Zwischen der kleinen und der großen Welt: Ein gemeinsames Leben im 20. Jahrhundert 9783205115571, 3205773578, 9783205773573

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Zwischen der kleinen und der großen Welt: Ein gemeinsames Leben im 20. Jahrhundert
 9783205115571, 3205773578, 9783205773573

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bôhlau

Damit es nicht verlorengeht 55 Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben von Gert Dressel, Peter Eigner, Christa Hämmerle, Peter Paul Kloß, Nikola Langreiter, Michael Mitterauer und Günter Müller.

Alice Teichova & Mikuläs Teich

Zwischen der kleinen lind der großen Welt Ein gemeinsames Leben im 20. Jahrhundert Bearbeitet von Gert Dressel und Michaela Reischitz

BÖHLAU VERLAG WIEN • KÖLN • WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, den Magistrat der Stadt Wien, MA 7 Kultur, Wissenschafts- und Forschungsförderung.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnähme Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dbb.de abrufbar.

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Die Fotos stammen aus dem Privatbesitz der Autorin und des Autors sowie ihrer Angehörigen.

©2005 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. & Co.KG., Wien • Köln • Weimar www.boehlau.at www.boehlau.de ISBN 3-205-77357-8

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier.

Satz: KLOSSSATZ, 2 5 6 5 N e u h a u s / T r i e s t i n g

Druck: Imprint, Ljubljana, Slowenien

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

ALICE:

7

Kindheit und Jugend im Wien

15

MiKULÄi: Kindheit und Jugend in der Slowakei . . . . ALICE:

Emigration nach England

MIKULÄS:

51

Emigration nach England

57

In der englischen Emigration Prag 1946 bis 1948 - Der Kampf um die Macht

35

69 . . . .

85

(Gesellschaftlicher Wandel in der Tschechoslowakei in ein paar Facetten

103

Prag in den 1950er Jahren - Leben und Arbeiten in der Willkür

111

Tschechisch-deutsche Verständigungen

127

Prager Frühling 1968

147

Niederschlagung umd Emde des Prager Frühlings . . .

163

Neuamfamg in Cambridge und Oxford

179

In Pension und doch nicht im Pemsiom

203

Epilog

229

(Glossar

235

5

Vorwort „Damit es nicht verlorengeht..." - Als vor mehr als zwanzig Jahren diese Buchreihe begründet wurde, war einigermaßen klar, welche Geschichten nicht verloren gehen dürften: nämlich die Lebensgeschichten von Bäuerinnen und Bauern, Mägden und Knechten, städtischen und ländlichen Arbeiterinnen und Arbeitern - kurz gesagt, von all jenen, die von der professionellen Geschichtswissenschaft bis dato weitgehend ignoriert worden waren. Insofern fällt der hier vorliegende Band im wahrsten Sinne des Wortes aus der Reihe. Stehen doch zwei Angehörige der geschichtswissenschaftlichen Zunft selbst im Mittelpunkt. Nun hat sich allerdings die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für eine so genannte „Geschichte von unten" in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr gewandelt. Den (historischen) Alltag und die Lebenswelten von mehr oder weniger unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen zu erforschen, die Betroffenen selbst über ihr Leben erzählen oder schreiben zu lassen, ist heute weit weniger spektakulär als noch in den 1980er Jahren. Dass Mägde und Knechte, Arbeiterinnen und Arbeiter eine Geschichte haben, dass sie - wie auch immer - in der Geschichte einer Gesellschaft ihren Platz haben, wird inzwischen selbst von der traditionellen Geschichtsschreibung anerkannt. Das gesellschaftliche bzw. öffentliche Interesse an „Geschichte(n) von unten" ist ohnehin vorhanden. Das unterstreichen nicht zuletzt die Verkaufszahlen einiger Bände dieser Reihe. Vor diesem Hintergrund macht es vielleicht Sinn, sich auch einmal den Lebenswelten und Lebenserinnerungen von sozialen Gruppen zuzuwenden, deren Angehörige sich zwar schon seit Jahrzehnten immer wieder einmal autobiografisch geäußert haben. Aus solchen Memoiren ist allerdings wenig darüber zu erfahren, wie denn die „kleine Welt" des eigenen Lebens und Alltags mit der „großen Welt" der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturel7

len Ereignisse und Strukturen einer Zeit zusammenhängen könnte. Gerade Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind eine Gruppe, die zwar über das Leben (im weitesten Sinne) anderer schreibt, aber wenig über sich selbst. „Von uns selbst schweigen wir", hat der deutsche Soziologe Martin Kohli einmal einen Aufsatz über Lebenserinnerungen von Wissenschaftlern übertitelt.1 In diesem Band erinnern sich also eine Historikerin und ein Historiker: Alice Teichova und Mikulás Teich. Sie erinnern sich an ihre jeweils mittlerweile fast neun Lebensjahrzehnte. Ihre Erinnerungen und ihre Biografíen werden in mehrfacher Hinsicht dem Titel der Reihe „Damit es nicht verlorengeht..." gerecht: Zwar bleibt das mitteleuropäische jüdische Milieu, von dem beide geprägt wurden, seit dem Terror des Nationalsozialismus für immer verloren; es wird aber in den Erinnerungen von Alice Teichova und Mikulás Teich noch einmal als historisch bedeutendes Phänomen lebendig. Ebenso verloren - unter anderem seit der Niederschlagung des Prager Frühlings - scheint ein von beiden repräsentiertes „marxistisch orientiertes Milieu", das an eine gerechtere Gesellschaft, als es der Kapitalismus ist, an einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" glaubte und sich dafür engagierte. Schließlich sollte nicht verloren gehen, was Alice Teichova und Mikulás Teich in besonderer Weise verkörpern: ein inzwischen 65-jähriges Zusammensein und gemeinsames Agieren in den Hoffnungen und Idealen, den Enttäuschungen und Verletzungen, den Brüchen, Neuanfängen und Brutalitäten des 20. Jahrhunderts. Übrigens: Dass eine Wissenschaftlerin und ein Wissenschaftler als Ehepaar einander über einen so langen Zeitraum inspirieren und ergänzen, ist ein eher selten anzutreffendes Phänomen. In einem weiteren Punkt scheinen die Erinnerungen von Alice Teichova und Mikulás Teich aus der (Buch-)Reihe zu fallen. Die meisten Bände von „Damit es nicht verlorengeht . . . " beruhen auf von den Autorinnen und Autoren selbst verfassten lebensgeschichtlichen Erinnerungen. Die biogra1 Kohli, Martin: „Von uns selbst schweigen wir". Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichte, in: Lepenies, Wolf (Hg.): Geschichte und Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. Bd. 1. Frankfurt am Main 1981, 428-465.

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fischen Erinnerungen des Ehepaars Teich dagegen basieren auf zahlreichen Interviews bzw. Gesprächen, die ich zwischen September 2001 und Januar 2005 mit ihnen vor allem in Wien und in deutscher Sprache geführt habe. Das bedarf einiger Erklärungen - zum Beispiel: Warum ist es dazu gekommen? Alice und Mikuläs hatten schon 1997 in der Festschrift zum 60. Geburtstag von Michael Mitterauer eine autobiografische Skizze über ihr Leben bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs publiziert.2 Daraufhin wollten einige Kolleginnen und Kollegen sie ermuntern, doch weiterzuschreiben. Allein - beide sind ja bis heute in zahlreichen wissenschaftlichen Unternehmungen dabei - es fehlte ihnen die Zeit. Ende der 1990er Jahre schließlich begann ich gemeinsam mit Nikola Langreiter an einem Forschungsprojekt zu arbeiten, in dem wir Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler biografisch interviewten. So fragte mich Michael Mitterauer, ob ich nicht auch „die Teichs" interviewen wolle. Obwohl ich beide nur vom Namen her kannte, sagte ich zu. Alice und Mikuläs verbrachten schon seit geraumer Zeit ihre Sommermonate in Wien. So kam es im August 2001 zu einem ersten Treffen in ihrer damaligen Wohnung im 3. Wiener Gemeindebezirk. Wir vereinbarten, mit dem biografischen Interview demnächst einfach einmal anzufangen. Dass dies der Auftakt von (aufgezeichneten) Gesprächen in der Länge von insgesamt fast vierzig Stunden in dreieinhalb Jahren sein sollte, konnten wir damals noch nicht ahnen. Ich selbst war im Rahmen des genannten Forschungsprojekts Interviews von maximal vier Stunden gewöhnt. Alice war ohnehin zunächst dem eigenen autobiografischen Vorhaben skeptisch gegenübergestanden. Beide sprachen des Öfteren von einem „autobiografischen Glatteis", auf dem man ausrutschen könne - ob der Gefahr, sich zu sehr im Erzählen eigener Geschichten zu verlieren und eine distanziertere und 2 Teichova, Alice / Mikuläs Teich: Zwischen der kleinen und großen Welt: ein gemeinsamer Weg. In: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien (Hg.): Wiener Wege der Sozialgeschichte. Themen - Perspektiven - Vermittlungen. Wien u. a. 1997, 461-472.

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objektivierende Analyse zu vergessen. Gleichwohl war es beiden ein Bedürfnis, ihre an Brüchen so reichhaltige eigene Geschichte, vor allem aber ihr Engagement für eine sozialistische bzw. gerechtere Gesellschaft noch einmal zu reflektieren und zu ordnen. Ich selbst habe mich dabei vor allem in der Rolle eines Unterstützers gesehen. Meine Fragen und Nachfragen waren so, dass sie den beiden Interviewten einen möglichst offenen und breiten Erzähl- und Reflexionsraum eröffneten und zugleich Vertiefungen ermöglichten. Jedes Interview ist eine soziale Interaktion, die ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen, Wertschätzung und Aufmerksamkeit erfordert. So viele Stunden gemeinsamer Gespräche benötigen mehr als ein solches Mindestmaß bzw. erzeugen überhaupt erst - schrittweise - Vertrauen. Alice und Mikuläs haben mich im Verlauf der letzten vier Jahre öfters gefragt, ob denn die Interviews für meine zeitgeschichtlichen Interessen und Fragen hilfreich seien. Ich habe stets bejaht, habe ich doch, um nur ein Beispiel zu geben, viel über das Funktionieren von Einparteisystemen erfahren. Zugleich kann und will ich nicht zwei Menschen, mit denen inzwischen mehr als eine professionelle Beziehung besteht, wissenschaftlich analysieren. Alice und Mikulää sind für mich keine Forschungsobjekte, wir sind inzwischen zu Freunden geworden. Unser gemeinsames Erleben in den vergangenen vier Jahren reduzierte sich ja nicht allein auf die Interviews. Wir haben darüber hinaus viel über „Gott und die Welt" geplaudert, haben miteinander gegessen, miteinander gelacht; und besonders eindrucksvoll war es für mich, beide in Cambridge zu besuchen, um zumindest kurz in jene für mich fremde Collegewelt einzutauchen, über die sie mir zuvor erzählt hatten. Das war schon ein Erlebnis! Ich habe in den vier Jahren nicht allein als Wissenschaftler etwas gewonnen - sondern weit darüber hinaus. Dass dies trotz eines mehr als vierzigjährigen Altersunterschieds möglich ist, freut mich ganz besonders. Wenn es dann allerdings darum geht, eine Publikation der Lebenserinnerungen auf Schiene zu bringen, muss es notgedrungen wieder wissenschaftlicher werden. Und so sind natürlich auch meine Eindrücke und Deutungen von den Gesprächen in den nun publizierten lebensgeschichtli10

chen Text zumindest mittelbar eingeflossen; denn die Auswahl, Zusammenstellung und Überarbeitung der von Michaela Reischitz transkribierten Interviews war keine beliebige. Am Ende sollte ein Text stehen, der als Dokument bzw. als Quelle gelesen werden kann, die aus der biografischen Perspektive über zentrale Ereignisse und Phasen des 20. Jahrhunderts berichtet und die darüber Aufschluss gibt, in welcher Weise und warum zwei Menschen in ihren Zeitumständen agiert und auf Ereignisse reagiert haben sowie von ihnen geprägt worden sind. Wir alle wissen um die Fallen (bzw. das „Glatteis") eines jeden lebensgeschichtlichen Texts. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen - auch wenn ihnen gesellschaftlich inzwischen eine hohe Autorität und Authentizität zugeschrieben wird - wissen nicht unbedingt „mehr" über die Zeiten und deren Zusammenhänge, die sie erlebt haben, als jene „Nachgeborenen", die diese Zeiten wissenschaftlich erforschen. Das eigene Leben kann immer nur aus einem Hier und Jetzt heraus erzählt werden; der Zeitpunkt und die soziale Situation des Erzählens hat immer auch Einfluss darauf, was erzählt wird. Das ist in diesem Fall nicht anders. Gleichwohl haben im Verlauf der vier Jahre die Erzählenden selbst eine Reihe von Reflexionsschleifen eingezogen, um immer wieder auf eine kritische bzw. objektivierende Distanz zu den eigenen Geschichten zu treten. Das manifestiert sich nicht zuletzt in dem hier veröffentlichten Erinnerungstext, der sich nicht eins zu eins mit den Interviews deckt - dies aber auch gar nicht kann. Keine mündliche Erzählung ist so verschriftlichbar und publizierbar, wie sie gesprochen worden ist. Zwischen den Interviews und dem publikationsreifen Manuskript liegen zahlreiche notwendige Übersetzungs- und Überarbeitungsschritte. Damit sind einige wichtige Dimensionen der Gespräche verloren gegangen, wie beispielsweise Mimik und Gesten, die oft mehr aussagen als das gesprochene Wort. Oft wurde gelacht, manchmal wurde es trauriger auch das ist in einem gedruckten Text schwer darstellbar. Schließlich bleiben einige Geschichten oder Formulierungen unpubliziert, die in der eher privaten bzw. vertraulichen Situation der Interviews erzählt worden und nicht für die Of11

fentlichkeit beispielsweise eines Buchs bestimmt sind. Damit wird nichts verschwiegen. Aber so etwas kennen wir ja alle... Andererseits haben die ursprünglichen Erzählungen mit den Überarbeitungen an Struktur und Kohärenz gewonnen - etwas, das mündliche Erzählungen in einer solchen Länge so nie haben können. Schließlich haben in einem der letzten Überarbeitungsschritte Alice und Mikuläs dem Manuskript noch einige wenige schriftlich verfasste Ergänzungen hinzugefügt. Wichtig war uns aber, dass im gesamten Text der Gesprächscharakter und auch der Gesprächsprozess - so unter anderem das Wechseln vom „Sie" auf „du" sichtbar bleibt. Noch ein paar letzte Bemerkungen zum vorliegenden Band: Auf ein Namensregister am Ende haben wir bewusst verzichtet. Zu oft schauen Leserinnen und Leser, die mit der Autorin oder dem Autor einer Autobiografie womöglich einmal etwas zu tun gehabt haben, zuerst in ein solches Personenregister - um herauszufinden, ob man selbst auch erwähnt wird. Das wollten wir vermeiden - zumal jede autobiografische Erzählung, so oft sie auch überarbeitet wird, immer auf „etwas" vergisst. Hingegen haben wir ein Glossar erstellt, in dem einige genannte Personen, Ereignisse oder Phänomene nicht umfassend, aber etwas ausführlicher erläutert werden. Mit Literaturhinweisen in Fußnoten sind wir - dem autobiografischen Genre entsprechend - sparsam umgegangen, zumal in Zeiten des Internets vieles von Vielen schnell recherchiert werden kann. Schließlich habe ich zu danken: Michaela Reischitz hat nicht nur die Interviews transkribiert, sondern zahlreiche Teile über- und bearbeitet und vieles dazu beigetragen, dass dieser Band nun endlich fertig geworden ist. Peter Eigner, Nikola Langreiter, Peter Paul Kloß, Michael Mitterauer, Günter Müller und mein Vater Paul Gerhard Dressel haben im Laufe der vier Jahre zahlreiche Anregungen gegeben und zum Teil den Text kritisch durchgeschaut. Bettina Waringer vom Böhlau Verlag war schließlich bei der endgültigen Herstellung des Buches sehr behilflich. Ein Dank auch an die Abteilung Kultur- und Wissenschaftsanalyse an der Wiener IFF dafür, dass ich deren Infrastruktur für die Bandbearbei12

tung nutzen durfte. Das Referat für Wissenschafts- und Forschungsförderung der Stadt Wien hat die Bandbearbeitung dankenswerterweise finanziell unterstützt. Und natürlich freue ich mich, dass der Böhlau Verlag und das Herausgeberinnen- und Herausgeberteam der Reihe „Damit es nicht verlorengeht..." die Publikation möglich gemacht haben. Last but not least: ein großes Dankeschön an Alice Teichova und Mikuläs Teich, die mir - neben vielem anderen - durch ihre Erzählungen, durch ihr Miteinander und einfach durch das, wie sie als Menschen sind, gezeigt haben, wie auf schwierige biografische Situationen immer wieder ein Neuanfang folgen und wie man sich auch im Alter Optimismus und Lebensfreude bewahren kann. Wien, im Juli 2005

Gert Dressel

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ALICE

- Kindheit und Jugend in Wien

G. D.: Wissenschaft hat ja immer auch mit den biografischen Erfahrungen derer zu tun, die Wissenschaft betreiben, also mit den Biografien der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Und Biografien haben wiederum mit der Gesellschaft zu tun, in der sie verlaufen: mit dem sozialen Herkunftsmilieu, Erfahrungen als Frau oder Mann spielen eine Rolle, auch mit politischen und ökonomischen Ereignissen und Strukturen sowie vieles mehr. Sie, Alice, sind 1920 in Wien, Sie, Mikuläs, sind 1918 in KoSice geboren. Kennen gelernt haben Sie sich im Jänner 1940 in einem Klub für Flüchtlinge in Südwestengland. Sie leben also seit über sechzig Jahren zusammen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich im Laufe dieser Zeit auch Wechsel- und gegenseitig

sehr geprägt ha-

ben. Zu Beginn würde mich aber interessieren, wie Sie denn beide, jeweils individuell, die Zeit bis zu Ihrem Kennenlernen erlebt haben. Ich möchte Sie also zunächst nach Ihrer Kindheit und Jugendfragen: WAS ist da wichtig gewesen? ALICE:

Ladies first?

MIKULÄS:

Ladies first, ladies first!

Bei Mikuläs und mir ist das ganz verschieden. Wenn Sie von dem Milieu sprechen: Eine große Ermutigung zum Studium und Lernen wie bei Mikuläs gab es in unserer Familie nicht. Ich war ja ein Mädchen. Mein Vater hat immer geglaubt, für ein Mädchen sei das nicht unbedingt nötig. Aber auch die ganze wirtschaftliche Situation war nicht so, dass sie das begünstigt hätte. Ich hatte einen kleinen Bruder, der acht Jahre jünger war. Er ist leider in England sehr früh gestorben. Er war 51 Jahre alt. Man hat zu ihm Burschi gesagt. Er hat zwar Heinz geheißen, dann Henry, aber er war immer der Burschi. Nachdem er geboren wurde, war in der Familie und besonders bei meiner Mutter kein Zweifel, dass er auf jeden Fall studieren muss. Was aber meine Mutter betrifft: Sie wollte mich doch unterstützen, denn sie selbst hatALICE:

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te immer Lehrerin werden wollen. Das war ihr großes Ziel gewesen. Aber das konnte sie nicht, obwohl sie von einer mehr oder weniger wohlhabenden, bürgerlichen Familie aus Ottakring, dem 16. Wiener Gemeindebezirk, stammte. Sie musste dann ihrem Vater in dessen Büro helfen, das war ein Besen- und Bürstengroßhandel. Ihr großes Ziel war immer, dass man sich intellektuell entwickeln soll. Ihr war das nicht so vergönnt, und sie wollte das für uns Kinder - für den Jungen auf jeden Fall. Nur die Umstände, die dann entstanden sind, haben das für relativ lange Zeit verhindert. Mein Vater war ein Uhrmacher und Juwelier, er war eigentlich ein ausgelernter Goldschmied. Seine Spezialität war Diamanten fassen. Nachdem meine Eltern 1919 geheiratet hatten, führten sie ein Geschäft in der Breitenseer Straße 9, wo ich dann auch am 19. September 1920 geboren wurde. Dieses Geschäft war klein und mit einer Werkstatt dahinter, wo er Reparaturen gemacht hat. Ich trage heute noch den Ring, den er mir zum Geburtstag anfertigte: mit einem Aquamarin - dem Edelstein für September. Das ist das Einzige, was ich heute noch von ihm aus meiner Kindheit habe. MIKUT ÄS:

Und hier sind auch noch unsere Eheringe.

A L I C E : Die hat er in England für uns gemacht. Aber Sie haben nach dem Milieu gefragt. Also das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, war für mich nicht günstig, besonders wirtschaftlich nicht. Ich besuchte also die Volksschule in Breitensee. Zuvor, vor dem 1. September 1926, hatte ich, noch nicht sechs Jahre alt, eine Aufnahmeprüfung beim Stadtschulrat machen müssen. Ich sage Ihnen, immer wenn ich da vorbei fahre beim Stadtschulrat an der Ringstraße, denke ich daran. Das werde ich nie vergessen: Ich hatte ein Interview gemeinsam mit meiner Mutter und einem Schulrat. Ich wollte so gerne in die Schule gehen, und der Schulrat hat es erlaubt, dass ich am 1. September anfangen kann. Denn das Gespräch ist gut ausgefallen. Wenn Sie mich jetzt fragen, wie das war: keine Ahnung. Ich weiß nur meine Beklemmung, dort in dieses Gebäude hineinzugehen. Ich wollte doch so gerne in die Schule gehen. Viele Kinder wollen ja nicht in die Schule gehen; bei mir war es halt umgekehrt.

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G. D.: Was hat Sie an der Schule so fasziniert? Erstens einmal wollte ich wissen. Ich habe ja schon lesen können. Mir wurde sehr viel vorgelesen. Ich bin unter Erwachsenen aufgewachsen; ich war das einzige Kind bis zu meinem achten Lebensjahr. In dieser Großfamilie, wo wenige Kinder waren, hat man mich von einer Tante zur anderen geschickt. Ich hatte Tanten und Onkel in fast allen Wiener Bezirken. Ich kenne mich dort, besonders in den Bezirken, wo meine Verwandten gewohnt haben, immer noch aus. Die Tanten waren alle sehr kinderliebend, hatten aber keine eigenen Kinder. So wurde ich ausgeborgt. Dadurch, dass man sich sehr viel mit mir beschäftigt und gesprochen hat, habe ich selber sehr bald sprechen können. Dann hat man mit mir gerechnet, und sehr bald habe ich auch lesen können. Aber am liebsten habe ich es gehabt, wenn man mir etwas vorgelesen hat, Gedichte zum Beispiel. ALICE:

MIKULÄS:

Das hat sie bis heute gerne.

Ja, ich habe es viel lieber, zuzuhören als selbst zu lesen. Aber man muss ja, das gehört zum Beruf. Ich wollte also weiter in die Schule gehen, dann kam aber das große Malheur. Die Wirtschaftskrise* war ja sehr stark in Wien. Was das Geschäft meines Vaters betrifft, Sie können sich vorstellen: Gold, Silber und Diamantenfassen waren dann nicht die Priorität, auch nicht von solchen Familien, die vielleicht Geld gehabt haben und bei uns Kunden waren, sich Uhren haben reparieren lassen und so weiter. Mein Vater hatte schon davon leben können, aber 1930 war es aus. Das Geschäft ist vollständig zugrunde gegangen. Da war ich gerade zehn Jahre alt und hatte die vierte Volksschulklasse absolviert. Weil ich ins Gymnasium wollte, war ich 1930 nach einer Aufnahmeprüfung in ein Realgymnasium in der Gumpendorfer Straße eingeschrieben worden. Ich war nur drei Monate dort, weil mein Vater eben vollkommen zugrunde gegangen war. Er hatte nicht nur das Geschäft verloren, sondern auch die Wohnung - komplett alles. Er ging in Konkurs, und wir mussten ausziehen. ALICE:

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Ich musste mit der Tramway in die Schule fahren. Ich brauchte ein Zeichenbrett, weil es ein Realgymnasium war. Ich brauchte auch Zirkel und andere Sachen. Das alles konnten mir meine Eltern nicht mehr beschaffen. Schulbücher hatte ich schon von der Schule bekommen. Mein Vater hatte ja immer gesagt, ich brauchte nicht in eine höhere Schule gehen. Aber das war jetzt nicht der Grund, warum ich nicht mehr in diese Schule gehen konnte. Der Grund war, dass ganz einfach kein Geld da war. Nicht einmal die Straßenbahn konnten wir mehr bezahlen - zehn Groschen hat die gekostet. Das war dann ein riesiges Geld. Um zehn Groschen konnte ich eine Schaumrolle oder ein Punschkrapferl kaufen - bevor wir zugrunde gegangen waren. Neben unserem Geschäft in der Breitenseer Straße war eine Konditorei gewesen. Nachher hatte ich nicht mehr die zehn Groschen. Dann hat es ein Stück Brot gegeben: entweder Butterbrot oder jam-Brot, also Butter oder Marmelade, nicht beides zusammen. Das fühle ich bis heute so: Wenn ich jam und Butter nehme, ist das direkt eine Sünde, obwohl das später in England kein Problem mehr war. Also, wir mussten aus der Wohnung in Breitensee heraus. Professoren, bei denen wir damals Französisch und Mathematik gelernt haben, sind nach Breitensee gekommen, noch bevor wir ausgezogen sind, um meinen Vater zu bitten, dass er mich doch in der Schule lassen soll. Denn nach drei Monaten ist es mir ganz gut gegangen, außer Zeichnen, da ist es mir nicht so gut gegangen, aber das andere schon. Aber es hat nichts genützt. Wir sind nach Kagran, das gehörte damals noch zu Floridsdorf, dem 21. Bezirk, übersiedelt und zwar in nur ein Zimmer. Kagran war das Ärgste. Mikuläs und ich hatten in den 1980er und 1990er Jahren eine enge Freundin, die leider nicht mehr lebt: Gundl Herrnstadt-Steinmetz, die in Spanien gegen den Faschismus und im französischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatte. „Alles, was in Wien über der Donau ist", meinte sie, „ist Übersee." Haben Sie das schon gehört? G. D.: Ich keime das nur unter Transdanubien. ALICE: Ja, Transdanubien. Es war das Dürftigste, was man sich vorstellen kann. Ich kann mich an dieses Zimmer erin18

nern. Es war in einem kleinen Haus hinter dem Kagraner Platz am Ende der Wagramer Straße. Ich wurde dort in die Hauptschule eingeschrieben. Aber die Sache war so schrecklich, dass meine Mutter sich selbst und meinen Bruder mit Gas vergiften wollte. Das geschah bei der Übersiedlung, also beim Umzug. Ich hatte gerade die Schule begonnen, und mein Vater ist immer mit mir spazieren gegangen. Der hatte ja keine Arbeit - der hatte nichts! Wir hatten jeden Tag Erdäpfelsuppe oder Erdäpfelgulasch, was ich bis heute nicht essen kann. Und zufällig sind wir vom Spazieren nach Hause gekommen, und das Zimmer war voller Gas. Man konnte meine Mutter und meinen kleinen Bruder noch retten. Sie hat also diese Situation nicht aushalten können. Was dann weiter geschehen ist? Vielleicht haben die Verwandten ein wenig geholfen. Das ist mir nicht klar. Unsere Verwandten waren wohlhabender. Soviel ich von meiner Mutter weiß, haben sie sich immer untereinander angerufen. Wir haben Schwarz geheißen, und die haben gesagt: „Die Schwarzens, die essen immer nur Erdäpfelsuppe." Sie haben sich angerufen, um sich zu erzählen, wie schlecht es den Schwarzens geht. Aber geholfen haben sie anscheinend nicht sehr. Dann haben mein Vater und meine Mutter eine kleine Wohnung auf der Donaufelder Straße, auch in Kagran, gemietet; da gab es Zimmer, Küche und Kabinett, wie man in Wien zu einem sehr kleinen Zimmer sagt. In dem Kabinett hat sich mein Vater einen kleinen Werktisch aufgestellt. Er ist zu den Uhrmachern und Juwelieren gegangen und hat Reparaturen eingeholt. Das ist dann irgendwie in Bewegung gekommen. Das machen Juweliere auch heute noch, dass sie ihre Reparaturen in eine Werkstatt schicken. Er hat kleine Uhren- sowie Gold- und Silberreparaturen gemacht, denn seinen Werktisch und sein Werkzeug haben ihm die Exekutoren gelassen. Das war ihm sein ganzes Leben wichtig, das konnte er sehr gut. Interessant sind die Familienverhältnisse: Wenn man arm geworden war, war man nicht mehr so salonfähig. Ich habe schon erzählt: Ich wurde ausgeborgt, aber nur bis zu meinem achten oder neunten Lebensjahr. Dann war es eigentlich aus damit. So verhätschelt wurde man dann nicht 19

mehr. Ich bin natürlich weiterhin die Tanten besuchen gegangen, aber irgendwie schien dann schon eine größere Distanz zu sein. Aber mir fällt jetzt ein, einige Verwandte haben doch geholfen. Mein Onkel Moritz, ein Bruder meiner Mutter, war Zahnarzt. Die Zähne hat er uns umsonst behandelt. Und dann gab es Onkel Norbert, den Bruder meines Vaters, der eine wohlhabende Frau aus einer Fleischhauerfamilie geheiratet hatte. Es waren assimilierte Juden, die weder in einen Tempel gegangen sind, noch sonst religiös veranlagt waren. Diese Familie hatte am Meiselmarkt einen Fleischstand und in der Reindlgasse ein großes Fleischgeschäft. Jeden Samstag bin ich dorthin gegangen und habe einen Rucksack mit Fleisch bekommen. Solange es uns schlecht gegangen ist, ging das so. Dort haben wir von Verwandten doch Hilfe bekommen. G. D.: Wenn Sie sich an Ihre Eltern erinnern

...

Meine Mutter war schwermütig, aber auch mutig, sehr mutig. Mein Vater war ein ungeheuer lustiger Mensch, der immer Freunde um sich gehabt hat. Er war ein Charmeur, keine Schönheit, aber besonders Frauen haben ihn gemocht.

ALICE:

G. D.: Gab es da wichtige

Erlebnisse?

Meine ganze Kindheit war ja davon beeinflusst: Nämlich erstens einmal durch diese vielen Erzählungen, die mir das Leben ungeheuer verklärt haben. Ich habe unter lauter Erwachsenen gelebt. Mein Vater hatte viele Freunde, die immer zu uns kamen, oder wir sind jeden Sonntag auf Ausflüge gegangen, und ich war das einzige Kind auf den Schultern von all den Freunden. Jeder hat mit mir gesprochen, als ob ich ein Erwachsener wäre. Wir haben jeden Sonntag einen Ausflug in den Wienerwald gemacht. Meine Mutter war oft nicht mit, weil sie zurückgezogener war. Mein Vater dagegen wollte immer alle Leute um sich. Er hat auch sehr viel gesungen und Geige gespielt; man sagte, „wie ein Zigeuner, ohne Noten" - aber er hat falsch gespielt. Wir haben auch zu Hause musiziert: Während Papa Violine gespielt hat, habe ich Klavier gespielt. Er hat immer gesagt, dass ich falsch spiele: „Du spielst schon wieder falsch." Ich ALICE:

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habe mit sechs Jahren Klavier begonnen. Als ich zehn Jahre alt war und Papa zugrunde ging, wurde das Klavier herausgetragen. Bis 1937 habe ich dann kein Klavier mehr gehabt, aber dann habe ich wieder zu Hause gespielt. Als wir 1940 nach Nottingham übersiedelten, mieteten wir eine Wohnung, wo sich ein Pianino befand. Dort spielte ich und sang, worüber sich Mikuläs freute. Da er nicht sehr musikalisch ist, hat er mitgebrummt. Englische und schottische Volkslieder haben wir gespielt, die Noten dazu hatten wir uns gekauft. Und dann hatten wir in Prag wieder ein Klavier. Es war ein Bösendorfer und gehörte unserer sehr engen Freundin „Tante" Erni Schwarz. Also immer wieder ist das Klavier verschwunden bei einer Umgestaltung des Lebens - und dann wieder aufgetaucht. Auch in Cambridge habe ich dem Nachbarn sein Klavier abgekauft. Aber leider habe ich keine Zeit gehabt und habe fast nichts mehr gespielt. Ich wollte dann wieder anfangen, wenn ich in Pension gehe. Aber wie Sie sehen, ich bin ja nicht wirklich in Pension gegangen. Aber zurück zu meinem Vater: Repertoiretheater hat er auch gemacht, er hat Theaterstücke inszeniert, zusammen mit seinen Freundinnen und Freunden. Das war ein großer Kreis. Und eines, das werde ich nie vergessen, ist mein Lieblingsstück geworden: Er hat mit Freunden Johann Nestroys* „Lumpazivagabundus" aufgeführt. Selbst hat er den Schuster Knieriem gespielt. Der ist so wie mein Vater, obwohl er selbst nicht getrunken hat. Aber mein Vater war sehr verantwortungslos. Mein Onkel Norbert hat den Tischler Leim gespielt. Beim „Lumpazivagabundus" gibt es ja drei Handwerksgesellen. Ich habe alle ihre Lieder und das ganze Stück auswendig können. Tante Herma, Norberts Frau, und meine Mutter haben auch mitgespielt. Meine Mutter, die Gisela geheißen hat, war immer die Gisi. Ich habe zu meinen Eltern nicht Mama und Papa gesagt, sondern: Gisi-Mama und TurliPapa. Mein Vater hat eigentlich laut Geburtsschein Arthur geheißen, aber alle haben Turli gesagt. Tante Herma war die Hermi. Das war nicht das einzige Stück, das er inszeniert hat. Das geschah alles, bevor er mit seinem Geschäft zugrunde gegangen ist, also Mitte der 1920er Jahre, als ich ungefähr 21

vier bis sieben Jahre alt war. Besonders vor meinem Schulbeginn war das Leben wunderschön. Man ist am Sonntagnachmittag auf den Cobenzl im Wienerwald gegangen, ist im Cafe gesessen, und dort waren Musik und die Freunde. Die haben natürlich mit mir am Arm getanzt und gesungen. Also das Leben war wunderbar. Meine Mutter war, wie ich schon erwähnte, melancholisch veranlagt. Aber sie war auch eine ungeheuer mutige Frau. In dieser schrecklichen Zeit, als das Geschäft meines Vaters zugrunde gegangen ist, ist eine Sache geschehen, die meine Mutter mir nachher erzählt hat. Mein Vater hatte zwei Brillantringe von jemandem gekauft, um sie dann wieder zu verkaufen. Es hat sich herausgestellt, dass diese zwei Ringe gestohlen worden waren, und mein Vater wurde als Hehler angezeigt und vor Gericht gestellt. Meine Mutter hat dann einen Brief an den Justizminister geschrieben, das war damals Kurt Schuschnigg*, der spätere Bundeskanzler. Sie suchte um Gnade an. Meine Mutter schrieb in dem Brief, dass mein Vater im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer und zweimal verwundet gewesen war. Schuschnigg hat ihn dann begnadigt, oder das Verfahren wurde eingestellt. Meine Mutter war in der Ehe unglücklich, weil mein Vater dauernd seine Affären hatte. Aber sie nahm ihn immer wieder zurück, wenn er zerknirscht nach Hause zurückkehrte. Meine Eltern haben sich ja 1925 scheiden lassen, und ein Jahr später haben sie wieder geheiratet. Ich war damals fünf Jahre alt, also das war knapp vor der Schule. Wenn Papa mit mir im Wienerwald spazieren ging, war das immer eine Hetz. Mit Mama war keine Hetz. Aber ich habe beide geliebt. Mit fünf oder sechs Jahren habe ich schon alle Familiensachen gewusst; wie eine Erwachsene hat man mich behandelt. Meine Mutter hat in mir eine Vertraute gehabt. Wem hätte sie denn das sagen sollen? Sie war ja sehr allein! Sie hat sich auch um ihre Geschwister, die immer in irgendeinem Schlamassel waren, mehr als jeder andere gekümmert. Wer immer in ihrer großen Familie irgendeinen trouble gehabt hat, ist zu ihr gekommen. Also: Auf der einen Seite waren die troubles, auf der anderen Seite die Hetz. Und so habe ich die Eltern fortwährend gebeten, sie sollen doch wieder zusammengehen. So haben sie dann 1926 wieder geheiratet. 22

Deine Mutter hat ja auch einen mystisch-religiösen Hang gehabt.

MIKULÄS:

Meine Mutter ist auch konvertiert: vom Judentum zum Katholizismus. Sie hat meinen kleinen Bruder und mich taufen lassen. In Kagran war das auch eine sehr schlechte Zeit. Man hat einen fürchterlichen Kampf ums Leben gehabt; man musste irgendwie durchkommen. Da begann sie, in einen Spiritisten-Zirkel zu gehen. Sie hat mich sogar einmal mitgenommen. Da hat man mit den Toten geredet. Mir wurde vorhergesagt, dass es mir gut gehen wird, aber ich werde auf alles lange warten müssen. Meine Mutter hatte auch immer das Gefühl, dass sie ihrem Vater Unrecht getan hätte. Ihr Vater war ein großer Tyrann gewesen. Er war der Bürstenopa. Eigentlich war er Händler und Fabrikant. In der Grundsteingasse haben sie ein Haus gehabt; rundherum haben Handwerker für ihn Bürsten und Besen gefertigt; das war so eine Art Manufaktur. Er hat sie ihnen abgekauft oder zur Verarbeitung gegeben. Das wurde dann alles in die Jörgerstraße gebracht. Dort hatte mein Großvater zwei sehr große Zinshäuser und einen Großhandel. Das war nicht wie ein Geschäft mit Auslagen, sondern es war ein Lager mit einem Büro. Meine Mutter hatte, bis sie heiratete, dort gearbeitet. Ihr Vater war außerordentlich streng. Er hat die Kinder fast jeden Abend geschlagen. Er hatte acht Kinder, davon vier mit der ersten Frau, die bei der vierten Geburt gestorben war. Dieses vierte Kind, die Tante Klara, verbannte er nach Polen zu Verwandten. Denn er gab ihr die Schuld daran, dass seine Frau gestorben war. Sie durfte ihr ganzes Leben nicht in die Familie. So ein Mensch war er! Und dann hatte er vier Kinder mit seiner zweiten Frau, meiner Stiefgroßmutter. Das war ein fürchterliches Familienleben. Meine Stiefgroßmutter sagte, wenn er am Abend nach Hause kam: „Der war schlimm, der war schlimm, und die war schlimm . . . " - und dann sind die Prügel verabreicht worden. Meine Mutter hat sich dann später Vorwürfe gemacht, dass sie ihren Vater nicht gern genug gehabt hätte. Sie war aber die Einzige, die alles für diesen Vater gemacht hatte. ALICE:

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Und trotzdem, er schlug sie alle, auch sie. Aber am Ende sprach er ihr das meiste Vertrauen zu. Die anderen Kinder hassten ihren Vater. Über all diese Sachen habe ich als Kind von meiner Mutter erfahren. G. D.: Haben Sie Ihren Großvater auch noch erlebt? ALICE: Ich war zwei Jahre alt, als er starb. Er war glückselig mit dem Enkelkind. Das Einzige, was ich weiß, ist: Ich hatte Lungenentzündung, und er war so klein und dick mit Glatze. Ich kann mich erinnern, dass er sich die Hände gewaschen hat und fortwährend gefragt hat, wie es mir geht: „Gott behüte, das Kind stirbt, sie hat eine Lungenentzündung." Auf einmal ist er mit diesem Enkelkind ganz verrückt vor Liebe geworden. Er selbst ist dann an Asthma gestorben. Aber das ist das einzige Bild, das ich von ihm habe: das eines ziemlich kleinen, dicken und alten Mannes, der am Fuß des Bettes gestanden ist. G. D.: Sie waren auch im Arbeiterturnverein. Wann und wie sind Sie in dieses sozialdemokratische Milieu gekommen? ALICE: Ganz, ganz früh, weil mein Vater war ja Sozialdemokrat, er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. In der Volksschule hat es ziemlich viele sozialdemokratische Kinder gegeben in Breitensee, einem Arbeiterviertel. Hier waren meine Freundinnen und Freunde von der Schule. Sie haben alle in ziemlich ärmlichen Verhältnissen gewohnt, so wie wir, oft nur mit Zimmer und Küche, ohne Kabinett, mit Wasserleitung und Klo am Gang. Das war gang und gäbe. Die Kinder sind in den Arbeiterturnverein gegangen. Da bin ich natürlich mit. Während meiner Hauptschulzeit in Kagran bin ich in die Rote Kindersportgruppe gegangen. Wegen der Abkürzung RKS nannte man sie auf Wienerisch: „Reiß kan Schmäh!" Ich war auch im Arbeitergesangsverein, im Frauengesangsverein; komischerweise gab es einen Männergesangsverein und einen Frauengesangsverein. Und ich kann mich erinnern, dass es einen Gesangslehrer gab, in den alle Frauen verliebt waren. Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt, das habe ich schon mitgekriegt. Ich wurde also in der Sozialdemokratie sozialisiert. Das war zu Hause Tradition. Die Wienerwaldwanderungen wa-

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ren nicht von der Partei organisiert, auch wenn mein Vater grundlegend sozialdemokratisch war. Aber er war ja auch Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg gewesen. Er war freiwillig zum Militär gegangen. Zweimal hat ihn ein Kopfschuss erwischt; und trotzdem - er hätte gar nicht müssen - ist er wieder freiwillig ins Feld gegangen. Als Soldat konnte er eine Uniformmütze mit der Aufschrift „Zum zweiten Mal ins Feld" tragen. Darauf war er ungeheuer stolz. Er hat zu Hause auch immer seine Uniform im Kasten gehabt. Er war nur Zugsführer gewesen, aber er war sehr geschickt, und daher wurde er Telefonist an der italienischen Front, w o er Telefonleitungen verlegte. Dabei ist er auch einmal verschüttet worden. MIKULÄS: Er war kein politischer Kopf. ALICE: Nein, Mikuläs hat ihn ja gekannt. Aber er hatte ein Herz für die Sozialdemokratie. MIKULÄS: Gleichzeitig war er Monarchist. ALICE: Ja, in dem Sinne, dass er diese Uniform gehabt hat. Ich habe das als lächerlich empfunden. MIKULÄS: Aber man kann das verstehen, weil er solche Erfahrungen im Krieg gemacht hatte. ALICE: Einmal verschüttet, zwei Kopfschüsse . . . Aber irgendwie hat er dem nie nachgeweint, dass der Krieg verloren gegangen oder die Monarchie untergegangen war. MIKULÄS: Ich weiß nicht. G. D.: Wie haben Sie denn wichtige politische Ereignisse der österreichischen Zwischenkriegszeit - den Justizpalastbrand* 1927 und die Februarkämpfe* 1934 - erlebt? Wie sind die in Ihrer Familie erfahren worden? ALICE: 1927 war ich ja noch ein Kind. Ich habe nicht gewusst, was und wie, aber ich habe doch etwas mitbekommen. Mein Vater ist mit mir auf die Schmelz gegangen. Das war damals ein Exerzierplatz, da stand kein Baum, rein gar nichts. Aber trotzdem hat man gesagt: „Gehen wir auf die Schmelz, zum Bamkraxln." Wir sind also auf die Schmelz ge-

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gangen; viele Leute sind damals dahin geströmt. Ich bin auf den Schultern von meinem Vater gesessen und habe den Justizpalast brennen gesehen. Man ist dort hingegangen, um zuzuschauen, wie der Justizpalast brennt, nicht um zu demonstrieren, sondern nur, um zu schauen. Aber es passierte etwas Schreckliches. Und deshalb erinnere ich mich auch daran. Wir haben ja auf der Breitenseer Straße gewohnt. Es wurde im Juli 1927 nach dem Brand des Justizpalastes abends auf der Straße von der Polizei und vom Militär auch auf Fußgänger geschossen. Es fuhren auch keine Straßenbahnen. Und am Ende der Breitenseer Straße, an der Ecke zur Hütteldorfer Straße, war ein Wartehäuschen bei einer Tramway-Station. Neben dem Geschäft meines Vaters war ein Greißler, also ein Kolonialladen. Dieser Greißler hatte zwei Söhne. Und ein Sohn, der anscheinend nicht wusste, dass geschossen wurde, wartete dort an dem Häuschen auf die Straßenbahn. Da kam die Polizei vorbei - und die haben ihn erschossen. Wer auf der Straße war, der wurde erschossen. Auch dieser junge Mann, der absolut nichts mit Politik zu tun hatte, wurde erschossen. Das ist etwas, das mir geblieben ist, woran ich mich erinnere. Ich war noch keine sieben Jahre alt. An das Jahr 1934 kann ich mich sehr gut erinnern: Meine Schule in Kagran war sehr rot - mit Ausnahme der Lehrer. Wir hatten eine Lehrerin, die sehr bigott tat; zu ihr hat man gesagt: „Klosterschwester in Zivil". Die Februarkämpfe 1934 - die Schulen waren gesperrt - habe ich in Kagran erlebt, wo der sozialdemokratische Republikanische* Schutzbund sehr stark war und wo es viele Gemeindebauten* gab, die beschossen wurden. Die Geschütze standen am Leopoldsberg, weil von dort konnte man besser über die Donau schießen. Man hat es natürlich donnern gehört. Ich weiß nur, dass Burschi, also mein Bruder, der noch nicht sechs Jahre alt war, gerade Mittelohrentzündung hatte. So haben wir ihn mit einem großen Schal um den Kopf ganz eingepackt. Er hat die Schüsse natürlich nicht hören können. Als die Schulen dann wieder öffneten, nachdem der Aufstand niedergerungen war, gab es eine Riesen-Kundgebung von allen Schulkindern im Praterstadion in Wien, auf der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß* sprach. Ich war damals 26

dreizehneinhalb Jahre alt, also das letzte Jahr in der Hauptschule. Wir hatten alle rot-weiß-rote Fähnchen; jedes Kind hat das bekommen. Nach Bezirken sind wir gesessen. Und diese Floridsdorfergruppe, bei der die Kagraner dabei waren, haben alle das Weiße aus dem Roten herausgerissen. Das Floridsdorfer Eck war dann ein Meer von roten Fahnen. G. D.: Sie haben dann die Hauptschule abgeschlossen

...

ALICE: Ja, 1934 habe ich die Hauptschule abgeschlossen. Da war ich noch nicht ganz 14 Jahre alt. Studieren konnte ich nicht. Im Sommer habe ich eine Lehre als Handelsgehilfin begonnen - und zwar am Franz-Josefs-Kai in der Inneren Stadt. Da hat es kleine Firmen gegeben, die mit Textilwaren handelten. Die hatten ein paar Stücke Stoff in vielen leeren Regalen. Diese Betriebe haben auch sehr unter der Wirtschaftskrise gelitten. Ich bin ins Büro einer solchen Firma gekommen. Auch hier waren die Regale eigentlich leer, es gab nur einige Textilrollen. Wenn Geschäftsleute gekommen sind, um ein paar Meter Seide oder andere Stoffe zu kaufen, habe ich es aufschreiben müssen. Das Büro war so ein Verschlag, in dem ich mit meiner Schreibmaschine gesessen bin. Das hat mir große Freude gemacht. Nicht das Büro selbst, aber ich konnte einmal in der Woche in die Handelsakademie am Karlsplatz gehen. Dort waren Schulungen für Lehrlinge. Man musste als Lehrling einmal in der Woche in die Schule gehen. Und dort habe ich bis 1936 Schreibmaschine und Kurzschrift gelernt. Französisch hatte ich drei Monate im Realgymnasium gehabt. Ich kann noch in der richtigen Aussprache vorlesen, aber später ist es mit dem Französisch nicht weitergegangen. In der Handelsschule lernte man Englisch. Buchhaltung hat es auch gegeben, aber das war nicht sehr zufriedenstellend. Gelesen habe ich, was halt so in die Hand gekommen ist. Aber mehr Belletristik, Sachbücher eher nicht. 1936 ist dann der älteste Bruder meiner Mutter - der Zahnarzt - gestorben. Von den acht Kindern des Vaters meiner Mutter haben sieben in Wien gelebt. Das achte Kind Klara - lebte ja in Polen. Weil Onkel Moritz der älteste Sohn gewesen war, hatte er, als mein Großvater gestorben war,

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dessen Vermögen geerbt. Die Frauen, also damals die Mädchen, hatten eine Ausstattung und auch Geld bei der Heirat bekommen - und dann nichts mehr. Meine Eltern hatten 1919 geheiratet. Meine Mutter bekam das Ausstattungsgeld 1920. Dann ist die große Inflation gekommen. Sie hätten sich vorher ein Haus kaufen können. Aber nein, „brauche ich nicht", hatte mein Vater gesagt, „ich bin ein Juwelier, ich arbeite". So war das Geld unter eine große Platte einer Anrichte gelegt worden. Und dort ist es auch geblieben - bis es wertlos wurde. Als Zweijährige habe ich dann mit dem entwerteten Geld gespielt. So war es aus mit der Mitgift. Aber als dann Onkel Moritz starb, wurde das Erbe auf alle Geschwister aufgeteilt. Für meine Mutter war dies ein Neuanfang. Sie hat sich damit ein Geschäft in Hietzing, auf der Hietzinger Hauptstraße 52, aufgemacht - einen ganz kleinen Juwelier- und Uhrmacherladen, wieder mit Werkstatt und Wohnung. Das ist sehr gut gegangen. Das war 1936. Meine Mutter sagte mir auch: „Wenn du jetzt lernen willst, mache, was du gerne machst." So schrieb ich mich in die Dr.-Roland-Maturaschule ein, um mich abends für die Matura vorzubereiten. 1937 beendete ich dann die Lehre, und meine Mutter meinte: „Du hilfst mir im Geschäft und mit dem Burschi und gehst weiter in die Schule." Ich besuchte also die Maturaschule, habe zu Hause geholfen, und ich war der Botendienst: Meine Mutter hatte das Geschäft und die Wohnung in Hietzing; mein Vater ist noch in Kagran geblieben. Ich bin mit den Reparaturen immer hin- und hergefahren. Außerdem hatte mein Vater noch seine zwei Schwestern. Sie waren unverheiratete Frauen, die das kleine Geschäft in Favoriten von meinem Großvater geerbt hatten. Dieser war auch Goldschmied gewesen - mit einem kleinen Laden mit Werktisch, wie ihn auch mein Vater hatte. Die Tanten haben das sehr ärmlich geführt. Mein Vater hat ihnen die Reparaturen umsonst gemacht. Dadurch haben sie auch einen Verdienst gehabt. Die Brüder - auch Onkel Norbert, der Elektroingenieur bei der Firma Brown Boveri war - haben die zwei Tanten immer unterstützt. Aber gerade, als es begonnen hatte, uns besser zu gehen, ist die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschiert. 28

G. D.: März* 1938, der deutsche Einmarsch in Österreich, in Wien. Wie haben Sie das erlebt? ALICE: Das war sehr arg. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren in Hietzing, mein Vater noch in Kagran. Unsere Hietzinger Wohnung ging in den Garten hinaus. Auch sie hatte wieder nur Zimmer, Kabinett und Küche - und einen kleinen Hinterraum. Der Hinterraum ist wichtig: ein Hinterraum ohne Fenster, mehr zum Absperren für Sachen, und es war der 11. März . . .

Aber du könntest auch erzählen, wie du das in der Dr.-Roland-Maturaschule erlebt hast. Das ist bezeichnend. MIKULÄS:

Ja, das müsste ich erzählen. Ich bin jeden Abend drei Stunden in der Maturaschule gewesen, und ich hatte keine Ahnung, wie viele Nazis in dieser Schule waren. Das war schrecklich, aber das habe ich erst im Laufe der Zeit gemerkt. Schon einige Zeit vor dem März 1938 bin ich neben einer jungen Frau gesessen. Sie war so in meinem Alter, und sie hat nicht gewusst, dass ich Jüdin bin, das wusste ja niemand. Das war kein Gesprächsstoff, auch nicht in der Maturaschule. Und sie hat mich gefragt, ob ich nicht in den Bund der deutschen Mädchen eintreten will, also in den damals in Österreich illegalen BDM*. Ich habe natürlich „nein" gesagt! Aber trotzdem, wir waren halt Mitschülerinnen. Da waren mehr Burschen als Mädchen, allen möglichen Alters. Und ich habe diese Schule genossen, ich habe alle Schulen genossen - komischerweise. Für mich war die Schule das Zentrum des Lebens. Und am Tag, als Hitler nach Österreich kam - er ist ja gleich mit den Truppen gekommen war es gegen Abend und ganz licht. Um sechs Uhr hörte man in der Schule auf. Alles ging auf den Heldenplatz. Und man ging von der Neubaugasse in die Mariahilfer Straße. Da ist alles die Mariahilfer Straße hinunter geströmt - und ich bin in die entgegengesetzte Richtung gegangen: nach Hietzing. Straßenbahn fuhr keine, man musste zu Fuß gehen. Und da sind Ströme um Ströme in Richtung Heldenplatz gegangen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemanden gesehen hätte, der in die ALICE:

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andere Richtung gegangen wäre. Aber einen Jungen habe ich getroffen: Otto Sobek, ein jüdischer Junge, der mein Freund in der Breitenseer Straße, gewesen war. Er ist auch in die andere Richtung gegangen. Otto Sobek war der Enkel unseres Hausarztes in der Breitenseer Straße. Es muss auf Hausnummer fünf gewesen sein, wir waren auf Nummer neun - und dazwischen auf Nummer sieben. Stellen Sie sich vor: Da war noch ein Kuhstall, ich bin da noch täglich Milch holen gegangen. Otto und ich, wir waren große Freunde gewesen, nicht Schulfreunde; er ist irgendwo anders in die Schule gegangen. Ich habe gefragt: „Wie geht's dir, was willst du tun?" Er sagte, sein Vater und seine Mutter seien geschieden, sein Vater lebe in Palästina, und er selbst würde zu ihm fahren. Wir haben uns verabschiedet, und jeder ist nach Hause gegangen: er nach Breitensee, ich nach Hietzing. Das war die Erfahrung von diesem Tag - mehr nicht. Und gleich am nächsten Tag, am 12. März, das ist allgemein bekannt, begann die Hetzjagd auf die Wiener jüdische Bevölkerung. Der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg wollte ein Plebiszit, eine Volksabstimmung durchführen: „Ja" zu Österreich - und überall auf den Straßen stand „Rot-weiß-rot bis in den Tod". Am 12. März waren die Straßen voller Menschen, die mit Hakenkreuz-Binden herumrannten. Binden und Fahnen erschienen gleichzeitig mit dem deutschen Einmarsch. Das war alles schon vorbereitet! Und die SA war auch da. Und diese Männer sind herumgegangen, um die Juden einzufangen, damit sie auf der Straße die Parolen Schuschniggs aufreiben gehen. Ich habe schon vorher erwähnt, dass meine Mutter in gewisser Hinsicht eine sehr mutige Frau war. Es ist also Folgendes geschehen: Meine Mutter hat meinen Bruder, der damals acht Jahre alt war, und mich in den dunklen Raum unserer Wohnung hinein gesteckt und hat uns dort eingesperrt. Und dann sind die „Judenfänger" gekommen, haben geklopft und meiner Mutter befohlen, einen Kübel Wasser und eine Bürste zu nehmen und mitzukommen. Sie ist gegangen, wir sind zurückgeblieben. Was das für sie bedeutet hat - das muss etwas ganz Schreckliches gewesen sein! Sie hat später nie mehr darüber gesprochen, was geschehen war. Sie ist gegangen, sie hat irgendwo die Parolen 30

von der Straße abgerieben, und sie ist mit dem Kübel zurückgekommen. Sie hat uns dann aus der Kammer wieder herausgeholt. Mein Vater war davongelaufen, er war versteckt. Er hatte wieder eine Affäre mit einer Kundschaft, die in Ober St. Veit gewohnt hat. Sie war eine „Arierin". Dort war er sicher. Meine Mutter war darüber anscheinend froh. Als sie vom Abreiben zurückkam, sprach sie entscheidende Worte: „Kinder, in diesem Land kann man nicht leben, wir müssen sofort versuchen, wegzukommen!" Das war ihr Entschluss, und sie schrieb sofort an ihre Schwester, die in London lebte Tante Martha, eine der Stiefschwestern. Sie hat ihr geschrieben, sie möge, was immer sie kann, tun, damit wir eine Einreise nach England bekommen. Meine Mutter hat geschaut, dass wir einen österreichischen Reisepass bekommen. Die Erfahrungen mit den antisemitischen Ausschreitungen hatten sie entschlossen gemacht, Osterreich zu verlassen - alles liegen und stehen lassen! Aber es hat noch bis zum Sommer 1938 gedauert, bis die Tante Posten für uns fand: Frauen konnten entweder als Köchinnen oder Dienstmädchen einreisen. Ausschlaggebend für die Einreise von Männern nach Großbritannien war, ob sie einen Beruf ausübten, wo es an Arbeitskräften mangelte. Dazu gehörten die Uhrmacher, was die Einreise meines Vaters Anfang 1939 ermöglichte: schon mit einem deutschen Reisepass, gekennzeichnet durch ein großes „J" für Jude und dem für jüdische Männer obligaten Vornamen „Israel". Wir - das heißt meine Mutter, mein Bruder und ich - reisten noch mit einem österreichischen Pass. Zurück zum 13. März 1938: Die Besitzerin des Hauses, in dem wir wohnten, und ihre Familie waren tiefgläubige Katholiken, die jeden Sonntag die Kirche besuchten. Sie stand am Balkon und rief uns zu: „Juden, Hunde und Katzen brauchen wir nicht in unserem Haus!" Wir hatten nämlich eine deutsche Schäferhündin, die laut ihrem Stammbaum „Leni von der Uckermark" hieß. Sie war ausgebildete Blindenführerin. Ich hatte Leni von einem blinden Freund meiner Eltern in Kagran geerbt, und ich liebte sie heiß. Auch hatten wir einen süßen Kater: „Mucki". Für die Tiere musste ich vor meiner Abreise nach England ein Heim finden, was bei 31

Freunden gelang. Der Abschied von ihnen war schwer. Zumindest: Das war einen Tag nach dem deutschen Einmarsch; können Sie sich das vorstellen? Noch am Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht erreichte mich eine Nachricht, die meine Kagraner Freundin Gretl Kallus schmerzlich betraf. Ihr Vater war Hofrat im Unterrichtsministerium und Koautor eines den Nazis gegenüber nicht freundlichen Schulbuchs gewesen. Er wurde nun - wie andere Persönlichkeiten des offiziellen Österreichs auch - am Tag des deutschen Einmarschs als eine der Geiseln nach Dachau gebracht. Und jetzt komme ich zu einer Geschichte, die einmal mehr den komplizierten Verlauf individuellen Lebens zwischen der großen und der kleinen Welt vor Augen führt: Gretls Mutter sowie ihr älterer Bruder waren schon vor dem deutschen Einmarsch Mitglieder illegaler nationalsozialistischer Organisationen gewesen. Die Mutter war im Bund deutscher Frauen und der ältere Bruder in der NSDAP. Gretl und ihr jüngerer Bruder gehörten keiner Naziorganisation an. Aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Bund deutscher Frauen erreichte Gretls Mutter die Freilassung ihres Mannes, den man in Dachau nicht gerade mit Samthandschuhen behandelte. Trotzdem und vielleicht auch deshalb hat mich Gretls Mutter noch vor der Freilassung ihres Mannes zu sich genommen. G. D.: Das war gleich nach dem Einmarsch? ALICE: Nein, ich bin zu ihnen, nachdem meine Mutter im August 1938 nach England gegangen war. Meine Mutter ist zuerst mit Burschi emigriert. Mein Vater war noch versteckt, und ich war noch in Hietzing. Und in dem Moment, wo meine Mutter weg war, sagte die Mutter meiner Freundin, obwohl ihr Mann noch in Dachau war, dass ich zu ihnen kommen könne. Bis zu meiner Abreise nach England wohnte ich bei ihnen. Mit Gretl bin ich bis heute brieflich in Verbindung, und wir sehen uns, wenn wir in Wien sind. G. D.: Waren Sie auch noch einmal in der schule? ALICE: Nie mehr wieder. 32

Dr.-Roland-Matura-

Alice hat 1995 ein Ehrendoktorat in Wien bekommen. Und ihr Kollege, Dieter Stiefel vom Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hat an der Dr.-RolandMaturaschule maturiert. MIKULÄS:

Ja, er hat dort maturiert. Ich habe dort nicht mehr maturieren können. ALICE:

MIKULÄS:

ben ...

Dieter Stiefel hat an die Rolandschule geschrie-

. . . dass also eine Schülerin der Schule ein Ehrendoktorat der Universität Wien bekommt.

ALICE:

Daraufhin hat der Direktor der Dr.-Roland-Maturaschule an Alice ein Schreiben gerichtet, das Dieter ihr nach dem Festakt überreichte. MIKULÄS:

Dieter Stiefel hat einen Brief für mich erhalten, wie stolz die Dr.-Roland-Maturaschule auf ihre frühere Schülerin ist ... Das mit der Schülerin ist natürlich ein Witz von Stiefel gewesen. Das kann ich mir jetzt einrahmen lassen. Das war lustig. ALICE:

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MIKULÄS

-

Kindheit und Jugend in der Slowakei G. D.: Mikuläs, Sie haben ja Ihre Kindheit und fugend in der Slowakei verbracht.

Ja, ich bin in Kosice, deutsch Kaschau, ungarisch Kassa, in der Ostslowakei geboren. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war Hauptarzt in Mukatschewo, ungarisch Munkäcs. Das ist in Ruthenien, das damals ein Teil Ungarns war und jetzt zur Ukraine gehört. Mukatschewo war damals die größte Stadt in Ruthenien, und Kaschau war relativ nahe. Ich erzähle immer, dass es damals eigentlich nur zwei Spitäler in der Slowakei gab. Aber ob das richtig ist, weiß ich nicht. Mein kürzlich verstorbener Bruder war fünf Jahre älter als ich und wurde in Budapest geboren. Aber warum dort, weiß ich nicht. Ich selbst bin am 24. Juli 1918 geboren, es war also noch Krieg. Unsere Familie kommt aus der Mittelslowakei, auch die Familie meiner Mutter. Dort habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht. Die ersten sechs Jahre lebten wir in dem Dorf Liptovskä Teplä, das ist sechs bis acht Kilometer östlich von Ruzomberok. Dort hat mein Vater eine Landwirtschaft betrieben, gleichzeitig war er Straßenbauunternehmer, Getreide* und später Holzhändler. Sein Vater, den ich nicht gekannt habe, hatte ein Gut und ein Wirtshaus. Er starb am Anfang des Ersten Weltkriegs, nachdem er die falsche Nachricht bekommen hatte, dass sein Sohn gefallen sei. Meine Mutter, die ältere Tochter des Arztes, war eine sehr schöne Frau - und so hat mein Vater eine schöne Frau geheiratet. Ich habe eine angenehme Kindheit im Dorf verbracht. Als ich sechs Jahre alt war, übersiedelten wir nach Ruzomberok. Ich denke an meine Jugend mit Freude. Ich bin, ebenso wie Alice, auch gerne in die Schule gegangen. Meine Freunde waren nicht nur jüdische Kinder. Im Großen und Ganzen war unter diesen Kindern die Frage des MIKULÄS:

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Antisemitismus nicht präsent oder nur sehr selten. Ich sage das deshalb, weil Ruzomberok das Zentrum des slowakischen politischen Katholizismus war. Die Slowakische Volkspartei, die dann die Flagge der Autonomie trug und später, also zwischen 1939 und 1945, die Macht im klerikalfaschistischen Slowakischen Staat besaß, diese Partei wurde vor dem Ersten Weltkrieg gegründet - und zwar von dem Pfarrer in Ruzomberok. Er hieß Andrej Hlinka*; er war ein politischer Pfarrer. Mein Interesse an Politik hat damit zu tun. Ich besuchte die jüdische Elementarschule. Dort waren auch nichtjüdische Kinder von deutschen und tschechischen Werkmeistern und Beamten. Ruzomberok war eine kleine Industriestadt mit Papierfabriken, einer Textilfabrik sowie auch mit einer Ziegel- und Zündholzfabrik. Die deutschund tschechischsprachigen Eltern haben ihre Kinder in die jüdische Elementarschule mit slowakischer Unterrichtssprache geschickt. Offensichtlich glaubten sie, dass die Kinder dort besser aufgehoben sein würden als in den anderen Volksschulen. Die kleine Industriestadt mit etwa 14.000 Einwohnern besaß noch drei andere Volksschulen: je eine römisch-katholische, evangelische und staatliche. Ferner, um das Schulspektrum zu komplettieren, verfügte die Stadt über eine Bürgerschule (Hauptschule), eine Haushaltschule für Mädchen und ein Realgymnasium. In der Schule, in der Turnhalle und beim Sport hat man sich kennen gelernt. Turnen und Sport waren wichtig, hier waren alle gleich. G. D.: Welche Sportarten haben Sie betrieben? MIKULÄS: Vieles, zuerst war Fußball sehr wichtig, später Tennis, Tischtennis, Leichtathletik und Volleyball, nicht zuletzt Skilauf und Turnen. Dort hat man sich getroffen. Wenn man relativ gut war, hat das einem Prestige gegeben. Es war nicht so wichtig, ob man gut gelernt hat oder nicht. Ich war zufälligerweise kein schlechter Schüler, aber das war an und für sich nicht so bedeutend in den Augen meiner Freunde. In der vierten Klasse der Elementarschule bin ich krank geworden: Ich habe Scharlach bekommen, das war damals eine sehr gefährliche Angelegenheit. Ich war in Quarantäne

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zu Hause; nur meine Mutter durfte zu mir. Um mich nicht zu langweilen, habe ich Zeitungen gelesen. Wie bin ich zu den Zeitungen gekommen? Zu ihnen bin ich so gekommen, dass neben uns ein kleiner Zeitungsladen war. Die Remittenden, also die Zeitungen, die dort übrig geblieben sind, hat mir mein Vater gebracht. Seit dieser Zeit bin ich ein Zeitungsleser. ALICE: S ü c h t i g !

