Ein Mensch und zwei Leben: Erwin Stein (1903-1992) [1 ed.] 9783412504038, 9783412503703

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Ein Mensch und zwei Leben: Erwin Stein (1903-1992) [1 ed.]
 9783412504038, 9783412503703

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ANNE C. NAGEL

Deutschland im 20. Jahrhundert. Am 7. März 1903 wird Erwin Stein in dem Städtchen Grünberg/Oberhessen als Sohn eines Bahnmeisters geboren. Alles deutet auf ein solides Leben ohne Verwerfungen. Es kommt anders. Die politische Entwicklung in der ersten Jahrhunderthälfte zwingt den Juristen, der mit einer Jüdin verheiratet ist, zu größter Zurückhaltung. Nach 1945 beginnt sein zweites Leben. Unter dem Motto „Es muß alles anders werden“ stürzt er sich in die Politik und greift nachdrücklich in die Gestaltung eines demokratischen Deutschland ein.

ERWIN STEIN

ANNE C. NAGEL

ISBN 978-3-412-50370-3

EIN MENSCH UND ZWEI LEBEN:

ERWIN STEIN (1903–1992)

Anne C. Nagel

Ein Mensch und zwei Leben: Erwin Stein (1903–1992)

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Erwin-Stein-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Aus dem Privatnachlass von Erwin Stein. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung: Satz+Layout Werkstatt Kluth GmbH, Erftstadt Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50403-8

Inhalt

7

I „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

10 17 29 34 39 48 59 68

Grünberg Auf der Suche nach sich selbst „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“ Studium in Heidelberg, Frankfurt und Gießen Hedwig Herz Büdingen Rechtsanwalt in Offenbach Lilly Herz und Hedwig Stein

81

II „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

84 94 103 113 127 134 155 178

Der Weg in die Politik Die hessische Verfassung Kultusminister im Kabinett Stock Schulreform Caux Hochschulpolitik Am Bundesverfassungsgericht Ein Leben für die Demokratie

187

Anmerkungen

235

Dank

237

Anhang

237 238 249 250

Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Bildnachweis Personenregister Inhalt 5

I „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Als Erwin Stein 1992 im Alter von 89 Jahren starb, ging ein erfülltes Leben zu Ende. Der Jurist, hessische Staatsminister a. D. und langjährige Richter am Karlsruher Bundesverfassungsgericht war eine geschätzte Figur des öffentlichen Lebens und bis zuletzt gesellschaftlich präsent gewesen. Gleichwohl erfolgte die Beisetzung in aller Stille, im Kreis von Verwandten und Freunden, ohne Pomp und Prominenz, so wie es Stein ausdrücklich festgelegt hatte. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem kleinen Friedhof des Klosters Arnsburg bei Gießen, wo er für sich und seine Frau beizeiten ein Doppelgrab erworben hatte. Für Ortsfremde wie ihn mußte dafür freilich vorab die Zustimmung der „Graf zu Solms Laubachschen Rentkammer“ eingeholt werden. Es sei schon immer sein Wunsch gewesen, auf dem Arnsburger Friedhof begraben zu sein, trug er der Kammer in seinem Anschreiben vor und brachte das familiäre Herkommen „aus dem hiesigen Bezirk“, seine allgemeinen „öffentlichen Verdienste“ und nicht zuletzt die „besondere Aufmerksamkeit“ in Anschlag, die er dem Kloster als hessischer Kultusminister habe zuteil werden lassen. Dem Schreiben lag ein Lebenslauf und eine Liste der erhaltenen Ehrungen bei. Beide Dokumente bezeugen ein so engagiertes wie erfolgreiches Leben.1 Was die berufliche Seite anlangt, hatte es Stein buchstäblich zu etwas gebracht. Bis 1945 wirkte er als gefragter Anwalt in Offenbach am Main und übernahm danach wichtige Funktionen beim Wiederaufbau der politischen und rechtsstaatlichen Strukturen in der Bundesrepublik. Entsprechend erfolgreich verlief sein Leben auch in materieller Hinsicht, denn Stein starb als ein wohlhabender Mann. Nur auf das Private war mancher Schatten gefallen. Zweimal hatte er sich vermählt, zweimal verstarben die Frauen. Dazu blieben beide Ehen kinderlos. Zuerst waren die Lebensumstände nicht danach, später rückten Beruf und Berufung in den Vordergrund. Ein Trost mag für ihn gewe„Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein 7

sen sein, daß dies den Freiraum erhöhte, den er für ein Leben in gesellschaftlicher Verantwortung brauchte. Die zahlreichen Schilderungen ihm nahestehender Menschen beschreiben Stein als einen ruhigen, besonnenen Mann, der sich gern in Gesellschaft begab, dort viel und lebhaft diskutierte, ohne jedoch die Gespräche zu dominieren. Er sei stets an anderen Auffassungen interessiert gewesen, heißt es, und er habe sie gelten lassen, auch wenn sie der eigenen Meinung entgegenstanden. Auf offenkundige Inhumanität und politischen Radikalismus habe er allerdings empfindlich reagiert und dann offensiv dagegengehalten. Übereinstimmend wird seine große Belesenheit betont und die Souveränität bewundert, mit der er sich in Philosophie, Theologie und Literatur auskannte. Klassisch humanistisch gebildet, waren ihm die antiken Denker vertraut und hatte er die einschlägigen philosophischen Werke von Kant bis Nietzsche studiert. In Malerei und Belletristik liebte er Realismus und Expressionismus, in der Musik Bach und Beethoven. Aber auch an der Kunst des Mittelalters fand er vieles bewunderungswürdig, angefangen bei der Kirchenmalerei über den Minnesang bis zur sakralen Baukunst. Erwin Stein war allem Vernehmen nach ein vielseitig gebildeter Mann mit festen Überzeugungen, aber kein Dogmatiker. Sein protestantischer Glaube war ausgeprägt, aber er hielt zeitlebens auf Toleranz gegenüber anderen Religionen. Das war nichts Kleines in einer politisch und weltanschaulich radikalisierten Welt, wie sie besonders Steins erste Lebenshälfte prägte.2 In den ersten Märztagen des Jahres 1903 geboren, zählt Stein zu einer Generation, über die bereits viel geforscht und geschrieben worden ist. Gemeint sind die Jahrgänge 1900 bis 1912, die in Soziologie und Geschichtswissenschaft terminologisch als „Kriegsjugendgeneration“ Eingang gefunden haben. Es wird dabei von der Annahme ausgegangen, daß die von einer Gruppe von Menschen in etwa dem gleichen Alter gemeinsam gemachten und als prägend empfundenen Erfahrungen sich entscheidend auf die Persönlichkeitsentfaltung ­auswirken. Die ersten Erlebnisse junger Menschen formen ihre Weltsicht und werden zum Maßstab ihres späteren Handelns. In die Sekurität des prosperierenden Kaiserreichs hineingeboren, erlebten die 8  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

­ ngehörigen der Kriegsjugendgeneration den Ersten Weltkrieg, den A Zusammenbruch der Monarchie und die Revolution als Kinder oder Jugendliche. Vor allem im bürgerlichen Milieu sei die jugendliche Kriegsbegeisterung groß gewesen und habe bis 1918 überdauert, so daß die unerwartete Niederlage als traumatisch erfahren worden sei. Gleichwohl hielt die Kriegsjugendgeneration an den Heldengeschichten der Frontsoldaten fest und beschwor deren vermeintliche Schützengrabengemeinschaft als ein Urerlebnis. „Diese Generation trat vital und moralisch schon geschwächt auf den Plan. Sie hatte kein Vertrauen ins Leben und sie blickte sauer. Durch die Umstände war in ihrem einfachen Sein schon die negative Komponente besonders betont“, brachte Peter Suhrkamp, ein engagiertes Mitglied der Jugendbewegung im Kaiserreich, das Lebensgefühl dieser Jahrgänge auf den Punkt.3 Mit einem idealisierten Bild vom Krieg wurden die politisch schwierigen Anfangsjahre der Republik für die Kriegsjugendgeneration zum Problem. Die für den Lebensweg dieser Generation besonders folgenreichen Konsequenzen von Inflation, Massenarbeitslosigkeit und überfüllten Bildungseinrichtungen begünstigten das Aufkommen und die Verfestigung einer antidemokratischen Haltung. Der Wunsch nach Orientierung war groß und führte zu einer oft kritiklosen Bejahung radikalpolitischer Zielsetzungen, wie sie beiderseits des Weimarer Parteienspektrums aufkamen: „Es war nackter Selbsterhaltungstrieb, wenn bald immer neue Gruppen dieser Jugend sich unter ein positives Programm, von welcher Seite immer es ihnen geboten wurde, retteten“, analysierte Suhrkamp in seinem Artikel weiter.4 Später sollte sich ein beträchtlicher Teil dieser Jahrgänge von Hitler und dem Nationalsozialismus angezogen fühlen. Ausgestattet mit dem „unbedingten“ Willen zur Erfüllung einer weltanschaulichen Mission, reihten sich viele von ihnen in Himmlers SS ein. Doch was sich als typisch für eine Generation zu erweisen scheint, trifft am Ende eben doch nicht auf jeden einzelnen daraus zu.5 Erwin Stein stand abweichend vom Herkommen und generationellen Zusammenhang der Revolution wie der Republik aufgeschlossen gegenüber. Und er zeigte sich immun gegenüber den Verheißungen „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein 9

des Nationalsozialismus, wofür er nach 1933 einen persönlichen Preis zahlen sollte. „Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwicklung verdanken wir tausend Einwirkungen aus einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist“ –, hat Goethe den Prozeß der Persönlichkeitsbildung umrissen.6 Welche Faktoren wurden im Falle Steins wirksam? Welche Rolle spielten die Familie, die Region, die Gesellschaft? Was formte seinen Charakter, so daß er sich angesichts der Zumutungen seiner Zeit anders als das Gros seiner Generation nicht politisch und moralisch radikalisierte, sondern einen an Universalismus und Humanität orientierten Lebensweg beschritt? Der erste Teil dieser Biographie behandelt gut die Hälfte von Steins langem Leben, in der die Fundamente seiner Persönlichkeit gelegt wurden und sich die prägenden charakterlichen und geistigen Entwicklungen vollzogen. Es wird chronologisch in drei Abschnitten vorgegangen, in denen Kindheit, Jugend und die ersten Jahre als junger Erwachsener untersucht und, eingebunden in den historischen Zusammenhang, dargestellt werden. Dazu wurden außer der einschlägigen Literatur zu Stein seine persönlichen Aufzeichnungen sowie einige wenige Briefe aus den Resten des Privatnachlasses herangezogen.7 Grünberg

Der 7. März 1903, der Geburtstag Erwin Steins, war ein Sonntag. Ob für die Eltern die Geburt eines „Glückskindes“, wie die am heiligen Sonntag Geborenen im Volksmund hießen, eine Bedeutung hatte, ist eher unwahrscheinlich.8 Sicher dürfte hingegen sein, daß dieses erste Kind ein Wunschkind war, mit dem sich die Eheleute Stein bis zum Erreichen einer auskömmlichen materiellen Lage Zeit gelassen hatten. Einige Wochen später, am Ostersonntag und damit wiederum an einem besonderen Tag, wurde die Taufe in der evangelischen Gemeinde vollzogen. Neben den Eltern und dem Pfarrer Fritz Schmidt umringten fünf Paten das Taufbecken und bezeugten die Sakramentenspendung. Mit der Patenschaft versprachen sie feierlich, 10  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

den Täufling in ihre Gebete einzuschließen, ihm im Notfall beizustehen und ihn auf seinem Weg in die Gemeinschaft der christlichen Kirche sorgsam zu begleiten.9 Geburtsort von Erwin Stein war die kleine Stadt Grünberg, die, in der großherzoglichen Provinz Oberhessen am Fuße des Vogelsbergs gelegen, zum Kreis Gießen gehörte. Die beschauliche Kommune hatte 1222 das Stadtrecht erhalten, war Sitz eines Amtsgerichts, eines Forstamtes sowie eines Postamtes zweiter Klasse. Um die Jahrhundertwende zählte Grünberg rund 2000 Einwohner, von denen die überwiegende Mehrheit protestantischer Konfession war. Außer Landwirtschaft bestimmten Handwerk und ein wenig Textilindustrie das Wirtschaftsleben der Stadt. Seit 1869 war sie an das Eisenbahnnetz angeschlossen und bildete fortan den Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Gießen– Fulda und Gießen–Lollar. Das wirkte sich günstig auf den wirtschaftlichen Aufstieg des Ortes aus und steigerte zudem seine Attraktivität als Sommerfrische. Ein romantisches Fachwerkensemble samt Schloß und guter Luft in herrlicher Umgebung zog Feriengäste bis aus dem Frankfurter Raum an. Ab 1896 verfügten alle Grünberger Haushalte über einen Wasseranschluß, doch erst 1913 wurde der Ort elektrifiziert. Die ersten sechs Jahre seines Lebens verbrachte Erwin Stein also schon mit dem Luxus von fließendem Wasser im Haus, aber noch ohne elektrisches Licht. Die Dienstwohnung des Vaters lag im „Stammlerschen Haus“, einem prächtigen, um 1520 erbauten Fachwerkbau, der sich bis heute prominent vom spätmittelalterlich geprägten Stadtbild abhebt.10 Wilhelm Balthasar Stein, der Vater von Erwin Stein, wurde im Jahr der Reichsgründung 1871 geboren und stammte unweit von Grünberg aus dem Dorf Großen Buseck. Auf dem kleinen Hof der Familie hatte es für ihn keine Zukunft gegeben, und ein Handwerk zu lernen, wie es sein Vater neben der Landwirtschaft als Schuster im Ort ausübte, war Wilhelm Stein offenbar wenig reizvoll erschienen. Er besaß dagegen großes technisches Interesse und sah Chancen für sich bei der Eisenbahn. Als „pflichtbewußt und willensstark“ beschrieben, faßte er beizeiten den sozialen Aufstieg über Bildung ins Auge und strebte eine Position im Staatsdienst an.11 Grünberg 11

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat das Deutsche Reich in die Hochphase der Industrialisierung ein, die das agrarisch geprägte Land binnen weniger Jahre in einen modernen Industriestaat verwandeln sollte.12 Mobilität wurde großgeschrieben, und ein Garant dafür war die Eisenbahn. Der Ausbau des Schienennetzes schritt voran, wofür man Arbeitskräfte aller Art brauchte. Besonders gefragt waren Bahningenieure und -inspektoren, deren Ausbildung mit dem Bedarf kaum Schritt halten konnte. Für den Beruf eines technischen Bahn­ inspektors brauchte es kein Abitur, es genügte das Abgangszeugnis der Volksschule und eine entsprechende handwerkliche Berufsausbildung. Einen solchen Weg scheint Wilhelm Stein beschritten zu haben, bis er eine Stellung bei der Preußisch-Hessischen Staatsbahn antrat und die Karriere ihren Lauf nahm. Zur Zeit der Geburt seines ersten Sohnes leitete er schon die Bahnmeisterei in Grünberg. Von 1909 bis 1912 war er dann in Hamborn-Neumühlen bei Duisburg stationiert, danach folgten fünf Jahre am Bahnhof in Vilbel, bis er 1917 nach Offenbach am Main versetzt wurde. Hier, am Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Frankfurt–Bebra und Offenbach–Dieburg, erreichte er die Position eines Bahnmeisters I. Klasse und damit den höchsten Rang im mittleren Dienst. Die Besoldung der Bahnmeister bewegte sich im Kaiserreich, je nach Größe und Bedeutung des Bahnhofs, zwischen 2000 und 4000 Mark im Jahr. Das war kein besonders üppiges, aber für eine bescheidene bürgerliche Lebensführung ausreichendes Einkommen. Hinzu kamen eine angemessene Dienstwohnung am Ort und die sichere Aussicht auf eine Alterspension. Höher als das reale Gehalt war jedoch das Prestige, das sich mit einer solchen Position verband. „Technischer Reichsbahn-Oberinspektor“ – das war schon etwas, wenn einer wie Wilhelm Balthasar Stein vom Land kam und aus kleinen Verhältnissen stammte.13 Der Vater Erwin Steins steht beispielhaft für die Bildungsbeflissenheit im deutschen Bürgertum wie für die soziale Mobilität der kaiserzeitlichen Gesellschaft. Wer zielgerichtet, zäh und hart genug arbeitete, konnte durch Bildung aus den unterbürgerlichen Schichten sozial aufsteigen. Im vorliegenden Fall boten sich die verschiedenen staatlichen Eisenbahngesellschaften im Reich für den Aufstieg im 12  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

mittleren und höheren Dienst an, weil sie noch nicht wie andere Staatseinrichtungen fest in der Hand der Juristen lagen. Der Beruf des Ingenieurs war neu und noch ohne kostspieliges Hochschulstudium zu ergreifen, das gewöhnlich dem Eintritt in die mittlere und höhere Beamtenlaufbahn vorausgesetzt wurde. Die solcherart in den Dienst des Staates getretenen Bahningenieure bildeten darum auch ein besonders intensives staatsloyales Standesbewußtsein aus.14 Politisch wird der Vater national, vielleicht nationalliberal gedacht, aber gewiß nicht linksliberal, sozialdemokratisch oder gar sozialistisch gewählt haben. Wie er zum Krieg 1914 stand, ist unbekannt. Als Bahnmeister gehörte er zur privilegierten Gruppe der „Unabkömmlichen“ und dürfte mithin vom Fronteinsatz mit der Waffe verschont geblieben sein. Wilhelm Balthasar Stein hatte seine Möglichkeiten im Leben genutzt und war stolz auf das Erreichte. Noch der Zeitpunkt der Familiengründung spiegelte den sozialen Aufstiegswillen. Nach der Heirat mit Frieda Ruppel wurde mit der Zeugung von Nachwuchs so lange gewartet, bis der Beamtenstatus erreicht war. Und dann sollte es auch bei nur zwei Kindern bleiben, denen es später ermöglicht werden konnte, wiederum eine Stufe höher auf der sozialen Leiter zu steigen. Mit diesem Ziel vor Augen hielt der Vater Stein seine Söhne Erwin und Wilhelm Ludwig frühzeitig und mit einiger Strenge zu Fleiß, Disziplin und Ordnungsliebe an.15 Während der Vater die materiellen Grundlagen sicherte, sorgte die Mutter für ein behütetes Familienleben. Acht Jahre jünger als ihr Mann kam Frieda Stein, geborene Ruppel, aus Nidda. Die kleine Stadt in der Wetterau zählte in jenen Jahren rund 1800 Einwohner, die hauptsächlich von Landwirtschaft und Handwerk lebten. Durch den Anschluß an das Eisenbahnnetz hatte auch Nidda wirtschaftlich profitiert. Färber und Gerber, Papiermacher und Tischler prägten mit ihren Produkten den Ort und machten ihn um die Jahrhundertwende über die Stadtgrenze hinaus bekannt. Friedas Vater, Heinrich Konrad Ruppel, stammte aus einer alten Handwerkerfamilie, deren Wurzeln sich bis an den Anfang des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Er übte den alten kunstvollen Beruf des Blaufärbers aus und führte seit dem März 1860 einen eigenen Betrieb zum „Färben und Drucken seiGrünberg 13

dener, wollener, halbwollener, baumwollener und leinener Stoffe, Shawls, Spitzen, Schleier, Bänder, Fransen“. Schon bald sollte sich das Einzugsgebiet der Blaufärberei durch die Errichtung von Annahmestellen auf den umliegenden Dörfern beträchtlich ausdehnen und die Färberfamilie Ruppel regional bekannt machen. Daneben besaß Heinrich Konrad noch einiges Land, das er, wie im Ort vielfach üblich, im Nebenerwerb bestellte. Alles in allem waren das wohlgeordnete, auch finanziell solide Verhältnisse, aus denen Wilhelm Balthasar Stein die jüngere der beiden Töchter zur Frau nahm.16 Frieda Ruppel hatte keinen Beruf gelernt. Es war damals nicht nur für Frauen vom Land fast durchweg die Regel, sich nach der Heirat ganz dem Mann und der Familie zu widmen. Fest verwurzelt im evangelischen Glauben, lebte sie ihren beiden Kindern die christlichen Werte und Tugenden vor, lehrte sie, ehrlich, bescheiden und rücksichtsvoll zu sein. Darüber hinaus habe sie, so heißt es im Rückblick, als „vorsorgend waltende Hausfrau“ gewirkt, habe auf Sauberkeit und Ordnung gehalten, Küche und Garten stets gut bestellt und immer ein offenes Ohr für ihre Kinder gehabt. Wegen dieser warmen Fürsorge sei sie von beiden Kindern zeitlebens „geachtet und geliebt“ worden.17 Über das Verhältnis der Eheleute Stein zueinander kann indes nur spekuliert werden. Wilhelm Balthasar Stein, um fast ein Jahrzehnt älter als sie, dürfte die wichtigen familiären Entscheidungen getroffen haben. Die junge Frau folgte ihm – ganz konkret beruflich bedingt – von Ort zu Ort, aber auch in allem, was etwa die Erziehung der Söhne betraf. Diese Dominanz des Gatten galt um die Jahrhundertwende noch, wie Thomas Nipperdey betont, als „‚natürlich‘“.18 Daß Frieda Stein den Ehrgeiz ihres Mannes nach sozialem Aufstieg teilte, ist sehr wahrscheinlich. Sein beruflicher Erfolg war vielleicht sogar ein zusätzlicher Anstoß gewesen, eine Verbindung einzugehen, die ihr die Welt öffnete. An seiner Seite trat sie aus dem begrenzten bäuerlich-handwerklichen Milieu ihrer Eltern heraus und sah den Annehmlichkeiten einer staatlich gesicherten, bürgerlichen Existenz entgegen. Es haben sich einige wenige Fotographien aus Kindertagen erhalten. Eine Aufnahme zeigt Erwin Stein im Alter von fünf Jahren allein, 14  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Erwin Stein 1908

eine andere als Achtjährigen zusammen mit der Mutter und dem jüngeren Bruder. Die Bilder wurden, wie es damals üblich war, in einem Studio aufgenommen und spiegeln den Geschmack der Zeit, als Kinder wie kleine Erwachsene gekleidet vor der Kamera posierten.19 Lachen oder lächeln verbot sich wegen der langen Belichtungszeiten, es mußte stillgehalten werden, was dem späteren Betrachter die Stimmung dieser Aufnahmen meist ernster erscheinen läßt, als den Beteiligten selbst vielleicht zumute gewesen war. Der Fünfjährige aber sieht tatsächlich ängstlich aus. Er trägt einen niedlichen Hosenanzug mit Kragen und Plastron, hat Stiefelchen an den Füßen und eine etwas zu große Mütze auf dem Kopf, auf der die Aufschrift „Prinz Heinrich“ prangt. Vor sich hält er mit heruntergedrückten Armen und von beiGrünberg 15

Erwin, Wilhelm und Frieda Stein 1911

den Händen umklammert einen Tennisschläger. Diese Stilisierung sollte womöglich Entschlossenheit demonstrieren, aber dem Knaben scheint das Spiel und damit die Pose fremd gewesen zu sein. Seine Körperhaltung wirkt unentschieden. Auf der Aufnahme von 1911 ist Erwin Stein im Matrosenanzug zu sehen, dem damals im Bürgertum schlechthin angesagten Kleidungsstück für Kinder und Jugendliche. Auf einen kleinen Tisch gestützt, ein aufgeschlagenes Buch liegt darauf, schaut er mit offenem Gesicht in die Kamera. Während der vier Jahre alte Wilhelm dicht neben der auf einem Stuhl sitzenden Mutter steht, hält Erwin sich ein wenig abseits. Er gibt den großen selbständigen Bruder, so als sei er, weil er inzwischen zur Schule geht und bereits lesen kann, auch schon kein Kind mehr. Tatsächlich markierte der Schulbeginn in jenen Jahren eine scharfe Zäsur im Leben junger Menschen, gerade im bürgerlichen Milieu. Im Grunde kam damit die eigentliche Kindheit an ihr Ende und der „Ernst des Lebens“ begann.20

16  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Auf der Suche nach sich selbst

