein, Hugo 29 Spengler, Oswald 143 Sperber, Manès 5, 9 f., 78 f., 82, 110 f., 128, 133 f., 147, 191, 193, 196, 198, 201, 209, 213–237, 246 f., 251 Spielrein, Sabine 178 Spranger, Eduard 85, 201 f. Springer, Alfred 172, 175, 178 Stancic, Mirjana 213 f., 216–218, 226– 228, 235 f. Stein, Benno 201 Stekel, Wilhelm 9, 31, 42, 47 f., 57–60, 66, 71, 106, 114–116, 170, 178 Sternberg, Erich 203 Stern, William 85, 191, 201–203 Strasser, Charlot 12, 17, 22, 24–27, 92 f., 107, 134 Strasser-Eppelbaum, Vera 25 Strindberg, August 129–131, 135, 143– 147, 154 T Taub, Rena 134 Tausk, Victor 44, 116

Titze, Michael 191 Tolstoi, Leo 130–132, 134, 138, 143 Trakl, Georg 19, 21 f. U Uehli-Stauffer, Beatrice 112 f. V Vaihinger, Hans 243, 259 Verderber, Axel 89 f. Vetsch-Padrutt, Maria 112 Vogelsänger, Peter 128, 191 W Wagner-Jauregg, Julius 17, 32, 113 Wahl, Pit 168 Weber, Max 193, 199 Webern, Anton von 11, 40 Weininger, Otto 55, 146, 246 Weiß, Ernst 30 Wengler, Bernd 11 Werfel, Franz 17 f., 24–26, 29 f., 107, 150, 153 Wexberg, Erwin 92, 101, 103, 112, 128, 191, 193, 197, 199–203, 205, 209, 217 Wiesse, Jörg 42 Windelband, Wilhelm 195 f. Wirth, Hans-Jürgen 75, 80 Wittels, Fritz 44, 46, 48, 54 Wolfenstein, Alfred 153 Wolf, Siegbert 173 Wolff, Kurt 26, 29 Worbs, Michael 68, 129 Wronski, Sidonie 217 Z Zaretzky, Eli 48 Zilahi-Beke, Agnes 199 Zirfas, Jörg 253 Zirner, Gina 22 Zuckmayer, Carl 15 Zweig, Stefan 14, 19, 24, 37