MIKULÄS: Süchtig, ja. In dieser Zeit wurde ich zum ersten Mal mit politischen Sachen konfrontiert, und das hat sich dann langsam entwickelt: im Rahmen des sozialen Milieus in Ruzomberok, wo ich mit Kindern aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen zusammengekommen bin. Bald, sehr bald war ich mir bewusst, dass es arme und reiche Leute gibt. Auch bei den Juden in Ruzomberok, wo ich selbst zu den Wohlhabenderen gehörte, gab es Proletarier, nicht viele zwar, aber doch. Und einer, der etwas älter war, hat bei uns einmal in der Woche zu Mittag gegessen. Das ist mir im Kopf geblieben, damit wurde ich konfrontiert, und das hat mich bis heute nicht losgelassen: der Widerspruch zwischen Arm und Reich. G. D.:

Wie war das bei Ihren

Eltern?

MIKULÄS: Mein Vater ist schon ganz gut ausgekommen. Nur die Art und Weise, wie das bewerkstelligt wurde, war kompliziert: Das Haus, das meinem Vater gehört hat, war während der Weltwirtschaftskrise an die Bank gegangen. Er war verschuldet. Aber er war fähig, seinen Geschäften nachzugehen. Die Landwirtschaft hatte er aufgegeben. Er war Getreidelieferant für die Armee: Hafer für die Pferde. Das war sein Geschäft, und er hat von zwei Cousins Geld bekommen. Die haben mit ihm das Geschäft gemacht. Das war eine Sache, die uns sehr betroffen hat. Auch wenn meine Mutter nie etwas gesagt hat, bin ich überzeugt, dass sie das schlecht ertragen hat. Sie war ja die Tochter eines Arztes, und sie war die Älteste von drei Kindern. Sie hat ihren Vater sehr verehrt, und ich habe ihn auch sehr verehrt. Als ich jung war, hat er einen ganz großen Einfluss auf mich gehabt. Er hatte einen sehr trockenen Humor. Er hat 37

spärlich gesprochen. Aber was er gesagt hat, hat auf mich einen großen Eindruck gemacht. Er ist 1936 an Darmkrebs etwa siebzigjährig gestorben. Damals war wieder eine wirtschaftliche Krise in meiner Familie. Aber mein Großvater hatte - ob es im Testament stand, entzieht sich meiner Kenntnis - darauf bestanden, dass ich studiere. Auch meine Eltern wollten das. Das war gar keine Frage, dass ihre zwei Söhne studieren sollen. Mein Vater war ja 1930 wirtschaftlich zugrunde gegangen. Damals wollte mein fünf Jahre älterer Bruder zum Studium nach Prag. Mein Vater hatte eine sehr interessante Auffassung; er sagte meinem Bruder: „Du kannst studieren, was du willst, aber für mich kommt entweder Jura oder Medizin in Frage." Ganz phantastisch! Mein Bruder war ein sehr guter Mathematiker, hatte Interesse, Elektroingenieur zu werden. Mein Vater war aber der Ansicht, dass das das Letzte sei, was man in einer Weltwirtschaftskrise ausüben kann. So ist mein Bruder mit dem Vorhaben nach Prag gefahren, Medizin zu studieren. Er kam in Prag an und wollte sich an der Medizinischen Fakultät inskribieren. Zuvor ist er aber noch in den Anatomie-Saal gegangen - und dort ist er in Ohnmacht gefallen. So ist er nolens volens Jurist geworden. Das hat er auch absolviert. Aber für mich war vom Anfang an, von klein auf schon, klar, dass ich Mediziner sein werde. Schon als Kind habe ich so ein Täschchen gehabt. ALICE: Ein first-aid kit, also einen Erste-Hilfe-Koffer. MIKULÄS: Und ich habe Salben gehabt. Dass da der Einfluss meines Großvaters war, ist wahrscheinlich. Meine Mutter erzählte mir, er wäre ein Freidenker. Damit habe ich freilich als Bub nicht viel anfangen können. Erst später wurde mir bewusst, dass in dem Milieu, wo er tätig war, Freidenkerei eine große Sache war. Auf mich hat also mein Großvater durch seinen trockenen Humor und seine Bemerkungen einen ganz großen Eindruck gemacht. G. D.: Was waren das für

Bemerkungen?

MIKULÄS: Das ist sehr schwer zu sagen. Er war ein interessanter Mensch, zum Beispiel in dem Sinne, wie er Französisch gelernt hat. Ruthenien gehörte zu den ärmsten Regio-

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nen der Monarchie. Dort waren sehr wenige Ärzte. Er ist ausgerechnet nach Ruthenien gegangen, obwohl er in Wien studiert hatte. Dort hätte er möglicherweise eine akademische Karriere anfangen können. Denn er hat einen sehr guten Kopf gehabt, er war ein sehr guter Arzt. Anscheinend hat er lieber eine schöne Frau geheiratet. Das war die Mutter meiner Mutter. Er hat sie nach Ruthenien mitgenommen, zunächst nicht in die große Stadt, sondern in ein sehr kleines Städtchen, wo auch meine Mutter geboren ist. Erst später sind sie nach Mukatschewo übersiedelt. Es wurde erzählt - ob das wahr ist, weiß ich nicht - , dass er im Umkreise des Städtchens zu allen Fällen von Tuberkulose gerufen wurde. So wenige Ärzte gab es! Mit einer Pferdekutsche sind sie herumgefahren. Und während er kutschiert wurde, lernte er drei französische Bücher auswendig. Ob er auch ein Wörterbuch benutzt hat, weiß ich nicht. Aber drei Bücher waren es, eines war von Guy de Maupassant*! Wissen Sie, warum ich das weiß: Im Jahre 1935 haben wir meine Mutter und ich - ihn und die Großmutter zu Weihnachten besucht. Da ist er schon krank gewesen, ist schon nicht mehr aufgestanden, aber eines Abends sagte er mir: „Hier ist dieses Buch, fang an zu lesen!" Zunächst drei, vier Wörter, worauf er den Text fortsetzte. Aber seine Aussprache war unmöglich; wo hätte er sie auch erlernen sollen? Er hatte es ja nie wirklich gehört. Der Großvater hat mein erstes Jahr an der Universität finanziert, also nicht mehr er, sondern schon die Großmama. G. D.: Sie haben zuvor gemeint, dass die spezielle politische Atmosphäre Ruzomberoks, der dort vertretene politische Katholizismus, mit dazu beigetragen habe, dass sie ein politischer Mensch geworden sind. In welcher Weise? Was haben Sie als Kind, als Jugendlicher mitbekommen? MIKULÄS: Der erste Einfluss war, dass ich einfach gelesen habe, in der Volkschule schon. Dann bin ich Mitglied eines ursprünglich tschechischen Turnvereins - Sokol, was im Deutschen Falke heißt - geworden. Aber dort habe ich das sicherlich nicht so mitbekommen. Der Anstoß zu meiner politischen Reife begann erst im Gymnasium. Das war kompliziert. Es war ursprünglich ein von Piaristen 1888 gegründe-

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tes und geführtes Gymnasium, das nach 1918 ein staatliches Realgymnasium geworden ist. Als ich im Jahre 1928 nach einer Aufnahmeprüfung in diese Mittelschule gekommen bin, waren - wenn ich mich richtig erinnere - von zwölf Lehrkräften, man nannte sie Professoren, zehn Tschechen. Die zwei Slowaken waren der Professor für Mathematik und Physik und der Religionslehrer, der teilweise auch Latein unterrichtete. Die Magyarisierung*, die vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts und dann bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ungeheuer forciert worden war, hatte dazu geführt, dass in der 1918 entstandenen Tschechoslowakischen Republik einfach nicht genügend slowakische Lehrkräfte da waren. So sind tschechische Professoren in slowakische Gymnasien gekommen. Und mit diesen Lehrkräften ist auch eine neue Weltanschauung gekommen: eine demokratische. Demokratie war fortwährend ein Thema. Vielleicht habe ich das zuerst nicht verstanden, aber schon etwa ab der dritten Gymnasialklasse habe ich das mitbekommen. Die Demokratie war verbunden mit dem Namen Tomás Garrigue Masaryk*, dem ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik. Das hat mich sehr geprägt - und zwar deshalb, weil das politische Milieu, in dem meine Eltern heranwuchsen, ganz anders ausgerichtet war. G. D.: Wie soll man das verstehen? MIKULÁS: Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 hatten sich assimilierten Juden in der ungarischen Reichshälfte ein weites Feld für wirtschaftliche und freiberufliche Tätigkeiten geöffnet. Daher nahm man Beleidigungen wie büdös zsidó, was im Ungarischen so viel wie „Stinkjudl" heißt, in Kauf. Es dauerte eine Weile, bis die Generation meiner Eltern mit den veränderten Verhältnissen im demokratischen Nachfolgestaat Tschechoslowakei zurechtkam. Meine Generation hatte kein Problem: Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand unter meinen jüdischen Altersgenossen je der Monarchie nachweinte. Nachdem Hitler 1933 in Deutschland an die Macht gekommen war, wurde Masaryk zur wichtigsten Figur für die Juden in der Slowakei. Nach und nach erinnerte man sich 40

seiner Rolle zur Zeit des Ritualmordprozesses* gegen den 1899 fälschlich angeklagten Leopold Hilsner. Da war ein Professor in Philosophie - Masaryk hatte an der tschechischen Universität zu Prag gewirkt - gegen den Strom geschwommen und hatte klipp und klar den Ritualmordaberglauben in der Presse und im Lehrsaal verurteilt. Für damalige mitteleuropäische Verhältnisse eine ganz ungewöhnliche Begebenheit. Das Vertrauen, das man Masaryk gab, übertrugen die Juden in der Slowakei auf Edvard Benes*, der ihm als Präsident 1935 nachfolgte. Sie haben dann gesagt: „Solange Masaryk und Benes sind, kann uns nix geschehen." Die Geschichte hat ihnen Recht gegeben. Ich habe schon sehr bald herausbekommen, dass hier ein Unterschied in der politischen Orientierung ist und der neue demokratische Zugang aus Prag gekommen ist. Ich bin also mit der Demokratie sozialisiert worden und habe die Demokratie auch gelebt: Ich habe mich mit Jungen und Mädchen getroffen und gesprochen, die aus verschiedenen Milieus stammten. G. D.: Wie sehr hat das Judentum bzw. die jüdische Religion in Ihrer Kindheit und Jugend eine Rolle gespielt? Der Herkunft nach war man jüdisch - ohne dies durch die Befolgung von Ritualgesetzen und Synagogenbesuch zu dokumentieren. Wir hielten selbst nach der Übersiedlung aus dem Dorf in die Stadt ein Schwein. Sogar im christlichen Milieu der Stadt war Schweinehalten nicht üblich. Der jüdische Religionsunterricht fand ein- bis zweimal in der Woche statt. Am Ende eines langen Tisches saß der Rabbiner, am anderen ich und weitere Schüler, mit denen ich plauderte. Hie und da fragte der Herr Rabbiner, ob er auch mitreden dürfte. Religion als solches interessierte mich wenig. Als der Rabbiner schwer erkrankte, übernahm mein früherer Elementarlehrer den Unterricht. Er fand mein Benehmen unannehmbar und bescherte mir einen Dreier in Religion. Damit verdarb er mir in der Sexta das Zeugnis vorbei war es mit der Auszeichnung. Mein Bruder - der angehende Jurist - fand heraus, dass ich aus dem Religionsunterricht austreten könnte. Als der Herr Rabbiner wieder geMIKULÄS:

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sund war und über meinen Austritt erfuhr, besuchte er meinen Vater. Das Resultat: Ich bin zurückgekommen. G. D.: den?

Welche Sprache ist in Ihrem Elternhaus

gesprochen

wor-

MIKULAS: Ich bin mit drei Sprachen aufgewachsen, nein mit vier. Meine Eltern, speziell dann, wenn sie nicht wollten, dass wir das verstehen, haben gerne ungarisch gesprochen. Meine Mutter hatte zuerst Ungarisch und dann Slowakisch und Deutsch erlernt. Ungarisch war ihre Muttersprache. Sie hat auch fließend Slowakisch gesprochen. Die Juden in der Slowakei, die Generation meines Großvaters, hatten in ihrer Jugend Deutsch oder Jiddisch-Deutsch gesprochen. Ich hatte eine Stiefgroßmutter, die sprach fließend Deutsch; sie sprach Deutsch lieber als Ungarisch. Ich nehme an, erst mit der Politik der Magyarisierung wurde das Ungarische so wichtig. Das hat dann alle Nationalitäten dort betroffen. Mein Vater hat fließend Deutsch, Ungarisch und Slowakisch gesprochen. Uns ist beigebracht worden, dass die deutsche Kultur höher steht als alle anderen - nicht so sehr von meiner Mutter, aber von meinem Vater. So wurde Deutsch gesprochen. Wir, mein Bruder und ich, haben miteinander Slowakisch gesprochen. Und im Gymnasium hat ein Teil der Professoren Tschechisch gesprochen, ein anderer Teil Slowakisch und wieder ein anderer Teil ein „tschechoslowakisches" Gemisch. Die Lehrbücher waren teilweise Tschechisch und Slowakisch. So bin ich mit vier Sprachen aufgewachsen, aber fließend habe ich eigentlich Slowakisch gesprochen. Alice sagt, als sie mich kennen lernte, wäre mein Deutsch holprig gewesen. Tschechisch habe ich durch Lesen von Büchern und Zeitungen erlernt. ALICE: Dein Tschechisch war natürlich fließend. MIKULAS: Ja, aber ich habe Tschechisch nicht geschrieben. Das habe ich erst, als ich nach dem Zweiten Weltkrieg in die Tschechoslowakei zurückgekehrt war. Da habe ich ja die tschechische Schreibweise erlernen müssen. Die Sprachen, also Tschechisch und Slowakisch, sind sich sehr ähnlich, aber es sind nicht dieselben Sprachen. Es gibt Unterschiede in der Schreibweise wie auch in der Aussprache. Anfangs 42

hatte ich Schwierigkeiten, aber die habe ich schnell überwunden. Tschechisch reden hatte ich schon am Gymnasium beherrscht. Ich war ein ziemlich guter Schüler. In der siebten oder achten Klasse hat mich ein slowakischer Professor, der sehr faul war, aufgerufen. Geschichte und Geografie hätte er unterrichten sollen, aber er war so faul, dass er dort gesessen ist und mich aufgerufen hat. Ich sollte aus dem tschechischen Lehrbuch vorlesen - und ich habe sofort slowakisch gelesen. Da habe ich direkt übersetzt. G. D.: Sie waren, Sie haben es vorher erzählt, bei einem schen Turnverein ...

tschechi-

MIKULÄS: Ja, aber ich bin nach 1933 zum jüdischen Turnverein übergetreten. Dort waren auch die meisten meiner jüdischen Freunde. Die sind dann sehr bald Zionisten* geworden. Ich war nie ein Zionist. Ich kann es Ihnen auch jetzt schwer erklären, was mich damals dazu bewogen hat, von diesem tschechischen Turnverein in den jüdischen Turnverein überzugehen. Es liegt auf der Hand, dass die Judenverfolgungen in Deutschland etwas damit zu tun hatten. Aber ich wusste auch von Verfolgungen von Nazigegnern sowie Georgi Dimitroffs* Auftritten im Reichstagsbrandprozess, der wahrscheinlich bei mir erstmals ein ernstes Interesse für Faschismus und Kommunismus weckte. Wie auch immer, das Bemerkenswerte war, dass die jungen Menschen aus den verschiedenen Turnvereinen sehr eng miteinander verbunden waren. Es ist nie zu einem Bruch zwischen den freundschaftlichen Verhältnissen gekommen. Auch die Pfadfinderbewegung hat ihren Teil beigesteuert. Wir sind jährlich zwei Wochen in ein Pfadfinderlager gegangen. Dort waren katholische, protestantische und jüdische Kinder zusammen. Nach 1933 bis zur Matura bin ich eigentlich das einzige jüdische Kind geblieben, das an diesem Pfadfinderlager teilnahm. Ich teilte das Zelt mit einem damals engen Freund am Gymnasium, der aus einer christlich-proletarischen Familie kam. Er war das Kind eines in der Textilfabrik tätigen tschechischen Werkmeisters und einer sehr frommen slowakischen Katholikin. Von den 1928 ursprünglich 43 aufgenommenen Primanern haben es nur drei geschafft zu maturieren: mein

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Freund, ein Mädchen aus bürgerlich-] üdischem Milieu und ich. Es herrschte eine strenge Auslese. Außer uns wurden 1936 noch acht andere zur Matura zugelassen. Davon waren vier, die früher eine Klasse hatten wiederholen müssen. Einer war nach einem zweijährigen Intermezzo an einem anderen Gymnasium zurückgekehrt; die restlichen drei waren überhaupt aus anderen Gymnasien zu uns gekommen. Nach der Matura haben sich unsere Wege getrennt. Mein Freund hat Physik und Chemie in Brünn studiert. Ich dagegen ging zum Medizinstudium nach Prag. Übrigens: Im Sommer 1936 wurde ich benachrichtigt, dass ich mich für ein Universitätsstudium eigentlich nicht eigne. G. D.: Wieso denn das? MIKULAS: Das war so: Irgendwann knapp vor der Matura erscheint der Gymnasialdirektor in unserer Klasse und informiert uns: „Ihr habt die Gelegenheit, euch einem psychotechnischen Test zu unterziehen." Den Begriff „Psychotechnik" habe ich damals - und ich nehme an, auch meine Klassenkameraden - zum ersten Mal gehört. Das Ziel war herauszufinden, ob man sich für ein Hochschulstudium eignet. Der Gymnasialdirektor betonte, niemand würde gezwungen, es handle sich um eine freiwillige Aktion. Wir alle - ohne zu zögern — haben uns diesem Eignungstest unterzogen, und ich habe ihn nicht bestanden. Da das Resultat meinen früheren Erfolgen in der Schule widersprach - ich maturierte mit Auszeichnung - , wurde mir eine Wiederholung des Tests empfohlen. Als ich das Schreiben meinem Vater zeigte, bemerkte er trocken: „Wenn ich dir sage, mein Kind, dass du dich zum Studium eignest, so eignest du dich zum Studium." Verständlicherweise habe ich seitdem für Intelligenztests nichts weiter übrig. G. D.: Sie haben gesagt, dass der katholische Schulkamerad Ihr enger Freund war. Was hat fiir Sie damals Freundschaft geheißen? Was hat zu dieser Freundschaft dazugehört? MIKULAS: Man hat über alles frei gesprochen. Daher, glaube ich, habe ich mehr Einsicht in das Denken dieser slowakischen katholischen Intelligenz bekommen als meine jüdi-

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sehen Freunde. Die waren meistens Zionisten, die das wenig interessiert hat. Sie haben es auch nicht verstanden. Ich teile die Ansicht eines englischen Historikers, William V. Wallace, der über die tschechische und slowakische Geschichte einmal geschrieben hat, dass weder Masaryk noch Benes die slowakische Frage richtig verstanden hätten. Ich habe da noch einen Zusatz: Auch die tschechischen und slowakischen Kommunisten haben das nicht richtig behandelt. G. D.: War diese slowakische Frage auch im Alltag spürbar, oder war sie in erster Linie ein politischer und intellektueller Diskurs? MIKULÄS: Nein, im Alltag war das nicht so präsent, eher politisch und auch kulturell. Ich habe eben bereits erwähnt, dass in der achten Klasse im Gymnasium drei Schüler aus anderen Gymnasien dazugekommen waren. Dort waren sie ausgeschlossen worden, zwei von ihnen wegen politischer Umtriebe für die slowakische Autonomie, der dritte - ein jüdischer Student - wegen irgendwelchem Ungehorsam. Für mich ist das bis heute ein Rätsel, denn er war ein furchtsamer und schüchterner Mensch. Ich komme auf diesen Fall auch deshalb zu sprechen, weil er interessante kulturpolitische Folgen haben sollte. Dieser Junge kam aus einem Gymnasium in Liptovsky Mikuläs - auch eine kleine Industriestadt, 24 Kilometer östlich von Ruzomberok. Ein dort lehrender tschechischer Professor, Jaroslav Zäk, verarbeitete den Fall zu einem Theaterstück: „Die Schule, die Grundlage des Lebens". Es wurde von dem progressiven und innovativen Prager Theaterdirektor Emil Frantisek Burian, wenn ich mich nicht irre, im Jahr 1937 uraufgeführt: Es war ein großer Erfolg, und es wurde auch verfilmt.

Ach, das haben wir ja gesehen! Aber ich wollte immer schon fragen, wieso konnten diese Schüler, wenn sie ausgeschlossen waren, im Gymnasium in Ruzomberok aufgenommen werden? ALICE:

Ich kann das nicht wirklich beantworten. Ich bezweifle, dass ihnen Ruzomberok zugewiesen wurde. Sie hatten sich wahrscheinlich beworben. Ich kann mir vorstellen, dass diese zwei, die wegen autonomistischer Umtriebe aus-

MIKULÄS:

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geschlossen worden waren, sich gesagt haben, in Ruzomberok kann das doch nicht so schlecht sein, wenn hier Andrej Hlinka, der Führer der Autonomiebewegung, ist. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Mit dem einem bin ich sehr freundschaftlich geworden. Sein Bruder war, wenn ich mich nicht irre, ein Abgeordneter für die Hlinka-Partei im tschechoslowakischen Parlament und ein Sprecher des katholischen Eisenbahnertums. Weihnachten 1937 hat mich mein Schulfreund, der damals schon ein Pristerseminarist war, besucht. Ich will nur andeuten, wie das funktioniert hat. G. D.: Also quer über die religiösen, konfessionellen oder nationalen Barrieren hinweg? MIKULÄS: J a .

ALICE: Bis sich die Verhältnisse nach dem Münchener* Abkommen geändert haben. MIKULÄS: Ja, am 6. Oktober 1938 ist die Autonomie der Slowakei ausgerufen worden. Das war nach dem Münchener Abkommen. Damals habe ich zufällig meinen langjährigen Schulgefährten getroffen. Dabei machte er eine Bemerkung, dass mein jüdischer Ursprung eine negative Rolle spielen könnte. Das war das einzige Mal, wo er sich so äußerte. Er meinte auch, er selbst könnte es wegen seines tschechischen Vaters nicht leicht haben. Ich habe ihn nach dem Krieg nicht mehr gesehen. Im Großen und Ganzen habe ich während des Gymnasiums eine schöne Zeit gehabt. Ich habe auch nie ein Minderwertigkeitsgefühl gehabt, dass ich in ein slowakisches Gymnasium gegangen bin. Ich habe eine breite Allgemeinbildung erworben, und dafür bin ich den tschechischen Professoren dankbar. Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass zwischen 1928 und 1936 der slowakische Anteil im Professorenkollegium gestiegen ist. ALICE: Ich war schon von dem Niveau beeindruckt, als ich später nach Prag, in das intellektuelle Milieu an der KarlsUniversität kam. Ich bin bis heute schwer beeindruckt. G. D.: Sie haben anfangs darüber gesprochen, dass Sie schon in Ihrer Jugendzeit den Widerspruch zwischen Arm und Reich erlebt

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hätten. War das für Sie, zwischen Ihnen und Ihren Freunden, ein Thema? MIKULÄS: Ich bin überzeugt, dass meine Freunde, die aus ärmeren Schichten gekommen sind, das gefühlt haben, aber ein Thema war es nicht. Man hat sich gescheut, darüber zu sprechen - auf beiden Seiten. In der slowakischen katholischen Presse standen Dinge, je nachdem, wie es Hlinka gerade passte: die jüdischen Händler und Wohlhabenden auf der einen und auf der anderen Seite die armen slowakischen Bauern. Von den Arbeitern war in diesen Zeitungen schon weniger die Rede, weil es ja auch slowakische Kapitalisten - Unternehmer und andere Geschäftsleute - gab. In der slowakischen katholischen Presse war der Klassenkampf nicht so ein Thema, im Unterschied zu der relativ einflussreichen kommunistischen Presse. G. D.: Gab es Beziehungen zwischen dem Milieu des Gymnasiums und den Kommunisten? MIKULÄS: Bedeutender war das politische und soziale Klima der Stadt und ihrer Umgebung. Nehmen wir den Anteil der Ruzomberoker am Spanischen* Bürgerkrieg. Zu den ersten freiwilligen Spanienkämpfern gehörte ein junger Mann, der die tschechoslowakische Offiziersschule absolviert hatte. Er hat zusammen mit meinem Bruder maturiert. Er kam aus einer slowakischen katholischen Familie; der Vater war ein Gefängnisaufseher. Er war, das weiß ich jetzt nicht genau, Vorsitzender oder nur Funktionär des katholischen Jugendvereins. Für mich war es eine große Überraschung, dass dieser junge Mensch nach Spanien ging, wo er auch früh gefallen ist. Er hieß Jozo (Jozef) Mäjek und wurde sozusagen zu einer Legende. Mäjek war befreundet mit einem angehenden oder schon geweihten Priester namens Haimos. Diesen jungen Kleriker hat Hlinka sehr gerne gehabt, vielleicht sah er in ihm den potentiellen Nachfolger so wurde es zumindest kolportiert. Was Hlinka nicht wissen konnte: Haimos berichtete unter Pseudonym in einer kommunistischen Tageszeitung über Vorkommnisse in der Ruzomberoker Pfarre. Und was dann zur Sensation wurde - ich habe es dunkel in Erinnerung: Haimos begab sich

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nach Spanien. Er hat den Bürgerkrieg überlebt. Sein weiteres Schicksal entzieht sich meiner Kenntnis. Zum freiwilligen Spanienkämpfer wurde ein mir bekannter junger Bankbeamter: Laco (Ladislav) Holdos. Er stammte aus einer protestantischen Försterfamilie. Nach 1945 wurde er Partei- und Staatsfunktionär und schließlich Opfer stalinistischer Willkür. Schließlich gab es noch drei Freiwillige aus jüdischem Umkreis: Frico (Bedrich) Biheller - ein kommunistischer Parteiarbeiter; Helena Petránková - eine Apothekerin; sowie Alinka (Alica) KohnováGlasnerová - eine Juristin, die ich seit meiner Kindheit kannte. Auch sie ist später unter die Räder des staatlichen Unrechts gekommen. Die zwei Frauen habe ich später auch kennen gelernt. Sie gehörten zum Umfeld von Egon Erwin Kisch*. ALICE:

Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, an dem mir bekannte Menschen teilnahmen, intensivierte mein linksorientiertes politisches Bewusstsein. Der Bürgerkrieg brach aus, kurz nachdem ich im Juni 1936 maturiert hatte. Zum Medizinstudium ging ich im Oktober nach Prag. MIKULÁS:

ALICE: D U

der?

bist nicht in Ohnmacht gefallen, so wie dein Bru-

Nein. Ich bin dort sehr schnell in linke politische Gruppen hineingekommen, nicht weil ich da Leute gekannt hätte. Ich habe nur erfahren, dass sie existieren. Wahrscheinlich habe ich irgendwie oder irgendwo ein Plakat gelesen, wie das so ist an Universitäten. Dann bin ich dort zu einem ersten Meeting hingegangen. Ich weiß noch ganz genau, da war die Redaktionssitzung von „Roentgen", so hieß die Zeitschrift der linksorientierten Medizinstudenten. Mir war das schon von meinem Professor für slowakische Sprache und Literatur im Gymnasium in der zweiten Klasse gesagt worden, dass ich eine journalistische Feder führe. Man hat übrigens im Gymnasium die Schüler gesiezt. MIKULÁS:

Du meinst, in der zweiten Gymnasialklasse hat man schon „Sie" gesagt? ALICE:

MIKULÁS:

48

Schon in der ersten.

ALICE: Da warst du zehn Jahre alt! Ja, so war es. In der zweiten Gymnasialklasse meinte der Professor, als er meinen Aufsatz gelesen hatte: „Sie schreiben wie ein Journalist." Ich las ja Zeitungen. Und ich wollte auch dort - in Prag - an einer Zeitung mitarbeiten. Nur: Meine Hoffnungen sind gescheitert, denn nichts davon, was ich für „Roentgen" geschrieben habe, wurde veröffentlicht. Nichtsdestoweniger hatte mein unbedeutender und dazu erfolgloser journalistischer Versuch in einer linksorientierten Studentenzeitschrift für mich unerwartet negative Folgen. Mir wurde im zweiten Studienjahr die Mitgliedschaft im allgemeinen medizinischen Studentenverband verweigert. Dieser war traditionell politisch rechtsorientiert. Die Mitgliedskarte war gültig, wenn sie mit der entsprechenden Jahresmarke versehen war. Um diese musste man jährlich ansuchen. Anstatt ihrer fand ich gestempelt: „Abgelehnt". Damit verlor ich unter anderem den Zutritt zur Bibliothek des Ärztevereins. Eine komische Anwendung der von allen Seiten beschworenen Demokratie ä la Masaryk. Aber darüber fing ich erst an, in der Emigration nachzudenken. MIKULÄS:

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ALICE

- Emigration nach England

G. D.: Alice, Sie sind 1938 nach England

emigriert...

ALICE: Ja, ich bin am 30. September in England angekommen. Zwei Tage vorher war ich aus Wien abgereist. Das war zur selben Zeit, als in München Verhandlungen stattfanden. Ich habe das erst in England erfahren, dass das Münchener Abkommen an diesem Tag unterzeichnet worden war. Nach seiner Rückkehr aus München schwenkte der britische Premierminister Neville Chamberlain ein Blatt Papier und erklärte: „Peace in our time." Meine Reise von Wien nach England ging über Aachen und Oostende nach Dover, und ich kam am Victoria-Bahnhof in London an. Mein Vater war in Wien noch versteckt, aber ich hatte ihn noch gesehen, bevor ich wegging: in Unter St. Veit. Ich war nie in der Wohnung, wo er mit einer Frau lebte. Aber in Unter St. Veit habe ich ihn dann in einem Kaffeehaus getroffen. Er hat mir eine goldene Kette, einen Ring und eine Uhr geschenkt, damit ich etwas Schmuck habe. Ich bin in Wien sehr assimiliert aufgewachsen. Ich hatte immer Dirndl getragen. Nie habe ich ein Kleid oder eine Bluse angezogen. Das ist dann alles erst in England gekommen. Nach England habe ich noch zwei Dirndln mitgenommen. Und als ich von Wien abfuhr, hatte ich auch ein Dirndl an. In dem Eisenbahnwagen waren dann ziemlich viele Juden, die auswandern wollten. Als wir an die deutsch-belgische Grenze bei Aachen kamen, mussten alle mit ihrem ganzen Gepäck aussteigen. SA-Männer und Bahnbeamte fingen die Leute ein und führten sie ab. Ich befand mich am Bahnsteig, da kam ein Offizier zu mir. Ich hatte ja dieses Dirndl an, und ich war sehr blond. Dieser Mann kam zu mir und fragte mich, wo ich hinfahre. Ich sagte: „Nach England." Ob ich etwas zum Lesen hätte; da habe ich gesagt: „Nein!" Er schlug vor, ein bisschen auf und ab zu gehen - bis zu einem 51

Kiosk. Inzwischen sind die anderen Leute, die in dem Zug waren, verschwunden. Er kaufte mir einen Detektivroman; dann führte er mich zurück zum Zug, und ich stieg mit meinem Koffer ein. Vorher hatte ich mein Gepäck ja aus dem Zug herausholen müssen, und jetzt half er mir dabei, das Gepäck wieder hineinzugeben - und so bin ich abgefahren: über die Grenze, und die anderen Passagiere waren alle weg. An der Grenze selbst war dann alles in Ordnung, weil ich ja ein englisches Visum als Hausgehilfin hatte. Ich bin dann weitergefahren bis nach Oostende, wo man auf das Schiff warten musste. Auf dem Schiff habe ich dann die Menschen, die mit mir im Zug gewesen waren, wiedergetroffen. Sie waren in einem fürchterlichen Zustand: Sie sind geschlagen worden, man hatte ihnen alles, was sie an Schmuck hatten, abgenommen. Einige hatten Werkzeuge mit, selbst das hatte man ihnen weggenommen. Zwei oder drei Männer hatten den Rücken vollkommen blutig geschlagen. Alle sind sie mit ihren Pässen in den nächsten Zug hineingestoßen worden. Ich habe mir gedacht: „Das ist aber merkwürdig, dass dieser Offizier mich herausgenommen hat, vielleicht wollte er mich schützen." Ich hatte in England sehr großes Glück, als Dienstmädchen in einer Familie in Kingston upon Thames zu landen, die gerade aus Burma zurückgekehrt war. Mr. Rickets war ein Ingenieur, der in Burma für Bewässerungsanlagen zuständig gewesen war. Er war also ein hoher Staatsbeamter des British Empire, der mit 55 Jahren verhältnismäßig jung pensioniert worden war. Daher langweilte er sich und fand Gefallen daran, mein Englisch aufzubessern, indem ich ihm jeden Tag einen Artikel aus der Tageszeitung The Times laut vorlesen musste. Wir haben dann darüber Gespräche geführt. Man unterstützte, dass ich sowohl die englische Kurzschrift wie auch das Autofahren erlernte. Das war eine Familie, wo ich nicht in der Küche gegessen habe wie die meisten armen jungen Frauen, die aus bürgerlichen Familien kamen und als Dienstmädchen nach England emigrierten. Die haben es nicht leicht gehabt und es sehr schwer ausgehalten. Ich hatte das Glück, zu einer menschenfreundlichen Familie zu kommen. Natürlich habe ich im Haushalt fest ge52

arbeitet, aber ich war kein Fremdkörper, gleichzeitig konnte ich mich fortbilden. Nach einem Jahr entschloss ich mich, zu meinen Eltern nach Exeter in Südwest-England zu gehen, was wieder ein großes Glück war. Denn dort war auch Mikuläs, den ich freilich erst ein wenig später dort kennen lernen sollte. G. D.: Wie sind Ihre Eltern nach England gekommen? ALICE: Meine Mutter war mit meinem kleinen Bruder einen Monat vor mir abgereist. Ihr ist bei der Reise überhaupt nichts passiert. Sie ist nach Exeter als Köchin zu einer jüdischen Familie, zu den Samuels, gekommen. Denen, so nehme ich zumindest an, gehört bis heute eine Kette von Juwelierläden in ganz England. Aber es ist meiner Mutter nicht gelungen, auch meinen Vater bei ihnen unterzubringen. Schließlich hat sie aber in Exeter einen Uhrmacher gefunden, der bereit war, meinen Vater anzustellen. G. D.: Wollte Ihr Vater auch emigrieren? ALICE: Ja, er wollte weg. Meine Mutter hat das mit ihm auskorrespondiert. Sie hat ihn trotz aller Frauengeschichten immer wieder zurückgenommen. Ansonsten hätte er sicher sein Leben verloren. Aber nach dem Novemberpogrom* 1938 war klar, dass auch er auswandern muss. Ihm selbst war nichts passiert, aber meinen zwei Tanten, seinen Schwestern. Diese hatten ja ein kleines Juwelier- und Uhrmachergeschäft, für die mein Vater immer die Reparaturen machte. Die Tanten wurden bei dem Pogrom aus der Wohnung herausgeholt und dann 24 Stunden in einem Keller eingesperrt. Sie erlebten größte Ängste, aber man ließ sie dann doch wieder nach Hause gehen. Meine Tanten haben mir das alles geschrieben. Als ich den Brief erhielt, weinte ich fürchterlich. Die Rickets haben dann gefragt, was los sei - und ich habe es ihnen erzählt. Mr. Rickets hat darauf seine Schwester in Eastbourne, die Ärztin war, überzeugt, die Tanten als Hausgehilfinnen anzufordern. Die Ärztin war nicht so menschenfreundlich wie meine Arbeitgeber, zahlte den zwei Schwestern zusammen nur ein Gehalt. Aber sie nahm sie auf, und zweifellos rettete sie ihr Leben. Weil meine Mutter und mein Vater in Exeter wa53

ren, haben sie dann auch dorthin wollen. Für Sie wahrscheinlich erstaunlich: Meine Tanten wurden Hausgehilfinnen beim Bischof von Exeter. Schließlich gab es noch eine dritte Tante. Auch sie habe ich mit Hilfe der Rickets nach England gebracht. Tante Mali, eine Schwester meiner Mutter, wurde dann die dritte Hausgehilfin beim Bischof von Exeter. Wenn Sie sich vorstellen, die drei Tanten - Rosa, Tini und Mali - haben mit Sicherheit nicht ausgeschaut wie Hausgehilfinnen, und Englisch haben sie auch nicht können, aber Tante Rosa war eine sehr gute Köchin. An ihrem freien Nachmittag, den sie einmal pro Woche hatte, ist sie immer zu uns gekommen. Da hat sie sich immer sehr aufgeregt und wienerisch gesprochen. „Diese Bischöfin ist so schrecklich!" Sie meinte also die Ehefrau des anglikanischen Bischof. „Sie ist so schrecklich!" An dem einen Tag wolle sie zum Frühstück „potscheg", also poached egg, das ist Spiegelei; und an dem anderen Tag wolle sie „skampeg", also scrambled eggs, das ist Eierspeis bzw. Rührei. Das war Tante Rosas wienerisches Englisch. G. D.: Als Sie nach England kamen, waren Sie 18 Jahre alt, also noch relativ jung. Wie war das für Sie - in so einer neuen und fremden Umgebung, mit einer fremden Sprache, in einem fremden Milieu 1 ALICE: Für mich war es leichter als für Mikuläs, aber er muss dann für sich selber sprechen, denn wir kannten uns ja zunächst noch nicht. In das Milieu der Familie Rickets hatte ich mich schnell eingewöhnt. Es war ein großbürgerliches Milieu, was ich nicht gekannt hatte, denn wir hatten in ganz einfachen Umständen gelebt. Aber ich habe mich sehr rasch angepasst. Das Englisch hat mir auch keine großen Schwierigkeiten bereitet, ich konnte es ja schon. Ich hatte in der Hauptschule Englisch, und auch als Lehrling hatte ich an der Handelsakademie weiter Englisch gelernt. Ich musste als Dienstmädchen im Leben stehen, und so habe ich die Alltagssprache sehr schnell gelernt. Ich habe auch viel gelesen, vor allem Romane, und ich habe Radio gehört. Fast den ganzen Tag, rund um die Uhr, habe ich, wenn ich konnte, Radio gehört. Ich höre ja bis heute sehr gern Erzählungen und lasse mir von Mikuläs gerne etwas vorlesen. 54

MIKULÄS: Sie ist auditiv, ich nicht. ALICE: Ja, aber das hat mir, glaube ich, geholfen, mich schnell einzuleben. Vom politischen Umfeld möchte ich Ihnen noch erzählen. Ich selbst bin zwar nicht sehr politisch, aber doch antifaschistisch und sozialdemokratisch aufgewachsen. Und wenn man auswandern muss, verfolgt man dann doch etw a s mehr die politische Situation. Das Ehepaar Rickets hatte wegen des Münchener Abkommens ein Schuldgefühl - als Engländer aber auch als Konservative. Sie haben sicherlich die von Chamberlain* geführte Konservative Partei gewählt. Aber sie hatten ein Schuldgefühl, dass hier ein kleines Land von England verraten worden war. Die Rickets haben auch nicht geglaubt, dass der Frieden gesichert ist, so wie es Chamberlain nach dem 30. Septemer 1938 suggeriert hatte. Sie hatten schon vor München damit begonnen, in ihrem Garten einen kleinen Luftschutzkeller zu bauen. Dieser war halb in der Erde - mit Wellblech und Beton darüber. Einige Stufen musste man hinuntersteigen, im Kellerraum befanden sich zwei Bänke und Lebensmittelkonserven. Man hat also einen Krieg erwartet. Die Rickets waren Anti-Hitler, auch haben sie meinen Verwandten geholfen, zu emigrieren. Das war wirklich ein glücklicher Zufall, dass ich bei solchen Menschen landete. Als dann a m 3. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, mussten wir in den sitting room, also das Wohnzimmer, kommen. Die Rickets waren eine sehr patriotische Familie, bewusst sehr britisch. A m 3. September 1939 um elf Uhr sprach Chamberlain. Das Radio wurde angestellt, und Chamberlain hielt seine Ansprache, die damit endete: „ . . . and consequently this country is at war with Germany!" Daraufhin wurde die Hymne gespielt, und wir alle mussten im sitting room stehen. Gleich nachdem die Hymne fertig war, ging ein Luftschutzalarm los. Das war ganz schrecklich, man hat geglaubt, dass die Deutschen schon über London fliegen. Wir sind alle in diesen Luftschutzkeller hinein und auf den Bänken mit einem kleinen Radio gesessen. Dann stellte sich aber heraus, dass dies ein Probealarm war. 55

MIKULÄS

- Emigration nach England

G. D.: MikuläS, auch Sie sind emigriert, waren aber zunächst noch in Prag, um an der Medizinischen Fakultät zu studieren ... MIKULÄS: Ja, im September 1938 bin ich nach Prag gereist, also noch vor dem Beginn des Semesters. Ich habe dort die Zeit knapp vor München erlebt und auch die allgemeine Mobilmachung. Dann habe ich mich entschlossen, knapp vor der Unterzeichnung des Münchener* Diktats, nach Hause in die Slowakei zu fahren. In dieser Zeit sind im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Münchener Diktats die ersten größeren politischen Umwälzungen dadurch entstanden, dass am 6. Oktober 1938 die Autonomie der Slowakei* von den Führern der Hlinka-Partei ausgerufen worden ist; Hlinka selbst war im August gestorben. Das hat meine Umgebung freilich nicht so richtig verstanden. Ich selbst stand damals in freundschaftlicher Verbindung mit einem Juristen, der etwas älter war als ich; er war damals schon ein aktiver Kommunist, wenn nicht sogar Trotzkist. Jedenfalls brachte er mich dazu, dass ich mich zum ersten Mal direkt politisch betätigte. Jetzt kann ich mich nicht mehr ganz genau an die Details erinnern, aber ich habe an einem Aufruf mitgearbeitet, der sich an die Arbeiter in den Fabriken gewandt hat. Er erhielt zustimmende Worte für die Autonomie und gleichzeitig warnende Worte vor der Gefahr einer angehenden Faschisierung. Aber vielleicht projiziere ich da etwas hinein, vielleicht war es mir damals nicht ganz so klar, wie es mir heute erscheint. Inzwischen war der Betrieb an der Universität lahm gelegt worden. Ich bin erst Ende Oktober oder Anfang November zurück nach Prag gefahren. Auch dort habe ich Erfahrungen gemacht, die im Zusammenhang mit den Veränderungen infolge des Münchener Diktats standen. Es gab schon Schwierigkeiten für einige Studenten. Besonders betroffen waren solche, die aus der Südslowakei und der Karpato-Ukraine

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stammten. Denn aufgrund des Wiener Schiedsspruchs vom 2. November 1938 sind diese Gebiete an Ungarn gefallen. Aber die Probleme, die die Studenten hatten, regelten sich wieder, und das Studium begann wieder; allerdings war die Atmosphäre nicht gut. Im Allgemeinen gab es einen Rechtsruck. Das offenbarte sich auf Schritt und Tritt. Es wurde autoritär regiert, und es kamen aus der Presse auch freundlichere Töne gegenüber Deutschland. Ich bin dann im Dezember zurück nach Ruzomberok, um die Weihnachten dort zu verbringen. Hier hatte sich schon vieles geändert: Man sah uniformierte Mitglieder der Hlinka-Garde; das war die faschistische, paramilitärische Organisation der HlinkaPartei. Ich glaube, dass man in den jüdischen Kreisen der Slowakei das alles nicht so ernst genommen hat. Man war sich nicht bewusst, dass die Welt, die sie kannten, in der sie sich bewegten, dass diese Welt jetzt umgekrempelt wird. Mir selbst war das auch nicht klar, weil ich mit meinen nichtjüdischen Freunden und Kollegen weiter im Gespräch war. An dem hatte sich praktisch nichts geändert. Nach Neujahr bin ich dann wieder nach Prag, und ich habe den Einmarsch der deutschen Truppen in Prag mit meinem Vater erlebt - am 15. März 1939. Mein Vater war auf einer Geschäftsreise in Prag. Gleichzeitig haben wir von der Ausrufung des selbständigen Slowakischen Staates erfahren, die dem Einmarsch am Vortag vorausgegangen war. Die Ausrufung des Slowakischen* Staats unter deutschem Druck benutzte Hitler als Vorwand, die „Rest-Tschechei" als Protektorat in das „Dritte Reich" einzuverleiben. Sie sei ein möglicher Herd von Unruhen, also eine Gefahr, die deutsche Armee solle für Ruhe und Ordnung sorgen. Zu dieser Zeit war meine Mutter auf Besuch bei meiner Großmutter, also ihrer Mutter in Mukatschewo, das damals laut dem Wiener Schiedsspruchs schon Ungarn gehörte. Und mein Bruder ist um diese Zeit auf eine Erkundungsreise nach England gefahren. Meine Mutter war also im damaligen Ungarn, mein Vater und ich waren in Prag, mein Bruder war auf dem Weg nach England. G. D.: War der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag ein Moment, wo Sie den Eindruck hatten, jetzt wird es ernster? 58

Gisela Leist, Mutter von Alice, auf Sommerfrische in Perchtoldsdorf bei Wien, 1915

Arthur Schwarz, Vater von Alice, als Angehöriger der österreichischungarischen Armee im Ersten Weltkrieg, 1915

Alice (sitzend, rechts außen) im Rahmen einer Aufführung von Franz Schuberts Menuett in der Volksschule Wien-Breitensee, 1927

Margit und Moric Teich, die Eltern von Mikuläs, ca. 1938 in Prag

Mikuläs bei seiner Sponsion in Leeds (England), 1944

H e i r a t von Alice u n d M i k u l a s in Leeds a m 29. J a n u a r 1944

Alices Mutter mit ihren Enkelkindern Petya und Eva in Prag, 1950

Mikuläs mit seinen Kindern im Garten ihres Hauses in Prag-Branik, ca. 1951

Alice mit Petya und Eva bei ihrer Promotion in Prag, 1952

Alice mit Kollegen aus der DDR und der Sowjetunion bei einer Konferenz über den Zweiten Weltkrieg in Berlin (DDR), 1959

Henry Black, Bruder von Alice, in den 1970er Jahren

Paul Carapbell-Tiech, Bruder von Mikuläs, in den 1970er Jahren

Mikuläs während eines Vortrags an der Purdue University, Indiana (USA), 1969

Mikuläs (2. von rechts) mit Kollegen bei einem Symposium über die Geschichte der Biochemie des Department of Biochemistry der Cambridge University und des Robinson College in Cambridge, 1978; von links: Richard L. M. Synge (Nobelpreis für Chemie 1972), Norman W. Pirie, Hans Kornberg, Alexander R. Todd (Nobelpreis für Chemie 1957), Hans Krebs (Nobelpreis für Medizin 1953), John Gray, Mikuläs Teich und Arnold Feinstein

Alice und Mikulàsin Prag, 1991

Alice (1. Reihe, 3. von rechts) und Mikulâs (vorletzte Reihe, rechts) mit Kollegen bei einer internationalen Konferenz an der London School of Economies and Political Science zu Ehren von Alices 80. Geburtstag, September 2000 1. Reihe von links nach rechts: Gabriel Tortella (Madrid), Forrest Capie (London), Terry Gourvich (London), Alice Teichova (Cambridge), Sonia Copeland (London), Dieter Stiefel (Wien); schräg dahinter: Elena Frangakis-Syrrett (London), Françoise Crouzet (Paris); 2. Reihe von links: Margarita Dritsas (Athen), Toshio Suzuki (Tohoku), Charlotte Natmeßnig (Wien), Peter Lyth (Nottingham), Philip Ollerenshaw (Bristol), Patrick Fridenson (Paris), Lucy Newton (Reading), Agnes Pogâny (Budapest), François Crouzet (Paris), Mikulâs Teich (Cambridge); 3. Reihe, Mitte, von links: Ragnhild Lundström (Uppsala), Gertrude EnderleBurcel (Wien), Gerald D. Feldman (Berkeley); letzte Reihe von links: Dieter Ziegler (Bochum), Peter Eigner (Wien), Fritz Weber (Wien), Herbert Matis (Wien), Christoph Boyer (Potsdam), Per Hansen (Kopenhagen), Hakan Lindgren (Stockholm), Andreas Resch (Wien), Philip Cottrell (Leicester), Peter Hertner (Halle/S.), Michael Käser (Oxford), Harald Wixforth (Bielefeld)

Alice (rechts, gemeinsam mit dem Botschafterehepaar Christiani) bei dem Fest zum Wiedererwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft in der österreichischen Botschaft in London, 2002

Alice und Mikulas auf der Freyung in Wien, 2002

MIKULÄS: Ja, und zwar habe ich mit einem Kollegen zusammengewohnt. Dieser Kollege war viel vifer als ich; er hat auch erkannt, dass sich hier die Situation nicht gut entwickeln wird. Die Deutschen hatten ab acht Uhr am Abend Ausgangssperre verhängt. Mein Vater wohnte in dem bekannten Prager Hotel Pariz, wo slowakische Kaufleute und Politiker in Prag abstiegen. Ein Teil des deutschen Oberkommandos war auch dort einquartiert. Es war Ausgangverbot, und mein Vater saß im Vestibül im Foyer. Es war März und kalt, er saß da im Mantel und hat halt gegrübelt. Und Sie müssen sich vergegenwärtigen: Da waren die deutschen Truppen in voller Macht in Prag, aber die Nachtruppen waren ganz junge Burschen. Und einer von diesen jungen Burschen ist mit einer Nachricht in dieses Hotel Pafiz gekommen und sieht dort meinen Vater, wie er da so grübelnd sitzt. Da sonst niemand kam, sprach er meinen Vater an, stellte sich vor und salutierte mit „Heil Hitler". Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Weniger komisch war, was kurz darauf passierte: Mein Freund fand heraus, dass am Hauptbahnhof in Prag, am Wilson-Bahnhof, zwischen sieben und acht Uhr abends ein Schalter für Fahrkarten nach England oder überhaupt ins Ausland offen ist. Er meinte, dass wir auswandern sollen. Ich habe aber nicht über das nötige Geld verfügt. Wäre mein Vater damals nicht in Prag gewesen, hätte ich es auch nicht besorgen können. So bin ich zu meinem Vater ins Hotel Pafiz gefahren, das liegt in der Mitte von Prag, in der Nähe des Pulverturms. Der Tag ging zur Neige, es war dunkel, und mein Vater war schon in seinem Zimmer. Ich klopfte an, und er erschreckte sich fürchterlich. Ich habe geredet, schnell geredet - und er war ganz benommen. Dann hat er mir das Geld gegeben. Ich bin zum Hauptbahnhof, zum Schalter. Es war zirka halb acht, und ich habe drei Karten genommen: für meinen Vater, für meine Mutter und für mich. Mein Bruder war ja schon auf dem Wege nach England. Dann bin ich zu meinem Freund; wir haben in Zizkov gewohnt, einem Prager Bezirk. Knapp nach acht Uhr bin ich aus der Straßenbahn ausgestiegen und habe Stimmen gehört, die ich so verstanden habe: „Stehen bleiben, stehen 59

bleiben!" Das war wahrscheinlich nicht so, aber ich bin nur gelaufen. Also, es war nicht lustig. Na ja, jetzt haben wir die Karten gehabt, aber inzwischen wurde verordnet, dass man ohne Reisebewilligung nicht wegfahren kann. Diese Reisebewilligung sollte vom Polizeipräsidium Prag abgeholt werden. So sind mein Vater und ich zum Polizeipräsidium gefahren oder gegangen, wo wir eine ungeheuer lange Schlange vorfanden. Mein Vater, in der Art und Weise, die ihm ein wenig eigen war, meinte: „Ich werde mich hier nicht stundenlang anstellen." So sind wir weggegangen und einfach am nächsten Tag um neun Uhr am Abend mit dem Schnellzug vom Prager Hauptbahnhof in die Slowakei gefahren. Wir haben nicht gewusst, dass die mährisch-slowakische Grenze ohne deutsche Kontrolle zum letzten Mal in dieser Nacht passierbar war. Das haben wir erst nachher erfahren. So sind wir in Ruzomberok angekommen. Sechzig Kilometer westlich von Ruzomberok ist eine Stadt, die heißt Zilina. Dort ist mir, als ich aus dem Zugfenster herausschaute, aufgefallen - es war so zirka fünf Uhr in der Früh - , dass am Bahnhof eine Hakenkreuzfahne gehisst war. Das hat mich sehr beunruhigt, sodass ich in Ruzomberok mit meinen Verwandten darüber gesprochen habe. Die haben nicht begriffen, was los ist. „Die Nazis kommen nicht nach Ruzomberok, ganz bestimmt nicht!" So war das Verständnis der Lage, in der man sich befand. G. D.: Es gab also auch weiterhin das Gefühl, dass man in Ruzomberok sicher sei?

MIKULAS: Ja, oder: Irgendwie wird sich das schon legen; es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. So war das irgendwie. Mein Vater sandte ein Telegramm an meine Mutter, dass ich weggehen will. Mein Vater hat zwar die drei Tickets herumgezeigt, aber in Wirklichkeit war er dagegen. Ich hatte auch keinen gültigen Pass. Ich hatte zwar einen Pass, versehen mit einem Bild aus der Kindheit, aber der war schon lange abgelaufen und dazu von einer Behörde eines nicht mehr existierenden Staates, nämlich der Tschechoslowakei, ausgestellt. Wie löst man diese Situation? Die Situation wurde gelöst, wie so oft in diesem Teil der Welt, nämlich durch Schmiergeld. Mein Vater ging zum Magistrat, und dort wur60

de umgehend ein Pass der gewesenen Tschechoslowakischen Republik in einen Pass des Slowakischen Staates umgewandelt - und zwar in der folgenden Weise: Erstens wurde das alte Bild herausgerissen und ein neues Passbild hineingepickt. Zweitens wurde ein unautorisierter Stempel „Slowakischer Staat" dem Pass aufgedrückt. So ist aus dem ungültigen Pass ein im Grunde gefälschter geworden. Jetzt hatten wir also den Pass, und nun warteten wir aber auf meine Mutter. Das werde ich nie vergessen: Meine Mutter kam, sie war noch im Mantel, sie steht im Zimmer, und mein Vater sagt: „Du willst doch nicht, dass er nach England fährt." Sie widerspricht: „Doch, ich will es. In Mukatschewo beneidet man ihn, dass er diese Möglichkeit hat." Das war das Entscheidende. Hätte meine Mutter „nein" gesagt, wäre ich geblieben. Mein Vater wollte wegen einer ungewissen Zukunft nicht fahren, und meine Mutter ist bei ihm geblieben. Er war knapp über 55 Jahre alt, beherrschte nicht die englische Sprache und besaß keine Geldmittel, sich als Kaufmann durchzuschlagen. Nun muss ich noch dazu sagen, dass die Einreise für tschechoslowakische Staatsbürger nach England nur noch bis zum 1. April 1939 visumfrei war. Nach dem Münchener Diktat hatte die britische Regierung eine neue Verordnung beschlossen, dass die Einreise nach England nicht mehr visumfrei sein kann. Die Frist galt bis einschließlich 31. März und die wollte ich noch ergattern. So bin ich praktisch binnen 24 Stunden davon. Ich bin mit vier Koffern gefahren: zwei Koffer für mich und zwei Koffer für meinen Bruder. Denn mein Bruder war ja nur auf einer Erkundungsreise. Wir sind dann mit einem Auto nach Zilina gefahren, und von dort habe ich den Zug nach Wien genommen. Und diese Reise von Wien nach England war nicht ereignislos, das kann ich Ihnen sagen. G. D.: Was ist passiert? MIKULÄS: Wie ich artnehme, bin ich in Wien vom Ostbahnhof zum Westbahnhof gefahren. Wie ich das gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Ich war ja vorher nur einmal in Wien gewesen und habe mich überhaupt nicht ausgekannt. Wie hat man so verschiedene Dinge gemeistert, Situationen, die

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ganz unvorbereitet waren? Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich viel gesportelt habe, und ich habe auch viel Touristik gemacht. Im Zusammenhang mit meinen touristischen Interessen besaß ich eine Feldflasche für Wasser, die ich auf die Reise nach England mitnahm und am Westbahnhof mit Wasser füllte. Und dann bin ich in dem Zugcoupé zweiter Klasse gesessen, das war absolut voll: mit vier Koffern! Zwei Koffer habe ich in die Gepäckablagen gelegt, und zwei waren am Gang. Wir waren schon hinter Wien, da kommt ein deutscher Kondukteur, also ein Schaffner. Er fragt: „Wem gehören diese Koffer?" Ich melde mich, dass die mir gehören. Worauf er sagt: „Die verstellen den Gang und müssen weg!" Das war meine erste große Reise. Ich war zwanzig Jahre alt, ich hatte keine Erfahrung, ich wusste nicht, was tun. Warum ich weiß, dass er Deutscher war, das werden Sie sofort erfahren. Im Coupé befanden sich zwei Schwestern aus Wien, sie waren - ich würde sagen - so Mitte dreißig. Sie hatten ein Mundwerk und legten sich mit diesem Kondukteur an. Darauf er: „Hier wird nicht gemeckert!" ALICE:

„Gemeckert" ist sehr deutsch.

„Hier wird nicht gemeckert!" In dem Coupé ist auch ein SA-Offizier gesessen, der mir mit den Koffern geholfen hat. Wir sind weiter über Deutschland. Während der Fahrt ist es sehr heiß geworden. Ich habe dem SA-Offizier die Feldflasche angeboten, und er hat es dankend angenommen. Irgendwo in Deutschland, in der Nacht um zwei Uhr oder so, ist er ausgestiegen, aber nicht bevor er sich mit „Heil Hitler" von mir verabschiedete. Am nächsten Tag gelangten wir an der deutsch-holländischen Grenze an. Da war praktisch schon niemand mehr im Zug, nur im Nebencoupé befand sich noch die Familie eines Zilinaer Augenarztes mit seinen Kindern und seiner Frau. Ich kannte ihn flüchtig, weil er mich untersucht hatte. Dieser Arzt hat die Kinder instruiert, dass sie weinen sollen, falls zufälligerweise an der Grenze Schwierigkeiten sein sollten. Er hat Recht gehabt, denn Schwierigkeiten entstanden, aber nicht auf der deutschen, sondern auf der holländischen Seite der Grenze. Auf der deutschen Seite ist ein SS-Offizier MIKULÀS:

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ins Coupé gekommen und meinte: „Sie werden nicht durchkommen, die Holländer werden Sie zurückschicken. Bleiben Sie da!" Und ich habe - man ist zwanzig - noch gelacht. Er hatte aber Recht gehabt. Die Holländer haben uns nicht erlaubt, die Grenze zu passieren, obwohl die Visumfreiheit für England bis z u m 1. April galt. Die holländische Regierung hatte aber angeordnet, dass man schon vor dem Stichtag nur noch mit einem englischen Visum durchgelassen wird. So, und jetzt haben die Kinder angefangen zu weinen. Aber das hat alles nichts geholfen, bis dann aus d e m holländischen Grenzbeamten herausgekommen ist: „In Venlo gibt es einen englischen Konsul, der Visa ausgibt." Sagen wir: „Na ja, dann fahren wir dorthin." Erwidert er: „Nein, das können Sie nicht. Sie müssen zurück nach Deutschland." Nun hatte ich kein Geld. Ich muss annehmen, dass der Augenarzt es für mich vorgestreckt hat, u m die Fahrkarte nach Venlo über Deutschland zu kaufen. Ich hatte schon in Wien Schwierigkeiten gehabt, u m v o m Ostbahnhof z u m Westbahnhof zu kommen. Wir sind u m vier Uhr früh an der deutschen Grenzstation angekommen. Es w u r d e uns gesagt, dass die Grenze u m sechs Uhr öffnet. So hat sich um sechs Uhr eine Schlange gebildet. Bei den deutschen Grenzbeamten stand ein großer Korb, und in diesen sollte man alle Schmuckgegenstände hineinwerfen. Ich hatte Manschetten und eine LonginesUhr. Die habe ich hineingeworfen. Ich habe auch diesen Ring hier reingeworfen. G. D.: Denselben, den Sie am Finger haben? MIKULÀS: Ja, diesen Ring und die Manschetten, die meinem Vater gehörten. Den Ring hatte mir mein Vater gegeben, bevor wir wegfuhren. Er hatte ihn von seinem Vater geerbt, und ich habe ihn hineingeworfen. Dann habe ich die Grenze passiert. Nach zirka 25 Metern ist mir eingefallen: „Du hast doch einen slowakischen Pass!" Und die slowakische Regierung hatte wenige Tage vorher einen Freundschaftspakt auf 25 Jahre mit Deutschland abgeschlossen. Ich bin z u m Grenzposten zurückgegangen, wies auf den Pass und den Freundschaftspakt hin. Daher, so erklärte ich, wäre ich nicht verpflichtet, die Schmuckgegenstände abzugeben. Die 63

Grenzler gaben meiner Reklamation statt und erstatteten die Stücke zurück. Unglaublich, aber wahr. Ich staune immer wieder über meine Unbesonnenheit, die mich teuer hätte zu stehen kommen können. So aber kam ich über die Grenze in Venlo an. Dort fand ich ein Durchgangslager für Flüchtlinge und den englischen Konsul. Ich hatte einen Empfehlungsbrief, den mir ein bekannter Arzt, der in Ruzomberok im Spital arbeitete, mitgegeben hatte. Der Empfehlungsbrief war an ein Mitglied der alteingesessenen anglo-jüdischen Familie Montefiore gerichtet. Der erste in England geadelte Jude stammte aus dieser Familie. Mit diesem Empfehlungsbrief ging ich zum Konsul, und ich habe keine Zweifel, dass die Erteilung des Visums nach Rücksprache aufgrund des Empfehlungsbriefs erfolgte. Venlo war eine von Sozialdemokraten regierte Stadt, und man hat sich um uns Flüchtlinge sehr gekümmert. Da habe ich zum ersten Mal weißes Brot gesehen. Wirklich! Ich hatte so weißes Brot früher nie gesehen. In Venlo habe ich auch meinen Prager Wohnungsgefährten wieder getroffen. Ich habe es schon erwähnt, er war sehr vif. Er hat sich sofort mit der Tochter des Polizeipräsidenten angefreundet, und als Resultat haben wir beide im Hause des Polizeipräsidenten geschlafen. Nach Erhaltung des Visums bin ich nach Rotterdam gefahren, wo mich die jüdische Gemeinde betreute, ich bin dann in einer Familie einquartiert worden. Dort verbrachte ich vielleicht ein oder zwei Nächte. Nachdem ich meinen Bruder in London telegrafisch verständigt hatte, bin ich per Schiff von Hoek van Holland nach Harwich und dann mit dem Zug zur Victoria Station in London gefahren. Dort hat mich mein Bruder erwartet. Es war der 4. April 1939 - das Datum hat sich mir tief ins Gedächtnis geprägt. G. D.: Bei Ihrer Abreise aus der Slowakei: War das das letzte Mal, ivo sie Ihre Eltern gesehen haben? MIKULÄS: Ja, ich habe sie nie mehr wieder gesehen. ALICE: Aber bist du dir bewusst gewesen, dass du sie nie wieder sehen wirst? 64

MIKULÄS: Eigentlich damals nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, das habe ich auch Alice nie gesagt, ich habe das Gefühl, dass meine Mutter dieses Gefühl hatte. Wenn ich zurückdenke an den Abschied dort am Bahnhof, da habe ich das Gefühl, dass sie es irgendwie geahnt hat. Ich kann es Ihnen nicht sagen, aber wenn ich zurückdenke an die Art, wie sie sich verabschiedet hatte, habe ich das Gefühl. ALICE: Aber dein Vater hatte das Gefühl, das kann nicht so schlimm werden. MIKULÄS: Ja ja, mein Vater. „Die Deutschen sind ja auch nur Menschen." Das hat er gesagt! Was kann ihm geschehen? Die Deutschen sind ja auch nur Menschen! G. D. Wie ist es Ihnen nach Ihrer Ankunft in England ergangen? MIKULÄS: Ich habe mit meinem Bruder zusammengewohnt. Er war fünf Jahre älter als ich. Und ein solcher Altersunterschied produziert zwei Aspekte: Auf der einen Seite anerkennt man, dass der eine älter ist, auf der anderen Seite bäumt man sich auch auf. Diese Spannung bleibt das ganze Leben. Mein Bruder war ja schon früher in England gewesen; er war dort schon als Student auf Besuch gewesen. So habe ich angenommen, er weiß viel mehr. Das hat auch eine komische Seite gehabt. Ich habe von ihm erfahren, dass es eine Organisation in London gibt, die hieß kurz: Trust Fund. Die hatte mit dem Gold der tschechoslowakischen Regierung zu tun, das nicht an die Deutschen ausgeliefert worden war; das ist in England geblieben. Diese Organisation war in einem Teil von London, der Bloomsbury heißt; das war damals ein Intellektuellenviertel. Ich habe nun erfahren, dass man dort nach Möglichkeiten für Unterstützung fragen kann: nach Arbeit und so weiter. Das war alles nicht ganz klar, aber mein Bruder meinte, dass man dort mit Handschuhen, Regenschirm und Kopfbedeckung hingehen soll. Ich hatte zwar einen Hut mit, aber den hatte ich seit meinem 14. Lebensjahr nicht mehr getragen. Also, diese Weisheiten habe ich in der ersten Phase angenommen, bis ich dann gesehen habe, dass das alles lächerlich ist. Meine Besuche dort haben übrigens zu nichts geführt - trotz des Regenschirms.