Erwin Stein wurde im rheinländischen Hamborn-Neumühl bei Duisburg eingeschult, wohin der Vater 1909 versetzt worden war. Die ersten drei Jahre verbrachte der Junge freilich nicht auf einer gewöhnlichen Volksschule, sondern er wurde auf eine Vorschule zur Vorbereitung auf den späteren Besuch einer Höheren Lehranstalt geschickt. Aus den frühen Schuljahren ist bekannt, daß er ein aufmerksamer und fleißiger Schüler war, der im Zeugnis unter „Betragen“ stets ein „Sehr gut“ stehen hatte.21 Steins intellektuelle Fähigkeiten seien beizeiten erkennbar gewesen, heißt es in der Familienerzählung, er habe schnell Lesen, Schreiben, Rechnen gelernt und rasch eine tiefe Neigung für Bücher entwickelt. Auch soll er das, was ihm bei seiner Lektüre interessant erschienen sei, seiner Umgebung gern mitgeteilt und sich im familiären Kreis als Redner erprobt haben. Alles Praktische hingegen sei ihm eher fremd gewesen.22 Obwohl schlank und hochgewachsen, war Stein unsportlich und zudem nur wenig an Dingen interessiert, mit denen Jungs sich gewöhnlich zu befassen pflegen. Man mag sich den daraus resultierenden Gegensatz zum Vater vorstellen, der dem Vernehmen nach kein Mann des Geistigen, gar des Schöngeistigen war, sondern als Ingenieur andere Stärken besaß. Daß sich sein Ältester so völlig anders als er selbst entwickelte, scheint er anfangs irritiert, mit wachsendem Alter des Sohnes aber mit Befremden registriert zu haben. Der Konflikt war vorprogrammiert. Er entstand, als die Revolution 1918 die Monarchie im Handstreich erledigt hatte und das Deutsche Reich eine Republik, aus dem Großherzogtum Hessen der Volksstaat Hessen geworden war. Für den Bahnmeister Stein brach eine Welt zusammen. Der ältere Sohn hingegen setzte auf die Chancen, die sich mit den neuen politischen Verhältnissen ergeben würden und strebte damals, wie er seinem Tagebuch anvertraute, der „Freigeisterei“ zu.23 Die Familie Stein lebte zu dieser Zeit schon einige Jahre im nördlich von Frankfurt gelegenen Vilbel. Das war gemessen an der vorhergehenden Station Duisburg–Hamborn ein direkt beschaulicher Ort mit damals knapp 5000 Einwohnern, der seit der Römerzeit für seine Auf der Suche nach sich selbst 17

Mineralquellen weithin bekannt war, und wo neben dem Tabak- und Zigarrengewerbe die Likörfabrikation blühte. Die Konfessionsstatistik vermerkte für Vilbel zudem neben der großen Mehrheit an Protestanten auch eine namhafte katholische sowie eine jüdische Gemeinde.24 Besonders im Krieg sollte sich die Rückkehr der Steins in die hessische Heimat auszahlen, als nämlich im dritten Kriegsjahr die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Lebensmitteln buchstäblich zusammenbrach. Im sogenannten Steckrübenwinter 1916/17 hungerten die Menschen in den Städten, so daß sich jeder, der Verwandtschaft auf dem Land besaß, glücklich schätzte. Mit Hilfe der Großeltern in Nidda und Großen-Buseck kamen die Steins in Vilbel während des Hungerwinters und auch später in den mageren ersten Jahren der Republik ganz gut über die Runden, wenngleich der Tisch nie übermäßig reich gedeckt war.25 Ungeachtet dessen deutete die Familie den Krieg als Schicksalskampf Deutschlands, den es mit allen Mitteln zu gewinnen galt. Vom zwölfjährigen Erwin Stein stammte denn auch eine selbst gemalte Postkarte an seine Tante mit dem zuversichtlichen Satz „Wir werden siegen!“.26 In Vilbel besuchte Erwin Stein von 1912 bis 1917 die dortige Höhere Bürgerschule. Diese Einrichtung bereitete ihre Schüler auf das Erlernen praktischer Berufe im handwerklichen und kaufmännischen Bereich, nicht aber auf ein Universitätsstudium vor, so daß weitere Schulwechsel fällig wurden.27 Es folgten ab 1917 anderthalb Jahre auf einer Oberrealschule in Offenbach, bis Stein zu Ostern 1919 in die Oberstufe des Frankfurter Lessing-Gymnasiums eintrat. Seine Schulbiographie führte also nicht auf dem klassischen geraden Weg über ein humanistisches Gymnasium zur Reifeprüfung, sondern er mußte das Lehrpensum verschiedener Schultypen bewältigen. Hinzu kam bei jedem Wechsel der Bruch mit der vertrauten Umgebung, den gewohnten Lehrern, Schulkameraden und Freunden. Es dürfte dem zur Melancholie neigenden Teenager einigermaßen schwergefallen sein, sich immer wieder in neue Gemeinschaften einzufügen und sich in ihnen zu behaupten. Womöglich hat dies die Neigung zum Einzel­ gängertum und zur Grübelei verstärkt, die er an sich selbst beobachtete und an verschiedenen Stellen seines Tagebuchs vermerkte. Doch 18  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

war es sein ausdrücklicher Wunsch, die höhere Schule bis zur Reifeprüfung zu besuchen.28 Der Konflikt mit dem Vater hatte nicht zuletzt politische Ursachen. Während sich der Bahnmeister ebenso wie seine Frau nur schwer mit Revolution und Republik abfinden mochte, vielleicht weil er ungebrochen monarchisch gesinnt und um den gesellschaftlichen Status besorgt war, trat der Sohn nach dem Krieg gegenüber den Eltern offensiv für die parlamentarische Republik ein. „Wir sprachen beim Abendessen von Politik. Ich mischte mich ein u. betonte das demokratische Princip. Kopfschütteln“, hielt er im August 1920 einen wohl typischen „Zwist“ mit seinen Eltern fest. Es folgten weitere politische Auseinandersetzungen im Familienkreis, in denen der junge Stein den „Militarismus und das alte System“ vehement ablehnte und die Vorzüge der Republik vor allem für die Arbeiterschaft betonte. Bei solchen Aussprachen fand er sich gewöhnlich der geschlossenen Gegnerschaft von Vater und Mutter ausgesetzt, wobei er die vorgebrachte Kritik, wie es scheint, oft genug direkt persönlich nahm: 4 sprachen gegen mich. Indirekt hörte ich die Meinung über mich: Beim Verharren in diesem Zustand wolle man mir die Tür weisen; daß ich Arbeiter auch als Menschen behandelt wissen wollte, und ich behauptete, ihr Handeln sei hauptsächlich durch den mörderischen Krieg verschuldet und sei ein Abklatsch der ‚sog.‘ höheren Gesellschaft, trug mir die Bezeichnung äußerster Radikalität ein.

In den Augen des Sohnes war der Vater ein „Kompromißler“ und „Spießer“. Sich selbst stilisierte er zum Opfer reichlich verständnisloser Eltern, das ständig Gefahr laufe, wegen seiner politischen Haltung aus dem Haus gejagt zu werden. Viel von dem im Tagebuch festgehaltenen Zorn dürfte typisch sein für einen rebellierenden Siebzehnjährigen, und mancher Streit wurde bei der Niederschrift gewiß auch übertrieben. Gleichwohl handelte es sich jedes Mal um real empfundene Demütigungen, die Schatten auf die ansonsten behütete Kindheit und Jugend Steins warfen.29 Auf der Suche nach sich selbst 19

Die Jahre zwischen 1918 und 1923 waren spannungsreich im Hause Stein und führten zeitweilig zur ernsten Entfremdung zwischen Vater und älterem Sohn. Neben der differierenden politischen Einstellung stellte der einzuschlagende Berufsweg den zweiten großen Konflikt­ herd dar. An der Schulbiographie Erwin Steins ist ablesbar, daß der Vater nicht von vornherein daran gedacht hatte, seinen Erstgeborenen in jedem Fall studieren zu lassen. Nur so viel stand schon frühzeitig fest, daß er eine über die Volksschule hinausgehende Schulbildung, vielleicht bis zur 11. Klasse erhalten würde, was schon mehr gewesen wäre, als die Eltern selbst genossen hatten. Schließlich waren der Besuch eines Gymnasiums und ein Studium kostspielige Angelegenheiten, die das Budget eines mittleren Bahnbeamten stark strapazierten und darum genau überlegt sein wollten. Vielleicht galt es auch noch, gegenüber Verwandten und Kollegen die Peinlichkeit eines möglichen Schulversagens zu bedenken. Als Erwin Stein aber die erforderliche Begabung zeigte, er Freude am Lernen bewies und stets mit guten Noten nach Hause kam, erklärten sich die Eltern zu allen Opfern bereit und zahlten bereitwillig das Schulgeld bis zum Abitur. Danach kam für den Vater freilich nur ein Studium in Frage, das eine auskömmliche Existenz und Reputation verhieß, also Theologie oder besser noch Jura. Der Sohn besaß aber ganz andere Pläne: „Nur als Künstler will ich leben, tiefe ew’ge Werke schaffen“.30 Über Jahre hatte sich Erwin Stein beträchtliche literarische Kenntnisse angeeignet. Er hatte sich in das Studium der deutschen Klassiker vertieft, hatte sich auf die Werke Goethes, Schillers und zeitgenössischer Dichter wie Gerhart Hauptmann gestürzt und daneben immer wieder selbst kleine Texte produziert. Er steckte seine Nase in die Bücher, bis Kopf und Augen schmerzten, und nur, weil keine Lampe in seinem Zimmer stand, las er nicht auch noch die Nächte hindurch.31 In zahllosen Zusammenfassungen, Interpretationen und Gedanken fixierte er das Gelesene, hielt es in kleiner, aber gut lesbarer Handschrift in Quartheften fest, weil Bücher teuer waren und fast immer entliehen wurden. Der Wunsch zur literarischen Selbsterprobung schlug sich in Gedichten wie dem nachstehenden aus dem Mai 1920 nieder: 20  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Es glüht des Himmels rötlich Auge heiß Auf einem überreifen Ährenfeld. Geheimnisvoll, ganz schaurig still und leis, Erklingt der Wind in dieser güldenen Welt. Und wenn sich dann die Halme neigen Vor Wald und Wiesen, Feld und Flur, Dann ist’s, als wollten sie sich zeigen Demütig vor der großen All-Natur.32

Im „Verein für Kunst und Geschichte“ hielt er einen Vortrag über „die Mysterien des Mithras“ und erntete reichlich Beifall dafür. Die Zuhörer lobten unter anderem „Klarheit, Sachlichkeit und Darstellung“ des Beitrags, doch „das Loben erwähne ich nur ungern, ich betrachte es als Selbstüberhebung“, fügte Stein dem Tagebucheintrag betont uneitel hinzu. Später erhielt er vom Direktor der Schule für seine guten Leistungen ein Geldgeschenk, wobei sein Vortrag über den erwähnten antiken Mysterienkult noch einmal ausdrücklich hervorgehoben wurde. 33 Schließlich wurde er auch journalistisch tätig und reichte dem „Vilbeler Anzeiger“ unter dem Pseudonym „Graecus“ einen Artikel über „Die Dichtung unserer Tage. Ein Beitrag zum Expressionismus“ ein, der allerdings ungedruckt blieb.34 Der expressionistische Stil hatte nach dem Krieg Kunst, Literatur und Theater im Sturm erobert und auch den jungen Stein in seinen Bann geschlagen. Er wohnte verschiedenen avantgardistischen Aufführungen damals hoch im Kurs stehender Werke auf den Frankfurter Bühnen bei. Als im Sommer 1920 ein Stück des Pazifisten Fritz von Unruh gegeben wurde, hielt er darüber im Tagebuch fest: Unruh sieht eine Erlösung der Menschheit in der Liebe des Mannes zum Weibe, die aus der Zweiheit die Einheit schafft und neue Menschen gebärt. – Die tollen Liebesszenen im 2. Teil des Stückes – weit stärker als bei Wedekind, Kokoska [sic!] aber ebenbürtig – sollten nur dazu dienen, die reine ‚vollkommene Liebe‘ deutlich herauszuschälen. – Die Wucht der Sprache, die Metaphern verliehen dem Stück etwas Herrenhaftes. Auf der Suche nach sich selbst 21

Das kam schon als reichlich erwachsenes Urteil daher. Doch die Abgeklärtheit des jungen Kritikers täuscht. In Wahrheit rang der Primaner mit den vielfältigen Erscheinungsformen zeitgenössischer Libertinage, die er eher als angsteinflößend, denn als befreiend empfand.35 Im Alter zwischen 15 und 19 Jahren brannte Erwin Stein für ein Leben als Literat –, ob als Lyriker, Romancier oder Essayist ließ er noch offen. Daß er zu Höherem berufen sei, stand für ihn außer Frage und zeigte sich in vielen enthusiastischen Bekundungen seines Tagebuchs. Wie das Meer stets wuchtig auf- und abwogt und bei Stürmen schäumende Flut wild über die Küste hinaus spritzt, so wallt auch mein Blut, das den Geist nährt, hin und her, kommt nie zur Ruhe und in Augenblicken der Leidenschaft und inneren Qual schwillt er so mächtig an, daß das Blut und mit ihm der Geist über die Grenzen der Welt sich Raum sucht. […] Welt, dein Bau ist mir zu alt, zu morsch, zu faul. Der Weg, der zu dir führt, mit zu Alltäglichem gepflastert. Ich will dich anders formen, neu gestalten. Du grenzenlose, ungeheure Welt [,]

hieß es im Juni 1920.36 Einige Tage später bedauerte er den Mangel an geistiger Anregung durch „ältere Leute“, denn das würde ihn, wie er glaubte, schneller voranbringen, als autodidaktisch meinen Schädel mit so viel Wissen zu füllen, das ich doch brauche, um meinen Plan zu verwirklichen. Durch dieses Lernen bin ich eben nicht imstande, etwas Positives zu leisten. Wann wird die Zeit kommen, wo ich all das wissenschaftliche Zeug beiseite werfen und Früchte ernten kann? Hoffentlich bald, denn meine Leidenschaft drängt nach Vollendung. Du wirres Chaos forme Dich! Gebäre einen neuen Stern!37

Dem Bahnmeister würde der Mund offen gestanden haben, hätte er von den geheimsten Gedanken und Gefühlen seines älteren Sohnes erfahren. Aber der achtete klug darauf, daß das Tagebuch vor den Eltern verborgen blieb. Den Eintritt in die Oberstufe im März 1920 empfand Stein als „seliges Glück“ und malte sich insgeheim schon seinen weiteren Weg 22  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

aus. Ostern 1922 würde er das Reifezeugnis in der Hand halten und ein Studium beginnen, zuerst „4 Semester Germanistik u. Philosophie“, dann wollte er als Volontär für ein Jahr in einer Verlagsbuchhandlung arbeiten und später noch einmal zwei Semester auf einer Hochschule studieren. Als Abschluß faßte er eine Promotion ins Auge, mit der er sich gute Chancen auf eine Stelle als Verlagsbuchhändler ausrechnete. All dies sollte nur einem Zweck dienen, dem nämlich, ein Schriftsteller zu werden. Den Eltern hatte er in jenem bereits erwähnten „Zwist“ vom August 1920 zu verstehen gegeben, daß ihm an einem gewöhnlichen bürgerlichen Beruf nichts gelegen sei, sondern er sich angesichts der gewaltigen politischen Veränderungen in der Welt zum Intellektuellen berufen fühle. Nachdem es in dem Gespräch schon über seinen politischen Standpunkt hoch hergegangen war, gings zum Beruf über. Ich dachte: jetzt entwickle deine Ansichten. Ich sprach zunächst von der gesetzmäßigen Entwicklung der Welt, die einmal zur Vollkommenheit gelangen muß. An dieser Aufgabe mitzuarbeiten, sähe ich mich verpflichtet. Meine spezielle Aufgabe sei, die Wahrheit zu verkünden und für sie einzustehen ganz einerlei, welche Folgen dieses für mich haben könnte. Nur keine Kompromisse schließen, sondern stets gerade aus, den Blick gerichtet auf das Endziel. Wenn dies mit wirtschaftlichen Opfern ja selbst mit frühem Tod verbunden sei, wollte ich nicht davon lassen. Ein Neuordner der Gesellschaft ginge ich unbeugsam vorwärts. Lieber zu Grunde gehen, als wegen einer Lüge von seinen Plänen abweichen.38

All dies, so bekannte Stein mit Bestimmtheit seinen Eltern, habe er nur mitteilen wollen, um „spätere Enttäuschungen“ zu vermeiden. Geschwiegen hatte er allerdings darüber, wie er „die Wahrheit verkünden wollte“, was ein Glück gewesen sei, denn nun mündete das Gespräch in offenen Streit mit „gräßlichsten Schmähworten“. Zum guten Schluß drohten die Eltern, „falls ich meine Ansichten nicht änderte“, ihn noch das Abitur machen, dann aber nicht mehr studieren zu lassen. „Nachdem sie das und noch verschiedenes andere gesagt hatten, gingen sie auf den Vilbeler Markt, während meine KopfAuf der Suche nach sich selbst 23

schmerzen vom vorigen Abend sich noch steigerten.“ Konflikte dieser Art kamen in den besten Familien vor und sind bis heute gang und gäbe. In diesem Fall wirkten allerdings die spezifischen Schwierigkeiten einer Aufsteigerfamilie im Hintergrund und erschwerten den Dialog zusätzlich. Der Sohn hatte sich vom kleinbürgerlichen Milieu der Eltern schon ein Stück entfernt, er war belesen und bewegte sich in geistigen Welten, die ihnen reichlich fremd vorkommen mußten. Während sie nichts als eine sichere Zukunft für ihren Sohn im Auge behielten, war eben dies für ihn Ausdruck höchst verachtenswerten „Spießertums“.39 Der Streit um die Berufswahl zog sich hin. Beide Seiten beharrten auf ihren Standpunkten, aber der Vater als alleiniger Sponsor eines Studiums saß am längeren Hebel. Die beruflichen Vorstellungen seines Ältesten lehnte er mit dem Bemerken ab, „¾ Jahre hungern, u. ¼ Jahr kärglich leben“, sei weder „der Schule entsprechend“ noch „anständig“ und drohte dem Sohn wiederholt, ihn nicht studieren zu lassen, falls er nicht einen anderen Kurs einschlagen wolle.40 Bei einem erneuten Gespräch im Mai 1921, Stein hatte seine Berufsplanung, wie er glaubte, schon ein wenig im Sinne der Eltern modifiziert, kam es so weit, daß der Vater erklärte, aus finanziellen Gründen und „angesichts der Zeitumstände“ kein Studium bezahlen zu können. Empört hielt der Sohn das Gespräch im Tagebuch fest: Meine Entgegnung: Der einzige Schluß, den ich daraus ziehen kann, lautet: nicht zu studieren, sondern irgend ein braver gut situierter – ich nenne das – Bürger zu werden. Seine Antwort: Stummheit, wiederholtes Ziehen an der Pfeife u. Weiterlesen der Zeitung. Ergebnis: Trotz meines weitgehenden Entgegenkommens u. Bescheidenheit erfolgte kein anderer Vorschlag. Ihn mag die Ungewißheit ja nicht weiter plagen, mich aber umso mehr. Geduldig will ich jetzt noch sein, bis die Zeit da ist: dann gehe ich mit Entschlossenheit auf mein Ziel los.41

Am Ende ging Bahnmeister Stein als Sieger aus dem Konflikt hervor. Wie er dem älteren Sohn die künstlerischen Flausen aus dem Kopf geschlagen, mit welchen Argumenten er ihn letztlich von den Vorzü24  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Der Vater Wilhelm Balthasar Stein um 1930

gen eines Jurastudiums überzeugt hat, geht aus den Tagebüchern nicht hervor. Vielleicht hatte er ein Machtwort gesprochen, „aut jura, aut nihil!“, und der Sohn hatte eingelenkt? War es dem schließlich doch noch besser erschienen, eine ungeliebte Disziplin zu studieren, als gar keine Hochschule zu besuchen? Sicher ist, daß Erwin Stein schon nach kurzer Zeit an der Universität Heidelberg Geschmack fand an der Juristerei und sich mit Feuereifer in die Arbeit stürzte. Seine vielseitigen geistigen Interessen pflegte er aber, quasi im Nebenberuf, so intensiv weiter wie zuvor. In der Psychologie markiert die Adoleszenz eine wichtige Phase im menschlichen Leben. Zentrale physische und psychische Veränderungen begleiten den Prozeß des Erwachsenwerdens von der GeschlechtsAuf der Suche nach sich selbst 25

reife bis zur emotionalen Abnabelung von den Eltern.42 Die Orientierung an deren Vorbild allein reicht für eine stabile Entwicklung des jungen Menschen nicht aus, weitere sollten begleitend hinzutreten und Leitfunktionen übernehmen. Doch scheint Erwin Stein in dieser Hinsicht eher arm an konkreter „Führung“ gewesen zu sein. Von Lehrern, zu denen er bewundernd aufschaute, oder von einem väterlichen Freund ist niemals die Rede im Tagebuch, und auch Freunde seines Alters scheint er wenige, jedenfalls nicht kontinuierlich über einen längeren Zeitraum hinweg gehabt zu haben. In seiner Primanerzeit war Erwin Stein mit zwei Schulkameraden etwas näher befreundet. Trafen die drei zusammen, dann wurden, wie es für junge Menschen nicht ungewöhnlich ist, stets die großen Zusammenhänge der Welt erörtert. Die Arbeiterfrage etwa war so ein Thema. Während eines Spaziergangs im Mai 1921 kam die Rede auf die „geisttötende Arbeit“ am Fließband. Sein Freund Heinz erklärte eine moderne industrielle Produktionsform für notwendig, damit ein Betrieb möglichst hohe Produktionsraten erzielen und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben konnte. „Wie’s den einzelnen Menschen dabei geht, ist einerlei“, empörte sich Stein über den pragmatischen Standpunkt des Freundes und wunderte sich über dessen Neigung, „alles Geistige zu verdammen“. Ihm selbst stand die Auffassung des anderen Freundes, Lutz, näher, weil er „die Not der Arbeiter durch die Eintönigkeit eingesehen“ habe. Im weiteren Verlauf des Gesprächs „protestierte [Lutz] energisch gegen die Vertierung d. Arbeiters und forderte Vergeistigung durch die Schule, überhaupt Aufbau der Technik u. der Arbeit auf geistiger Grundlage. Ganz meine Ansicht.“43 Als achtzehn-, neunzehnjähriger Primaner war Stein antikapitalistisch und antimaterialistisch gesonnen, ja er fühlte sich gleichsam als „Revolutionär“ und damit dem Arbeiterstand näher als dem Bürgertum. Doch dies alles blieb reichlich theoretisch, den direkten Kontakt zur Arbeiterschaft, zur organisierten zumal, suchte er nicht. Was er darüber wußte, hatte er sich aus Büchern angelesen oder als Beobachter des Arbeitermilieus, wie es ihm etwa in der Bahnmeisterei seines Vaters begegnet sein mochte, zur Kenntnis genommen. Dazu kamen 26  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

die Einflüsse, die das moderne Theater, die linke Avantgarde in Literatur und Musik jener Jahre auf ihn ausübten und ihn in seinem Selbstbild bestärkten. Je mehr sich Stein einem revolutionären Habitus hingab, desto mehr schien sich die Distanz zum eigenen Herkommen zu vergrößern. Die politisch ideologische Verbohrtheit mancher Lehrer am Frankfurter Lessing-Gymnasium beim Blick auf die Republik bestärkten ihn nur weiter in seiner jugendlichen Fundamentalopposition.44 Wiederholt kritisierte Stein die politische Rückwärtsgewandtheit der Lehrerschaft, die Kaiserreich, Krieg und Militarismus vor ihren Schülern verherrlichten und damit die Republik bewußt abwerteten. Er hielt es für ein Unding, daß die Beamten bei jeder sich bietenden Gelegenheit feindlich gegenüber ihrem Dienstherrn auftraten und dafür nicht einmal disziplinarisch belangt würden. So wohnte er als Schüler der Jubiläumsfeier zum 50. Gründungstag des Deutschen Reichs am 18. Januar 1921 bei und bekam eine Rede zu hören, deren Inhalt ihm buchstäblich auf den Magen schlug. Ebenso fatal und am eigentlichen Bildungsauftrag der Schule vorbei erschien ihm das Gedenken an die Skagerrakschlacht Ende Mai dieses Jahres: Obwohl es in der deutschen Reichsverfassung heißt: In allen Schulen ist sittliche Bildung und berufliche Tüchtigkeit im Geist des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben, wird heute in einer deutschen Schule vom Direktor, der von der deutschen Republik angestellt ist, eine Denkrede über die Seeschlacht von Skagerack gehalten, in der zu solchen Großtaten ermahnt und zur Revanche aufgefordert wird.45