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Merkwürdigerweise ist mein Bruder später Angestellter vom Trust Fund geworden. Wie das geschehen ist, weiß ich nicht, er hat immer sehr geheimnisvoll agiert, und das ist ihm bis zuletzt geblieben. ALICE: Aber er war uns gegenüber hilfreich! MIKULÄS: Wir hatten Verbindung zu John Revell, dem Londoner Vertreter der großen Wiener Firma Bunzl & Biach, die Lumpen sammelte und an Papierfabriken lieferte. Diese Firma hatte eine Expositur in Ruzomberok, wo ja zwei Papierfabriken existierten. Mein Bruder hatte diese Familie Revell bei seinem ersten Besuch in London kennen gelernt, ich glaube das war 1934; sie waren dann auch einmal zu Besuch in Ruzomberok, w o ich sie auch kennen gelernt habe. Die Revells haben uns eingeladen, bei ihnen zu wohnen. So sind wir aus einem bescheidenen bed & breakfast boarding house in Bayswater in West-London zu ihnen nach Lewisham im Südosten von London in ein geräumiges Haus übersiedelt, wo wir bei ihnen gastlich aufgenommen worden sind. Aber gleichzeitig habe ich mit dem Empfehlungsbrief die Montefiores angeschrieben. Sie haben mir dann finanziell dazu verholfen, dass ich nach Exeter komme: an das University College ofthe South West. Das war eine von mehreren Außenstellen der London University. Ich wollte mein Medizinstudium fortsetzen. Aber da dies nach meinen damaligen Informationen mit vielen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, entschloss ich mich für Chemie. Das lag mir zwar nicht sehr, aber ich wollte unter allen Umständen studieren. So bin ich am 1. Oktober 1939 nach Exeter gekommen und habe dort mein Studium angefangen. Um an der London University zu studieren, musste man übrigens eine London University Entrance Examination haben. Das war so etwas wie ein Abitur. Das Abitur, das ich gehabt habe, galt nicht. Ich musste also nochmals ein Abitur machen, eine schriftliche Prüfung. Die habe ich dann auch absolviert. ALICE: Da fällt mir eine kleine Geschichte ein, die noch mit dem Zugrundegehen meines Vaters Anfang der 1930er Jahre zusammenhängt. Meine Mutter hatte begonnen, für 66

Bunzl & Biach in Wien Lumpen zu sammeln. Wir hatten ja absolut nichts. Sie hat also einen Sack genommen und ist zu Änderungsschneidereien gegangen und hat Fleckerln gesammelt. Und wenn der Sack voll war, hat sie bei Bunzl & Biach ein paar Schilling dafür bekommen können. Das hat sie gemacht. Jetzt ist mir das eingefallen. Da war ich elf Jahre alt. MIKULÄS:

wusst.

Das ist eine Neuigkeit, das habe ich nicht ge-

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In der englischen Emigration G. D.: Im Jänner 1940 haben Sie sich in Exeter kennen Wie war das, wie ist es dazu gekommen?

gelernt.

ALICE: Das war ziemlich lustig. Ich war ja bis Ende 1939 bei den Rickets in Kingston upon Thames. Erst zu Weihnachten 1939 bin ich nach Exeter, wo meine Eltern und meine Tanten waren. Mein Vater war ja ein sehr geselliger Mensch, und er hatte gleich Freundschaften geschlossen. Er ging sonntags in einen Klub, wo sich Flüchtlinge trafen. Der Raum wurde von den Quäkern zur Verfügung gestellt. Im neuen Jahr, also 1940, bin ich dann auch zum ersten Mal in den Klub gegangen. Da waren junge Leute, unter anderem einige tschechoslowakische Studenten, Mikuläs war auch dabei, und es wurden Spiele gespielt. Ich kann mich an das erste Mal erinnern, wo ich Mikuläs überhaupt wahrgenommen habe, nämlich im Laufe eines Spieles, wo man Knöpfe annähen musste. Mikuläs war sehr erfinderisch, denn er hat sich einen Knopf hinten an der Hose angenäht, das war wirklich sehr komisch. Im Klub hat mein Vater mich dann Mikuläs vorgestellt. MIKULÄS: Ja, zuerst habe ich deinen Vater im Klub kennen gelernt, deine Mutter ist nicht so gerne in den Klub gegangen. Nachdem ich ein- oder zweimal dort war, bist du gekommen, und dein Vater hat mich vorgestellt. ALICE: Ich kam in diesen Klub, Mikuläs war auch da, und mein Vater stellt mich vor: „Das ist meine Tochter!" Mikuläs, der einen blöden Witz machen wollte, erwiderte: „Mein Beileid!" So haben wir uns kennen gelernt. Er hat meinem Vater sein Beileid für seine Tochter ausgesprochen. Damals wie jetzt sind die jungen Leute zusammen ins Kino gegangen. Da gab es eine junge Frau, die aus Österreich oder Deutschland geflüchtet war, die Mikuläs ausgeführt hat, er hat sie auch nach Hause begleitet. Es galt allge69

mein: „Der geht mit der Betty!" Nun war es so, dass meine Familie in Exeter ein Haus gemietet hatte, das meine Mutter mit Second-hand-Möbeln eingerichtet hatte. Mein Vater verdiente ja vier Pfund in der Woche, das war viel damals. Ich verdiente später ein Pfund in der Woche, und bei den Rickets hatte ich nur fünf Schilling in der Woche erhalten, aber dazu hatte es ja auch Kost und Unterkunft gegeben. Weil mein Vater eben so gesellig war, luden wir Leute zu uns nach Hause ein - und dann ist auch Mikuläs eingeladen worden. Da kannten wir uns schon ein wenig besser. Wir bewirteten die Gäste, und ich ging Geschirr abwaschen. Mikuläs ist gekommen, um mir zu helfen, er hat das Geschirr abgetrocknet. Bei dieser Gelegenheit fragte er mich auf Deutsch, ob ich mit ihm ins Kino gehe. Ich habe gesagt: „Nein!" Dann hat er gesagt: „Du Vieh!" Das ist eine ziemlich genaue Übersetzung einer im Tschechischen freundlich gemeinten Anrede. Das habe ich damals freilich nicht gewusst. Aber ich habe es auch nicht so ernst genommen, und wir sind dann doch zusammen ins Kino. Das war der Anfang der fünfundsechzigjährigen Geschichte unseres Beisammenseins. MIKULÄS: ES gibt eine Geschichte über den Schriftsteller George Shaw, dem eine Frau geschrieben hat: „Ihr Intellekt und meine Schönheit - wenn wir zusammen Kinder hätten, was daraus entstehen könnte!" Und Shaw schreibt zurück: „Was geschieht, wenn das Kind Ihren Intellekt und mein Aussehen hätte?" Alice hat den Frohsinn vom Vater geerbt und den Intellekt von der Mutter. Was wäre, wenn das umgekehrt gewesen wäre? G. D.: Alice, Sie haben es angesprochen, dann einen Job?

Sie fanden

in

Exeter

ALICE: Ja, ich habe darum gekämpft, einen Posten zu bekommen. Flüchtlinge in England durften ja nur in den Bereichen arbeiten, wo es Arbeitskräftemangel gab. Ich wollte in ein Büro, damit ich Geld verdiene. Aber man musste ziemlich kämpfen, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Ich bekam einen Posten als Verkäuferin in einem Laden der Woo/worf/j-Kaufhauskette, die es heute noch gibt. Da habe 70

ich begonnen, Kekse zu verkaufen. Schließlich ist aber die Polizei gekommen - nicht, um mich zu verhaften, aber um mir mitzuteilen, dass ich sofort aufhören muss zu arbeiten, weil ich keine Arbeitserlaubnis hatte. Trotz aller Bemühungen des Managers, der mich behalten wollte, weil ich so viele Kekse verkauft hatte, musste ich gehen. Das ist noch einmal geschehen, und beim dritten Mal konnte ich einen Posten in dem Büro eines Modehauses bekommen. Dessen Besitzer hatte um eine Arbeitserlaubnis für mich angesucht und sie auch erhalten. Inzwischen hatte ich Mikuläs kennen gelernt. Und dann passierte die Katastrophe: Im Mai und Juni 1940 verletzte die deutsche Wehrmacht brutal die Neutralität Belgiens, Hollands und Luxemburgs und besetzte schließlich Frankreich. Ein Lichtblick war das „Wunder von Dünkirchen". Es gelang, etwa 220.000 britische und 120.000 französische Soldaten mit britischen Kriegs- und Handelsschiffen sowie privaten Kleinbooten nach England zu evakuieren. Unter ihnen auch Verwundete, die in das Krankenhaus im küstennahen Exeter überführt wurden. Ich habe mich zum freiwilligen Krankendienst gemeldet. Das habe ich in meiner Freizeit getan. Bei der ersten Operation bin ich in Ohnmacht gefallen. Ich habe dann Bandagen gewickelt. Aber ich wollte auch etwas dazu beitragen, damit man jenen Soldaten hilft, die verwundet und nach England gerettet worden waren. Zu dieser Zeit hat der britische Innenminister einen Erlass herausgegeben, dass „feindliche Ausländer" - enemy aliens - , die in einem Streifen von zwanzig Meilen an der Küste leben, ins Innere des Landes müssen: sofort, nämlich innerhalb von 48 Stunden. Auf Mikuläs hat sich das nicht bezogen, denn er wurde als tschechoslowakischer Staatsbürger eingestuft. Er war ein friendly alien, also ein „freundlicher Ausländer", während wir Österreicher als enemy aliens eingestuft waren. Meine Familie hatte sich gerade erst in Exeter angesiedelt: Wir hatten ein Reihenhaus gemietet; mein Vater hatte einen Posten als Uhrmacher und Goldarbeiter, ich hatte einen Job im Büro, mein kleiner Bruder ist in die Schule gegangen, und meine Tanten arbeiteten als Dienstmädchen 71

beim Bischof von Exeter. Aber wir mussten alles innerhalb von 48 Stunden verlassen und uns in einem inneren Landesteil niederlassen. Mein Chef, also der Besitzer dieses Modehauses, wo ich angestellt war, war geschäftlich in Verbindung mit einer Textilfirma in Nottingham, einer größeren Stadt in Mittelengland. Nachdem er die Firma kontaktiert hatte, telegrafierte er - damals sind ja Telegramme noch üblich gewesen: „Ich schicke Ihnen Blackie per Bahn, damit Sie sie dort einstellen." Mein Name war Schwarz, aber das konnte er nicht aussprechen, so sagte er Blackie zu mir. Ich hatte einen neuen Posten - als Einzige aus der ganzen Familie. Ich fuhr sofort nach Nottingham. Meine Tanten, mein Vater und meine Mutter landeten in Birmingham. Mikuläs ist bald danach - Ende Juni - nach Nottingham nachgekommen. Er hat in Exeter alles liegen und stehen lassen, obwohl er das ja nicht musste. Zufällig war in Nottingham auch eine Außenstelle der London University. Auf einmal war er da - und seither sind wir zusammen. Er ist mir ganz einfach nachgefahren in dieser Situation. Aber ich möchte noch etwas zu Nottingham sagen: Ich landete also an der Nottingham Railzvay Station und hatte keine Ahnung, wo ich bin. Ich hatte nur die Adresse von der Textilfirma, die mir mein Chef gegeben hatte. Den Posten hatte ich zwar, aber ich hatte keine Unterkunft. So ging ich zur Polizei - zu einer Polizeistelle am Bahnhof. Ich war damals 19 Jahre alt, und ich erzählte, was mir geschehen ist, und fragte: „Können Sie mir helfen, wo soll ich hin?" Da stand ich mit meinem Koffer und meiner Ziehharmonika, die ich damals überallhin mitgenommen habe. Die Polizisten waren sehr reizend. Sie halfen mir und brachten mich in der Girl's Friendly Society unter. Das war eine religiöse Organisation, nicht katholisch, sonndern protestantisch. Sie half Mädchen und Frauen, die kein Heim hatten. Dort wurde ich also aufgenommen; man sagte mir, dass ich ein paar Tage bleiben könne, und ich sollte mich währenddessen nach einer anderen Unterkunft umschauen. Ich habe mich natürlich auch bei der Firma, wo ich den Posten erhalten habe, gemeldet. Aber das Allererste, was ich machte, war, dass ich in ein Uhrmacher- und Juweliergeschäft hineinging, um zu fragen, 72

ob sie einen Uhrmacher bräuchten. Die antworteten: „Ja, wir suchen einen Uhrmacher." Mein Vater könne kommen. Mein Vater ist wirklich nach ein paar Tagen gekommen. Da warst du, Mikuläs, schon da? MIKULÄS:

Nein, ich habe deinen Vater nicht mehr gesehen.

Ja, das war eine furchtbare Sache, wirklich furchtbar. Ich hatte also meinen Vater verständigt, dass ich einen Posten für ihn hätte. In einem boarding house, also in einer Pension, bestellte ich ein Zimmer. „Komm! Du hast einen Posten, und alle anderen - Mutter und Bruder - können dann nachkommen", hatte ich geschrieben. Ich ging auch, sobald ich konnte, zum katholischen Bischof von Nottingham. Ich erwähnte es schon: Mein Bruder war getauft, so wie ich; meine Mutter hatte uns ja in Wien taufen lassen. Ich erzählte dem Bischof, was uns geschehen ist und dass Burschi, mein Bruder, in Exeter die Schule verlassen musste. „Wäre es möglich", fragte ich, „ihn irgendwo in einer Schule unterzubringen?" Daraufhin wurde er sofort in ein katholisches Knabeninternat aufgenommen. So sind meine Mutter und mein Bruder nach Nottingham nachgekommen. Aber kaum hatte mein Vater angefangen, als Uhrmacher zu arbeiten, wurde er nach ein paar Tagen polizeilich abgeholt und auf die Isle of Man gebracht und als enemy alien interniert. Auf einmal war mein Vater weg. Ich kam von der Arbeit und hörte von der landlady, der Eigentümerin der Pension: „Die Polizei hat ihn abgeführt!" Unser ganzes Vermögen - ungefähr zwanzig Pfund, was damals viel Geld war - hatte er unter dem Kopfpolster in seinem Zimmer gelassen. Die landlady gab mir das. Sie sagte: „Ihr Vater hat das hier vergessen!" Auf der Isle of Man war ein Internierungslager, wo man deutsche und österreichische Männer, die zu der Zeit in England lebten, festhielt. Stellen Sie sich vor: Man hat Faschisten, Juden, Sozialisten und Kommunisten zusammen interniert - alle waren sie enemy aliens! Ich bin noch zur Polizei gegangen und habe plädiert, dass mein Vater doch nichts angestellt habe. Man zeigte Mitgefühl, aber es nutzte nichts: „Very sorry, wir können nichts machen!" Erst viel später hat ALICE:

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man eingesehen, dass Menschen, die vor den Nazis nach England geflüchtet waren, freigelassen werden sollten. Nachdem Mikuläs plötzlich in Nottingham angekommen war, traf er nur noch drei Familienmitglieder an: meine Mutter, meinen Bruder und mich. MIKULÄS: Ja, das war Ende Juni 1940. Ich hatte das Studienjahr in Exeter noch fertig gemacht. Zirka einen Monat waren Alice und ich nicht zusammen gewesen.

Ein Monat war das? Mir ist das viel kürzer vorgekommen. Es war ja inzwischen so viel zu tun.

ALICE:

MIKULÄS: D U

warst ja bnsy.

Ja, busy . . . Ich hatte auch noch eine Wohnung besorgt für mich, meine Mutter und meinen Bruder, der ja in das Internat ging und an den Wochenenden bei uns war. Meine Mutter ist auch in einer Textilfabrik untergekommen, weil dort ein Mangel an Arbeitskräften war. Nottingham war sehr bekannt für Spitzen. Alle Textilfirmen, auch die, bei der ich angestellt war, wurden dann kriegsbedingt von der Spitzenproduktion auf die Produktion von Fallschirmseide umgestellt. Danach konnten auch meines Vaters zwei Schwestern, die uns nachgekommen sind, ihre soziale Stellung verbessern. Aus den Dienstmädchen sind Fabrikarbeiterinnen geworden. ALICE:

Als ich gekommen bin, hat Alice mich zuerst ins YMCA gesteckt - ins Heim der Young Men's Christian Association! MIKULÄS:

ALICE:

Natürlich, jeden habe ich untergebracht!

G. D. Hatten Sie sich das vorher ausgemacht, dass Sie, MikuläS, nachkommen? ALICE:

Nein, er ist ganz einfach hinterhergefahren.

Ich glaube, es war ein stillschweigendes Abkommen oder Einvernehmen. MIKULÄS:

Das Erste, was Mikuläs finden musste, war ein Geschäft, das linke Literatur verkaufte. Das war ganz in der Nähe, wo wir dann gewohnt haben. ALICE:

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Im Herbst habe ich mein Studium an der Nottingham University fortgesetzt. Das Chemiestudium war ja in Wirklichkeit nicht meine Sache. Zu dieser Zeit habe ich den Marxismus theoretisch entdeckt. Ich habe angefangen, sehr viel zu lesen. Als der Herbst kam, fingen die deutschen Bombardements auf London an und besonders auf Coventry*. Nottingham ist ja in der Nähe. Dort haben sie die Bomben abgeworfen, die ihnen von Coventry übrig geblieben waren. Es waren doch die Nazis, die den Ausdruck „coventrieren" eingeführt haben. Er war gleichbedeutend mit „ausradieren", das heißt: die totale Vernichtung einer Stadt aus der Luft. Angesichts der deutschen Fliegerangriffe wollte ich mir mehr Klarheit verschaffen über die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Mächten und auch zwischen diesen und der Sowjetunion und damit über die wirkliche Ursache des Zweiten Weltkriegs. MIKULÄS:

dieser Zeit nämlich hat die Kommunistische Partei Großbritanniens den Krieg nicht unterstützt; sie hat ihn moskautreu - als einen imperialistischen Krieg gesehen. MIKULÄS: Innerhalb der Kommunistischen Partei gab es Diskussionen, die wir nicht verstanden. Erst später haben wir das mitbekommen, dass es innerhalb der Führung der Kommunistischen Partei Diskrepanzen gegeben hatte. Ein kleinerer Teil war nicht so ablehnend gewesen, der wurde aber marginalisiert. Ich selbst war ja immer links gewesen, seit Studentenzeiten zumindest. Nur hatte ich mich mit marxistischen theoretischen Schriften früher nicht befasst. Ich habe dann einfach angefangen zu lesen, habe das immer mehr vertieft und immer mehr Gefallen daran gefunden. Ich habe auch linke Studenten an der Universität kennen gelernt. Es gab linke Studentenvereinigungen, in denen ich aktiv war. Da gab es Sympathisanten bzw. Mitglieder der Labour Party sowie der Kommunistischen Partei. Schon früher hatte mich Jawaharlal Nehrus* Autobiografie1 sehr beeindruckt. Beim Lesen wurde ich eigentlich erstmals mit der Kolonialfrage konfrontiert. Daher freute es mich, einen Hindu-Kommunisten kennen zu lernen. Später, in Leeds, haben wir uns mit eiALICE: Z U

1 Nehru, Jawaharlal: An autobiography. Oxford 1996 (Original: 1936).

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nem moslemischen Kommunisten aus Bengalen eng befreundet. Freundschaftliche Gespräche und Diskussionen mit beiden haben uns zu einem besseren Verständnis der kolonialen Wirklichkeit in Indien verholfen. Mit dem Hindu-Kommunisten hatte ich einmal eine Diskussion. Sie werden jetzt lachen, nämlich darüber, welche Sprache poetischer sei. Er verteidigte die englische Sprache und sagte: „Schau, der Shakespeare!" Ich argumentierte für die deutsche Sprache - mit Goethe. G. D.: Waren das dann zwei verschiedene Welten: Sie, MiknläS, an der Universität, und Sie, Alice, an verschiedenen Arbeitsplätzen, die aber nichts mit der akademischen Welt zu tun hatten? Ich bin nach und nach Buchhalterin in einem großen Warenhaus in Nottingham geworden. Da saß ich in einem großen Büro mit vielleicht acht anderen Buchhalterinnen. Dort habe ich ein bisschen mehr verdient, und meine Mutter konnte ich dort auch unterbringen. Aber meine Arbeit hat mich nicht zufrieden gestellt. Ich wollte immer an die Universität, und Mikuläs hat das auch sehr unterstützt. Natürlich konnte ich das unter den Bedingungen, in denen wir gelebt haben, zunächst nicht machen. Aber ich habe begonnen, eine Abendschule zu besuchen, Montag bis Freitag täglich drei Stunden, um mich für die schriftliche Prüfung an der Londoner Universität vorzubereiten, von der Mikuläs schon erzählt hat. Der Chef des Warenhauses war eigentlich sehr streng. Doch er erlaubte mir, immer eine halbe Stunde früher wegzugehen, um pünktlich in der Abendschule zu sein. Das war ein ganz ungewöhnliches Arrangement, und es wurde nicht einmal vom Gehalt abgezogen. Ich hatte dem Chef gesagt, dass ich später Ökonomie studieren möchte, was ihm so gefiel, dass er meiner Bitte nachgekommen ist, mit der Bemerkung, dass ein Professor für Wirtschaftswissenschaften zu seinen Freunden zähle. Die Schule begann um halb sechs, und ich durfte um fünf Uhr gehen, weil das Warenhaus erst um halb sechs zusperrte. Im Sommer 1942 habe ich die Prüfung bestanden. Was ich in Wien an der Dr.-Roland-Maturaschule begonnen hatte, habe ich in England beendet. Zu dieser Zeit war Mikuläs schon an der Universität in Leeds. ALICE:

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Ich bin im Januar oder Februar 1942 nach Leeds, und du hast im Herbst mit dem Studium angefangen. MIKULÄS:

ALICE: Ja, so war es. Nach der Prüfung bekam ich ein Stipendium vom British Council, einer Institution für die Popularisierung des British way of life im Ausland. Während des Krieges unterstützte man auch auswärtige Studenten, die an britischen Universitäten studierten. Ich konnte mir aussuchen, an welche Universität ich will. Und so sind wir einander immer nachgefahren.

G. D.: Wieso sind Sie, MikuläS, nach Leeds? Die Sache war so: Im Juni 1 9 4 1 wurde die Sowjetunion von der deutschen Wehrmacht angegriffen. Dadurch änderte sich die Linie der Kommunistischen Partei zum Krieg; man unterstützte die Sowjetunion. Ich meldete mich zur tschechoslowakischen Armee in England. Aber ich wurde aus gesundheitlichen Gründen nicht aufgenommen. Ich hatte mir nämlich bereits als Jugendlicher - ich war ja ein aktiver Sportler gewesen - eine Verletzung der linken Schulter mit unangenehmen Folgen zugezogen; sie verrenkte sich sehr leicht. Das hat dazu geführt, dass ich ein tschechoslowakisches Stipendium bekommen habe. Da ich mich mit dem Außenstellensystem der Londoner Universität nicht anfreunden konnte, bin ich nach Leeds gegangen, um mein Chemiestudium fortzusetzen. Dabei hat mich der Leedser Mathematikprofessor Selig Brodetsky unterstützt. Nach der Errichtung des Staates Israel ist er, wenn ich mich nicht irre, der erste Rektor der Universität in Jerusalem geworden. Jedenfalls: Alice ist mir nach Leeds nachgekommen. MIKULÄS:

Ich habe begonnen, Ökonomie zu studieren. Mein großer Traum Universitätsstudium ist in Erfüllung gegangen. Bei den Studenten dieses Fachs waren mehr Frauen als Männer, denn diese mussten in die Armee. Im Chemiestudium dagegen waren viel mehr Männer, weil sie von der Armee freigestellt waren. Gewisse so genannte kriegswichtige Studienfächer konnten sie absolvieren, bevor sie eingezogen wurden. Ökonomie war nicht dabei. Da gab es nur eiALICE:

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nen Mann in meinem Jahrgang, der studierte. Wir waren überhaupt insgesamt nur fünf Studierende. MIKULÄS: Man hat also versucht, das Studium zu absolvieren; Alice war ja eine viel bessere Studentin als ich. ALICE: Weil du gelesen hast, was wenig oder keinerlei Verbindung mit deinem Studium hatte. MIKULÄS: Das ist wahr. Nichtsdestoweniger habe ich einmal einen Essay geschrieben, der einen Preis gewonnen hat! Und aufgrund dieses Essays bekam ich dann noch ein Stipendium für das Doktorat! Den Essay schrieb ich in zwei Freitagnächten. Alice hat ihn getippt. ALICE: Ich habe immer getippt, ich hatte ja als Lehrling Maschinenschreiben gelernt. Mikuläs, du musst noch erzählen, was für einen Essay du geschrieben hast. MIKULÄS: ES existierte eine ganz große Buchhandlung in London namens Foyles. Die gibt es immer noch. Damals war sie die größte in London. Sie stiftete einen Preis: Bücher im Wert von zehn Pfund. Das war viel Geld damals. Die Ausschreibung war, ich werde das in Englisch sagen: „The influence of Newton on scientific thought". Wie gesagt, ich habe den Essay in zwei Nächten geschrieben. Ich schäme mich heute noch, wenn ich daran denke, dass ich diesen Preis gewonnen habe. Ich hatte Isaac Newton* nie im Original gelesen. Ich stützte mich nur auf Sekundärliteratur - und ich habe den Preis gewonnen. Bei den zehn Pfund nahm man an, dass ich alle entsprechenden Bücher von Foyles beziehen würde. Aber ich nahm auch Bücher, die Foyles nicht hatte, zum Beispiel ausgewählte Werke von Lenin, das waren zehn Bände, ein Buch des sowjetischen Filmregisseurs Sergej Eisenstein und ein wichtiges Werk des Wissenschaftstheoretikers John Desmond Bernal: „The social function of science".2 Bei Foyles habe ich ungefähr drei Pfund gelassen, das meiste habe ich mir bei einer linken Buchhandlung besorgen lassen. 2 Bernal, John Desmond: The Social Function of Science. London 1939 (deutsch: Die soziale Funktion der Wissenschaft. Köln 1986).

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Die ganze Jury war übrigens aus Leeds gewesen, auch der Vorsitzende, Selig Brodetsky. Ich erwähnte es schon: Er war behilflich gewesen, dass ich in Leeds aufgenommen worden war. Man erzählte, dass in seinen jungen Jahren seine mathematische Begabung mit der von Newton verglichen worden sei. Wie auch immer: Nach der Verleihung des Preises sagte er mir: „Ihr Essay war der beste. Aber ich habe immer versucht, gegen Sie zu sprechen, damit man mir nicht vorwirft, dass ich sie protegiere. Die anderen Mitglieder der Jury haben mich fortwährend überstimmt." Einer der Mitglieder der Jury war Professor für anorganische Chemie und Leiter des Chemieinstituts. Nachdem ich mein Bakkalaureat bekommen hatte, meldete ich mich bei ihm, ob er mich als Doktoranden annehmen würde: „Meine Studienresultate sind zwar nicht sehr gut, aber ich möchte dennoch das Doktorat machen." Er reagierte kurz: „Das macht nichts, Sie eignen sich dafür schon." Das war eine große Sache. Ich habe dann auch mehr Stipendium bekommen. Davon haben wir dann besser leben können. Wir haben ja von seinem Stipendium gelebt. Ich habe meines nur für Bücher und Universitätsgebühren bekommen. ALICE:

Und deine Mutter und dein Vater haben dich unterstützt. Nach Abschluss des Bakkalaureates haben wir geheiratet. Das war im Januar 1944. Alice hat dann noch ein Jahr gebraucht, um ihr Studium abzuschließen. MIKULÄS:

Mein Vater war inzwischen aus dem Internierungslager herausgekommen. Er ging von der Isle of Man direkt und freiwillig in die britische Armee. Er war zwar nicht mehr jung und kam als 46-Jähriger daher zum Pionierkorps, das nicht im Ausland eingesetzt wurde. Mein Vater wurde kurze Zeit später krank und aus der Armee entlassen. Da er Uhrmacher war, wurde er als Feinmechaniker in einer Instrumentenwerkstätte des Militärs angestellt: in den Royal Electrical and Mechanical Engineers in Leicester, was nicht weit weg von Nottingham ist. Da mein Vater in der Armee gewesen war, hat meine Mutter in Nottingham ein council house bekommen. In Österreich und Deutschland sagt man ALICE:

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Gemeindewohnung oder Sozialwohnung dazu. In unseren Ferien sind wir immer von Leeds nach Nottingham zu meiner Mutter gefahren. G. D.: Hatten Sie damals noch - also in Nottingham und dann auch in Leeds - Kontakte zu anderen Emigrantinnen und Emigranten? ALICE: In Nottingham eigentlich nicht, außer zu meinen Verwandten. In Leeds war das dann anders. MIKULÁS: Bevor ich nach Leeds ging, habe ich Freunde, Flüchtlinge in London angesprochen, von denen ich wusste, dass sie Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei waren. Ich informierte sie, dass ich nach Leeds gehe, und fragte, ob dort eine Parteigruppe existiere, denn ich wollte Parteimitglied werden. So erfuhr ich, dass ein mir aus meiner Kindheit bekannter Kommunist - ein Absolvent des Ruzomberoker Gymnasiums - in Leeds Textilforschung betreibt. Von Haus aus Jurist hatte er die Gelegenheit ergriffen, sich auf diesem Gebiet auszubilden. Durch ihn wurden wir 1942 in die Leeds-Gruppe der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei eingeführt und angenommen. Mehrheitlich bestand sie aus sudetendeutschen Proletariern, die nach dem Münchener Abkommen vor den deutschen Truppen aus ihren Heimatorten über Nacht geflüchtet waren. Die Begegnung mit diesen bedingungslosen Hitlergegnern gehört zu unseren schönsten Lebenserfahrungen. ALICE: Wir waren auch aktiv an der Universität, wo wir Anschluss bei kommunistisch gleich gesinnten Studenten aus England, Indien, dem Irak und der Schweiz fanden. Wir wurden in Gremien von Studentenorganisationen gewählt, wo wir Funktionen übernahmen. So war ich Sekretärin der National Union of Students in Leeds. Wir beide waren führend in der International Society. Wir waren initiativ bei der Gründung einer Wandzeitung - wall newspaper. Mit einer der Mitbegründerinnen sind wir bis heute in Kontakt, sie zählt zu unseren engsten Freundinnen. Die wall newspaper wurde ein ziemlich großer Erfolg. Damit wir Unterstützung von Studenten bekommen, haben wir Abendtänzchen veranstaltet: Ich habe ein Büffet ge-

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macht, Studenten sind gekommen, Schallplatten wurden gespielt, und man hat getanzt. Das war sehr, sehr schön; ich habe das ungeheuer genossen. Mikuläs und ich - wir waren ja beide irgendwie verrückt - haben auch damit begonnen, fechten zu lernen. Aber das haben wir dann wieder aufgegeben. Wir haben auch erstmals den Internationalen Studententag in Leeds organisiert. Am 17. November 1939 hatten die Deutschen alle tschechischen Universitäten geschlossen. Nicht wenige tschechische Studenten wurden in Konzentrationslager verschleppt. Der 17. November wurde dann zum Internationalen Studententag. Im Rahmen der International Society, unterstützt vom Vice-Chancellor, haben wir zweimal, 1943 und 1944, einen solchen Tag veranstaltet. Dazu versuchte man einen prominenten britischen und einen prominenten tschechoslowakischen Politiker einzuladen. 1943 hielten Harold Macmillan*, der spätere britische Premierminister, und Karl Kreibich, ein Mitglied des Londoner Tschechoslowakischen Staatsrats, die Ansprache. Wer 1944 zu den Studenten gesprochen hat, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls nahm auch eine jugoslawische Partisanendelegation teil. Karl Kreibich war im wahrsten Sinne ein Deutschböhme - seine Muttersprache war Deutsch, und er sprach fließend Tschechisch. Er hatte 1921 zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei gehört und vertrat diese als Senator im Prager Parlament. Harold Macmillan war ein Abgeordneter für die Konservative Partei, der sich an die Seite Churchills* gestellt und gegen das Münchener Abkommen gestimmt hatte. Über die Art und Weise seiner Ausführungen war ich sehr enttäuscht. Das führte dazu, dass ich ihn als Politiker völlig falsch eingeschätzt habe. Er hat sich später als sehr schlauer Fuchs unter den britischen Nachkriegspolitikern entpuppt. Und er war unbarmherzig, wenn er sich seiner Gegner aus der eigenen Partei entledigen wollte. Nicht von ungefähr kam der Spitzname „Mac the knife". MIKULÄS:

Mikuläs meinte, dass er vertrottelt ist, so wie er da in Leeds gesprochen hat. ALICE:

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MIKULÂS: Hohle, leere Phrasen folgten, nachdem er sich in Lobsprüchen auf Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt* und Generalissimus Stalin* ergangen hatte. ALICE: Da ist einem ganz schlecht geworden . . . MIKULÂS: Daher war ich über seine Ernennung zum „Delegierten" der britischen Regierung beim Oberkommando der im Mittelmeerraum operierenden Streitkräfte nicht sehr erbaut. Das bedeutete nichts Gutes für die Eröffnung der zweiten Front im Westen, die Stalin forderte und Churchill und Roosevelt von einem Zeitpunkt auf den anderen verschoben. ALICE: In den Studentenversammlungen waren wir sehr engagiert für die Öffnung der zweiten Front im Westen; denn nur so konnte der Krieg schneller gewonnen werden. Wir hatten das Gefühl, dass man sich im Westen Zeit lässt, damit die Sowjets so viel wie möglich ausbluten. Deshalb hatte ja Churchill die Mittelmeerstrategie verfolgt. Da lag, wie er sagte, der „weiche Unterleib" - soft underbelly - des deutsch-italienischen „Krokodils". Den Sieg über den Feind erringe man, wenn man diese Schwachstelle militärisch durchdringe. Dadurch sichere man den Einfluss des Westens im südöstlichen Europa, also auf dem Balkan. Die zweite Front wurde im Juni 1944 in der Normandie eröffnet - nach den entscheidenden deutschen Niederlagen bei Stalingrad im Herbst und Winter 1942/43 und Kursk im Sommer 1943. Die Rote Armee war in Berlin, London und Washington dauernd unterschätzt worden, und deshalb war ihr relativ schneller Vormarsch auf einer breiten Front unerwartet. Zweifellos war es nun im ureigenen Interesse der Alliierten, im Westen militärisch zu agieren.

MIKULÂÈ:

ALICE: Man hatte die sowjetische Armee sehr unterschätzt. Man hatte geglaubt, dass sie nach Stalingrad nicht mehr auf einer so breiten Basis agieren könne. Die deutsche Niederlage bei Kursk hatten sie nicht erwartet. Dabei waren wir überzeugt, dass die Sowjets das schaffen. Wir waren überzeugt! Und nicht nur die Linken in England haben eine zweite Front durch Amerikaner und Engländer im Westen 82

propagiert. Die Amerikaner sind ja dann auch nach England gekommen, massenhaft! Von dort aus ist es dann auch geschehen. Aber es hat lange gedauert: nämlich bis zum Juni 1944, als die alliierte Invasion in der Normandie begann. G. D.: MikuldS, Ihre Familie ist ja nach 1939 in der Slowakei geblieben. Hatten Sie während Ihrer Zeit in England noch Kontakt zu ihr? MIKULÄS: Wir hatten Kontakt bis zum Ausbruch des Krieges. Und auch während des Krieges gingen Briefe über Lissabon. So haben wir auch während des Krieges zwei oder drei Briefe erhalten. Ich habe auch Briefe geschrieben, und angedeutet, dass wir - Alice und ich - liiert sind. Da hat mein Vater an Alice einen sehr schönen Brief geschrieben. ALICE: Er war so ein herzlicher Mensch und so glücklich, dass Mikuläs mich kennt, und hat geschrieben, dass ich sehr willkommen bin. Der Brief ist 1968 leider in Prag geblieben. MIKULÄS: Im August 1944 kam es dann zum Slowakischen"' Nationalaufstand (Slovenske närodne povstanie). Wir haben noch kürzlich mit Wiener Studierenden eine Exkursion dazu in die Slowakei gemacht. In Osterreich - auch unter den Geschichtestudenten - weiß man ja praktisch nichts darüber. Dabei war das ein Aufstand von politischer Brisanz mitten im damaligen deutschen Herrschaftsbereich ein Aufstand, der auch von großen Teilen der slowakischen Armee getragen wurde: gegen die Deutschen, gegen den Faschismus und die Regierung der Slowakei, die ja ein deutscher Vasallenstaat war. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, und danach ist die Slowakei von den Deutschen besetzt worden. Meine Eltern haben die Besatzung nicht überlebt. Das habe ich aber erst nach dem Krieg erfahren. Von dem Aufstand selbst haben wir natürlich in England erfahren. Die tschechoslowakische Exilregierung in London unter Benes stand mit den Aufständischen ja in Kontakt. Und in Leeds hatten wir die ganze Emigrantenpresse: eine deutsche Zeitung, die „Einheit" hieß, auch eine tschechoslowakische, die sich übersetzt „Junge Tschechoslowakei" nannte. Da wurde

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über den Aufstand natürlich berichtet. Und man hat das sehr positiv gesehen; man dachte, das ist jetzt die Befreiung. Wir haben gewusst, dass bald alles zu Ende geht. Aber man hat nicht gedacht, dass die Eltern umkommen. Von Lagern haben wir schon gewusst, aber nicht von Auschwitz - auch wenn wir heute wissen, dass die britische Regierung davon gewusst hat. Das erste Mal, wo wir beide damit konfrontiert worden sind, war nach dem Ende des Kriegs gewesen: Das war eine Filmreportage über das Konzentrationslager Bergen-Belsen. ALICE: Das wurde überall gezeigt, und das war ein Schock. Die vielen Toten! Dann ist eine Nachricht nach der anderen gekommen. Aber was ich vorher noch sagen wollte: Wir haben natürlich gewusst von den vielen Verfolgungen und auch von einigen Verbrechen der Deutschen, zum Beispiel von der tschechischen Ortschaft Lidice*, die 1943 völlig zerstört wurde. Wir waren dann auch in der Lidice shall live-Bewegung engagiert. Ich bin mit Büchsen Geld sammeln gegangen für den Wiederaufbau von Lidice. MIKULÄS: Von der Ermordung meiner Eltern habe ich dann im Juni 1945 über meine Verwandten und meinen Bruder erfahren. Nach der Niederlage des Slowakischen Nationalaufstandes sind sie im Herbst 1944 in die Hände der Deutschen gefallen, verschleppt in das Sammellager Sered in der Westslowakei. Von dort kam mein Vater nach Oranienburg und meine Mutter nach Ravensbrück, wo sie beide im April 1945 knapp vor dem Ende des Krieges umgekommen sind.

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Prag 1946 bis 1948 Der Kampf um die Macht G. D.: Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben Sie beide Ihr Studium abgeschlossen, Alice in Ökonomie, Mikuläs in Chemie. Sie, MikuläS, haben 1946 auch noch promoviert. Sie verließen dann beide England und gingen als überzeugte Kommunisten in die Tschechoslowakei. Ihre gemeinsame, in der Festschrift für Michael Mitterauer abgedruckte autobiografische Skizze endet mit dem Satz: „Wir hingegen meinten, dass in diesem Land historisch gegebene politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Voraussetzungen existierten für einen spezifischen eigenen Weg, eine sozialistische Ordnung zu schaffen. Naivität? Illusionen? Wie auch immer - wir wünschten uns, an diesem Weg teilzunehmen."3

ALICE: Man hat uns später öfters vorgeworfen, dass wir

blauäugig gewesen wären. Schon in den 1930er Jahren hatte es ja in der Sowjetunion ganz schlimme Verfolgungen gegeben. Das stimmt natürlich. Was man oft nicht bedenkt, ist aber, dass ohne die Sowjetunion der Zweite Weltkrieg nicht gewonnen worden wäre. Und zwanzig Millionen Menschen hatte die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg verloren. Das wird oft vergessen. Damals glaubten wir wirklich, dass wir am Aufbau eines gerechteren Systems mitarbeiten können - ein System, wo es einen Internationalismus und keinen Nationalismus gibt, wo auch Antisemitismus keine Rolle mehr spielen dürfte. Wir wollten helfen, ein soziales System in dem Sinne aufzubauen, dass mehr Gerechtigkeit durch die ganze Gesellschaft verbreitet wird. Kurz gesagt: Wir haben gemeint, 3 Teichova, Alice / Mikuläs Teich: Zwischen der kleinen und großen Welt: ein gemeinsamer Weg, 470. In: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien (Hg.): Wiener Wege der Sozialgeschichte. Themen - Perspektiven - Vermittlungen. Wien u. a. 1997, 461-472.

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dass, wenn die sozialistische Theorie in die Praxis überführt wird, so etwas möglich sei. Auch wenn wir um große Schwierigkeiten wussten, so naiv waren wir auch wieder nicht, dass wir dachten, dass das sehr schnell gehen würde. Aber wir dachten, die Leute werden einsehen, dass der Sozialismus für sie besser ist. Da haben wir das gesellschaftliche Bewusstsein überschätzt. MIKULÄS: Aber diese optimistischen Gefühle haben wir wirklich damals gehabt. Die Sache mit der Illusion ist natürlich eine retrospektive Einschätzung. Damals wollten wir dabei sein, und ich selbst hatte zwei Momente im Sinn: Einmal wollte ich an die Universität. Ich hatte die Idee, an der Medizinischen Fakultät zu wirken: entweder am Chemischen oder am Biologischen Institut - als Assistent. Gleichzeitig wollte ich mein Medizinstudium beenden. Daran lag mir sehr viel. Zum anderen wollte ich mich voll in das politische Leben begeben - mit meinen Möglichkeiten und Interessen. 1946 habe ich in England von Anfang Januar bis zu meiner Abreise in die Tschechoslowakei im Juli als Sekretär für Kultur beim Czechoslovak-British Friendship Club gewirkt. Ich war auch Londoner Korrespondent der Rüde Prävo, des Zentralorgans der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Gleichzeitig habe ich auch für eine englische Zeitschrift geschrieben, die in Prag herausgegeben worden ist. Als ich dann nach Prag zurückkehrte, habe ich mich bei einigen Bekannten, die im Apparat des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei arbeiteten, und auch beim Chefredakteur der Rüde Prävo gemeldet. So habe ich begonnen. 1946 und 1947 waren interessante Jahre. Ich habe aus einer relativen Nähe erfahren, was ein scharfer politischer Kampf ist. Ich war zwar vertraut mit dem Begriff „Kampf um die Macht", nämlich aus der Geschichte der Sowjetunion, aber das war alles aus der Literatur. Hier habe ich unmittelbar diesen Kampf erlebt - und ich habe auch an diesem Kampf der politischen Kräfte um die Macht teilgenommen. G. D.: In welcher Weise haben Sie an diesen Kämpfen teilgenommen?

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MIKULÄS: Ich habe an den ideologischen Auseinandersetzungen teilgenommen. Das war so: In der Tschechoslowakei der Vorkriegszeit hatten die Sozialdemokratische Partei und die Kommunistische Partei je eine kulturpolitische Organisation gehabt. Die sozialdemokratische hieß - in deutscher Übersetzung - Arbeiterakademie, die kommunistische hieß Sozialistische Akademie. Die Arbeiterakademie ging zurück bis ins 19. Jahrhundert, wo die Sozialdemokratische Partei versucht hatte, erzieherisch und populärwissenschaftlich unter den Arbeitern zu wirken. Die Kommunistische Partei errichtete in den 1930er Jahren eine Parallelorganisation - eben die Sozialistische Akademie. Als ich 1946 nach Prag kam, wurden erste Schritte unternommen, diese Sozialistische Akademie zu erneuern. Später, nach 1948, war sie eine Organisation für die Verbreitung naturwissenschaftlicher und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse. Zunächst aber gab es 1946 die Idee, eine marxistisch orientierte Monatsschrift auf hohem Niveau zu gründen; die hieß Novä mysl, auf deutsch: „Neuer Geist". ALICE: „Neues Denken" könnte man auch sagen. MIKULÄS: In Wirklichkeit war die Zeitschrift damals das einzige Organ der Partei, das nach außen theoretisch agierte. Zugleich wurden in der Akademie Sektionen für Naturwissenschaftler und Historiker, die sich zur Kommunistischen Partei bekannten, gegründet; auch eine Sektion für Pädagogik und Psychologie und eine für Theorie der Kunst wurden errichtet. Das war ein Teil dieser Erneuerung der Akademie. Ich wurde zum Vorsitzenden der naturwissenschaftlichen Sektion gewählt, obwohl ich praktisch unbekannt und vorher im Ausland gewesen war. Damit war ich automatisch Mitglied des Redaktionsrats der Novä mysl. ALICE: Man darf nicht vergessen, dass die Nationalsozialisten 1939 alle tschechischen Hochschulen geschlossen hatten. Nach dem Krieg fehlte es überall an Akademikern. Intellektuelle mit theoretischen Interessen, die, wenn sie überlebt hatten, aus den Konzentrationslagern zurückkamen, oder 87

die in der Emigration gewesen waren, haben die Gelegenheit ergriffen, mitzutun. Und ich hatte ein genuines Interesse an der Analyse wissenschaftlicher Theorien im Lichte der marxistischen Philosophie. Ich erwähnte schon: Die Vorsitzenden der Akademiesektionen wurden automatisch Mitglieder des Redaktionsrates. So habe ich Arnost Klima, den Vorsitzenden der Historikersektion, kennen gelernt, mit dem wir uns eng befreundeten. Die erste Nummer der Nova Mysl ist im Frühjahr 1947 erschienen. Man traf sich einmal monatlich und diskutierte über ideologisch-theoretische Probleme, die gerade in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung standen oder von denen man hörte, dass sie in der Sowjetunion und anderswo im Ausland Thema waren. In meiner Tätigkeit war ich zunächst einmal doch sehr bescheiden: Ich habe ein oder zwei Rezensionen geschrieben, das waren sozusagen meine ersten Schritte. MIKULÄS:

ALICE:

ben?

Hast du nicht auch für eine Tageszeitung geschrie-

Ja, das stimmt! In England war ich sehr beeindruckt davon gewesen, dass hier große Wissenschaftler populärwissenschaftlich wirken. Das hatte ich früher so nicht gekannt. In England hatte das eine lange Tradition, die bis in das 19. Jahrhundert zurückgeht, zum Beispiel Michael Faraday, einer der Begründer der Elektrizitätslehre. An und für sich war er ein zurückgezogener und sehr bescheidener Mann und Mitglied einer besonders strikten christlichen Sekte. Aber er hat ein klassisches populäres Buch über die Kerze geschrieben.4 Besonders einer von den großen Wissenschaftlern hatte in England auf mich einen ganz tiefen Eindruck gemacht; das war der vielseitige Biologe John Burdon Sanderson Haidane. Er war auch Vorsitzender des Redaktionsrats der kommunistischen Tageszeitung und schrieb jede Woche einen populärwissenschaftlichen Artikel. Jede Woche! MIKULÄS:

4 Faraday, Michael: Naturgeschichte einer Kerze. Leipzig 1919.

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ALICE: Die Zeitung hieß The Daily Worker. Sie wurde am Anfang des Kriegs verboten, weil die Kommunistische Partei den Krieg wegen des Hitler-Stalin-Pakts* nicht guthieß. Als dann nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion 1941 die Kommunistische Partei den Krieg doch unterstützte, wurde auch die Zeitung wiederbelebt. MIKULÄS: Ich habe für die Tageszeitung der Gewerkschaften populärwissenschaftlich geschrieben. Ich habe vielleicht sechs oder sieben Artikel verfasst. Ich kann mich erinnern, dass ich auch über den bedeutenden Physiker Werner Heisenberg* geschrieben habe. Das war 1946 oder 1947. G. D.: Ich höre aus Ihren Erzählungen sehr viel Aufbruchstimmung heraus. Menschen aus dem Exil oder aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern kehren zurück, bauen etwas Neues auf... MIKULÄS: Absolutely, absolutely! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Es war eine Aufbruchstimmung! Und in dieser ideologischen Aufbruchstimmung hat ein Mann eine wichtige Rolle gespielt. Er hieß Arnost Kolman. Er kam aus einer tschechisch-jüdischen Familie und hatte vor dem Ersten Weltkrieg an der Technischen Hochschule und an der Philosophischen Fakultät der tschechischen Universität in Prag studiert. Er wurde 1914 in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen und kämpfte an der russischen Front. Ich weiß nicht genau, ob er überlief oder ob er Kriegsgefangener war - jedenfalls blieb er in Russland, nahm an der Oktoberrevolution 1917 teil und wurde ein glühender Bolschewik. Er spielte dann eine bedeutende Rolle im sowjetischen Institut der roten Professur, das in den 1930er Jahren entstand, und auch in der Kommunistischen* Internationale. 1945 kam Kolman in die Tschechoslowakei zurück und wurde im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Abteilungsleiter für Propaganda, zugleich wirkte er als Professor für Philosophie an der Karls-Universität in Prag. Später ist Kolman, um das jetzt einmal vorauszuschicken, als alter Mann nach Schweden emigriert, wo seine Tochter lebte. Er hat dann eine Autobiografie geschrieben, die auch

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in Deutsch erschienen ist 6 , worin er mit seinem Leben abrechnet. Aber wieso ich überhaupt auf Kolman gekommen bin: Teil dieser Aufbruchstimmung war, dass alle Parteien sich damals positioniert haben. Es wurden große öffentliche Diskussionen zwischen den ideologischen Repräsentanten der verschiedenen Parteien geführt. Für die Kommunisten hat das oft Kolman getan; da waren tausend bis zweitausend Studenten und andere Leute dabei. So diskutierte Kolman mit Professor J. B. Kozäk, d e m ideologischen Sprecher der Tschechischen Nationalen Sozialisten. ALICE: Das war eine Partei, die links von der Mitte stand. MIKULÄS: Ja, von der Sozialdemokratischen Partei hatte sich vor d e m Ersten Weltkrieg eine tschechisch-nationalistische Richtung abgesondert; die hießen dann Tschechische Nationale Sozialisten. Diese versuchten, die national orientierten Arbeiter mit der tschechischen Kleinbourgeoise auf einen Nenner zu bringen. Formal w a r auch Edvard Benes bis zu seiner Präsidentenwahl 1935 Mitglied dieser Partei. Kolman stritt mit Repräsentanten der Tschechischen Nationalen Sozialisten über die Gesellschaft und Zukunft der neuen demokratischen Tschechoslowakei. G. D.: Waren Sie auch selbst in und an solchen Konfrontationen beteiligt?

unmittelbaren

MIKULÄS: Nein, nicht damals, also 1946 oder 1947. Ich w a r zu der Zeit auch nicht immer in Prag. Ich hatte an der Prager Universität eine Stelle gesucht. Die habe ich nicht bekommen. Alice hat schon darauf hingewiesen: Von 1939 bis 1945 waren alle tschechischen Universitäten und Hochschulen geschlossen gewesen. Als der Krieg zu Ende war, wurden die tschechischen Universitäten wieder geöffnet. Die Lücke, die enstanden war, musste irgendwie gefüllt werden. So hat die Medizinische Fakultät der Prager Karls-Universität eine Außenstelle in Pilsen und eine in Hradec

6 Kolman, ArnoSt: Die verirrte Generation. So hätten wir nicht leben sollen. Eine Autobiographie. Frankfurt am Main 1979.

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Krälove (Königgrätz) eröffnet. Und dort habe ich eine Stelle bekommen. Ich hätte auch nach Brünn gehen können, aber Brünn war mir zu weit; ich wollte näher zu Prag sein. So habe ich seit Anfang 1947 am Biologischen Institut der Medizinischen Fakultät in Königgrätz als Assistent gewirkt. Am Wochenende bin ich immer nach Prag gefahren. Als Assistent musste man damals keine Vorlesungen halten, Assistenten haben vor allem die Laboratorien betreut. Und in Königgrätz bin ich auch Vorsitzender der kommunistischen Gruppe an der Fakultät geworden. Dort habe ich dann sehr aktiv gearbeitet. In Königgrätz war ich nur einige Monate. Im Herbstsemester 1947 habe ich die Gelegenheit bekommen, Assistent am Chemischen Institut der Medizinischen Fakultät in Prag zu werden. G. D.: Waren das für Sie zwei getrennte Lebenswelten: Wissenschaft und Politik? Oder hat sich's verknüpft? MIKULÄS: Das Politische hat damals für mich ein viel größeres Gewicht gehabt als das Wissenschaftliche. Aber eigentlich habe ich zwischen beidem überhaupt keine Trennung gesehen. Nebenbei gesagt: Ich sehe sie auch heute nicht! G. D.: Alice, wie ist es Ihnen in dieser Zeit ergangen? ALICE: Ich bin im Frühjahr 1947 mit unserem Sohn Petya aus England nach Prag gekommen, der damals nicht ganz zwei Jahre alt war. Ich bin bis April 1948 geblieben, also bis nach der kommunistischen Machtübernahme. Ich konnte zunächst kein Tschechisch. Das war natürlich ein Handicap, aber man hat mit mir am Anfang deutsch und englisch gesprochen, und ich habe versucht, sehr schnell Tchechisch zu lernen. Ich muss noch etwas Persönliches sagen: Diese Posten, die Mikuläs gehabt hat, waren so dürftig bezahlt, dass man davon nicht leben konnte. Zu dieser Zeit gab es aber noch private Sprachschulen, und es gab ein großes Interesse in der Bevölkerung, Sprachen zu lernen, besonders Englisch. Ich habe diese Möglichkeit ausgenützt und habe in einer Sprachschule in Prag, ganz in der Nähe unserer Wohnung, einen Abendposten bekommen. Ich habe in einer Woche 91

mehr verdient als Mikuläs im ganzen Monat. Es gab einen großen Mangel an Sprachlehrern. Zu dieser Zeit hatte Mikuläs eine Ein-Zimmer-Wohnung, eine Garçonnière. Dort haben wir mit dem Baby ganz primitiv gehaust. Aber wir hatten in diesem Haus eine sehr liebe Frau, sie kam aus einer proletarischen Familie und war schon vor dem Krieg Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Am Abend betreute sie den Jungen, damit ich unterrichten gehen konnte. Mikuläs war da noch in Königgrätz. In dieser Zeit, bis zum Herbst, haben wir uns nur am Wochenende gesehen. Und auch wenn ich noch nicht so gut Tschechisch konnte: Ich habe sehr viel mitbekommen, was in der Politik und in der Partei los ist, ich bin nicht ohne Informationen gewesen; Freunde und Kollegen sind oft gekommen und haben mit mir gesprochen. Der Sommer 1947 war ein sehr heißer Sommer. Die Trockenheit richtete großen Schaden für die Wirtschaft der Tschechoslowakei an - obwohl der Sommer für einen Sommerurlaub das Schönste war, was man sich nur wünschen konnte. Wir haben sogar mit Petya, unserem Sohn, einen Urlaub an einem sehr schönen See in Nordböhmen gemacht. Aber wirtschaftlich hat dieser Sommer die Tschechoslowakei zurückgeworfen - aber nicht viel! Die Tschechoslowakei war das einzige Land überhaupt, das nach 1945 in zwei Jahren im Pro-Kopf-Einkommen das Niveau von 1937 in der Wirtschaft erreichte. Das ist eine historische Tatsache. Das haben die Tschechen und die Slowaken geschafft - trotz dieser Hitze. Dennoch hat man damals schon den Druck durch den Westen gespürt - wegen des Marshall-Plans*. Dieser heiße Sommer war auch politisch heiß. Man hat es schon gefühlt. Im Herbst hat Mikuläs seinen Posten in Prag angetreten. Ich konnte weiter abends unterrichten. Ich habe natürlich auch in meiner Art und Weise mit den Leuten, die Englisch gelernt haben, politisch gesprochen. Die Abendschüler haben nach dem Westen geguckt. Sie haben wissen wollen, wie das in England ist. Ich habe ihnen erzählt, was während des Krieges war: Ich hatte damals geglaubt, alle Tschechen seien Sozialisten. Ich war überzeugt davon. Das war meine Naivität. 92

G. D.: 1948 kam es dann in der Tschechoslowakei zur kommunistischen Machtübernahme... MIKULÄS: Heute behauptet ja die Geschichtsschreibung: 1948 beginnt in der Tschechoslowakei der kommunistische Totalitarismus. Meiner Ansicht nach ist das zu kurz gegriffen. Der Kontrahent, die bürgerliche Seite, wird stets als ein Opferlamm präsentiert - als ein Opferlamm, das in keinerlei Bezug zur internationalen Lage gestanden sei. Dabei war der Kalte Krieg schon damals längst im Gange. Es gab in der Tschechoslowakei einen Kampf zwischen Kommunisten und Bürgerlichen. Die Kommunisten haben diesen Kampf wirklich als Kampf geführt, die bürgerliche Seite dagegen hat ihn inkompetent geführt. Am 21. Februar 1948 traten die bürgerlichen Regierungsmitglieder zurück - außer den parteilosen Außenminister Jan Masaryk und Verteidigungsminister Ludvik Svoboda. Auch die sozialdemokratischen Minister blieben. Es war eine Naivität zu glauben, dass die kommunistischen Minister resignieren würden. ALICE: Dem ging ja einiges voraus. 1947 gab es noch eine Koalitionsregierung aus Kommunisten, Sozialdemokraten und Bürgerlichen unter dem kommunistischen Ministerpräsidenten Klement Gottwald*. Bei den freien Parlamentswahlen 1946 hatten die Kommunisten 38 Prozent der Stimmen erhalten und waren die stärkste Partei geworden. Nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass sie schon in der Zwischenkriegszeit eine Massenpartei war. Die Regierung hatte zunächst noch gut funktioniert und einen Zweijahresplan erstellt und erfolgreich ausgeführt. Gottwald wurde im Juli 1947 nach Moskau zu Stalin gerufen. Er wurde aufgefordert, dem Marshall-Plan nicht beizutreten, nachdem der sowjetische Außenminister Molotow die Verhandlungen in Paris über den Marshall-Plan verlassen hatte. George Marshall war der damalige amerikanische Außenminister. MIKULÄS: War es nicht so, dass man in Washington der Ansicht war, man solle die Möglichkeit erst gar nicht zulassen, dass die Sowjetunion am Marshall-Plan teilnimmt? 93

ALICE: Ja, das war Marshalls Ansicht, aber auch die des britischen Außenministers Ernest Bevin. Man wollte die Tschechoslowakei und Polen miteinbeziehen, aber die Sowjetunion nicht. Dazu haben die Sowjets natürlich „nein" gesagt. MIKULÄS: Der Marshall-Plan war also auch ein Instrument amerikanischer Interessen. ALICE: Der in Moskau weilende Gottwald hat der tschechoslowakischen Regierung die Nachricht geschickt, dass man die ursprüngliche Zusage zum Marshall-Plan zurückziehen muss, auch die Polen mussten sich zurückziehen. Damit begann innerhalb der Regierung ein Kampf, der bis zum Februar 1948 dauerte. Die Idee der bürgerlichen Parteien war, die Kommunisten aus der Regierung herauszubekommen. In Frankreich war das ja bereits gelungen. Das hätte geheißen: Zunächst treten die bürgerlichen Minister zurück und darauf die gesamte Regierung; damit wäre der Weg frei für ein überparteiliches Expertenkabinett, für eine Beamtenregierung. Solche Überlegungen hat man gehabt. Nur war das naiv, weil man die Stärke der kommunistischen Bewegung unterschätzte. Auch Gottwald wurde unterschätzt, denn er reagierte so: „Okay, diese Minister treten zurück, ich trete nicht zurück und stelle dem Staatspräsidenten Benes eine neue Regierung vor." Inzwischen waren auch die von Kommunisten geleiteten Arbeitermilizen aufgetreten, um zu zeigen, dass sie Rückhalt in der Bevölkerung haben. MIKULAS: Benes konnte nichts mehr machen. Damit war die Sache gelaufen. Benes hat am 25. Februar kapituliert, die Demissionen angenommen und einer neuen Regierung unter Gottwald, der auch Vertreter der Nationalen Sozialisten und der Christlichen Volkspartei angehörten, zugestimmt. ALICE: Vor diesen Ereignissen fand eine große Kundgebung am Altstädter Ring in Prag statt. Ich war dabei, obzwar ich mich nicht sehr gut fühlte. MIKULÄS: D U

bist ja dann im April zurück nach England . . .

ALICE: Ja, ich bin im April 1948 nach England zurückgefahren. Ich bin wieder schwanger geworden, und mir war so 94

wahnsinnig schlecht. Anstatt zuzunehmen, nahm ich ab. Ich erbrach viel und bin dann im März noch in ein Sanatorium gekommen. Aber ich war vorher noch bei dieser großen Kundgebung am Altstädter Ring gewesen. Es war ein Kampf um die Macht. Die Kommunisten konnten die Machtpositionen, die sie gehabt haben, ausbauen: im Sicherheitsdienst, in Teilen der Armee und in andern Bereichen. Das ist zwar eine sehr wichtige Seite, aber nur eine Seite. Es ist noch völlig ungeklärt, welche Rolle der amerikanische Botschafter damals in Prag gespielt hat, inwiefern die Bürgerlichen geglaubt haben, dass die Amerikaner sie nicht im Stich lassen werden. Diese Sachen müssten noch untersucht werden. Die Historiografie zieht Schlüsse aufgrund des Materials, das man in den Archiven der Kommunistischen Partei gefunden hat, die nun endlich geöffnet sind. Man müsste aber auch das Material in den Archiven der USA, etwa des amerikanischen Außenministeriums und der CIA, zu dieser Frage untersuchen, um zu sehen, welche Position London und Washington eingenommen haben, welche Instruktionen sie gegeben haben und so weiter. Das fehlt mir bei dieser Historiografie. MIKULÄS:

Für eine große wissenschaftliche Konferenz über den Marshall-Plan in Paris 1991 habe ich die Geschehnisse in der Tschechoslowakei zwischen 1946 und 1948 untersucht. Ich war zwar nicht in Washington im Archiv, aber die Amerikaner haben gewisse Dokumente publiziert, darunter eben auch solche des damaligen amerikanischen Botschafters in Prag. Er stand in engen Beziehungen zu den Spitzen der Parteien, deren Minister demissionierten. Er wusste Tag für Tag, Stunde für Stunde, was in dieser Regierung los ist. Genauso aktiv war natürlich die Kommunistische Partei mit ihrem Draht nach Moskau. Ich habe dann die amerikanischen Dokumente unter der Frage aufgearbeitet: Wie wurde die Tschechoslowakei unter Druck gesetzt, damit sie sich westlich orientiert? Zum Beispiel stellte die UNO der Tschechoslowakei plötzlich die UNRRA-Lieferungen ein. Diese Aktion der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) war sehr hilfreich gewesen. Das war keine AnleiALICE:

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he, sondern ein Zusatz zum Volkseinkommen; die Regierungen konnten damit operieren, als ob sie es aus ihrem Budget genommen hätten. Nun bürdete man der Tschechoslowakei sogar auf, den Transit ihrer Güter von der Tschechoslowakei nach Hamburg durch die westlichen Zonen Deutschlands zu verzollen. Ganz nach dem Motto: Wenn ihr euch nicht in Richtung Westen orientiert, sprich, dem Marshall-Plan beitretet, müsst ihr dafür bezahlen. Das habe ich auf der Konferenz vorgestellt 7 - und es schlug ein wie eine Bombe. Es waren tausend Leute da, denen meine Ausführungen neu waren. Die französischen Historiker waren ganz begeistert darüber. G. D.: Wie agierten Sie persönlich als überzeugte und engagierte Kommunisten während dieser entscheidenden Phase Anfang 1948? MIKULÄS: Ich habe diesen Umbruch aktiv mitgetragen. An der Karls-Universität wurden verschiedene Aktionskomitees gegründet; ich war einer der Gründer eines solchen Aktionskomitees an der Medizinischen Fakultät. In diesen Komitees waren die Kommunisten die führende Kraft, aber man versuchte, auch Nicht-Kommunisten dazu zu bekommen. Um noch mehr ins Detail zu gehen: Ich habe doch erzählt, dass ich in der Sozialistischen Akademie aktiv war; ich war Vorsitzender der naturwissenschaftlichen Sektion, und damit im Zusammenhang war ich in enger Verbindung mit dem Parteiapparat, vor allem mit der Abteilung für Kultur und Propaganda. Als ich hörte, dass Aktionskomitees gegründet wurden, habe ich gefragt, wie das an der Medizinischen Fakultät sei. Dann wurde mir gesagt, dass es gut wäre, mich mit dem Neurohistologen Professor Ladislav Haskovec in Verbindung zu setzen und mit der Neurologischen Klinik, denn dort waren einige Kommunisten. Der Professor für Neurologie war allerdings kein Kommunist, aber er

7 Teichova, Alice: For and against the Marshall Plan in Czechoslovakia. In: Comité pour l'histoire Économique et Financière (ed.): Le Plan Marshall et le relèvement économique de l'Europe (21 au 22 mars 1991). Paris 1 9 9 3 , 1 0 7 - 1 1 8 .

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stammte aus einer angesehenen großbürgerlichen Familie. Sein Vater war Professor an der Juridischen Fakultät gewesen, und seine Schwester war eine bekannte Schriftstellerin, die Verbindung zur Kommunistischen Partei hatte. So habe ich also Professor Haskovec aufgesucht. Ich habe dann auch noch einen Mikrobiologen besucht, einen Dozenten, den ich schon früher durch meine Aktivitäten in parteinahen Gremien kennen gelernt hatte; er war Kommunist und hieß Ivan Mälek. In mehreren Besprechungen haben wir uns dann entschieden, im wichtigsten Prager Krankenhaus ein public meeting einzuberufen. An dem nahmen 100 bis 150 Leute teil. Haskovec hat dort gesprochen, und der gesamten Versammlung wurde die abgesprochene Liste des Aktionskomitees vorgelegt. Diese wurde dann mit Akklamation bestätigt. 15 bis 20 Mitglieder des Aktionskomitees - Kommunisten und Nicht-Kommunisten - wurden gewählt. So funktionierte die Demokratie von unten und von oben. Da ist Professor Haskovec - er hatte den Ruf eines „Vorkriegslinken" - auf ein Podium hinaufgekraxelt und sprach zu der Menge. Er war ein sehr schlechter Redner. Ich sehe das noch heute vor mir: Wie er da hinaufgekraxelt ist und vom Vorstand der I. Chirurgischen Klinik gestützt wurde. Und dann wurden die Namen ausgerufen und bestätigt. Das ist wahrscheinlich landesweit so gelaufen. Für die ganze Universität wurde ein Zentralaktionskomitee gegründet. An dem Gründungsmeeting habe ich teilgenommen. Dazu kann ich eine interessante Begebenheit erzählen: Die Vertreter der verschiedenen Komitees kamen zusammen, und es wurde berichtet, was alles so vorgeht. Und dann wurde mitgeteilt, dass der Rektor der Universität, der hieß Karel Englis, abgesetzt sei. Er war ein Fachmann für Finanzwesen, in der Zwischenkriegszeit mehrere Male Minister gewesen und auch Gouverneur der Nationalbank. Er war erst kurz vorher Rektor geworden. 1948 war ja ein Jubiläumsjahr für die Karls-Universität; sie wurde sechshundert Jahre alt. Die Wahl war eine Kampfwahl gewesen. Denn die Bürgerlichen hatten ihn als eine Demonstration gegen die Kommunisten durchgesetzt. Damals war es so, dass der Rektor nur für ein Jahr gewählt wurde. Es gab ein Rotations97

system; jedes Jahr stellte eine andere Fakultät einen Kandidaten und damit den Rektor. Meistens ging das ohne große Probleme vor sich. Aber in diesem Fall war das anders. Denn Englis wurde demonstrativ als ein Antikommunist für dieses Jubiläumsjahr als Rektor gewählt. Und jetzt kam die Nachricht: Er wurde abgesetzt. Ich weiß jetzt nicht, wer ihn abgesetzt hat. Ich kann mich nur erinnern, das Jiri Pelikan*, der die Sitzung leitete, uns informierte, dass Gottwald wütend gewesen sei, als er von der Absetzung von Englis als Rektor hörte. Gottwald hätte gesagt, dass dies das Letzte sei, was wir jetzt gebrauchen könnten. Jiri Pelikan hatte das Vertrauen der Studenten wegen seiner illegalen antifaschistischen Aktivitäten während des Krieges - er war von der Gestapo erfolglos gesucht worden - gewonnen. Nach 1968 spielte er eine bedeutende Rolle als Dissident im Ausland. G. D.: Wie haben Sie damals die Stimmung unter den Studierenden und den Hochschullehrern erlebt? MIKULÄS: Die Medizinische Fakultät war so wie die Juridische Fakultät in der Zwischenkriegszeit, also zwischen 1918 und 1939, rechts orientiert gewesen; die Studenten standen rechts und die Professoren auch. Die Lage im Jahre 1948 war nicht anders. Anders war es an der Philosophischen Fakultät, sie war schon zwischen den zwei Weltkriegen links gewesen. Das Aktionskomitee an der Medizinischen Fakultät bestand aus 15 bis 20 Assistenten, Dozenten, Professoren und auch Studenten. Im medizinischen Aktionskomitee war von den Professoren damals nur Haskovec Mitglied der Kommunistischen Partei. Der zweite Professor - übrigens Vorstand der II. Chirurgischen Klinik - war kein Kommunist. Unter den Dozenten und Assistenten waren einige Kommunisten. Also, ich war einer. Und, ich nehme an, unter den Studenten, die da mitgemacht haben, waren alle Kommunisten. Es waren auch Repräsentanten der Krankenschwestern und der Laborarbeiter im Komitee. Diese Aktionskomitees haben eine große Rolle in der Übergangzeit 1948 gespielt. Später sind sie verschwunden. Es ist interessant, dass 1989 bei der Wende wieder Aktionskomitees eine Rolle gespielt haben. Wie hießen die denn?

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Obianske vybory oder Bürgerkomitees, die sich ähnlich wie die Aktionskomitees etablierten und auch so agierten. ALICE:

MIKULÄS: Ja, die Bürgerkomitees sind ähnlich vorgegangen wie 1948 die kommunistischen Komitees. Mir wurde erzählt, dass 1989 im Historischen Institut der Akademie der Wissenschaft der Vorsitzende des Bürgerkomitees - übrigens der Bibliothekar - zum Direktor gegangen ist und ihn aufgefordert hat, seinen Tisch zu räumen. Es gab eine Diskussion, aber er bestand darauf: „Es tut mir Leid, ich bin der Vorsitzende vom Bürgerkomitee, du musst gehen!"

Wurden 1 9 4 8 Leute aus der Medizinischen Fakultät hinausgeworfen? ALICE:

gab zwei oder drei Fälle: Bei einem Pathologen war der Grund, dass er in der Ersten Republik ein Mitglied der faschistischen Partei gewesen war. Er wurde in Pension geschickt. Der Dekan ist geblieben, und auch die Pro-Dekane sind geblieben, obwohl sie keine Kommunisten waren. MIKULÄS: E S

ALICE:

riert?

Jetzt frage ich dich: Haben die Rechten demonst-

Dazu kann ich wenig sagen. Die antikommunistischen Studentenfunktionäre und führenden antikommunistischen Politiker sind aus dem Land geflohen. Auch einige Sozialdemokraten sind kurze Zeit später in den Westen gegangen. Das waren einige der führenden Persönlichkeiten, die mit der Fusionierung von Sozialdemokraten und Kommunisten nicht einverstanden waren. Nach dem Februar 1948 waren ja erste Schritte zu dieser Fusion unternommen worden, das war noch vor den nicht mehr freien Parlamentswahlen im Mai 1948. Aber im Februar hatte ein kleinerer Teil der sozialdemokratischen Spitze mit den Kommunisten zusammengearbeitet, zum Beispiel Jiri Häjek, den ich persönlich gekannt habe. Er war im Widerstand gegen die Deutschen gewesen und hatte zwölf Jahre Zuchthaus erhalten. Er hatte schon vor 1948 mit den Kommunisten kooperiert. Er war dann einer der wenigen Sozialdemokraten, die nach der Fusion als Mitarbeiter in das kommunistische

MIKULÄS:

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Parteisekretariat gekommen sind. Er hat später verschiedene hohe Partei- und Staatsfunktionen ausgeübt, unter anderem war er Außenminister zur Zeit des Prager Frühlings. Nach dessen Niederschlagung gehörte er zu den führenden Persönlichkeiten der Opposition. Überaus lesenswert sind seine Erinnerungen, die 1997 erschienen sind. 8 ALICE: Ich habe ja auch mit Menschen vom Schlage Hijeks gesprochen. Das waren manchmal Freunde von Mikuläs, aber manchmal auch nicht. Das waren Leute, die vor 1945 meistens in der résistance, also im Widerstand, gewesen waren. Und auch wenn sie vor 1945 keine Kommunisten gewesen waren, sind sie nach der Rückkehr aus dem Untergrund oder dem Konzentrationslager zur Kommunistischen Partei gegangen. Das war für mich vollkommen verständlich - dass sie nach all diesen schrecklichen Erfahrungen bei den Kommunisten die Möglichkeit gesehen haben, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Wir haben das ja auch so gesehen. G. D.: War dann nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 bei Ihnen der Eindruck: Es ist geschafft!? Oder kamen da schon die ersten ambivalenten Einschätzungen? MIKULÄS: Nein, schauen Sie, ich möchte das so formulieren: Ich habe ja etwas aus der Geschichte gewusst, aus dem Kampf zur Zeit der Oktoberrevolution, der wirklich ein Kampf um die Macht gewesen war. Ich habe damals natürlich angenommen, dass die Kommunistische Partei versucht, die Hebel der Macht in ihren Händen zu haben. Und ich habe angenommen, dass dieser Kampf durchgesetzt werden muss und dass es richtig ist, wenn die Kommunistische Partei ihre Hebel ausnützt. Wenn dann also die Kommunistische Partei Milizen organisiert hat und ich gehört habe, dass der verantwortliche Mann dafür ein Spanienkämpfer war, dann war das für mich eine Garantie, dass hier die Karawane der Demokratie sich weiterbewegt. Ich habe angenommen, dass es im Interesse der Demokratie ist, die Arbeiter in den Fabriken zu organisieren. Das habe ich 8 Hâjek, Jiïi: Pamëti. Praha 1997.

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alles angenommen. Später ist dann sehr viel Negatives geschehen, aber darüber sprechen wir noch. Sehr bald, 1 9 4 9 , 1 9 5 0 ... Da können wir dann eine andere Geschichte erzählen.

ALICE:

Und damit hat die Kommunistische Partei nie reinen Tisch gemacht: mit den Prozessen, die sie geführt hat bis jetzt! Aber was 1948 betrifft: Es wird heute von einem Putsch gesprochen. Das ist nicht richtig. Es war ein Kampf um Macht, den die Bürgerlichen verloren haben. Es war eine Machtübernahme. Was dann später geschehen ist, das steht auf einem anderen Blatt. MIKULÄS:

Und was 1948 begann, nämlich diese vierzig Jahre Sozialismus in der Tschechoslowakei, wird von den tschechischen und slowakischen Historikern wissenschaftlich nicht wirklich untersucht. „Glücklich ist, wer vergisst...", heißt es doch in der „Fledermaus" von Johann Strauß. Dabei hat das, auch was die Historiker während dieser vierzig Jahre geleistet haben, doch einiges für sich. ALICE:

Die älteren Historiker meiner Generation haben nicht erklärt, warum sie das gemacht haben, was sie gemacht haben. Weil es ihnen angeordnet wurde? Oder haben sie es deshalb gemacht, weil sie das Gefühl gehabt haben, dass sie das machen müssen - vorauseilender Gehorsam sozusagen. Warum sagen sie nicht zum Beispiel: „Gut, ich habe Geschichte studiert, ich wollte wissenschaftlich arbeiten, und wenn ich wissenschaftlich arbeiten wollte, erwartete man, dass ich die marxistische Position einnehme." Und nicht zuletzt könnten sie klären, wie sie zu ihren früheren Arbeiten stehen. MIKULÄS:

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Gesellschaftlicher Wandel und Aufbruch in der Tschechoslowakei in ein paar Facetten G. D.: Wie hat sich denn die tschechoslowakische nach dem Februar 1948 aus Ihrer Sicht gewandelt?

Gesellschaft

Ich habe später in meinen Forschungsarbeiten versucht, den Wandel aus einer wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Perspektive zu sehen. In meinem Buch über die tschechoslowakische Wirtschaftsgeschichte 9 habe ich ein Kapitel über die politische und ökonomische Ausschaltung des Bürgertums und den Übergang von der bourgeoisen zur egalitären Gesellschaft geschrieben. Es hat schon 1945 mit der Verstaatlichung der Großindustrie, der Banken und des Versicherungswesens angefangen. Die Eigentümer hatten zuvor großteils mit dem nationalsozialistischen Regime kollaboriert. Das führte dazu, dass die Nationalisierung durch Verstaatlichung auch mit der Unterstützung der bürgerlichen Regierungsparteien stattfand. Von 1948 an ist man mit der Sozialisierung der Wirtschaft Schritt für Schritt weitergegangen. Im Verlauf weniger Jahre hat sich eine mehr oder weniger egalitäre Gesellschaft gebildet - nicht ohne große Kosten, über die wir sicherlich noch sprechen werden. ALICE:

Um etwas hinzuzufügen: Wegen dieses grundsätzlichen Wandels der tschechoslowakischen Gesellschaft und Ausschaltung des Bürgertums waren ja die Konzeptionen nach der politischen Wende 1989 in der Tschechoslowakei so zurückblickend, man wollte nämlich an die bürgerliche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit anknüpfen. So arbeitet die Geschichte aber nicht. Vielleicht haben Präsident MIKULÄS:

9 Teichova, Alice: Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1 9 1 8 1980. Wien u.a. 1988.

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Havel und einige seiner Berater wirklich daran geglaubt; ich will ihnen das nicht absprechen. Aber darin sehe ich ein großes Manko der Historiker, die sich mit dem Platz der sozialistischen Ära in der Nationalgeschichte der Tschechen und Slowaken nicht beschäftigen. Soweit ich weiß, hat sich bislang kein tschechischer oder slowakischer Historiker diese Frage gestellt. ALICE: Nach diesem Umschwung von 1989 ist alles verurteilt worden, was sich in den vierzig Jahren vorher zugetragen hatte. Man sollte diese Zeit genauer untersuchen, unter anderem den Versuch, eine mehr oder weniger egalitäre Gesellschaft aufzubauen. Ich werde kurz ein Beispiel geben: Die Aufnahme von Studenten an den Universitäten. Es wurden nämlich Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien bevorzugt. Wie viele Kinder aus solchen Familien hatten vorher schon studieren können? In den Universitäten wurden Aufnahmeprüfungskommissionen ernannt; an der Karls-Universität in Prag war ich auch ein Mitglied einer solchen. Der Zugang zu den Universitäten war ja geplant gewesen. Das war je nach Fach sehr unterschiedlich. Gerade für die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer hat man Studenten gesucht. Dagegen war der Zugang zu so genannten Geisteswissenschaften, zum Beispiel zu Geschichte und Sprachen, begrenzt. Die Aufnahmeprüfungen waren natürlich zunächst fachlich orientiert. Dann wurde geschaut, welche Noten der Kandidat in seinem Maturazeugnis hat. Aber schließlich wurde auch überlegt, woher - aus welchem Milieu - kommt dieser Student. Im Falle einer gleichen fachlichen Qualifikation hat man die Kandidaten der Bauern- oder Arbeiterfamilien bevorzugt. Darüber hinaus wurden neue Möglichkeiten für einen zweiten Bildungsweg geschaffen. MIKULÄS: Eine der ersten Maßnahmen in der Hochschulpolitik nach dem Februar 1948 war genau diese Politik des zweiten Bildungswegs. Damit wollte man das Übergewicht der Bürgerlichen in den hochqualifizierten Berufen überwinden. Viele Leute, die meistens um die 20 bis 25 Jahre alt waren, in Fabriken arbeiteten, Bauernkinder waren und so 104

weiter, wurden gezielt angeworben, um über den zweiten Bildungsweg die Matura zu bestehen und eine akademische Qualifikation zu erreichen. Eine zweite Maßnahme dieser neuen Hochschulpolitik war, dass man die Studenten in kleine Gruppen von zehn bis zwanzig Personen einteilte. In diese Zirkel wurden auch Studenten, die über den zweiten Bildungsweg an die Universität kamen, integriert. Soweit ich mich erinnern kann, wurde das in den ersten Jahren sehr positiv gesehen: Die Studenten trafen sich und arbeiteten gemeinsam den Stoff durch. Man hoffte, dass gerade die Arbeiterstudenten einen großen Studieneifer haben. Und es wurde auch wirklich fest gearbeitet. ALICE: Ja, eine Reihe dieser Arbeiter- und Bauernstudenten waren ganz ausgezeichnet. An unserem Lehrstuhl für Geschichte sind auch einige Universitätsassistenten geworden. Mein bester Student - der inzwischen leider verstorbene Jaroslav Pätek - kam aus einer ganz armen Bauernfamilie; sie waren Kleinbauern, hatten nur zwei Hektar und eine Kuh. Die Mutter war Witwe, der Onkel (der Bruder seines Vaters) war von den deutschen Besatzern zu Tode gemartert worden. Pätek ist jedes Wochenende nach Hause gefahren und hat das Feld bestellt. Während seiner Hochschulaspirantur zur Erwerbung des höheren akademischen Grades des Kandidaten der Historischen Wissenschaften (C. Sc.) hat Mikuläs ihn betreut. Es überrascht nicht, dass das Thema seiner Dissertation ein agrarwirtschaftliches war. Der akademische Grad „C. Sc." entsprach dem amerikanischen oder englischen „Ph. D." G. D.: Gerade im Zuge der PISA-Studien, in denen vielßltige Aspekte schulischer Praxis international untersucht wurden, ist ja in den vergangenen Jahren unter anderem darüber diskutiert worden, dass seit den 1960er Jahren trotz zahlreicher Maßnahmen zur Chancengleichheit im Bildungssystem im deutschsprachigen Raum der Anteil von Personen aus einem ländlichen und städtisch-proletarischen Milieu in höheren Bildungsinstitutionen und hoch qualifizierten Berufen doch viel geringer ist als ursprünglich erhofft. Veränderte sich mit der neuen Politik in der Tschechoslowakei das akademische Milieu? 105

ALICE: Ich kann schon sagen, dass sich dieser Egalitarismus in den zwanzig Jahren, in denen ich die Prager Universität erlebt habe, durchgesetzt hat. MIKULÄS: Wir können ja wirklich nur bis 1968 sprechen. Ich denke schon, dass das Milieu weiterhin eine Rolle gespielt hat. Wenn Sie jetzt Leute hernehmen, die in einem Lehrermilieu aufgewachsen sind, und dann welche, die aus Arbeiterfamilien kamen, dann müsste man einmal untersuchen, ob aus den Lehrerfamilien nicht doch relativ mehr Leute an der Universität waren. Aber das Egalitätsprinzip hatte sich in der Tschechoslowakei trotzdem durchgesetzt - nämlich in dem Sinne, dass die gut verdienenden Arbeiterfamilien nicht mehr eine soziale Ungerechtigkeit empfanden. Der Unterschied zwischen dem Einkommen eines Universitätsprofessors und dem eines Facharbeiters in der Stahl- oder Maschinenbauindustrie war nicht mehr sehr groß. Vor allem die Bergarbeiter gehörten zu den bestbezahlten Arbeitern. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Mit den Geschichten ist es zwar so, dass sie nun einmal individuell sind, aber man kennt nur Geschichten. Das ist das Problem mit der Alltagsgeschichte. G. D.: Ja, aber in jeder individuellen Geschichte stecken auch Teile des Ganzen drin. MIKULÄS: Also gut: Alltagsgeschichte. Wir haben in Prag in einem gemieteten Haus gewohnt. Dieses Haus war Ende der 1920er Jahre gebaut worden. Als wir einzogen, war es schon sehr reparaturbedürftig. Auch die Stiegen waren zerfallen. Überflüssiges Geld haben wir nicht gehabt. So sind wir an einen Maurer geraten, der das freilich in Privatinitiative gemacht hat. ALICE: Das war Schwarzarbeit. Auf Pfusch hat er gearbeitet, wie man in Wien sagt. MIKULÄS: Die Schwarzarbeit war ein großes Problem; mit ihr ist das sozialistische System nicht fertig geworden. Die Ökonomen haben direkt ausgerechnet, welche Einnahmen da dem Staat verloren gehen. Aber zurück zu diesem Maurer: Ich bin mit ihm damals ins Gespräch gekommen und 106

habe ihn ausgefragt, und er hat offen und frei geantwortet. Er hat mir gesagt: „Ich habe einen Sohn, der maturieren wird. Und wir haben in der Familie ein Problem." Frage ich: „Welches Problem?" Sagt er: „Meine Frau will unbedingt, dass mein Sohn in die Armee geht und als Offizier anheuert. Sie ist für die Uniform." Frage ich: „Und Sie?" Sagt er: „Nichts für mich. Der Junge muss erst Maurer werden, und dann kann er, wenn er will, in die Kaserne." Für ihn war es wichtiger, dass der Junge ein Maurer wird: ein sicherer Erwerb. ALICE: Aber er hat die Matura gemacht. Anfang der 1960er Jahre wurde ja in der Tschechoslowakei ein Gesetz erlassen, dass jeder Abitur machen muss. Jeder! Die Schule wurde radikal umgestaltet - nämlich zur Gesamtschule; und anstatt nach zwölf Jahren wurde jetzt nach elf Jahren maturiert, also wenn die meisten Schülerinnen und Schüler 17 Jahre alt waren. Daraufhin gab es die Möglichkeiten: Lehre, Fachschule oder Universität. MIKULÄS: In diesem Zusammenhang muss ich noch eine Geschichte erzählen. Anfang November 1960 bin ich nach England gefahren, um meinen in Australien lebenden Bruder zu treffen. Wir hatten uns seit 1949 nicht mehr gesehen. Dabei habe ich die Gelegenheit ergriffen, in Cambridge den Biochemiker und Wissenschaftshistoriker Joseph Needham zu besuchen. Wir hatten ihn 1957 in Prag kennen gelernt, ich war mit seinen Schriften schon seit 1940 vertraut gewesen, und sie beeinflussten mich sehr. Was ich 1960 nicht ahnen konnte, war, welche ungeheuer große Rolle er noch in unserem Leben spielen sollte. Needham war der stellvertretende Vorstand des Gonville and Caius College, eines der ältesten Colleges in Cambridge, und ich war sein Gast. Als solcher war ich eine Rarität; ich kam wie hereingeschneit von hinter dem Eisernen Vorhang - behind the iron curtain. Der Vorstand des College war Professor für Physik in Cambridge. Später hat er den Nobelpreis bekommen, aber damals stand das noch in den Sternen. Und dieser Mann, das wusste ich nicht, war ein großer Vorkämpfer für ein progressives Schulwesen. Im Gespräch wies ich darauf hin, dass es in der Tschechoslowakei die Gesamtschule gibt und 107

jeder maturiert. Und das werde ich nie vergessen: Er hat mir zugehört, und dann hat er langsam zu mir gesagt: „Very, very interesUng, but who is going to sweep the streets?" - Wer wird die Straßen fegen? Aber dann wurde in der Tschechoslowakei das Schulwesen wieder umgekrempelt. Man beendete die einheitliche Grundschule mit 15 Jahren und setzte die Schulbildung in Fachschulen oder Gymnasien fort, wo man maturierte. Das Problem war, dass das Einheitsschulsystem eben zu einheitlich war und den verschiedenen Möglichkeiten und Fähigkeiten der Schüler nicht entsprach. Man musste immer nach den Langsamsten oder nach dem Durchschnitt gehen. Für die besten Schüler war das eine Bremse. Das sagten auch die Lehrer in ihren verschiedenen Gremien. Man überlegte noch ein Leistungsstufensystem, man entschied sich aber dagegen. Die Fachschulen mit Maturaabschluss hat man eingeführt, damit nicht zu viele in die geisteswissenschaftlichen Fächer gehen. An der Universität waren die Sprachstudien und die Geschichte ungeheuer populär. Der Andrang bei der Geschichte war so groß, dass man vielleicht nur ein Fünftel von denen nehmen konnte, die sich angemeldet hatten. ALICE:

MIKULÄS: Und die Naturwissenschaftler und Techniker beklagten sich wiederum, dass sie nicht genug Studenten hätten und dass die, die Naturwissenschaften oder Technik studierten, nicht gut wären. Das waren oft solche, die Sprachen lernen oder Geschichte studieren wollten - aber die Aufnahmeprüfung für diese Fächer nicht geschafft hatten. Was aber noch ein weiterer und anderer wichtiger Punkt in der Egalitätspolitik gewesen ist: Im Zuge der Industrialisierung wurden immer mehr Frauen in den Arbeitsprozess eingegliedert. Auch dazu erzähle ich wieder eine individuelle Geschichte: über eine - man könnte sagen - Nachbarin. Man hat sich in der Siedlung natürlich gekannt; bis zur Straßenbahn waren es zirka 15 Minuten, und auf dem Weg nach Hause hat man sich getroffen. Diese Frau war in einer Eisenbahnerfamilie, also ein Eisenbahner, drei Söhne und sie selbst. Diese Frau hatte noch relativ spät eine Tochter ge-

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boren, die dann leider gestorben ist. Sie war abgehärmt, vielleicht auch weil sie das Kind verloren hat; ich weiß nicht, ob sie damit überhaupt je fertig geworden ist. Und sie reihte sich dann in den Arbeitsprozess ein. Sie fand einen Job in einer Fabrik, wo sie Schichtdienst, auch Nachtdienst machte. Sie besorgte zusätzlich den Haushalt. Der Ehemann hat, glaube ich, geholfen, was er konnte, aber durch seinen Eisenbahnerjob mit unregelmäßigen Arbeitszeiten ist das meiste auf sie gefallen. ALICE: Bestimmt! Das war doch gang und gäbe bei den Frauen - und bei den Männern! MIKULÄS: Ich habe sie einmal gefragt, ob sie es anders haben möchte, ob sie zu Hause bleiben möchte. Da hat sie „nein" gesagt. Sie wollte nicht. Dass damit ein zweites Einkommen verbunden war, hat sicher auch eine Rolle gespielt. Aber ich glaube, wichtig war, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen offiziell unterstützt wurde. Dadurch veränderte sich das Bewusstsein. ALICE: Die Frauen wollten arbeiten gehen. Wenn man heute sagt, dass die Frauen im Sozialismus in die Arbeit getrieben wurden, dann ist das eine Verdrehung. Ich glaube, die Bezahlung war gleich. Durch die Gleichstellung gab es keinen Unterschied zwischen den Gehältern von Frauen und Männern. Das war Gesetz. Freilich haben dann die Frauen oft die weniger gut bezahlten Stellen gehabt. Nur wenige Frauen waren in führenden Positionen. MIKULÄS: Im Laufe der Jahre kamen aber mehr Frauen in führende Gremien. ALICE: Wenn ich an die Gewerkschaft denke: Frauen haben schon Gewerkschaftsfunktionen innegehabt. Ich selbst bin dann später ja auch Vorsitzende der Gewerkschaft an der Pädagogischen Fakultät geworden. Aber bei den Besprechungen, die etwa einmal in einem Vierteljahr einberufen wurden und bei denen sich die Gewerkschaftsfunktionäre trafen, waren die Männer in der Überzahl. Auch unter den Professoren oder Dozenten für Geschichte an der Universität waren nicht sehr viele Frauen. Die konnte man an den 109

Fingern einer Hand abzählen. Die Angestellten an der Fakultät dagegen waren meistens Frauen: im Büro, zum Beispiel in der Buchhaltung. Die Arbeitszeiten waren aber so, dass sie meistens zu spät nach Hause kamen, um dann noch die Kinder vom Kindergarten oder von der Schule abholen zu können. Ich habe dann als Gewerkschaftsvorsitzende durchgesetzt, dass sie bereits um sieben Uhr ins Büro kommen und um zwei Uhr am frühen Nachmittag wieder gehen können - auch wenn das für die Universitätslehrer schlecht war, weil sie nachmittags ohne Hilfe dagestanden sind. MiKULÄä: Im Zusammenhang mit meinem Besuch in Cambridge 1960 fällt mir noch eine ganz andere Geschichte ein, die meinen Besuch im darauf folgenden Jahr betrifft. Needham hat mich nämlich eingeladen, einen Vortrag über die Geschichte der Biochemie zu halten - im Rahmen eines von ihm veranstalteten Vorlesungszyklus zu diesem Thema. Aufgrund dieser Einladung erhielt ich in Prag ein britisches Aufenthaltsvisum, gültig für vier Wochen. Bei der Überfahrt von Calais nach Dover reduzierte der Immigrationsoffizier den Aufenthalt auf zwei Wochen. Auf meine Anfrage hin informierte er mich, dass er dazu befugt sei. Ich könnte ja in London um Verlängerung ansuchen. Für mich war das zutiefst umständlich, aber ich habe es getan. Nach vier Wochen und vor der Einschiffung in Dover lege ich meinen Pass vor, und der Immigrationsoffizier - es muss derselbe gewesen sein - spricht mich an: „You luere with Dr. Needham in Cambridge?" - „Sie waren Gast bei Dr. Needham?" Daraufhin ich total überrascht: „You have a good memory." - „Sie haben ein gutes Gedächtnis." Er: „It is all in the job." - „Es gehört zu meinem Job." Ein Stoff zum Nachdenken: Ich musste beschattet worden sein.

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Prag in den 1950er Jahren Leben und Arbeiten in der Willkür G. D.: Sie haben einerseits bereits über Ihre eigenen Hoffnungen und Ideale erzählt, auch über die neuen Möglichkeiten, die sich infolge des politischen Wandels eröffneten. Andererseits haben Sie die Barrieren und Repressionen des neuen Systems angedeutet. Wie ist es Ihnen in diesem Spannungsfeld ergangen? ALICE: Wir sind in dieser Hinsicht nicht typisch. Wir haben ja beide nicht unser ganzes Leben in diesem Land gelebt. Ich bin erst durch die Heirat mit Mikuläs tschechoslowakische Staatsbürgerin geworden. Ich selber war nicht vorbereitet auf die tschechoslowakische Gesellschaft. Eigentlich bin ich erst richtig 1949 mit den Kindern aus England gekommen, weil wir vorher in Prag noch keine Wohnung gehabt hatten. Für mich war das zunächst alles sehr fremd. Aber ich wollte mich integrieren. So habe ich auch sehr schnell Tschechisch erlernt. Ein Grund dafür war, dass ich ja in dieser Gesellschaft mitarbeiten wollte - und dafür musste man die Sprache können. Ich finde, wenn man in einem neuen Land leben will, sollte man die Landessprache meistern. Da ich fertig studiert hatte, wollte ich ins akademische Leben kommen. Das war mein großes Ziel, dass ich irgendwo an einer Universität weiterarbeiten kann. Das ist dann auch dadurch gelungen, dass ich 1950 am Lehrstuhl für Geschichte an der Pädagogischen Fakultät der Karls-Universität eine Assistentenstelle bekommen habe. Ich hatte ungeheures Glück, mit einer Gruppe von Historikern zu arbeiten, die bewundernswerte Einstellungen hatten. Meine Kollegen waren wie ich in der Kommunistischen Partei, und sie waren tolerant und demokratisch gesinnt. Der Chef, Jaroslav Charvät, war damals etwa vierzig Jahre alt. Die Assistenten waren Ende zwanzig. Ich war immer ein bisschen älter als meine Assistentenkollegen. Aber ich habe mich nicht so ge111

fühlt, ich habe immer geglaubt, die anderen sind älter als ich. Es war eine große Aufbruchstimmung. Von 1939 bis 1945 waren ja alle tschechischen Universitäten gesperrt gewesen. Nach 1945 gab es einen großen Nachholbedarf. Auch die Lehrerschaft musste erneuert werden; denn viele Lehrer, die nach 1945 eingesetzt wurden, hatten keine Qualifikation. Da waren dann besonders die Pädagogische Fakultät und die verschiedenen pädagogischen Anstalten gefordert. In diesem Zusammenhang wurde auch das Fernstudium, wo ich später sehr aktiv wurde, wichtig. Aber zuerst einmal konnte ich eben kein Tschechisch. Ich möchte zeigen, wie man mir entgegenkam. Es ist schon nicht alltäglich, dass man eine Person wie mich, die nicht viel Tschechisch konnte, einstellte, dass man mir ermöglichte zu arbeiten. Ich habe zwar schon etwas Tschechisch gekonnt, aber mehr das für den Alltag und nicht das akademische Tschechisch. Man hat mich in die Institutsbibliothek gesetzt, damit ich katalogisiere. Ich habe dort die Bücher gelesen, sie eingetragen, habe mich mit der Literatur beschäftigt, was mir ungeheuer geholfen hat. Zur gleichen Zeit konnte ich Seminare für Anglisten machen, die Geschichte studierten. Ich war zwar tschechoslowakische Staatsbürgerin, aber doch eine Ausländerin. Es hat sehr wenige davon an den Universitäten gegeben; insofern gehörte ich zu den Ausnahmen. Die Atmosphäre in meinem Kollegenkreis hat mir wirklich sehr entsprochen. Ich hatte politisch zunächst keine Schwierigkeiten. Die großen Schwierigkeiten, die wir gehabt haben, hatte Mikuläs. Aber das wird er dann selbst erzählen, und das ist sehr wichtig. Meine Erfahrungen waren andere. Oft war es ja so, dass die Männer, die während des Krieges in der Emigration gewesen waren, Frauen aus dem Ausland mitgebracht hatten. Das waren solche, die, so wie Mikuläs, 1945 oder 1946 zurückgekommen sind. Und wenn sie dann später Schwierigkeiten hatten oder sogar eingesperrt wurden, waren gewöhnlich auch ihre Frauen stark betroffen. Aber das hatte oft damit zu tun, in welchem Milieu und mit welchen Menschen man zusammengearbeitet 112

hat. In der Stimmung des Kalten Krieges am Anfang der 1950er Jahre gab es eine von oben gesteuerte Atmosphäre der Verdächtigungen und des Misstrauens und einen getarnten Antisemitismus, der behauptete, er richte sich nicht gegen Juden, sondern gegen den „bourgeois-nationalistischen Zionismus". Meine Kollegen haben immer eine schützende Hand über mich gehalten. Aber es hat eine zweite Frau, eine Assistentin, gegeben, die sich nicht als eine Freundin herausgestellt hat. Ich hatte 1952 begonnen, Vorlesungen zu machen - und sie wollte das nicht. Sie meinte, es gehöre nicht zu den Pflichten einer Assistentin, Vorlesungen zu halten. Ich hatte aber die Chance ergriffen. Der Leiter unseres Lehrstuhls war erkrankt gewesen; jemand musste für ihn einspringen, und so habe ich zugesagt, obwohl mein Tschechisch noch sehr holprig war. Ich musste mir jedes Wort aufschreiben. Eine Freundin, die schon Pensionistin war, hat mir das immer korrigiert; jede Woche bin ich zu ihr gegangen, und wir haben das Manuskript durchgeschaut. So konnte ich die Vorlesung vorbereiten. 1950, bei meinem Dienstantritt, musste ich Formulare ausfüllen. Das waren Formulare, die für mich vollkommen neu und unverständlich waren, die aber für einen tschechoslowakischen Bürger gang und gäbe waren. Man musste einerseits die Staatsbürgerschaft angeben und andererseits die Nationalität. In Großbritannien decken sich die Begriffe nationality und citizenship. Dort war überhaupt kein Unterscheid gemacht geworden. MIKULAS:

Aber in der Tschechoslowakei war immer die Unterscheidung zwischen Staatsbürgerschaft und Nationalität. Das war jetzt ein Problem. Mein Mann ist Slowake - Slowakin bin ich aber nicht. Ich lebe in Böhmen - tschechischer Nationalität bin ich auch nicht. In England hatte ich gelebt, aber Engländerin bin ich auch wieder nicht. Ich bin Österreicherin. So habe ich das mit dieser Kollegin besprochen. Also habe ich ausgefüllt: „österreichische Nationalität". Zwei Jahre später, ich nehme an aus Eifersucht, Neid oder Konkurrenz, hat sie sich entschlossen, gegen mich vorALICE:

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zugehen: Sie hat mich bei der Personalabteilung angezeigt. Ich sei ein Element, das sich über die eigene Nationalität nicht im Klaren sei - ein Element, das unglaubwürdig sei. Daraufhin wurde ein Verfahren eingeleitet, und ich musste erklären, wieso ich Österreicherin bin, weil der Begriff österreichische Nationalität ganz fremd war. Es gab nur Deutsche. Da habe ich gesagt: „Eine Deutsche bin ich nicht; die deutsche Nationalität habe ich in meinem ganzen Leben nie gehabt, also das kommt nicht in Frage!" Ich hatte ja selbst in England noch einen österreichischen Pass gehabt, war zuerst ein enemy alien gewesen und bin dann zu einem friendly alien geworden. In der tschechischen Historiografie wurden bis nach dem Ersten Weltkrieg die deutschsprachigen Österreicher als „österreichische Deutsche" bezeichnet (rakouSti Nümci), im Unterschied zu den „Reichsdeutschen" (fiSti Nimci) und „Deutschböhmen" (ieSti Nimci). Der Begriff „Sudetendeutsche" hat sich erst nach 1918 eingebürgt. MIKULÄS:

Ich habe mich als Österreicherin gefühlt. Ich war nie eine Deutsche. Österreich existierte als Republik, in die ich hinein geboren wurde, dort bin ich in die Schule gegangen und so weiter. Diesen Sachverhalt habe ich klarzumachen versucht. Aber man hat mir wiederum fortwährend erklären wollen, dass ich mich darin irre. Dann sind wir aber draufgekommen, dass ein österreichischer Kommunist schon in den 1930er Jahren einen Artikel über die österreichische Nation geschrieben hatte.10 Ich bin dann mit diesem Artikel aufgefahren - und damit war die Sache erledigt. Aber es war eine harte Zeit, weil Mikuläs unter großem Druck und unter Verhören gestanden ist. Und diese Kollegin hat gefühlt, dass das eine Möglichkeit sein könnte, mich aus dem Job zu verdrängen. Aber ich habe meinen Job behalten. Mikuläs konnte seinen Job nicht behalten; er hat sich in einen anderen Job retten können. Unter den Historikern hat es übrigens viele gegeben, die dem Slänsky- Schauprozess* kritisch gegenüber standen. Ich ALICE:

10 Klahr, Alfred: Zur nationalen Frage in Österreich. In: Weg und Ziel, 1937, Heft 3 + 4.

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gebe ein Beispiel von meinen Erfahrungen aus dem Lehrstuhl für Geschichte: Am Tage der Veröffentlichung der Anklage im Zentralorgan der Kommunistischen Partei Rüde Prävo - das war im späten November 1952 - treffe ich den Kollegen Jiri Hanl, und er sagt: „Heute habe ich die Zeitung aufgemacht, und ich habe geglaubt, ich befinde mich im Dritten Reich." Von den 14 Angeklagten wurden nämlich elf als „jüdischen Ursprungs" bezeichnet. Ich habe also großes Glück gehabt, mit solchen Menschen zusammenzuarbeiten. Und obwohl diese Zeit eine der schwersten Perioden gewesen ist, die Mikuläs und ich durchstehen mussten, hatte ich, was meine Lehr- und Forschungstätigkeit betrifft, vollkommene Freiheit. Ich konnte mir meine Themen selbst auswählen. Niemand hat mir anbefohlen, dass ich dieses oder jenes machen müsse. Das Einzige, was man mit mir besprochen hat, sind die Vorlesungen gewesen. Ich habe damit begonnen, als mein Professor erkrankt war, eine Vorlesung über das europäische Mittelalter zu machen, was mich immer sehr begeistert hat. Ich habe auch englische Dokumente über das Mittelalter ins Tschechische übersetzt, damit die Studenten ein Skriptum haben - das war meine erste Schrift, die ich in Tschechisch publiziert habe. Dann haben wir besprochen, dass ich etwas über die Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts machen soll; denn das war immer ein großes Manko in der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung gewesen - ich war ja eine graduierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Auf diese Weise bin ich dann immer mehr auf Themen gekommen, die ich mir selbst ausgewählt habe: zum Beispiel die Frage, welche Auslandsinvestitionen es in der Tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit gegeben hatte, wie die Handels- und Kapitalbeziehungen gewesen waren. Dazu arbeitete damals kaum jemand. 1952 machte ich auch meinen Doktor, und später, 1964, konnte ich mich habilitieren. Schließlich hatte ich wunderbare Studenten. Mit denen habe ich begonnen, wissenschaftliche Zirkel zur Wirtschaftsgeschichte zu organisieren. Das Rektorat wünschte sich damals von den Dozenten und Assistenten, dass sie wissenschaftlich mit den Studenten arbeiten. Aber an unserem Lehrstuhl hat sich niemand darum gekümmert. Ich 115

habe mir aber gedacht: „Ja, warum denn nicht!" So ist es zu diesen Zirkeln gekommen; es waren, so glaube ich, insgesamt drei. Später war ich beauftragt, das Fernstudium für Geschichtslehrer landesweit zu organisieren. Mit meinem früheren besten Studenten, Jaroslav Pätek, der dann mein Assistent wurde, organisierten wir Seminare und erstellten Skripten für das Lehrerfernstudium. Und von den hoch gebildeten Menschen, mit denen ich zusammenarbeitete, lernte ich viel über das traditionsreiche Demokratieverständnis in der Tschechoslowakei. Ich bin froh, dass ich das trotz aller Schwierigkeiten erleben konnte. Aber die Schwierigkeiten, die Mikuläs hatte, kann und möchte ich nicht wegwischen. 1952 haben sie begonnen, erst 1963 haben sie sich dann gelegt. An unseren rosaroten Vorstellungen mussten wir gründliche Abstriche machen. Als ich nach Prag gekommen war, hatte ich ja noch die Vorstellung gehabt, dass jeder Tscheche ein Sozialist sei. Mein Gott, was habe ich mich da geirrt! G. D.: Mikuläg, jetzt hat Alice sie schon mehrfach angedeutet nämlich Ihre politischen Schwierigkeiten in der Tschechoslowakei seit Anfang der 1950er Jahre. Was ist da geschehen? MIKULÄS: Ich war ja in der Sozialistischen Akademie tätig. Zwischen 1949 und 1952 habe ich sogar als „ausübender Generalsekretär" dieser Organisation gewirkt. Sie versuchte wissenschaftliche Erkenntnisse zu popularisieren. Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Slogan „Die Sowjetunion ist unser Vorbild" ist auf der obersten Ebene beschlossen worden, die Sozialistische Akademie in eine „Gesellschaft für die Verbreitung von wissenschaftlichen und politischen Kenntnissen", wie sie in der Sowjetunion existierte, umzuorganisieren. Ich wurde beauftragt, das durchzuführen. Ende Juni 1952, ein halbes Jahr vor dem SlänskySchauprozess, sollte dahingehend eine Gründungsversammlung stattfinden. Dass ein Schauprozess vorbereitet wurde, wussten wir damals noch nicht. Wir wussten nur, dass es 1950 und 1951 die ersten Verhaftungen auf der obersten Ebene gegeben hatte. Das war irgendwie schon durchgesickert, aber ansonsten wirklich nicht viel. Die Öffentlichkeit, einschließlich 116

der Parteimitglieder, wurde nur spärlich informiert, wobei die Verhafteten - namentlich oder namenlos - im Vorhinein verurteilt worden sind. Was ich damals überhaupt nicht wusste, ist, dass auch gegen mich ermittelt wurde, dass ein Parteiprozess an der Medizinischen Fakultät, wo ich Assistent war, gegen mich in Vorbereitung war. Die Gründungsversammlung der „Gesellschaft mit dem langen Namen", so wurde sie volkstümlich bezeichnet, fand am 21. und 22. Juni 1952 statt. Gegen mich ist man drei oder vier Tage später vorgegangen, indem ich zur Sitzung der Parteileitung an der Medizinischen Fakultät eingeladen wurde. Der Grundvorwurf war, dass ich ein destruktives Element sei. Man mochte mich nicht, weil ich die Parteileitung öfters wegen autoritärer Manieren kritisierte. Solange ich für die Sozialistische Akademie und besonders für die Vorbereitung der Gründungsversammlung verantwortlich war, ließ man mich in Ruhe. Da man aber in der neuen Organisation nicht mehr mit mir rechnete, wurde ich dann zum Freiwild. Als ich mich vehement wehrte und uneinsichtig zeigte, beschloss man, mich bei der nächsten Parteisitzung aus der Partei auszuschließen. Zum Parteiausschluss ist es aber in den Sommerferien nicht mehr gekommen. Bei einem Spaziergang stolperte ich und renkte mir den Fuß aus. Danach schwoll der Fuß so an, dass ich nicht mehr gehen konnte. Vor der Sitzung informierte ich die Parteileitung, dass ich krank bin. Das hat man mir nicht geglaubt. So sind zwei Mitglieder der Parteileitung zu uns ins Haus gekommen, um den Krankheitszustand nachzukontrollieren. Ich bin wirklich im Bett gelegen. Und als sie ins Schlafzimmer gegangen sind, war die Mutter von Alice, die bei uns in Prag war, sehr aufgebracht. Sie hat sie quasi rausgeschmissen. ALICE: Ja, sie war sehr aufgebracht, und sie hat ihnen einige Worte auf Tschechisch gesagt. Sie hat ja noch von Wien her etwas Tschechisch können: Sie hatten als Kind eine tschechische Amme, tschechische Köchinnen und tschechische Dienstmädchen gehabt.

Die Parteisitzung und der Ausschluss fanden dann im Herbst statt. Der Vorwurf, ein destruktives EleMIKULÄS:

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ment zu sein, wurde mit dem Hinweis verschärft, dass ich mich jahrelang im Ausland befunden hätte. „Westler", einschließlich Spanienkämpfer, standen im Visier. Nach 1945 hatten auch frühere Parteimitglieder neu um die Mitgliedschaft ansuchen müssen. Dazu brauchte man zwei vertrauenswürdige Unterschriften. Mein Formular trug die Unterschriften von zwei hohen Parteifunktionären, die während des Kriegs in England gewesen waren. Das Malheur war nun, dass sie sich inzwischen in Haft befanden. Die Parteiversammlung wurde davon mit dem Hinweis informiert, dass es sich um zwei Staatsverbrecher handle. Und solche Menschen bürgten für den Teich, der ja auch im Ausland gewesen war! Im Raum stand, dass ich mich von Anfang an in die Partei eingeschlichen hätte, um sie zu unterwandern. Damit wäre mein destruktives Verhalten erklärbar. ALICE: Sehr gefährlich! MIKULAS: Ich wehrte mich freilich und hatte auch Fürsprecher: wissenschaftliche sowie einfache Parteimitglieder, wie die Institutsputzfrau und der Institutslaborant. Vergebens. Nichts nützten auch die Aussagen von drei prominenten Historikern und drei Mitarbeitern der Sozialistischen Akademie, die als Außenstehende bereit waren, in der Versammlung für mich einzustehen. In einer pogromartigen Atmosphäre wurde mein Ausschluss aus der Partei mit einigen Gegenstimmen beschlossen. Ich habe nach und nach bei jeder Parteiinstanz berufen: Bezirks-, Kreis- und Zentralkomitee. Dadurch, dass ich immer wieder berufen habe, war der Fall in Prag bekannt, zumindest unter den Historikern, den Philosophen und anderen Intellektuellen, die mit mir im Kontakt standen. Da ich nicht losließ, ist letztlich ein Spruch ergangen, dass Teich ein „korrespondierendes Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei" geworden ist. Elf Jahre hatte ich gekämpft. Jetzt fragen Sie sich vielleicht, ob das gang und gäbe war. Wahrscheinlich nicht. Man hat sich schon gewehrt, aber man hat den Kampf nach und nach für sinnlos gehalten und aufgegeben. Bei mir, glaube ich, hat aber etwas eine Rolle gespielt, was meiner Ansicht nach nicht unwichtig für das Funktionieren eines 118

one-party system ist: das Element der persönlichen Willkür! Das kann sich positiv und negativ auswirken. Bei mir waren beide Seiten vorhanden. Über negative war schon die Rede. Das Parteiverfahren stellte für mich eine große Gefahr dar Alice hat das ja angedeutet: nämlich die Gefahr, eingesperrt zu werden. Merkwürdigerweise kam uns dies damals nicht so in den Sinn. Erst später ist uns beiden bewusst geworden, welches Glück wir im Unglück hatten. Der im diplomatischen Dienst stehende Eduard Goldstücker, der 1953 auf Lebenszeit verurteilt worden war und dann im Prager Frühling eine bedeutende Rolle spielen sollte, wurde in Verhören über mich befragt. Eine ähnliche Erfahrung hatte der 1954 verurteilte Pilsener Kreissekretär Hanus Lomsky gemacht, den ich viel länger als Goldstücker kannte - nämlich seitdem wir beide Medizinstudenten in Prag waren. Er war einer der zwei Parteifunktionäre, die das im Parteiverfahren erwähnte Formular unterschrieben hatten. Jedenfalls waren Goldstücker sowie Lomsky nach ihrer Freilassung erstaunt, dass ich auf freiem Fuß geblieben war. Ich kann nur mutmaßen und nicht beweisen, dass Bruno Köhler, ein Sekretär des Zentralkomitees, die schützende Hand über mich gehalten hat. Er hatte großen Einfluss: Wir wissen, dass der Ostrauer Kreissekretär Vitezslav Fuchs ohne etwas zu ahnen - nach einer durchaus freundlichen Besprechung mit Köhler im Parteisekretariat verhaftet wurde. G. D.: Warum, glauben Sie, hat Köhler die schützende Hand über Sie gehalten? MIKULÄS: Das sind so persönliche Dinge, die manchmal im Leben eine ganz große Rolle spielen. Köhler, ein prominenter sudetendeutscher Kommunist, war bis 1945 in der Sowjetunion gewesen. Dann ist er nicht nach Deutschland gegangen und auch nicht nach Österreich. Er ist nach Prag gekommen. Damals galt, dass sudetendeutsche Parteifunktionäre - und solche gab es - eher im Hintergrund wirken sollten, auch wenn sie die tschechische Sprache beherrschten. Köhler bekam dann den Auftrag, die Geschichte der Partei zu erforschen und zu schreiben. Er hatte ein Zimmer und zwei Mitarbeiter: eine Sekretärin, die Auschwitz überlebt hatte, und einen jungen enthusiastischen Historiker. 119

Diese Gruppe für die Geschichte der Partei war Teil der Abteilung für Propaganda im Zentralkomitee der Partei. So habe ich Bruno Köhler kennen gelernt. Ich war damals noch Vorsitzender der naturwissenschaftlichen Sektion der Sozialistischen Akademie. In den Februartagen 1948 ist Bruno Köhler zum Abteilungsleiter für Propaganda avanciert. Da habe ich dann noch mehr mit ihm zu tun gehabt. Und er hat an mir Gefallen gefunden. Abgesehen davon, dass seine Sekretärin einer engen Freundin von uns, einer wissenschaftlich arbeitenden Ärztin, nahe stand: Beide waren sie in Auschwitz gewesen und hatten es überlebt. Auch die Sekretärin war mir zugeneigt. Und während ich mich dann gegen meinen Parteiausschluss gewehrt habe, bin ich sehr oft mit ihr in Verbindung gewesen. Sie hat Köhler auf meine Berufungen und anderes aufmerksam gemacht. Und außerdem hat Alice in dieser Zeit und ohne mein Wissen der höchsten Berufungsinstanz beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei einen Besuch abgestattet. Ja, aber ich muss noch einige Sachen dazu sagen, die mit deinem Verfahren zu tun gehabt haben und bei denen auch die Solidarität meiner Kollegen deutlich wird. 1954, glaube ich, war es: Du warst schon aus der Partei ausgeschlossen, und es fand eine Versammlung in der Aula der Universität statt. Der Personalbeauftragte der Universität hielt dort eine Rede, und ich bin dort schön brav in einer Reihe mit meinen Kollegen gesessen. Auf einmal höre ich eine donnernde Stimme: „Wir haben unter uns eine Genossin, die die Frau eines Verräters ist!" Und dann hat er noch deinen Namen genannt: „Mikuläs Teich!" Er hat gedonnert, welche schrecklichen Sachen auf der Universität vorkommen - und dass auch dort Verräter sind! Ich wollte aufspringen, aber die Kollegen hielten mich zurück. Sie haben gesagt: „Ruhig, da bleibst du jetzt sitzen, ignorieren, ignorieren!" Und dann sind sie mit mir hinausgegangen, nur damit ich - Gott behüte - nicht aufstehe und irgendetwas sage. Wir sind herausspaziert, aber nichts ist geschehen. Nichts! ALICE:

Schließlich habe ich gedacht: „Das geht mir jetzt alles zu weit, und ich muss schauen, was da los ist. Ich spreche bei 120

der Kontrollkommission der Partei vor und werde dort protestieren" - ganz naiv, aber anyway. Und wie ich so ins Parteihaus hineingehe, kommt mir der uns bekannte Hochschulreferent im Ministerium für Schulwesen und Kultur entgegen: „Was, du bist noch immer da?" Sage ich: „Ja natürlich!" Sagt er: „Du bist noch immer an der Universität?" Ich: „Ja, natürlich bin ich an der Universität." Sagt er: „Okay, auf Wiedersehen." Da habe ich gedacht: „Um Gottes willen, was geschieht jetzt?" Nichts ist geschehen, aber er war verwundert, dass ich noch immer an der Universität bin. Dann bin ich zur Kontrollkommission der Partei hinaufgegangen, wo ich bei einem alten Parteifunktionär vorgelassen wurde. Er hieß Jonas, und ich sagte zu ihm: „Ich komme her, um nachzufragen, was eigentlich los ist. Mein Mann hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Er ist aus der Partei ausgeschlossen worden, hat sich gewehrt. Also, wie steht es denn in seiner Sache?" Und da zeigte er mir einen dicken Stoß Papier: „Das betrifft deinen Mann. Er war in Gefahr, aber dank einiger erfahrener Genossen ist es vorbei. Du sollst dir nicht zu viel Sorgen machen. Ich hoffe, wenn wir uns das nächste Mal sehen, wird er sein Parteibuch wieder in der Hand haben." Er hat mir dann die Hand gedrückt und mich herausgebracht. Aber ich habe damals Mikuläs nichts davon gesagt, weil er wohl gesagt hätte, dass ich nicht dort hingehen soll. Aber es wurde mir schon alles zu bunt. MIKULÄS: 1963 hat das dann alles geendet. Mir wurde die Parteizugehörigkeit wieder zugesprochen. Das Verfahren gegen mich begann ja 1952 an der Medizinischen Fakultät und mir war klar, dass ich sie verlassen muss. Ich stand damals in Verbindung zum Minister für Schulwesen. Er war es auch, der unterschrieb, dass ich vom Chemischen Institut der Medizinischen Fakultät an das Institut für Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaftlichen Fakultät wechseln kann. Das Problem war nur: Ich habe zwar den Arbeitsplatz gewechselt, aber mein Parteiproblem hat mich weiter verfolgt. Der von Alice erwähnte Abteilungsleiter des Universitätsrektorats wollte mich ganz aus der Universität hinaus haben. Er hat auch Schritte unternommen, dass ich dort mei121

ne Stelle verliere. Da kam nun unerwartet der Leiter der Personalabteilung der Naturwissenschaftlichen Fakultät, den ich kaum kannte. Er sagte zu mir: „Mir gefällt die Sache nicht. Ich glaube, du sollst dich wehren." Darauf ich: „Aber wie kann ich mich wehren?" Sagt er: „Ich rate dir, das Zentralbüro der Gewerkschaftsorganisation der Hochschularbeiter aufzusuchen." Ich habe geglaubt, ich höre nicht richtig, denn von der Existenz dieses Büros hatte ich keine Ahnung. „Es befindet sich in der Hotel-Jalta-Passage, gehe dort in den dritten oder vierten Stock . . . " Ich gehe also dorthin und komme in den dritten oder vierten Stock zur Gewerkschaftsorganisation. Im Büro saßen zwei Funktionäre an zwei Tischen. Und einer fragt: „Sagen Sie nun, Genosse, was können wir für Sie tun?" Ich: „Also, ich habe Schwierigkeiten, und zwar sind die Schwierigkeiten folgende ..." Es gab nämlich die Chance, dass ich am 1. Oktober 1954 eine Stelle im Historischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften bekommen konnte. Es gab eine Ausschreibung, und ich wusste, dass ich gute Chancen hatte. Es war jetzt Mitte oder Ende Juni, es handelte sich noch um drei Monate, und ich wusste, die Personalbzw. Kaderabteilung am Universitätsrektorat wollte mich aus der Universität heraushaben - und zwar vor Semesterende. Inzwischen gab es noch ein anderes Problem: Meine Schwiegermutter, die bei uns in Prag war, war unheilbar krebskrank. Damit waren auch finanzielle Probleme verbunden. Als sie dann später starb, mussten wir das Begräbnis bezahlen. Wir hätten aber zunächst überhaupt kein Geld gehabt. Wir hätten bei der Sparkasse einen Kredit aufnehmen können, aber dazu hätten beide angestellt sein müssen. Das habe ich alles diesen Genossen erklärt. „Es handelt sich um drei Monate und so weiter..." Jetzt ist Folgendes geschehen: Dieser Funktionär hat das Telefon genommen und hat den Leiter der Kaderabteilung - er hieß Bures - angerufen. „Genosse Bures, hier ist der Genosse Teich, der sagt uns das und das und das." Bures hat dann in seiner Antwort wohl darauf bestanden, dass ich die Universität am 30. Juni verlasse. „Aber Genosse Bures, es handelt sich doch nur um drei Monate." Darauf Bures: „Nein, nein, nein!" Da hat der 122

Funktionär den Ton geändert, und ich habe gehört: „Genosse Bures, wenn ihr weiter so vorgeht, bringen wir euch vor Gericht. Und ich garantiere dir, du wirst den Prozess verlieren!" Man hätte mir auch sagen können, es ist nichts zu machen. Aber so habe ich noch drei Monate bekommen, konnte diese Zeit noch an der Universität bleiben, was sehr wichtig war, denn inzwischen starb meine Schwiegermutter. Und dann habe ich die Stelle beim Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften bekommen, wo man mit einer zukünftigen Abteilung für Wissenschafts- und Technikgeschichte rechnete. Damit ist mein Hobby endgültig zur Profession geworden - so bin ich Wissenschaftshistoriker geworden. Und seitdem habe ich mit dem Universitätsbetrieb in der Tschechoslowakei nicht mehr viel zu tun gehabt. In all diesen politischen Schwierigkeiten und mit unserem Beruf mussten wir natürlich auch unsere beiden Kinder betreuen. Sie wurden aber nicht vernachlässigt, das möchte ich noch dazusagen. Dabei hatten wir aber das Glück, dass wir nicht von acht Uhr in der Früh bis um sechs Uhr am Abend im Büro sein mussten. Wir mussten schon dort sein, aber wir konnten später kommen, oder wir konnten auch schon einmal einen Tag nicht kommen. Beide konnten wir zu Hause schreiben. Natürlich musste ich meinen Lehrverpflichtungen nachgehen und auch an den verschiedensten Sitzungen teilnehmen. Aber alles haben wir geschafft, und wir haben uns das so eingeteilt, dass die Kinder nicht zu kurz gekommen sind. Unterstützung haben wir auch gehabt. Meine Mutter war 1950 von England zu uns nach Prag gekommen und hat uns geholfen. Auch eine Hausgehilfin haben wir gehabt: Frau Filipyovä. Von Montag bis Freitag ist sie immer pünktlich um halb acht Uhr in der Früh gekommen, und sie ist pünktlich um zwei Uhr nach Mittag gegangen. Da war sie immer sehr genau. Wir und auch unsere Kinder haben sie sehr geliebt. Und sie war keine Tratschen. Wir haben ja in einem Viertel mit Einfamilienhäusern gewohnt. Die Leute, die um uns herum gewohnt haben, sind natürlich sehr neugierig gewesen, wer denn diese Teichs sind: Die hatten ja hier vorher ALICE:

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nicht gewohnt, waren während des Kriegs im Ausland, und Juden sind sie auch. Das hat sich wohl so herumgesprochen. Und die Leute wollten immer von Frau Filipyovä wissen, wer wir denn eigentlich sind und was so alles in unserem Haus vorgeht. Aber sie hat immer gesagt: „Das geht niemanden etwas an!" Sie hat nicht getratscht, und sie hat uns wirklich gut betreut. Nicht zuletzt war meine Mutter auch da. Leider ist meine Mutter dann sehr schwer erkrankt, sie hatte schon in England Krebs gehabt. Die Tatsache, dass Mikuläs Leute an der Medizinischen Fakultät kannte, half, dass sie in Prag gut betreut werden konnte. Hie und da war sie in einem Sanatorium, aber die meiste Zeit war sie bei uns zu Hause. Zu Weihnachten 1952 hat sie sich niedergelegt und ist praktisch nicht mehr aufgestanden. Zwei Jahre lang hat sie gelitten. G. D.: Sie haben jetzt beide über einige neue positive Entwicklungen in der Tschechoslowakei in den 1950er fahren erzählt, vor allem aber auch über die Repressionen. Wie haben Sie das damals reflektiert - gerade angesichts der Hoffnungen, mit denen Sie nach Prag gekommen waren? MIKULÄS: Ja, man sollte wirklich auch über die Grenzen sprechen. Darüber muss gesprochen werden, wenn man über Sozialismus nachdenkt, der eigentlich ein gerechteres gesellschaftliches System sein möchte, das aber in einer Situation des Kalten Krieges aufgebaut wird. Auf diese Problematik sind der vor kurzem leider verstorbene Historiker und enge Freund Arnoät Klima und ich anfangs der 1950er Jahre gestoßen. Wir haben zusammen gesportelt, aber vor allem haben wir wissenschaftlich und auch politisch diskutiert - ein oder mehrere Male in der Woche. So haben wir schon in den frühen 1950er Jahren die Frage aufgeworfen, ob es zwischen China und der Sowjetunion zu einem kriegerischen Konflikt kommen könnte. Das wäre ein Widerspruch. Denn die sozialistische Gesellschaftsform sollte kriegerischen Konflikten zwischen sozialistischen Staaten Grenzen setzten. Ich glaube, im Zuge solcher Überlegungen bin ich allmählich auf den Gedanken gekommen, dass die historische Dimension - der Faktor Zeit - beim Versuch, eine sozialisti124

sehe Gesellschaft aufzubauen, von den Ideologen und Politikern der internationalen kommunistischen Bewegung nicht genug berücksichtigt worden ist. Gerade in der Sowjetunion hatte man schon in den 1940er Jahren geglaubt, dass der Sozialismus aufgebaut sei. Das hatten wir ja auch angenommen, als wir nach 1945 nach Prag gekommen waren. Das war ein Irrtum. Wir hatten nicht gesehen, dass die gesellschaftliche Entwicklung zu einer sozialistischen Gesellschaft erst am Anfang stand. Dieser Gesichtspunkt fand Bestätigung während meines etwa dreiwöchigen Aufenthalts in der Sowjetunion Ende November und Anfang Dezember 1961. Ich war Gast des Instituts für Wissenschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Ich verbrachte auch vier bis fünf Tage in Leningrad und auf der Rückfahrt einen halben Tag in Kiew. Dort hat mir ein Historiker beim Rundgang durch die Stadt reinen Wein über die hinterherhinkende sozialistische Wirklichkeit in der Sowjetunion eingeschenkt. All dies führte mich zum Nachdenken über Langfristigkeit und Widersprüche in der Entwicklung von Gesellschaftssystemen. Vielleicht kommen wir noch auf dieses Thema zu sprechen. Jedenfalls um 1960 war es mit den großen Illusionen vorbei, aber nicht mit der Hoffnung, dass der Sozialismus letztendlich den Sieg davontragen wird. ALICE: Ich bin ja nicht so in die theoretischen Tiefen gegangen. Ich war tief betroffen und enttäuscht über die Prozesse, die Bespitzelungen, die Verhöre, den Druck auf eine einheitliche Meinung und so weiter. Einige unserer Freunde sind ja eingesperrt worden. Zuerst hatten wir noch geglaubt, dass sie sich irgendetwas hatten zu Schulden kommen lassen; und dann haben wir sehr bald gesehen, dass das absolut unwahr ist. Fragen wie „Was hat das alles mit Sozialismus oder Kommunismus zu tun?", brachte Menschen dazu, den beschrittenen Weg des Aufbaus des Sozialismus in der Tschechoslowakei zu reflektieren. Das mündete in der Reformbewegung der 1960er Jahre, die anfangs stark von kommunistischen Intellektuellen getragen und beeinflusst wurde. Eduard Gold125

stückers Ausspruch über einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" fand landes- und weltweit ein breites Echo. Das historische Unglück war der Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968, die mit Waffengewalt der Reformbewegung ein Ende bereiteten.

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Tschechisch-deutsche Verständigungen G. D.: Bevor wir unmittelbar auf die Reformbewegung in der Tschechoslowakei zu sprechen kommen: Beide haben Sie bereits seit Ende der 1950er fahre mit deutschen Kolleginnen und Kollegen, vor allem aus der damaligen DDR, zusammengearbeitet trotz Ihrer Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland.