Der junge Stein war Pazifist. Die zeitgenössische Verherrlichung von Kampf und Krieg, wie sie im nationalkonservativen und völkischen Milieu jener Jahre eifrig gepflegt wurde, lehnte er kategorisch ab. Er hatte seinen Standpunkt mit der Lektüre einschlägiger naturwissenschaftlicher und philosophischer Werke gewonnen und sich selbst ein Bild zu machen versucht vom damals hoch im Kurs stehenden Sozialdarwinismus, der, wie er bald überzeugt war, ein falsch verstandener Darwin sei. Daß vernunftbegabte Wesen einer einzigen Art sich gegenAuf der Suche nach sich selbst 27

seitig zu vernichten suchten, sei widernatürlich. Dagegen hielt er es für eine Menschheitsaufgabe, die internationale Verständigung zu fördern und für den Weltfrieden einzustehen: Denn alles strebt ja nach Synthese. Die kommt aber nur zustande, wenn jede Nation ihre Eigenart pflegen kann, um die anderen damit bereichern zu können. Mit anderen Worten: das Nationale soll das Universale nicht ausschließen, sondern einschließen. Kann das durch Kriege geschehen? Nie und nimmermehr.46

Mit dieser Haltung war Stein der gemäßigten Richtung innerhalb der deutschen Friedensbewegung zuzuschlagen, die sich für bindende völkerrechtliche Reformen zur dauerhaften Kriegsvermeidung einsetzte. Aber der Kampf für den Frieden fiel in Deutschland auf wenig fruchtbaren Boden. Seine Anhänger blieben zumal im Bürgertum eine Minderheit, die im vergifteten Meinungsklima der ersten Nachkriegszeit einen schweren Stand hatten. Am Frankfurter Lessing-Gymnasium jedenfalls scheint es nur geringes Verständnis für den Pazifismus gegeben zu haben.47 Ein überzeugter Republikaner, Freund der unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiterschaft, ein demokratischer Pazifist und Liebhaber avantgardistischer Kunst – der junge Erwin Stein war in mehr als einer Hinsicht ein Außenseiter, nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch in seinem sozialen Umfeld. Er empfand dieses Außenseitertum deutlich und litt wohl auch darunter. Zeitweilig fürchtete er sogar, aufgrund seiner Neigung zum Extremen im späteren Leben erfolglos bleiben zu müssen.48 Aber wie es bei Heranwachsenden häufig der Fall ist, liegen Leid und Selbstmitleid nah beieinander. Davon zeugen die vielen Selbstreflexionen in seinem Tagebuch, die, meist klug und abgewogen formuliert, dennoch nicht frei sind von gehöriger Selbstüberschätzung: Mein Wesen unterscheidet sich ganz erheblich von dem anderer. Ihre Tugenden Selbstzufriedenheit, Ruhe u. Sorglosigkeit besitze ich nicht, sondern wo ich auf eine solche Tugend stoße, entwickelt sich bei mir ihr Gegenpol. 28  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Meine Zwiespältigkeit wird immer größer. […] Ich kann nicht behaupten, meine Jugendzeit sei eine Freudenszeit, ein Leben voll inneren Glücks, Ruhe u. Geborgenheit. Überall, wo ich bin, wollen ‚Adler‘ mit ihren Krallen und scharfen Schnäbeln mein Fleisch zerreißen, doch scheint es ihnen nicht immer zu gelingen. Warum können denn die Menschen nie ohne Vorurteile an ein Wesen herantreten, das anders als das ihre ist? Welch ein Unheil wäre es doch, wenn die Welt aus lauter altklugen, welterfahrenen, bedächtigen Spießern bestünde, und es keine Außenseiter gäbe. Man würde sämtliche Hoffnung verlieren.49

Junge Menschen ringen häufig leidenschaftlich mit der vermeintlichen Unvernunft der Erwachsenen, sie fühlen sich unverstanden und oft auch persönlich abgelehnt. Dies kann zu ernsten Identitätskrisen, zu einem Gefühl grundsätzlicher Verneinung führen und negative Folgen haben für das spätere Lebensgefühl als erwachsener Mensch. Woher soll der, der sich vom Leben verneint fühlt, Kraft und Mut zum Leben nehmen, wie sein eigenes Ich annehmen? Die sicherste Bestätigung empfängt der Mensch durch die Liebe seiner Eltern. Wer sich als Kind vorbehaltlos angenommen und geliebt fühlt, sagt ja zu sich selbst, und aus dieser Bejahung resultiert am Ende ein positives Selbstwertgefühl.50 Für Erwin Stein sollten sich auf dem gewundenen Weg zu sich selbst neben einem zeitweise konflikthaften, aber letztlich doch emotional stabilen Elternhaus noch zwei weitere Einflüsse als schlüsselhaft erweisen: der christliche Glaube und die Philosophie Friedrich Nietzsches. „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“

„Ursprünglich wollte ich Theologe werden“, resümierte Erwin Stein im Alter von 17 Jahren seine Berufspläne im Tagebuch. Da war er freilich, wie bereits geschildert wurde, von der Idee auch schon wieder abgerückt und fest entschlossen, die „Liebe zu Kunst und Literatur“ zum Beruf zu machen. Was ihm am Pfarrberuf vorübergehend verlockend erschienen war, sei der Gedanke gewesen, die Menschen, „vorzüglich die auf dem Lande“, durch „begeistert hinreißende Reden“ aus „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“ 29

ihrem gewöhnlichen Einerlei herausreißen und für „das Ideale, Geistige“ gewinnen zu können. Tatsächlich soll Stein ja bereits als Kind eine erstaunliche Redebegabung gezeigt, sich bei Verwandten in Nidda etwa einen Küchenstuhl genommen, sich darauf gestellt und den Erwachsenen Vorträge gehalten haben.51 Mit der Konfirmation zu Ostern 1917 sei der Berufswunsch Pfarrer dann sogar noch gewachsen, als er, so Stein weiter, von „religiös-mysthischer Ekstase“ gleichsam ergriffen sich zum Theologen „geboren“ gefühlt habe. Aber bald darauf war es abrupt vorbei mit derlei Plänen: „Durch Kritik und Grübelei, kurz durch meinen Verstand wurde mir die christliche Kirche als solche verhaßt.“ Vor der Familie habe er diese Abkehr vom Glauben freilich vorerst verborgen, schon allein, um den ohnehin reichlichen Streit mit den Eltern nicht weiter anzufachen. Zum Eklat kam es erst, als er sich bei der Konfirmation seines Bruders Wilhelm 1921 kategorisch weigerte, mit in das „Bethaus“ zu gehen. Die Aufregung in der Familie war groß. Der Vater schimpfte, „Kommunisten wolle er nicht erziehen“, die Mutter weinte. Zur Strafe wurde die zuvor beschlossene Renovierung seines Zimmers abgeblasen.52 In seinem „Haß“ auf die Kirche war der junge Stein Friedrich Nietzsche gefolgt, dessen Schriften nach seinem Tod im Jahre 1900 massive Verbreitung fanden. Die Vermarktung des Philosophen war von seiner Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, geschickt in die Wege geleitet worden, die über das Andenken des Bruders eisern wachte und dafür sorgte, daß das von ihr, resp. dem Nietzsche-Archiv in Weimar herausgebrachte Werk, die ihm gebührende öffentliche Resonanz erfuhr. Schon bald rankte sich um den in geistiger Umnachtung gestorbenen Philosophen ein regelrechter „Kult“ in Deutschland.53 Vor allem seine kirchen- und christentumsfeindlichen Texte trafen den Nerv der Zeit. Nietzsches „Antichrist“ wurde vielfach als willkommene Abrechnung mit der Kirche gelesen, die man als glaubensfern und innerlich erstarrt kritisierte. Erwin Stein kam in seiner rebellischen Phase mit den Gedanken Nietzsches in Berührung und wurde fortgerissen von deren Gewaltsamkeit. Endlich glaubte er, einen Anker gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er sich seine eigene Anschauung von der Welt erarbeiten wollte. Um den Ernst zu unter30  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

streichen, mit dem er an die sich selbst gestellte Aufgabe ging, gab er sich Regeln, wie sein künftiges Verhältnis zu anderen Menschen aussehen sollte: Dem äußeren Leben, meinen Mitmenschen und Mitmenschinnen [sic!], von denen ich zum allergrößten Teil doch nicht verstanden werde, suche ich mich vorläufig fernzuhalten, sie kühl zu behandeln und nur in den allerseltensten Fällen Gesellschaft aufzusuchen. Annäherungen, Liebelei, Tändelei, jedwede Wärme dem weiblichen Geschlecht gegenüber (Tanzstunde), untersage ich mir kraft meines Willens von heute ab auf das strengste; nur kühle Höflichkeit ist erlaubt. Bei neuen Freunden und Freundinnen suche ich jetzt, so weit ich’s vermag, in ihr Innerstes zu blicken, und muß ich erfahren, daß sie mir nur äußerlich freundlich mit Phrasen gegenüberstehen, dann weg mit ihnen (ohne Ausnahme) nach streng objektivem Urteil.

Niemand sollte ihn ablenken oder gar abbringen können, von dem, was er sich geistig zu studieren vorgenommen hatte. Mit welcher Lehre zuerst er auf Sinnsuche gehen würde, mit „Kant, Schopenhauer oder Nietzsche“, war im März 1920 noch offen. Im Jahr darauf glaubte er in Nietzsches „Zarathustra“ schon die entscheidende Botschaft, sein „Evangelium“, wie er ausdrücklich festhielt, gefunden zu haben.54 Über die Beschäftigung mit Philosophie, vorzüglich mit der Friedrich Nietzsches, sank das Christentum in den Augen des jungen Stein zeitweilig auf den Status einer bloßen Weltanschauung unter vielen herab. Das Gebet, der Kirchgang, der Empfang der Sakramente – all dies erschien ihm nun zum bloßen Ritual erstarrte Relikte einer Religion, die für den modernen denkenden Menschen keine wegweisende Orientierung mehr bereithalte. Mit Nietzsche kritisierte er das Christentum als eine „Religion für die Schwachen, Armen, Bedrückten, die sich ihren Gott aus Angst vor Kummer, Leiden, hauptsächlich vor dem Tod“ geschaffen hätten. Im Verlauf des Jahres 1920 geriet er jedoch ins Grübeln darüber, ob er in dem Gewirr an Weltanschauungsangeboten nicht Gefahr laufe, unterzugehen: „Alles wird mir rätselhaft, und je tiefer ich eindringe, um so mehr Fragen erheben sich und „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“ 31

um so verstrickter und gefährlicher wird für mich alles, was ich wissen will.“ Eines freilich glaubte er nach wie vor ganz sicher zu wissen, nämlich daß Christentum und evangelische Kirche keine Maßstäbe für ihn abgäben: Nur so viel weiß ich, daß ich das in äußeren Formen so erstarrte und von den ‚dicken roten, freundlichen Pfaffen‘ so verdorbene Christentum der Kirche nicht zu meiner Weltanschauung machen kann. Wohl aber erkenne ich als großen Geisteshelden, Übermenschen u. Genie den Mensch Jesus an. Den Christenglauben, von der Kirche möglichst bunt bekleckst, leugne ich vollständig. – daraus erwächst mir die Pflicht gegen die Kirche zu kämpfen und ihr alles unwahre christliche aufzudecken.

Die protestantische Kriegspredigt während des Weltkrieges war so eine Unwahrheit, die Stein für unvereinbar hielt mit dem christlichen Glauben. Indem Pfarrer und Theologieprofessoren Krieg und Gewalt von den Kanzeln gepredigt hatten, hatte sich die gesamte Kirche in seinen Augen komplett desavouiert. Aber so ganz war die Hoffnung, daß in der christlichen Lehre noch etwas für ihn zu holen sei, dann doch nicht aufgegeben, „das wahre Christentum (wieweit und ob, ist noch unbestimmt) [ist] liberal zu vertreten“, hielt er unter demselben Datum fest. Womöglich dachte er an Vertreter des damaligen liberalen Protestantismus wie Martin Rade, der als Herausgeber des protestantischen Wochenblatts „Die Christliche Welt“ im Krieg mutig gegen alle christlich bemäntelte Kriegstreiberei angeschrieben hatte und nach Kriegsende ein entschiedener Befürworter der Republik und Kirchenreformer wurde.55 Im Alter zwischen siebzehn und neunzehn Jahren war Stein von einer manifesten Glaubenskrise erfaßt worden mit dem Klimax zur Jahreswende 1920/21. Das intensive Studium von Philosophie und Religion wirkte offenbar verwirrend auf einen, der schon einigermaßen verzweifelt nach neuer Gewißheit suchte, aber zu immer größerer Verunsicherung vorstieß. Fast hat es den Anschein, als spürte Stein instinktiv eine Gefahr, sich immer tiefer auf geistige Welten einzulassen, deren Grund bodenlos zu sein schien: 32  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Für mich ist Gott die Idee, nach der sich der Mensch die Wirklichkeit zu gestalten sucht und der Glaube an diese Idee, Gott, ist für mich das innere Erfaßtsein von diesen Werken, in denen ich den Sinn der Wirklichkeit erblicke. Meine höchsten Werte, die ich zusammen Gott nenne, habe ich noch nicht festgestellt. Mit anderen metaphysischen Fragen habe ich mich noch zu wenig beschäftigt, um mir darüber ein Urteil bilden zu können; ich hoffe aber meine Gedanken hierüber im nächsten Jahr schriftlich niederlegen zu können. Also: wachsende Unklarheit, zu der noch eine Art Rauschzustand kommt, kurz der Grundzug meines Wesens ist dionysisch  – im Sinne Nietzsches u. ganz expressionistisch: höchste Anspannung, Seelen­ haftigkeit, Einsfühlen mit dem Urgöttlichen, das Bestreben, allen Dingen den eignen Stempel aufzudrücken u. die Welt dem Menschen zu erobern: dies alles verstärkt durch die Auflösung des eignen Wesens. Diese Gefühle träten noch stärker in mir auf, wenn ich mich bis jetzt nicht zu sehr in abstrakten Bahnen bewegt hätte, woran am meisten die Beschäftigung mit Philosophie und mein zu wissenschaftliches Lesen die Schuld trägt. Weg mit diesem Plunder der Gelehrsamkeit. Bilde dein Gefühl und strebe der letzten Verwandlung des Geistes zum Kind nach: ‚Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.‘ Dein Ich zu vernachlässigen und aufzugehen im All und im Urgöttlichen, sei dir nächstes Jahr das Höchste.56

Nach diesem gefühlsmäßig verstörenden Jahreswechsel blieb Stein sich noch eine ganze Weile sicher, nunmehr mit Nietzsche ein überzeugter „Nicht-Christ“ zu sein. Er sah sich auch wiederholt bestätigt in dieser Haltung, als er etwa dem Vortrag eines Konsistorialrats der evangelischen Kirche beiwohnte. Der Redner ließ an Nietzsche kein gutes Haar, während er zugleich die Unschuld Deutschlands am Kriegs­ ausbruch beteuerte und den Versailler Vertrag als „knechtisch“ verurteilte, wie es damals von Kirchenvertretern tatsächlich häufig zu hören war. „Kommentar überflüssig“, urteilte Stein darüber knapp in seinem Tagebuch. Aber so richtig wohl war ihm nicht in seiner Haut, ja durch die übermäßige geistige Beschäftigung fühlte er sich bisweilen wie ein in mehrere Teile aufgespaltenes Wesen, „bald Polytheist, bald Pan­ theist, ja manchmal auch Atheist. Gibt’s da keine Synthese?“57 „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“ 33

Sich selbst immer mehr ein Unbekannter, fühlte sich Stein in dieser Phase seines Lebens von aller Welt unverstanden: von den Eltern ohnehin, aber auch von dem ihm eigentlich sympathischen Professor Krögel, dem Deutschlehrer an der Schule. Der hatte, wie ihm schien, „den Kern“ seiner Arbeit nicht verstanden: „Ist philologischen Kleinigkeitskrämern auch nicht übel zu nehmen. – Die Schule, ein Gefängnis für freie Geister.“58 Wie war aus solch verworrener Gefühlswelt herauszukommen, ohne dauerhaft Schaden an Leib und Seele zu nehmen? Am Ende fand Stein zum Glauben seiner Väter zurück und schätzte die Kirche als maßgebliche Institution zur Stabilisierung des Wertegefüges einer Gesellschaft. Es verlor sich jeder jugendliche Groll auf Sakrament, Ritual und christliche Gemeinschaft, die vielmehr als trost- und hilfespendend von ihm später dankbar angenommen werden sollten. Die einzelnen Stadien im Prozeß des Umdenkens liegen aus Mangel an persönlichen Zeugnissen allerdings im Dunkeln. Es kann nur gemutmaßt werden, daß die Phase der rebellischen Abkehr von allem und jedem mit dem Studienbeginn in Heidelberg zu Ende ging. Die räumliche Trennung von den Eltern, neue Freunde und andere Freuden dürften zur Veränderung, ja spürbaren Hebung des Lebensgefühls beigetragen haben. Zugleich schärfte der Gang in die Fremde vermutlich die gefühlsmäßige Bindung an Land und Leute, an Eltern und Familie, an „Heimat“ in einem ganz umfassenden Sinn. Die mit den Worten Nietzsches ersehnte „Verwandlung“ hatte also stattgefunden: Aus dem jungen Stein war ein Mann geworden mit dem Mut, sich dem Leben und seinen Herausforderungen zu stellen. Studium in Heidelberg, Frankfurt und Gießen

Just am Tag seines 19. Geburtstages bekam Erwin Stein sein Abiturzeugnis ausgehändigt. Die darin verzeichneten Noten wiesen ihn als einen in den zentralen Fächern Deutsch, Mathematik und Physik „guten“ Schüler aus. Mit einem „gut“ waren auch seine Leistungen im Französischen, in Griechisch und selbst im Fach Religionslehre beurteilt worden, während er in Latein, Geschichte und Erdkunde jeweils 34  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

über ein „genügend“ nicht hinausgekommen war. Als Abschlußarbeit hatte er eine Studie über Georg Büchners „Dantons Tod“ eingereicht, von der die Gutachter einvernehmlich meinten, daß es sich um eine „von Verständnis und innerer Teilnahme zeugende freie Arbeit“ handelte. Damit hatte Stein sie von seiner „Reife“ überzeugt und war von der mündlichen Prüfung befreit. Der Weg zum Studium stand offen.59 Als erste Station wählte Stein die Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, eine der ältesten Universitäten Europas und die älteste in Deutschland. Ob das ehrwürdige Alter der Hochschule Steins Wahl beeinflußt hat, ist nicht sicher, aber recht wahrscheinlich. Darüber hinaus besaß die nordbadische Universität zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen exzellenten Ruf in der Gelehrtenwelt. Heidelberg galt als liberale Universität und war berühmt für den offenen interdisziplinären Austausch unter den Fakultäten, der von klugen Köpfen wie Ernst Troeltsch, Max Weber und den Häuptern der sogenannten Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband, bereits um die Jahrhundertwende geführt worden war. Auch die Rechtswissenschaften blickten auf eine stattliche Reihe namhafter Vertreter. Als Stein sein Studium begann, wirkte mit Gerhard Anschütz ein bedeutender Staatsrechtler und Kommentator der Weimarer Reichsverfassung in der Juristischen Fakultät. Aber dem Studienanfänger war zunächst freilich nur das harte Brot der rechtswissenschaftlichen Grundlagen zu konsumieren aufgegeben.60 In seinem ersten Semester belegte Stein Vorlesungen und Seminare vor allem einführender Natur: bei Otto Gradenwitz, „System des römischen Rechts“, bei Friedrich Endemann, „Geschichte des römischen Rechts und römischer Zivilprozeß“, bei Karl Heinsheimer, „Grundzüge des Bürgerlichen Rechts“, bei Hans Fehr, „Einführung in die Rechtswissenschaft“. Das war bereits ein stattliches Pensum, bei dem es jedoch noch lange nicht blieb. Fern von aller familiären Kontrolle und damit weithin frei in seinen Entscheidungen, ging Stein nun auch seinen philosophischen und literarischen Neigungen nach, befaßte sich mit russischer Literatur, mit der „allgemeinen Geographie des Menschen“ und stieg in das schwierige Gebiet der Erkenntnis­ theorie ein. Dazu belegte er bei Eugen Herrigel eine einführende VorStudium in Heidelberg, Frankfurt und Gießen 35

lesung in „Kants Transcendental-Philosophie“ und gönnte sich ein Seminar bei einem der Stars der damaligen Philosophischen Fakultät, bei Heinrich Rickert. „Von Kant bis Nietzsche. Historische Einführung in die Probleme der Gegenwart“, lautete das Thema, das so ganz den eigentlichen Interessen Steins entsprochen haben dürfte. Die für die Teilnahme fälligen Gebühren waren freilich alles andere als gering. Waren für das erste Semester knapp 500 Mark an Hörergeld und sonstigen Gebühren zu entrichten gewesen, belief sich die Summe im zweiten inflationsbedingt schon auf mehr als 1500 Mark. Hinzu kam weiteres Geld für Kost und Logis. Alles zusammen war eine arge Belastung für das Budget des Offenbacher Bahnmeisters Stein, was nach zwei Semestern den Wechsel an die Universität Frankfurt, schließlich zum Abschluß des Studiums an die hessische Landesuniversität Gießen befördert haben wird.61 Über die Freizeitgestaltung Steins während seines Studiums schweigen die Quellen. Einer studentischen Verbindung scheint er sich nicht angeschlossen zu haben, was nicht weiter verwunderlich ist, bedenkt man die politisch reaktionäre Haltung der meisten Korps und Burschenschaften in der Weimarer Republik. Auch hätte eine Mitgliedschaft zusätzliches Geld gekostet, über das der Studiosus nicht verfügte. Aus einem Tagebucheintrag geht indes hervor, daß ihn die rohen Umgangsformen oft genug abstießen: Eins hat mir die anderen Mitstudenten sehr vereckelt [sic]: das ist ihr im allg. sich stark offenbarender Eigendünkel, ihre Geilheit, ihre dauernden Zoten und Unterleibsgespräche nebst den anhaltenden Anspielungen auf den sexus: die Hülle fiel und ihre wahre hinter wohlerzogenen äußeren Formen verdeckte Natur zeigte ihr lüsternes Gesicht. Nicht daß ich prüde wäre, aber es gibt eine feine und rohe Art, de sexualibus logui.62

Er selbst sammelte als Student noch keine konkreten sexuellen Erfahrungen, obwohl er sich in diesen Jahren heftig verliebte. Über diese erste keusche Liebe zu einer Frau legte er ein zweites Tagebuch, das „Blaue Heft 1923“, an. Das Verhältnis begann leidenschaftlich, währte gut zwei Jahre und endete, wie viele solcher Geschichten, im Zorn. Es 36  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

scheint, daß Steins Verträumtheit, seine unpraktische Art und Neigung zum Theoretisieren, schließlich auch seine Mittellosigkeit bei ihrer Entscheidung zur Trennung eine Rolle gespielt haben. Als die Freundin etwa eine Reise an den Starnberger See geplant hatte, war Stein aus Kostengründen nicht mitgefahren. Zur Verarbeitung des Liebeskummers brauchte er einige Zeit, ging jedoch letztlich gestärkt aus der Sache hervor. „Aber ich habe auch so viel gelernt, daß ich meine philosophischen Studien jetzt zurücktreten lasse und mit aller Kraft mich der Jura zuwende, um hier firm zu werden. Es ist mir gar nicht angst davor. Ich werde auch einmal Dozent. Das ist ganz sicher“, hielt er, sich selbst Mut spendend, in seinem Tagebuch fest. Tatsächlich arbeitete Stein sich mit großer Energie in das große Gebiet der Rechtswissenschaften ein und absolvierte am Ende sein Examen ohne Vorbereitung durch einen Repetitor.63 In den Semesterferien verdingte sich Stein als sogenannter Werkstudent – das heißt er ging Hilfsarbeitertätigkeiten nach, um wenigstens einen Teil seines Studiums mit zu finanzieren. Die alte Studentenherrlichkeit, wie sie im Kaiserreich noch mit einem auskömmlichen elterlichen Scheck gepflegt worden war, gehörte der Vergangenheit an. Das Bürgertum hatte sein Vermögen erst durch wertlos gewordene Kriegsanleihen, dann durch die Inflation in der Breite verloren und konnte seinen Söhnen keine unbeschwerten Studienjahre mehr bescheren. Insofern fiel Stein mit der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, auch nicht weiter auf unter seinen Kommilitonen. Er war einige Zeit als Bühnenassistent am Frankfurter Opern- und Operettenhaus tätig, was seiner ohnehin ausgeprägten Leidenschaft für Theater und Tanz entgegenkam.64 Und er half auch den Großeltern väterlicherseits auf dem Land, mistete Ställe aus und verrichtete Feldarbeit, wofür er zwar kein Geld, aber freie Unterkunft und Verpflegung erhielt. Die ungewohnte körperliche Betätigung an der frischen Luft hob er in seinem Tagebuch als heilsam hervor und freute sich über sein gesundes Aussehen.65 Wie die politischen Ereignisse jener Jahre im einzelnen auf den Jurastudenten wirkten, geht aus den Tagebüchern nicht hervor. Ganz unberührt kann er von der Ermordung Erzbergers und Rathenaus, von Rheinlandbesetzung, Ruhrstreik und Kapp-Putsch nicht gewesen Studium in Heidelberg, Frankfurt und Gießen 37