Das ging bei mir vor allem von meinem Engagement mit Studenten aus. Die Aktivität mit Studenten ist für mich immer eine sehr wichtige Sache gewesen. 1957 bin ich mit ihnen auf eine Exkursion in die DDR gefahren. Das war überhaupt die erste Exkursion von Hochschülern aus der Tschechoslowakei in die DDR. Ich war ja so etwas wie eine Klassenlehrerin an der Pädagogischen Fakultät, die zwischenzeitlich und für einige Jahre zur selbstständigen Pädagogischen Hochschule geworden war. Man vertraute den Assistenten bzw. Dozenten einen Jahrgang von Studenten an, den man durch das ganze Studium betreute. In Cambridge sollte das später ähnlich sein. Man hat die Studenten in jeder Hinsicht betreut: nicht nur akademisch, sondern auch, wenn sie andere Probleme gehabt haben. Das hat mir sehr gut gefallen, dass man sich um die Studenten kümmern soll. Ich war verantwortlich für 48 Studenten - einen ganzen Jahrgang, der Geschichte studiert hat. Dazu haben die meisten Germanistik, Englisch, Tschechisch, Sport/ Gymnastik oder Bildende Künste studiert. Schon 1956 war eine Delegation der Pädagogischen Hochschule in Potsdam zu uns an die Hochschule nach Prag gekommen. Dort wurden sie empfangen, und weil ich Deutsch konnte, bat man mich, dass ich dabei sein und mit diesen Leuten sprechen soll. So ist die Idee aufgekommen, eine Exkursion mit Studenten nach Potsdam zu organisieren. Ich habe das dann mit den Studenten diskutiert, und die waren alle Feuer und Flamme. Man brauchte natürlich für ALICE:

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die DDR ein Visum. Wenn man damals reiste, musste man nach Ende der Reise jedes Mal den Pass wieder abgeben. Und wenn man dann wieder eine nächste offizielle Reise beantragte, wurde, wenn die Reise genehmigt worden war, der Pass wieder ausgehändigt - und man bekam eine Ausreisebewilligung. Was nun diese Exkursion betrifft: Mit den Pässen war das nicht so einfach. Alle haben wir zwar die Ausreise und die Pässe bekommen - allerdings erst in letzter Sekunde. Wir sind alle schon am Bahnhof gestanden; und jemand ist noch im Hochschulministerium gewesen, hat alle Papiere geholt und ist schließlich mit einem Bündel Pässen zum Bahnhof angerannt gekommen, bevor wir in den Zug eingestiegen sind. Mit den Auslandsvisen war es wirklich nicht einfach. Wir hatten wohl auch ein wenig Glück gehabt, dass die Pädagogische Hochschule die Reise befürwortet hatte. Zu dieser Gruppe von Studierenden gehörte eine Studentin, deren Vater ein hoher General war. Der hatte wahrscheinlich auch ein wenig nachgeholfen. Wir sind dann für fast zwei Wochen mit allen 48 Studenten und drei meiner Kollegen an die Pädagogische Hochschule in Potsdam gefahren. Das war noch zu der Zeit, wo es keine Mauer in Berlin gab; die Zufahrt nach West-Berlin war noch möglich, vor allem mit der Untergrundbahn konnte man gleich in den Westen gelangen. Die Gefahr war also schon, dass einige Studenten sich einfach absetzen. Sie haben mich auch gehänselt: Als wir mit der U-Bahn in Berlin gefahren sind, haben sie gesagt: „In Berlin-Mitte steigen wir ganz einfach nicht aus und fahren weiter." Zum Glück sind alle noch da gewesen, als wir ausgestiegen sind. Als wir dann in Potsdam waren, wurde uns von den Kollegen das ganze Universitätssystem der DDR erklärt. Die Pädagogische Hochschule in Potsdam lag im Schlossbereich von Sanssouci. Wo einmal die Ställe und die Wirtschaftsgebäude gewesen waren, hatten sie die Hochschule aufgebaut. Peinlich war der Vorstand des Historischen Instituts. Er hat fortwährend behauptet, dass er immer Gegner von Hitler gewesen wäre. Dabei war er als Offizier mit der deutschen Besatzungsarmee in Griechenland gewesen. Schließlich hat er mir noch erzählt, dass er sogar eine Liebesaffäre mit einer 128

Griechin gehabt hätte. Das sollte beweisen, wie großzügig und wie sehr er gegen Hitler gewesen wäre. Das war wirklich übel und peinlich. Eigentlich wollte ich Versöhnung. Denn es hat ja viele Menschen meines Schlags gegeben, die gesagt haben: „Nie mehr wieder fahren wir nach Deutschland, wir wollen nie mehr einen Kontakt haben!" Mikuläs und ich sind da ganz das Gegenteil gewesen; wir wollten gerade in die DDR; nach Westdeutschland konnte man damals ja noch nicht. Später, in den 1960er Jahren, als das möglich geworden ist, haben wir aber auch nach dort Verbindungen gehabt. Wir haben gedacht, der beste Weg zur Versöhnung sei es, sich kennen zu lernen. Bei den jungen Leuten, also bei den Studenten, hat das auch sehr gut funktioniert. Ich weiß nicht, ob die Freundschaften zwischen den ostdeutschen und tschechischen Studenten gehalten haben, aber die Atmosphäre ist jedenfalls ausgezeichnet gewesen; und die deutschen Studenten haben uns damals überall hin begleitet. Ich wollte unbedingt nach Weimar, und wir sind auch nach Weimar gefahren: Goethe und Schiller. Ins ehemalige Konzentrationslager Buchenwald sind wir nicht gekommen, ich wollte dort auch nicht hin, aber natürlich wusste ich, dass in der Nazizeit vom Bahnhof in Weimar aus die Betroffenen in dieses Lager acht Kilometer zu Fuß getrieben worden waren. Und in Weimar hatte ich dann wieder eine sehr peinliche Erfahrung: Die ganze Gruppe hat in einem Gasthaus zu Mittag gegessen. Wir haben natürlich tschechisch gesprochen. Zwei deutsche Gäste sind zu uns gekommen und haben mit uns sprechen wollen, und sie haben gefragt, ob jemand von uns Deutsch spreche. Natürlich ich. Die beiden waren so um die sechzig Jahre alt und behaupteten doch glatt, dass sie keine Ahnung gehabt hätten, dass da ein Konzentrationslager in der Nähe gewesen war und dass sie überhaupt nichts damit zu tun gehabt hätten - ohne dass ich danach gefragt hätte! Das war so eine Attitüde von diesen Leuten. Das hat mich sehr erschüttert. Ich habe dann nicht mehr weiter mit ihnen sprechen wollen. Das war eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde. Wir sind dann weiter auf die Insel Rügen gefahren. Das war wunderschön, es war Mai oder Juni. Zuvor hatten wir 129

in Stralsund übernachtet. Dort erfuhr ich, dass über die Ostsee ein Weg nach Westdeutschland existierte. Ich habe mit der Frau gesprochen, die uns beherbergt hat. Sie meinte, dass ihre Söhne das später auch so machen würden: In Ostdeutschland seien gute Gymnasien; sie würden hier ihr Abitur machen - und fertig. Denn nach der Matura würden sie mit dem Zeugnis nach Westdeutschland gehen. Das war damals ziemlich weit verbreitet. Darauf ist es weitergegangen ins Ostseebad Sellin auf Rügen, wo wir in Ferienheimen untergebracht worden sind. Überall wurden wir sehr begrüßt und willkommen geheißen. In Sellin war ein Feuerwehrfest. Man wollte unbedingt, dass die Tschechen dorthin kommen. Jemand von uns sollte auch etwas sagen. Ich bin ganz unschuldig auf die Feuerwehrtribüne gegangen und habe gesagt, dass ich alle im Namen der Tschechoslowakei begrüße. Als ich das später Mikuläs erzählt habe, fragte er: „Wie kannst du für die Tschechoslowakei sprechen?!" Die Potsdamer sind übrigens auch nach Prag gekommen, und unsere Exkursion in die DDR ist später mit einem neuen Jahrgang wiederholt worden. Da ist auch Mikuläs mitgefahren. Warum ich das alles erzählt habe? Wenn man es wollte, gab es in der Tschechoslowakei solche Möglichkeiten, aber viele Leute waren nicht daran interessiert, diese zu nutzen. Ich hatte 1957 in Potsdam auch einen Vortrag gehalten. Ich arbeitete gerade darüber, welche Auslandsinvestitionen es in der tschechoslowakischen Wirtschaft vor 1938 gegeben hatte. Die konkrete Frage war: Inwieweit hatten die Briten an der Tschechoslowakei vor 1938 und damit vor dem Münchener Abkommen das ökonomische Interesse verloren? Diese Frage stellte ich mir aus einem besonderen Anlass: Der tschechische Historiker Vaclav Kral hatte über das Münchener Abkommen publiziert und dabei behauptet, dass sich schon vorher ökonomisch die Briten aus der Tschechoslowakei zurückgezogen hätten. Ich konnte das eigentlich nicht nachvollziehen und forschte nach, ob das wirklich so gewesen war. Dabei habe ich herausgefunden, dass es keinen Rückzug von Investitionen gegeben hatte, dass Großbritannien, Frankreich, Holland und so weiter bis 1938 in der 130

Tschechoslowakei investiert hatten - und all diese Investitionen waren dann als so genanntes feindliches Eigentum von den Deutschen konfisziert worden. Darüber habe ich in Potsdam zum ersten Mal einen Vortrag gehalten. Dozent Bader, der anwesend war, war davon ganz begeistert. Er meinte: „Sie müssen nochmals kommen, Sie müssen darüber schreiben!" Bader ist übrigens interessant. Er hatte über die diplomatischen Beziehungen zwischen England, Deutschland und der Sowjetunion in den Jahren 1938 und 1939 geforscht. Im Zuge seiner Forschungen ist er draufgekommen, dass es im Jahre 1939 ein Geheimabkommen im Rahmen des Nichtangriffspakts* über die Aufteilung Polens zwischen der Sowjetunion und Deutschland gegeben hatte. Auch seinen Studenten erzählte er darüber. Und der schon erwähnte Vorstand des Historischen Instituts mit der fragwürdigen Vergangenheit, der dann ein großer Sozialist geworden war, hat Bader angezeigt. Er würde falsche Nachrichten über die Sowjetunion verbreiten und seinen Studenten historische Unwahrheiten erzählen. Binnen 24 Stunden wurde Bader aus der Universität hinausgeworfen und durfte dann das Universitätsgebiet nicht mehr betreten. Es wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Bader hat sich verteidigt, fortwährend verteidigt. Aber er musste weg, er wurde aus der Partei und allen Gremien ausgeschlossen. Das Tragische an all dem war, dass Bader aus Überzeugung in den 1950er Jahren vom Westen in den Osten gekommen war. Aber Bader hat gekämpft, bis er mit den Forschungsergebnissen überzeugen hat können. Aber das hat lange gedauert, um nachzuweisen, dass dieser Geheimvertrag existierte. Er wurde dann schließlich rehabilitiert und bekam eine Professur in Halle an der Saale. Bader war also der Mann, der mich ermunterte, ich müsste über die ausländischen Investitionen in der Tschechoslowakei vor 1938 weiterforschen; das sei ungeheuer wichtig. Den Rat befolgte ich und begann mit der Zeit nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in Deutschland zu publizieren und Vorträge zu halten. Das Jahr 1957 war für mich ein Wendepunkt: sowohl was die Versöhnung mit den Deutschen betrifft als auch forschungsmäßig. 131

G. D.: Wenn wir schon beim Thema DDR sind, wie haben Sie den Mauerbau 1961 erlebt? ALICE: Ich habe ihn eigentlich fast vor Ort erlebt. Inzwischen hatten die Potsdamer mich fast jedes Jahr im Sommer eingeladen, um Vorlesungen im Rahmen von Lehrerfortbildungskursen zu halten. 1961 hatte ich meine Kinder und auch die Tochter einer Kollegin mitgenommen. Wir sind nach dem Ende meiner Potsdamer Vorlesungen nach Rügen gefahren, um dort Urlaub zu machen. Auf dem Rückweg nach Prag haben wir nochmals in Potsdam übernachtet. Ich habe den Kindern noch Berlin zeigen wollen. Wir sind mit der S-Bahn von Potsdam aus durch West-Berlin gefahren. Die Fenster waren eingehauen, alle Wagons waren angeschmiert und teilweise zerstört. Die Atmosphäre war schrecklich. In der Bahn hat man direkt Angst gehabt, dass es zu Ausschreitungen kommt. Es wurde auch von Polizisten zwischen Potsdam und Berlin-Mitte fortwährend kontrolliert. Das war am 11. August. Am 12. August sind wir wieder in Prag angekommen - genau einen Tag vor dem Mauerbau. Der war am 13. August 1961. G. D.: Hat sich durch den Mauerbau Ihre Sichtweise auf den Sozialismus verändert, oder war der Mauerbau in einer gewissen Weise auch nachvollziehbar? ALICE: Irgendwie war es schon nachvollziehbar. Besonders aufgrund dessen, was sich zwischen Ost-Berlin und WestBerlin abspielte. Darüber habe ich auch mit Kollegen gesprochen. Wir hatten in Berlin die Schilferts besucht. Gerhard Schilfert war Professor für Geschichte an der Humboldt-Universität. Frau Schilfert sagte mir, dass man zum Beispiel keine Hilfe im Haus bekommen könne, weil es die Putzfrauen nach West-Berlin zieht. Die bekämen Westmark dort. So fahren sie halt täglich zwischen Ost und West hin und her. Das wäre noch nicht so wichtig gewesen, aber es wurde ungeheuer viel geschmuggelt. Sie meinte, dass Butter und andere Lebensmittel aus der DDR hinausgeschmuggelt würden. Es gab ja einen Mangel an den verschiedensten Sachen. Ich kann mich erinnern, dass in manchen Geschäften, beim Fleischer zum Beispiel, die Regale ziemlich leer 132

waren. Zwei oder drei Würstel gab es dort. Gerade in Potsdam war es ziemlich traurig und die Atmosphäre sehr angespannt. Und wie ich Ihnen zuvor schon erzählt habe: Viele, die Abitur, einen Universitätsabschluss oder eine Lehre in der DDR gemacht haben, sind danach nach Westdeutschland gegangen. Der Mauerbau war natürlich eine Katastrophe. Aber die Frage stellte sich schon, wie dieses blood letting, dieser Aderlass, zu stoppen ist. G. D.: Um noch einmal auf die tschechisch-deutschen Beziehungen zurückzukommen: Sie haben erzählt, wie schwierig diese auch sein konnten, weil bestimmte Deutsche, auch wenn sie gar nicht danach gefragt wurden, ihre angebliche Opposition gegenüber dem Nationalsozialismus behaupten mussten. Sie haben auch von Versöhnung gesprochen. Wie sind diese Verständigungen aus Ihrer Sicht weitergegangen? Von der tschechischen Seite her gab es von den Studenten aus eine ziemlich offene Einstellung. Aber das waren die jungen Leute. Die älteren Leute und auch meine Kollegen waren den Deutschen gegenüber sehr skeptisch eingestellt. Aber nicht weil die Deutschen Deutsche sind, sondern weil sie nicht haben begreifen können, dass der Nationalsozialismus bis zuletzt, bis zum letzten Tag, so einen ungeheuren Zulauf hatte haben können. Und man war skeptisch wegen der Verbrechen. Die Tschechen sind überzeugt gewesen, dass die deutsche Bevölkerung im Großen und Ganzen über sie gewusst hatte. Und solche Erfahrungen, dass da jemand zu den Tschechen kommt und, ohne gefragt zu werden, zu ihnen sagt: „Ich habe von nix gewusst!" - das macht noch skeptischer. Aber ich glaube, dass Mikuläs dieses Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen vielleicht besser beurteilen kann. Er hatte ja in der Akademie mit ost- und westdeutschen Kollegen zu tun.

ALICE:

MIKULÄS: Es gab ja Menschen aus der DDR, die ein großes Interesse gehabt haben, mit den Tschechen und Slowaken zu kommunizieren. Das hat für sie ja eine Öffnung in den Osten bedeutet. Und unsere Kollegen in der DDR waren natürlich Feuer und Flamme, als sie auch noch merkten, dass

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da eine Person kommt, die Deutsch spricht. Insofern war Alice zwar nicht der Hahn im Korb aber sicher die Henne. Was jetzt das Historische Institut in der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften betrifft: In der Abteilung für Wissenschaftsgeschichte, wo ich tätig war, bin ich eigentlich zum Vermittler der Verbindungen zu den DDRWissenschaftshistorikern geworden. - Wieso? Irgendwann in den ersten Monaten des Jahres 1958 hielt Alice einen Vortrag an der Humboldt-Universität in Berlin, der einen großen Eindruck machte, unter anderem auch auf Eduard Winter - einen ausgewiesenen Kenner der Geschichte Mittel- und Osteuropas, einschließlich der Wissenschaftsund Kulturgeschichte. Er stammte aus der Tschechoslowakei und wirkte vor 1945 an der Deutschen Universität in Prag. Die ältere Generation der tschechischen Historiker hatte für ihn nicht viel übrig, obwohl er sicherlich nicht zu den „Tschechenfressern" gehörte. Wahrscheinlich hat Alice im Gespräch nach ihrem Vortrag über mich erzählt. Es ergab sich, dass ich ihn kurz danach anlässlich einer von Prager Philosophen einberufenen Tagung persönlich kennen lernte. Dort hat er mich noch im selben Jahr zu einer Konferenz eingeladen, die er organisiert hat: eine Konferenz über einen deutschen Wissenschaftler des 17. und 18. Jahrhunderts, den er zu einem zweiten Leibniz* hochstilisiert hat. Dieser Wissenschaftler hieß Walter Ehrenfried von Tschirnhaus. 1958 hatte er ein Jubiläum, nämlich seinen 250. Todestag. Tschirnhaus war Mathematiker und Physiker gewesen und beteiligte sich maßgeblich an der Entdeckung bzw. Erfindung des Meißner Porzellans. Der Name Johann Friedrich Böttger ist in dem Zusammenhang ja bekannt. Aber Tschirnhaus war der wissenschaftliche Vater, Böttger der Praktiker gewesen. Eduard Winter hat darauf hingewiesen, dass die Idee für eine Akademie der Wissenschaften also schon bei Tschirnhaus da gewesen wäre - und nicht erst bei Leibniz, der die Gründung der Berliner Akademie betrieben hatte. Tschirnhaus hatte auch die Idee gehabt, dass ähnlich wie bei der Leipziger Messe, wo Kaufleute zusammenkommen, auch Wissenschafter zusammenkommen könnten. Darüber sprach ich auf der Konferenz - und auch das machte 134

einen großen Eindruck, weil ich das Thema ins Gesellschaftliche eingebaut hatte. 11 Bei dieser Konferenz nahm auch der Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftsgeschichte am Karl-Sudhoff-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gerhard Harig, teil. Vorher war er Staatssekretär für Hochschulwesen gewesen. Aber aus Gründen, die mir nicht mehr ganz klar sind, war er seines Amtes enthoben worden. Er war von Haus aus Mathematiker und Physiker und hatte Interesse für Geschichte; so ist er dann Professor für Wissenschaftsgeschichte geworden. Zwischen Harig, seiner bemerkenswerten Frau, die sich um Auslandsstudenten kümmerte, und mir entstanden sehr freundschaftliche Beziehungen. Dies wiederum führte zu arbeitsgemeinschaftlichen Treffen der Prager und Leipziger Wissenschaftshistoriker. Man war gastfreundlich und besuchte sich gegenseitig. Am fruchtbarsten erwies sich die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Mathematik- und Chemiegeschichte. Ich habe die Chemiehistorikerin Irene Strube schätzen gelernt. Wenn ich mich nicht irre, promovierte sie bei Robert Havemann*, der viele Jahre als Professor für physikalische Chemie an der Humboldt-Universität in Berlin lehrte. Jedenfalls sympathisierte sie mit den kritischen Ansichten des in der DDR in Ungnade gefallenen AltKommunisten. Havemann war 1943 vom NS-Volksgerichtshof wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und 1945 von der Roten Armee aus der Todeszelle befreit worden. Durch reinen Zufall war ich 1962 in Leipzig anwesend, als Havemann den Vortrag hielt, mit dem er erstmals direkt mit der Partei in Kollision geriet. Der Anlass war eine Konferenz, die den fortschrittlichen Traditionen in der deutschen Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts gewidmet war, zu der ich auch eingeladen war und einen Beitrag leistete.12 11 Teich, Mikulää: Tschirnhaus und der Akademiegedanke. In: Winter, Eduard (Hg.): Tschirnhaus und die Frühaufklärung in Mittel- und Osteuropa. Berlin 1960, 93-107. 12 Teich, Mikuläs: Der Energetismus bei Wilhelm Ostwald und Frantisek Wald. In: Naturwissenschaft, Tradition, Fortschritt. Beiheft zur Zeitschrift NTM, 1963,147-153.

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Havemann hatte sich schon länger mit der Bedeutung des dialektischen Materialismus für die forschenden Naturwissenschaftler beschäftigt, wobei er den von den DDR-Philosphen dogmatisch gepflegten Zugang scharf kritisierte. Dies war auch das Thema seiner Ausführungen in Leipzig, an die ich mich ebenso wenig erinnern kann wie an die anschließende Diskussion. Aber sie wurden von Harig, dem Organisator der Konferenz, und der Parteigruppe am Institut als ketzerisch eingestuft. Das war das Fazit ihrer Sitzung, die nach Ablauf der Tagesordnung einberufen wurde und bis in die späte Nacht dauerte. Ich weiß es, weil ich stundenlang auf Harig wartete, bis er uns in seinem Auto nach Hause brachte. Ich wohnte nämlich bei den Harigs - sie boten mir freundlicherweise Unterkunft an, wenn ich mich zwecks Tagungen und Besprechungen in Leipzig aufhielt. Dabei erfuhr ich einmal von Frau Harig von dem schweren Schicksal, das ihre Familie in der Sowjetunion ereilt hatte. Die Harigs waren deutsche Kommunisten gewesen, die während des Nationalsozialismus als politische Flüchtlinge in der Sowjetunion landeten. Schließlich kehrte Gerhard Harig aufgrund einer Vereinbarung zwischen Deutschland und der Sowjetunion - ich nehme an, im Zuge des Nichtangriffspakts - in die Heimat zurück. Ich weiß nicht, wieso er sich in der Gruppe der Heimkehrer befand. Er hat es nie erwähnt. Was er nach der Überschreitung der Grenze sicherlich nicht erwartet hatte, war die Verhaftung und Einlieferung in ein Konzentrationslager, das er zum Glück überlebte. Es liegt auf der Hand, dass sich die Lebensverhältnisse der zurückgebliebenen Ehefrau samt Kleinkind Georg, der später Medizinhistoriker wurde, in der Sowjetunion nicht gerade rosig gestalteten. Als Flüchtling und Fremdling schlug sich Frau Harig mehr schlecht als recht durch. Ich weiß nicht, inwieweit diese traurige Episode in der Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der DDR ein offenes oder streng bewahrtes Staatsgeheimnis war. Ich weiß auch nicht, ob darüber geforscht wurde oder wird. Zumindest haben wir es hier mit einer der zahlreichen Facetten dieses grauenvollen Zeitabschnitts zu tun, die geklärt werden sollten, um die komplizierte und widerspruchsvolle Vergangenheit zu begreifen. 136

Knapp nachdem wir uns kennen gelernt hatten, gründete Harig ein Periodikum: „NTM: Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin." Er lud mich ein, Redaktionsmitglied zu werden. Nach seinem Tode im Jahre 1966 blieb ich nicht mehr lange in dieser Funktion. Nachdem wir nach unserem Aufenthalt in den USA im Studienjahr 1968/69 nicht nach Prag zurückgekehrt waren, wurde ich aufgefordert, aus der Redaktion auszutreten - was ich auch tat. Etwas Ahnliches ist mir in Bezug auf meine Funktion als Mitglied der International Cooperation in Histonj of Technology Committee (ICOHTEC) passiert. Für diese Aufforderung hatte ich mehr Verständnis, denn in diese Funktion war ich 1968 auf Vorschlag der tschechoslowakischen Kollegen auf dem XII. Internationalen Kongress für die Geschichte der Wissenschaften in Paris gewählt worden. In die NTM-Redaktion bin ich auf eine persönliche Einladung hin eingetreten und vertrat dort niemanden anderen als mich selbst. In diesem Zusammenhang könnten vielleicht die Erfahrungen von Interesse sein, die ich 1977 am XV. Internationalen Kongress für die Geschichte der Wissenschaften in Edinburgh gemacht habe. Bei solchen Veranstaltungen ist es ja üblich, zur Begrüßung einen Empfang zu geben. So war es auch in Edinburgh. Der Empfang war schon in vollem Gange, als Alice und ich etwas verspätet den Saal betraten. Da kommt mir lachend der Leiter der sowjetischen Delegation entgegen und umarmt mich in pleno publico. Die Geste wurde besonders von den anwesenden tschechischen, slowakischen und ostdeutschen Kollegen verstanden. Im Laufe des Abends kommen sie auf mich zu, um sich mit mir zu unterhalten. Aber die Idylle sollte nicht lang dauern. Schon am nächsten Morgen beim Frühstück haben dieselben Menschen nicht zurückgegrüßt. Was war inzwischen geschehen, dass ich zur Unperson degradiert war? Der linientreue Leiter der tschechoslowakischen Delegation - übrigens kein Wissenschaftshistoriker, aber ein ausgezeichneter Wirtschaftshistoriker beschwerte sich bei seinem sowjetischen Gegenüber. Zu Emigranten wahrt man Distanz! Dazu von Alice angesprochen, als sie einander zufällig begegneten, antwortete er: „Wir kämpfen auf verschiedenen Seiten der Barrikade." Danach gab es nur mehr einen flüchtigen Austausch von Be137

merkungen - mit zwei Ausnahmen. Die eine betrifft einen DDR-Wissenschaftshistoriker, der an einem Abend Alice und mich zu ihm ins Zimmer einlud. Dabei hat er uns darauf aufmerksam gemacht, dass das, was er tut, offiziell sei. Die andere betrifft einen tschechischen Kollegen, den wir sozusagen bei Nacht und Nebel bei einer Kirche getroffen haben. Wir sind mit dem Auto gekommen. Edinburgh ist zwar sehr schön - aber sehr dunkel. Wir haben uns vor der schottischen Kirche getroffen, kein Mensch war dort, und er ist eingestiegen. Ich bin dann auf die Autobahn gefahren, zweieinhalb Stunden immer im Kreis, damit die beiden sprechen können. Schließlich haben wir ihn irgendwo wieder ausgesetzt, damit er nicht gesehen wird. ALICE:

MIKULÄS: Aber was ich eigentlich sagen wollte: Wir haben in den 1960er Jahren eng mit ostdeutschen Kollegen zusammengearbeitet. In der Tat ist nicht zuletzt auch durch unser Zutun ihre Organisation interessant und anerkannt worden! Sie wurde 1965 anlässlich des XI. Kongresses in Warschau in die International Union ofthe History und Philosphy of Sciences aufgenommen. Das war ein bedeutender internationaler Erfolg, wenn man den damaligen Paria-Status der DDR auf der Weltbühne bedenkt. Gerhard Harig zeigte sich dankbar, indem er uns zu einem gemeinsamen Abendessen mit den ostdeutschen Kollegen einlud. Seltsamerweise mussten wir die Getränke selbst bezahlen. Wir haben in den 1960er Jahren eng mit ostdeutschen Kollegen zusammengearbeitet. Wir Wissenschaftshistoriker sind wirklich aufrichtig an dieser deutsch-tschechoslowakischen Zusammenarbeit interessiert gewesen. Aktuell wird ja gerade von den Sprechern der Sudetendeutschen immer behauptet, dass unter den Kommunisten die deutsche Vergangenheit in der Tschechoslowakei historisch unterdrückt worden sei. Sicherlich stimmt, dass in den großen historischen Zusammenfassungen der deutschböhmischen Vergangenheit nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Bei der Wissenschaftsgeschichte ist das allerdings anders gewesen: Wir haben schon 1961 eine von sechs Autoren verfasste „Geschichte der exakten Wissenschaften in den böhmischen Ländern seit den Anfängen bis

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1900" herausgegeben. 13 Das ist meiner Ansicht nach eines der besten Bücher - auch international gesehen - , wo im Kontext eines Landes die Geschichte der Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie beleuchtet wird. Leider ist der Band nur in tschechischer Sprache und lediglich mit englischen und russischen Zusammenfassungen erschienen. Aber in diesem Sammelband sind die deutschsprachigen Astronomen, Mathematiker, Physiker und Chemiker, die damals in Böhmen und Mähren wirkten, vollständig einbezogen worden. So ist es also auch nicht, dass damals der deutschböhmische Anteil an der Geschichte Böhmens und Mährens ignoriert worden wäre. In den 1960er Jahren wurden viele Barrieren abgebaut und Beziehungen geknüpft. Und nun war es auch möglich, westdeutsche Stipendien zu bekommen; sie sind auch angenommen worden. ALICE: Ich möchte noch etwas über die tschechoslowakische Historiografie sagen. Ich habe mit tschechischen und slowakischen Historikern zusammengearbeitet, um neue Hochschullehrbücher zu schreiben, die wir darin im Pädagogischen Verlag herausgegeben haben. Vorher hatte man ganz einfach sowjetische Lehrbücher übersetzt. Man hatte gesagt: „Die Sowjetunion ist unser Vorbild, hier sind die sowjetischen Geschichtsbücher, und die Studenten sollen sie benützen." Mit Kollegen an der Pädagogischen Fakultät setzte ich durch, dass neue Hochschullehrbücher von tschechischen und slowakischen Historikern geschrieben und herausgebracht werden sollen: von der Urzeit bis zur Gegenwart. Das geschah auch. In dem Mittelalterband, den ich selbst herausgegeben habe, haben Mikuläs und ich auch als Autoren mitgearbeitet. Herrliche Sachen sind da drinnen; wunderschönes Bildmaterial hatten wir dafür gefunden, auch Abbildungen vom Teppich von Bayeux. Nach 1969 wurde das Buch verboten, es kam auf den Index, weil ich Herausgeberin war. Aber Geschichtsstudenten haben es fortwährend kopiert und auch nach dem Verbot daraus gelernt. 13 Jaroslav Folta, Zdenek Horsky, Luboä Novy, Irena Seidlerovä, Josef Smolka, Mikulää Teich.

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Als wir vor drei Jahren in Prag gewesen sind, hat eine Verlagsangestellte herausgefunden, wo ich bin. Sie ist zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob sie diese Mittelaltergeschichte wieder herausgeben dürfe. Ich meinte: „Ich habe nichts dagegen, aber ich glaube, die Autoren werden etwas dagegen haben, weil sie das ja schon in den 1960er Jahren geschrieben haben. Abgesehen davon ist die marxistische Perspektive unübersehbar. Das trägt man heute nicht mehr mit." Das ist allerdings wieder eine andere Geschichte. Was ich eigentlich sagen wollte: In diesen neuen Lehrbüchern hat in den 1960er Jahren auch die deutsche Geschichte ihren Platz gehabt - und das nicht in einem negativen Sinn. Ich habe aber nicht nur an neuen Lehrbüchern für die Hochschulen mitgewirkt, sondern mir waren auch die Schulbücher sehr wichtig. Geschichte sollte so aufgezeigt werden, dass man auf kriegerische, rassistische oder nationalistische Tendenzen verzichtet. Das fand ich nicht nur aus erzieherischen Gründen wichtig, sondern überhaupt gesellschaftlich. Ich bin Mitglied einer Gruppe der UNESCO geworden, die sich mit Schulbüchern beschäftigte und gegen Chauvinismus und Kriegshetze richtete. Die UNESCO ist ja die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Führende tschechoslowakische Historiker wie Josef Macek, Direktor des Historischen Instituts der Akademie, waren in dieser Arbeitsgruppe dabei. Man wollte, dass die Unterrichtsministerien und die Historiker aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, um die Lehrbücher und die Lehrbuchautoren zu beeinflussen. Es gab auch eine eigene deutsch-tschechoslowakische Historikerkommission. Wir haben dann mit der UNESCO-Gruppe 1967 eine internationale Schulbuchkonferenz in Bamberg abgehalten, wo sich auch westdeutsche, tschechische und slowakische Historiker getroffen haben, um Schulbücher zu diskutieren. MIKULÄS: Aber ich frage mich jetzt dennoch, inwiefern die tschechischen Historiker an einem Dialog mit ihren ost- und westdeutschen Kollegen wirklich interessiert waren, inwiefern hier überhaupt ein Dialog entstanden ist - von den Wissenschaftshistorikern einmal abgesehen? Alice, du weißt, 140

dass das ziemlich schwer war. Du kannst dich an Frantisek Graus erinnern, der Vorsitzender der ostdeutsch-tschechoslowakischen Historikerkommission war. Er war ein bedeutender Mediävist, der nach 1968 emigrierte und 1989 in Basel im Alter von 68 Jahren starb. Er war vor 1945 Häftling in Theresienstadt gewesen. Ihm fiel das natürlich nicht leicht. Ich bin überzeugt, dass hier Ressentiments waren, auch gegenüber den ostdeutschen Kollegen - auch wenn man auf der offiziellen Ebene vom proletarischen Internationalismus und von Solidarität gesprochen hat. Bei den Jüngeren war das vielleicht anders. Bei uns im Historischen Institut der Akademie sind einige gewesen, die ein westdeutsches Stipendium bekommen haben - und das haben sie sehr gerne angenommen, weil sie damit ins Ausland gekommen sind. Aber auch bei den Jüngeren muss man zur Kenntnis nehmen, dass sie Väter, Mütter oder Onkel hatten, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus das Leben verloren hatten. Der Onkel von Jaroslav Pätek, dem schon erwähnten besten Schüler von Alice, war von den Nazis ermordet worden. Und zwar so, dass man ihn stehend in einem kalten Fluss mit kaltem Wasser begossen hat und ihn hat erfrieren lassen. Pätek war bei den Exkursionen in die DDR mit dabei, aber wenn man mit ihm bei einem Bier über die Deutschen sprach, dann hatte er nicht viel übrig für sie. Also, ich könnte jetzt wirklich nicht sagen, dass ansonsten enge Verbindungen mit deutschen Historikern bestanden, wie wir das bei den Wissenschaftshistorikern hatten. G. D.: War es in den 1960er Jahren eigentlich um so viel leichter als zuvor, in die BRD und in andere westeuropäische Staaten zu reisen ? MIKULÄS: Ja, und es wurden umgekehrt Kollegen aus dem kapitalistischen Ausland in die Tschechoslowakei eingeladen. So gab es 1966 in Brünn eine große internationale Konferenz über die Antike; das wurde sehr hochstilisiert. Doch wäre es falsch, anzunehmen, dass die Tschechoslowakei den Wunsch für eine internationale wissenschaftliche Verständigung nur vorgetäuscht hätte. Einige solcher Konferenzen hat es in dieser Zeit in der Tschechoslowakei gegeben. 1967 hat unsere Abteilung für Wissenschaftsgeschichte 141

eine große Tagung über das 17. Jahrhundert in Prag organisiert, und dazu haben wir Kollegen aus England, Frankreich, Italien, der Schweiz, Dänemark, Holland und auch der BRD eingeladen. ALICE: Auch außerhalb der Konferenzen waren mittel- und westeuropäische Besucher da. Wir vom Lehrstuhl für Geschichte an der Pädagogischen Fakultät haben den englischen Wirtschafts- und Sozialhistoriker Sidney Pollard und den westdeutschen Spezialisten für mittel- und osteuropäische Geschichte Hans Raupach eingeladen. Auch konnten wir Georg Eckert begrüßen, den Direktor des Deutschen Schulbuchinstituts in Braunschweig. Er hat sich sehr für die Verständigung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern und für dementsprechende Schulbücher engagiert. Dies war auch das Anliegen des Professors für Geschichtsdidaktik an der Universität Hamburg, Caesar Hagener. Mit ihm habe ich zusammengearbeitet. Er setzte sich für Versuchsschulen für Kinder von Ausländern ein, um sie in das deutsche Schulwesen zu integrieren. Mit ihm und seiner Frau Edith, die in der Frauenbewegung aktiv war, entwickelte sich eine langjährige Freundschaft. Und zu euch ans Institut sind auch welche gekommen. Ich erinnere mich an Golo Mann, den man ja zu den deutschen Bohemisten zählen kann. Weiters habe ich den in Mähren geborenen und in Wien zu großen akademischen Ehren gekommenen Bohemisten Richard G. Plaschka in Erinnerung. Schließlich, war nicht auch der französische Mentalitätsforscher Robert Mandrou einmal zu Gast bei euch? Ich möchte in diesem Zusammenhang auch den seinerzeit sehr bekannten westdeutschen Wirtschafts- und Sozialhistoriker Wilhelm Treue erwähnen. Ich hatte ihn 1965 in München anlässlich des III. Internationalen Kongresses für Wirtschaftsgeschichte kennen gelernt, wo ihn mein Beitrag über die Auslandsinvestitionen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit beeindruckte. Kurz danach trafen wir uns in Wien beim Internationalen Kongress für historische Wissenschaften, wo ich ihm Mikuläs vorstellte. Das führte zur Einladung zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Tech142

nik in Lübeck im selben Jahre. Aber dazu sollte Mikuläs etwas sagen. MIKULÄS: Meine Gastgeber in Lübeck haben mich in einer kleinen Pension untergebracht und mit Taschengeld versorgt. Wenn man ein Bad wollte, musste man dafür extra zahlen. Ich hatte zwar wenig Geld, aber ich wollte doch einoder zweimal den Baderaum benützen. Als es an die Bezahlung ging, hat mich die Pensionsinhaberin wissen lassen: „Für die Herren aus dem Osten ist das Bad kostenfrei." Willhelm Treue hatte außerordentlich breite Interessen, unter anderem auch betriebsgeschichtliche. Ich war Mitglied der Kommission für Betriebsgeschichte in der Tschechoslowakei, die Treue 1966 eingeladen hat. Er hatte Vorträge bei Alice und im Historischen Institut der Akademie gehalten. Und er traf sich mit einigen prominenten Wirtschaftshistorikern. Ich glaube mich nicht zu täuschen, dass Treue auch von Milan Myska nach Ostrau eingeladen wurde, einen Vortrag zu halten. Myska leitete den Lehrstuhl für Geschichte an der Pädagogischen Fakultät in Ostrau. Er war schon damals betriebsgeschichtlich orientiert und ist inzwischen international sehr bekannt geworden. Jedenfalls war Treue stolz darauf, zu den ersten bundesdeutschen Historikern gehört zu haben, die zu Vorträgen in die Tschechoslowakei eingeladen wurden. Das ist umso bemerkenswerter, da er mit Sicherheit nicht mit dem Sozialismus sympathisierte. Übrigens haben wir später sehr freundschaftliche Beziehungen miteinander unterhalten. ALICE: In München habe ich auch den Wirtschaftshistoriker Wolfram Fischer kennen gelernt. Beide haben wir bei dieser Gelegenheit einen winzigen Schritt zur deutsch-deutschen Verständigung beigetragen, indem wir ein gemeinsames Essen organisierten, an dem westdeutsche und ostdeutsche Historiker teilnahmen. Wolfram Fischer war um uns nach 1968 besorgt und lud uns zu Gastprofessuren im Sommersemester 1969 nach West-Berlin ein. Wissenschaftliche Kongresse, Konferenzen und Symposien, an denen wir teilnahmen, haben eine bedeutende Rolle in unserem Leben gespielt. So haben wir Jürgen Kocka anlässlich einer Konferenz in Bochum 1972 kennen gelernt. Die 143

Beiträge, die später veröffentlicht wurden, stellten eine viel beachtete Zusammenfassung der damaligen Kenntnisse über die wirtschaftspolitische Lage in der Weimarer Republik dar.14 Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka, der mit HansUlrich Wehler die einflussreiche „Bielefelder Schule" begründete, hatte ein besonderes Interesse an der Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen. Das hatte sicherlich damit zu tun, dass er nach 1945 als Kind einer aus der Tschechoslowakei abgeschobenen deutschsprachigen Familie nach Westdeutschland kam. Absolut frei jeglicher Ressentiments hatte Jürgen Kocka in den 1980er Jahren tschechische Historiker, wie Arnost Klima und Jifi Kofalka, zum Lehren und Forschen nach Bielefeld eingeladen. Ich selbst war dort im Wintersemester 1987/88 zu Gast. Dort trafen wir auch den Wirtschaftshistoriker Sidney Pollard wieder, der aus Sheffield nach Bielefeld übersiedelt war. Und wir machten die Bekanntschaft seines Assistenten Dieter Ziegler und seiner Doktoranden Volker Wellhöner und Harald Wixforth. Von diesen sehr begabten Wirtschaftshistorikern hatte nur Dieter Ziegler das Glück, eine Universitätskarriere zu machen - er ist Professor in Bochum geworden. Es ist schon traurig, dass es den anderen zwei nicht gelungen ist. Nebenbei: Volker Wellhöner, ein habilitierter Dozent mit Doktoraten in Geschichte und Wirtschaftswissenschaften, unterrichtet an einer Mittelschule. Freundschaften - nicht nur mit deutschen Kollegen - dauern bis heute. Zu Hermann Freudenberger etwa, der 1959 erstmals nach Prag kam, um Archivstudien zu betreiben. Er hat den Ruf eines vorzüglichen Kenners der wirtschaftlichen Entwicklung Böhmens und Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Zu Georg Iggers, der 1961 im Historischen Institut auf der Prager Burg auftauchte.15 Oder zu dem Physiker Robert Cohen, der sich für die marxistische PhiloMIKULÄS:

14 Mommsen, Hans/Dieter Petzina/Bernd Weisbrod (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1974. 15 Siehe Iggers Autobiografie, gemeinsam geschrieben mit seiner Ehefrau, einer Literaturwissenschaftlerin: Iggers, Wilma und Georg: Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten. Göttingen 2002.

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sophie und deren Nutzen für die naturwissenschaftliche Forschung und Geschichte der Naturwissenschaften interessierte - was ihn in den 1960er Jahren nach Prag brachte. Er ist der Begründer der renommierten Reihe Boston Studies in Philosophy of Science, und er engagiert sich dafür, dass der Wiener Kreis nicht in Vergessenheit gerät.

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Prager Frühling 1968 G. D.: Die Tschechoslowakei erlebte ja in den 1960er Jahren eine wirtschaftliche Talfahrt; die Löhne sanken, schließlich wurden sogar die Lebensmittel knapp. Zugleich war eine Reformbewegung entstanden, die bis hin zum Prager Frühling geführt hat. Sie haben diese Reformbewegung bereits mehrfach angesprochen. Und Sie haben auch erzählt, dass unter anderem im internationalen Wissenschaft saustausch eine Öffnung stattgefunden hatte. Das alles ist ja nicht plötzlich und auf einmal passiert, sondern war wohl eine mehrjährige Entwicklung? MIKULÄS: Ja, das ist das, auf was ich immer hinweise: Große Bewegungen entstehen in der Geschichte nicht von heute auf morgen. Und so kann auch der Prager Frühling nicht ohne das verstanden werden, was seit Anfang der 1960er Jahre in Prag geschehen ist. Auf dem Gebiet der Wissenschaft und auch allgemein hat sich da sehr viel gelockert. Plötzlich gab es in der Wissenschaft Diskussionen. In den Gewerkschaften und selbst in der Partei wurde immer mehr diskutiert. Auch in den vielen Zeitschriften, bei den literarischen Werken und beim tschechoslowakischen Film wurde alles offener - und gesellschaftliche Zustände wurden immer kritischer beschrieben. ALICE: Im Englischen sagt man: „It came to fruition." - Es ist herangereift. Die 1960er Jahre waren in der Tschechoslowakei ganz außerordentlich reformorientiert. Wir haben gewünscht, dass sich das System verändern soll: nicht dass man den Sozialismus abbaut und durch einen Kapitalismus ersetzt, sondern dass man diesen Sozialismus in einer Weise reformiert, dass er zu einem demokratischen Sozialismus wird. Das klingt sehr hochtrabend, aber in den kleinen Ecken, in denen wir unterwegs waren, haben wir versucht, in dieser Hinsicht etwas zu bewirken. Wir haben dann wirklich das Gefühl gehabt, dass ein großer Aufschwung 147

und eine große Bewegung da ist, mit der wir zusammengeflossen sind. 1968 war es dann aus. Unter den Intellektuellen existierten vor 1968 einige starke Strömungen, in denen diskutiert wurde, dass das System nicht so funktioniert, wie es zu funktionieren hätte. Im Rahmen der Akademie der Wissenschaft entstanden zumindest drei Gruppen - und diese gab es sicherlich nicht ohne das Amen der Partei. Das eine Team unter der Leitung des Philosophen Radovan Richta widmete sich der „Wissenschaftlich-Technischen Revolution" als einem Phänomen des 20. Jahrhunderts. Das andere Team unter der Leitung des Juristen Zden£k Mlynär beschäftigte sich mit dem Rechtswesen. Während des Prager Frühlings avancierte Mlynär zum Mitglied des Präsidiums und Sekretär des Zentralkomitees der Partei. Da er sich mit dem antireformistischen Kurswechsel infolge der militärischen Intervention nicht abfinden konnte, resignierte er und landete im österreichischen Exil. Hier verfasste er viel beachtete Memoiren über die Ereignisse im Herbst 1968.16 Die dritte Gruppe sammelte sich um Ota Sik, dem Direktor des Ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Zentralkomitees der Partei. Als führender Wirtschaftsreformer versuchte er, Sozialismus mit Marktwirtschaft zu verbinden. Sik - als junger Kommunist war er in ein deutsches Konzentrationslager gekommen - erhielt in der im April 1968 umgebildeten Regierung den Posten eines Vizepremiers. Nach dem Einmarsch der Interventionsarmeen der fünf Warschauer-Pakt-Staaten entschloss sich Sik, eine Professur an der Universität in St. Gallen in der Schweiz anzunehmen. Ich möchte auch auf das Forschungskollektiv unter der Leitung Pavel Machonins hinweisen, das den Wandel in der Gesellschaftsschichtung untersuchte. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, ob es institutionell auch in der Akademie der Wissenschaften angesiedelt war. Die Idee der „Wissenschaftlich-Technischen Revolution" war schon in dem 1939 erschienenen und bahnbrechenden MIKULÄS:

16 Mlynäf, Zdenèk: Nachtfrost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen Sozialismus. Frankfurt am Main 1978.

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Buch „The Social Function of Science" formuliert worden. 17 Dessen Autor, John Desmond Bernal, ein ungewöhnlich vielseitiger Naturwissenschaftler, prägte dann 1957 auch den Begriff in der zweiten Ausgabe seines Buches „Science in History".iA Den habe ich aufgegriffen und 1965 in einem tschechisch geschriebenen Artikel behandelt, der ein Jahr später auch in einer deutschen Fassung erschienen ist.19 Zur selben Zeit und unabhängig von mir ist auch Radovan Richta auf Bernal gestoßen, als er in einem Sanatorium lag. Er litt nämlich an Tuberkulose, die er sich im deutschen Konzentrationslager geholt hatte, in das er als Student eingeliefert worden war. Wie gesagt, Richta war Leiter des Forschungsteams für die Wissenschaftlich-Technische Revolution geworden. Schließlich zählte die Gruppe, zu der auch ich gehörte, sechzig Frauen und Männer, die die verschiedensten Fachgebiete abdeckten. Auf den Punkt gebracht ging es dem interdisziplinären Team um die gesellschaftlichen und menschlichen Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Dies wiederum rief kritische Fragen bezüglich der gesellschaftlichen Situation in der Tschechoslowakei und zur Perspektive von Sozialismus und Kommunismus in diesem Land hervor - inklusive der menschlichen Dimension. Ich denke, dass sich auch heute die Frage von Gesellschaft und Menschen immer wieder stellt: im Zusammenhang mit der Anwendung der Nuklearenergie, der Informationstechnologie, der Gentechnologie und so weiter. Um das Menschliche in diesen Entwicklungen wirklich zu realisieren, braucht es meiner Ansicht nach eine sozialistische Gesellschaft, die sich grundsätzlich von den bislang bekannten sozialistischen Gesellschaftstypen unterscheiden muss. 17 Bemal, John Desmond: The Social Function of Science. London 1939 (deutsch: Die soziale Funktion der Wissenschaft. Köln 1986). 18 Bernal, John Desmond: Science in history. London 1954 (deutsch u.a.: Die Wissenschaft in der Geschichte. Berlin 1961). 19 Teich, Mikulää: Zu einigen Fragen der historischen Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Revolution. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1966, Teil II, 34-62.

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Aber zurück zur damaligen sozialistischen Gesellschaft: Das Konzept der Wissenschaftlich-Technischen Revolution wurde in den 1960er Jahren auch in der DDR und der Sowjetunion aufgegriffen - aber in diesen beiden Ländern wurde das im Grunde rein formal und technokratisch gesehen. Unser Team erkannte dies als nicht zufrieden stellend, weil damit der Mensch - seine individuelle Identität und sein Innenleben - nicht genügend berücksichtigt würde. Uns ging es um einen humanen und nicht nur technokratisch orientierten Sozialismus. Wir haben viel diskutiert und dann auch veröffentlicht: den so genannten Richta-Report „Zivilisation am Scheideweg" 2 0 - eine bedeutende Publikation, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. ALICE: Ich selbst habe an der Universität gewirkt. 1965 bin ich Gewerkschaftsvorsitzende an der Pädagogischen Fakultät geworden. Da setzten wir - ich erwähnte es schon - familienfreundlichere Arbeitszeiten für die Angestellten, vor allem für die Sekretärinnen, durch. Es wurde aber auch der Zugang der Studenten zu den Bibliotheken erleichtert, und schließlich ging es immer auch um Fragen, wie man das Lehrerstudium organisiert. Dabei gab es Diskussionen, wie man pädagogische oder psychologische Inhalte mehr mit den Fächern, sagen wir zum Beispiel Geschichte, verbinden kann. Einige Studenten haben sich bei mir beschwert, dass sie in Psychologie zwar lernen, wie ein Hund auf Reize reagiert - der berühmte Pawlowsche Reflex - , aber in welchem Zusammenhang das mit Kindern in der Schule stehen soll, war unklar. Viele solcher Fragen konnte man nun plötzlich diskutieren. Und Studenten und Kollegen sind mit ihren Problemen zu mir gekommen. MlKULÄS: Alice war wirklich eine Vertrauensperson. 20 Siehe u.a.: Richta, Radovan and a research team (ed.): Civilization at the Crossroads: Social and Human Implications of the Scientific and Technological Revolution. Prag 1967. Richta, Radovan u. a. (Hg.): Zivilisation am Scheideweg. Soziale und menschliche Zusammenhänge der wissenschaftlich-technischen Revolution (= Richta-Report). Freiburg i. Br. 1970. Richta, Radovan u. a. (Hg.): Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse. Frankfurt am Main 1971.

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Ja, wahrscheinlich. Die Leute wären wohl nicht mit Beanstandungen gekommen, wenn irgendein Dogmatiker der Vorsitzende gewesen wäre. Vor ihm hätten sie sich wahrscheinlich gefürchtet. Ich bin dann auch zu Gewerkschaftssitzungen der Universität gegangen, wo Fakultätsvertreter Erfahrungen ausgetauscht haben. Und ich hatte das Gefühl, dass man in der Gewerkschaft immer freier diskutieren konnte. Um die Jahreswende 1967/68 bin ich dann zur Parteivorsitzenden der Fakultät gewählt worden - in meiner Abwesenheit! ALICE:

MIKULÄS: Ja, Alice war gerade in Bamberg auf der UNESCO-Tagung über die Geschichtsschulbücher gewesen, und ich hatte einen wissenschaftlichen Aufenthalt in Paris. Wir haben uns in Paris getroffen und sind dann für zwei Wochen nach England gefahren, wo wir meinen Bruder, meine Schwägerin und einige Kollegen und Freunde besucht haben. Um diese Zeit, das war im Dezember 1967, knapp vor Weihnachten, tagte auch das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Hier wurde die starre Politik Antonin Novotnys* unter die Lupe genommen, der zugleich die Funktion des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei und das Amt des Präsidenten der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ausübte. Er wurde unter anderem von Ota Sik scharf angegriffen, der ihm nahe legte, die Funktion des Ersten Sekretärs abzugeben. Ich nehme an, dass es Sik nicht leicht fiel, diesen Vorschlag über die Lippen zu bringen. Novotny und Sik waren Häftlinge in demselben Konzentrationslager und nach 1945 im Apparat des Parteisekretariats des Prager Kreiskomitees tätig gewesen. Ich denke auch, dass Sik vieles in seiner politischen Karriere Novotny zu verdanken hatte. Dazu möchte ich noch etwas über das zuvor im Oktober abgehaltene Plenum des Zentralkomitees sagen. Auf dem Programm stand die Wissenschaftlich-Technische Revolution - bzw. die Frage: Wie könnte die Partei mit dieser Problematik in einer qualifizierten Weise fertig werden? Vorgesehen war sicherlich nicht, dass dabei der Rahmen der Diskussion gesprengt wird. Unabsichtlich ist nach Novotny die

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„leitende Rolle der Partei" in der Praxis - ein Grundpfeiler der Parteipolitik - zur Sprache gekommen. Besonders kritisch ist der Diskussionsbeitrag Alexander Dubceks* ausgefallen. Der bislang wenig bekannte Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Slowakei kritisierte Novotnys Arbeitsstil und -methoden, die Anhäufung von Parteifunktionen, und nicht zuletzt wies er mit Nachdruck auf das Prinzip der nationalen Gleichstellung von Tschechen und Slowaken hin. Daraufhin bezichtigte Novotny Dubiek und die slowakische Parteiführung des Nationalismus. Dass damit die Basis für den zukünftigen Sturz Novotnys und der Aufstieg Dubceks gelegt wurde, hat damals niemand geahnt. Dieser Prozess verlief in zwei Phasen. Nachdem die Dezembersitzung des Zentralkomitees über Weihnachten und die Jahreswende vertagt worden war, wurde Novotny Anfang Januar 1968 durch Dubcek in der Funktion des Ersten Sekretärs ersetzt. Er war von Novotny selbst vorgeschlagen worden - aufgrund von Verhandlungen im Parteipräsidium. Sicherlich war das für ihn eine bittere Pille. Die zweite bittere Pille, die Novotny schlucken musste, war sein unvermeidlicher Rücktritt vom Präsidentenamt Ende März 1968. Zur Zeit der Aufsehen erregenden Ereignisse im Dezember fand an der Pädagogischen Fakultät auch eine Parteisitzung statt, an der ich nicht teilnehmen konnte, weil wir ja in England waren. Und da hat man sich für mich als Parteivorsitzende der Fakultät mit ihren 250 Mitgliedern entschieden. Aber das war ja ganz klar! Niemand wollte das machen, da hat man sich gesagt: „Die Alice, die rennt immer in alles hinein; sie ist in diesem Reformstrom drinnen; dann soll die Alice das machen." Eine muss ja den Kopf hinhalten! Nachdem wir von England wieder nach Prag zurückgekommen waren, wurde mir mitgeteilt, dass man mich gewählt hatte. Ich komme wieder in der Fakultät an, und man gratuliert mir - mit großem Gelächter dazu. ALICE:

G. D.. War das eine unangenehme 152

Überraschung?

ALICE: Nein, eigentlich nicht. Damit wurde mir ja auch die Chance gegeben, bei der öffentlichen Debatte über die Demokratisierung mitzuwirken. Bald habe ich begonnen, Leute einzuladen, die in der Reformbewegung tätig waren: Ökonomen, Kulturschaffende, Historiker. Auch von der Arbeitsgruppe für die Wissenschaftlich-Technische Revolution, bei der Mikuläs dabei gewesen ist, haben wir einige eingeladen. Alle sollten sie bei den Parteisitzungen ihre Ideen einbringen. Das war eine aufregende Sache. Denn alle diskutierten mit. Ich habe angeregt, dass die Leute sagen sollen, welche Aktivitäten sie sich von Fakultät, Gewerkschaft und Partei wünschen. Nicht, dass mehr von oben gesagt wird, was die Menschen zu tun haben, sondern es ging darum, was die Menschen unten denken und fordern. Diese Treffen haben große Zustimmung gefunden. Alle - von den Universitätslehrern bis zu den Sekretärinnen - haben da mitgemacht. Alle Sitzungen waren voll besetzt. Früher hatte man gesagt: „O Gott, schon wieder eine Sitzung!" In den 1950er Jahren hatte es Meetings gegeben, wo immer nur einer gesprochen hatte - und dann waren alle nach Hause gegangen. Das gab es jetzt nicht mehr. Jetzt sagten die Leute ihre Meinungen. Es war eine totale Aufbruchstimmung! In der gesamten Bevölkerung! Man soll das nicht unterschätzen. Die Leute auf der Straße wollten Reformen, nicht den Kapitalismus, sondern Reformen im Sozialismus. Und plötzlich sprachen und diskutierten alle Menschen miteinander: in der Straßenbahn, auf der Straße, wo immer Leute waren. Und man sprach auch über politischen Pluralismus, das heißt, über die Zulassung von politischen Gruppierungen, die eine andere Meinung haben als die Kommunistische Partei. G. D.: Vorher haben Sie noch von den Intellektuellen als den Trägerinnen und Trägern der Reformbewegung gesprochen. Jetzt, 1968, ging es über sie hinaus? ALICE: Ja, es ging weit darüber hinaus, auch wenn wir eigentlich gar nicht so viel über andere Schichten sagen können, weil wir doch vor allem unter den Intellektuellen gelebt haben. Und von diesen war ja diese Bewegung auch ausgegangen. Aber die großen Meetings, organisierten Ver153

Sammlungen und spontanen Straßendebatten, die dann in Prag stattgefunden haben - das waren nicht nur Intellektuelle, das waren Hunderte und Tausende von Menschen, die die demokratisierenden Reformen unter Dubcek unterstützten: Massenmedien und Pressefreiheit, die Aufhebung der Zensur, das Versammlungsrecht, die Freiheit der Gewerkschaften und so weiter. Auch Fernsehdebatten, die Millionen von Zuschauern verfolgten, spielten eine äußerst wichtige Rolle in dem Demokratisierungsprozess. Für mich war das ein großes Wunderding, wie die tschechische Bevölkerung Dubcek glaubte. Da kommt jemand, der praktisch unbekannt und noch dazu ein Slowake ist, der nicht tschechisch, sondern slowakisch spricht und die Tschechen glauben ihm! Da habe ich eigentlich zum ersten Mal richtig verstanden, was unter Charisma zu verstehen ist. MIKULÄS:

ALICE: Dabei war er kein großer Redner. Er hat die Dinge so gesagt, als wenn man mit ihm in einem Zimmer zusammensitzt. Plötzlich hat da niemand mehr von einer Tribüne gedonnert. Und das haben die Leute gerne gesehen: Endlich ist da jemand, der spricht zu uns und nicht von oben auf uns herunter. Es fällt mir noch eine Erfahrung aus der Universität und der Partei ein. Ich meine die so genannten „Strahover Ereignisse", die eigentlich zur Vorgeschichte des Prager Frühlings gehören. Das Prämonstratenserkloster auf dem Strahovhügel über der Moldau ist eine der großartigen Sehenswürdigkeiten Prags. In einem Teil des großen Klosterkomplexes war, wahrscheinlich wegen der schönen alten Klosterbibliotheken, das Archiv der tschechischen Literatur untergebracht. Die Strahover Ereignisse Ende Oktober 1967 beziehen sich allerdings nicht auf das Kloster, sondern auf die damals neu gebauten Studentenheime auf dem Strahovhügel. Die Studenten beschwerten sich schon monatelang über Stromsperrungen. Schließlich kam es zu einer Protestbewegung der Studenten mit brennenden Kerzen in der Hand - sie waren ja oft auf Kerzenlicht angewiesen. Die Polizei schlug brutal zu und brach sogar in die Heime ein, wo auch Studen154

ten, die an dem Zug nicht teilgenommen hatten, misshandelt wurden. Dieses Vorgehen der Sicherheitsbehörde erregte in Hochschulkreisen starkes Missfallen. Es trafen sich auch AltKommunisten, also solche, die bereits vor 1945 Mitglieder der Partei gewesen waren, zu einer Beratung unter dem Vorsitz des inzwischen völlig rehabilitierten Eduard Goldstücker. Er war Mitglied der kommunistischen Studentenfraktion in den 1930er Jahren gewesen, später dann - nach seiner Rehabilitierung - Professor für Germanistik an der KarlsUniversität sowie einer ihrer Vizerektoren und nicht zufällig neuer Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Nicht nur deswegen hatte er die nötige politische und akademische Autorität. Das Ergebnis der Beratung war, die Parteiführung vor übereilten radikalen Maßnahmen gegen Studenten eingehend zu warnen. Von Goldstücker sagte man, dass er einer der Väter der Reform gewesen sei. Jedenfalls ist wahr, was wir gehört haben: Im Februar 1968 waren wir Ski fahren, und auf der Skihütte haben wir ein Interview mit ihm im Radio gehört. Dort hat er „einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz" verlangt. Er hat diesen berühmten Satz erstmals ausgesprochen. Dies ist in Moskau sehr schlecht angekommen, denn dort hat man es - zu Recht - als eine Kritik am sowjetischen Sozialismus ausgelegt. Ich erinnere mich übrigens an ein Treffen Anfang 1946 in London, wo Goldstücker als Mitglied einer tschechoslowakischen Delegation an Besprechungen zwischen der Londoner und Prager Regierung teilgenommen hatte. Er lud mich zu einem Abendessen ein, wobei ich ihm die Frage stellte: „Wann wirst du deinen Namen slowakisieren?" Nach 1945 hatte es nämlich in der Tschechoslowakei eine Welle gegeben, dass Menschen mit einem deutschen, ungarischen, jüdisch-deutschen oder jüdisch-ungarischen Namen diesen tschechisierten oder slowakisierten. Goldstückers Antwort lautete: „Wenn (der Generalsekretär der Partei) Gottwald seinen Namen ändert." Damit waren meine eigenen Bedenken völlig zerstreut. Teich blieb Teich! Gelegentlich berichtete ich aus London im Zentralblatt der Partei unter dem MIKULÄS:

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Pseudonym Mikuläs Teplansky. So hieß ein Teil meiner Verwandtschaft, und das Dorf, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte, hieß ja Liptovskä Teplä. Alice hat erwähnt, dass Goldstücker völlig rehabilitiert worden war. Dazu möchte ich etwas ergänzen. Die Rehabilitierungen der in den 1950er Jahren unschuldig Verurteilten waren nur zaghaft und schrittweise geschehen. Nehmen wir den Fall des Ehepaars Charlotte und Gejza Pavlik, das ich schon als Kind kannte. Er war in Ruzomberok, wo er sich in den 1920er Jahren niedergelassen hatte, als Rechtsanwalt tätig gewesen. Sein Jurastudium hatte er knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Budapest begonnen, wo er sich auch einer linken Studentengruppe angeschlossen hatte. Er musste einrücken, kam an die Ostfront und geriet in russische Gefangenschaft. Er schloss sich der Roten Armee an und engagierte sich 1919 in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik. Während des Zweiten Weltkriegs weilte das Ehepaar Pavlik erst in Frankreich und dann in der Schweiz. Nach 1945 bekleidete Pavlik zuerst das Amt des Sekretärs der Fraktion der slowakischen kommunistischen Abgeordneten im Prager Parlament. 1949 wurde er zum Generaldirektor des tschechoslowakischen Reisebüros Cedok ernannt. Die Pavliks gehörten zu den frühesten Opfern der unter aktiver Beteiligung sowjetischer „Berater" inszenierten politischen Prozesse. Zunächst wurden die beiden Ende Mai 1949 auf Betreiben des ungarischen Parteiführers Mätyäs Räkosi verhaftet und nach Budapest gebracht. Dort bereitete man gerade den gleichfalls inszenierten Prozess gegen den „ungarischen Tito", den Spanienveteran und früheren Innen* und Außenminister Läszlo Rajk, vor. In diesem Zusammenhang wurde Pavlik der Mitgliedschaft einer illegalen ungarischen trotzkistischen Gruppe bezichtigt und als „eingefleischter Trotzkist" den tschechoslowakischen Sicherheitsbehörden wieder übergeben. Dreizehn Monate nach ihrer Verhaftung wurden in einem nicht-öffentlichen Prozess in Prag Gejza zu fünfzehn Jahren und Charlotte zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Charlotte wurde 1955, Gejza 1956 amnestiert. Von der Freilassung bzw. Amnestie bis zur rechtlichen Rehabilitierung war es allerdings noch ein langer Weg. Da156

her waren die beiden zuerst auf die Hilfsbereitschaft ihrer Familien bzw. Freunde angewiesen. Die Pavliks waren kinderlos, und Charlotte wohnte einige Zeit bei Gejzas Schwester in Bratislava und auch bei uns in Prag. Freunde spendeten monatlich gewisse Summen, die ich einsammelte und Charlotte übergab. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange diese Überbrückungshilfe andauerte. Obzwar wir sehr eng befreundet waren, hat Gejza niemals und Charlotte nur ganz, ganz wenig über die Gefängnisjahre erzählt. Ihren Jugendidealen sind sie treu geblieben. Bis 1963, so glaube ich, wurden die noch lebenden Opfer der politischen Prozesse völlig rehabilitiert. Was die Hingerichteten betrifft - im Slänsky-Schauprozess waren es elf von vierzehn Angeklagten - , weiß ich nichts Genaueres. Jedenfalls wurde 1963 der Hauptangeklagte, der frühere Generalsekretär Rudolf Slänsky, zwar rechtlich, aber nicht politisch rehabilitiert. Das geschah erst 1968 während des Prager Frühlings. Es war einer der Motoren der Reformbewegung, die Wahrheit über die gesetzeswidrige Ausübung der politischen Gewalt zu erfahren und diese in die Öffentlichkeit zu bringen. Die Parteiführung unter Novotny hatte eine klare Stellungnahme zur Entartung der humanistischen sozialistischen Visionen gebremst. Die Antwort auf die Frage, warum der Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Tschechoslowakei so verlaufen ist, wie er verlaufen ist, steht noch bevor. G. D.: Warum ist es gerade in der Tschechoslowakei - im Gegensatz zu anderen sozialistischen Staaten - zu einer solchen Reformbewegung auch innerhalb der Kommunistischen Partei gekommen? Gab es spezifische Bedingungen in der Tschechoslowakei? MlKULÄS: Das ist eine sehr wichtige Frage. Unsere Erklärung deuten wir ja im Schlusswort der Festschrift für Michael Mitterauer an, die Sie bereits zitiert haben. 21 Wir 21 Teichova, Alice / Mikulää Teich: Zwischen der kleinen und großen Welt: ein gemeinsamer Weg, 470. In: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien (Hg.): Wiener Wege der Sozialgeschichte. Themen - Perspektiven - Vermittlungen. Wien u. a. 1997, 461-472.

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glaubten, dass in der Tschechoslowakei die Voraussetzungen für eine demokratische sozialistische Entwicklung historisch gegeben waren. Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der demokratischen Republik in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 die Kommunisten eine bedeutende politische Rolle gespielt haben. Innerhalb der bürgerlichdemokratischen Tschechoslowakei war die Kommunistische Partei immer schon eine Massenpartei gewesen - ganz im Gegensatz zu vielen anderen Staaten, wo die Kommunistische Partei nie so einen Zulauf gehabt hatte. Ich bin ja keine Tschechin, und daher war es für mich immer sehr beeindruckend, dass die Tschechoslowakei in den 1930er Jahren das einzige demokratische System in Mitteleuropa hatte, das von außen zerstört worden ist. Alle anderen Staaten hatten die Demokratie mit eigenen undemokratischen Regierungsformen ersetzt. Das ist für mich sehr wichtig - und man kann dieses Phänomen wahrscheinlich nur mit historisch-politischen und kulturphilosophischen Forschungen erklären und klären. ALICE:

G. D.: Das würde heißen, dass sich bei den Tschechen über viele Jahrzehnte hinweg so etwas wie eine kollektive demokratische Mentalität herausentwickelt hat, was dann ivomöglich in den 1960er Jahren in dem gegebenen sozialistischen System in der Tschechoslowakei dazu führte, dass sehr viele Menschen in der Tschechoslowakei ein demokratisches sozialistisches System mitgestalten wollten.

könnte man es sagen. Wir haben ja gesehen, wie es innerhalb der Partei war, wie von unten eine Bewegung entstanden ist, um das sozialistische System zu reformieren und zu demokratisieren. Das waren ja anderthalb Millionen Mitglieder innerhalb der Partei, eine Riesenpartei, und da steckte eine Menge demokratisches Potenzial drinnen; nicht jeder war ein harter Kommunist. Für uns beide ist der Prager Frühling wirklich eine ganz große Erfahrung. ALICE: SO

Ich will das auch nicht alles verschönern. Aber man sollte die 1960er Jahre in der Tschechoslowakei als ein historisches Phänomen zur Kenntnis nehmen und sich damit auseinander setzen. Das machen die Historiker bis heuMIKULÄS:

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te nicht. Bei einem Wiener Verleger, Hannes Hofbauer, wollte ich einmal ein Buch über 1968 machen. Dafür habe ich mich mit Leuten in Prag in Verbindung gesetzt, von denen man gesagt hat, dass sie Experten für 1968 seien. Aber das war dann eine Katastrophe. Der Mann, der mir empfohlen wurde, wollte sich nur mit zwei Dingen befassen: Erstens mit den Graffitis gegen die Sowjets, und zweitens wollte er zeigen, dass diese Reformbewegung in Wirklichkeit nur ein Manöver gewesen sei, das alte System zu retten. Darauf bin ich nicht eingegangen, weil ich zum einen meine, dass die Graffitis nicht so wichtig sind, zum anderen weil meiner Ansicht nach die Reformbewegung und der Prager Frühling ein ganz großer Versuch waren, die Karawane weiterzubringen. Er hat seinen Stellenwert in der Geschichte und Praxis der sozialistischen Bewegung. Mit dem Buch habe ich dann nicht mehr weitergemacht. Übrigens, mit Hannes Hofbauer und seiner Frau Andrea Komlosy, die Wirtschaftshistorikerin ist, führen wir ihren Worten zufolge „spannende Debatten über einen Ausweg aus dem Kapitalismus". G. D.: „Eine muss ja den Kopf hinhalten", haben Sie, Alice, vorhin erzählt, als es darum ging, dass Sie Parteivorsitzende der Fakultät wurden. Hatten Sie da, nämlich Anfang 1968, schon die Befürchtung, dass die Reformbewegung von außen niedergeschlagen werden kann ? ALICE: Nein! Für uns ist es Anfang 1968 noch unvorstellbar gewesen, dass es zu einer militärischen Intervention seitens der Warschauer-Pakt-Staaten kommen könnte. Das war unvorstellbar! Deshalb hat man sich auch gar nicht gefragt, ob das schief gehen wird. Man hat gemeint, hier ist eine Möglichkeit, um durchzusetzen, was wir uns immer schon vorgestellt haben: einen Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz. An eine Niederschlagung mit Waffengewalt haben wir nicht gedacht. Wir sind ja Anfang Mai beide nach Westdeutschland gefahren. Die erste Station war Trier, wo das Karl-Marx-Haus eine Ausstellung und Tagung anlässlich des 150. Geburtstags von Karl Marx veranstaltete. Ich wurde mit Mikuläs vom Direktor des Deutschen Schulbuch-Instituts in Braun159

schweig, Georg Eckert, eingeladen. Unter den Teilnehmern waren unter anderem Ernst Bloch* und Ernst Fischer*, die während des gemeinsamen Stadtrundgangs mit uns ins Gespräch gekommen sind. Sie machten sich Sorgen um die Zukunft des Reformkurses in der Tschechoslowakei, die wir irgendwie nicht wahrnehmen wollten. Zu dieser Zeit, am 8. Mai, hat ja in Moskau ein geheim gehaltenes Treffen der Parteichefs aus fünf Warschauer-PaktStaaten stattgefunden: Sowjetunion, Polen, Bulgarien, DDR und Ungarn, also zum ersten Mal ohne die Tschechoslowakei und Rumänien - ein deutliches Warnsignal. Aber an eine militärische Intervention haben damals nur wenige geglaubt. Der Ton der Kritik am Reformkurs der tschechoslowakischen Kommunisten und an der politischen Entwicklung im Lande wurde dann aber immer schärfer. Als besonders gemein hat die tschechoslowakische Öffentlichkeit Belehrungen aus der DDR empfunden. Die Öffentlichkeit reagierte unter anderem mit einer spontanen Spendenaktion Schmuck wurde gespendet, Goldmünzen und vieles mehr. Damit sollte gezeigt werden, dass man hinter dem Reformkurs steht und bereit ist, ihn materiell zu unterstützen. Schon in der Zeit des Münchener Abkommens hatte sich, als die Republik in Gefahr gewesen war, eine ähnliche Bewegung entwickelt und zu Spenden aufgerufen. MIKULÄS: Wenn wir schon über die DDR und die Tschechoslowakei in dieser Zeitspanne reden: Ich erinnere mich an eine internationale Tagung, die die Kommission für Betriebsgeschichte im späten Herbst 1966 organisiert hatte. Die Kommission, der ich angehörte, war eine Einrichtung des Kabinetts für die Geschichte der Gewerkschaften. An der Tagung nahmen Historiker aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn, der DDR und natürlich auch tschechische und slowakische Kollegen teil. In ihren Beiträgen zeichnete sich der Unterschied zwischen den freieren undogmatischen und dem dogmatischen marxistischen Zugang der DDRHistoriker ab. Die waren ziemlich entsetzt, was sie da von uns hörten. Der Prager Frühling ist nicht aus den Wolken gefallen. 160

ALICE: Ich habe auch solche Erfahrungen gemacht. Im März 1968 war im Rahmen des erwähnten Austauschs wieder eine Delegation aus Potsdam an der Pädagogischen Fakultät in Prag. An einem Abend haben wir unsere Gäste - auf ihren Wunsch - in das Bierlokal „Zum Kelch" ausgeführt. So nannte Jaroslav Hasek das Stammlokal, wo sein AntiHeld Schwejk einkehrte. MIKULÄS: Wahrscheinlich kennen Sie den „braven Soldaten Schwejk"? Seine Geschichte beginnt in dem Prager Lokal „Zum Kelch". Also wir sind beim Biertrinken - und auf einmal erklingt die Melodie aus dem Film „Doktor Schiwago"*; bereits das Buch von Boris Pasternak war ja in der Sowjetunion verboten worden. Jetzt übertreibe ich ein bisschen: Aber die Potsdamer sind blass geworden, als sie die Melodie im „Kelch" gehört haben. ALICE: Ja, die haben gedacht. „Das ist das Ende. Wie können die Prager es wagen, so eine Melodie zu spielen . . . " MIKULÄS: Nein, wie kann es nur möglich sein, dass hier diese Melodie aus diesem Film erklingt? Da sind sie ganz baff gewesen. ALICE: Aber dann ist mit der Invasion alles jäh zusammengebrochen.

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Niederschlagung und Ende des Prager Frühlings G. D.: Im Juli 1968 wurde die Kritik an der angeblichen tschechoslowakischen „Konterrevolution", wie es der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Breschnew nannte, immer lauter, die Drohungen seitens der Sowjetunion und ihrer Verbündeten immer unverhohlener. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 begann schließlich die Invasion der Truppen des Warschauer Pakts in Prag. Mit Ausnahme Rumäniens haben sich alle Verbündeten der Sowjetunion - und somit auch die DDR - an der Niederschlagung des Prager Frühlings beteiligt. Wie habt ihr diesen Tag der Invasion erlebt?

Wir werden dir das Schritt für Schritt erzählen. Wir sind ja sofort nach der Invasion im August 1968 weggefahren. Aber das hat eine Vorgeschichte. Dass wir abgereist sind, das hängt weniger mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen zusammen - sondern mit Mikuläs. Dass wir dann nicht mehr nach Prag zurückgekehrt sind, hat aber sehr wohl etwas mit der Invasion zu tun. ALICE:

Die Vorgeschichte ist folgende: Im Herbst 1967 war ich vom Historischen Institut gefragt worden, ob ich Interesse hätte, ein Jahr in den Vereinigten Staaten zu verbringen. Ich war völlig überrascht. Als ich nach Hause kam und Alice sagte, dass ich vorgeschlagen worden wäre, fing sie laut zu lachen an. Warum ist es erstens zu diesem Vorschlag gekommen, und warum fing zweitens Alice zu lachen an? Erstens: Es gab eine Vereinbarung, die die Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften mit der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften hatte: Mitarbeiter der Akademie in Prag konnten zu Forschungsaufenthalten zu je einem Jahr in die USA reisen. Das war auch bereits ein Zeichen der Öffnung in den 1960er Jahren gewesen. Nun war wohl das Historische Institut der Akademie, an dem ja auch

MIKULÄS:

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ich war, an der Reihe gewesen, jemanden zu nominieren. Und das Institut hat dann gemeint, dass ich gehen soll. Und zweitens: Alice hat gelacht, weil sie geglaubt hat, dass ich vom Präsidium der Akademie der Wissenschaften, das den Aufenthalt bestätigen musste, nie akzeptiert werden würde. Der Präsident der Akademie hatte seit langem eine Abneigung gegen mich empfunden. Wir hatten uns schon 1947 kennen gelernt - wir waren beide Mitglieder einer konsultativen Kommission für wissenschaftliche Forschung beim Zentralkomitee der Partei. Die Abneigung hatte vielleicht damit zu tun, dass ich in seinen Augen ein Uberläufer geworden bin. Denn ich habe die Geschichtswissenschaft also eine „weiche" Wissenschaft - der Chemie - einer „harten" Wissenschaft" - vorgezogen. Er war von Haus aus ein organischer Chemiker. Aber zu meiner Überraschung hat das Präsidium der Akademie den Antrag mit dem Zusatz gebilligt, dass Alice mich begleiten sollte. ALICE: Ich war damals Dozentin und Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte an der Pädagogischen Fakultät, und die Universitäten unterstanden dem Ministerium für Hochschulwesen. Dort musste ich um ein Jahr Freistellung ansuchen. Dem Gesuch wurde ohne weiteres entsprochen. Ich konnte also Mikuläs begleiten, ebenso ein Jahr in den USA verbringen, um dort meine Studien zu betreiben. Mikuläs konnte sich übrigens die Orte, also die wissenschaftlichen Institute, aussuchen, an denen er arbeiten wollte. MIKULÄS: Ich hatte die Möglichkeit, die ganze Zeit zu reisen - oder mich an nur einer Universität niederzulassen; es war mir vollkommen freigestellt. Ich habe mich dann für drei Universitäten entschieden, also meinen Aufenthalt in drei Phasen aufzuteilen: die erste an der Yale University in New Häven, die zweite an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts), die dritte an der University of Wisconsin in Madison. Der Plan war, dass wir auf dem Weg nach Amerika, wo wir im September 1968 zu Beginn des akademischen Jahres ankommen wollten, zunächst Ende August einen Zwischenstopp in Paris machen; denn dort tagte der Internationale Kongress für Wissenschaftsgeschichte, der alle vier Jahre stattfand. Und dann war zufällig 164

und kurz darauf der alle drei Jahre stattfindende Internationale Kongress für Wirtschaftsgeschichte, diesmal in Bloomington in den USA. Alice und ich hatten beide Beiträge: ich in Paris und Alice in Bloomington, wo ich auch in der technisch-historischen Sektion mitwirken sollte. Wir wollten also Ende August zuerst nach Paris, dann nach Bloomington und schließlich nach New Häven. Am 23. August 1968 wollten wir von Prag aus mit dem Flugzeug in Richtung Paris fliegen. Das war der Plan, schon lange vorher. Bevor wir nun das amerikanische Visum bekommen konnten, mussten wir noch zu einem Gespräch in die amerikanische Botschaft. Dort haben wir den Kulturattache getroffen, der mit uns ein Interview geführt hat. Denn man musste im Fragebogen die Rubrik, ob man Mitglied der Kommunistischen Partei ist oder nicht, ausfüllen. Wir waren beraten worden, dass wir diese Frage weder mit nein noch mit ja beantworten sollen. So hatte der Kulturattache den Fragebogen vor sich, er stellte die berüchtigte Frage, und schließlich - ohne wirklich eine Antwort abzuwarten bemerkte er nur: „Sie wissen, dass wir uns, wenn Sie das nicht beantworten wollen, unsere eigene Interpretation machen werden." Aber das Visum haben wir trotzdem bekommen. Zehn Jahre später, als ich wieder zu einer Konferenz in die USA wollte, hat sich diese Situation übrigens wiederholt: mit der amerikanischen Botschaft in England. Auch diesmal habe ich die entsprechende Frage nicht beantwortet - und man hat mir das Visum verweigert. Darauf habe ich mich brieflich an den Botschafter gewandt. Er war zum Zeitpunkt, als wir in New Häven gewesen waren, der Präsident der Yale University gewesen. Ich habe ihm also einen Brief geschrieben: „Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern, meine Frau und ich waren als Gastwissenschaftler in New Häven, als sie dort Präsident waren. Sie haben uns mit anderen zu einer Willkommensparty eingeladen." Daraufhin hat er wohl eine Instruktion gegeben, denn der Botschaftssekretär hat mich zu einem Gespräch eingeladen. Ich bin dann von ihm empfangen worden. Als sich herausstellte, dass ich nicht bereit bin, die Frage zu beantworten, sagte er nur: „Gut, ich gebe Ihnen das Visum." Er hat kapituliert, 165

aber nur scheinbar. Auf einmal hat er sich erhoben, und durch einen vertraulichen Ton wollte er zum Ziel kommen: „Aber jetzt, sozusagen unter uns, sind Sie ein Kommunist oder sind Sie es nicht?" Dann habe ich gesagt: „Herr Botschaftssekretär, das geht Sie überhaupt nichts an!" Wir haben die Frage im Jahre 1968 nicht beantwortet, ich habe es zehn Jahre später nicht getan - und Alice auch nicht im Jahre 1980. Sie nahm damals die Einladung des angesehenen Woodrow Wilson International Center for Scholars an, ein Studienjahr in Washington zu verbringen. Wir haben gedacht, dass unsere politischen Ansichten die Behörden nichts angehen. Da fällt mir eine Bemerkung meines Vaters ein: „Konsequent ist nur ein Ochs!" Wen hat er damit wohl gemeint? Aber jetzt wieder zurück ins Jahr 1968 und nach Prag, es ist der 19. August. ALICE: Ich hatte schon eine Flugkarte von den Organisatoren des Internationalen Kongresses für Wirtschaftsgeschichte bekommen. Gerade hatte ich mein Manuskript über internationale Investitionen in der Tschechoslowakei abgeschlossen - ein Buch, an dem ich sehr lange gearbeitet hatte. Das Manuskript habe ich an diesem 19. August 1968 in Prag in den Verlag der Akademie der Wissenschaften gebracht am Vorabend der Invasion. Vorher hatte ich mir gedacht: Wir fahren für ein Jahr nach Amerika, da ist es gut, wenn das Manuskript fertig und weg ist; dann wird es inzwischen herausgegeben, und wir kommen dann zurück. Das Buch ist aber dann in Prag zunächst nicht herausgekommen. In England habe ich es übersetzt und erweitert, und es ist 1974 publiziert worden 22 - in Prag erst nach 1989. Am selben Tag, also am 19. August, hat die tschechoslowakische Bahn unsere Kiste für Amerika abgeholt. Dort hatten wir Wintersachen eingepackt, und diese Kiste war nach New Häven adressiert. So waren wir überzeugt, dass wir fahren werden. MIKULÄS: Ich hatte bereits vorher meine Papiere beim Präsidium der Akademie, bei der Kaderabteilung, abzuholen gehabt. Das hätte ich auch getan, aber an der Flugkarte habe 22 Teichova, Alice: An economic background to Munich International business and Czechoslovakia 1918-1938. Cambridge 1974.

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ich irgendetwas beanstandet; was genau das war, weiß ich nicht mehr. Zumindest musste ich das Ticket - und damit auch meinen Pass - später noch einmal abholen. Am Nachmittag des 20. Augusts bin ich zu einer Sitzung im Historischen Institut gegangen. Warum der 20.? Am 5. und am 20. eines jeden Monats wurde das Gehalt ausbezahlt - in bar. Und daher war auch an jedem 20. eines Monats in unserem Institut Parteisitzung. An dieser Parteisitzung im August 1968, also in einem Ferienmonat, nahmen zirka zwanzig Mitglieder teil. Unter ihnen Karel Bartosek, der in seiner Jugend ein feuerfressender Kommunist geworden war. Nach seiner Übersiedlung nach Frankreich in den 1970er Jahren hat sich seine politische Gesinnung radikal gewandelt. Noch vor seinem Tode hat er mit einem Aufsatz über die Tschechoslowakei beim Schwarzbuch über den Kommunismus mitgewirkt. 23 Ich kenne den Beitrag nicht, aber seine ehemaligen Freunde, die heute dem Kommunismus auch nicht zugetan sind, haben Vorbehalte. Wie dem auch sei, ich erinnere mich, wie Bartosek während der Sitzung auf seine Uhr schaut und sagt: „Jetzt entscheidet es sich, ob und wann wir besetzt werden." Ich frage mich, wieso Bartosek in den Nachmittagsstunden des 20. Augusts so deutlich sprechen konnte. Zur selben Zeit war die Sitzung des Parteipräsidiums im Gange, Bartosek war gut informiert: Vielleicht meinte er, dass die militärische Option der Fünferkoalition bevorstehen würde. Heute wissen wir, dass dem nicht so war. In der Tat fühlte sich Dubiek vollständig überrumpelt, als er knapp vor Mitternacht von der Überschreitung der Landesgrenzen erfuhr. Weder er noch ein Teil der Partei- und Regierungsführung, noch die Mehrheit der Tschechen und Slowaken wollte oder konnte sich einen Truppeneinmarsch vorstellen. Der Kreis der tschechischen und slowakischen Eingeweihten in die Interventionsplanung war verschwindend klein. 23 Courtois, Stéphane / Werth, Nicolas / Panne, Jean L. / Paczkowski, Andrzej / Bartoèek, Karel / Margolin, Jean L.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München 1998.

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Wie auch immer: Mit Bartoseks Einschätzung der Lage bin ich nach Hause gekommen, und uns wurde langsam klar, dass es wirklich brenzlig wird. ALICE: Das tschechoslowakische Radio hat schon nach Mitternacht mitgeteilt, dass der Einmarsch stattgefunden hat. Um fünf Uhr in der Früh haben wir es gehört. Unsere Kinder waren im Ausland: Petya war bei Freunden in England. Eva war, weil sie Deutsch studierte, in der sozialdemokratischen Jugendherberge Sonnenberg in Westdeutschland, wo sie in der Küche half, aber zugleich Deutsch lernte. Ungefähr um sieben Uhr in der Früh hat Eva aus Deutschland angerufen und weinend gesagt: „Ist es wahr, dass die Russen da sind?" Sie hat nicht gesagt: „die Truppen des Warschauer Paktes". Und ich habe geantwortet: „Ja, ja. Ich schaue jetzt beim Fenster heraus, und sie machen sich gerade das Frühstück" - an einer Eisenbahnstrecke, die sie besetzt hatten. Sie haben dort ihre Frühstückskanonen gehabt, in denen sie Wasser gekocht und sich das Frühstück gemacht haben. Sie hatten alles besetzt: alle Brücken, alle Eisenbahnlinien, alle Kreuzungen, alle Straßen. Und wie ging es jetzt mit uns weiter? Ich hatte zwar meinen Pass und meine Flugkarte, aber natürlich waren alle Flughäfen besetzt und gesperrt. Ich hatte Eva nur noch gesagt: „Bitte, kommt nach Paris, wir werden versuchen, euch dort zu treffen!" Und dann war die Telefonverbindung zwischen uns auch schon unterbrochen und war nicht mehr zu bekommen. MIKULÄS: Die Sache war so: Die Straßenbahnlinien haben nicht mehr funktioniert. Also bin ich zu Fuß gegangen, in Richtung Innenstadt, der Moldau entlang - nämlich ins Präsidium der Akademie. Dort, in der Kaderabteilung, fragte ich nach meiner Flugkarte und meinem Pass. Ich wurde informiert, dass sich beide im internationalen Reisebüro Cedok befinden. Man war überzeugt, dass sie nicht zugänglich sind und ich die Reise vergessen kann. Eine Angestellte der Kaderabteilung, die mich flüchtig kannte, bediente sich dabei dramatischer Worte. Ich verzichte hier auf eine Wiederholung. Trotz alldem habe ich mich entschlossen, herauszufinden, ob bei dem Reisebüro Betrieb herrscht oder ob man ihn 168

eingestellt hat. Cedok, das es noch heute gibt, war in einem großen Gebäude mit zwei Eingängen untergebracht. Der Haupteingang vom Graben (Na prikopZ) her war zu. Aber ich habe gesehen, dass Menschen an der Seite hereingehen. Das war der Eingang für die Angestellten. So bin ich dort hereinspaziert, und als ich drinnen war, ist nichts passiert. Der Mann an der Tür hatte geglaubt, ich sei angestellt. Er hatte mich gar nicht erst gefragt - und ich war drinnen. Jetzt habe ich irgendwie eruiert, dass die Abteilung, die ich suchte, im dritten Stock war. Dort bin ich hinauf und habe mich vor die entsprechende Tür gestellt. Auf einmal kommt ein Mann heraus, fragt mich, was ich wolle und warum ich da sei. Ich erklärte also: „Ich bin aus der Akademie und ich habe den Pass und eine Flugkarte bei Ihnen." Darauf er: „Warten Sie ein wenig!" Er ist hinein, dann ist er wieder herausgekommen und sagt: „Kommen Sie herein!" Er hatte den Pass und die Flugkarte schon vorbereitet - fertig zum Abholen! Fertig zum Abflug! Ich bin wieder herausspaziert, habe Alice angerufen, aber jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich ... Also heimgekommen bist du! Du bist dann zu Fuß nach Hause gegangen. ALICE:

Ja, aber wie das gegangen ist, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass, nachdem ich das Cedok-Gebäude verlassen hatte, zugesperrt wurde. Aber man war noch in Verbindung mit Kollegen. Unser Historisches Institut war in einem Seitenflügel der Prager Burg, am Hradschin, untergebracht. Das war auch von den Invasoren besetzt, Wir haben dann am 22. August ein Treffen des Instituts in dem Haus eines Kollegen arrangiert. Verschiedenes wurde besprochen und auch die Frage, ob wir wegfliegen können. Wir wollten ja am 23. August fliegen, aber, wie gesagt, die Flughäfen waren besetzt. Wir haben dann erfahren, dass am 23. August Eisenbahnverbindungen mit Westdeutschland aufgenommen würden. MIKULÄS:

ALICE: In Prag hat zu dieser Zeit noch ein großer internationaler geologischer Kongress stattgefunden. Die ausländischen Geologen sind nun festgesessen, und sie mussten irgendwie weg. Das waren Leute aus der ganzen Welt, die

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nun aus Prag wegwollten. Es gab nun die Möglichkeit, per Bahn auszureisen. Hast du die Fahrkarte für die Bahn gekauft oder ich, wie war das dann? MIKULÄS: Wir sind am Abend des 23. Augusts mit zwei Koffern, mit meinem Wintermantel und mit deinem Wintermantel zur Tramway gegangen und dann zum Hauptbahnhof gefahren. Aber am Hauptbahnhof war überhaupt nichts los. Denn der Hauptbahnhof war zu. Wir haben zwar dort noch die Fahrkarten kaufen können, aber Züge sind nicht mehr gefahren. So sind wir zunächst einmal wieder nach Hause zurückgefahren. Am nächsten Tag, am 24. August, das war ein Samstag, haben wir es aufs Neue versucht, wir wollten wieder zum Hauptbahnhof. Aber uns wurde gesagt, dass Züge nach Westdeutschland vom Bahnhof Smichov abfahren. Smichov ist ein südwestlicher Teil Prags am linken Moldauufer. Wir haben ein Taxi genommen. Der Taxifahrer meinte: „Ihr werdet wahrscheinlich Glück haben, weil die Russen machen Mittag und damit Pause." Und es war Mittag. „Sie werden nicht kontrollieren." Die Sowjets hielten ja alle Brücken besetzt, sie kontrollierten alle Leute. Man wurde auch aus den Taxis oder aus anderen Autos herausgeholt. Aber der Taxifahrer hatte Recht gehabt, wir sind ohne Kontrolle durchgekommen. Die Sowjets waren beim Mittagessen, wir haben die Brücken überquert, sie haben uns nicht gestoppt, und so sind wir zum Bahnhof Smichov gekommen. Auch die Ausländer, die am geologischen Kongress teilgenommen hatten, sind nach Smichov geschickt worden. Wir sind also eingestiegen und sind bis zur tschechoslowakisch-westdeutschen Grenze gefahren. Dort war eine Kontrolle, aber keine sowjetische. Die sowjetische Kontrolle war zunächst nur auf der Straße: bei den Autos und Autobussen, aber noch nicht in den Zügen. So kam dann die heimische Kontrolle. Wir hatten zwar ein Ausreisevisum, aber wir mussten aussteigen, alle Tschechen und Slowaken mussten mit ihrem Gepäck aussteigen. Wir sind alle am Bahnsteig gestanden, um sich die Ausreisevisa bestätigen zu lassen. Die Kontrolleure haben telefoniert und telefoniert, um zu prüfen, ob die Visa echt sind oder gefälscht. Unser Ausreise170

visum ist dann auch bestätigt worden, mir hat dann einer dieser Sicherheitsbeamten gewunken, dass ich einsteigen soll. ALICE: Ja, „schnell, schnell einsteigen", denn der Zug hatte schon begonnen zu fahren. Wir haben die Koffer reingeschmissen und sind noch in den Zug hineingekommen. Vom Zug aus hat man schon die russische Kontrolle auf der Straße gesehen, und dann sind wir über die Grenze nach Westdeutschland gefahren, quasi in letzter Sekunde. Denn wenn die Russen da auch schon in der Bahn kontrolliert hätten, wäre es aus gewesen. Die haben auch keinen mit Ausreisevisum mehr durchgelassen. So sind wir dann nach Nürnberg gekommen. Wir haben eine Nacht in einem Hotel verbracht, obwohl wir nur sehr wenig Geld hatten. Und dann haben wir mit der Fluggesellschaft verhandelt, dass man uns die Tickets der tschechoslowakischen Fluglinie anerkennt. Das ist auch geschehen. Wir mussten noch etwas auf dem Flugplatz warten, aber am späten Sonntagnachmittag, das war der 25. August, sind wir tatsächlich in Paris angekommen. Und dort haben wir unsere Kinder getroffen. Eva war ohne Visum nach einer fast ebenso abenteuerlichen Reise am Sonntag zu Mittag in Paris angekommen; und Petya war unkompliziert von London angereist. Wir haben dann die Entscheidung gefällt, dass wir trotz allem weiter nach Amerika fliegen und Eva und Petya sich nach Großbritannien begeben, wo mein Bruder und auch der Bruder von Mikuläs lebten. G. D.: Ihr seid auch nach einem Jahr USA dann nicht mehr nach Prag zurückgekehrt. War das für euch damals, also im August 1968, schon klar? MIKULÄS: Für mich ja. ALICE: Für ihn ja, für mich nicht. Ich habe gedacht, die Sowjets werden wieder weggehen. Wie erwähnt, bei unserer Abreise aus Prag hatten wir die Koffer in der Hand, sind von dem Hügel, auf dem unser Haus war, die zehn bis fünfzehn Minuten zur Straßenbahn gegangen. MIKULÄS: Und da habe ich zur Alice gesagt: „Diesen Weg gehen wir jetzt zum letzten Mal." 171

ALICE: Und ich habe widersprochen: „Nein, nein, die Sowjets gehen wieder weg." Ich hatte keine Illusionen mehr. Die Sowjets hatten alles lange geplant gehabt. Die Invasion war bis ins Detail geplant gewesen. Alles war sofort besetzt und unter Kontrolle gebracht worden. MIKULÄS:

ALICE: Aber kannst du dich noch erinnern, wie die Prager in den Straßen mit den Russen diskutiert haben, sie versuchten, die Russen zu überzeugen? Russisch hatte man in der Schule ja gelernt. Die Soldaten waren überrascht über diese Reaktionen. Bevor wir aus Prag weg sind, hatten wir noch den Generalstreik miterlebt: Eine Stunde war in der Stadt und im ganzen Land alles lahm gelegt. Die Sirenen sind gegangen. Und die Leute haben Schilder mit Hausnummern und Straßennamen abmontiert, damit die Okkupanten nicht wissen, wer wo ist. Man hat keine Auskünfte gegeben, wer wo wohnt. Und die Radiostation, die gesperrt worden war, sendete geheim weiter. Da war ein ganz enges Zusammenhalten. Nach ein oder zwei Jahren hat sich das natürlich aufgelöst. Aber es hat noch ziemlich lange gedauert, zumindest einige Monate, bis dann Dubcek durch den moskautreuen Gustav Husäk* als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei abgelöst wurde. MIKULÄS: Aber wie gesagt: Alice hatte es zunächst noch nicht glauben wollen. Aber für mich war die Invasion das Ende des Schluckens oder der Entschuldigung der Verzerrungen der sozialistischen Vision. Das war ein Ende. Ich habe sie auch in der marxistischen Terminologie als ein gegenrevolutionäres Ereignis charakterisiert: Die Sowjetunion hat sich hier wie ein Konterrevolutionär verhalten. Und ich habe schon im Herbst 1968 geahnt, dass die Niederschlagung des Prager Frühlings uns in ein Dilemma stürzen wird. Die Parteimitgliedschaft hatte nämlich nun zur Voraussetzung, dass man die „brüderliche Hilfe" der Länder des Warschauer Pakts ausdrücklich bejahte. Obzwar wir uns im Ausland befanden - die Entscheidung nicht zurückzukommen, war sicherlich keine leichte, aber sie musste fallen. Und auch unsere Kinder waren dafür, dass wir draußen bleiben.

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ALICE: Mikuläs hat die Sachen viel rationaler gesehen. Ich bin mehr emotional. Vielleicht bin ich auch naiv gewesen. Ich hatte zunächst noch gedacht, dass das sozialistische Lager eine solche Invasion in ein verbündetes Land als eine unzulässige Einmischung bezeichnen würde, dass man das analysieren und sagen würde: „Hier haben wir einen Fehler gemacht!" Das war naiv und lächerlich, alles sah so unwirklich aus. Mikuläs dagegen hat das ganz scharf gesehen. Aber mir ist allmählich auch klar geworden, dass eine Rückkehr unmöglich ist. Unsere Prager Kollegen von der Universität und der Akademie hatten uns zunächst die Ausreise bis zum Ende des Jahres 1969 verlängert. So haben wir noch eine gewisse Zeit gehabt, um entscheiden zu können, ob wir zurückkommen oder nicht. Aber als wir sahen, dass der Reformbewegung Riegel vorgeschoben werden und dass Reformkommunisten ausgeschaltet werden, war klar, dass wir nicht zurückgehen werden. Wir hatten zu der Zeit ja noch viel Briefkontakt mit unseren Prager Kollegen. Ich war in Kontakt mit meinen Kollegen am Lehrstuhl für Geschichte an der Pädagogischen Fakultät. Der inzwischen zum amtierenden Leiter ernannte Jaroslav Pätek, mein Assistent, schrieb mir: „Komme zurück, nur auf kurze Zeit, und wir werden das richten und deine Ausreise faktisch bestätigen. Dann kannst du ja wieder zurückfahren." Da habe ich mir gedacht, dass das eigentlich gefährlich sei. Zur gleichen Zeit habe ich einen langen handgeschriebenen anonymen Brief erhalten. Ich habe den Schreiber sofort erkannt. Er war einer der Pro-Rektoren der Karls-Universität, mit dem ich viele Jahre im Fernstudium zusammengearbeitet habe. Er hat die Situation beschrieben und gemeint, dass er mich nicht beeinflussen wolle, aber er wisse ganz genau, was geschieht, nämlich die Verfolgung der Leute der Reformbewegung. Sie würden mich zwar gerne zurückhaben, aber ich solle mir das wirklich sehr gut überlegen, ob ich zurückkomme oder nicht. Dass ich im Dezember 1967 zur Parteivorsitzenden an der Fakultät gewählt worden war, würde mir sicherlich sehr schaden. Dieser Brief öffnete mir die Augen. Warum sollte dieser Mann, der mich sehr geschätzt hat, sich hinsetzen, um mir das alles zu schreiben?

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Aber eigentlich war unsere Entscheidung bereits im Herbst 1968 gefallen, als Mikuläs in New Häven den Brief eines britischen Kollegen bekommen hatte, der ihn nach Cambridge und Oxford einladen wollte. MIKULÄS: Ja, das war eine große Überraschung. Ich bekam auf einmal diesen Brief von einem sehr prominenten englischen Kollegen, Rupert Hall, den ich in Paris anlässlich des Kongresses nur flüchtig kennen gelernt hatte. In diesem Brief schrieb er: „Ihre Freunde und Kollegen haben sich Sorgen um Sie gemacht. Es gibt für Sie die Möglichkeit, ein Jahr in Cambridge und zwei Jahre in Oxford zu sein." Alice meinte: „Das müssen wir feiern!" In der Nähe unseres Apartments in New Häven war unten ein liqitor shop - also ein Verkaufsladen für Bier, Wein und Spirituosen. Wir gingen hinunter und wollten eine Flasche Wein kaufen. Aber welchen? ALICE: Wir haben nämlich kaum getrunken ... MIKULÄS: Eigentlich fast nie! Jetzt kam die Frage: „Was wollen Sie wählen?" Und so haben wir einen gewählt, den wir in den Regalen erkannt haben: „Liebfrauenmilch". ALICE: Aber der war grässlich! Damit haben wir gefeiert. Wir hatten ja keine Ahnung. MIKULÄS: Deshalb sage ich, dass ich im Trinken ein late developer, ein Spätentwickler, bin. In Cambridge habe ich es nämlich nachgeholt. Denn in den Colleges von Cambridge und Oxford misst man dem Weingenuss Wichtigkeit bei. G. D.: Einige Vertreter der tschechoslowakischen Reformbewegung und des Prager Frühlings haben, so wie ihr, das Land nach 1968 verlassen. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Erinnerung, ein gemeinsames Gedächtnis dieser 68er Emigranten und vielleicht auch jener Reformer, die in der CSSR geblieben sind? MIKULÄS: Nein! Es gibt das Problem, dass ein großer Teil dieser Intellektuellen damit aufgehört hat, an das zu glauben, was sie einmal geglaubt haben. Es hat nur einen kleinen Teil der tschechoslowakischen Emigration gegeben, der 174

sich weiterhin als sozialistische Opposition gesehen hat. Diese Gruppe wurde repräsentiert durch einen früheren prominenten tschechischen Kommunisten, nämlich durch Jiri Pelikan, der Leiter des tschechoslowakischen Fernsehsenders während des Prager Frühlings gewesen war. 24 Er hatte insgesamt eine wichtige Rolle in der Reformbewegung gespielt. Ich erwähnte es schon: Ich hatte ihn bereits in den Februartagen 1948 kennen gelernt. Er war damals als Repräsentant der tschechoslowakischen kommunistischen Universitätsstudenten aufgetreten. Er war auch im Widerstand gegen die Nazis gewesen. Pelikan ist nach der Invasion 1968 emigriert - und zwar nach Italien. In der Emigration hat er eine Zeitschrift mit dem Namen Listy gegründet, die ich bis heute beziehe - sie erscheint seit 1989 in der Tschechischen Republik. Sie war die Zeitschrift der sozialistischen Opposition, aber irgendwann ist das Wort „Sozialismus" aus dem Titel verschwunden. Ein anderer, der nach 1968 nicht aufgegeben hat, war Eduard Goldstücker, von dem wir dir vorher bereits erzählt haben. Aber sonst gab es nicht viele. Aus dem Team für die Wissenschaftlich-Technische Revolution, in dem ich vor 1968 aktiv gewesen war, sind ebenfalls einige emigriert. Einer ist Direktor des Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche in Wien geworden, ein zweiter wurde Professor für Ökonomie in Frankfurt am Main, und ein dritter ist im Osteuropa-Institut in München gelandet. Ich bin ihnen auch wieder begegnet, aber sie wollten nichts mehr von einem reformierten Sozialismus wissen. Offensichtlich sind sie zur Ansicht gekommen, dass Sozialismus nicht funktioniert. Und ich bin auch in Kontakt mit einigen Kollegen meines Akademieinstituts in Prag geblieben. Eine Kollegin ist eine überzeugte Kommunistin geblieben; ein anderer, der auf einer mittleren Parteiebene und auch im Institut wichtige Funktionen bekleidet hatte, hat aufgegeben, an den Sozialismus zu glauben. Ein dritter Kollege, der sehr viel über die Zeit zwischen 1945 und 1989 nachgedacht und geschrieben hat, war der Ansicht, dass die Partei und das von ihr gelenk24 Siehe: Pelikan, Jiri: Ein Frühling, der nie zu Ende geht. Erinnerungen eines Prager Kommunisten. Frankfurt am Main 1976.

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te Gesellschaftssystem einfach nicht reformierbar gewesen wäre. Die meisten, die in Prag geblieben waren, haben aufgegeben - aus den verschiedensten Gründen. Manche sind vielleicht einfach nur opportunistisch gewesen - vor und nach 1968. Grundlegend ist nach 1968 sicherlich gewesen, dass die Sowjetunion jeden Kredit verspielt hatte - und die Sowjetunion ist ja als der Repräsentant des Sozialismus weltweit angesehen worden. Mit der Invasion ist einfach wirklich für viele Menschen, die an einen Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht geglaubt und dafür auch gekämpft haben, eine Welt zusammengebrochen. G. D.: Ihr habt euch ja in der englischen Emigration 1940 in einem Klub für Emigranten kennen gelernt. Das heißt: Damals hatte es Orte für Emigrantinnen und Emigranten gegeben. Existierten solche Orte auch für tschechoslowakische Emigranten, die aktiv die Reformbewegung in den 1960er fahren getragen haben? ALICE: Wenn ich an die tschechoslowakischen Emigration denke: Es waren da ja noch welche dabei, die 1948 das Land verlassen hatten und heftig antikommunistisch waren. Die neuen Emigranten, die nach 1968 gekommen sind, wurden dann genau von diesen alten Emigranten beschuldigt, da mitgemacht zu haben. Und die meisten haben ohnehin gesagt: „Jetzt ist es aus, ich schaue, wie ich weiterkomme, und die Sache ist erledigt für mich." Das war alles sehr zersplittert. Wir selbst haben uns auch gesagt, dass wir uns im Ausland nicht mehr politisch engagieren wollen. Nichts lag uns ferner als ein Antisozialismus, und bis heute wollen wir mit ihm nichts zu tun haben. Wenn wir den Kollegen, die nach 1969 in der Tschechoslowakei verfolgt wurden, irgendwie haben helfen können, so haben wir es getan. Die Verfolgungen nach 1968 waren zwar nicht so drastisch wie in den 1950er Jahren. Aber sie waren schlimm genug. Dissidenten wurden verhört und eingesperrt. Und Intellektuelle wurden zwar nicht en masse eingesperrt, aber sie wurden beruflich abgesägt, konnten ihre Arbeit nicht mehr weitermachen und auch nicht mehr publizieren. 176

Insofern wir mit Historikern wie Arnost Klima und Milan Myska in Verbindung waren, haben wir versucht, dass sie im Ausland die Möglichkeit bekommen zu publizieren. Das ist auch gelungen. Es gab auch Kollegen, die vor 1989 Interesse daran zeigten mitzuarbeiten - aber dann haben sie kalte Füße bekommen. G. D.: Wie hat es nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit euren Vorstellungen und Hoffnungen hinsichtlich einer sozialistischen Gesellschaftsentwicklung ausgesehen? MIKULÄS: Wir haben es schon angeschnitten: Bereits um 1960 ist mir in den Sinn gekommen, dass die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung keine Frage von einigen, sondern von Hunderten Jahren ist. Auch die kapitalistische Gesellschaftsordnung hat sich nicht über Nacht entwickelt, sondern über Jahrhunderte. Und wie steht es mit den Idealen der Französischen Revolution? Sie sind nicht einmal im Mutterland in Erfüllung gegangen. Es handelt sich um langfristige historische Prozesse, und wir denken auch weiterhin darüber nach. ALICE: Viele Kollegen und Freunde wundern sich zwar, aber respektieren, dass wir auch weiterhm über Formen des Sozialismus und eine Gesellschaft, die gerechter, egalitärer und menschlicher ist, nachdenken. Wir finden das aber wichtig und werden das auch weiterhin tun.

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Neuanfang in Cambridge und Oxford G. D.: 1969 war wieder ein Neuanfang. Ihr seid - beide bereits um die fiinfzig Jahre alt - nach England gegangen, nach Cambridge, wo ihr ja bis heute lebt. ALICE: 1968 und 1969 war natürlich zunächst eine sehr schwierige Zeit. Wir mussten wieder einmal mit quasi nichts von vorn anfangen. Und Mikuläs hat später anderen Kollegen immer wieder gesagt: „Ich kann einen Ratschlag geben: Man emigriert nicht, wenn man fünfzig ist!" Aber Großbritannien war dennoch für uns so etwas wie ein Zurückkommen. Es war nicht fremd für uns. Und mein Bruder war ja in Edinburgh an der Heriot-Watt University tätig. Er wurde dort Professor für Maschinenbau. Unser Petya, der auf Urlaub in England gewesen war, ist dann zu meinem Bruder in Edinburgh und hat dort sein Bauingenieurstudium weitergeführt. Eva ist zum Bruder von Mikuläs gegangen, der in London war. Er hatte vorher siebzehn Jahre in Australien gelebt. Dort ist er zum erfolgreichen Unternehmer geworden, wobei ihm seine Juraausbildung und sein technisches Interesse zugute kamen. MIKULÄS: Ja, das war ein glücklicher Zufall für uns. Mein Bruder ist aus Australien im Jahre 1966 übersiedelt. Mit seiner Frau, die Engländerin war, und ihren zwei Kindern sind sie nach England zurückgekehrt. Er war nach dem Krieg nicht in die Tschechoslowakei gegangen, sondern nach Australien ausgewandert. Und so ist es 1968 sozusagen zu einer Arbeitsteilung gekommen: Petya war in der Obhut des Bruders von Alice, und Eva war in der Obhut meines Bruders. ALICE: Natürlich war das für uns eine Erleichterung, weil wir noch in Amerika waren, als wir das entschieden. Die Entscheidung, dass wir nicht nach Prag zurückgehen, war eigentlich schon im August 1968 in Paris gefallen. Denn die Kinder sind draußen geblieben. Auch wenn Eva im Winter 179

und Frühjahr 1969 wieder nach Prag wollte. Aber zur gleichen Zeit gab es einen Zusammenstoß zwischen Tschechen und den Sowjets in Prag - und zwar bei der EishockeyWeltmeisterschaft. Man hat randaliert, und die Polizei ist sehr brutal vorgegangen. Evas Cousin, der zunächst nicht wollte, dass sie weggeht, weil er sie sehr gern gehabt hat, rief sie zum Fernseher und meinte: „Schau dir das an! Dorthin willst du zurückgehen?" Sie ist dann nicht in die Tschechoslowakei zurückgekehrt. Für die Kinder war es in England eine Erleichterung, dass sie beide in England geboren sind - sie brauchten sich nur ihren Pass holen. Denn jeder, der in Großbritannien geboren wird, hat das Anrecht auf die britische Staatsbürgerschaft. Eva hat dann in Cambridge studiert, aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Aber bemerkenswert, wie verschiedene Dinge zusammenlaufen können! Während unseres Parisaufenthalts im Zusammenhang mit dem Internationalen Kongress für Wissenschaftsgeschichte schrieb ich einen kurzen Brief an einen mir bekannten Professor für slawische Studien in Oxford. Ich hatte ihn Anfang der 1960er Jahre in Cambridge kennen gelernt. Er hieß Robert Auty, er sprach Tschechisch und war ursprünglich ein Germanist gewesen. 1966 oder 1967 war er auch einmal bei einer Konferenz in Prag und bei uns zu Hause eingeladen. Also schicke ich ihm einen Brief aus Paris und schreibe: „Sie werden sich erinnern, wie wir in unserem Garten gesessen sind, das war schön. Jetzt sind wir in Paris, wir fahren dann nach Amerika. Unsere Tochter hat in Prag angefangen, Germanistik und Slawistik zu studieren; wir möchten gerne, dass sie ihr Studium fortsetzt. Wir möchten Sie bitten, uns zu sagen, ob es dafür eine Gelegenheit in England gibt." Ich habe auch noch geschrieben, dass sie in Prag eine gute Studentin war, und dass wir überzeugt seien, dass das mit ihr in England klappen würde. Ich wusste nicht, dass Auty die schicksalsschweren Augusttage in der Slowakei erlebt hatte. Er hat viel Zeit mit Reisen verbracht und sich sehr gerne auch in die sozialistischen Länder einladen lassen. Vor allem in den Reformjahren waren Gäste aus dem Westen in akademischen Kreisen immer MIKULÄS:

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willkommener. Die Gäste wurden bewirtet; das war für sie wiederum sehr angenehm. Mein Schreiben erreichte Auty zur selben Zeit, als er einen anderen Brief bekam. Und zwar aus Cambridge, von der Vorsteherin - der Mistress - des ältesten Frauencollege in England: des Girton College. Sie hieß Muriel Bradbrook und war eine weltberühmte Shakespeare-Expertin. Wir wussten nicht, dass sie eine spezielle Beziehung zur Tschechoslowakei hatte. Ihr Bruder hatte eine Tschechin geheiratet, die Anglistin war und 1952 an demselben Tag in Prag zum Doktor promoviert wurde wie Alice, aber sie kannten sich nicht. Auch hatte Muriel Bradbrook eine sehr gute Beziehung zu einem tschechischen Anglisten, von dem sie eine sehr hohe Meinung hatte. Und sie gehörte zu der Generation, die das Münchener Abkommen erlebt hatte und sich für München schämte. Aber das alles wussten wir damals noch nicht. Sie schrieb also Professor Auty einen Brief, dass das Girton College bereit wäre, zwei tschechische Studentinnen aufzunehmen. Dann hat er Eva vorgeschlagen! Eine von den beiden, die aufgenommen wurden, war also Eva. So ist Eva nach Cambridge gekommen. Wir haben uns dann später in Cambridge mit Muriel Bradbrook sehr befreundet. ALICE: Sie kam aus kleinen Verhältnissen, also aus der lower middle class, die eher zum Schwarz-Weiß-Kategorisieren der Welt neigt. Damit verband sich auch ein elitäres Denken. MIKULÄS: Sie hatte keine Zweifel, was right und wrong, also richtig und falsch ist. München war falsch, die Königsfamilie ist richtig. Schließlich war die Queen Mother die Patronin des Girton College. ALICE: Dasselbe war, wenn sie jemanden gerne hatte. Der Betreffende bekam dann große Unterstützung. Wenn sie allerdings jemanden nicht mochte, dann hatte es der Betreffende nicht leicht. Was uns überraschte, war, dass sie unseren Schwiegersohn, einen Karikaturisten, wegen seines Talents sehr schätzte. Seine empörenden Bemerkungen, die sie ungeheuer amüsierten, hätte sie bei anderen nicht toleriert. MIKULÄS: Jetzt komme ich dazu, was Alice elitär nennt. Als Eva ins College kam, musste jemand für sie bürgen. Das 181

machte dann unser Freund, der vielseitige und bahnbrechende Sinologe Joseph Needham. Er war Master, also der Vorsteher des Gonville and Caius College, wo ich später drei Jahre, nämlich von 1972 bis 1975, Visiting Scholar gewesen bin. Es gehörte zu den ältesten Colleges in Cambridge. Es wurde 1348 gegründet, also im selben Jahr wie das Collegium Carolinum, die Karls-Universität, in Prag. G. D.: Für was musste da gebürgt werden? ALICE: Dass Eva ein anständiger Mensch ist, dass sie aus einer guten Familie kommt, dass sie studienfähig ist - alles das! Er hat das geschrieben, obwohl er sie nie im Leben gesehen hatte. Aber er kannte uns und hatte Mikuläs sehr gerne. Es ging also nicht nur um fachliche Qualifikationen. Es ging auch um den family background. Das war für Muriel Bradbrook eine sehr wichtige Sache. Sie hat übrigens geglaubt, dass der Universalgelehrte Needham ein Genie sei. „He is a genius", pflegte sie mir zu sagen. MTKULÄS: Wenn Needham also für dieses Mädchen bürgte, dann war das für sie genug. Als sie dann später sah, dass er auch mich unterstützte, war das ein großes Plus für mich. So ist das bei ihr gegangen. Sie war eine Elitistin. Sie hat entschieden dazu beigetragen, dass Alice im College als Mitglied, also als Fellow, aufgenommen wurde. Sie hatte sicherlich einen großen Anteil daran, dass Alice später ein Ehrenmitglied, Honorary Fellow, des College wurde. ALICE: Im Girton College war es Tradition, dass zuerst die Mutter und erst nachher die Tochter aufgenommen wird. Generationen von Frauen aus einer Familie sind in diesem College gewesen. Als ich dann im College aufgenommen worden bin, war unsere Tochter ja bereits dort. Da hat man gesagt: „I know your daughter..." Sonst wurde immer gesagt: „Iknowyonr mother..." Das College war 1869 gegründet worden, und es spielte eine gewisse Rolle bei der Erkämpfung des Frauenwahlrechts. Viele Jahre waren die Mädchen von Girton ausgezeichnete Studentinnen. Das College war damit auch hoch angesehen. Es gab dreißig Männercolleges und drei Frauencolleges in Cambridge, Girton ist das älteste; ein weiteres 182

war noch vor, ein drittes nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden. Diese beiden sind bis heute reine Frauencolleges geblieben. Girton begann 1975 damit, Männer aufzunehmen. Jetzt sind etwa die Hälfte der Studenten Männer, Männer sind inzwischen auch Fellows geworden. Die Meinungen über die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung sind geteilt. Es gibt nämlich einen großen Wettbewerb zwischen den Colleges, welche Noten ihre Studenten bei den Endprüfungen bekommen. Die Prüfungen sind ja unabhängig vom College, und da nimmt Girton jetzt eher einen mittleren Rang ein. Die Colleges kümmern sich um die Einzellehre durch Tutoren; die Vorlesungen und Seminare wie auch die Prüfungen sind Universitätssache. G. D.: Wann haben sich die Männercolleges geöffnet? ALICE: Auch in den 1970er Jahren. Aber das hat manchmal lange gedauert. Im Gonville and Caius College musste mehrmals abgestimmt werden, es musste eine Zweidrittelmajorität sein. Erst beim dritten Mal ist das geglückt - die ersten Mädchen wurden 1979 aufgenommen. Das Robinson College, w o Mikulää ist, hatte von Anfang an keine Restriktionen. Das Robinson College wurde als erstes College für beide Geschlechter gegründet und funktioniert als solches seit 1976. Als ich ins Girton College kam, durfte der Ehemann zu den College dinners mitkommen, während zum Beispiel in Gonville and Caius bis heute die Anwesenheit von Familienmitgliedern unerwünscht ist. Mikuläs durfte nicht nur ins College kommen, er war sogar offiziell der zweite Mann, der in der Geschichte des Girton College in diesem übernachten durfte. Ich habe ja im College gewohnt, wir hatten in Cambridge kein Zuhause und Mikuläs war zunächst noch in Oxford, wo er ein fellowship hatte. Bei meiner Inauguration, also bei dieser feierlichen Angelegenheit, bei der man als Fellow ins College eingeführt wird, wandte sich die Mistress, Muriel Bradbrook, an die Hausverwalterin - die Fellow Steward mit den Worten: „You have to put a bed in Alice''s room for Mikuläs!" Und damit konnte er dort als der zweite Mann offiziell übernachten. Der sehr bekannte Regisseur von Shakespeare-Dramen, John Barton, war der erste Mann ge183

wesen. Seine damalige Frau Anne, später Professorin für englische Literatur und Fellow des Trinity College, durfte sogar einen Hund halten; nur musste der Hund als Katze angemeldet werden. Nach den Regeln des College durfte nämlich kein Hund da sein. G. D.: Die akademische Kultur zwischen Cambridge und Prag unterschied sich wohl sehr? MIKULAS: Ja, und zwar stark. Wir waren während des Kriegs ja schon in Leeds gewesen, aber Leeds ist nicht Cambridge und auch nicht Oxford. Das sind zwei verschiedene Welten. ALICE: Im College hat man ja die Mahlzeiten gemeinsam mit den anderen Fellows verbracht. Für mich war das eine ziemlich schwierige Aufgabe. Einige Zeit bin ich in meinem Zimmer geblieben, weil ich so schüchtern war. Da haben mir meine Kolleginnen, die auch Historikerinnen waren, gesagt: „Alice, du musst zum Dinner kommen, das gehört zur Arbeit! Du musst mit uns da sitzen, und du musst mit uns sprechen!" Schon beim Frühstück ist man zusammengesessen, dann wieder beim Lunch und dann noch einmal beim Dinner. Das war für mich eine ziemlich schwierige Sache. Zunächst wusste ich gar nicht, was man dort bespricht. Als ich begonnen habe zu unterrichten, ist das besser geworden. Man hat über die Studentinnen gesprochen oder über die Kurse, die man machen wird, über den Lesestoff und schließlich auch über viele verschiedene wissenschaftliche Richtungen. Die Fellows waren ja nicht alle Historikerinnen; da waren Medizinerinnen, Biologinnen und so weiter; auch manche ziemlich hohe Kaliber waren dabei. Nach und nach bin ich doch in diese Maschinerie hineingekommen. Ich hatte ja zunächst nur einen Lehrauftrag am College, aber noch keine fixe Stelle. In Cambridge ist es nämlich so, dass man sowohl ein Fellow im College als auch ein Mitglied der Universität sein kann, ohne dass man ein Universitätsassistent oder Dozent oder Professor ist. Man ist ganz einfach im College. Und im College unterrichtet man die Studenten, die ins College aufgenommen worden sind. Ich 184

habe also unterrichtet, das heißt, ich machte einstündige snpervisions. Das ist in der Regel Einzelunterricht, der dazu dient, Studenten für Prüfungen vorzubereiten. Supervisor und Student treffen einander regelmäßig, einmal in der Woche oder vierzehntäglich, um den Prüfungsstoff zu besprechen. Das geschieht an Hand eines von ihm abgelieferten vier- bis sechsseitigen Aufsatzes über ein Thema, das in Beziehung zum Prüfungsstoff steht. Der Student erhält Hinweise auf Literatur, aber man erwartet, dass er selbstständig seinen Horizont erweitert. Damit hofft man, fachlich interessierte Studenten erkennen zu können, die man zu einem intensiven Studium ermuntert. Dieses tutoriale System in Cambridge und Oxford ist ein großes Privileg. Ich muss sagen: Meine Erfahrungen in Cambridge waren wirklich sehr gut. Ich bin in dieses System eingeflochten worden, ich habe viele Leute kennen gelernt. Auch in der Wirtschaftsgeschichte gab es Kollegen, die mich unterstützt haben. Aber Muriel Bradbrook hat mir den sehr guten Rat gegeben, dass solche Tätigkeiten eigentlich nur dann einen Sinn haben, wenn ich einen Universitätsposten bekommen könnte. Ohne Universitätsposten käme ich aus dem tutorialen Karussell nicht heraus. Aber in Cambridge wären meine Chancen nicht sehr groß. Ich habe mich dann in Oxford beworben, habe den Posten aber nicht bekommen, obwohl ich in Oxford in ein von mir vorgeschlagenes großes Forschungsprojekt über Osteuropa eingebunden war und so genanntes „assoziiertes Mitglied" des St. Antony's College wurde. In Oxford haben Mikuläs und ich seit 1970 eine Wohnung gehabt. Als ich erfahren habe, dass es einen Posten in Norwich an der University of East Anglia gibt, habe ich mich beworben und diesen Posten auch bekommen. Das war ein ganz kleiner Assistentenposten. Ich habe ganz unten mit einem kleinen Gehalt angefangen, aber e? war doch dreimal so viel, wie ich in Cambridge hatte. Nur in Cambridge hatte ich im College noch eine Wohnung und das Essen dazu. In Norwich habe ich im Oktober 1971 angefangen zu unterrichten. Das war ein großes Glück. Vier Jahre später hat man mir die Professur gegeben. Ich war die erste Professorin in Norwich an der ganzen Universität - und so lange ich 185

dort war, bis 1985, bin ich die einzige geblieben. Aber für mich war das sehr schön. Ich konnte dort viel mehr unternehmen, als ich in Cambridge hätte machen können, denn das Cambridger System ist ziemlich starr. In England gibt es drei Arten von Universitäten: Die erste ist Oxford und Cambridge mit ihren Colleges, die noch aus dem Mittelalter stammen; dann gibt es die red brick universities, die Ziegeluniversitäten des 19. Jahrhunderts. Das sind die Universitäten in den großen Industriestädten Manchester, Liverpool, Leeds und so weiter, auch London. Und die dritte Art von Universitäten sind nach dem Zweiten Weltkrieg, teilweise in den 1960er Jahren, entstanden; zu denen sagt man cement and glass universities. Zu einer solchen gehörte auch Norwich. Als ich zum Vorstellungstermin nach Norwich kam, war die Universität am Rande der Stadt aufgebaut worden. Als wir - Mikuläs war mit dabei - mit dem Auto bei dem Häuschen vom Portier ankamen, fragte ich, wo die Universität sei, und er sagte: „Der Zementhaufen dort." G.D.: Nochmals zu Cambridge und zum Frauencollege. Wenn ich das richtig herausgehört habe, haben sich die dortigen Rituale auch an denen der Männercolleges orientiert? ALICE: Ja, aber das Girton College war liberaler. Ehemänner konnten schon dort schlafen, und auch sonst fühlten sie sich integriert. Das Gebäude des College ist sehr groß, schaut fast so aus wie eine Kirche, hat Tennisplätze und liegt in einem großen, öffentlichen Park. Das gibt es in den Männercolleges nicht. MIKULÄS: Wir sprechen von den 1970er Jahren, und die Situation in den Siebzigern war eine andere als vor oder unmittelbar nach dem Krieg. Nichtsdestoweniger hatten auch bedeutende Akademikerinnen noch mit vielen Vorurteilen und auch Nachteilen zu kämpfen. Ich habe lange Jahre mit Dorothy Needham, einer Biochemikerin von Weltruf, zusammengearbeitet. Sie war die Ehefrau von Joseph Needham, der ursprünglich auch ein Biochemiker war. Ich habe ein Buch über die Geschichte der 186

Biochemie mit ihr veröffentlicht.25 Sie gehörte zu den ersten Frauen, die Mitglied der prestigereichen Royal Society wurden; sie war erst die achte. Die Royal Society ist die britische Akademie der Wissenschaften und wurde schon 1660 gegründet. Sie hatte sich erst nach 1945 dazu entschlossen, auch Frauen aufzunehmen. Dorothy Needham wurde 1896 geboren und ist 1987 gestorben. Schon während des Ersten Weltkriegs war sie ins Girton College gekommen. Sie beendete ihr Studium nach vier Jahren und machte das Doktorat 1930. Aber sie bekam keine offizielle Promotion, nur ein Diplom, das sie zur Titelführung berechtigte. Und Girton College wurde als erstes Frauencollege auch am Rande von Cambridge gebaut, außerhalb der Grenzen von Cambridge! Hinter der City of Cambridge beginnt das College. Dort mussten Frauen sein, damit sie die Männer nicht stören. Offiziell wurden Frauen erst nach 1945 promoviert. ALICE:

Dorothy Needham schreibt in ihren Memoiren 26 , dass, wenn die Mädchen nicht mit dem Rad zu den lectures in die Stadt gefahren sind, sie vom College aus mit Kutschen hinein- und hinausgefahren wurden. Sie schreibt auch, dass sie zwar in Cambridge, Amerika, Deutschland, Frankreich und Belgien geforscht und unterrichtet hat, aber nie einen Universitätsposten gehabt hat. Sie bekam immer nur wissenschaftliche Stipendien - das ganze Leben! Als sie schon Fellow der Royal Society war, hat sie um ein Stipendium bei der Royal Society selbst angesucht. Der Präsident hat das Ansuchen mit der Begründung zurückgewiesen, dass es egal sei, ob sie ein Fellow sei, man erwarte, dass der Ehemann sie erhalte. Der Präsident der Royal Society war ein Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie und hieß Lord Adrian. Wenn du kein Nobelpreisträger bist, hast du kaum eine Chance, Präsident der Royal Society zu werden. Das gehört sozusagen zum Job. Diese Geschichte habe ich hineingeschrieben in einen Nachruf über Dorothy für ein MIKULÄS:

25 Teich, Mikuläs with Dorothy M. Needham (ed.): A Documentary history of biochemistry 1770-1940. Leicester 1991. 26 Needham, Dorothy: Women in Cambridge Biochemistry. In: Richter, Derek (ed.): Women scientists: the road to liberation. London 1982.

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Periodikum, das sich Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society nennt. Diese Memoirs kommen einmal im Jahr heraus und veröffentlichen Nachrufe auf verstorbene Mitglieder der Royal Society. Dorothy Needham ist 1987 gestorben, der Nachruf erscheint dieses Jahr. 2 7 G. D.: Dieses? 2003? MIKULÄS: Ja. Und das auch nur deshalb, weil ich darauf aufmerksam gemacht habe, dass sie keinen Nachruf bekommen hat. Normalerweise erscheint ein Nachruf zwei oder drei Jahre nach dem Tod des Fellows, er wird meistens von einem Fellow der Royal Society geschrieben, der auf dem Gebiet des Verstorbenen arbeitet. Oder er wird von einem Fellow in Zusammenarbeit mit einem engen Mitarbeiter des Verstorbenen geschrieben. Nur in den seltensten Fällen schreibt ihn einer, der ihn gekannt hat, aber nicht Fellow der Royal Society ist. Und in diesem Fall hat man es versäumt. Ich glaube, weil sie eine Frau war. So hat es sich ergeben, dass ich den verspäteten Nachruf verfasst habe. Ich habe auf die Verspätung in der Einführung hingewiesen, worauf mich der technische Redakteur bewegen wollte, mich damit lediglich in einer Fußnote zu beschäftigen. Damit war ich nicht einverstanden. Der wissenschaftliche Redakteur, ein Fellow der Royal Society, wollte wiederum einen Beweis für Adrians negative Haltung bezüglich Dorothy Needhams Ansuchen um ein Forschungsstipendium der Royal Society. Nachdem ich ihn geliefert hatte, habe ich von ihm einen Brief bekommen, dass der Nachruf ausgezeichnet sei. G. D.: MikuläS, wie hast du das in Oxford erlebt, war Oxford auch eher eine Männergesellschaft? MIKULÄS: Ja, Anfang der 1970er Jahre war das noch immer eine Männergesellschaft. Ich war ja nur zwei Jahre dort, 1970 bis 1972. Ich war eigentlich bis 1976 collegemäßig ein Außenseiter in Oxford und Cambridge. Stipendien sind nicht automatisch mit einer Collegemitgliedschaft verbun27 Teich, Mikuläs: Dorothy Needham. In: Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society, 2003, 351.

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den. So war es auch in Oxford, wo mein Stipendium auf einen Amerikaner, Henry S. Wellcome, zurückging, der in England eine große pharmazeutische Firma aufgebaut hatte. Damit war er sehr reich geworden. Er starb 1936 und verfügte in seinem Testament, dass sein ansehnliches Vermögen - treuhänderisch verwaltet - auch für medizinhistorische Forschungen verwendet werden soll. Zwei prominente Kollegen - Rupert Hall vom Imperial College in London und Alistair Crombie aus Oxford - steckten dahinter, dass ich ein Wellcome Visiting Research Fellowship für zwei Jahre in Oxford bekam. Das war eigentlich ein Glücksfall. Zum einem war ich finanziell gut dran: Ich bekam das Jahresgehalt eines Oxford lecturerers der höchsten Stufe. Zum anderen suchte die Oxforder Universität beim Innenministerium um eine Arbeitsbewilligung für uns beide an. Damit war auch unsere britische Aufenthaltsbewilligung verknüpft. Ich wurde ins Oxforder Tutorensystem einbezogen, aber nicht ein Fellow eines College. Zwar ermöglichte mir das Brasenose College, auf meine eigenen Kosten zu dinieren und die Collegeadresse zu verwenden, aber das war schon alles. Brasenose ist weniger bekannt als Balliol und All Souls in Oxford oder Trinity und King's in Cambridge. Die Bekanntheit eines College hat mit Tradition, Reputation und nicht zuletzt mit Geld zu tun. ALICE: Diese Colleges besitzen ganze Straßenzüge in der Mitte von Cambridge, wo Geschäfte und historische Häuser sind. Sie haben aus den Mieten große Einkünfte. Unser Friseur musste jedes zweite Jahr einen neuen Kontrakt mit dem College abschließen, damit sein Geschäft im Haus bleiben kann - und mit jedem neuen Vertrag musste er mehr Miete bezahlen. Die Colleges sind Eigentümer von Häusern, Ländereien und Aktien. Sie sind Wirtschaftsunternehmen.