Landhochzeit in Burkartsfelden 1925

sein. Letzteres spielte sich ja zum Teil in ziemlicher Nähe zu Offenbach und Frankfurt ab, stand die Stadt Mainz doch bis zum 30. Juni 1930 unter französischer Besatzung. Das war nicht zuletzt in der politisch aktiven Studentenschaft, der völkisch nationalistischen zumal, ein heiß diskutiertes Thema. Werner Best, Jahrgang 1903 wie Stein und ebenfalls ein Student der Rechtswissenschaften in Frankfurt und Gießen, war in der sogenannten „Rheinlandarbeit“ gegen die Besatzung konspirativ tätig, flog auf und wurde von einem französischen Gericht zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Von solchem Engagement hielt Stein sich fern. Er dürfte die revanchistischen Ziele von studentischen Gruppierungen wie dem Deutschen Hochschulring sehr skeptisch beurteilt haben. Aber auch den politisch liberal oder sozialdemokratisch ausgerichteten Studentengruppen sollte er sich nicht zugesellen.66 Außer der Jura blieb er allem Geistigen zugewandt. Sein kunsthistorisches Wissen verbreiterte sich in diesen Jahren entscheidend durch die Bekanntschaft mit Franz Rieffel. Der Frankfurter 38  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Geheimrat war ein Experte auf dem Gebiet der mittelalterlichen Sakralkultur und besonderer Kenner der Arbeiten von Matthias Grüne­wald. Unter seiner Führung unternahm der Studiosus manche Besichtigung im Umland, wobei er die Schönheit mittelalterlicher Bildprogramme kennen- und schätzen lernte.67 Erwin Stein schloß sein Studium zügig im November 1925 mit dem ersten juristischen Staatsexamen an der Universität Gießen ab und erhielt das Prädikat „im ganzen gut“. Unmittelbar nach dem Examen ging er in den Vorbereitungsdienst des Volksstaats Hessen, der im April 1929 mit dem zweiten Staatsexamen endete. Unter allen mit ihm zur Prüfung angetretenen Kandidaten erreichte er laut Auskunft des Hessischen Justizministers „die elfte Stelle“, einen Rang also im vorderen Mittelfeld. Im Jahr zuvor war er an der Gießener Universität zum „Dr. jur.“ mit einer zivilrechtlichen Studie promoviert worden. Sein Doktorvater war Leo Rosenberg, der einen glänzenden Ruf als Zivilprozeßrechtler besaß und bei den Studenten der Ludwigs-­ Universität als akademischer Lehrer überaus beliebt war. Mit der Erlangung des Doktortitels hatte Stein sein Ziel erreicht und seine Bildungsbiographie in jeder Hinsicht vorbildlich abgeschlossen.68 Alle Fundamentalopposition gegen „Spießertum“ und Beamtenwesen war vergessen. Stein war in der bürgerlichen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit angekommen und ging einen geraden Weg weiter.69 Hedwig Herz

Irgendwann während des Studiums lernte Erwin Stein auch seine spätere erste Frau kennen. Die näheren Umstände liegen im Dunkeln, weder haben sich Tagebuchaufzeichnungen noch Briefe erhalten, die Licht in die Anfänge dieser Beziehung bringen könnten. Auch über die späteren Ehejahre in Offenbach sprudeln die Quellen nicht eben reichlich, aber doch in einem Ausmaß, daß die „Frau an seiner Seite“ plastisch und der gemeinsame Lebensabschnitt mit ihr darstellbar wird. Hedwig Herz wurde am 19. November 1898 in Bingen-Gaulsheim als die zweite von vier Töchtern des Händlers Salomon Herz geboren. Hedwig Herz 39

Hedwig Herz 1922

Die Familie war mosaischen Glaubens, ihre Wurzeln am Mittelrhein lassen sich bis in das ausgehende achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen und sind Teil der langen Tradition jüdischen Lebens in dieser Region. Der frühe Tod der Eltern, die Mutter starb bereits 1912, der Vater 1920, hinterließ die Töchter weitgehend mittellos, so daß sie beizeiten auf eigenen Beinen stehen mußten. Keine von ihnen hatte einen Beruf erlernt, statt dessen hielten sie sich mit gelegentlichen Näharbeiten und dem Verrichten von Hilfsarbeiten mehr schlecht als recht über Wasser. Einziger Besitz war das kleine Elternhaus in Gaulsheim, auf das die Schwestern 1925 eine Hypothek in Höhe von 1500 Goldmark aufnahmen, um das Nötigste zum Leben zu haben. Zwei Jahre später kehrten die älteste und die jüngste Schwester der 40  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Elternhaus der Geschwister Herz in Gaulsheim

dauerhaften Perspektivlosigkeit in Deutschland den Rücken und wanderten nach Amerika aus. Hedwig und Lilly Herz blieben in der hessischen Heimat zurück.70 Der Neuanfang in der Welt jenseits des Atlantiks war schwer für die mittellosen jungen Frauen. Das Geld für die Schiffspassage hatten sie von Verwandten in Berlin geborgt und zahlten es ratenweise zurück. Sophie und Rosalia gingen in New York als Hausmädchen in Stellung. Die Arbeitszeiten waren lang, nur alle zwei Wochen gab es ein freies Wochenende. Immerhin waren Verpflegung und Unterbringung in Ordnung, wie Rosalia nach Deutschland berichtete, und, was noch wichtiger war: „Am Ende des Monats hat man dann sein Geld, was will man noch mehr und lebt, wie’s geht – sorgenlos“. Aber die jüngere Hedwig Herz 41

Sophie Herz in New York um 1930

Schwester vermied es gegenüber Hedwig, Werbung zu machen für ein Leben in der neuen Welt und riet ihr auch von der Idee ab, für eine befristete Zeit zum Arbeiten in die USA nachzukommen: Lb. Hede, denke auch nur ja nicht, Du kannst hier bedürfnislos leben und jeden Pf. Sparen – nee, mein Liebes, das geht nicht. Zum täglichen Leben mußt Du immer was haben und Ausgaben gibt es auch da. Wenn Du 14 Tage in Deiner Bude gesessen bist und hast dann Ausgang, so bist Du froh, wenn Du was siehst und hörst und alles kostet hier Geld. […] Ich bin ja nun schon 8 Monate im Lande, habe aber bis heute leider noch keinen Ct. ersparen können und kann es auch vorläufig nicht, da ich jetzt zum Zahnarzt muß und Krankenkassen gibt es hier leider nicht. 42  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Rosalia Herz am Lake Greenwood (South Carolina) 1939

Mehr als 1000 $ seien selbst bei sparsamster Lebensführung in zwei Jahren nicht zusammenzubringen, wovon dann auch noch rund 200 $ für die Rückreise abzuziehen wären. Da sei es doch besser, das Elternhaus in Gaulsheim zu verkaufen und den Erlös unter den beiden Geschwistern in Deutschland aufzuteilen. Großzügig erklärte sich Rosalia zum Verzicht auf ihren Erbteil bereit. Und sie stellte Hedwig in Aussicht, ihr so bald irgend möglich mit kleinen Überweisungen unter die Arme zu greifen „und wenn es nur 5 $ sind, wir wissen ja wie schwer es ist für Dich lb. Hede“.71 Zu dieser Zeit waren Erwin Stein und Hedwig Herz schon ein Paar mit festen Heiratsplänen. Nur zur Realisierung mangelte es vorerst an allem: Stein erhielt im Vorbereitungsdienst keine Vergütung, und Hedwig Herz 43

wann er je eine Beamtenstelle einnehmen würde, stand angesichts der strikten staatlichen Sparprogramme jener Jahre in den Sternen. Mit einer Stellung in der freien Wirtschaft sah es nicht besser aus. Die Arbeitslosigkeit stieg selbst unter Akademikern gegen Ende der 1920er Jahre kontinuierlich und brachte viele Hochschulabsolventen unmittelbar in Not. Wer nicht über einflußreiche Verbindungen verfügte, besaß wenig Aussichten auf eine lukrative Position oder auch nur auf eine feste Anstellung. Die schlechten Berufsaussichten für Akademiker schürten existenzielle Ängste im Bürgertum und sollten am Ende auch zur politischen Destabilisierung der Republik beitragen.72 Eine Mitgift hatte Hedwig Herz nicht erhalten, Ersparnisse besaßen sie beide nicht. Damit wenigstens ein kleines Startkapital zusammenkam, hatte das Paar gemeinsam den Plan gefaßt, daß die junge Frau für zwei Jahre zu ihren beiden Schwestern nach New York in Stellung gehen würde. Doch das war eben, wie Rosalia in langen Briefen einprägsam schilderte, alles andere als leicht verdientes Geld: Also lb. Hede überlege es Dir reiflich – reiflich, ich habe Dich gewarnt – es ist nicht alles Gold, was glänzt, obwohl man sich auch nicht dem großen Eindruck New Yorks entziehen kann, den die Stadt selbst macht, das wiegt aber alle kleinen Leiden und großen Qualen nicht auf.73

Hedwig Herz war, nach den raren Zeugnissen über sie, eine ruhige, etwas zur Melancholie neigende Frau, psychisch vielleicht weniger robust und durchsetzungsfähig als ihre Schwestern. Von mittelgroßer Gestalt, schlank, mit dichtem braunem Haar und braunen Augen, war sie attraktiv und dürfte dem damaligen Frauenideal durchaus entsprochen haben. Daß sie einige Jahre älter war als Erwin Stein, scheint keine Rolle gespielt zu haben, womöglich kam ihm die größere Reife sogar entgegen. Sie war an Kunst und Literatur interessiert, las viel und ging wie er gern ins Theater oder in die Oper. Ansonsten neigte sie zur Häuslichkeit, an einem behaglichen Heim war ihr viel gelegen. Von daher dürfte der Gedanke, im fernen New York zu arbeiten, eher abschreckend als verlockend für sie gewesen sein. Zwei Jahre waren eine lange Zeit und konnten zur Entfremdung voneinander führen. So 44  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

schwankte Hedwig Herz zwischen dem Wunsch, der gemeinsamen Zukunft zu einem materiellen Grundstock zu verhelfen, und der Angst davor, Deutschland für einige Zeit zu verlassen. Davon scheint sie in Briefen an ihre Schwester manches angedeutet, sich aber nicht getraut zu haben, auch mit ihrem Verlobten darüber zu sprechen. Darum bot Rosalia ihr schließlich an, gegenüber dem zukünftigen Schwager die Ängste seiner Braut einmal anzudeuten: Wenn Du dann noch Dein Visum wünschst, so senden wir Dir das Affidavit. Willst Du nun lieber darauf verzichten und magst es Erwin nicht direct sagen, so kann ich ihm ja noch mal schreiben, so daß es dann von seiner Seite ausgeht, daß er nicht will, daß Du nach Amerika fährst. Daß [ich] meine Sache – bezüglich Brief an lb. Erwin, gut mache, das hoffe ich, daß Du dies annimmst.

Die vier Geschwister Herz hielten über den Atlantik hinweg fest zusammen. Damit Hedwig nicht gänzlich mittellos in die Ehe ginge, kündigten Sophie und Rosalia die Überweisung von 200 $ als Hochzeitsgeschenk an, was eine Menge Geld für zwei Dienstmädchen war und über Monate von ihnen mühsam zusammengespart werden mußte. Davon könnten dann „Küche und Schlafzimmer“ gekauft werden, schlugen sie vor, während die sonstige Wohnungseinrichtung eben nur nach und nach anzuschaffen sei, „wie es hier die Leute auch machen, die sich sogar ein Dienstmädchen halten. Und dann hilft Dein Erwin doch auch dazu.“74 Wie der Bahnmeister über die Brautwahl seines älteren Sohnes dachte, geht aus den Quellen nicht direkt hervor, auch nicht, wie die Mutter die Sache aufnahm. Besonders erfreut wird man in Offenbach über die Verbindung mit einer mittellosen Jüdin aber kaum gewesen sein, wenngleich die Geschwister Herz ihren Glauben nicht streng praktizierten. Sie begingen die jüdischen Festtage, feierten aber auch wie viele deutsche Juden Weihnachten. Doch der Antisemitismus war virulent in der hessischen Provinz. Feindseligkeiten gegenüber Juden waren gang und gäbe auf den Dörfern, in denen die Bauern den allgemeinen Strukturwandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft Hedwig Herz 45

schlecht bewältigt hatten und verarmt waren. Die Schuld am Niedergang gab man gern den jüdischen Viehhändlern und Geldverleihern. Agitatoren wie Otto Boeckel hatten systematisch Ressentiments gegen Juden geschürt und schon im Kaiserreich für eine gefährliche Amalgamierung von überkommener Judenfeindschaft und modernem Antisemitismus auf dem Land gesorgt. In der Stadt stellte sich die Lage allenfalls graduell besser dar.75 Aber letztlich mußten sozio-politische Motive nicht einmal den Ausschlag gegeben haben für Vorbehalte gegen eine christlich-jüdische Verbindung. Die Wahrung der eigenen kulturellen Identität spielte oft die größere Rolle. Damals blieben bekanntlich selbst die christlichen Konfessionen unter sich, Protestanten heirateten Protestanten, Katholiken heirateten Katholiken. Wer davon abwich, hob sich heraus, und nahm eine Sonderstellung in Kauf. Das verhielt sich bis nach der Mitte des 20. Jahrhunderts so. Noch auffälliger als gemischtkonfessionelle Verbindungen waren interreligiöse Heiraten. Obwohl die Zahl sogenannter Mischehen im Deutschen Reich zwischen 1900 und 1930 signifikant anstieg, wurden sie das „Stigma des Besonderen, Ungewöhnlichen, eigentlich Unangemessenen“ nicht los. In einer um den sozialen Aufstieg besorgten Familie wie den Steins mochte die Ehe des älteren Sohnes mit einer Jüdin als unwillkommene Abweichung vom Normalen, vielleicht sogar als empfindliche Störung aufgefaßt worden sein.76 Sollte es ernsten Widerstand seitens seiner Familie gegeben haben, so hat Erwin Stein sich davon nicht beirren lassen, auch nicht davon, daß seine Freunde ihm offenbar von der Verbindung abrieten. Gleichwohl scheint die Verlobungszeit keine leichte gewesen zu sein, wie die Braut ihren beiden Schwestern nach Amerika berichtete: Was hast Du denn das letzte Vierteljahr so Schweres durchzumachen gehabt, lb. Hede – schreibe es doch mal. Aber die Hauptsache Du bist mit Erwin einig, alles andere läßt sich überwinden – denn wir sind doch alle Menschen, ob Jude oder Christ. Von Berlin hast Du 20 Mk bekommen, das ist ja nett von Tante Minna; halte Dich mal gut mit denen, denn die haben nichts dagegen, wenn Du einen christlichen Herren heiratest, soviel [ich] von Onkel Max weiß.77 46  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Hedwig und Erwin Stein um 1930

Geheiratet wurde am 21. Mai 1931. Die Trauung fand in Offenbach statt, wo Hedwig zu dieser Zeit lebte und arbeitete, während Stein inzwischen in Büdingen wohnte. Denn zum 1. Januar 1931 war er endlich in den Staatsdienst eingerückt und seither am dortigen Amtsgericht tätig. Damit war ein wichtiges Ziel erreicht, und schien die materielle Grundlage der Eheleute dauerhaft gesichert. Eine zusätzliche Erleichterung für das Paar dürfte gewesen sein, daß zwei Wochen zuvor der Verkauf des Elternhauses Herz in Gaulsheim zum Preis von 6000 Goldmark abgeschlossen worden war. Abzüglich der restlichen Hypothekensumme sowie des Erbteils der Schwester Lilly erhielt Hedwig 2783,50 RM. Das war in Zeiten weltweiter wirtschaftlicher Depression eine Menge Geld und ein gutes Polster für einen erfolgreichen Start ins gemeinsame Leben.78 Hedwig Herz 47

Büdingen

Idyllisch am Rande des Vogelsbergs gelegen, war Büdingen zu Beginn der 1930er Jahre ein ehemaliges Residenzstädtchen mit rund 3800 Einwohnern. Es gab ein herrschaftliches Schloß im Besitz der Grafen von Büdingen und Ysenburg und eine gut erhaltene Altstadt, deren schöne Fachwerkbauten bis heute vom Fleiß und Reichtum früherer Generationen zeugen. Weit über die Hälfte der Einwohner waren evangelischer Konfession, aber daneben hatten sich auch Katholiken eine Kirche, Juden eine Synagoge gebaut. Die waldreiche Umgebung Büdingens begründete die Existenz gleich zweier Oberförstereien und lieferte außerdem einem Sägewerk den Rohstoff. Daneben sorgten Glasfabrikation, Wollspinnerei und schließlich die Apfelweinkelterei sowie sonstiges Handwerk für ein bescheidenes Wirtschaftsleben. Einen Zuverdienst bescherte den Büdinger Bürgern der aufkommende Tourismus. Der Luftkurort mit zwei salzhaltigen Mineralquellen war ein aus Nordhessen so gut wie aus dem RheinMain-Gebiet bequem zu erreichendes Ziel, das verkehrsgünstig an der Staatsbahnlinie Gießen-Gelnhausen lag.79 Nach der Reichsgründung war das seit 1822 in Büdingen ansässige Landgericht mit der Gerichtsverfassungsreform im Reich in ein Amtsgericht umgewandelt und zu einem von vier Untergerichten im Bezirk des Landgerichts Gießen erhoben worden. Recht gesprochen wurde in einem repräsentativen Bau der Büdinger Schloßstraße, der 1774 entstanden und ursprünglich als Kirche für die lutherische Gemeinde vorgesehen, dann aber verschiedentlich umgewidmet worden war. Hier nahm Amtsanwalt Stein im Januar 1931 seine Tätigkeit auf, nach gut anderthalb Jahren vager Existenz als juristischer Hilfs­ arbeiter in der Offenbacher Rechtsanwaltskanzlei Euler und vertretungsweisem Einsatz an verschiedenen hessischen Gerichten. Alle seine Bemühungen um eine feste Anstellung im Verlagswesen, bei Reichsbahn und Reichspost oder dem Verwaltungsdienst der Stadt Frankfurt waren aufgrund der schlechten Wirtschaftslage fehlgeschlagen. Die Erleichterung dürfte also groß gewesen sein in der Familie des Bahnmeisters wie bei dem jungen Paar. Endlich konnte die 48  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Das Amtsgericht Büdingen

Gründung eines ersten eigenen Hausstandes gezielt ins Auge gefaßt werden.80 Als Amtsanwalt stand Stein zunächst im Dienst der Staatsanwaltschaft. In seine Zuständigkeit fielen Vergehen kleiner und mittlerer Kriminalität wie Diebstahl, Betrug und Körperverletzung, er leitete die Ermittlungen ein, erhob Anklage und vertrat die Staatsanwaltschaft vor dem Richterstuhl.81 Am Amtsgericht Büdingen wurden außer den in Stadt und Kreis verübten Delikten auch diejenigen aus den Gemeinden Altenstadt, Ortenberg, Nidda und Schotten verhandelt, so daß Stein während der Ermittlungsarbeiten weit herumkam in Oberhessen. Dabei dürfte ihm die zunehmend düstere Stimmung im Land kaum entgangen sein. Seit 1929 hatte die wirtschaftliche Depression immer mehr Existenzen ins Elend gestürzt, und es schien kein Ende absehbar. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1932 rund 55 % im Landkreis Gießen und erzielte Rekordraten von fast 70 % in vielen Gemeinden des Vogelsbergs. In den Städten wurden die öffentlichen Suppenküchen mit langen Schlangen hungriger Menschen vor den Büdingen 49

Türen erneut ein alltäglicher Anblick wie zuvor im Weltkrieg und während der Revolution. Überhaupt erinnerten die Jahre der Wirtschaftskrise fatal an die harte Anfangszeit der Republik, als das Reich wirtschaftlich ruiniert und politisch zerrissen schon einmal vor einem Bürgerkrieg gestanden hatte. Nun wurden erneut Rufe nach raschen, durchgreifenden Lösungen laut. Das begünstigte radikalpolitische Positionen und ließ den latent im Land vorhandenen Antisemitismus vielerorts aufflammen. Das Landstädtchen Büdingen war für seine judenfeindliche Grundstimmung berüchtigt in der oberhessischen Provinz.82 Im Volksstaat Hessen regierte seit 1919 die sogenannte Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP mit einer soliden Mehrheit. Den Ministerpräsidenten stellten als stärkste Fraktion im Darmstädter Landtag durchgängig die Sozialdemokraten, von 1919 bis 1928 Carl Ulrich, ab dem 14. Februar 1928 Bernhard Adelung. Orientiert an einem gemäßigt sozialdemokratischen Programm kam der Volksstaat Hessen nach der Währungsreform wirtschaftlich auf die Beine und etablierte sich in den „stabilen Jahren“ der Republik neben Preußen und Bayern als demokratische Stütze im Deutschen Reich. Ein „Problem von drückender Brisanz“ hatte sich allerdings aus der Besetzung Rheinhessens im März 1919 durch französische Truppen ergeben.83 Die Bevölkerung litt unter Einquartierungen und dramatisch verteuerten Lebenshaltungskosten. Überdies weckten französische Eingriffsversuche in die kulturelle Autonomie sowie die offene Unterstützung separatistischer Bestrebungen durch die Besatzungsbehörden patriotische Gefühle im Volk. Es bildeten sich geheime Widerstandsgruppen, deren Mitglieder zum Teil aus völkisch-nationalistisch orientierten Studenten bestanden. Unter anderem war Werner Best darunter, der schon erwähnte Jahrgangsgenosse Steins. In Mainz geboren und bereits als Schüler mit den Auswirkungen der Besatzungspolitik konfrontiert, hatte sich Best in den ersten Semestern seines Jurastudiums an der Frankfurter Universität radikalisiert und gegen die französischen Besatzungsbehörden konspiriert. 1924 erfolgte seine Verhaftung und die Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis. Vorgänge wie dieser schlugen tagespolitisch hohe Wellen und drückten auf die Stimmung 50  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

im Land. Als die Franzosen im Juni 1930 Rheinhessen räumten, wurde dies von der Bevölkerung wie ein Befreiungsfest gefeiert. Aber die inzwischen mit der Wirtschaftskrise aufgekommenen Schwierigkeiten im Volksstaat ließen sich damit nicht überdecken.84 Bei den Landtagswahlen am 15. November 1931 trat die von vielen befürchtete Katastrophe ein, als die Nationalsozialisten aus dem Stand 37 % der Wählerstimmen holten und damit weit vor den Sozialdemokraten zur stärksten Fraktion im Landtag aufstiegen. Dem Wahltag war eine mit allen Mitteln geführte Propagandaschlacht vorausgegangen, die, von der Reichspolitik zusätzlich befeuert, viele Menschen mobilisierte.85 Bei einer Wahlbeteiligung von 82,3 % hatte es vor allem die Hitlerpartei verstanden, ihre Anhänger an die Urnen zu bringen, während die Kommunisten mit 5 % deutlich moderater zulegten. Für die demokratischen Parteien reichte es nun nicht mehr zur Regierungsbildung, die Weimarer Koalition war dahin. Ministerpräsident Adelung trat am 8. Dezember 1931 vom Amt zurück, führte aber die Geschäfte noch mehrere Monate weiter, nachdem die zwischen Nationalsozialisten und Zentrum geführten Koalitionsverhandlungen gescheitert waren.86 Im beschaulichen Büdingen spiegelte sich der Trend der Zeit. Auch hier spielten die Nationalsozialisten lange keine Rolle, sondern lag die politische Macht fest in der Hand der demokratischen Parteien. Bei den Reichstagswahlen 1928 erreichte die NSDAP gerade einmal 1 % der Stimmen. Aber zwei Jahre später hatte sich der Wind gedreht. Von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise voll erfaßt, gaben im September 1930 bereits 21,5 % der Büdinger Wähler der Hitlerpartei ihre Stimme. Als es im Frühjahr 1932 zu einem zweiten Gang bei der Reichspräsidentschaftswahl kam, votierten mehr Büdinger für Hitler als für Hindenburg. Und schließlich erzielte die NSDAP bei den letzten halbswegs freien Reichstagswahlen am 5. März 1933 mit rund 62 % der gültigen Stimmen in Büdingen ein überragendes Ergebnis.87 Es ist nicht bekannt, wie Amtsanwalt Stein die politische Lage damals einschätzte, auch nicht, an welcher Stelle er bei den vielen Wahlen sein Kreuz auf dem Wahlschein machte. Viel spricht dafür, daß ihn die aufgeheizte Stimmung im Land, der grassierende NationaBüdingen 51

lismus und Revanchismus, schließlich auch die aufsteigende Judenfeindschaft abstießen, und er mit seiner Stimme die Parteien der Weimarer Koalition unterstützte. Die ungeistige und religionsfeindliche Grundhaltung von Kommunisten und Nationalsozialisten, dazu ihre Brutalität gegenüber dem politischen Gegner dürften sie für ihn grundsätzlich unwählbar gemacht haben. Überdies war Stein ein loya­ ler Staatsbeamter, für den es sich verbot, einer verfassungsfeindlichen Partei seine Stimme zu geben. Der jugendliche Radikalismus früherer Tage war bürgerlicher Besonnenheit gewichen, er tat, was ihm möglich war zur Verteidigung von Freiheit, Recht und Ordnung. Für das hochverräterische Vergehen, dessen sich sein Amtskollege Werner Best im November 1931 mit der Abfassung der „Boxheimer Dokumente“ schuldig machte, wird er gewiß kein Verständnis gehabt haben. Best, der sein Studium etwa zeitgleich mit Stein abgeschlossen und wie dieser eine Laufbahn als Amtsrichter im südhessischen Gernsheim begonnen hatte, dachte hingegen kaum an etwas anderes als an die Überwindung der Republik. Glühend nationalistisch gesonnen und von völkischen Idealen erfüllt, trat er 1930 mit dem festen Vorsatz der NSDAP bei, Parteikarriere zu machen. Die „Boxheimer Dokumente“ waren Teil seiner persönlichen Aufstiegsstrategie. Es handelte sich um detaillierte Pläne für einen gewaltsamen Umsturz und die Machtübernahme im Reich durch die Nationalsozialisten. Als die eigentlich nur für den parteiinternen Gebrauch bestimmten Papiere der Öffentlichkeit lanciert wurden, fühlten sich die Demokraten in ihrer Auffassung bestätigt, daß es mit dem Legalitätsversprechen der nationalsozialis­ tischen Parteiführung nicht weit her sei. Die öffentliche Empörung schlug hohe Wellen im Volksstaat wie im Reich, verebbte aber auch schnell wieder. Das von den Dokumenten ausgehende politische Beben dürfte auch im äußerlich so beschaulichen Büdingen spürbar gewesen sein.88 Unterdessen waren die frisch vermählten Eheleute Stein mit der Einrichtung ihres ersten gemeinsamen Hausstands befaßt. Eine passende Wohnung mußte gefunden, die Möbel dafür angefertigt und auch aller sonstige Hausrat beschafft werden. 1932 war es soweit, und Dr. Stein nebst Gattin bezogen unter der Adresse „Im Hain Nr. 56“ 52  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

mietweise ein ruhiges und sonnig gelegenes Domizil mit Blick auf den weitläufigen Schloßpark. Von dort war für den Amtsanwalt der täg­ liche Weg zum Gericht in der Schloßstraße, für seine Frau der Gang zu den Geschäften am Markt nicht weit. Büdingens Altstadt war ganz von einer mittelalterlichen Stadtmauer umringt, deren Inneres von Gassen und Gäßchen zerfurcht, in kleinste Häuser und Höfe parzelliert war. Hier wurde auf engstem Raum gelebt und gearbeitet, das kleine Handwerk ausgeübt und der örtliche Handel getrieben. Jeder kannte jeden in der Kernstadt, was meist ein Segen, gelegentlich aber ein Fluch war. Nicht zuletzt die hier ansässigen Juden bekamen das im Laufe der Büdinger Geschichte wiederholt zu spüren. Vor der Stadtmauer in westlicher Richtung zum Bahnhof hin hatte sich dagegen eine großzügig angelegte Vorstadt mit gründerzeitlicher Bebauung ausgebreitet. Einige moderne Geschäftshäuser reihten sich aneinander und das ehrwürdige, auf eine Lateinschule des beginnenden 17. Jahrhunderts zurückgehende Gymnasium bekam 1879 hier einen Neubau. Auf der gegenüberliegenden Stadtseite mit dem Ysenburger Schloss im Rücken erstreckte sich das reine Wohngebiet „Am Hain“ mit seinen stattlichen Villen im Landhausstil. Es war eine von gräf­ lichen Beamten und Honoratioren der Stadt bevorzugte Gegend, in der die Steins im Frühling des Jahres ein standesgemäßes Unterkommen fanden. Steins Berufsalltag war angefüllt mit vielerlei Händel, wie er in Kleinstadt und Provinz seit jeher vorkommt. Streit um persönliche Beleidigungen und Grenzfragen, um Körperverletzungen und strittige Erbschaften wurde vor Gericht getragen und verhandelt. Es mehrten sich in dieser Zeit allerdings auch die politisch motivierten Delikte, die Staatsanwälten und Richtern einiges an Standfestigkeit abverlangten. So häuften sich seit der Mitte des Jahres 1932 die Klagen der Nationalsozialisten gegen Amtsanwalt Stein, weil er ihnen gegenüber angeblich parteiisch eingestellt sei. Er sollte beispielsweise während einer Verhandlung gegen einen Gastwirt aus Eckartsborn die Nationalsozialisten als „‚Verbrechergesindel von rechts‘“ beschimpft haben. Von seiner vorgesetzten Behörde zu einer Stellungnahme aufgefordert, wies Stein diesen und weitere Vorwürfe des Angeklagten Gustav Büdingen 53

Haus „Am Hein 56“ 1932

Althen entschieden zurück: „Diese Behauptung ist vollkommen unwahr“, stellte er mit Nachdruck fest. Er habe sich vielmehr seiner „Amtspflicht gemäß“ allein am Sachverhalt orientiert und ganz bewußt davon abgesehen, sich „derartiger beleidigender, gehässiger und unsachlicher Äußerungen zu bedienen“.89 Tatsächlich war Stein stets um die korrekte Auslegung der Gesetze ohne Ansehen der Person bemüht. So plädierte er für die Einstellung der Ermittlungen, als es wegen eines Nachtmarschs der SA zur Anzeige gekommen war: „Parteilieder wurden nicht gesungen, Fahnen wurden nicht getragen, […] Angehörige anderer politischer Parteien und Gruppen waren nicht anwesend. Daher kam es auch nicht zu irgendwelchen Zwischenfällen.“ Somit habe es sich nicht um einen Verstoß gegen die Notverord54  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

nung des Reichspräsidenten vom 16.11.1931 gehandelt. Auch die Gründung einer Ortsgruppe der NSDAP in Michelau war nach seiner Auffassung im Rahmen des Gesetzes erfolgt. Sie war nicht öffentlich, da eine besondere Auswahl der Gäste erfolgt ist und nur bestimmte Personen eingeladen waren. Wenn nun auch ab und zu die Türe zum Versammlungslokal aufgestanden haben mag und andere Gäste, die den Anschauungen der NSDAP nicht huldigen, die Vorgänge bei der Versammlung haben wahrnehmen können, so wird dadurch der Begriff des geschlossenen Raumes noch nicht aufgehoben. Die ländlichen Verhältnisse sind nicht außer Acht zu lassen.90

Die Strafsache gegen Rudolf Weber aus Ortenberg wegen politischer Ausschreitungen verfolgte Stein ebenfalls nicht weiter. Der Beschuldigte hatte zwei Lastwagen für den Transport von SA-Männern zu einer Parteiveranstaltung in Bad Nauheim verliehen und behauptet, über das Ziel der Fahrt und deren Zweck nichts gewußt zu haben. „Da somit eine fahrlässige Zuwiderhandlung nicht strafbar, eine vorsätz­ liche Begehungsweise nicht gegeben ist, liegt eine strafbare Handlung nicht vor.“ Steins korrekte Handhabung der Gesetze ging so weit, daß er, als am 14. August 1932 die alljährliche Verfassungsfeier in Büdingen abgehalten werden sollte, sich an den Kreisamtsdirektor mit der Frage wandte, ob eine solche Feier nicht gegen die gerade ergangene Notverordnung vom 9. August verstoße. Er selbst war Mitglied im Festausschuß und wollte sicherstellen, daß es nicht zur Anzeige kommen würde. Die Nachfrage bei der nächst höheren Instanz ergab aber, daß Bedenken gegen die Verfassungsfeier nicht bestünden.91 So viel nachdenkliche Loyalität brachten nur wenige Juristen für das Recht im Weimarer Staat auf, die Mehrheit war politisch rechtskonservativ orientiert und trug mit nachlässigen Ermittlungen und parteiischen Verfahrensweisen ihren Teil zur Schwächung der Republik bei.92 Als Stein am 13. April 1933 der vorgesetzten Behörde seine Stellungnahme übersandte, lag die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten bereits zweieinhalb Monate zurück. Seither hatte es mehr als genug Zeichen gegeben, welcher Wind unter Hitlers Herrschaft im Büdingen 55

Reich wehen würde. Der politische Gegner wurde mit roher Gewalt bekämpft und festgesetzt, die jüdischen Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Ärzte vielfach gemieden, mißhandelt und beschimpft. In Büdingen war es am Abend des 15. März zu judenfeindlichen Ausschreitungen gekommen. Etwa dreißig bis vierzig zumeist auswärtige SA-Männer drangen in die von Juden bewohnten Häuser und Wohnungen ein und verschleppten die Männer unter Schlägen in den Saal der Gastwirtschaft Schäfer. Dort zwang man sie dazu, Kniebeugen zu machen. Nicht weniger beschämend waren die Ereignisse am 1. April 1933, als ein staatlich angeordneter reichsweiter Boykott zu Verwüstungen von jüdischen Geschäften und Gewalttaten gegen ihre Inhaber führte. Auch in Büdingen postierte sich an diesem Samstag die SA vor den Eingängen und hielt die Kundschaft von einem Einkauf ab, während die jüdischen Einwohner auf der Straße belästigt und gedemütigt wurden. In einer Kleinstadt war es für die Opfer unmöglich, den gezielten Anfeindungen aus dem Weg zu gehen, denn ihre Adressen waren allgemein bekannt. In der Folgezeit taten sich die Büdinger Nationalsozialisten immer ungenierter hervor, sie beschmierten jüdische Geschäfte mit nazistischen Parolen, warfen Fensterscheiben ein, stahlen und zerstörten, von der Polizei weithin unbehelligt, jüdischen Besitz. Den jüdischen Arzt am Ort, Dr. Mayer, terrorisierten sie mit nächtlichen Anrufen und bedrohten ihn schließlich auch körperlich. Er zog wie etliche andere daraus die Konsequenzen und wanderte wenige Jahre nach der „Machtergreifung“ aus. Schließlich waren auch die Steins antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Denn natürlich konnte es in dem Städtchen kein Geheimnis bleiben, daß die Gattin des Amtsanwalts zur jüdischen Gemeinde gehörte. Anders als bei den alteingesessenen Juden am Ort werden es die Büdinger vielleicht nicht gewagt haben, sie auf offener Straße zu schikanieren. Aber jeder Gang Hedwig Steins in die Stadt, auf den Markt, zum Arzt oder Friseur glich nach dem 30. Januar 1933 einem von mißgünstigen Blicken begleiteten Spießrutenlauf.93 Die politische Entschlossenheit der Nationalsozialisten vor Augen, die vor „Säuberungen“ im Bereich der Justiz gewiß nicht Halt machen würden, versuchte Stein im Fortgang der erwähnten Stellungnahme, 56  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

den Bogen nicht zu überspannen. Er hatte die eigene Existenz und die seiner Frau zu schützen. So wies er auch auf einige Fälle hin, bei denen er die Verfahren aus Mangel an Beweisen zugunsten der Nationalsozialisten eingestellt hatte. Und er bescheinigte sich selbst ein unabhängiges Urteilsvermögen, das stets „ohne Ansehen der Person und der Partei“ nur auf eine gerechte Beurteilung des jeweiligen Falls geachtet habe: Auf diese Weise suche ich meinen Teil zu dem Aufbau eines einigen, starken und nationalen Deutschland beizutragen. Aus diesem Grundsatz habe ich auch niemals einer politischen Partei oder einem politischen Verband angehört. Ich suche mich in jeder Beziehung von politischen Einflüssen jeder Art frei zu halten und glaube dies umsomehr tun zu können, als ich von jeher politisch in keiner Weise interessiert bin.

Das war gewiß eine ehrbare Berufseinstellung, die aber den Ton der Zeit nicht traf. Nach dem Willen der neuen Machthaber würde es keinen unpolitischen Bereich in der Gesellschaft mehr geben, und schon gar nicht würde im nationalsozialistischen Staat der Zukunft ein Beamter unpolitisch sein können. Damit sah die Lage Steins, was seine weitere Verwendung im Staatsdienst anlangte, von vornherein düster aus. Gleichwohl machte er sich im Juni 1933 energisch auf die Stellensuche im öffentlichen Dienst bei Reichspost, Reichsbahn und Finanzverwaltung, ohne freilich berücksichtigt zu werden. Der Büdinger Amtsanwalt entsprach nicht entfernt dem Bild des Beamten, wie es die National­ sozialisten im berüchtigten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs­ beamtentums“ vom 4. April 1933 bereits fixiert hatten. Er galt ihnen schon allein deshalb als „politisch unzuverlässig“, weil er mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Anders als im Fall seines Jahrgangsgenossen Werner Best, der mit der „Machtergreifung“ bald in höchste öffentliche Ämter aufsteigen sollte, warf der politische Umbruch Stein in seiner juristischen Laufbahn zurück. Was blieb, war der Weg in die Selbständigkeit. Als ihm die erbetene Zulassung als Rechtsanwalt in Offenbach und Darmstadt erteilt wurde, kam Stein der Entlassung aus dem Staatsdienst zuvor und quittierte auf eigenen Wunsch den Dienst. Damit stand fest, daß das Ehepaar Büdingen verlassen würde.94 Büdingen 57

Erwin Stein, Lilly Herz und Hedwig Stein in Büdingen 1932

Etwas mehr als ein Jahr hatten die Steins „Am Hain“ gelebt und sich anfangs trotz einer diffusen Pogromstimmung im Ort wohl gefühlt in ihrer „gemütlichen Wohnung“. Private Kontakte und Freundschaften wie die zur Familie des Oberamtsrichters Rudolf Everling entstanden und trugen viel zum Wohlbefinden bei.95 Man pflegte einen freundschaftlichen Austausch von Haus zu Haus und beging auch manches Fest gemeinsam. Zu den traditionellen „Pflichten“ des Büdinger Amtsanwalts gehörte es etwa, sich am 6. Dezember als Nikolaus zu verkleiden und die Kinder im Haus des Oberamtsrichters ins Gebet zu nehmen. Stein hatte diese Aufgabe mit ganz besonderem Vergnügen übernommen und sollte sich später gern daran erinnern. Die Everlings hielten auch nach 1933 an ihrer Freundschaft zum Ehepaar Stein fest. 58  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

So ungehemmt wie der Judenhaß nun überall hervorbrach, war das keine Selbstverständlichkeit, denn die Gefahr war groß, als „Judenfreund“ gleich mit in Acht und Bann geschlagen zu werden. Darum taten „Opferbereitschaft“ und „mütterliche Fürsorge“, die Elisabeth Everling damals den Steins gegenüber bewies, ebenso wie die loyale Unterstützung des Oberamtsrichters für seinen jungen Kollegen beiden so wohl.96 „Was wird uns das Leben noch bringen“, fragte Hedwig Stein in einem ersten aus Offenbach an die Büdinger Freunde gerichteten Brief, dessen Tenor von Zukunftsangst und Furcht vor weiterer sozialer Ausgrenzung bestimmt war: Oft möchte ich verzweifeln. Man hört so vieles und glaubt kaum noch an etwas Gutes. Trotzdem dürfen wir uns nicht beklagen; wir bekamen in der letzten Zeit sehr viele Briefe, von vielen Freunden und Bekannten, die, wie sie uns schrieben, sich alle zu unseren Freunden zählen. Wir wollen glauben, daß es auch so ist. Ich empfinde es immer als einen Schlag, wenn ich höre, daß [der] ein oder andere entlassen wurde. Wenn ich sie auch nicht kenne, kann ich doch mit ihnen fühlen, weil ich weiß, wie furchtbar es einen trifft, nicht mehr als vollwertiger Mensch zu gelten.

Abgesehen vom Kontakt zu Everlings hatten die Steins wenig Gutes erfahren in dem Büdinger Jahr, so daß sie dem Ort im Sommer 1933 leichten Herzens den Rücken kehrten. Die Hoffnung vor allem Hedwigs war groß, in der Anonymität der Großstadt wieder ein freieres Leben führen zu können, als in den engen Gassen Büdingens. „Ich bin doch froh, nicht mehr dort leben zu müssen, wenn es uns hier auch nicht so rosig geht.“97 Rechtsanwalt in Offenbach

Die Industriestadt Offenbach am Main mit rund 80.000 Einwohnern im Jahr 1933 war dem Ehepaar Stein bereits vertraut. Nach Grünberg, Hamborn und Vilbel markierte Offenbach die vierte Station in der Laufbahn des Bahnmeisters Stein, auf die er 1918 versetzt worden war. Rechtsanwalt in Offenbach 59

Erwin Stein hatte während seiner letzten Schuljahre also schon in Offenbach gelebt, war nach den ersten beiden Semestern in Heidelberg zum Studium in Frankfurt und Gießen in die elterliche Wohnung zurückgekehrt und bis zum Amtsantritt in Büdingen hier wohnen geblieben. Auch Hedwig Stein kehrte in ein bekanntes Umfeld zurück. Sie hatte vor ihrer Heirat in Mainz als Lageristin gearbeitet und war ebenfalls in Offenbach gemeldet.98 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands im 19. Jahrhundert war die südöstlich an Frankfurt grenzende Stadt zu einem bevorzugten Standort der Eisen- und Stahlindustrie sowie des Maschinenbaus avanciert. Daneben besaß der Ort in der Lederwarenproduktion einen Namen, denn rund 30 % der Gesamtproduktion im Deutschen Reich stammte aus Offenbach. Die florierende Industrietätigkeit stärkte das Bürgertum, das der Kommune lange Zeit seinen Stempel aufdrückte. Davon zeugte außer der Entstehung weitläufiger Gewerbe­ flächen die nach 1900 umgestaltete Innenstadt. Mit der Anlage von Alleen und Parks, dem Bau repräsentativer öffentlicher Gebäude sowie von Einkaufsstraßen mit noblen Geschäftshäusern erhielt Offenbach ein modernes einladendes Gesicht. Die Einwohner bekannten sich mehrheitlich zum reformierten Protestantismus, was seine Wurzeln in der Ansiedlung von Hugenotten im 17. Jahrhundert hatte. Doch der Katholizismus war mit gut 25.000 Gläubigen auch keine bloße Randerscheinung mehr. Darüber hinaus gab es eine lebendige jüdische Gemeinde, die rund 1500  Mitglieder zählte. Die Offenbacher Gemeinde galt bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert als ein Zentrum jüdischer Reformbewegungen. Unter dem Einfluß des Rabbiners Max Dienemann setzte sich dieser Trend nach der Jahrhundertwende fort. Dem promovierten Theologen lag viel am Dialog mit den anderen Konfessionen, und er war an einem offenen Verhältnis zum Bürgertum der Stadt interessiert. In seiner Amtszeit wurde 1935 mit Regina Jonas weltweit die erste Frau zur Rabbinerin ordiniert. Schließlich stammte auch die gefeierte Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Fechten, Helene Mayer, aus Offenbach.99 Politisch und soziologisch gesehen, war Offenbach aber eine „Hochburg der Arbeiterbewegung“ mit dem höchsten Arbeiteranteil 60  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

in der Bevölkerung unter den fünf Industriestädten im Volksstaat Hessen. Entsprechend stark traten Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten in Erscheinung, und waren die Gewerkschaften eine Macht. Von 1919 bis 1933 stellte die SPD mit Max Granzin den Oberbürgermeister der Stadt. Den Niedergang der Offenbacher Industrie hielt in den Weimarer Jahren freilich niemand auf, zwischen 1925 und 1930 nahm die Industrietätigkeit um 10 % ab. Arbeitslosigkeit, und dadurch bedingt, Armut, Verwahrlosung sowie wachsende Kriminalität waren die Folgen. Die Stadt und der Kreis Offenbach wurden nach 1930 zum Notstandsgebiet erklärt, als rund 48 % der erwerbstätigen Bevölkerung erwerbslos gemeldet waren. Die städtische Wohlfahrtshilfe drohte die Stadtkasse zu ruinieren, schon grassierte der Hunger wieder in der Bevölkerung. In dieser Lage gewann die NSDAP auch in Offenbach an Stimmen, nachdem sie in den Jahren zuvor im politischen Spektrum der Stadt so gut wie keine Rolle gespielt hatte. Noch 1932 brachte es die Offenbacher SA auf gerade einmal 180 Leute, und litt die Parteikasse unter chronischem Geldmangel, während die Sozial­demokraten immerhin noch 2605 eingeschriebene Mitglieder verzeichneten. Auch Kommunisten und Sozialisten blickten auf eine treue Anhängerschaft und machten mit öffentlichen Kundgebungen und Märschen vielfach von sich reden. Aber der nationalsozialistische Aufstieg ließ sich weder von den einen noch von den anderen aufhalten. Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 hatte die Hitlerpartei die SPD um zwei Prozentpunkte übertroffen und mit 32,0 % das beste Wahlergebnis vor allen anderen Parteien erzielt.100 Die Wochen vor und nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ waren in Offenbach wie überall im Deutschen Reich von Unruhen geprägt. Am 30. Januar 1933 kam es an verschiedenen Orten in der Stadt zu politischen Zusammenstößen mit mehreren Verletzten. Die Kommunisten hielten am frühen Abend eine Kundgebung auf dem Wilhelmsplatz ab, auf der die Polizei einige Demonstranten wegen Beleidigung der Reichsregierung festnahm. Am 1. Februar feierten SA, SS und Anhänger des „Stahlhelm“ den Regierungsantritt Hitlers mit einem Fackelzug, der vom politischen Gegner attackiert wurde. Zeitgleich zogen etwa 300 Kommunisten, von SA-Männern Rechtsanwalt in Offenbach 61

immer wieder bedrängt, durch die Altstadt. Die Fensterscheiben in den Büros von SPD und KPD sowie in den als politische Treffpunkte bekannten Gaststätten gingen zu Bruch. Bei einer Schießerei in der Domstraße verzeichnete die Polizei an diesem Tag zwei Verletzte. Die Unruhen hielten auch in den folgenden Tagen an und nährten in der Bevölkerung den Eindruck, einem Bürgerkrieg nahe zu sein. So wurden die von den neuen Machthabern rasch erlassenen Gesetze von vielen als richtige Maßnahme begrüßt. Tatsächlich verschwanden die politischen Gegner der Nationalsozialisten in den „wilden“ Folterkellern der SA. Viele von ihnen wurden im Konzentrationslager Ost­ hofen buchstäblich „mundtot“ gemacht. Dem Zuspruch zur Hitlerpartei tat dies jedoch keinen Abbruch. Immer mehr Offenbacher bekannten sich nun zum Nationalsozialismus, auch, wie es schien, immer mehr Arbeiter. Am 1. Mai 1933, von Hitler zum „Tag der nationalen Arbeit“ deklamiert, versank die Stadt bis in die Arbeiterviertel hinein in einem Meer von Hakenkreuzfahnen. Heinrich Galm, einer von zwei Offenbacher Arbeiterführern, die in das Konzentrationslager Osthofen verschleppt und mißhandelt, zum 1. Mai aber wieder freigelassen worden waren, traute seinen Augen nicht: „Wir konnten das gar nicht verstehen, wie diese Veränderung zustande kommen konnte. Eigentlich konnte das ja nur so gewesen sein, daß auch viele in den Arbeiterparteien organisierte Arbeiter zu den Nazis übergegangen sind […].“ Bis zum Sommer 1933, als Erwin Stein seine Rechtsanwaltskanzlei in der Kaiserstraße Nr.  22 eröffnete, hatte sich das Gesicht der Stadt, in der er seine prägenden Jugendjahre verbracht hatte, also gründlich verändert. Hedwig Stein faßte nach dem Weggang aus Büdingen die ersten Offenbacher Eindrücke lakonisch zusammen: „Die Allgemeinheit feiert viele Feste, macht viele Umzüge mit Musik, so daß es immer etwas zu sehen gibt.“101 Während Erwin und Hedwig Stein besorgt auf das politische Geschehen schauten, setzte die übrige Familie Stein, wie es scheint, große Hoffnungen auf die neuen Machthaber. Mehr noch als Erwin war sein jüngerer Bruder Wilhelm für einige Jahre das „Sorgenkind“ der Eltern gewesen. Wilhelm hatte nach seiner Schlosserlehre erneut die Schulbank gedrückt und es über den „zweiten Bildungsweg“ bis 62  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