Aber wie! In den 1930er Jahren war der berühmte Ökonom John Maynard Keynes der Schatzmeister - der Bursar - des King's College gewesen, wo ich 1969/70 als Visiting Scholar ein schönes Jahr verbringen durfte. Dort wurde erzählt, dass Keynes mehrere Male ein großes Vermögen für das King's College gewonnen und auch wieder verloren MIKULÄS:

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hätte. Aber hauptsächlich gewann er - an der Börse. Die Colleges leben von solchen Geschichten oder Legenden. King's hatte die Reputation, das progressivste College in Cambridge zu sein. Ich kam ins College auf Vorschlag von Robert Young, eines lautstarken Texaners, dem wir beide ungeheuer viel verdanken, dass das erste Jahr in Cambridge so angenehm verlaufen ist. Er hat nämlich dazu beigetragen, dass Alice im University College (jetzt: Wolfson College) als Visiting Fellow aufgenommen wurde. Mit seinen Studien über die gesellschaftlichen Wurzeln der Evolutionstheorie Darwins hat er sich damals einen guten Namen gemacht. In diesem Zusammenhang ist er an den Marxismus geraten. Als sich zeigte, dass unsere Meinungen über die marxistische Theorie und gesellschaftliche Praxis auseinander gehen, kühlte seine Zuneigung zu mir merklich ab. Schwierigkeiten bei dem Verfassen der Einleitung zur Joseph-Needham-Festschrift, die wir zusammen herausgaben, war ein weiterer Stein des Anstoßes. 28 Danach trennten sich unsere Wege. King's erwarb sich den Ruf eines fortschrittlichen College auch durch seine Toleranz gegenüber der Homosexualität, lange vor deren Entkriminalisierung. Keynes Bisexualität war ein offenes Geheimnis. Und ich hörte, dass ein ehemaliger Master, wenn er mit Studenten etwas zu besprechen hatte, sich denen immer annäherte: „Oh my boy, oh my boy!" G. D.: Wie das bei Männerbünden oft so ist... MIKULÄS: Ja und nein; ich meine, ich habe ja damals über Homosexualität wenig gewusst. Ich habe gewusst, dass es das gibt, aber kaum mehr. Das war für mich eine ganz andere Welt. Alice kann dir auch über ihre Erfahrungen im Girton College erzählen, ihre erste Nacht im Girton College ... ALICE: Ich bekam im College zwei Zimmer, und ich verbrachte die erste Nacht dort, Mikuläs war in Oxford. Ein Zetterl wurde durch die Tür geschoben, und ich sah mir das 28 Teich, Mikulää /Robert Voung: Changing Perspectives in the History of Science Essays in Honour of Joseph Needham. London 1972.

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an. Man lud mich ein, Mitglied der Lesbian Society zu werden. Ich wusste nicht, was das ist. Tatsächlich! Das war 1970, und ich war schon fünfzig Jahre alt. Ich musste meine Tochter fragen. Eva hat dann furchtbar darüber gelacht, dass ihre Mutter das nicht weiß. Sie hat es mir dann erklärt. Natürlich habe ich mich dann nicht an die Society gewandt. Aber ich hatte keine Ahnung! Mikuläs hat sicher mehr gewusst. MIKULÄS: Nein, Mikuläs hat es nicht gewusst! Mikuläs hat den Begriff gekannt - aber in Wirklichkeit nicht viel mehr! Aber es ist interessant, wenn ich zurückdenke, wann ich zum ersten Mal auf Homosexualität gestoßen bin. In Ruzomberok stand im Kino immer jemand bei der Tür: der Kartenabreißer. Ich kann mich erinnern, dass dieser Mann ein großes Interesse für junge Burschen hatte. Aber erst aufgrund dessen, dass ich nach Cambridge ans King's College gekommen bin, habe ich angefangen, darüber nachzudenken. G. D.: Ist Homosexualität in der Reformbewegung der 1960er Jahre in der Tschechoslowakei nicht auch ein Thema gewesen? MIKULÄS: Was die Tschechoslowakei betrifft, kann ich mich erinnern, dass es einen sehr guten Dichter gab, der vor dem Ersten Weltkrieg in der anarchistischen Bewegung gewesen war. In den 1920er Jahren war er in der ersten Phase der Kommunistischen Partei sehr aktiv, in der ja überhaupt Intellektuelle eine Rolle spielten. Dieser Dichter hieß Stanislav Kostka Neumann. Soweit ich weiß, hat er nur einen Prosaband geschrieben, und dieses Werk befasste sich mit Homosexualität und der so genannten Tramp-Bewegung, die aus Amerika in die Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg herübergekommen war. Diese Leute wollten mit der offiziellen Kultur nichts zu tun haben, sie sind am Wochenende ins Grüne gegangen, haben frei gelebt, Hütten aufgebaut und so weiter. Und Neumann befasst sich mit so einem Wochenendleben in einer Tramp-Ansiedlung und unter anderem mit homosexuellen Beziehungen. In den 1960er Jahren habe ich das Buch zum ersten Mal gelesen. Ein anderer Poet, der Amerikaner Allen Ginsberg, der ja offen seine Ho191

mosexualität lebte, war in den 1960er Jahren kurz in Prag. Das war den Behörden nicht sehr angenehm. ALICE: Was ich noch zur Oxforder Männergesellschaft sagen möchte: Zu den Kollegen, die mir anfangs besonders an die Hand gingen, gehörte Peter Mathias. Er war Professor für Wirtschaftsgeschichte und Fellow des vornehmen All Souls in Oxford. Kurz nachdem er seinen Posten 1968 angetreten hatte, sagte er zu mir: „Es ist ganz komisch und unangenehm für mich: Ich habe zwar einen Butler, der mir die Hosen bügelt, und all diese Dinge, die ich hier nicht brauche, aber ich habe keine Sekretärin." 1970 konnte ich dort ein Seminar geben, was natürlich eine große Ehre war. Aber nachher konnte er mich nicht zum Dinner ins College mitnehmen, weil das für Frauen damals nicht ging. Er hat sich entschuldigt, aber wir mussten in ein Restaurant gehen. Über die heutigen Verhältnisse kann ich nichts sagen: Jedenfalls tun sich die traditionsreichen Colleges in Oxford und Cambridge schwer, mit den Bräuchen zu brechen. Davon kann Mikuläs ein Lied singen. MIKULÄS: Ja, im Gonville and Caius College war ich ja drei Jahre und bin auch weiterhin Mitglied geblieben, übrigens auch vom King's College. Ich bin ja ein Gründungsfellow von meinem jetzigen College, dem Robinson. Das ist das jüngste College in Cambridge. Aber was ich sagen möchte: Ich bekomme jedes Jahr vom Gonville and Caius College ein Informationsblatt, wo Folgendes steht. „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass Sie wieder zum Mitglied des College gewählt worden sind. Sie haben das Recht, hier wöchentlich drei Mahlzeiten einzunehmen. Ein Dinner im Trimester ist kostenlos. Sie können einen Gast mitbringen (ausnahmsweise zwei). Aber es wird erwartet, dass Mitglieder der Familie nicht eingeladen werden." ALICE: Ich muss noch eine Geschichte erzählen, die genau das bestätigt, was in solchen Colleges vorgeht. Das war Anfang 1969, als wir auf einen kurzen Besuch aus Amerika nach Cambridge kamen, um unsere Situation für das nächste akademische Jahr zu klären. Mikuläs und ich wurden ins Gonville and Caius College eingeladen: von Joseph Needham, 192

der ja damals Master war. Und das war eine Einladung zum College dinner. Das Dinner ist eine sehr formale Angelegenheit, da geht man im goivn, also im Talar, hin. Auch die Studenten haben Talare. Der Master hat eine Wohnung im College, die Master's Lodge, das ist eigentlich ein Haus oder eine Reihe von Räumen, die für den Master, seine Frau und seine Familie sind. Dort waren wir beim Sherry; Needhams Frau Dorothy war auch dabei. Joseph Needham war sehr für das Zeremonielle, was uns immer sehr amüsiert hat. Also wir gehen dort hinein, er im gown, und ich musste hinter ihm gehen. Ich drehte mich noch zu Dorothy um und fragte, ob sie nicht mit wolle. Da sagte sie: „Nein!" Die Biochemikerin von Weltruf und Fellow der Royal Society war so schüchtern: „Nein, da komme ich nicht mit, da werden zu viele Frauen dort sein!" Wir gehen also weiter, sie kommt nicht mit, ich gehe hinter Needham, und dann kommen die anderen Fellows nach. Das ist eine Prozession: Oben am high table im Refektorium sitzen die Fellows und unten die Studenten - dreihundert und mehr Studenten mit gowns. Alles ist eine Zeremonie: Die Studenten müssen aufstehen, wenn der Master und die Fellows hereinkommen, um Platz auf dem Podium zu nehmen, wo sie ihr Dinner haben. Ich komme hinter dem Master herein - und es war keine einzige andere Frau dort; von dreihundert Studenten und dreißig oder vierzig Fellows war ich die einzige Frau. Dorothy hatte doch gesagt: „Da werden zu viele Frauen sein!" Aber das alles war natürlich sehr interessant. Ich habe dann aber einen riesigen Fauxpas gemacht. Neben mir saß ein junger Fellow, Norman Stone, der sprachlich sehr begabt war (er lernte Ungarisch) und damals gerade an einem Buch über die Ostfront im Ersten Weltkrieg arbeitete, das später einen starken Nachhall fand. Ich selbst hatte doch mitteleuropäische Geschichte gemacht, da sind wir in ein wunderbares Gespräch gekommen. Mir war das Essen nicht so wichtig, ich habe halt mit ihm geredet und habe auf das Essen ein wenig vergessen. Auf einmal höre ich hinter mir eine Stimme: „Madam, everyone has finished!" Das war der Butler, jeder hatte geendet, nur ich hatte noch Essen auf meinem Teller. Das war skandalös, dass da eine Frau ist, die so viel redet, und dass die anderen warten müssen. Das war skandalös, ich habe alles 193

blockiert! „Madam, everyone has finished." Das werde ich nie vergessen. Ich habe mir auch nicht viel daraus gemacht. Aber so ging das da zu - „Viele Frauen werden dort sein!" Ja, das Zeremoniell ist ritualisiert. Der Master hat den Vorsitz beim Dinner. Wenn der Master nicht da ist, führt zumindest im Gonville and Caius College der Älteste den Vorsitz beim Dinner - nicht der biologisch Älteste, sondern jener, der am längsten Mitglied des College ist. Das Entscheidende ist, wie lange du an diesem College bist. Ich wurde einmal gefragt, weil ich doch zwei Jahre in Oxford war und dann wieder in Cambridge, was denn der Unterschied zwischen Oxford und Cambridge sei. Da habe ich gesagt: „In Cambridge gibt es ein Drei-Etagen-System und in Oxford ein Vier-Etagen-System." In beiden ist es so, dass das Dinner, bevor du dorthin gehst, mit einem Sherry beginnt. Dort finden sich alle zusammen. Das ist die erste Phase. Die zweite Phase ist in Oxford und Cambridge auch dieselbe: Man geht zum Dinner, so wie es Alice vorher erzählt hat. Die dritte Phase ist immer noch dieselbe: Die Studenten verschwinden, du gehst in ein anderes Zimmer, und dort wird serviert. Je nachdem, wie reich das College ist, gibt es verschiedene Weine, Obst oder anderes Dessert. In Cambridge wird dann am Ende dieser Prozedur, bei der du noch sitzt, Kaffee serviert. In Oxford stehst du nach dem Wein und dem Dessert auf und gehst wieder in ein anderes Zimmer, und dort nimmst du dann den Kaffee ein, zusammen mit starkem Whisky, Wodka oder Cognac. Das fällt in Cambridge aus, und deshalb nenne ich das eine Drei-Etagenund das andere Vier-Etagen-System. MIKULÄS:

Und nochmals zum Gonville and Caius College: Hier stellt ein Fellow seinen Gast dem Vorsitzenden des Dinners vor: „This is my guest." Und wenn der Vorsitzende selbst keine eigenen Gäste hat, dann ist es üblich, dass er den Gast einlädt, rechts neben ihm zu sitzen. Wenn das ein Ehepaar ist oder zwei Gäste sind, dann entscheidet er, wer auf der rechten oder auf der linken Seite von ihm sitzt. Beim Dessert lädt der Vorsitzende auch dazu ein, und es ist wieder möglich, dass der Gast an seiner rechten oder linken Seite sitzt - aber nicht unbedingt. Im Gonville and Caius College ist das jeden Tag so. 194

Jeden Tag gibt es ein high table dinner. Im Kings College gibt es dreimal in der Woche solche formellen Dinners. Bei uns im Robinson College, das ja das jüngste College ist, gibt es auch ein Zeremoniell, aber nur am Freitag während des Trimesters. Hier hat es sich ergeben, dass man auch einen Gast d e m Vorsitzenden vorstellt. Aber noch nie, wenn ich jemanden zum Dinner mitgebracht habe, hat er den Gast darum gebeten, neben ihm zu sitzen. Er sagt nur: „Very nice to meet youl" Und damit hat es sich dann. Dienstags gibt es noch ein Dinner im Robinson College, aber ohne high table. Da sollen die Fellows unter den Studenten sitzen. ALICE: I m Girton College gibt es einmal in der Woche ein formelles Dinner, w o alle Fellows dabei sein sollten. Aber normalerweise, weil dieses College immer einfacher war als die anderen, gibt es dort eine Selbstbedienung für die Studenten. Nur der high table, w o die Fellows sitzen, wird dann bedient. G. D.: Mikulds, du hast das Robinson College Wie ist es dazu gekommen?

mitbegründet.

MiKULÁá: Das ist schon interessant. In Cambridge gab es einen Selfmademan, der in den 1950er Jahren mit der Verleihung von Fernsehgeräten reich geworden ist. Das war ein großer Markt in ganz England. Als wir nach Cambridge gek o m m e n sind, haben wir uns auch einen gemietet. Den ersten Farbfernseher, der uns gehört hat, habe ich zu meinem sechzigsten Geburtstag bekommen, das war 1978. Aber zurück zu diesem Mann: Er hat dann sein Geschäft verkauft und ist in die Pferdezucht eingestiegen; er wurde z u m größten Pferdezüchter in England. Er besaß einmal über 170 Pferde. In der Nähe von Cambridge ist ja Newmarket, das gehört neben Derby und Ascot zu den berühmten englischen Rennplätzen. Dieser Mann, das ist jetzt meine Theorie, der hat sich gesagt, dass er nun soviel Geld zusammengetragen hat und über siebzig Jahre alt ist, und irgendwann wird kein Hahn mehr nach ihm krähen. Hier in Cambridge sind diese Colleges, die alle schon seit vielen hundert Jahren existieren. Und er sagte sich wohl: „Wenn ich so ein College gründe, dann 195

werden sie wahrscheinlich dieses College nach mir benennen. Und dann kommen Menschen her, um sich Cambridge anzuschauen, und da wird ein College sein, das meinen Namen hat. So wird mein Name verewigt." Das ist meine Theorie. Dieser Mr. Robinson trat dann in Verbindung mit den Universitätsbehörden. Nach dem Krieg waren ja einige Colleges gegründet worden, wobei die älteren Colleges ein wenig mitgesponsert und Geld gegeben hatten. Einer der drei Sponsoren des neuen College war das Gonville and Cains College, wo ich für drei Jahre ein Visiting Scholar war, also kein Fellow. Ich hatte aber die Möglichkeit, jeden Tag dort einmal zu essen. Die Sponsoren haben sehr lange mit Robinson verhandelt, weniger um Geld, das er ja selber hatte, sondern um das Grundstück. Die Sponsoren haben dann einen Grund zur Verfügung gestellt, wo das neue College gebaut werden sollte. Sie boten ihm aber einen Grund am Rande von Cambridge an; da war er nicht bereit, das anzunehmen. Das war nicht prestigeträchtig genug. Am Ende ist es aber doch zu einer Einigung gekommen. Und Robinson selbst hat zehn Millionen Pfund für das neue College gespendet, später kamen noch einmal siebeneinhalb Millionen Pfund dazu, das war in den 1970er Jahren sehr viel Geld. Das war überhaupt die größte Spende in der modernen Geschichte Cambridges. Das Problem ist nur, wenn du als College keine Grundstücke besitzt, dann bleibst du ein College mit finanziellen Schwierigkeiten, und unser College kämpft damit fortwährend. Das meiste Geld ist in den Bau gegangen. Nun aber zu mir: Robinson mischte sich in die Angelegenheiten des College gar nicht viel ein, um die sorgte sich ein Treuhandkomitee. Der Master vom Gonville and Caius College, Joseph Needham, war einer der Treuhänder. Und er schlug mich als einen der Gründungsfellows vor. Die meisten Treuhänder, es waren über zehn, waren sehr bekannte Akademiker. Ich habe dann später gehört, dass Needham der Einzige von all diesen gewesen war, der einen Eindruck auf Robinson gemacht hatte. Dabei war Needham einer, der so ausschaute, als ob er mit dem Alltag nie etwas zu tun gehabt hätte. Aber er wusste schon, wie der Hase läuft, das wusste er immer. Ich wurde also Gründungsfellow. 196

ALICE: Von allen Gründungsfellows sind ja Portraits gemacht worden - auch von Mikuläs. Sie hängen in einem Korridor des College. Die Kopie haben wir auch bei uns zu Hause - sehr schön! MIKULÄS: Meine Aufgabe im College war, in Zusammenarbeit mit einer professionellen Bibliothekarin die Bibliothek aufzubauen. Das Robinson College war ja ein Unisex College, also für Männer und Frauen. Die üblichen Namen für die Vorsteher sind Master in den Männercolleges oder Mistress in den Frauencolleges. Unser erster Vorsteher war ein Chemiker, aber der konnte kein Master sein, weil man gesagt hat, dass als nächstes eine Frau den Vorsitz haben könnte. Und so wurde er Warden - und er war darüber ziemlich unglücklich, denn als ein Warden kannst du auch der Vorsteher eines Gefängnisses sein: Warden of a prison. In Oxford heißen in einigen Colleges die Vorsteher auch Warden, aber in Cambridge hatte es das vorher nicht gegeben. Und daher wollte unser Warden ein Master sein. ALICE: Auch das St. Antony's College in Oxford hat einen Warden. Das St. Antony's war auch erst in den 1960er Jahren für Männer und Frauen gegründet worden. Auch dort konnte möglicherweise eine Frau Vorsteherin werden. Dort gab es ja Frauen, die Fellows waren. Ich bin zwar kein Fellow, aber ein associate member - und Mikuläs auch. Ich habe es schon erwähnt: Zusammen mit einem Ökonomen habe ich dort ein großes Forschungsprojekt über Osteuropa aufgebaut. MIKULÄS: Weißt du noch? Vom St. Antony's College hatten wir doch bereits in Prag gewusst. Es war eine feste Meinung in Prag, dass das Sf. Antony's College eine Außenstelle des englischen Außenministeriums bzw. Geheimdienstes sei. ALICE: Ja, man hat Witze gemacht, dass im Keller des College geheime Dokumente wären, denn St. Antony's hatte einen Schwerpunkt Osteuropa und Sowjetunion. Zur Mitarbeit im College wurden Leute eingeladen, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert hatten. Die meisten westlichen Forschungen hatten sich mit der Sowjetunion befasst; Mittel- und Osteuropa war nicht so interessant gewesen für die 197

akademische Welt. Ich war aber der Ansicht, dass die Richtung einer Korrektur bedarf und man der mittel- und osteuropäischen Geschichte mehr Aufmerksamkeit widmen sollte. Ich sprach darüber mit Peter Mathias, und er meinte: „Warum redest du nicht mit Michael Käser? Er könnte sich für deine Ideen interessieren." Käser, ein Fellow von St. Antony's, kam nach Cambridge und sprach mit mir. Zu der Zeit war ich schon im Girton College. Käser ist lange Jahre in der United Nations Economic Commission in Genf gewesen, die Wirtschaftsberichte und Statistiken über Osteuropa erstellte. Er selbst war auch Experte für Albanien. Ich habe ihm dann gesagt, dass man ein Forschungsprojekt aufbauen könnte. Ich war doch ein Niemand, ich habe niemanden gekannt. Und dieser Mann hatte wirklich die Verbindungen, nicht nur mit Genf, sondern auch mit dem britischen Außenministerium und mit vielen Sozial- und Wirtschaftshistorikern. Er hatte auch eine hohe Funktion in der internationalen Wirtschaftswissenschaftsorganisation. Und er forderte mich auf, einen Vorschlag zu machen. „Wir werden darüber sprechen, und wir werden es dem Social Science Research Council vorlegen." Das war und ist eine staatliche Institution, die wirtschaftspolitische und historische Forschungsprojekte finanziell unterstützt. Wir arbeiteten das Projekt dann aus, er lud mich ins St. Antony's College als ein associate member ein, und wir haben das Projekt dann wirklich aufgezogen. Mikulâs war ja zu der Zeit schon in Oxford. Wir fanden eine Wohnung vis-à-vis vom St. Antony's College in einem Neubau, w o das College seine Mitarbeiter unterbringen konnte. Wir zogen am 1. Januar 1971 in unsere erste gemeinsame Wohnung, seit wir aus Prag weg waren. Das war verbunden mit Michael Käser, mit dem wir bis heute auf gutem Fuß stehen. Das Projekt ist wirklich ein Riesenprojekt geworden. Wir haben Konferenzen in Oxford organisiert, zu denen wir Kollegen aus Osteuropa eingeladen haben: aus Polen, Jugoslawien, Bulgarien und so weiter. Das sind Leute gewesen, die ich persönlich kannte oder über die ich schon in Prag gewusst hatte. Schon im Spätsommer 1972 fand die große Gründungskonferenz in Oxford statt. Mikulâs, der damals 198

dabei war, über die Geschichte der Biochemie und die Geschichte der Nahrungsmittel, besonders des Bieres, zu forschen, hat an dieser Konferenz teilgenommen. G. D.: War der Kontakt mit osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen nach 1968für euch nicht schwieriger? ALICE: Nein, die Tschechoslowakei allerdings ausgenommen. Aber auch hier ist der Kontakt nicht abgebrochen worden. Wir korrespondierten mit Arnost Klima und trafen uns in Wien. Wir waren in Verbindung mit Milan Myska. Weihnachtsgrüße wurden ausgetauscht mit Jaroslav Pätek und sogar mit dem bedrohten Charta-Dissidenten Milan Otähal. Auch bei internationalen Konferenzen kamen einige tschechische und slowakische Kollegen auf uns zu, etwa Jana Englovä, eine meiner Studentinnen, die später den Lehrstuhl für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule in Usti nad Labem (Aussig an der Elbe) leitete. Was die St. Antony's-Konferenz angeht, so sind die Einladungen durch das College ausgeschickt worden. Mein Name ist wohl auch dabei gestanden, aber Michael Käser ist ja der Leiter des Projekts gewesen, auch wenn ich dahinter gewesen bin. St. Antony's College war in Osteuropa zwar politisch verdächtig; trotzdem hat man die osteuropäischen Kollegen nach Oxford fahren lassen. Sie sind gekommen und haben mitgearbeitet. Drei große Bände über die Wirtschaftsgeschichte Osteuropas sind letztlich daraus geworden, die die Oxford University Press publiziert hat. 29 Das ist ein Standardwerk geworden. Ich muss aber noch eine Geschichte darüber erzählen, was mir in diesem Projekt als Frau passiert ist. Michael Käser war auch ein Mitglied eines sehr prestigereichen Klubs in London - Reformklub heißt er. Frauen hatten da keinen Zutritt; das wusste ich aber nicht. Wir sollten uns im Reformklub mit einem Kollegen treffen, der in der Sache des Projekts bei wichtigen Stellen vorsprechen könnte. Ich kom29 Käser, Michael C. / Edward Albert Radice (ed.): The Economic History of Eastern Europe 1919-1975. Vol. I + II. Oxford 1985 + 86. Kaser, Michael C. (ed.): The Economic History of Eastern Europe. 1919-1975. Vol. DI. Oxford 1986.

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me zur vereinbarten Zeit in diesen Klub, und da höre ich vom Portier: „Madam, was wollen Sie hier?" Ich antworte: „Mr. Käser hat mich eingeladen; ich möchte zu ihm." Wird mir mitgeteilt: „Das können Sie nicht, Frauen haben hier keinen Zutritt!" Meine ich: „Aber er hat mich ausdrücklich hierher eingeladen." Dann wurde ich in ein kleines Zimmerl geführt, w o ich sitzen musste, während man Käser gesucht hat. Er ist dann auch in das Zimmer gekommen und hat den anderen Kollegen mitgebracht. Ich fühlte mich zurückgestoßen. Sie haben zwar höflich gesprochen, aber ich bin fürchterlich beleidigt gewesen. Ich wurde in den Klub eingeladen - und ich durfte nicht hinein. Ich bin ja die gewesen, die die Ideen zum Projekt gegeben hat, wie es zu bewerkstelligen wäre, und ich habe auch alles als Konzept zu Papier gebracht. Und darin so etwas: „Madam, hier können Sie nicht hinein!" Michael Käser hatte mich vorher nicht gewarnt. Wenn er gesagt hätte: „Alice, dort kannst du nicht hinein, treffen wir uns in einem Kaffeehaus!" Aber nein, in den Klub soll ich kommen. Das ist vielleicht heute etwas anders. Jedenfalls bin ich wie angegossen herausgegangen. G. D.: Ihr lebt heute in

Cambridge...

ALICE: Zunächst wohnte ich ja 1970/71 im Girton College in Cambridge. Anfang 1971 erwarben wir die erwähnte Wohnung in Oxford. Im Sommer 1971 kauften wir uns in der Nähe des Girton College in Cambridge ein Haus auf Hypothek, in dem wir bis heute wohnen. Die Einrichtung war sehr dürftig, aber das machte nichts. Hauptsache, dass wir am Wochenende zusammen sein konnten. Ich kam aus Norwich und Mikuläs aus Oxford. Die Erwerbung des Hauses war nicht einfach. Ich war ja 51 und Mikuläs 53 Jahre alt: ein Hindernis, eine Hypothek zu bekommen, weil wir eigentlich zu alt waren. Uber das Girton College sind wir aber zu einer Versicherungsagentur gekommen, die uns die Hypothek verschafft hat. Mit Hilfe von Mikuläs' Bruder konnte die Hypothek auch abgezahlt werden. G. D.: Ihr seid ja immer noch Mitglieder von Colleges in Cambridge. Seid ihr da weiterhin in engem Kontakt?

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Im Robinson College sind in der Anfangszeit die Gründungsfellows noch zum wöchentlichen Dinner gegangen. Das hat sich aufgehört. Ich bin jetzt einer der wenigen Gründungsfellows, die noch dabei sind. Ursprünglich war ein moralischer Druck da, dass man das Collegeleben aufbaut und so weiter. Da ist man dann zum Dinner gegangen. Aber wenn es möglich ist, gehen Alice und ich auch weiterhin freitags dorthin. MIKULÄS:

Ich gehe eigentlich gern mit Mikuläs. Ich brauche nicht zu kochen. Aber manchmal empfinde ich es auch als anstrengend. Dann koche ich lieber etwas. Aber Mikuläs geht schon gerne in sein College. Ich könnte auch ins Girton College gehen. Ich kann bis zum Ende meines Lebens dort gratis essen, aber ich tue es nicht. Es kommen nur mehr wenige hin aus der Zeit, als ich dort noch gewohnt habe. Wir sind ja seit 1986 so oft in Wien und anderswo gewesen, wo wir Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte gehabt haben; wir sind häufig gar nicht in Cambridge. ALICE:

Nicht wenige Freunde und Bekannte sind inzwischen gestorben, und neue Verbindungen in Cambridge bauen sich nicht leicht auf, wenn man jährlich längere Zeit auswärts weilt. Neue Freund- und Bekanntschaften haben sich dadurch vor allem in Wien ergeben. Das Robinson College hat an die sechzig Fellows; von denen kenne ich vielleicht fünfzehn näher. Man macht sich bekannt beim Lunch oder Dinner, wenn man nebeneinander sitzt. Man hat Konversation - mehr aber auch nicht. Und in gewisser Hinsicht bin ich für die jüngeren Leute Schnee von gestern. Meistens ist es ja so, dass du mit denen sprichst, die du ohnehin schon kennst. Manchmal werden wir aber auch eingeladen. Es gibt zum Beispiel einmal im Jahr ein Dinner, zu dem Studenten des Robinson College, die Geschichte studieren, einladen. Dabei hält ein prominenter Historiker als Gastredner einen Vortrag, der witzig und zu einem interessanten Thema sein soll. Da gehen wir natürlich hin. Wir gehen auch zu Seminaren in der Universität, die uns interessieren. Wir betätigen uns also schon, aber wenn man älter wird, wird es natürlich schwieriger. Leider ist das so. MIKULÄS:

ALICE:

Aber wir machen, was möglich ist. 201

In Pension und doch nicht in Pension G. D.: Ihr seid nun beide seit nngefähr zwanzig Jahren offiziell in Pension. Aber ihr seid es auch nicht... MIKULÄS: Na ja, die Sache ist so: Als ich 1969 und 1970 im King's College in Cambridge war, bekam ich als Visiting Scholar ein gewisses Geld. Darauf gab es für mich in Oxford als Wellcome Visiting Research Fellow ein Forschungsstipendium. Schließlich kam ich für drei Jahre nach Cambridge zum Gonville and Caius College. Dort bekam ich Geld von einer Organisation, die vor dem Zweiten Weltkrieg für geflüchtete Wissenschaftler aus Deutschland und Österreich gegründet worden war. Dieser war noch Geld übrig geblieben, und davon habe ich ein wenig bekommen. Und an diesem College habe ich die Möglichkeit gehabt, eine Mahlzeit einzunehmen. So habe ich mich durchgewurschtelt. 1972 schlug Michael Käser Alice vor, an seiner Stelle an einer Konferenz über mitteleuropäische Wirtschaftsgeschichte in Marburg teilzunehmen. Alice nahm den Vorschlag gerne an, und ich begleitete sie umso lieber, da wir uns auf ein Wiedersehen mit dem Ehepaar Paulinyi freuten. Akos und Milka Paulinyi waren slowakische Historiker, mit denen wir seit den 1960er Jahren befreundet waren. Sie waren, so wie wir, nicht einverstanden mit der Intervention 1968 und waren in die Bundesrepublik Deutschland emigriert. Mit Hilfe des Marburger Wirtschafts- und Sozialhistorikers Ingomar Bog erhielt Akos Paulinyi einen Universitätsposten. Der kurze Aufenthalt in Marburg sollte sich in unserem Leben unverhofft und längerfristig positiv auswirken. Aber das konnten wir noch nicht ahnen. Zu einem haben wir dort den damals frisch habilitierten Dozenten Herbert Matis aus Wien kennen gelernt. Er war es, der 1976 als Ordinarius der Wiener Wirtschaftsuniversität Alice erstmals wieder nach Wien brachte - als British Council Visiting Professor. Herbert Matis ist der österreichische Kollege, den wir am längsten

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kennen. Zwischen unseren Familien haben sich enge freundschaftliche Beziehungen entwickelt. Zum anderen hat Ingomar Bog - nicht ohne Paulinyis Zutun - mich ermuntert, einen von ihm unterstützten Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu unterbreiten. Das Thema: Erforschung der Kontakte zwischen Wissenschaft und Nahrungsmittelindustrie in Deutschland. Ich hatte ja schon über die europäische bzw. böhmische Dimension der Beziehungen zwischen Chemie bzw. Biochemie und Landwirtschaft bzw. Nahrungsmittelindustrie publiziert. 30 Das Projekt wurde für drei Jahre genehmigt, wobei im Antrag gestanden ist, dass ich mir die Zuckerrüben-, Brau- und Spirituosenindustrie anschaue. Das war dann aber viel zu umfangreich, und es blieb nur die Brauwirtschaft übrig. Daraufhin wurde mir nach zwei Jahren - das war 1976, als wir gerade in Wien waren - mitgeteilt, dass kein Geld mehr da sei. Später habe ich das dritte Jahr doch noch bekommen. Aber inzwischen war Cambridge für mich wieder aktuell geworden, weil das Robinson College gegründet worden war. Ich habe es ja bereits erwähnt: Ich wurde Gründungsmitglied und war für die Bibliothek zuständig. Ich habe damit einen Status bekommen, bezahlt habe ich dafür aber nichts bekommen. Wir waren eigentlich in einer fürchterlichen finanziellen Situation. Das änderte sich bei mir erst langsam nach 1985. Zunächst, 1985/86, kamen wir beide als Gastprofessoren der Universität auf ein Jahr nach Wien. Darauf folgte ein fünfjähriges Wellcome Research Fellowship - 1988/89 unterbrochen durch eine einsemestrige Gastprofessur an der Technischen Universität Darmstadt. Zwischen 1991 und 2000 gab es Forschungsstipendien in Berlin, in Corvallis an der Oregon State University und in Uppsala in Schweden. Aber alles dies war nicht pensionswirksam. ALICE: Wir beziehen keine Pension für die Jahre, die wir in der Tschechoslowakei gewesen sind. Ich bin 1975 Professo30 Teich, Mikulää: On the historical foundations of modern biochemistry. In: Clio Medica 1 (1965), 4 1 - 5 7 . Ders.: The origins of carbohydrate chemistry in Bohemia. In: Acta historiae rerum naturalium necnon technicarum. Special Issue 1,1965, 8 5 - 1 0 2 .

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rin in Norwich geworden, hatte ja auch schon, nachdem ich 1938 Wien verlassen hatte, in England gearbeitet. So habe ich wenigstens die halbe Pension eines Professorengehalts bekommen, was natürlich auch nicht gerade viel ist. Aber Mikuläs hat praktisch nichts zum Anrechnen gehabt. MIKULÄS: Ich erwähnte schon, dass ich zwei Jahre als Wellcome Visiting Research Felloiv in Oxford sehr gut bezahlt war und, obwohl das Geld nicht von der Universität kam, war ich damals Teil der Universitätslehrerschaft. Als ich 1985 in Pension ging, war die Frage, ob ich deshalb am Universitätspensionssystem teilnehmen werde können oder nicht. Ich hatte darüber Gespräche mit dem Schatzmeister - dem Senior Bursar - des Robinson College, der uns ein sehr enger Freund geworden ist. Er hat dann gemeint, dass wir ansuchen sollten - er hat über das College angesucht, und ich habe dann eine kleine Pension aus dem Universitätspensionssystem bekommen. Manchmal sage ich: „Ohne Alice wäre ich verhungert." G. D.: Wenn es solche finanziellen Sorgen gibt, hat das nicht auch Auswirkungen auf die eigenen wissenschaftlichen Tätigkeiten? MIKULÄS: Ich kann mit ziemlicher Klarheit sagen, dass das nicht so ist. Bei uns zumindest. In der Tschechoslowakei hatten wir sowohl politische wie auch finanzielle Probleme. Trotzdem habe ich immer versucht, wissenschaftlich zu arbeiten. Diese Arbeit hat mir sehr geholfen, solche Krisensituationen zu überwinden oder zu überstehen. Nicht wenige meiner Arbeiten, die ich publiziert habe, sind in solchen Krisenperioden entstanden. Auch wenn das nicht leicht war. G. D.: Seit den 1980er Jahren lebt ihr jährlich oft mehrere Monate in Wien. Alice, du bist 1938 aus Wien emigriert. Wie ist das, nach so langer Zeit immer wieder zurückzukehren1 ALICE: Wien war immer ein Teil meines Daseins, weil ich mich mit Wien verbunden gefühlt habe. Nicht mit den Wienerinnen und Wienern, aber mit Wien. Meine Jugenderfahrungen sind ja auch gar nicht so zwiespältig. Ich habe lange

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Zeit nie direkt unter Antisemitismus gelitten - bis zu dem Tag, als die deutsche Wehrmacht nach Osterreich einmarschiert ist. Meine Kindheit und Jugend ist untrennbar mit Wien verbunden. Wir waren eine große Verwandtschaft; in fast jedem Bezirk gab es eine Tante oder einen Onkel. Deshalb kenne ich mich ja bis heute in Wien so gut aus. Ich war auch erstaunt, als ich 1960 zum ersten Mal nach dem Krieg mit unseren Kindern wieder in Wien war, dass die Straßenbahnen noch immer die gleichen Nummern hatten; ich habe gewusst, wo sie hinfahren. Meine Kinder waren erstaunt, dass auf den Schildern der Geschäfte so viele tschechische Namen standen. Ich habe ihnen dann erklärt, dass zu Zeiten der Monarchie viele Tschechen nach Wien gekommen waren; auch meine Schulfreunde hatten ja Dvorak oder Matouschek geheißen. Meine Erinnerungen an Wien waren also sehr stark und sind bis heute sehr stark geblieben. Außerdem habe ich mich nie als Deutsche, sondern immer als Österreicherin gefühlt. Aber ein Jugendfreund, der in der Wehrmacht gewesen war, hat nachher behauptet, dass er für sein deutsches Vaterland im Krieg gekämpft hätte. Und viele andere haben das auch so gesehen. In der Bibliothek des Wiener Instituts für Zeitgeschichte gibt es ein Archiv mit Erinnerungen österreichischer Wehrmachtssoldaten. Und in vielen dieser Erinnerungstexte steht nicht ein Wort davon drinnen, dass die Österreicher in Russland eigentlich nichts verloren hatten; sie glauben immer noch, dass sie das deutsche Vaterland in Russland verteidigt haben. Nicht die geringsten Zweifel! Die Mehrzahl der österreichischen Soldaten haben sich als deutsche Wehrmachtssoldaten gefühlt - bis zuletzt! Dabei waren sie alle Wiener, Österreicher - und oft tschechischer Herkunft. Dieser Jugendfreund hatte übrigens auch einen tschechischen Namen. Deshalb habe ich doch auch einen zwiespältigen Zugang zu Wien. Oft haben wir gesagt, dass das eine love-hate relation ist: eine Hassliebe. Obwohl die love-relation im Laufe der Zeit immer stärker geworden ist je mehr wir mit den Historikern in Wien verbunden gewesen sind. Da komme ich jetzt zu der Zeit nach 1985. Die gehört eigentlich zu den schönsten Zeitabschnitten in unserem Le206

ben. 1985 musste ich, obwohl ich noch voller Tatendrang war, in Norwich in Pension gehen. Auch Mikuläs ging in Cambridge in Pension; er wurde Emeritus Fellow, ich bin ja später im Girton College Honorary Fellow geworden. Ich war sehr glücklich darüber, weil mich das bis ans Lebensende an Cambridge bindet. Auch wenn ich nicht mehr zu den Dinners und anderen Feierlichkeiten des College gehe - ich könnte es tun, wenn ich wollte und nicht so oft in Wien wäre. Die Emeritierung in Norwich war da ganz anders. Es gab eine Feier, ich wurde Emeritus - und dann war's aus! Nicht einmal einen kleinen Kasten, wo man die Besen aufhebt, habe ich bekommen. Meine Kollegen haben mir zwar die Möglichkeit gegeben, dort ein oder zwei Jahre weiter zu bleiben, aber das hat für mich keinen Sinn mehr gehabt. Vor allem weil Mikuläs und ich kurz nach unserer Pensionierung eine Gastprofessur an der Wiener Universität bekommen haben - wir beide. Das hat damals der Wirtschaftshistoriker Alois Mosser initiiert. Übrigens war es die langjährige Gastfreundschaft des Ehepaars Mosser, die uns ermöglichte, in ihrer Wiener Wohnung während der Sommermonate 1980 und von 1982 bis 1988 ruhig zu arbeiten. Bereits 1979 hatte ich die Möglichkeit, mehrere österreichische Kollegen zu einem internationalen Symposium über mitteleuropäische Unternehmensgeschichte in der Zwischenkriegszeit nach Norwich einzuladen: neben Herbert Matis auch Fritz Weber, Peter G. Fischer und Dieter Stiefel.31 Eduard März habe ich 1976 kennen gelernt. Der gemeinsame Berührungspunkt war sein bankengeschichtliches Forschungsprojekt am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe. Nach anfänglichem Misstrauen konnte ich mit seiner Hilfe rechnen, und im Zuge meiner Recherchen haben Mikuläs und ich nicht nur mit ihm, sondern auch mit seinen Mitarbeitern Fritz Weber, Hans Kernbauer und der unvergesslichen Spanienkämpferin Gundl Herrnstadt-Steinmetz enge Freundschaft geschlossen. Es war Dieter Stiefel, der beim Abschiedsdinner des Symposiums öffentlich erklärte, ich hätte österreichischen Wirt31 Teichova, Alice/Philip L. Cottrell (ed.): International Business and Central Europe 1918-1939. New York 1983.

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schaftshistorikern geholfen, sich der Gefahr der provinziellen Nabelschau bewusst zu werden. Wie dem auch sei, ich habe zumindest versucht, österreichische Historiker für meine Forschungsprojekte zu interessieren. Das waren Projekte über internationale Unternehmensgeschichte oder über die Geschichte der multinationalen Unternehmen. Oft hat sich das so abgespielt, dass man eine internationale Tagung oder Sektionen im Rahmen großer internationaler Kongresse vorbereitet hat - und dazu habe ich dann die Österreicher und Schweden und nach 1989 auch die Tschechen und Slowaken miteinbezogen. Wieso die Schweden? Unerwartet hatte ich 1985, kurz vor meiner Pensionierung in Norwich, einen Brief des schwedischen Professors für Wirtschaftsgeschichte, Bo Gustafsson, bekommen. Er bot mir ein Ehrendoktorat an der Uppsala Universität an. Das kam wie aus den Wolken gefallen. Natürlich habe ich das angenommen. Zu der Feier sind Mikuläs und ich nach Schweden geflogen, wo ich die Sozialund Wirtschaftshistoriker in Uppsala kennen gelernt habe. Die Universität ist eine herrliche mittelalterliche Universität. Dort gibt es die Tradition, dass nach fünfzig Jahren ein Doktorat nochmals erneuert wird. Mit dieser Feier wird auch die zeremonielle Verleihung des Ehrendoktortitels an international bekannte Persönlichkeiten verknüpft. Vorher kam mir nicht einmal im Traum in den Sinn, dass ich zu ihnen gehören könnte. Neben dem Ehrendiplom kriegt man einen goldenen Ring, der nach Maß von einem Goldschmied innerhalb eines Tages gefertigt wurde, und man wird mit Lorbeer bekränzt. Während der angestaubte Lorbeerkranz irgendwann verloren gegangen ist, ziehe ich den Ring nicht vom Finger. Die Verleihung des Ehrendoktorats gab den Anstoß zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Skandinaviern, besonders über Banken- und Unternehmensgeschichte. Das hat viel mit meinem langjährigen Norwicher Kollegen Terry Gourvish zu tun, der ja auch eine mir gewidmete Festschrift herausgegeben hat. Aber das war viel später.32 1986, also zu 32 Gourvish, Terry (ed.): Business and Politics in Europe 1900-1970. Essays in Honour of Alice Teichova. Cambridge 2003.

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jener Zeit, als wir in Wien die Gastprofessuren hatten, übernahm Terry Gourvish die Leitung der Business History Unit an der bekannten London School of Economics and Political Science. Er wusste, dass ich nicht daran dachte, mich aus der Forschung zurückzuziehen, und hatte mich daher zur Mitarbeit eingeladen. Ich sollte ein Forschungsprojekt vorschlagen, was ich auch tat: eine vergleichende Bankengeschichte Nord- und Mitteleuropas. Die Kostenträger des Projekts waren in erster Linie der Economic and Social Research Council in Großbritannien, das Ministerium für Wissenschaft und Forschung in Österreich und die Bank of Sweden Tercentenary Foundation. Die Forschungsergebnisse liegen in einem 1994 veröffentlichten Sammelband vor. 33 MIKULÄS: Hast du schon Roman Sandgrubers Rezension erwähnt? ALICE: Wie ist das gekommen, dass ich ein Forschungsprojekt vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien bekommen habe? 1988 erschienen die englische und die deutsche Version der Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1980 sowie eine vergleichende wirtschaftspolitische Geschichte der mittelund südosteuropäischen Länder in der Zwischenkriegszeit. 34 Der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber, der jetzt in Linz wirkt, veröffentlichte eine positive Rezension in der Tageszeitung „Die Presse". Er meinte, dass die in den Büchern untersuchte Thematik bisher vernachlässigt worden sei - und dass man da eigentlich weitermachen solle. Roman Sandgrubers Anregung ist im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, unter der Leitung des Vizekanzlers Erhard Busek, auf fruchtbaren Boden gefallen. Das hat wiederum der Sozialhistoriker Michael Mit33 Teichova, Alice / Terry Gourvish / Agnes Pogäiiy (ed.): Universal Banking in the Twentieth Century Finance, Industry, and the State in North and Central Europe. Aldershot 1994. 34 Teichova, Alice: Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918-1980. Wien u. a. 1988. Dies.: The Czechoslovak Economy 1 9 1 8 1980. London/New York 1988. Siehe auch: Dies.: Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. München 1988.

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terauer erfahren, der mich daraufhin ermutigte, dem Ministerium einen Vorschlag für ein Forschungsprojekt zu unterbreiten. Ich folgte dem Ratschlag, und das Ergebnis war die Gutheißung einer einjährigen Pilotstudie - als Wegbereiterin für die Genehmigung eines vierjährigen Projekts „Die wirtschaftspolitische Rolle Österreichs im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit". Die mir zur Verfügung stehenden Geldmittel ermöglichten, Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarns einzubeziehen. Das Projekt wurde der Ausgangspunkt von internationalen Workshops in Wien, Prag, Budapest, London und Cambridge sowie von Publikationen. Nach 1989 entwickelte sich eine intensive und freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Prager Kreis der Wirtschafts- und Sozialhistoriker: Ivan Jakubec, Drahomir Jancik, Zdenek Jindra, Eduard Kubu, Vlastislav Lacina, Jiri Novotny, Jaroslav Pätek, Vaclav Prücha, Zdenök Slädek und Jifi Sousa.35 Im Laufe der Forschungsarbeiten wurden Themenkreise, wie etwa die Auswirkungen des wirtschaftlichen Nationalismus oder des Finanz- und Unternehmensgebahrens auf Politik und Wirtschaft im 20. Jahrhundert, untersucht, also Fragen, die bisher vernachlässigt worden waren. Ich möchte hier noch zwei Sammelbände erwähnen, zuerst: „Österreich und die Tschechoslowakei 1918-1938". 3 6 Er ist dadurch bemerkenswert, dass neun von elf Beiträgen von zwei bis drei tschechischen und österreichischen Autoren gemeinsam verfasst worden sind. Mein Ko-Autor, der leider verstorbene Nordmährer Josef Faltus, wirkte jahrelang in Bratislava. Es war Herbert Matis, der diese Idee bei einem Workshop im südböhmischen Gästehaus der Prager Wirtschaftsuniversität im Herbst 1991 gehabt hatte. Der zweite Sammelband - „Der Markt in Mitteleuropa der Zwi35 Sie widmeten Alice eine Festschrift zu ihrem 75. Geburtstag: Pätek, Jaroslav (Hg.): Ceskoslovensko a stfedni Evropa v mezivälefnem obdobi (Die Tschechoslowakei und Mitteleuropa in der Zwischenkriegszeit). Praha 1996. 36 Teichova, Alice / Herbert Matis (Hg.): Österreich und die Tschechoslowakei 1918-1938. Wien u.a. 1996.

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schenkriegszeit" - enthält 21 deutsch oder englisch geschriebene Beiträge. 37 Durch unglückliche Umstände hat das Werk den internationalen Buchmarkt nie erreicht. Schon eine Ironie, wenn man bedenkt, dass „Markt" das Thema des Buches ist. MIKULÄS: Hier passt es vielleicht, kurz auf die Vorgeschichte dieser Entwicklung zu verweisen. Kurz nach der „Samtenen Revolution" in Prag, im November 1989, erhielten wir beide ein Schreiben von den Institutionen, wo wir bis 1969 gewirkt hatten: Alice von der Pädagogischen Fakultät der Karls-Universität und ich vom Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften. Man bedauerte und entschuldigte sich wegen der persönlichen Leiden und Nachteile für die wissenschaftliche Tätigkeit, die eine Emigration zwangsläufig begleiten. Wir wurden zu einem Besuch nach Prag eingeladen, um Gutmachung und Zusammenarbeit zu besprechen. Nach fast 22-jähriger Abwesenheit kamen wir Anfang Februar 1990 wieder nach Prag. Das Historische Institut organisierte eine Veranstaltung, wo wir beide sprachen. Alice bot sofort eine Zusammenarbeit an. Ich konnte dies nicht, denn inzwischen war die Abteilung für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik, die mich eigens eingeladen hatte, aufgelöst worden. Im Sommersemster 1991 war Alice British Council Visiting Professor an der Karls-Universität. Während dieser Zeit wurden die ersten Weichen für die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Prager Kreis der Wirtschafts- und Sozialhistoriker gelegt. Wir haben uns wieder mit Milan Myska aus Ostrau getroffen, der unter schwersten Bedingungen nach 1968 nicht aufhörte, wissenschaftlich zu arbeiten. Damals haben wir Jana Gerslovä, eine junge Ostrauer Wirtschaftshistorikerin, kennen gelernt, deren wissenschaftliche Ambitionen Alice sehr unterstützt hat. Ich begleitete Alice und konnte namhafte Kolleginnen und Kollegen aus Prag, Brünn und Bratislava zur Mitarbeit an dem Sammelband Bohemia in History, der bei Cambridge University Press erschien, gewinnen. 3 8 37 Teichova, Alice/Alois Mosser / Jaroslav Pätek (Hg.): Der Markt in Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit. Prag 1997. 38 Teich, MikuläS (ed.): Bohemia in History. Cambridge 1998.

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G. D.: Aber nach der Pensionierung haben sich nicht nur eure akademischen Interessen, sondern auch eure sozialen Kontakte stark und vor allem nach Wien verschoben. Wie hat sich das entwickelt? ALICE: Vor kurzem hat Mikuläs in einem Vortrag das Jahr 1985 bzw. 1986, also die Zeit unserer Wiener Gastprofessuren, als annus mirabilis bezeichnet - ein wunderbares Jahr also, weil sich unser Wiener Freundeskreis sehr erweiterte: so etwa um den 2002 viel zu früh verstorbenen Michael Weinzierl. Eben anlässlich des Symposiums zu seinem Andenken hielt Mikuläs den erwähnten Vortrag. Sowohl ihn wie auch andere vom Institut für Geschichte, dem Mikuläs formell angehörte, wie zum Beispiel Gernot Heiss und Edith Saurer, haben wir damals näher kennen und schätzen gelernt. Ich selbst gehörte dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien an. Man kann sagen, dass die Erweiterung unseres Freundeskreises viel mit den wöchentlichen Mittwochsitzungen dieses Instituts zu tun hatte; wir waren nämlich beide herzlichst eingeladen, an diesen teilzunehmen - und wir waren jede Woche am Mittwoch pünktlich um neun Uhr früh dabei. MIKULÄS: Ich empfand die Einladung als eine besonders liebenswürdige Geste, und die Sitzungen waren sehr konstruktiv. Als ich davon meinem vermeintlichen Chef, Heinrich Lutz vom Institut für Geschichte, erzählte, war er höchst erstaunt. Er meinte, er wäre nicht imstande, seine Leute zur Abhaltung regelmäßiger Beratungen zu bewegen. Abgesehen von Alois Mosser waren wir früher mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte kaum in Berührung gekommen. Ich erinnere mich, dass wir Roman Sandgruber 1978 in Edinburgh anlässlich des Internationalen Wirtschaftshistorikerkongresses kennen gelernt hatten. Er und ich hatten an der Sitzung für Ernährungsgeschichte teilgenommen. Ernährungsgeschichte war auch das Thema meines Beitrags bei der Konferenz über die Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs, die 1983 in Cambridge stattgefunden hat und an der sich die Sozialhistoriker Josef Ehmer und Reinhard Sieder vom Wiener Institut für Wirtschafts- und 212

Sozialgeschichte beteiligten. Als wir damals zusammen einen Abend bei uns im Haus über Cambridge, Wien, Gott und die Welt redeten, hatten wir keinen Schimmer davon, dass wir kurz darauf innerhalb und außerhalb des Instituts recht viele Gelegenheiten haben würden, sich über sozialgeschichtliche, politische und weltanschauliche Fragen zu unterhalten. Aber nicht nur mit ihnen, sondern auch mit anderen Institutsmitgliedern, die wir bislang kaum oder überhaupt nicht gekannt hatten, kamen wir ins Gespräch: Birgit BologneseLeuchtenmüller, Ernst Bruckmüller, Peter Feldbauer, Herbert Knittler, Michael Mitterauer, Hannes Stekl. Um einander näher zu kommen, haben Alice und ich bald beschlossen, den ersten Schritt zu machen. So haben wir, immer am Donnerstag, jeweils eines von den Institutsmitgliedern zu einem Mittagessen eingeladen. Das hat sich langsam herumgesprochen, sodass man schon neugierig darauf war zu erfahren, wer als nächster dran kommt. Damit war das Eis gebrochen. In diesem Zusammenhang fällt mir ein, wie ein Zickzackverlauf der Dinge sich als entscheidend für Leben und Tod erweisen kann. Peter Feldbauer, der unter anderem viel über die Frühgeschichte des Weltmarkts publizierte, hat es verstanden, unserer Einladung zum Mittagessen dauernd auszuweichen. Aus Gründen, auf die ich nicht eingehen möchte, war er gegen uns voreingenommen. Nachdem sich später - nicht zuletzt dank Michael Weinzierl - herausgestellt hat, dass er ein ganz falsches Bild von uns hatte, haben wir uns mit ihm und seiner Frau Helma sehr befreundet. Tatsächlich verdanke ich ihr, die Ärztin ist, dass ich heute noch am Leben bin. Ende Juni oder Anfang Juli 1994 entdeckte man in der Wiener Rudolfstiftung, wo Helma wirkte, eine bösartige Geschwulst in meiner linken Niere. Das war begreiflicherweise höchst erschreckend. Die Entdeckung hatte eine Vorgeschichte. Einige Monate vorher in Cambridge wurde bei mir Eisenmangel festgestellt, den man auf gewöhnliche Weise mit Eisentabletten behandelte. Später in Wien kam man zum gleichen Schluss - und auch an der Behandlung änderte sich nichts. Nur: Helma hat darauf bestanden, dass ALICE:

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man der Ursache des Eisenmangels, über die man sowohl in Cambridge als auch in Wien rätselte, gründlich nachgeht. Auf ihre Veranlassung hin absolvierte ich eine Untersuchung nach der anderen. Die Suche verlief ohne Ergebnis. Erst die allerletzte Untersuchung zeigte das Schreckensresultat. Sofort kehrten wir nach Cambridge zurück, wo die Diagnose bestätigt und die Operation auf Anfang September angesetzt wurde. Das Addenbrooke's Hospital in Cambridge hatte einen internationalen Ruf - nicht zuletzt wegen bahnbrechender Organübertragungen. Ich selbst hatte schon gute Erfahrung mit dem Spital und deshalb volles Vertrauen. Welch unangenehme Überraschung, als mir knapp vor dem angesetzten Datum der als urgent bezeichneten Operation mitgeteilt wurde, dass der Eingriff um zwei Wochen verschoben werden müsse. Der Grund: Der Chirurg ging auf Urlaub. Merkwürdigerweise fühlte ich mich sehr gut, sodass ich Mikuläs im Taxi, das uns zum Krankenhaus fuhr, fragte, ob die Operation wirklich notwendig sei. Glücklicherweise ist es bei dieser eigentlich rhetorischen Frage geblieben - und die linke Niere ist mit Erfolg operativ entfernt worden. Am Tage meiner Entlassung aus dem Krankenhaus bin ich von einer jungen Assistentin angesprochen worden, ob ich wegen der möglichen Verbindung des Eisenmangels mit dem Krebs einverstanden wäre, dass man meinen Fall in einem Seminar bespreche? Ich war schon überrascht, aber ich wollte dem ärztlichen Fortschritt nicht im Wege stehen. Ich habe von der Sache dann nichts mehr gehört. Jedenfalls bin ich noch da, um, wie man auf Englisch sagt: to live to teil the tale - um die Geschichte zu erzählen. Und dies verdanke ich zuallererst Helma. MIKULAS: Wir sind noch einer Ärztin in Wien, Johanna Wolfram, ungeheuer dankbar für ihre Hilfe. Sie ist Kardiologin am Allgemeinen Krankenhaus und betreut uns seit Jahren sorgfällig. In unserem Alter kommt man nicht umhin, auf das Herz aufzupassen. Hansi ist nicht nur unsere Ärztin, sondern auch eine Freundin. Wie andere Freundschaften hat auch diese im „wunderbaren Jahr" 1985/86 begonnen. Aber hier sollte Alice weiter erzählen. 214

ALICE: Wir haben Hansi durch das Historiker-Ehepaar Gertrude Enderle-Burcel und Peter Enderle kennen gelernt. Gerti betreut Quelleneditionen im Rahmen des Österreichischen Staatsarchivs, und Peter ist Chefredakteur der Stadtzeitung „Wien Aktuell". Wir kennen uns seit 1985 und stehen einander sehr nahe. Es hat damit begonnen, dass Gerti, begleitet von zwei Mitarbeiterinnen, meine Wintersemestervorlesung über Wirtschaftswachstum in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert besuchte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer wen zuerst zum Kaffee ins nahe liegende Kaffeehaus „Maximilian" eingeladen hat. Der Kaffeeplausch nach der Vorlesung ist sozusagen zur Regel geworden. Neben Hansi haben Gerti und Peter uns mit Karl Haas, Anton Staudinger und Karl Stuhlpfarrer vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien bekannt gemacht. Freunde aus ihrer Studienzeit sind auch unsere Freunde geworden. Beim geselligen Beisammensein mit ihnen und anderen haben wir kritische Einblicke in die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen im Nachkriegsösterreich gewonnen. Viel Kritisches über die vergangenen und jetzigen österreichischen Wirklichkeiten haben wir auch von Karl Bachinger, Leonhard Bauer und Peter Berger von der Wirtschaftsuniversität und von Albert Müller vom Institut für Zeitgeschichte erfahren. Alle zu nennen ist nicht möglich. Nur kann ich nicht umhin, zu gestehen, wie uns das Vertrauen der Jüngeren gut tut. Dass wir uns mit Andreas Resch von der Wirtschaftsuniversität sowie mit Markus Cerman, seiner Frau Dana Stefanovä, Peter Eigner und Andrea Komlosy vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte verstehen, half uns gefühlsmäßig, jung zu bleiben. MIKULÄS: Ein Wiedersehen mit Kollegen und Freunden in Wien macht immer Freude. Anregende Gesprächen mit ihnen sind mancherlei unterschiedlichen politischen bzw. weltanschaulichen Einstellungen gerade förderlich. ALICE: Wenn Mikuläs nicht nach Wien kommen wollte, würde ich nicht kommen wollen. 215

MIKULÄS: Ich komme ja auch gerne! Dabei spielt eine Rolle, dass hier die Leistungen von Alice in Forschung und Lehre und ihr Einsatz für internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit Anerkennung gefunden haben. Darüber hat ja Michael Mitterauer 1995 in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Wien für Alice ausführlich gesprochen. Auch die Verleihung des Anton-Gindely-Preises an sie im Jahre 2000 hat damit zu tun. Ihr internationaler Ruf führte 1998 zu ihrer Bestellung als eine der drei „ständigen Experten" der Historikerkommission der Republik Osterreich. Die Aufgabe der Kommission war, Licht in den Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie in die Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich zu bringen. Es ist keine Frage, dass die Kommission innerhalb der intensiven vierjährigen Tätigkeit ungeheuer viel geleistet hat. Die Ergebnisse der einzelnen Forschungsprojekte und Gutachten liegen in 54 Berichten vor, an denen rund 160 Forscherinnen und Forscher mitgearbeitet haben. 39 Was Alice und ich unterschätzt haben, sind die seelischen und körperlichen Kosten ihrer anstrengenden Mitarbeit, die sie ja gewillt war, nach bestem Wissen und Gewissen zu leisten. In dieser Phase war es keine Seltenheit, dass sie zweimal im Monat den Flug L o n d o n - W i e n - L o n don absolvierte. Knapp nach der Vorlegung des „Schlussberichts" der Kommission 40 erlitt Alice Mitte April 2003 in Prag einen leichten Schlaganfall, den sie dank vorbildlicher Betreuung durch die Prager Fachärzte gut überstanden hat. Wir hatten in Prag einen kurzen Urlaub machen wollen. Ich hatte zwar vor, an einem Symposium zu Ehren des 70. Geburtstags eines langjährigen Freundes, des Mathematikhistorikers Jaroslav Folta, teilzunehmen. Aber Alice hatte keine Verpflichtungen. Daher kam der „kleine Vorfall" völlig 39 Nähere Informationen unter: http://www.historikerkommission.gv.at 40 Jabloner, Clemens / Brigitte Bailer-Galanda / Eva Bliminger / Georg Graf /Robert Knight / Lorenz Mikoletzky / Bertrand P e r z / R o m a n Sandgruber / Karl Stuhlpfarrer / Alice Teichova: Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Wien/München 2003.

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unerwartet. So wird in Prag der leichte Schlaganfall bezeichnet. G. D.: MikuläS, du führst den Titel Honorarprofessor schen Universität Wien. Wie ist es dazu gekommen?

der

Techni-

MIKULÄS: Durch ein Zusammentreffen von Umständen, das wiederum auf unser „wunderbares Jahr" zurückgeht. Ende Mai oder Anfang Juni 1986 wurde ich von Edith Saurer zu einem Heurigen eingeladen. Alice war nicht dabei, denn sie weilte in Ost-Berlin als Gast der Leiterin des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Helga Nussbaum. Der geplante Besuch gestaltete sich nicht problemlos. Deshalb sollte Alice vielleicht darüber etwas erzählen, bevor ich fortsetze. ALICE: Nicht zu glauben: Mein Besuch in Ost-Berlin ist Gegenstand von Verhandlungen auf hoher Ebene zwischen der DDR und der Tschechoslowakei gewesen. Erst mit dem Einverständnis der tschechoslowakischen Seite konnte ich in die DDR einreisen. Die DDR nämlich hatte mich zunächst als eine im Ausland „illegal" lebende tschechoslowakische Staatsbürgerin betrachtet. Sollte ich mich auf dem Gebiet der DDR oder eines anderen Warschauer-Pakt-Staats aufhalten, müsste man mich den tschechoslowakischen Behörden übergeben. Nun handelte es sich aber nicht um einen Privatbesuch, sondern um eine Besprechung mit Helga Nussbaum und dem prominenten französischen Wirtschaftshistoriker Maurice Levy-Leboyer. Wir drei waren mit der Organisation der Sektion über multinationale Unternehmen im Rahmen des im August 1986 in Bern stattfindenden X. Internationalen Kongresses für Wirtschaftsgeschichte betraut.41 Es war also höchste Zeit, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Der DDR-Spitze war Helgas verdiente internationale Anerkennung von großem Wert gewesen - und sie gab daher die Zustimmung zu meiner Einreise. Wir hatten schon im Novem41 Siehe: Teichova, Alice / Maurice Lévy-Leboyer / Helga Nussbaum (ed.): Multinational Enterprise in Historical Perspective. Cambridge 1986. Dies, (ed.): Historical Studies in International Corporate Business. Cambridge 1989.

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ber 1985 bei Helgas Durchreise durch Wien miteinander gesprochen, aber bizarrerweise hatte sie bei uns nicht übernachten dürfen. Aber genug von dem Berliner Intermezzo, und wir können auf den von Mikuläs angesprochenen Heurigen zurückkommen. Edith Saurers Idee war, uns mit dem tschechischen Bildhauer Franta (Franz) Lesäk und dem PhilosophenEhepaar Nagl bekannt zu machen. Zwischen Franta und mir klappte es sofort, wir sprachen tschechisch und waren zu vertieft, um etwas von der Konversation der anderen in der Runde mitzubekommen. Franta Lesäk leitete das Institut für Kunst und Gestaltung, das der Fakultät Architektur und Raumplanung der Technischen Universität Wien angehört. Die Fakultät war auch verantwortlich für das Fachgebiet Technik und Gesellschaft, das Lesäks Kollege, der angesehene Holzbaufachmann Georg Kattinger, aus purem persönlichem Interesse kommissarisch leitete. Lesäk meinte, dass Kattinger für meine Arbeiten über die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft viel übrig haben würde. Und so war es auch. Er hat mich zu Seminaren und öffentlichen Veranstaltungen, die er initiiert hat, eingeladen. Und schließlich hat auf seinen Vorschlag hin das Fakultätskollegium für Architektur und Raumplanung Ende 1990 beschlossen, mir die Lehrbefugnis als Honorarprofessor für das Fachgebiet Technik und Gesellschaft auf „unbestimmte Zeit" zu verleihen. Leider zeigte Kattingers Nachfolger kein Interesse mehr an meiner Mitwirkung. Wer mich aber von der Technischen Universität angesprochen hat, war Peter Fleissner, der die Abteilung für Sozialkybernetik am Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung leitete. Das hat damit begonnen, dass Peter Fleissner an einer Arbeitsgemeinschaft teilnahm, die ich im Rahmen meiner Gastprofessur am Interuniversitären Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) im Wintersemester 1994/95 angeboten habe. Das Vorhaben war, im Zusammenhang mit der am Institut laufenden Diskussion über Umweltgeschichte und Historische Anthropologie den wissenschaftsgeschichtlichen Aspekt zu thematisieren. Die Veranstaltung war auf Diskussionen aufgebaut, MIKULÄS:

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und Peter Fleissners Überlegungen über die soziale formative Funktion der Technik wirkten überaus anregend. Wir blieben danach in Verbindung, und als sich Gemeinsamkeiten bezüglich unbeantworteter Fragen über den sozialhistorischen Stellenwert von Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert herausstellten, lud er mich im April 1996 zu einem Wochenendseminar mit Studenten ins Schloss Drosendorf in Niederösterreich ein. Wir hatten uns geeinigt, dass wir uns im Seminar bemühen werden, das Wesen der „Wissenschaftlich-Technischen Revolution" in Bezug auf „die Informatisierung der Gesellschaft" zu klären. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir an eine regelmäßige Zusammenarbeit gedacht haben. Jedenfalls konnte sie nicht fortgesetzt werden, nachdem sich Peter vom Universitätsinstitut beurlauben ließ, um zur Europäischen Union hinüberzuwechseln. Im Laufe meiner Untersuchungen über den Komplex „Wissenschaftsgeschichte - Technikgeschichte - Gesellschaftsgeschichte" im 20. Jahrhundert bin ich wiederholt auf die Frage gestoßen: Was verdankt die Wissenschaft der Technik? Und da sind mir Gespräche mit dem Physiker Peter Wobrauschek vom Atominstiut der Österreichischen Universitäten von großer Hilfe gewesen. Sie ermöglichten mir einen konkreten Einblick in die Art, wie sich die Wechselbeziehung von Wissenschaft, Technik und Industrie in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts vollzieht. G. D.: Wenn ich eure Literaturlisten oder auch vergangene Vorlesungsverzeichnisse anschaue: Ihr seid ja gerade in eurer offiziellen Pension ungemein produktiv gewesen.