zum Gewerbelehrer gebracht. Als solcher war er seit dem Examen 1931 allerdings arbeitslos, und nichts hatte darauf hingedeutet, daß sich die wirtschaftliche Lage und damit seine Situation bald bessern würden. Erst Anfang Januar 1933 fand er eine Stellung in einem Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes im rheinisch-westfälischen Kohlenrevier bei Gladbeck. Dieses 1931 noch von der alten Reichsregierung in Gang gebrachte Beschäftigungsprogramm hatte zum Ziel, vor allem junge arbeitslose Männer zwischen 18 und 25 Jahren wenigstens vorübergehend von der Straße zu holen und einer sinnvollen Beschäftigung zuzuführen. Neben der zu verrichtenden Arbeit am Tag – etwa das Ausheben von Entwässerungsgräben in Feuchtgebieten – wurde am Abend wie in einer Berufsschule Unterricht erteilt. Die Männer waren in Lagern kaserniert und organisierten das Lagerleben selbst, Kameradschaft wurde groß geschrieben. Mit dem Freiwilligen Arbeitsdienst erfüllte sich eine gemeinsame Forderung der bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie, während die Nationalsozialisten eine Arbeitsdienstpflicht favorisierten. In dem Ziel, der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden, berührten sich die Vorstellungen. Nach dem 30. Januar 1933 übernahm die Regierung Hitler das Programm und baute den Freiwilligen Arbeitsdienst aus. Mit einem Schlag waren weitere Tausende arbeitslose junge Männer von der Straße geholt. Vergessen war der ursprüngliche Anstoß durch die alte Regierung, die Früchte ernteten allein die neuen Machthaber. Ein Bericht Wilhelm Steins über seine Tätigkeit im Arbeitslager Gladbeck zeugt von der Begeisterung, mit der er die neue Aufgabe anfing.102 Zur Verabschiedung der ersten Lagerabsolventen am 12. April 1933 hielt er eine Rede, worin er die eigene Zeit der Arbeitslosigkeit noch einmal Revue passieren ließ und die damals gefühlte Hoffnungslosigkeit in eindrücklichen Worten schilderte: Vielleicht haben es manche von Ihnen schon wieder vergessen, vielleicht viele von Ihnen, meine Damen und Herren, nicht erlebt und darum noch gar nicht erfaßt, und ich muß es noch mal mit aller Deutlichkeit sagen: Es konnte grausam sein, man konnte verrückt dabei werden. Und ich kann mir nicht helfen und ich muß nochmals darauf zurückkommen auf diese demüRechtsanwalt in Offenbach 63

tigende zermürbende Zeit, auf dieses ewig lange Warten an den Schaltern der Behörden und Geschäftskontoren, ehe man überhaupt nach Arbeit fragen wollte, las man schon ein Schild, ‚Arbeiter werden keine eingestellt‘. Man verlor vollständig den Glauben an sich selbst und – was noch schlimmer war – an seine Leistungsfähigkeit.

Mit sichtlichem Stolz und voller Hoffnung auf eine gute Zukunft sandte er Bericht und Vortrag dem älteren Bruder.103 Erwin Stein dürfte sich für ihn und dessen Frau gefreut haben, bei aller sonstigen Skepsis gegenüber der politischen Wende. Jedenfalls fand er beide Texte so eindrucksvoll, daß er sie interessierten Kollegen, Freunden und Bekannten zeigte. Inwieweit er selbst vom Nutzen des Beschäftigungsprogramms überzeugt war und dessen Weiterführung seine Einstellung zum Nationalsozialismus womöglich beeinflußte, kann nur gemutmaßt werden. Gewiß wird ihm der erzieherische Aspekt sowie die Betonung des Gemeinschaftssinns gefallen haben. Eng damit verbunden und Stein vermutlich ebenfalls sympathisch war der Gedanke der Volksgemeinschaft, den die neuen Machthaber nicht müde wurden, zu propagieren. Aber die nationalsozialistische Volksgemeinschaft war exklusiv gefaßt und schloß Menschen wie seine Frau kategorisch aus. Dem konnte ein universaler Humanist vom Schlage Stein unmöglich folgen.104 Die Umstellung auf die neue Situation als Rechtsanwalt in Offenbach vollzog Stein rasch und gezielt. Passende Räume für die Kanzlei waren bald gefunden, Mobiliar und sonstige Büroausstattung beschafft, wobei das meiste davon gebraucht gekauft wurde – eine Schreibmaschine samt Unterlegmatte für 77 Mark etwa sowie einige gebrauchte Regale. Schließlich war Stein nach gerade einmal zwei Jahren im Staatsdienst noch kein vermögender Mann, und der Aufbruch in die Selbständigkeit ein Wagnis. Es heißt, daß in den ersten Wochen nach dem Start am 17. Juli 1933 der Bahnmeister Stein im Vorzimmer gesessen habe, weil eine seriöse Kanzlei ohne Empfang nicht gut denkbar gewesen sei, es aber an Mitteln zur Bezahlung von Angestellten fehlte. Und Hedwig Stein habe bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Visitenkarte ihres Mannes unter die Leute gebracht, sie in 64  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Geschäften, beim Frisör oder Arzt abgelegt, um ihren Mann möglichst bekannt zu machen. Der Kanzleibetrieb lief erwartungsgemäß schleppend an. Am Ende des Jahres 1933 belief sich der Gesamtumsatz auf 838,17 M dem abzüglich aller Kosten ein Defizit von 2143,05 M gegenüberstand. Vorübergehend mußte der Vater dem Sohn mit regelmäßigen Zahlungen wieder unter die Arme greifen. Aber schon im Folgejahr waren alle Anfangsschwierigkeiten überwunden, und Stein konnte ein steuerpflichtiges Jahreseinkommen von 4371,73 M verbuchen.105 Die Büdinger Wohnung „Am Hain“ wurde erst im April 1934 endgültig aufgelöst, nachdem eine standesgemäße Unterkunft in der Offenbacher Domstraße 74 angemietet worden war. Das Ehepaar Stein lebte bescheiden und blieb es auch, als der Kanzleibetrieb von Jahr zu Jahr einträglicher wurde. Abgesehen von der repräsentativen Wohnung für achtzig Mark monatlich blieben die Privatausgaben gering. Hedwig führte den Haushalt und erhielt das erforderliche Geld, wie es damals vielfach üblich war, wöchentlich von ihrem Mann. Außerdem bekam sie ein Taschengeld von zwanzig Mark im Monat für persönliche Ausgaben. Stein war ein großzügiger Gatte, der seine Frau mit Geschenken – Hüten, Handschuhen und -taschen, mit Schuhen, Kleidern und Mänteln – verwöhnte. Er selbst gönnte sich den gelegentlichen Luxus eines Glases Wein oder Cognac und begann mit dem Rauchen von Zigarren und Zigaretten. Auf große Reisen hingegen verzichtete das Paar und beließ es bei Ausflügen in die nahegelegene Rhön, manchmal auch in die Alpen, die den Alltag jedoch selten länger als für fünf, sechs Tage unterbrachen.106 Steins rascher Erfolg als Rechtsanwalt verdankte sich also in erster Linie seinem ausdauernden Fleiß. Hinzu kam, daß er unter den Honoratioren der Stadt ja kein Unbekannter war, sondern sich seine ersten Sporen als Anwalt nach dem Studium in der renommierten Offenbacher Kanzlei Euler verdient hatte. Aus dieser Zeit resultierte sein guter Name, er war für ein korrektes Wesen und einen geraden Charakter bekannt. Seine intellektuelle Redlichkeit flößte den Menschen, die Rechtsbeistand suchten, offenbar Vertrauen ein. Daß er in sogenannter Mischehe lebte, war kein Geheimnis, scheint seine VerRechtsanwalt in Offenbach 65

Die Familie Stein in Offenbach im Garten 1936

trauenswürdigkeit aber nicht weiter beeinträchtigt zu haben. Im Gegenteil: Für viele jüdische Offenbacher Bürger wurde Stein nach 1933 eine wichtige Anlaufstelle, als es galt, sich der wachsenden Zumutungen im Dritten Reich gerichtlich zu erwehren. Da den meisten jüdischen Anwälten Offenbachs schon nach wenigen Wochen nationalsozialistischer Herrschaft die Zulassung aberkannt wurde, schrumpfte der Kreis rechtschaffener Advokaten schnell und bescherte Stein vermehrt Aufträge. Im Wirtschaftsleben Offenbachs spielte das jüdische Bürgertum eine herausgehobene Rolle, vor allem in der Fabrikation von Lederwaren. Die Erzeugnisse von Eduard Posen & Co. sowie der Lederwerke Mayer & Sohn fanden in ganz Europa Absatz und steigerten die wirtschaftliche Prosperität der Stadt seit dem 19. Jahrhundert erheblich. Auch die ersten Warenhäuser in Offenbach, damals noch Repräsentanten echter Modernität, entsprangen jüdischer Initiative wie das Kaufhaus Oppenheimer an der Frankfurter Straße, Ecke Marktplatz. Das Schuhhaus Strauß direkt am Marktplatz ebenso wie das Konfektionsgeschäft Hermann Hirschen in der Frankfurter Straße waren erste 66  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Adressen.107 Jüdische Ärzte, Rechtsanwälte und Lehrer zählten zu den Honoratioren der Stadt, die mit dem Regierungsantritt Hitlers buchstäblich über Nacht zu Aussätzigen erklärt wurden. Etliche von ihnen vertrat Stein vor Gericht, half bei der Besorgung der notwendigen Unterlagen für die Auswanderung, führte die Auswanderersperrkonten und wickelte letzte Geldgeschäfte ab. Sein für diese Dienste erhaltenes Salär rechnete er nach der geltenden Gebührenordnung auf den Pfennig genau ab und hielt die Beträge akribisch in seinen Konto­ büchern fest. An der Not der Verfolgten bereicherte er sich nicht.108 Ansonsten übernahm Stein auch viele gewöhnliche Fälle, wie sie zum täglichen Brot eines jeden Anwalts gehörten. Die Pflichtverteidigung des zum Tode verurteilten „Gewohnheitsverbrechers“ Frech während des Krieges dürfte eher eine Ausnahme gewesen sein. In diesem Fall zahlten sich Steins stupendes philosophisches Wissen und seine Beredsamkeit aus, mit der er bei den Richtern um Milde für den Angeklagten bat. Offenbar hatte Frech seine Delikte während eines Fliegeralarms begangen, was nach § 4 der „Volksschädlingsverordnung“ vom 5. September 1939 als extrem verwerflich galt und in besonders schweren Fällen mit dem Tod zu bestrafen war. Stein verwies geschickt auf die Präzisierung dieses Passus durch die Novelle von § 1 des Strafgesetzbuchs vom 4. September 1941. Demnach drohte dem Delinquenten die Todesstrafe dann, wenn „der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordert“. Die Todesandrohung erfolge „also nicht absolut, sondern ist nur relativ. Der Gesetzgeber droht also die Todesstrafe nur dort an, wo sie vom gesunden Volksempfinden ausdrücklich gebilligt wird und zur gerechten Sühne erforderlich erscheint.“ Dies wiederum bedeute, daß hier nicht die Beseitigung unliebsamer Personen im Vordergrund stehe oder die Todesstrafe aus nüchterner Staatsräson heraus anzuwenden sei. „Die Todesstrafe ist heute eine Strafe, in der die Majestät des Rechtes, in der die absolute Überlegenheit des Ganzen über den einzelnen ihren vollendeten Ausdruck findet.“ Gewiß habe der Angeklagte eine schwere Strafe verdient, aber es müßte doch die Tat in ein angemessenes Verhältnis zur Strafe gesetzt und der Täter in seiner sozialen Bedingtheit – mit „trauriger Jugend“ und schwieriger Berufsbiographie – betrachtet werden: Rechtsanwalt in Offenbach 67

Als gemeingefährlich sind seine Verbrechen trotz der Gewohnheitsmäßigkeit nicht zu bezeichnen. Er hat auch nie Gewalttaten verübt oder einen Angriff auf das Leben eines anderen Menschen bei seinen Straftaten begangen. Blut hat er nicht vergossen, Leben hat er nicht vernichtet, daher schreit Blut nicht nach Blut.109

Leicht dürfte es für Stein nicht gewesen sein, derart in die Tiefen nationalsozialistischen Rechtsempfindens vorzudringen und in dieser Systematik, mit diesem Vokabular zu argumentieren. Doch seine Arbeit wurde gelobt, und er genoß die Achtung der Kollegen. „Sein Auftreten vor Gericht ist immer korrekt. […] Dr. Erwin Stein ist ein Mann mit anständigem Charakter“, urteilte der Landgerichtspräsident in Darmstadt 1944 über ihn. Da war es im Privatleben der Steins, das im Verlauf der 1930er Jahre kontinuierlich schwerer geworden war, bereits zur Katastrophe gekommen.110 Lilly Herz und Hedwig Stein

So glücklich sich die berufliche Karriere Steins in den 1930er Jahren fügte, so unglücklich verlief das Leben seiner Frau. Hedwig Stein litt darunter, eine Bürde für ihren Mann zu sein, auch wenn er das stets weit von sich gewiesen haben mochte und ihr die Treue hielt. Man mag sich nur einmal die Stimmung in der Familie des Bahnmeisters vorstellen – nach langer unsicherer Wartezeit war der ältere Sohn endlich in eine vermeintlich sichere Position eingerückt, als er sie mit dem politischen Umbruch auch schon wieder verlor: Nicht zuletzt, weil seine Frau Jüdin war. Selbst wenn der Schwiegertochter vielleicht keine direkten Vorhaltungen gemacht wurden, so wird sich die empfindsame Frau doch schuldig gefühlt haben. Möglicherweise war dies ein Grund dafür, daß sie am 12. April 1934 ihren Austritt aus der jüdischen Gemeinde erklärte. Ihr Mann sollte beim Neuanfang in Offenbach keine weiteren Nachteile mehr wegen ihr in Kauf nehmen müssen. Dieser Schritt blieb freilich unwirksam. Für die Nationalsozialisten war bekanntlich Jude, wer von jüdischen Eltern und Großeltern abstammte, 68  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Personalausweis Hedwig Stein

so wurde es 1935 in den Nürnberger Rassegesetzen fixiert. Der Austritt aus der jüdischen Gemeinde half daher ebensowenig wie die christliche Taufe. Allein die Trennung von ihrem Mann hätte ihn beruflich entlastet, doch das kam für ihn nicht in Frage.111 So lebte das Paar gesellschaftlich isoliert in Offenbach. Niemand pflegte damals gern den Kontakt mit Juden, weil dies ernste Konsequenzen haben konnte. In der Tageszeitung stand unter der Überschrift „Verkehr mit Juden“ zu lesen, daß nach einem Gemeinderatsbeschluß in dem Vogelsberger Städtchen Schotten der Umgang mit Juden den „Ausschluß von allen gemeindlichen Vorzügen“ bedeute. Am Tag darauf meldete dasselbe Blatt, im badischen Schriesheim würden die städtischen Beamten und Angestellten aus dem Dienst entfernt, wenn sie mit Juden in Verbindung stünden. Die gesellschaftliche Ausgrenzung der deutschen Juden erfolgte schrittweise, wodurch sie in ständiger Sorge lebten, was wohl als nächste Schikane auf sie zukommen würde. Um so wichtiger wurde jedes freundschaftliche VerhältLilly Herz und Hedwig Stein 69

Ein Sonntag in Offenbach um 1936

nis, jede Einladung. In kaum einem Brief der Steins an die Everlings in Büdingen fehlte daher die Bitte um einen Besuch in Offenbach. „Wir leben sehr einsam und zurückgezogen“, schloß Hedwig einer solchen Bitte an Elisabeth Everling einmal an. Aber die anfangs noch regel­ mäßigen Fahrten der Everlings in die Offenbacher Domstraße versiegten allmählich. Niedergedrückt durch ihre Paria-Existenz erkrankte ­Hedwig Stein an Depressionen. Die Pflege alter Verbindungen fiel ihr immer schwerer, auch weil sie befürchten mußte, für Freunde und Bekannte ein Risiko zu sein. „Wie gern hätte ich mich schon nach Ihrem Wohlbefinden erkundigt“, schrieb sie 1939 nach einer langen Briefpause an Elisabeth Everling, „aber ich wußte doch nicht, ob ich Ihnen keine Unannehmlichkeiten mit dieser Korrespondenz mache. 70  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Nehmen Sie bitte dieses zu meiner Entschuldigung; aber ich wußte wirklich nicht, wie ich recht tat.“ Ihre sonst gut lesbare und sorgfältig gesetzte Handschrift wirkte da schon fahrig und ungelenk, die wenigen Zeilen verrutschten ihr auf dem Bogen. Das waren Indizien für die wachsende Verzweiflung Hedwig Steins. Schließlich stellte sie die Büdinger Korrespondenz ganz ein und ließ ihren Mann nur noch Grüße ausrichten.112 Was blieb in dieser Situation, war der familiäre Zusammenhalt. Aus der engeren Familie Herz lebten die Schwestern Rosalia und Selma zwar weit weg in den USA, aber die jüngere Schwester Lilly war nach dem Verkauf des Elternhauses in Mainz wohnen geblieben. Unverheiratet auf sich selbst gestellt, schlug sie sich mit Gelegenheitsarbeiten mehr schlecht als recht durch. Zu Schwester und Schwager in Offenbach bestand ein herzliches Verhältnis. Erwin Stein ließ ihr regelmäßig kleine finanzielle Hilfen zukommen und bat sie häufig zu Besuchen in die Domstraße. Darüber hinaus gab es Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen der Familie Herz in Offenbach, Mainz und Berlin. Alle litten unter den immer schärferen Maßnahmen, die das Regime zur Drangsalierung der jüdischen Bevölkerung anwandte. An Flucht oder Auswanderung war aus finanziellen Gründen kaum zu denken, außerdem fehlte es an beruflicher Ausbildung und Fremdsprachen. Hedwig war durch die Ehe mit einem „Arier“ zwar geschützt und besaß wenigstens in materieller Hinsicht keine Sorgen. Aber angesichts der täglich erfahrenen Demütigungen war das für sie kein dauerhafter Trost.113 Im Sommer 1942 wurde Lilly Herz nach Polen deportiert. Die Nachricht, sich frühmorgens mit kleinem Gepäck an der Transportsammelstelle einzufinden, erfolgte so kurzfristig, daß ein Abschied von der Familie unmöglich war. Ein letztes Lebenszeichen von ihr kam von einem Gutshof in Polen, dann riß die Verbindung nach dem Westen ab. Über Monate blieben die Steins im Ungewissen darüber, was mit ihr geschehen sei. Erst im Juli 1943 erreichten erste Nachrichten wieder die Offenbacher Domstraße, daß Lilly noch lebe. Zuerst war eine Karte von ihr angekommen, dann hatte ein Bote bei Erwin Stein vorgesprochen und Grüße von ihr ausgerichtet. Schließlich traf ein mehrseitiger Brief Lillys aus einem SS Arbeitslager ein. Darin schilderte sie Lilly Herz und Hedwig Stein 71

ihr weiteres Schicksal seit ihrem plötzlichen Abtransport „vom Feld weg“ in ein Konzentrationslager, von wo aus sie nach zehn Tagen in ein Bekleidungswerk der SS verlegt wurde. Hier hatte sie, wie sie berichtete, in der Lagerküche eine „gewisse Karriere“ gemacht. Als „Oberkapo“ führte sie das Kommando über 106 Frauen. „Du kannst Dir lebhaft denken, daß es mir in der Küche nicht schlecht geht. Ich fühle mich sehr wohl, nur die Freiheit fehlt mir. Sonst habe ich alles.“ Der starke Lebens- und Überlebenswillen der Lilly Herz stach in dem Brief hervor sowie ihre Fähigkeit, sich dem Schicksal zu fügen. Die Hoffnung war freilich groß, noch einmal freizukommen. „Manches Mal meine ich, ich müßte durchbrennen, aber wohin? Wohin?? Kannst Du mir Willi oder Heinz nicht mal schicken? Die Züge sehe ich dauernd, denn sie fahren direkt am Lager vorbei.“ In Verkennung ihrer Lage setzte sie zuletzt auf den wohlhabenden Schwager: „Weißte, Lulu, Erwin könnte mir helfen, wenn er wollte. Vielleicht sprichst Du mit ihm mal darüber, denn mit d’argent ist vieles zu schaukeln“.114 Als Lillys Brief im Sommer 1943 Offenbach erreichte, lag der Freitod ihrer Schwester bereits fünf Monate zurück. Hedwig Stein war dem seit Jahren auf ihr lastenden Druck nicht mehr gewachsen gewesen und hatte sich, als ihr Mann für kurze Zeit das Haus verließ, in der gemeinsamen Wohnung erhängt. Sie war seit längerem depressiv und, wie Stein in Briefen andeutete, schon früher einem Suizid nahe gewesen. Die Last, die sie für ihren Mann war, das ungewisse Schicksal ihrer Schwester Lilly, schließlich eine Aufforderung der Gestapo, sich am Mittwoch, den 24. März, morgens um acht Uhr in der Offenbacher Dienststelle einzufinden, hatten am Ende den Gedanken zur Tat reifen lassen. Denn in diesen Tagen wurden die letzten Juden aus dem Rhein-Main-Gebiet in den Osten deportiert, meist in „Mischehe“ lebende Menschen wie Hedwig Stein. Die von dort herüberwehenden Nachrichten über den Verbleib der Deportierten waren diffus und dunkel. „Wie Sie vielleicht wissen, wird die Trennung einer Mischehe so vollzogen, daß der jüdische Teil eine solche Vorladung zur Vorsprache erhält – bezeichnender Weise trug sie keine Unterschrift –, dann dort behalten und irgendwohin transportiert wird. Diesem Schicksal wollte meine lb. Frau entgehen. Sie wollte nicht ins Ungewisse gehen. 72  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Und so faßte sie den schweren Entschluß, der soviel Kraft und Mut voraussetzt, und schied freiwillig aus dem Leben“, erläuterte Stein den Büdinger Freunden den Tod seiner Frau. Hedwig Stein wurde ihrem Wunsch entsprechend feuerbestattet und am 26. März 1943 auf dem Alten Friedhof in Offenbach in einem Urnengrab beigesetzt.115 Es heißt, es habe verschiedene Versuche Steins gegeben, seine Frau beizeiten außer Landes zu schaffen – nach Großbritannien, in die Schweiz oder die USA. An Geld dazu hätte es nicht gefehlt, auch nicht an Verbindungen nach Übersee zu ihren beiden Schwestern. Aber Hedwig Stein habe sich energisch gegen die Trennung von ihrem Mann gewehrt.116 An eine gemeinsame Emigration war offenbar nicht gedacht worden. Dazu kam die Sorge um die jüngere Schwester Lilly, die sie gewiß nicht einfach in Hitler-Deutschland hätte zurücklassen wollen. Für Erwin Stein war der Freitod seiner Frau ein schwerer Schlag, der ihn aber nicht unvorbereitet getroffen hatte. In den Tagen vor der Einbestellung zur Gestapo hatte Hedwig in langen Gesprächen mit ihrem Mann die Ausweglosigkeit ihrer Lage erörtert und an ihrer Absicht, sich selbst zu töten, offenbar keinen Zweifel gelassen. „Es waren furchtbare Stunden vorher, nachher und heute. Alles hatten wir besprochen. Sie war so verzweifelt, dass sie keine Kraft zum Weiterleben mehr hatte“, schrieb Stein seiner Schwägerin nach Polen. Daß er Hedwig am nächsten Morgen in dieser Stimmung allein gelassen habe, scheint Lilly ihm in ihren letzten Briefen aus dem Arbeitslager vorgeworfen zu haben. In seiner Antwort erinnerte Stein an den längst erloschenen Lebenswillen Hedwigs und verteidigte sich selbst mit dem Hinweis darauf, was er all die Jahre für sie getan habe. Bis „zur letzten Stunde“ habe er ihr beigestanden und „sehr viel von ihr abgehalten. […] Ich habe sie ja auch beschützt und nicht verlassen, obgleich ich es oft sehr schwer hatte infolge der allgemeinen Verhältnisse. Das wirst auch Du anerkennen, wie es viele andere auch anerkannt haben.“117 Mußte Erwin Stein damit rechnen, daß sich seine Frau, als er die Wohnung an diesem Tag verließ, selbst töten würde? Hätte er es verhindern können oder gar müssen? Niemand konnte im März 1943 wissen, daß die Tage des Gewaltregimes gezählt waren, während die Lilly Herz und Hedwig Stein 73

Deportation Hedwigs nach dem Osten am nächsten Tag Gewißheit war. „Das Schicksal, das sie sich gewählt hat, hätte sie in diesem Monat unfreiwillig getroffen“, tröstete Stein seine Schwägerin. Die Situation war so ausweglos wie die Entscheidung zur Selbsttötung tragisch. Größer kann die Überforderung zweier Menschen nicht sein, und so verwundert es nicht, daß sich in die Trauer Steins um den Freitod seiner Frau auch Gefühle der Erleichterung mischten: „Wenn Du H.s Züge gesehen hättest, würdest Du auch sagen, dass unsere H. in Frieden geschieden ist: so beruhigt und friedvoll war ihr Gesicht, nicht verzerrt oder entstellt. Oft besuche ich sie an ihrem Grab, schenke ihr Blumen und ehre ihr Andenken.“118 Der Tod Hedwig Steins sollte das Leben ihres Mannes gravierend verändern. Zunächst bestellte er noch selbst den Haushalt, putzte, wusch und kochte sogar im Sommer Obst und Gemüse ein, „damit im Winter etwas da ist“. Darüber hinaus nahm ihn sein Beruf nach wie vor stark in Anspruch, wie er seiner Schwägerin ein wenig larmoyant ins SS-Arbeitslager nach Polen schrieb: Ich freue mich immer auf das Wochenende, weil ich mich dann ausruhen kann. Die Ruhe habe ich sehr nötig. Die jahrelangen Aufregungen sind auch nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich fange an grau zu werden. […] Ob ich den Winter über alles so durchhalten kann, weiss ich nicht. Auf die Dauer kann ich die Hausarbeit und die Berufsarbeit nicht zusammen machen, wenn ich keine Not leiden will. Ich werde vielleicht gezwungen sein, eine Haushälterin zu engagieren. Es kommt für mich aber nur eine über 50 Jahre in Betracht. Am liebsten wäre mir eine Schwester. Vielleicht wirst Du, l[iebe] L[illy] jetzt auch einmal an mein Schicksal denken und Dir sagen, dass ich es jetzt wirklich nicht leicht habe.“119

Im Oktober 1943 wurde Erwin Stein Soldat. Ungedient, gesundheitlich eingeschränkt und überdies mit einer jüdischen Frau verheiratet, war er bis dahin vom Militärdienst freigestellt worden. Doch der inzwischen von Propagandaminister Goebbels erklärte „totale Krieg“ erforderte den Einsatz aller verfügbaren Ressourcen an Menschen und Material. Nach kurzer militärischer Ausbildung folgte Steins Verset74  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

Soldat Stein

zung zunächst nach Belgien, wo er in der Etappe beim Stab diente. Er fand in der Küche und auf der Schreibstube Verwendung, beides Tätigkeiten, die er vergleichsweise gern und offenbar zur vollen Zufriedenheit seines vorgesetzten Offiziers verrichtete.120 Als promovierter Jurist hätte ihm eigentlich ein höherer Rang als der des einfachen Rekruten zugestanden, doch Stein legte darauf keinen gesteigerten Wert. „Ich bin noch ein ganz gemeiner Soldat“, ließ er Rudolf Everling in Büdingen wissen, um anschließend über seine Zukunft beim Militär zu scherzen. „Beim Kommiss hat man bis jetzt meine militärischen Fähigkeiten noch nicht entdeckt. Aber man wird noch dahinter kommen und in einem Jahr werde ich es wohl zum Gefreiten gebracht haben. Dann eröffnen sich mir die schönsten Aussichten. Lilly Herz und Hedwig Stein 75

Das gibt mir einen bedeutenden Trost und macht mir die Strapazen federleicht.“ Doch nach gut einem Jahr an der Westfront war eine Wandlung in ihm vorgegangen, die auch sein Verhältnis zum Militärdienst veränderte. Stein wurde zum Gefreiten befördert und erhielt am 30. Januar 1945 für seine „besonderen Verdienste um die Wehrmacht“ auch das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern verliehen. Mit ironischem Stolz teilte er die Ehrung den Everlings mit. „Nun werden so manche Büdinger doch beruhigt sein, daß ich noch ein brauchbarer Soldat geworden bin.“121 Stein machte den Rückzug der Wehrmacht aus den Westgebieten im Herbst 1944 mit. Zunächst zog sich seine Einheit aus Belgien zurück, an Aachen vorbei über Duisburg, Hagen und Soest bis zum ostwestfälischen Stützpunkt Paderborn-Sennelager, wo sie sich sammelte und neu formierte. Wegen der rasch vorrückenden alliierten Verbände war der Rückmarsch überstürzt erfolgt, was die vorsätzliche Zerstörung von Ausrüstung und Material zur Folge hatte, „damit sie dem Feind nicht in die Hände fallen sollen. Und die Belgier haben nach – ja schon bei unserem Abzug – geplündert, wie sie konnten.“ Bekanntlich ließ auch mancher deutsche Soldat bei solchen Gelegenheiten etwas „mitgehen“, obwohl das streng verboten war. Darum legte Stein gegenüber seinen Eltern besonderen Wert auf die Feststellung, sich zu keiner Zeit nirgends bereichert, sondern stets verantwortlich gehandelt zu haben. „Ich habe nichts an mich genommen. Nur das, was mir gehört, habe ich dabei.“ Die Orientierung an „Gesetzlichkeit und Bildung“ besaß, wie er ausdrücklich festhielt, selbst in Ausnahmesituationen wie dieser absoluten Vorrang für den Juristen. Aber auch sonst hatte sich Stein während des Rückmarschs bewährt, so daß sein Vorgesetzter mit ihm zufrieden war. „Ich bin wieder beim Stab und unser Spieß hat offensichtlich anerkannt, daß ich ihm während der Flucht sehr wertvolle Dienste geleistet und mich tapfer gezeigt habe. Andere hätten sich dabei anders entpuppt.“122 Nach kurzer Pause in Sennelager erhielt die Truppe den Marschbefehl an den Niederrhein und wurde per Bahn nach Straelen in der Nähe von Geldern verlegt. In einem Schloß wurde Quartier genommen – die Offiziere waren im Haupthaus, die Mannschaft in den Stal76  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

lungen untergebracht, „schlafen tun wir auf einer Strohschütte“. Immerhin sei das Essen „ausgezeichnet“ und habe er einen Blick in die Schloßbibliothek werfen dürfen, berichtete Stein den Eltern nach Offenbach, „so läßt es sich schon aushalten, wenn nicht Krieg wäre und die Front immer näher rückte. Der Geschützdonner und dauernde Fliegerangriffe sorgen für Belebung! Wir sollen hier verteidigen und zählen jetzt zur kämpfenden Truppe.“ Um seine Zukunft besorgt machte Stein in diesen Tagen sein Testament, das er durch seine Kanzleivertretung Dr. Clos den Eltern zustellen ließ, als „eine vorsorgliche Maßnahme. Ich hoffe, daß ich noch lange lebe. Aber Ihr wißt doch, ein Jurist hat immer alles geregelt.“ Die letzten Monate bis zur Kapitulation verbrachte Stein inmitten heftiger Kämpfe in und um Geldern, bis seine Einheit am 24. März erneut die Flucht vor den anrückenden Alliierten antrat. Die Soldaten marschierten nachts, weil über Tag die feindlichen Jagdflieger jede Truppenbewegung am Boden vereitelten. Nach drei Wochen war das Ziel, ein militärischer Stützpunkt südöstlich von Hamburg, erreicht. „Und nun sollen wir wieder einmal aufgeteilt werden. Wo wird es hingehen?“ Für den Offenbacher Gefreiten scheint es von dort nicht mehr sehr viel weiter gegangen zu sein. Am 5. Mai 1945 geriet er nahe Hamburg in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 31. Juli 1945 in die amerikanische Zone nach Hause entlassen wurde. Mit 42 Jahren stand Stein wie viele Menschen damals vor den Trümmern seines bisherigen Lebens. Seine Frau war tot, sein Hab und Gut in der Offenbacher Wohnung seit dem Luftangriff auf die Stadt am 18. Dezember 1944 vernichtet. Grund zum Verzweifeln hätte er gehabt, tat es aber nicht. Statt dessen packte er den Neuanfang an, der ihn schon bald mit neuen Herausforderungen konfrontierte.123 Den ausgebombten, gleichwohl vermögenden Offenbacher Anwalt im Sommer 1945 vor Augen gerät leicht aus dem Blick, wie weit sein Weg aus den kleinstädtischen Verhältnissen Grünbergs bis dahin gewesen war, fallen die vielen kleinen und großen Niederlagen dieses Lebens scheinbar weniger ins Gewicht. Aber das haben Aufsteigerviten gewöhnlich an sich, daß der Erfolg am Ende alles überstrahlt. Der rückblickende Betrachter bewundert die vermeintliche Gradlinigkeit Lilly Herz und Hedwig Stein 77

eines solchen Lebenslaufs, die es so jedoch gar nicht gegeben haben muß. Wieviel auf dem Lebensweg eines Menschen von kontingenten Einflüssen abhängt, läßt sich kaum ermessen und entzieht sich der biographischen Erzählung. Der Biograph stützt sich auf die überlieferten Zeugnisse und fügt wie bei einem Puzzle aus vielen Einzelteilen ein konsistentes Lebensbild zusammen. Getreu dem von Friedrich Nietzsche entlehnten Wahlspruch „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“, durchlebte Stein als Heranwachsender einen Prozeß allmählicher Reifung. Dabei waren Veränderungen dem im Sternzeichen Fische Geborenen im Grunde wenig sympathisch. Seinem Charakter nach neigte schon der junge Stein mehr zum Konservieren, als zum Revolutionieren, sieht man von der Phase jugendlicher Auflehnung gegen die Eltern einmal ab, die mit Studienbeginn bald restlos verflog. Letztlich waren feste beständige Größen wie Familie, materieller Besitz und Heimat das, was er für ein gelungenes Leben hielt und persönlich anstrebte. Hier schlug die Erziehung der Eltern, ihr auf Leistung, Erwerb und Zusammenhalt gerichtetes Streben auf die Dauer durch. Aber dies hatte auch die Verbindung mit Hedwig Herz getragen, sie empfand wohl ähnlich wie er und sah ihrerseits Erfüllung an der Seite ihres Gatten. Abgesehen von der gesellschaftlichen Isolierung lebte das Paar nach seiner Heirat ein bürgerliches Leben, in dem das Meißner Porzellan im Haushalt ebensowenig fehlte, wie das Silberbesteck oder der echte persische Teppich. Erwin Stein sammelte, wie es scheint, materielle Sicherheit in den Jahren größter Unsicherheit. Arm und finanziell abhängig, wie er es bis fast zum dreißigsten Lebensjahr gewesen war, wollte er nie wieder sein. Entsprechend viel lag ihm am wirtschaftlichen Erfolg, entsprechend akribisch verzeichnete er Einnahmen und Ausgaben, denn zu verschenken hatte er nichts. Steins Geiz prägte sich in diesen Jahren aus und begleitete ihn, wie es heißt, lebenslang. Sein Beispiel zeigt freilich auch, daß man im Dritten Reich sehr wohl beruflich erfolgreich sein und es zu bürgerlicher Wohlhabenheit bringen konnte, ohne dafür „Mitlaufen“, „krumme Dinger drehen“ oder, schlimmer noch, sich am Unglück anderer bereichern zu müssen. Sein Zugeständnis an das Regime beschränkte sich auf die monatliche Überweisung von 78  „Werde, der Du bist!“ Der junge Erwin Stein

einer Reichsmark an das Winterhilfswerk.124 Doch so konventionell Stein sein bürgerliches Leben auch einrichtete – ein Konformist war er nicht. Er bewahrte einen eigenen Kopf in Zeiten, als viele Deutsche den falschen Verheißungen der politischen Demagogen auf den Leim gingen. Sein christlich-humanistisches Menschenbild, sein Pazifismus und schließlich seine Ehe mit Hedwig Herz immunisierten ihn nachhaltig. Stein ist nicht persönlich schuldig geworden in der Zeit des Dritten Reichs und besaß damit die besten Voraussetzungen für einen Neubeginn nach 1945.

Lilly Herz und Hedwig Stein 79

II „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein Als Erwin Stein Ende Juli 1945 aus der Kriegsgefangenschaft in seine hessische Heimat zurückkehrte, besaßen die Amerikaner die Macht im Land. Bereits Ende März hatten die ersten Panzerverbände von Süden her die Landesgrenze überrollt und bis Anfang April das gesamte Territorium besetzt. Dabei trat ihnen kein nennenswerter Widerstand mehr entgegen, viele Städte und Kommunen wurden zumeist kampflos eingenommen, begleitet von den stumpfen Blicken eines im totalen Krieg aufgeriebenen Volkes. Mit der Kapitulation wuchs die Not durch Vertriebene, Flüchtlinge und Displaced Persons auf der Suche nach Unterkunft und Nahrung. An beidem fehlte es ebenso wie an einem funktionierenden Behördenapparat, der das Chaos hätte ordnen können. Die Amerikaner zögerten nicht lange und machten sich an den Wiederaufbau der Verwaltungsstrukturen. Nationalsozialisten, sofern sie noch am Platz waren, wurden ihrer Posten enthoben und viele von ihnen in Lagern interniert. Gemeinden und Städte erhielten neue Bürgermeister, die größeren Verwaltungseinheiten neue Leitungs­ gremien. Für den einstigen Volksstaat Hessen setzte die Militärregierung in Darmstadt eine Landesregierung unter der Präsidentschaft Ludwig Bergsträssers ein, für die preußische Provinz Hessen-Naussau in Kassel mit Fritz Hoch, in Wiesbaden mit Hans Bredow je einen politisch unbescholtenen Regierungspräsidenten. Nachdem der Grenzverlauf zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone und weitere aus der hessischen Territorialgeschichte resultierende Fragen geklärt worden waren, hob General Dwight D. Eisenhower am 19. September 1945 das Land „Groß-Hessen“ aus der Taufe.125 Unterdessen blieb der Kriegsheimkehrer Stein nicht untätig. Offenbach hatte wie viele Großstädte in den Bombennächten schwer gelitten, so daß bei Kriegsende 34,5 % der Wohnungen, 30 % der Gewerberäume und 47 % der öffentlichen Gebäude zerstört waren. Dies betraf, wie schon berichtet, auch Steins Wohnung in der Domstraße „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein 81

und seine Kanzleiräume in der Kaiserstraße. Nur Weniges war ihm aus der Vorkriegszeit geblieben – einige wertvolle Bilder und Teppiche sowie wichtige private und geschäftliche Unterlagen, die er noch rechtzeitig bei Freunden in Büdingen hatte unterstellen und so vor der Vernichtung bewahren können. Alles andere war unwiederbringlich verloren. Was es dafür an staatlichem Ausgleich geben sollte – sofort nachdem er von der Zerstörung von Wohnung und Kanzlei erfahren hatte, bat er seinen Vater, ihm einen „Fliegerschädenschein“ sowie alle sonstigen Schadensantragsformulare an die Front zu schicken, „damit ich sie ausfüllen kann“, – würde vielleicht den materiellen Wert, nicht aber die verlorenen Erinnerungen ersetzen.126 Das allgemeine Chaos nach Kriegsende ließ keine Zeit zu tiefer Besinnung. Es mußten Behördengänge absolviert, Papiere besorgt werden, um Anspruch auf Lebensmittelkarten und Wohnung, schließlich auch die Zulassung als Rechtsanwalt durch die Besatzungsmacht zu erlangen. Rasch hatte sich die amerikanische Militärregierung von ­Erwin Stein ein Bild gemacht und ihm umstandslos die Zulassung nicht nur als Rechtsanwalt, sondern auch als Notar erteilt. Von seiner persönlichen Lauterkeit wie seiner beruflichen Reputation überzeugt, bot sie ihm den Posten eines Oberstaatsanwalts in Gießen an. Stein lehnte dieses Angebot ebenso ab wie das wenige Wochen später ­folgende der deutschen Regierung unter Karl Geiler, das Amt eines General­staatsanwalts in „Groß-Hessen“ zu übernehmen. Stein wollte politisch aktiv an der „Schaffung einer gerechten Ordnung“ beteiligt sein.127 So ließ er sich von der neu gegründeten Volkshochschule für das Wintersemester 1945/46 als Dozent verpflichten und hielt im November einen Kurs zum Thema „Der Weg zum demokratischen Staat“, stets mit einem aufmerksamen „Beobachter der amerikanischen Militärregierung“ im Hintergrund.128 Im Folgenden steht Steins „zweites“ Leben als Politiker im Zentrum, das an Jahren mit seinem ersten Lebensabschnitt fast gleich lang zählt. Wohl selten läßt sich in einer Biographie eine so klare Trennung in eine Zeit davor und danach treffen, und selten auch lassen sich derart prägnante Unterschiede in den Lebensphasen eines Menschen feststellen. Der stille, zeitbedingt auf Berufsarbeit und Familie reduzierte 82  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Offenbacher Rechtsanwalt trat nach 1945 energisch ins Licht der Öffentlichkeit, und das nicht nur vorübergehend, sondern bis fast an sein Lebensende. Hatte sich da etwas angestaut in ihm, war es eine Form von „nachgeholtem Leben“ (Carola Dietze), das ihn zur öffentlichen Figur werden ließ? Die zahlreichen Auftritte vor Publikum wie in den Studios des Hessischen Rundfunks schien er jedenfalls zu genießen, und sie wurden ihm bald zur zweiten Natur. So wird in einem ersten Kapitel die unmittelbare Nachkriegszeit in Offenbach geschildert, als Stein sich in der Kommunalpolitik seiner Heimatstadt engagierte. Doch warum trat er der CDU bei und nicht, wie es angesichts seiner sozialpolitischen Vorstellungen vielleicht näher gelegen hätte, der SPD? Wer waren seine Mitstreiter und welche geistigen Einflüsse bestimmten ihn? Es werden Texte Steins analysiert, seine Reden im Wahlkampf sowie im zweiten Kapitel seine Mitarbeit an einer neuen hessischen Verfassung untersucht. Steins „zweites Leben“ besaß natürlich auch eine private Seite. Im April 1947 heiratete er ein zweites Mal, Lotte Lena Prigge, eine von Herkommen und Typ sehr von Hedwig Herz verschiedene Frau. Mit ihr erhielt er eine extrovertierte und begabte „Managerin“ zur Seite, ohne die das aufreibende Politikerleben kaum zu führen gewesen wäre. Als Kultusminister in der SPD-CDU-Koalitionsregierung unter Christian Stock war sein Terminkalender stets übervoll und sollte sich auch später, als Richter am Bundesverfassungsgericht, nicht leeren. In seiner Ministerzeit waren drei Vorgänge von besonderer Relevanz. Da ist zum einen sein Kampf um eine Schulreform in Hessen zu nennen, der nicht zuletzt mit der amerikanischen Militärregierung auszufechten war, zum anderen der „Fall Brill“ mit seiner weitreichenden Ausstrahlung in die deutsche Universitätswelt jener Jahre. In beiden Fällen wird einmal mehr nach den Hintergründen und persönlichen Überzeugungen Steins gefragt, die hier zum Tragen kamen. Daneben fällt der Blick auf seine Bemühungen um die Wiedereröffnung der Gießener Universität, der er sich als Absolvent besonders verbunden fühlte. Nach gut einem halben Jahrzehnt in der aktiven Politik folgte Stein 1951 nach kurzer Station als Richter am Bundesgerichtshof der BeruLilly Herz und Hedwig Stein 83

fung zum Bundesverfassungsrichter. Bis heute sind die beiden großen Voten, die Stein dafür verfaßte, in Erinnerung, als es 1956 um das Verbot der KPD und 1971 um die Grenze der künstlerischen Freiheit im Zusammenhang mit Klaus Manns Roman „Mephisto“ ging. Beides waren Vorgänge von beträchtlichem öffentlichen Interesse, die Stein zeitweilig zur prominenten Figur avancieren ließen. Das Schlußkapitel wird dem Elder Statesman Stein gewidmet sein. Nach seiner Pensionierung am Bundesverfassungsgericht kehrte er dem Badischen den Rücken und ließ sich in seiner hessischen Heimat auf einem Dorf zwischen Grünberg und Gießen nieder. Doch legte Stein dort nicht etwa seine Hände in den Schoß, sondern ergriff noch im Ruhestand viele Gelegenheiten zur öffentlichen Wirksamkeit. Was die Dichte des Ereignisablaufs und die öffentliche Wirksamkeit in seiner zweiten Lebenshälfte anlangt, übertrafen sie die erste bei weitem. „Es muß alles anders werden“, war für den Offenbacher Rechtsanwalt mehr als eine salopp daher gesprochene Parole, er nahm sie ernst und fühlte sich innerlich zur Erfüllung verpflichtet.129 Der Weg in die Politik

Die amerikanische Militärregierung faßte wohl von Anfang an die Mitwirkung von Deutschen am politischen Neubeginn ins Auge, ließ aber zugleich keinen Zweifel darüber aufkommen, wer nun die Macht im Land besaß. Die erste deutsche Nachkriegsregierung in Hessen unter Führung des parteilosen Karl Geiler war nicht demokratisch legitimiert, sondern wurde den Deutschen von den Besatzern oktroyiert. Als Regierungsgrundlage diente das Staatsgrundgesetz für GroßHessen, das der Ministerpräsident im Einvernehmen mit der Militärregierung am 22. November 1945 verkündete. Es stattete ihn mit einiger Machtbefugnis aus, band ihn aber zugleich an die Zustimmung der Amerikaner, sobald es um den Erlaß von Gesetzen und Verordnungen ging. Das schwächte die Autorität Geilers gegenüber den aufstrebenden politischen Parteien und erschwerte die Regierungs­ arbeit. Gleichwohl setzte sich der Heidelberger Juraprofessor und 84  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

erfolgreiche Wirtschaftsanwalt im Rahmen der von den Amerikanern gesteckten Möglichkeiten durch. So bestand er auf der Ernennung des Christdemokraten Franz Böhm zum Kultusminister, obwohl die Militärregierung für dieses, wie man hier meinte, besonders wichtige Ressort beim demokratischen Wiederaufbau andere Kandidaten favorisierte. Böhm sollte daher auch nicht lange im Amt bleiben. Im Frühjahr 1946 trugen die Sozialdemokraten bei den ersten Kommunalwahlen den Wahlsieg davon, worauf sie prompt den Ministerpräsidenten zu stürzen versuchten. Geiler meisterte die Regierungskrise mit Hilfe der Amerikaner, konnte aber seinen Kultus­ minister nicht halten. Die politisch erstarkten Sozialdemokraten und die Kultusabteilung der Militärregierung lehnten ihn ab, weil er am überkommenen dreigliedrigen Bildungssystem festhielt und angeblich „eine undemokratische Schulpolitik der Begünstigung der vermögenden Volksschichten“ betrieb. Auf Franz Böhm folgte Franz Schramm. Doch auch der katholische Schuldirektor zeigte nur geringe Neigung, die weitreichenden Reformvorstellungen der Militärregierung wie der linken Parteien im Bildungsbereich anzugehen. Immerhin verbot er mit Erlaß vom 13. Mai 1946 die Prügelstrafe an Hessens Schulen.130 Seit August 1945 hatte sich das parteipolitische Leben im Land zu regen begonnen, von der Besatzungsmacht zuerst auf lokaler Ebene genehmigt, sodann regional und schließlich landesweit gestattet. Bis zu den ersten Wahlen im Frühjahr 1946 etablierte sich ein Vierparteiensystem mit SPD, KPD, CDU und LDP. Während SPD und KPD an ihre alten Fäden anknüpften, und auch die LDP ihre Wurzeln bei den Weimarer Demokraten betonte, war die CDU eine komplette Neugründung. Sie erfolgte für das Land Groß-Hessen am 25. November 1945 in Frankfurt. Die neue Partei gab sich ein christlich-soziales Programm, das planwirtschaftliche Elemente enthielt, für Arbeitnehmermitbestimmung sowie die Sozialisierung der Monopol- und Schlüsselindustrien eintrat und damit ein deutlich nach links ausgerichtetes Profil besaß.131 Drei Tage später, am 28. November 1945, schrieb sich Erwin Stein in die Listen der Christlich-Demokratischen Union Offenbachs ein und erhielt die Mitgliedsnummer 61. Der Weg in die Politik 85