Das stimmt schon. Wie erwähnt, die Publikationen haben vielfältige Bezüge zu Wien. Thematisch beschäftigen sie sich mit Bereichen, denen die Forschung relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte: vergleichende Bankengeschichte, vergleichende Unternehmensgeschichte, vergleichende Wirtschaftsgeschichte im staatlichen und nationalen Kontext. Ich habe dann hier in Wien auch gelehrt: Neben Seminaren und Vorlesungen habe ich Exkursionen nach Böhmen und Mähren und in die Slowakei unternommen. Dabei habe ich herausgefunden, dass die Studentinnen und StuALICE:

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denten sehr wenig Ahnung davon haben, was da hinter der nahen Grenze ist. Sie haben mehr über Amerika oder Deutschland gewusst, als über das, was in vierzig Minuten zu erreichen ist. In den letzten Jahren habe ich auch immer wieder Seminare über „Arisierungen" gehalten. Das ist auch dadurch gekommen, dass ich als Expertin in der Historikerkommission gewesen bin, die Mikuläs vorher bereits erwähnt hat. Mit Dieter Stiefel habe ich dann die Ringvorlesung über Holocaust und Ökonomie initiiert. Also vieles, was wir seit Mitte der 1980er Jahren geleistet haben, verbindet uns mit Wien bzw. Osterreich. Das dauert bis heute, und das freut uns sehr. MIKULÄS: Ich habe ja nie so viel gelehrt wie Alice. Obzwar ich immer gerne und nicht ohne Erfolg mit Studenten gearbeitet habe, in Wirklichkeit war das marginal. Seit den 1950er Jahren habe ich eigentlich überwiegend Forschung betrieben. Es ist aber so, dass ich seit den 1980er Jahren indirekt Anteil an Lehrtätigkeit habe, nämlich im Zusammenhang mit den zwölf Sammelbänden, die ich gemeinsam mit dem Wissenschafts-, Sozial- und Medizinhis-toriker Roy Porter herausgebracht habe. Alle diese Sammelbände sind auch für Studenten wichtig geworden. Wir haben von Kollegen erfahren, dass sie diese Sammelbände in ihrer eigenen Lehrtätigkeit benutzen und dass sie auch von Studenten gelesen werden. Der erste Sammelband ist 1981 über die Aufklärung im nationalen Kontext und der letzte 1997 über Natur und Gesellschaft im historischen Kontext herausgekommen. 42 Wir haben uns vorgenommen, uns in den weiteren Sammelbänden mit zentralen ideengeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Entwicklungen im nationalen Vergleich und in interdisziplinären Kontexten zu beschäftigen. Der Verlag Cambridge University Press hat dieses Projekt angenommen; er hat alle Sammelbände publiziert - auch wenn in dem Gremium, das entscheidet, ob bei ihnen etwas veröffentlicht wird oder nicht, diskutiert worden ist, ob sich die Bände 42 Porter, Roy / Mikulas Teich (ed.): The Enlightenments in National Context. Cambridge 1981. Teich, Mikulas / Roy Porter (ed.): Nature and Society in Historical Context. Cambridge 1997.

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überhaupt verkaufen lassen. Aber sie haben sich verkauft und verkaufen sich noch immer. G. D.: Zwölf Sammelbände innerhalb von 16 Jahren heranszngeben, ist eine beträchtliche Leistung. Wie schafft man das? MIKULÄS: Mehr als 150 Autoren waren involviert. Sie für die Mitarbeit zu gewinnen, war maßgeblich das Verdienst des 2002 so jung verstorbenen Roy Porter. Er ist nur 55 Jahre alt geworden. Er war nicht nur ein ungewöhnlich vielseitiger und produktiver Historiker, sondern auch organisatorisch sehr fähig. Ich kenne kaum einen Wissenschaftler von Rang, der sich mit ihm hätte messen können, Ideen und Pläne auch zu realisieren. Aus unseren Sammelbänden zieht nicht nur die Lehre Nutzen, sondern auch die Forschung. Was den bedeutenden amerikanischen Wirtschaftshistoriker David Landes beeindruckt, ist der durchwegs hohe Standard der Beiträge. Mit diesen Worten hat er mich nämlich bei einer Konferenz in München angesprochen, es ist noch nicht so lange her - wir hatten uns kaum gekannt. Dabei war der erste Band ein Produkt des Zufalls gewesen. Bei einem gemeinsamen Abendessen im Robinson College 1979 gab eine Bemerkung von mir über die Aufklärung in Österreich den Anstoß. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass die Cambridger Studenten in einer Lehrveranstaltung über die Aufklärung in Europa nichts über die Aufklärung in Österreich gehört hatten. Daraufhin schlug Roy vor, ein Seminar über die Aufklärung in verschiedenen Ländern zu veranstalten - und die Folge war der erste Sammelband. Insgesamt sind acht Sammelbände daraus geworden, in denen prägende Bewegungen für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft behandelt werden: Renaissance, Reformation, Wissenschaftliche Revolution, Aufklärung, Romantik, Nationalismus, Industrielle Revolution und Fin de Siècle. Die restlichen Sammelbände beschränken sich nicht auf die bürgerliche Gesellschaft, sie beschäftigen sich mit großflächigen Kategorien wie Revolution sowie Natur und Gesellschaft, oder sie beschäftigen sich mit „ewigen" Gegebenheiten des menschlichen Lebens, wie Sexualität oder Drogen. Es gibt auch fremdsprachige Versionen; zum Beispiel wurden der Sexualitätsband und der Drogenband ins Ko221

reanische übersetzt. An dem Drogenband war man auch in Peking interessiert. Kollegen hänselten mich, dass ich sehr reich sein werde, wenn nur ein Bruchteil der chinesischen Bevölkerung das Buch kaufen würde. In Wirklichkeit gehört das Copyright dem Verlag, und weder die Herausgeber noch die Autoren profitieren vom Verkauf. Übrigens mangelt es mir an Informationen, wie die Sache gelaufen ist. Wir planten noch zwei weitere Sammelbände: Markt in der Geschichte - in Zusammenarbeit mit dem ebenfalls verstorbenen schwedischen Wirtschaftshistoriker Bo Gustafsson, sowie Ethik bzw. Moral in der Geschichte - in Kooperation mit dem deutschen Philosophen Kurt Bayertz. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Wir erkannten beide, dass wir uns die notwendige Zeit dafür nicht nehmen konnten. Die Arbeit war zu zeitaufwendig - man arbeitete wenigstens zwei Jahre, bis ein Sammelband druckreif war. Bo Gustafsson habe ich übrigens durch Alice kennen gelernt. In seiner Jugend war er Maoist gewesen, und es spricht viel für die schwedischen Verhältnisse, dass ihm das in seiner Karriere nicht geschadet hat. Allerdings hat er sich vom Maoismus losgesagt. Den jetzt in Münster wirkenden Kurt Bayertz habe ich erstmals 1982 in Braunschweig getroffen. Mit Erika Hickel, Professorin für Geschichte der Naturwissenschaften an der Technischen Universität Braunschweig und zwischenzeitlich deutsche Bundestagsabgeordnete der Grünen, war ich schon länger in wissenschaftlichem und freundschaftlichem Kontakt gewesen; sie hatte uns beide zu einem biochemisch-historischen Symposium eingeladen. Bald stellte sich heraus, dass Kurts und meine wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Positionen sich vielfach überdecken. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die zu einer mir gewidmeten Festschrift führte, die Kurt Bayertz und Roy Porter herausgaben. 43 Außerdem war ich komplett überrascht und ebenso tief bewegt, als mir Roy sein umfangreiches medizinhistorisches Werk widmete und mich als „wahren Freund und Gelehrten" be43 Bayertz, Kurt/Roy Porter (ed.): From Physico-Theology to BioTechnology. Essays in the Social and Cultural History of Biosciences. A Festschrift for Mikuläs Teich. Amsterdam/Atlanta 1998.

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zeichnete.44 Ich muss hervorheben, dass in all den Jahren unserer Zusammenarbeit niemals ein böses Wort zwischen uns gefallen ist. G. D.: Du hast ja in den vergangenen fast zwanzig Jahren Alice immer nach Wien begleitet. „Gerne", wie du vorher gesagt hast. Die Muttersprache von Alice ist ja Deutsch, aber wie ergeht es dir hier mit der deutschen Sprache? Ich sage immer, ich stottere so viele Sprachen, und am Ende beherrsche ich keine richtig. Es macht mir schon Schwierigkeiten. Wenn ich in Deutsch oder Englisch schreibe, dann schwitze ich. Ich schwitze über jedem Satz, den ich seit 1968 oder 1969, ob in Deutsch oder Englisch, publiziert habe. Jeder Satz ist wenigstens sechsmal umgeschrieben, aber danach weiß ich, ob das, was ich aussprechen will, in dem Satz drin ist oder nicht. MIKULÄS:

ALICE: Mikuläs kann beim Schreiben nicht weitergehen, bevor er nicht mit einem Satz zufrieden ist. Ich dagegen gehe weiter, dann wieder zurück. Aber er muss das ausgefeilt haben, bevor er weitergeht.

Das war nicht immer so, wenn ich mich an meinen ersten wissenschaftshistorischen Aufsatz erinnere, der 1944 erschienen ist. Er war die Kurzfassung meiner bereits früher erwähnten preisgekrönten Arbeit über Newton. 45 Den habe ich ja wirklich frei von der Leber weg in zwei Nächten geschrieben. Dass ich damals diese Chuzpe gehabt habe! Aber das ist schon lange her, ich war noch ein Student. Ich würde mir wünschen, dass ich das heute manchmal auch noch könnte. Alice hat ja alles für mich geschrieben. MIKULÄS:

ALICE: Nein, du schreibst handschriftlich deinen Text, und ich tippe ihn dann ab, früher auf der Schreibmaschine, heu44 Porter, Roy: The Greatest Benefit to Mankind. A Medical History of Humanity from Antique to Present. London 1997. Deutsche Ausgabe: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Heidelberg/Berlin 2000. 45 Teich, Mikuläs: Influence of Newtons work on scientific thought. In: Nature, 1944, 4 2 - 4 5 .

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te am Computer. Das habe ich von Anfang an getan. Als Mikuläs seine Dissertation geschrieben hat, habe ich ihm sie getippt, weil Mikuläs hat ja nicht tippen können, und er schafft es auch mit dem Computer nicht. Aber das ist auch mein Fehler, ich habe immer einfach alles geschrieben. Wir gehen dann auch die Texte sprachlich durch, falls mir etwas auffällt. Aber ich könnte nicht sagen, dass ich viel korrigiert habe, höchstens im Deutschen. Im Englischen streiten wir uns manches Mal herum, ob das Wort richtig ist oder nicht; und dann kommt das Wörterbuch heran, und er muss mich überzeugen, oder ich muss ihn überzeugen. Aber das ist eine ganz gute Kontrolle. Ich tippe meine Sachen selbst. Aber Mikuläs liest alles, was ich geschrieben habe. MIKULÄS: Das Bier-Buch 46 habe ich ja Alice gewidmet. In der Danksagung sage ich, dass das Buch im wahrsten Sinne des Wortes ohne sie nicht geschrieben worden wäre. In Deutsch hatte ich vorher ja gar nicht so viel publiziert. Hie und da mal einen Artikel, aber das Bier-Buch habe ich von Anfang an auf Deutsch geschrieben, und ohne Alice hätte ich das nicht geschafft. ALICE: B e i m i r w a r d a f ü r d a s T s c h e c h i s c h s c h r e i b e n

ein

Problem; da ist dann Mikuläs mit mir ganze Nächte daran gesessen. G. D.: Alice, du bist britische Staatsbürgerin, aber 2001 hast du zusätzlich die österreichische Staatsbürgerschaft zurückerhalten.

ALICE: Ja, das hat eine lange Vorgeschichte. Unsere Freunde in Wien hatten die Frage der Staatsbürgerschaft schon früh mit mir besprochen, vor allem nach dem Jahr, als wir als Gastprofessoren in Wien gewesen waren. Sie waren sehr dafür, besonders Herbert Matis und Gerti Enderle, deren Ehemann Peter beim Wiener Magistrat gearbeitet hat. Sie haben gedacht, dass ich mich darum kümmern sollte, die österreichische Staatsbürgerschaft zurückzubekommen. Britische Staatsbürger können noch weitere Staatsbürgerschaf46 Teich, Mikuläs: Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800-1914. Ein Beitrag zur deutschen Industrialisierungsgeschichte. Wien u. a. 2000.

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ten haben; und in Österreich, so sagte man mir, können ausländische Professoren an einer österreichischen Universität zusätzlich die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Da wir damals im 12. Wiener Gemeindebezirk, also in Meidling, gewohnt haben, bin ich zum Meidlinger Magistrat gegangen. Das war eine unangenehme Erfahrung. Dort waren Massen von Menschen, die bei der Passabteilung gewartet haben. Daraufhin meinte ich: „So viele Menschen, ich müsste so lange warten, das steht nicht dafür." Trotzdem haben unsere Freunde gedacht, ich solle nicht aufgeben. Sie haben sogar, so glaube ich zumindest, den damaligen Wiener Bürgermeister Helmut Zilk angesprochen. Peter Enderle hat schließlich für mich ein Gespräch mit dem damaligen Zilk-Sekretär Kurt Scholz ausgemacht. Ich bin dort hingegangen, habe meinen englischen Pass mitgenommen, auch einen alten Meldezettel meiner Eltern, meinen Geburtsschein und so weiter. Ich habe ja immer alle Dokumente bei mir gehabt, sogar von Prag hatte ich sie 1968 mitgenommen. Ich habe dem Sekretär also diese Dokumente auf den Tisch gelegt, und er hat sich das angeschaut. Er macht meinen Pass auf, und dieser Pass hatte eine Fotografie von vielen Jahren vorher. Auf dem Foto war ich vielleicht 35 Jahre alt. Da sagt er zu mir: „Na, so schaun's net aus! Des geht net!" Den Engländern hatte das absolut gar nichts ausgemacht. Da habe ich dann alle Dokumente wieder genommen und habe gesagt: „Danke, ich brauche das nicht!" - und bin weggegangen. 1993 gab es dann ein Gesetz, dass Menschen, die aus Österreich geflüchtet waren und im Ausland leben, die österreichische Staatsbürgerschaft zurückbekommen können. Ich war aber entschlossen, dass ich nie mehr wieder etwas in dieser Sache machen werde, nachdem man mich so behandelt hatte. Dabei wusste ich gar nicht, dass seit 1993 ein solches Gesetz existiert. Eigentlich hätte ich es wissen sollen, denn ich war ja dann später ein Mitglied der Historikerkommission, die unter anderem auch an der Staatsbürgerschaftsfrage Interesse hatte; dazu gab es ein eigenes Projekt. 1945 waren ja Menschen aus den Konzentrationslagern zurückgekommen, von denen viele die Staatsbürgerschaft nicht bekamen. 225

2002 schließlich habe ich dann die österreichische Staatsbürgerschaft doch zurückerhalten. Die österreichische Botschaft in London hatte mir einen Brief geschickt, in dem ich gefragt wurde, ob ich sie annehme. Ich nahm an. Und in einer großen Feier in der Londoner Botschaft fand dann die feierliche Übergabe der Staatsbürgerschaft statt. Dabei hatte ich mich gar nicht mehr darum bemüht. Das waren unsere Wiener Historikerfreunde gewesen. G. D.: Was bedeutet das für dich, dass du die Staatsbürgerschaft wieder hast?

österreichische

ist ganz schön, weil ich mich immer als Österreicherin gefühlt habe. Ich habe doch erzählt, dass ich in Prag hatte beweisen müssen, dass ich Österreicherin und nicht Deutsche bin. Ich würde nicht sagen, dass ich sie unbedingt brauche, aber es ist mir eine Genugtuung, sie zu haben. ALICE: E S

MIKULÄS: Bei dieser Feier in der österreichischen Botschaft in London war auch der tschechische Botschafter eingeladen: Pavel Seifter, ein Historiker, der 1968 zum Dissidenten wurde. Seinen Vater hatte ich übrigens schon 1946 in London kennen gelernt. Bei der Feier kommt nun Seifter auf uns zu und fragt: „Und wie ist es mit eurer tschechischen Staatsbürgerschaft?" Da habe ich geantwortet: „Wir haben sie nicht!" Sagt er: „Aber das geht nicht, das müsst ihr machen!" So haben wir beide, Alice und ich, uns entschlossen, auch um die tschechische Staatsbürgerschaft anzusuchen. Wir sind zum tschechischen Konsulat in London gegangen und haben dort die notwendigen Formulare ausgefüllt. Das alles wurde dann nach Prag geschickt. Nach ungefähr sechs oder acht Wochen bekamen wir beide einen Brief. Ich öffne den meinen - und dort steht, dass meinem Gesuch nicht entsprochen werde. Und dann öffnet Alice ihren Brief - und ihrem Gesuch wurde entsprochen! Ich war wie vor den Kopf gestoßen! Alice war 1944 dadurch, dass sie mich heiratete, eine tschechoslowakische Staatsbürgerin geworden. Sie bekam die Staatsbürgerschaft wieder, aber meinem Antrag wurde nicht entsprochen. Ich habe dann protestiert und bin der Sache nachgegangen. Es hat sich herausgestellt, dass hier juristisch eine Entscheidung 226

gefällt wurde, die auf das Jahr 1968 zurückgeht. Von den Reformen des Prager Frühlings war praktisch nur die Föderalisierung der Republik geblieben - auf der Basis von zwei selbständigen staatlichen Einheiten: die tschechischen Länder und die Slowakei. Damals wurde eine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft geschaffen, die auf der tschechischen und der slowakischen Staatsbürgerschaft beruhte. Ich hätte damals das Recht gehabt, mich um die tschechische Staatsbürgerschaft zu bewerben, weil ich mehr als zwei Jahre in Prag gelebt hatte. Weil mein Heimatort aber in der Slowakei war, wurde ich damals automatisch slowakischer Staatsbürger. Warum Alice die tschechische Staatsbürgerschaft bekommen hat? Sie war ja ursprünglich nicht aus der Tschechoslowakei, war aber mehr als zwei Jahre in einem tschechischen Ort gemeldet gewesen. Von dem allem, da wir außerhalb der Tschechoslowakei lebten, wussten wir nichts. Ich habe mich darin weiter um die tschechische Staatsbürgerschaft bemüht, aber daraus ist nichts geworden. Wir haben auch Seifter angerufen, der inzwischen nicht mehr Botschafter ist, aber weiterhin in London lebt. Er hat gesagt, dass sei wie in dieser imaginären Stadt des Spießbürgertums: in Schiida. Ich habe dann aufgegeben. Es ist kafkaesk!

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Epilog G. D.: Vor mehr als drei fahren haben wir mit unseren autobiografischen Gesprächen begonnen. Was mich neben vielen anderen Dingen in euren Erzählungen besonders berührt hat, ist die Konfrontation der kleinen Welt mit der großen Welt, eure Konfrontation mit Ereignissen und Situationen, denen ihr regelrecht ausgeliefert gewesen seid. Das war 1938 und 1939 mit dem „Anschlüsse Österreichs an das Deutsche Reich bzw. mit dem deutschen Einmarsch in Prag so. Ich denke aber auch an eure Erfahrungen in Prag Anfang der 1950er Jahre wie an die Niederschlagung des Prager Frühlhtgs 1968. Und dennoch: Ich erlebe euch nicht als verzweifelt an dieser Welt, sondern als lebensfreudig. Ihr glaubt weiterhin an eine bessere Gesellschaft. Woher kommt dieser Optimismus?

MIKULÄS: Ich habe schon viel darüber nachgedacht, und wie immer ich die Sache drehe, ich kehre immer zurück zu meinem Verständnis des historischen Prozesses. Das ist wiederum verbunden mit meinem marxistischen Zugang zur Geschichte. Aufgrund unserer Lebenserfahrungen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass historische Prozesse langfristig und widersprüchlich verlaufen. Ich selbst muss irgendwie mit meiner eigenen Vergangenheit zurechtkommen - mit dem, was ich getan, an was ich geglaubt und was ich versucht habe. Man könnte jetzt von einer Selbsttäuschung sprechen, aber momentan bin ich nicht der Ansicht, dass ich an einer Selbsttäuschung leide. Vielleicht denken andere Menschen, die uns kennen oder auch nicht kennen, dass hier jemand einer Täuschung unterliegt. Aber ich sehe das nicht so. In unseren Gesprächen habe ich ja schon darauf hingewiesen, dass ich Anfang der 1960er Jahre angefangen habe, über die Langfristigkeit und Widersprüchlichkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen nachzudenken. Was mich besonders interessierte, war die Entwicklung der kapitalisti229

sehen und sozialistischen Gesellschaftsordnung im historischen Vergleich. Zuerst stellte sich die Frage, ob so etwas wie eine kapitalistische Gesellschaftsordnung existiert, ob hier ein historischer Prozess vorliegt, oder ob wir es hier mit einem ewig bestehenden Phänomen zu tun haben. Unübersehbar ist die Tatsache, dass die akademische Geschichtswissenschaft zwei Entwicklungsphasen anerkennt: Frühkapitalismus und Hochkapitalismus. Problematisch wird es mit „Spätkapitalismus" - ein unter marxistischen Historikern verbreiteter Begriff. Er gilt nach dem Untergang der sozialistischen Gesellschaften sowjetischen Musters als überkommen und überflüssig. Wie auch immer, es gibt einen breiten Konsens, dass frühkapitalistische Phänomene um 1300 in den norditalienischen Städten auftauchen. 1851 findet in London eine Weltausstellung statt, bei der sich das kapitalistisch höchstentwickelte Land, England, aller Welt präsentiert. Da liegen immerhin 550 Jahre dazwischen! Aber im zaristischen Russland ist die Leibeigenschaft erst zehn Jahre nach der Londoner Weltausstellung aufgehoben worden. Gesellschaftsordnungen entwickeln sich weder räumlich noch zeitlich uniform. Ich verbleibe bei der Ansicht, dass die sozialistische Oktoberrevolution das zentrale historische Ereignis des 20. Jahrhunderts war. Mit ihr hängt mittelbar oder unmittelbar zusammen, was sich in der Weltgeschichte und Weltpolitik abgespielt hat: Entstehung des Faschismus, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, Zerfall des Kolonialsystems. Die Folgen der Oktoberrevolution sind bis heute spürbar. Und wenn man bedenkt, wie lange die Auflösung von feudalen und die Ausbildung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung europaweit gedauert hat, da liegt die Oktoberrevolution von 1917 historisch noch nicht weit zurück. Und ich habe mir die Frage gestellt, ob das, was in der Sowjetunion geschehen ist, was in China, im südindischen Bundesstaat Kerala und Kuba geschieht, was in Jugoslawien geschehen ist und was in den mitteleuropäischen sozialistischen Staaten war, zum Beispiel der Prager Frühling, ob das nicht alles Unterschiedlichkeiten sind, die es in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung auch gegeben hat. Sie vollzog sich in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, 230

Österreich, Böhmen, Russland usw. weder gleichzeitig, noch war sie vom gleichen Schlag. Mir geht es um Klärung der historischen Stellung der sozialistischen Gesellschaften in Bezug auf die kapitalistischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Du hast gefragt, warum ich diesen Optimismus habe. Die kleine Welt ist, ob sie es will oder nicht, ein Teil dieser großen Welt und der großen historischen Prozesse. Und wenn ich diese große Welt und die Prozesse so erkläre, wie ich sie erkläre, nämlich in all ihrer Langfristigkeit und Widersprüchlichkeit, dann macht mich das zuversichtlich. G. D.: Wenn ich jetzt einmal die Rolle des kritischen Lesers einnehme, dann könnte ich behaupten, dass die Analyse des Kapitalismus und anderer Gesellschaftsformationen als jeweils sehr langsame historische Entwicklungen immer retrospektiv ist. Man kann ja nur rückblickend Geschichte ordnen, aber man kann nicht vorausschauend sagen, dass sich Gesellschaft zukünftig, langsam zwar, aber Schritt für Schritt, in Richtung einer marxistischen Gesellschaft entwickelt. MIKULÄS: Was du da ansprichst, ist wichtig. Natürlich ist jede Geschichte retrospektiv! Aber ich teile hundertprozentig die Überzeugung Eric Hobsbawms 47 , dass es die Aufgabe des Historikers ist, herauszufinden, warum welche Ereignisse wie geschehen sind - und nicht Prophezeiungen zu machen. Aber die zentrale Frage ist: Was lerne ich aus der Geschichte, aus meiner historischen Analyse? Ist man überhaupt bereit dazu, aus der Geschichte zu lernen, wieso werden denn Kinder in der Schule gemartert, um etwas über die Geschichte herauszufinden? Und ich habe gelernt, dass Gesellschaftsordnungen eine lange Geschichte haben.

G. D.: Wie siehst du das, Alice? kannst dir vorstellen, dass wir in den 6 5 Jahren, die wir nun zusammen sind, in denen wir alles besprochen und auch gemeinsam gearbeitet haben, in unseren Uberzeugungen zueinander gekommen sind. Wir weichen da nicht

ALICE: DU

47 Siehe dessen Autobiografie: Hobsbawm, Eric: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. München 2003.

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voneinander ab. Dieses Verständnis von Geschichte hat mich auch in meiner konkreten historischen Arbeit sehr beeinflusst, etwa in meinen wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen. Natürlich, wenn man auf das Leben zurückblickt, so sieht man immer auch unsere Kämpfe mit den verschiedenen familiären, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die unser Leben beeinflusst haben. Aber wir haben immer versucht, das, was uns da geschieht, zu interpretieren und zu verstehen, nicht einander und nicht andere Leute zu beschuldigen, sondern eben das eigene Leben als Teil der großen Welt zu begreifen. Wenn ich noch etwas korrigieren darf: Du, Gert, hast zuvor von einer „marxistischen Gesellschaft" gesprochen. Der Marxismus war und ist aber erst einmal eine Theorie, und die Erklärungspraxis der marxistischen Theorie war und ist für Mikuläs und mich nützlicher als andere. Aber weil der Marxismus eine Theorie ist, glaube ich kaum, dass man von einer zukünftigen marxistischen Gesellschaft sprechen kann. Wir können von einer sozialistischen Gesellschaft sprechen oder von einer Gesellschaft, die die negativen Seiten des Kapitalismus zu beseitigen versucht und etwas Menschlicheres darbietet. G. D.: Aber auch als Theorie ist, um es einmal sehr überspitzt zu sagen, Marx tot! Marx oder Symbole des Sozialismus sind selbst zum Bestandteil des Kapitalismus geworden - etwa in Form von T-Shirts und anderen Waren der Alltagskultur. Es gibt doch keine relevanten gesellschaftlichen Entscheidungsträger mehr, die einem marxistischen Denken anhängen würden. Eher sind wir doch mit dem Gegenteil konfrontiert: Eine kapitalistische oder neoliberale Entwicklung wird doch zuweilen ivie eine Naturgesetzlichkeit gesehen und nicht mehr hinterfragt. Auch innerhalb der Wissenschaft sind marxistische Erklärungsmodelle sehr in den Hintergrundgeraten. Trotzdem dieser Optimismus? MIKULÄS: Hie und da liest man schon noch Sachen, wo der marxistische Zugang da ist. Aber du hast recht: er ist out of fashion. Aber deswegen ist die Problematik, die man marxistisch zu erklären versucht hat, ja nicht weg. Ganz im Gegenteil! Und ich sehe derzeit nirgends einen Zugang, der mit den aktuellen Entwicklungen fertig werden würde. Schau

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dir die Politik oder die Publizistik zur heutigen Lage an. Was haben sie geschafft? Die Kluft zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Mich hat der Widerspruch zwischen Arm und Reich schon beschäftigt, als ich noch ein Kind war. Diese Kluft habe ich damals schon gesehen. Aber ich sehe nicht, dass gegenwärtig jemand kommen würde und diese Kluft löst. Und jeder redet von der Globalisierung und dass dies ein nicht zu stoppender Prozess sei. Aber dabei gibt es die Globalisierung nur für das Geld und für den Besitz - und nicht für die Menschen. Auf eine solche Globalisierung hat schon Karl Marx hingewiesen. Und ich werde dir noch etwas zur Geschichte erzählen eine Sache, die auf mich einen ganz großen Eindruck gemacht hat: ein Zitat von Friedrich Engels. Engels schreibt knapp vor seinem Tod einem russischen Intellektuellen Folgendes: „Die Geschichte ist nun einmal die grausamste aller Göttinnen. Sie fährt ihren Triumphwagen über Haufen von Leichen, nicht nur im Krieg, sondern auch in Zeiten friedlicher' ökonomischer Entwicklung. Und wir Männer und Frauen sind unglücklicherweise so stupide, dass wir nicht den Mut zu einem wirklichen Fortschritt aufbringen können. Es sei denn, wir werden dazu durch Leiden angetrieben, die beinahe jedes Maß übersteigen." 4 8 Das erklärt mir vieles, vor allem wenn man sich ansieht, was im 20. Jahrhundert geschehen ist, und nicht zuletzt, was wir am eigenen Leibe erfahren haben. G. D.: Als wir im Herbst 2001 mit unseren autobiografischen Gesprächen begonnen haben, seid ihr auch skeptisch gewesen nämlich gegenüber dem autobiografischen Erzählen selbst. MlKULÄS: Ja, man befindet sich immer auf einer Gratwanderung zwischen dem Erzählen über sich selbst und der Analyse. ALICE: Und wenn man eine Autobiografie nicht selbst schreibt, sondern in Interviews zum eigenen Leben befragt wird, dann sagt man vielleicht auch viele Dinge, die man so salopp nie schreiben würde. Das wirkt dann, wenn man das 48 Marx, Karl/Friedrich Engels: Werke (Marx-Engels-Werke). 43 Bände, Berlin 1956-1990, hier: Bd. 39 (1968), 38.

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liest, nicht gut - nicht für einen selbst und auch nicht für andere, z u m Beispiel Kollegen. G. D.: Ihr habt ja einmal von dem Glatteis des autobiografischen Erinnerns gesprochen. Seht ihr das immer noch so? ALICE, MIKULÄS: Ja sicher. Hoffentlich sind uns - dank dir nicht zu viele Ausrutscher passiert.

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GLOSSAR BDM - Abkürzung für: Bund Deutscher Mädel. Der BDM war der weibliche Zweig der Hitler-Jugend (HJ), der seit 1936 einzigen im NS-Staat zugelassenen Jugendorganisation, in der die zehn- bis achtzehnjährigen Kinder und Jugendlichen zum „Dienst am Volk" angehalten wurden. Nach zahlreichen Gewaltakten von Nationalsozialisten 1933 war der BDM wie alle anderen nationalsozialistischen Organisationen auch in Österreich bis zum März* 1938 verboten. Benes, Edvard (1884-1948) - Außenminister der Tschechoslowakei von 1918 bis 1935, sodann bis 1939 ihr Präsident; trat nach dem Münchener* Abkommen zurück und ging ins Exil; Präsident der in London gebildeten tschechoslowakischen Exilregierung; kehrte 1945 in die Tschechoslowakei zurück und wurde wieder ihr Staatspräsident. Bloch, Ernst (1885-1977) - deutscher Philosoph jüdischer Herkunft, sein Hauptwerk: „Das Prinzip Hoffnung". Als Pazifist war Bloch bereits während des Ersten Weltkriegs im Schweizer Exil; nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er Mitglied der KPD. Während der NS-Zeit emigrierte er in die Tschechoslowakei und schließlich in die USA; seit 1948 Professor für Philosophie an der Universität Leipzig. In den 1950er Jahren übte er zunehmend Kritik an doktrinären marxistischen Positionen in der DDR. Am Tage des Berliner Mauerbaus (13. August 1961) befand er sich auf einer Vortragsreise in der BRD, von der er nicht mehr in die DDR zurückkehrte. Schließlich übernahm er eine Professur für Philosophie an der Universität Tübingen. Chamberlain, Neville (1869-1940) - britischer Politiker der Konservativen Partei, britischer Premierminister von 1937 bis 1940; Verfechter der so genannten Appeasement-Politik, die auf Verhandlungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland setzte, um einen Krieg zu verhindern. Er schloss mit Hitler, dem italienischen Diktator Mussolini 235

und dem französischen Premierminister Daladier das Münchener* Abkommen (30. September 1938) ab, in dem die Grenzgebiete der Tschechoslowakei, die nicht zu den Münchener Verhandlungen eingeladen war, genommen und dem Deutschen Reich zugesprochen wurden. Churchill, Winston (1874-1965) - britischer Politiker der Konservativen Partei, vehementer Gegner der AppeasementPolitik des britischen Premierministers Neville Chamberlain*. 1940 wurde er Premierminister einer britischen Allparteienregierung; er gilt als zentraler Motor der alliierten Allianz zwischen Großbritannien, der USA und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Für sein mehrbändiges Werk über den Zweiten Weltkrieg erhielt er 1953 den Literaturnobelpreis. Coventry - Stadt in Mittelengland, die bei schweren deutschen Bombardements, vor allem im November 1940, zu etwa achtzig Prozent zerstört wurde. Dimitroff, Georgi (1882-1949) - kommunistischer bulgarischer Politiker, von 1933 bis 1943 Generalsekretär der Kommunistischen* Internationalen, 1946 bulgarischer Ministerpräsident. Nach dem Reichstagsbrand (27. Februar 1933) wurde Dimitroff in Berlin verhaftet. Dem nationalsozialistischen Regime war die Brandstiftung ein Vorwand, um massiv gegen politische Gegnerinnen und Gegner vorzugehen. Im Reichstagsbrandprozess wurde Dimitroff und seinen Mitangeklagten vorgeworfen, dass Kommunisten den Reichstagsbrand als Auftakt für einen bewaffneten Aufstand in Deutschland durchgeführt hätten. In den geradezu legendären Auseinandersetzungen vor Gericht (unter anderem mit Hermann Göring) trieb Dimitroff seine nationalsozialistischen Widersacher in die Enge. Nach dem Ende des Prozesses wurde Dimitroff in die Sowjetunion abgeschoben. Doktor Schiwago - 1956 erschienener Roman des russischen Schriftstellers Boris L. Pasternak (1890-1960), für den er 1958 den Literaturnobelpreis erhielt; 1965 gleichnamige Verfilmung des Buches mit Omar Sharif in der Hauptrolle. In „Doktor Schiwago" schildert Pasternak (mit autobiografischen Zügen) den Lebensweg eines russischen Künstlers 236

und Arztes in der Zeit zwischen 1904 und 1930. In der Sowjetunion durfte der Roman nicht erscheinen wie auch der Film nie gezeigt werden durfte. Dollfuß, Engelbert (1892-1934) - österreichischer Politiker der Christlichsozialen Partei und ab 1932 österreichischer Bundeskanzler. Gemeinsam mit den paramilitärischen Heimwehren und Teilen seiner Christlichsozialen Partei schaffte er die parlamentarische Demokratie in Österreich schrittweise ab und etablierte ein ständisch-autoritäres bzw. faschistisches System. Dollfuß zeichnete für die Ausschaltung des österreichischen Nationalrats im März 1933 ebenso mitverantwortlich wie für das Verbot der politischen Parteien in den Jahren 1933/34 und die brutale Niederwerfung der Februarkämpfe* 1934. Er wurde am 25. Juli 1934 bei einem Putschversuch von Nationalsozialisten ermordet. Dubiek, Alexander (1921-1992) - von 1958 bis 1970 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, 1963 bis 1969 Mitglied des Politbüros. Er entwickelte sich immer mehr zum Sprecher des Reformflügels innerhalb der Kommunistischen Partei, wurde im Jänner 1968 ihr Erster Sekretär. Er leitete zahlreiche Maßnahmen zur Demokratisierung von Gesellschaft und Staat ein (Prager Frühling). Der Druck der Sowjetunion wuchs. Im August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein und zwangen die Regierung, die Reformen sukzessive zurückzunehmen. Dubfiek wurde nach und nach aller Ämter enthoben und aus der KP ausgeschlossen. Schließlich wurde er in eine Forstverwaltung abgeschoben. Nach dem Zerfall des kommunistischen Systems 1989 wurde Dubcek rehabilitiert und Präsident des neu gewählten Parlaments der Tschechoslowakei. Im November 1992 starb er an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Februarkämpfe 1934 - Aufstand des sozialdemokratischen Republikanischen* Schutzbundes gegen das autoritäre System in Österreich unter Engelbert Dollfuß* im Februar 1934. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf die Industriezentren, unter anderem auf die Arbeiterviertel in Wien. Innerhalb weniger Tage (zwischen dem 12. und 15. Februar) wurde der Aufstand von Einheiten des Bun237

desheeres, der Polizei und der Heimwehren blutig niedergeschlagen. Insgesamt forderten die Kämpfe weit über tausend Tote, insbesondere auf Seiten des Schutzbundes. Im Anschluss wurden neun Schutzbündler von Standgerichten zum Tode verurteilt, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verboten und viele ihrer Aktivisten, soweit nicht ins Ausland geflüchtet, im Anhaltelager Wollersdorf, südlich von Wien, interniert. Fischer, Ernst (1899-1972) - österreichischer Kommunist und Schriftsteller, schrieb Erzählungen, Theaterstücke etc., unter anderem unter den Pseudonymen Peter Wieden und Pierre Vidal. Nach der Niederschlagung der Februarkämpfe* 1934 emigrierte er nach Moskau, um 1945 nach Österreich zurückzukehren; kurzzeitig war er als Vertreter der KPÖ Unterrichtsminister. Die Niederschlagung des Prager Frühlings kritisierte er als „Panzerkommunismus"; daraufhin wurde er aus der KPÖ ausgeschlossen. Gemeindebauten - österreichische Bezeichnung für Anlagen des sozialen Wohnbaus. In der Zwischenkriegszeit wurden in Wien unter der sozialdemokratischen Stadtregierung („Rotes Wien") fast 60.000 Wohnungen in zirka 400 größeren Wohnanlagen (Höfen) für 220.000 Menschen geschaffen - ein, auch international gesehen, einmaliges Projekt. Die großen Gemeindebauten, wie etwa der Karl-MarxHof und der Goethe-Hof, waren Zentrum der Auseinandersetzungen während der Februarkämpfe* 1934. Gottwald, Klement (1896-1953) - bereits in der Zwischenkriegszeit Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei; nach dem Münchener* Abkommen 1938 emigrierte er in die Sowjetunion und kehrte 1945 nach Prag zurück. Er wurde zunächst Vizepremierminister in der provisorischen Regierung der Tschechoslowakei, sodann Premierminister; nach der kommunistischen Machtübernahme wurde er 1948 Staatspräsident. Havemann, Robert (1910-1982) - deutscher Chemiker, Marxist und DDR-Dissident. Er wurde 1932 Mitglied der KPD und war im Widerstand gegen den NS-Staat tätig, woraufhin er vom Volksgerichtshof 1943 zum Tode verurteilt 238

wurde. Das Urteil wurde allerdings nicht vollstreckt. Nach 1945 hatte er mehrere Professuren und akademische Leitungstätigkeiten, zunächst in West-Berlin, seit 1950 nur mehr in Ost-Berlin. Seit 1951 zwar Mitglied der SED, äußerte er zunehmend Kritik am sozialistischen Weg der DDR. 1964 wurde er aus der SED ausgeschlossen, später sukzessive aus seinen akademischen Positionen entlassen; zwischenzeitlich wurde gegen ihn und seine Familie ein Hausarrest verhängt. Heisenberg, Werner (1901 -1976) - deutscher Physiker und Nobelpreisträger, einer der Begründer der Quantenmechanik, zahlreiche Professuren an verschiedenen Universitäten, unter anderem: 1941 bis 1945 Direktor des Kaiser-WilhelmInstituts in Berlin; 1946 bis 1957 Leiter des Max-Planck-Institutes für Physik in Göttingen. Heisenberg hatte an dem deutschen Uran-Projekt mitgearbeitet, das auf eine kontrollierte nukleare Kettenreaktion abzielte. 1945 wurde Heisenberg zusammen mit anderen deutschen Atomforschern in England interniert. Hitler-Stalin-Pakt - Am 23. August 1939 unterschrieben nach vorausgegangenen Geheimgesprächen der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop und sein sowjetischer Amtskollege Wjatscheslaw M. Molotow einen deutsch-sowjetischen Nichtsangriffspakt. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde die Aufteilung Polens sowie des Baltikums, Bessarabiens und Finnlands zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion geregelt. Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Der Nichtangriffspakt und der am 28. September 1939 abgeschlossene deutsch-sowjetische „Grenz- und Freundschaftsvertrag" änderten freilich nichts an den weiteren deutschen Expansionsplänen bezüglich Osteuropas. Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht auch die Sowjetunion. Hlinka, Andrej (1864-1938) - katholischer Priester, gründete vor dem Ersten Weltkrieg die Slowakische Volkspartei, befürwortete zunächst die Gründung der Tschechoslowakei, war dann in der Tschechoslowakei nach 1918 als Führer seiner Slowakischen Volkspartei der Wegbereiter der slowakischen Autonomie. 239

Husäk, Gustav (1913-1991) - seit 1933 Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, während der deutschen Besatzung im organisierten Widerstand tätig. Auch Husäk wurde im Zuge der Schauprozesse* in den 1950er Jahren als „bourgeoiser Nationalist" verurteilt. Er blieb bis 1960 inhaftiert, wurde 1968 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde er als Gefolgsmann der Sowjetunion im April 1969 Nachfolger von Alexander Dubcek* als Erster Sekretär der KP und blieb dies bis zur Wende 1989. Unter seiner Führung wurden die Reformen des Prager Frühlings sukzessive zurückgenommen. Justizpalastbrand 1927 - 15. Juli 1927, Wien. Am 30. Januar 1927 wurden in Schattendorf, Burgenland, bei einer Demonstration des sozialdemokratischen Republikanischen* Schutzbundes ein Mann und ein Kind von Mitgliedern der rechtsextremen Frontkämpfervereinigung erschossen. Beim nachfolgenden Prozess im Juli 1927 wurden die Angeklagten von einem Geschworenengericht freigesprochen. Bei den dadurch ausgelösten Protestmärschen in Wien setzten die Demonstranten den Justizpalast in Brand. Die gewaltsame Niederschlagung der Demonstration durch die Polizei forderte 89 Tote und über tausend Verletzte. Kisch, Egon Erwin (1885-1948) - als „der rasende Reporter" bekannt geworden durch seine Lokalreportagen in Prag vor dem Ersten Weltkrieg, ab 1917 in Wien; wurde 1919 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ), 1920 Ausweisung aus Österreich; pendelte von nun an zwischen Prag, Berlin und Paris; Mitglied der KPD und der KP der Tschechoslowakei; Reisen unter anderem in die Sowjetunion und China; während des Zweiten Weltkriegs Exil in Mexiko; 1946 Rückkehr nach Prag. Kommunistische Internationale (Komintern) - internationaler Zusammenschluss kommunistischer Parteien, 1919 in Moskau zur Ausbreitung des Revolutionsgedankens in ganz Europa gegründet. Die Komintern geriet zunehmend in die Abhängigkeit der Sowjetunion, vor allem Stalins*. 1943 wurde die Komintern aufgelöst. 240

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646-1716) - deutscher Philosoph, Mathematiker und Naturforscher, auch Historiker und Diplomat, gilt als der Universalgelehrte des 17. Jahrhunderts. Auf sein Betreiben hin wurde im Jahre 1700 die Berliner „Societät der Wissenschaften" (Akademie der Wissenschaften) gegründet, deren Präsident er auch wurde. Lidice - Am 27. Mai 1942 wurde der deutsche Reichsprotektor für Böhmen und Mähren und Chef des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, in Prag durch ein Attentat so schwer verletzt, dass er acht Tage später starb. Daraufhin leiteten die Nationalsozialisten brutale Vergeltungsmaßnahmen gegen die tschechische Bevölkerung ein. Am Abend des 9. Juni 1942 wurde Lidice, ein Dorf mit 440 Einwohnern und zirka zwanzig Kilometer westlich von Prag, von deutschen Polizeieinheiten umstellt. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes wurden zusammengetrieben; alle Männer über 15 Jahre wurden erschossen; die meisten Frauen wurden in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, nördlich von Berlin, deportiert. Die fast hundert Kinder des Dorfes wurden in das polnische Sammellager Lodz gebracht. Sieben dieser Kinder wurden als „eindeutschungsfähig" eingestuft und überlebten den Nationalsozialismus in deutschen Adoptivfamilien. Die übrigen Kindern wurden vermutlich im Vernichtungslager Chelmno ermordet. Macmillan, Harold (1894-1986) - britischer Politiker der Konservativen Partei, britischer Premierminister von 1957 bis 1963. März 1938 - Am Abend des 11. März 1938 trat der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg* zurück. Nachfolger wurde der österreichische Nationalsozialist Arthur Seyß-Inquart. In den Morgenstunden des folgenden Tages begann der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich - ohne auf Widerstand des österreichischen Bundesheeres zu stoßen. Am 13. März wurde das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" verkündet. Nationalsozialismus und Antisemitismus waren keinesfalls deutsche „Exportartikel". Viele Österreicherinnen und 241

Österreicher jubelten frenetisch den einmarschierenden Truppen zu; allein bei der Kundgebung mit Adolf Hitler auf dem Wiener Heldenplatz am 15. März nahmen zirka 300.000 Wienerinnen und Wiener teil. Bereits seit mehreren Jahren waren unter anderem die Justiz, das Bundesheer und die Polizei zu großen Teilen von illegalen Nationalsozialisten unterwandert gewesen. In mehreren österreichischen Städten hatten bereits Stunden vor dem deutschen Einmarsch einheimische Nationalsozialisten damit begonnen, die Macht an sich zu reißen. Zudem brach ab dem 12. März in Wien - noch vor Eintreffen der deutschen Truppen - der Antisemitismus der einheimischen Bevölkerung in Form gewalttätiger Aktionen los. In fast allen Wiener Bezirken wurden Jüdinnen und Juden zu „Reibpartien" gezwungen: Unter Androhung von Gewalt mussten sie stundenlang die Straßen von politischen Parolen säubern. In eigenmächtigen Aktionen wurden jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger verhaftet und jüdisches Eigentum beschlagnahmt und „arisiert". In den ersten Wochen nach dem „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich setzten sich in Wien zirka 25.000 so genannte „Kommissarische Leiter" quasi als neue Inhaber ehemals jüdischer Betriebe und Geschäfte selbst ein. Im März 1938 lebten fast 200.000 Juden bzw. Menschen jüdischer Herkunft in Wien - das waren zirka zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Über 120.000 Jüdinnen und Juden konnten aus Wien emigrieren. Mehr als 60.000 wurden Opfer der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie. Magyarisierung - Im ungarischen Teil der Habsburgermonarchie (zu dem auch die Slowakei* gehörte) wurde nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 das Ungarische als einzig verbindliche Amtssprache sukzessive durchgesetzt. Andere Sprachen, wie auch das Slowakische, wurden unter anderem aus (öffentlichen) Schulen bis 1918 schrittweise verbannt. Marshall-Plan - Am 5. Juni 1947 schlug der amerikanische Außenminister George C. Marshall (1880-1959) das European Recovery Program (ERP), ein Wiederaufbauprogramm, vor. Das ERP sollte die wirtschaftlich Not leidenden Länder 242

Europas unterstützen, es diente aber auch den politischen und ökonomischen Interessen der USA in Europa. An der entsprechenden Konferenz im Juli 1947 in Paris nahmen 16 europäische Staaten teil. Auch osteuropäische Länder waren eingeladen. Da ein gemeinsamer Wirtschaftsplan und eine gegenüber der USA offene Abrechnung der Verwendung der Gelder zwei der Voraussetzungen zur Teilnahme am Marshall-Plan waren, sagten die Sowjetunion und daraufhin auch die anderen osteuropäischen Staaten ihre Teilnahme ab. Masaryk, Tomä§ Garrigue (1850-1937) - tschechischer Philosoph, Soziologe und Politiker, Studium in Wien und Leipzig, ab 1882 Professor für Philosophie am tschechischen Zweig der Prager Universität, 1891 bis 1893 Vertreter der „Jungtschechen" im österreichischen Reichsrat, gründete dann die Realistenpartei, 1907 bis 1914 wiederum Abgeordneter im Reichsrat in Wien; während des Ersten Weltkriegs im französischen und russischen Exil. Mit anderen tschechischen und slowakischen Emigranten bereitete er die Errichtung eines gemeinsamen und eigenständigen Staats von Tschechen und Slowaken vor. Nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 wurde Masaryk ihr erster Staatspräsident. Er wurde mehrmals wiedergewählt (1920, 1927, 1934), trat aber 1935 aus gesundheitlichen Gründen zurück. Zum Zeitpunkt seines Rücktritts war die Tschechoslowakei als demokratischer Staat nur mehr von faschistischen bzw. autoritär regierten Staaten umringt. Siehe auch: Ritualmordprozess. de Maupassant, Guy (1850-1893) - französischer Verfasser von Lyrik, Novellen, Romanen und Theaterstücken. Münchener Abkommen bzw. Münchener Diktat - Seit dem „Anschluss" Österreichs im März* 1938 grenzte fast die gesamte Tschechoslowakei an das Deutsche Reich. Hitler wollte im Zuge seiner Vorherrschafts- und Expansionsabsichten in Mittel- und Osteuropa die Tschechoslowakei unter deutsche Kontrolle bringen. Die Nationalitätenkonflikte zwischen der deutschen Bevölkerung (Sudetendeutsche) und der slawischen Mehrheitsbevölkerung kamen ihm dabei sehr gelegen. In Absprache mit Hitler stellte ab 243

dem Frühjahr 1938 Konrad Henlein (1898-1945), der Führer der Sudetendeutschen Partei (SdP), Forderungen nach einer Autonomie an die tschechoslowakische Regierung, die diese unmöglich annehmen konnte, weil dies das Ende des tschechoslowakischen Staats bedeutet hätte. Hitler forderte darauf die Abtretung der deutschsprachigen Grenzgebiete an das Deutsche Reich. Anfang September 1938 drohte Hitler einen deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei an. Der britische Premierminister Neville Chamberlain*, der Vermittler sein wollte, akzeptierte Hitlers Forderung nach Abtretung des Grenzgebiete an das Deutsche Reich. Daraufhin kündigte Hitler den sofortigen Einmarsch der Wehrmacht und eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit am 28. September 1938 an. In dem Glauben, einen Krieg verhindern zu können, bat die britische Regierung daraufhin den faschistischen italienischen Diktator Benito Mussolini um Vermittlung. Hitler, Mussolini, Chamberlain und der französische Premierminister Edouard Daladier trafen sich am 29. September in München. Die Tschechoslowakei und auch ihr Bündnispartner Sowjetunion waren nicht eingeladen worden. Das Münchener Abkommen besiegelte die Abtretung der Grenzgebiete an das Deutsche Reich. Die Tschechoslowakei, die in die Verhandlungen nicht einbezogen worden war, musste sich dem Abkommen fügen. Mit dem Münchener Abkommen war das Ende der Tschechoslowakei vorgezeichnet: Kein halbes Jahr später und einen Tag nachdem die Slowakei* mit einer Unabhängigkeitserklärung zu einem Vasallenstaat des nationalsozialistischen Deutschlands geworden war, marschierte am 15. März 1939 die deutsche Wehrmacht in Prag ein und errichtete das Protektorat Böhmen und Mähren. Im Münchener Abkommen hatten England und Frankreich noch den Bestand des tschechoslowakischen Reststaats garantiert. Nehru, Jawaharlal (1889-1964) - indischer Politiker, 1947 bis 1964 erster Premierminister Indiens nach der Unabhängigkeit. Er hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England zum Rechtsanwalt ausbilden lassen, seit 1919 war er Weggefährte Gandhis beim Unabhängigkeitskampf Indiens gegen die britische Kolonialmacht. Als indischer Premier244

minister begründete er die Vereinigung der „Blockfreien Staaten" mit. Nehru ist Vater der späteren indischen Premierministerin Indira Gandhi (1917-1984). Nestroy, Johann (1801-1862) - Wiener Schauspieler, Sänger, Theaterdirektor und Dramatiker. Mit „Lumpazivagabundus" gelang ihm 1833 der Durchbruch als Autor. Die meisten seiner Stücke sind Komödien, Satiren und Zauberstücke. In seine meist vordergründig unpolitischen Stücke verwebte er stets auch politisch-kritische Elemente und bekam daher immer wieder Ärger mit den vormärzlichen Zensurbehörden. Bis heute ist Nestroy einer der meistgespielten einheimischen Autorinnen und Autoren in österreichischen Theatern. Newton, Isaac (1643-1727) - englischer Physiker, Mathematiker und Astronom, auch Alchimist, Theologe und Philosoph. Er gilt als einer der bedeutendsten Physiker der Geschichte und als Mitbegründer der klassischen und theoretischen Physik. Er formulierte unter anderem das Gravitationsgesetz. Nichtangriffspakt - siehe: Hitler-Stalin-Pakt Novemberpogrom - Die Führung des NS-Staats nahm die Ermordung eines Beamten der Deutschen Botschaft in Paris durch einen polnischen Juden zum Anlass, am 9. November 1938 im gesamten Deutschen Reich, inklusive des „angeschlossenen" Österreich, ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung anzuzetteln. Insbesondere von der SA und NSDAP zusammengestellte Trupps verhöhnten, misshandelten und ermordeten jüdische Bürgerinnen und Bürger, zerstörten die meisten Synagogen und jüdischen Bethäuser, verwüsteten jüdische Friedhöfe und plünderten jüdische Wohnhäuser, Wohnungen und Geschäfte. Novotny, Antonin (1904-1975) - war während der deutschen Besatzung unter anderem im Konzentrationslager Mauthausen inhaftiert. 1953 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei, 1957 auch Staatspräsident der Tschechoslowakei, wurde 1968 als Erster Sekretär von Alexander Dub£ek* und als Präsident von Ludvik Svoboda ersetzt. 245

Pelikán, Jifí (1923-1999) - einer der führenden Akteure des Prager Frühlings. Nach dessen Niederschlagung emigrierte er nach Italien. Von 1977 bis 1989 vertrat er die Sozialistische Partei Italiens im europäischen Parlament. Republikanischer Schutzbund - 1924 gegründete Verteidigungsorganisation der österreichischen Sozialdemokraten in der Zwischenkriegszeit. Der Schutzbund wurde 1933 nach der Errichtung eines autoritären Regimes in Osterreich unter dem Christlichsozialen Engelbert Dollfuß* verboten. Der Februaraufstand* 1934 wurde vor allem von Mitgliedern des Schutzbunds getragen. Ritualmordprozess - Zu Ostern 1899 wurde in einem Wald bei Polna in der Nähe von Jihlava (Iglau) die Leiche einer jungen Frau gefunden. Bis heute ist der Tathergang nicht geklärt. Im Kontext zahlreicher weiterer antisemitischer Ritualmordbeschuldigungen in Mittel- und Osteuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand auch in Polna das Gerücht, dass hier eine christliche Jungfrau von einem Juden bestialisch ermordet worden sei. Ein 22-jähriger Jude, Leopold Hilsner, stand schon vor dem Prozess als Täter fest. Er wurde bezichtigt, der jungen Frau die Kehle durchgeschnitten zu haben, um christliches Blut für das Pessachfest zu erhalten. Am 16. September 1899 wurde Leopold Hilsner zum Tode verurteilt und schließlich zu lebenslanger Haft „begnadigt". Erst nach 19 Jahren Haft kam Hilsner frei. Tomás Garrigue Masaryk*, der sich als damaliger Prager Universitätsprofessor für Hilsner und gegen antisemitische Verschwörungstheorien engagierte, wurde infolgedessen in Teilen der Presse, in Drohbriefen und von Studenten beschimpft und bedroht. Roosevelt, Franklin D. (1882-1945) - US-amerikanischer Politiker der Demokratischen Partei. Er war bereits 1920 demokratischer Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, 1921 erkrankte er an Kinderlähmung, woraufhin er von den Hüften abwärts gelähmt blieb. 1928 wurde er Gouverneur von New York, 1932 amerikanischer Präsident, für den die Bekämpfung der Wirtschaftskrise* mittels des „New Deal" (Eingrenzung des Wirtschaftsliberalismus) eine der wich246

tigsten Aufgaben war. 1940 kandidierte er erfolgreich für eine dritte Amtszeit, 1944 für eine vierte. Nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor, am 7. Dezember 1941, erfolgte eine gegenseitige Kriegserklärung; am 11. Dezember 1941 erklärte Deutschland den USA den Krieg. Schauprozesse - Bereits in den 1930er Jahren entledigte sich Stalin*, unter anderem mit Schauprozessen, bei denen die Urteile von vornherein feststanden und die Angeklagten eigentlich keine Möglichkeit der Verteidigung hatten, zahlreicher wirklicher oder vermeintlicher Gegner. Nachdem Tito - der jugoslawische Partisanenführer und Chef der Kommunistischen Partei - 1948 mit Stalin gebrochen hatte, setzte auf Betreiben der Sowjetunion eine „Säuberungswelle" in den kommunistischen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas ein. Oft waren die verfolgten, angeklagten und zu Haftstrafen oder zum Tode verurteilten kommunistischen Funktionäre loyal zu Stalin und zur Sowjetunion gestanden; so etwa der ungarische Außenminister Läszlö Rajk oder auch Rudolf Slänsky, der bis Herbst 1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei war. Im Schauprozess gegen Slänsky und dreizehn weitere Angeklagte (20. bis 27. November 1952) wurde Slänsky der Leitung eines „staatsfeindlichen Verschwörungszentrums" beschuldigt. Elf der vierzehn Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, drei zu lebenslangen Haftstrafen. Neben persönlichen Machtinteressen spielten unbestreitbar auch antisemitische Motive bei der Inszenierung und Durchführung der Schauprozesse eine Rolle: So war Slänsky - wie auch eine Mehrheit der Mitangeklagten - jüdischer Herkunft gewesen. Schuschnigg, Kurt (1897-1977) - Politiker der Christlichsozialen Partei Österreichs; 1930 Gründer der katholischen „Ostmärkischen Sturmscharen", 1932 Justizminister, 1933 zusätzlich Unterrichtsminister, nach der Ermordung von Dollfuß im Juni 1934 österreichischer Bundeskanzler, dem Adolf Hitler seit 1936 in Verhandlungen immer mehr Zugeständnisse abrang. Schuschnigg trat am 11. März* 1938 als Bundeskanzler zurück und machte den Weg für den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich frei. 247

Slowakischer Nationalaufstand 1944 - Der Slowakische Nationalaufstand gegen das klerikal-faschistische bzw. nationalsozialistische Regime begann am 29. August 1944. Getragen wurde der Aufstand vom Slowakischen Nationalrat, in dem sich die illegale Kommunistische Partei und bürgerliche Organisationen zusammengefunden hatten. Teile der slowakischen Armee wie auch Partisanen schlössen sich dem Aufstand an. Zentrum des Aufstands war die mittelslowakische Stadt Banskä Bystrica. Fast zwei Monate hielten die Aufständischen das von ihnen besetzte Gebiet gegen die deutschen Besatzer. Am 27. Oktober 1944 fiel allerdings Banskä Bystrica. Die Aufständischen wurden daraufhin von der deutschen Wehrmacht wie von der SS brutal verfolgt; viele Menschen wurden hingerichtet oder in Konzentrationslager verschleppt. Der Aufstand forderte zirka 20.000 Opfer. Slowakei bzw. Slowakischer Staat - Am 6. Oktober 1938 wurde die Slowakei zur autonomen Region in der Tschechoslowakei; am 2. November 1938 verlor die Slowakei laut dem Wiener Schiedsspruch südliche Landesteile an Ungarn; ab 14. März 1939 wurde die Slowakei ein eigener Staat - mit klerikal-faschistischem Regime. Die Slowakei war vom nationalsozialistischen Deutschland abhängig, behielt aber bis zur Niederschlagung des Slowakischen* Nationalaufstands 1944 eine weitgehende Autonomie, unter anderem auch in ihrer antijüdischen Politik: 1939 begannen die Verfolgungen; seit 1941 wurden Ghettos und Sammellager (unter anderem Sered) für Jüdinnen und Juden errichtet, 1942 und 1944 (im Zuge der deutschen Besetzung und Besatzung) fanden Deportationen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager statt. In der Zwischenkriegszeit hatten etwa 90.000 Jüdinnen und Juden in der Slowakei gelebt - zirka 65.000 wurden deportiert. Spanienkämpfer(in) - Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen* Bürgerkrieg Spanischer Bürgerkrieg - Nachdem 1931 der spanische König Alfons XIII. das Land verlassen hatte, wurde die Zweite Spanische Republik ausgerufen. Bis 1936 wechselten die Regierungen häufig. Am 17. Juli 1936 begann ein Militärauf248

stand - unter anderem unterstützt vom Klerus und von der faschistischen Partei - gegen die republikanische Regierung. Zahlreiche Städte wurden von den Aufständischen besetzt. In dem darauf folgenden und bis 1939 dauernden Bürgerkrieg wurden die Aufständischen unter anderem vom faschistischen Italien und nationalsozialistischen Deutschland unterstützt; so bombardierte die deutsche „Legion Condor" die spanische Stadt Guernica. Gegner der Aufständischen waren das regierungstreue Lager aus Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und anderen. Die bedrängten Regierungstruppen erhielten nicht nur Unterstützung seitens der Sowjetunion, sondern vor allem auch von vielen Freiwilligen aus zahlreichen Ländern, den so genannten Internationalen Brigaden. Zahlreiche Schriftsteller und Journalisten, wie etwa Ernest Hemingway, George Orwell, Berthold Brecht und Egon Erwin Kisch*, nahmen auf Seiten der Republik am Spanischen Bürgerkrieg teil. Mit dem Einzug der aufständischen Truppen unter General Franco in Madrid, am 28. März 1939, hatten die Republikaner den Bürgerkrieg, der zirka 300.000 Menschen das Leben kostete, verloren. Stalin, Josef W. (1879-1953) - seit 1922 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, seit 1941 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare (Ministerrat). Im Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei hatte er sich seit Beginn der 1920er Jahre sukzessive seiner politischen Gegner entledigt. Während seiner Regierungszeit wurde eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion, unter anderem politische Gegnerinnen und Gegner (bzw. solche, die für solche gehalten wurden), in Strafarbeitslager verschleppt und oft ermordet. Als Oberbefehlshaber der Roten Armee während des Zweiten Weltkriegs leistete er freilich einen wesentlichen Beitrag zur Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland. Wirtschaftskrise - Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschärfte auch in Österreich die ohnehin schon schwache ökonomische Situation. 1931 brach mit der Creditanstalt die größte österreichische Bank zusammen. Die Industrieproduktion sank bis 1932 um etwa zwei Fünftel des Wertes von 249

1929. Die Arbeitslosigkeit in Österreich stieg rapide an. Bewegte sich die Erwerbslosenquote in den 1920er Jahren lange Zeit konstant um die zehn Prozent, so erreichte sie 1934 eine neue Dimension: 38,5 Prozent. Fast 800.000 Österreicherinnen und Österreicher - bei einer Gesamtbevölkerung von nicht einmal sieben Millionen - waren ohne Erwerb. Nicht einmal die Hälfte der Erwerbslosen hatte Anspruch auf Arbeitslosen- bzw. Notstandsunterstützung. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene aus der Arbeiterschicht waren von dieser wirtschaftlichen Notsituation betroffen. Zionisten bzw. Zionismus - eine unter europäischen Jüdinnen und Juden des 19. Jahrhunderts entstandene Bewegung, die sich - unter anderem als Reaktion auf den Antisemitismus - für die Schaffung eines eigenen jüdischen Staats einsetzte. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte die jüdische Zuwanderung nach Palästina verstärkt ein, erste Kibbuzim (Kollektivsiedlungen) wurden gegründet und (sowohl in Palästina als auch in Europa) eine organisatorische Infrastruktur aufgebaut. Bis 1914 waren bereits 85.000 Jüdinnen und Juden nach Palästina eingewandert; in Tel Aviv - von Einwanderinnen und Einwanderern aufgebaut lebten 1938 schon 150.000 Menschen. Nach Auseinandersetzung mit der britischen Mandatsmacht (und dem Ablauf des Mandats), ersten arabischen Anschlägen und einem UN-Beschluss zur Errichtung eines jüdischen und arabischen Staats in Palästina proklamierte am 14. Mai 1948 David Ben Gurion den Staat Israel, der kurz darauf durch die USA und die Sowjetunion anerkannt wurde.

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