Ich gehörte damals auch zu den Gründern der CDU, weil es mir die Partei zu sein schien, die dem Neuen am besten Ausdruck geben konnte, weil sie bis dahin ja nicht bestanden hatte und nicht an irgendwelche Programme gebunden war und auch keine Versprechungen, die sie nicht gehalten hatte, zu verantworten hatte[,]

gab Stein im Nachhinein über seine Entscheidung für die CDU zu Protokoll. Selbst bis dahin parteilos gewesen, traute er diesem Zusammenschluß am ehesten die nötige Integrität für einen wirklichen Neuanfang zu. Den bald aufkommenden Gerüchten, es handle sich um keine Neugründung, sondern um eine Neuauflage der katholischen Zentrumspartei, trat er entschieden entgegen. 1946 zog er für die CDU in den Kommunalwahlkampf.132 Die nach dem amerikanischen Einmarsch noch im Amt verbliebenen Offenbacher Stadtväter hatten mit amerikanischer Genehmigung ihre Arbeit wieder aufgenommen und taten seither ihr Möglichstes zur Linderung der allgemeinen Not. Bereits am 19. Juni 1945 waren die Stadtverordneten wieder zusammengetreten und trafen erste Maßnahmen zur Trümmerbeseitigung und zum Wiederaufbau. Daneben standen Fragen zur Unterbringung der vielen Obdachlosen sowie zur Verteilung von Nahrungsmitteln und Wirtschaftsgütern auf der Tagesordnung. Am 20. Juli lief der für die Versorgung der Stadt besonders wichtige Schiffsverkehr auf dem Main wieder an, ab dem 8. August wurde die Post wieder ausgetragen, gut einen Monat später öffneten die städtischen Schulen ihre Tore. Diese sichtbaren Erfolge vor Augen quittierten die Wähler die Arbeit ihrer Stadträte bei den Wahlen zum Offenbacher Stadtparlament mit einer Beteiligung von 75,5 %. Stein trug mit großem persönlichen Einsatz zum guten Abschneiden seiner Partei bei. Es war damals beschwerlich zu einer Versammlung im Kreis Offenbach zu kommen. Es gab kaum Autos. Es war kalt, denn die Wahlveranstaltungen fanden ja Anfang Januar statt. Man fuhr mit dem Fahrrad […]. Die Säle waren kalt, Versammlungen fanden im Halbdunkeln statt. Es war schon eine Mühsal, hier den Idealismus, den man hatte, zu verwirklichen[,] 86  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

beschrieb er die widrigen Umstände dieser ersten Nachkriegswahlen, die freilich nicht nur für Politiker, sondern ebenso für die Besucher der Wahlveranstaltungen galten.133 Als Wahlkämpfer gab sich Stein mal energisch, mal nachdenklich und immer bemüht, seine Zuhörer mit Argumenten zu überzeugen. Es ging ihm um die großen Fragen, nicht um kleinliche Parteipolitik, nun, wo es den staatlichen Neuanfang anzupacken galt. Den Zuhörern wurde bald deutlich, daß hier kein „alter Parteihase“ sprach, sondern ein politischer Neuling ihnen mit großer Ernsthaftigkeit erklärte, was zu tun sei. Seinen Ausführungen zu folgen, setzte freilich einigen Langmut voraus. Akademisch im Duktus, immer ein wenig schulmeisterlich, dabei spürbar von tiefem Idealismus durchtränkt, dürften seine Wahlreden manchen Offenbacher oder Rodgauer doch einigermaßen ratlos zurückgelassen haben. In ausgiebigen Exkursen wurden etwa die Ursachen der deutschen Katastrophe erörtert, die Stein tief in der deutschen Geschichte verwurzelt sah. Daß Freiheit und Demokratie sich hierzulande nicht entwickelt hätten, erklärte er als eine Folge der Konfessionsspaltung im 17. Jahrhundert, aber vor allem des bald darauf einsetzenden Aufstiegs Preußens zur Kontinentalmacht. „Während andere Völker die Welt eroberten, die menschlichen Rechte ausbauten und selbstbewußte Bürger, Männer von Besitz und Geltung schufen, exerzierte der König Friedrich I. mit seinen langen Kerls und führte Friedrich der Große seine Kriege um Schlesien.“ Damals sei der „Untertan als ewiges Gleichnis des deutschen Wesens“ entstanden, der die Revolution 1848 verpatzt und mit dem Scheitern des Weimarer Staates auch die letzte Chance auf freie Staatlichkeit habe verstreichen lassen. Stein warf seinen Landsleuten mangelnde Zivilcourage und einen fatalen Hang zur „Knechtseligkeit“ vor und prognostizierte düster, daß die „Erziehung des deutschen Volkes zur Demokratie“ ein schwieriger Prozeß sein werde. Wie gut das im Publikum ankam, läßt sich nicht sagen. Doch mancher Zuhörer wird sich vielleicht still gefragt haben, ob dies nicht eine allzu forsch über die Verdienste und zahlreichen Opfer der deutschen Demokratiebewegung hinweggehende Deutung war. Der Offenbacher Rechtsanwalt verabreichte den Wählern wahrlich keine leichte Kost.134 Der Weg in die Politik 87

Ähnlich gedankenschwere Ausführungen schloß Stein über das Verhältnis von Religion und Politik, zur Wirtschaftsverfassung und zum Erziehungswesen an. In vielem folgte er der hessischen CDU-Partei­ linie, die wirtschaftspolitisch nach links tendierte, ansonsten aber bürgerlich-konservative Werte vertrat. Er legte beträchtliche Skepsis gegenüber Kapitalismus und Moderne an den Tag, wenn er den „Rausch der Technik und des Verkehrs“ beklagte. Denn dies habe die Entfremdung des Menschen und den moralischen Verfall der Gesellschaft zur Folge gehabt. Zuerst müsse daher für die Wiederherstellung der „sozialen Gerechtigkeit“ gesorgt werden, die nur in der „Verbindung der planvollen Wirtschaftslenkung mit der alten abendländischen Idee der freien und verantwortlichen Persönlichkeit“ zu erreichen sei. Der sozial „verantwortungslose“ Kapitalismus der Vergangenheit gehöre an die Kette gelegt, Bodenschätze und Schlüsselindustrien wie Kohle, ­Eisen und Stahl müßten zu Allgemeingut erklärt werden. Nur so sei das „unendlich schwere Unrecht wieder gutzumachen“, das an der Arbeiterschaft im Zuge der Industrialisierung begangen worden sei. Es kann nur vermutet werden, woran sich Stein in seinen Wahlkampfreden genau orientierte. Vielleicht hat er zu den Werken Ernst Jüngers gegriffen, den er sehr schätzte, oder zu Oswald Spengler; beide verbreiteten eine kulturkritische Sicht, die er offenbar teilte.135 Mit zu den stärksten Anziehungspunkten im CDU-Parteiprogamm dürfte für Stein die dezidiert christliche Ausrichtung gezählt haben. Schon seit Jugendtagen hatte er sich zunächst unter dem Einfluß Nietzsches mit dem Wesen des Christentums auseinandergesetzt, was ihn zeitweilig in tiefe Krisen gestürzt, am Ende aber zur festen Glaubensgewißheit geführt hatte.136 Kurz darauf sollte er entscheidende Impulse durch die Begegnung mit Leopold Ziegler empfangen, den er vermutlich schon in seiner Heidelberger Studienzeit persönlich kennen- und schätzen gelernt hatte. Dem 1881 in Karlsruhe geborenen, 1905 in Jena von Rudolf Eucken promovierten Philosophen war eine akademische Karriere krankheitsbedingt verwehrt geblieben, was ihn aber nicht abhielt, als Privatgelehrter seine religionsphänomenologischen Arbeiten mit großer Energie voranzutreiben. 1917 kam mit Rudolf Ottos „Das Heilige“ eine erste bahnbrechende Untersuchung 88  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

auf diesem Gebiet in die Buchläden und erhielt für ein akademisches Werk ungewohnt breite Aufmerksamkeit. 1920 folgte dann Zieglers monumentale Abhandlung „Gestaltwandel der Götter“.137 Das Buch fiel mitten in die Sinn- und Orientierungskrise der Menschen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und wurde neben Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ein Bestseller. Noch im Erscheinungsjahr nahm Ziegler dafür den Weimarer Nietzsche-Preis entgegen.138 Sein Denken nahm bei Nietzsche und dessen radikaler Auffassung vom Tode Gottes seinen Ausgang und dachte sie konsequent weiter. Wenn Gott tot sei, dann trete der Mensch an dessen Stelle mit allem, was dies an Freiheit, Macht und aber auch an Verantwortung bedeute. Die Religion sei damit allerdings noch keinesfalls am Ende, weil sie, wie Ziegler in seinem Werk zu zeigen versuchte, den Menschen jeglicher Kultur ein Urbedürfnis sei. War es in seinem frühen Hauptwerk noch eine These, daß eine Welt ohne Religion schlechthin undenkbar sei, trat er in seinen späteren Arbeiten dezidiert für eine Rückbesinnung der modernen Gesellschaft auf das Christentum ein.139 Neben seinen religionsgeschichtlichen Studien machte sich Ziegler als politischer Schriftsteller einen Namen. Schon den Ersten Weltkrieg hatte er publizistisch begleitet, war bei Kriegsausbruch 1914 wie viele Intellektuelle kurzzeitig der allgemeinen Euphorie erlegen, um mit der bald einsetzenden Ernüchterung nur noch beißende Kritik an Kaiser, Generälen und Regierung zu üben. Nach der Kapitulation tat er sich mit dem Schriftsteller Wilhelm Schäfer und weiteren Gleichgesinnten zum „Bund zur Sommerhalde“ zusammen, dem es um nichts Geringeres als um einen Beitrag zur „Rettung Deutschlands, zu einer Rettung der Welt“ zu tun war.140 Ein „Aufruf der Geistes-Schaffenden, geistig Wirkenden zum Sozialismus“ wurde vorbereitet und Überlegungen für einen eigenen Verfassungsentwurf angestellt. Man plante, mit einer Schriftenreihe für die Verbreitung der Ideen zu sorgen. Aber es blieb bei luftigen Gedankenspielen für den Staat der Zukunft, der sozialistisch nur in einem ganz „eigenen Wortsinn“ sein würde und jedenfalls nicht mit „jenem gang und gäbe Sozialismus“ zu verwechseln sei, zu dem sich „heute Hinz und Kunz bekennt, ohne sich was dabei zu denken“.141 Politisch konservativ-völkisch orientiert, lehnten Der Weg in die Politik 89

Ziegler und Schäfer die Mitarbeit von Juden im „Bund“ kategorisch ab, für die sich der linksliberale Mitstreiter Paul Natorp in dem Kreis stark gemacht hatte. Mit Schäfer war sich Ziegler einig darüber, daß „der Jude […] bei der Rettung von uns Deutschen auch beim besten Willen keine Möglichkeit der Mitarbeit“ habe. So sehr er den Bildungsstand und die Gelehrsamkeit von Juden schätzte, nahm er sie doch nicht als Deutsche wahr. Als im Sommer 1930 die Nachricht kursierte, Sigmund Freud werde den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhalten, hielt er das für eine „skurrile“ Verbindung Freuds mit Goethe und klagte, diese „Zeiten sind nicht leicht zu nehmen, nur wenige Menschen oder Begebenheiten können einen trösten.“142 Daß der Privat­gelehrte zur selben Zeit intensive Kontakte mit Juden pflegte, kennzeichnet die Doppelmoral von vielen Intellektuellen, die zugleich glaubten, einer vermeintlichen „Verjudung des deutschen Geistes“ entgegenwirken zu müssen.143 Mit seinen kultur- und technikkritischen Arbeiten in den 1920er Jahren rückte Ziegler nahe an die Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution heran, ohne freilich selbst ein Akteur in diesem Kreis zu werden. Aber er war mit Edgar Julius Jung befreundet, mit dem er die Hochschätzung des „geistigen Deutschland“ und die Verachtung der Massengesellschaft teilte. Beide wähnten sich als geistige Wegbereiter und schrieben mit Wucht gegen den Weimarer Parteienstaat und seine Repräsentanten an: Wir lehnen uns mit jeder Faser gegen ein Parlament auf, das fast in Rein­ kultur eine ‚Auslese der Minderwertigen‘ darstellt und die wenigen echten Vertreter des deutschen Volkes von Geistesgnaden, wie sie eine Nation in jedem Zeitraum ihrer Geschichte hervorzubringen pflegt, mit tödlicher Sicherheit von sich aussperrt[,]

erklärte Ziegler im Vorfeld der Septemberwahlen 1930.144 Ohne Zweifel spielte er damit auf das seinerzeit Furore machende Werk Jungs „Die Herrschaft der Minderwertigen“ an. Parteipolitisch ließ sich Ziegler nicht vereinnahmen und blieb nach einem kurzen Flirt mit dem Nationalsozialismus gegenüber der Hitler-Partei entschieden 90  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

auf Distanz. Im Dritten Reich konzentrierte er sich auf seine religionswissenschaftlichen Arbeiten, von denen zwei auch publiziert wurden, die dritte erst nach Kriegsende erscheinen konnte.145 Ein Arkanum tiefer Gelehrsamkeit umgab den Denker, der seit 1925 in seinem Überlinger „Efeuhaus“ zurückgezogen lebte und als intellektueller Geheimtip von Mund zu Mund ging. Ziegler veröffentlichte nach dem Krieg noch etliche Arbeiten, doch mit keiner vermochte er an den Anfangserfolg anzuknüpfen. Vielleicht zu gelehrt, vielleicht auch für die sinnsuchenden Menschen der zweiten Nachkriegszeit gedanklich schon zu antiquiert, verfing sein 1948 erschienenes Opus magnum „Menschwerdung“ gar nicht mehr.146 Nur eine kleine verschworene Gemeinde hielt an ihm als einem tiefgründigen „Weltdeuter und Weltweisen“ fest.147 Seit Jahren mit dem Ehepaar Ziegler befreundet, sollte Stein nach 1945 zum bescheidenen Auskommen des Privatgelehrten beitragen helfen. Schließlich hatte er die Werke seines geistigen Ziehvaters akribisch studiert und ihm nacheifernd sich auch selbst an theologischen Studien versucht.148 Wie tief er in seine Gedankenwelt eingedrungen war und wie genau er ihn wirklich kannte, muß offenbleiben, gewiß ist nur, daß er Ziegler ausgesprochen hoch schätzte. Stein erinnerte sich zeitlebens dankbar an ihn, der entscheidenden Einfluß auf seine geistige Entwicklung genommen habe. Demokratisch sollte der staatliche Neuanfang Deutschlands sein und christlich, dafür legte sich Stein im Kommunalwahlkampf 1946 für die CDU ins Zeug. Gemeinsam hätten Protestanten und Katholiken sich in dieser neuen Partei zusammengefunden, „um unter dem Panier des wahren Führers Jesus Christus und seinem Liebesgebot eine demokratische Welt in christlichem Glauben aufzubauen“. Das mag in heutigen Ohren einigermaßen befremdlich klingen, wurde aber zeitgenössisch anders gehört und gewürdigt. Im Moment des Zusammenbruchs verlangten die Menschen nach geistiger Lenkung, und die Vorstellung vom „christlichen Abendland“ evozierte lange vermißte Gefühle von Ruhe, Geborgenheit und privatem Glück. So dürften Steins konkrete Forderungen nach einer christlichen Erziehung der Jugend und nach einer „wahrhaft christlichen Schule“ von vielen Der Weg in die Politik 91

Wählern aus bürgerlichem Milieu geteilt worden sein. Stimmen aus der Arbeiterschaft, die Stein doch auch am Herzen lag, ließen sich damit freilich nicht einfangen. Sein Gesellschaftsbild erinnerte allzu sehr an die Vorstellungen der schon mit dem ersten großen Krieg untergegangenen bürgerlichen Welt, wenn er den Schutz der Familie, Erziehung der Kinder durch das Elternhaus, Schaffung einer wahrhaft christlichen Schule, Wiederherstellung der öffentlichen und privaten Moral im Sinne ehrbarer Sittsamkeit und fraulicher Zucht, Reform des Ehe- und Scheidungsrechts im Geiste der Heiligkeit der Familie

zu Forderungen seiner Partei erhob. Im Grunde waren das keine kommunalpolitischen Themen; Stein ging es hier um die grundsätzliche Positionierung der CDU im gerade wieder neu erwachten Partei­ leben.149 Das Engagement des Offenbacher Rechtsanwalts fiel auf fruchtbaren Boden. Bei den Wahlen zu den Gemeindevertretungen der Dörfer und kleinen Städte sowie zu den Kreistagen Groß-Hessens wurde die CDU zweitstärkste Kraft hinter der SPD. Erwin Stein zog ins Stadtparlament Offenbach ein und übernahm den Posten des Fraktionsführers. „Keiner war ehrgeizig! Oder nach einem Amt oder auf sonstigen Vorteil bedacht. Die allgemeine Not hielt uns alle zusammen. Und ebenso reibungslos vollzog sich die Arbeit der CDU mit der SPDFraktion.“ Gewiß: Die Erinnerung an längst vergangene Tage ist stets trügerisch und muß von daher als historische Quelle mit Vorsicht behandelt werden. Steins Rückblick auf das politische Tagesgeschäft nach mehr als dreißig Jahren war einerseits idealistisch überhöht, andererseits schon von der Enttäuschung über die langfristige Entwicklung seiner Partei eingetrübt. Gleichwohl vermittelt seine Erinnerung ein Stimmungsbild vom demokratischen Neuanfang 1945 in Hessen, den Sozial- und Christdemokraten gleichermaßen prägen sollten.150 Zu den Offenbacher Parteifreunden der ersten Stunde gehörte Steins Anwaltskollege Karl Kanka. 1904 in München geboren, aber 92  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

mit dem 1905 erfolgten Umzug der Eltern in Offenbach aufgewachsen, hatte er wie Stein Jura studiert. Als Berufsziel faßte er aber nicht den Staatsdienst ins Auge, sondern den freien Anwaltsberuf, dem er seit 1929 in seiner Heimatstadt nachging. Kanka war katholisch. Auch er betrachtete Religion und Kirche als konstitutiv für das abendländische Europa, ein christliches Menschenbild als einen Grundwert der Gesellschaft. So hatte er schon als Schüler im Wahlkampf zur Verfassunggebenden Nationalversammlung 1919 Werbung für die katholische Zentrumspartei gemacht. Ihr Mitglied wurde er aber nicht, aus dem Grund, aus dem vermutlich auch der junge Erwin Stein noch Distanz zur Parteipolitik gehalten hatte: Kanka habe, so heißt es über ihn in der Literatur, „zu dieser frühen Zeit noch das ‚politische Lied‘ für ein ‚garstig Lied‘ [gehalten], eine später von ihm für falsch erkannte Interpretation, der er während seines ganzen späteren politischen Lebens entgegenarbeitete“. Ähnlich dürfte Stein empfunden haben, als er 1945 seine frühere Aversion gegenüber dem Parteienstaat überwand und ganz bewußt den Eintritt in eine politische Partei vollzog.151 Die Offenbacher Anwälte Stein und Kanka kannten einander berufsbedingt schon länger. Kanka war Sozius in der Kanzlei des jüdischen Rechtsanwalts und Notars Siegfried Guggenheim, dem nach Hitlers Regierungsantritt erst das Notariat, 1938 auch die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen worden war. Nach einigen Wochen Haft in Buchenwald konnten er und seine Frau Deutschland noch rechtzeitig verlassen. Von den USA aus stand Guggenheim bis zu seinem Tod in regelmäßigem Briefkontakt mit seinem früheren Teilhaber, stets hungrig auf Nachrichten aus Offenbach. Daß Kanka sich 1933 zeitweilig der SA anschloß, dürfte also tatsächlich den Grund gehabt haben, daß er sich und den jüdischen Mitinhaber der Kanzlei aus der Schußlinie nehmen wollte. Guggenheim selbst soll ihm jedenfalls diesen Schritt damals und auch später nicht verübelt haben. Wie Stein wurde Kanka während des Nazi-Regimes zu einer wichtigen Anlaufstelle für die Offenbacher Juden, so daß allein über diese Gemeinsamkeit auch eine private Verbindung zwischen beiden Männern bestanden haben dürfte. Doch wie immer es gewesen sein mag: Als es 1945 die „Stunde Der Weg in die Politik 93

Null“ zu bewältigen galt, zogen beide am selben Strang.152 Kanka baute die Volkshochschule in Offenbach wieder auf, Stein stellte sich sofort als Dozent zur Verfügung. Im November 1945 war Kanka einer der drei Antragsteller, die der amerikanischen Militärregierung ein Gesuch zur Gründung der Offenbacher CDU vorlegten, Stein trat der Neugründung umgehend bei. Kanka und Stein brachten den Offenbacher CDU-Ortsverein gemeinsam in Schwung. Den Blick nach vorn in die Zukunft gerichtet, sollte die Vergangenheit allerdings nicht in Vergessenheit geraten. Darum beantragte der Fraktionsvorsitzende Stein schon im Sommer 1946, die Gemeindevertretung der Stadt Offenbach möge, „eine Gedenktafel für die Opfer des Faschismus, des Rassenwahns und der Völkerverständigung“ errichten. Der Antrag wurde einstimmig angenommen, das Vorhaben im April 1950 mit der Einweihung einer Bronzetafel realisiert.153 Ein „Parteimann“ im strengen Sinn des Wortes wurde Stein aber nicht, das unterschied ihn letztlich von Karl Kanka, der von 1952 bis zur Übernahme eines Bundestagsmandats 1957 stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion war. Abgesehen von der Fraktionsführung im Offenbacher Stadtrat übernahm Stein kein Parteiamt und gelangte nie in die Führungsetage seiner Partei. In die CDU eingetreten war er, um seinen Anteil zur Forderung, es müsse „alles anders werden“ beizutragen.154 Die hessische Verfassung

Unter den politischen Aufgaben der zweiten Nachkriegszeit war die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vielleicht die gewaltigste Herausforderung. Hierzu trat am 12. März 1946 auf Direktive der Militär­ regierung zunächst ein Vorbereitender Verfassungsausschuß mit der Maßgabe ins Leben, die Aufgaben der späteren Verfassunggebenden Landesversammlung vorab schon einmal zu beraten und auch einen ersten Entwurf als Diskussionsgrundlage vorzulegen. Die Kommission bestand aus Politikern, Professoren und hohen Verwaltungsbeamten mit einschlägiger Erfahrung. Darüber hinaus wurden die politischen 94  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Parteien, verschiedene Verbände, die beiden Kirchen sowie einzelne Persönlichkeiten gezielt um Stellungnahmen zur künftigen Verfassungsgestalt gebeten. Der Anfrage war ein Fragenkatalog beigefügt, um über einige absehbar konflikthafte Punkte schon im Vorfeld ein möglichst breites Meinungsspektrum einzuholen. Es gingen insgesamt 35 Denkschriften ein. Die CDU betraute ihren Fraktionsführer im Offenbacher Stadtrat Stein mit der Aufgabe, von dem man sicher wußte, daß er sich eingehend mit Fragen zu Staat und Verfassung beschäftigt hatte. Er kam der Aufforderung pflichtgemäß nach und legte dem Ausschuß seine „Gedanken zur künftigen Verfassung“ vor.155 Der Text war unter Zeitdruck niedergeschrieben worden, was den Offenbacher Rechtsanwalt aber nicht davon abgehalten hatte, seinen Ausführungen einige zur Besonnenheit mahnende Gedanken und einen ambitionierten historischen Exkurs voranzustellen. Beginnend mit dem französischen Staatsdenker Joseph de Maistre weist er darauf hin, daß keine politische Verfassung aus dem Nichts heraus geschaffen werde, sondern stets auf Vorhergehendes aufbaue. Und mit Aristoteles gibt er unter „1. Besinnung“ zu bedenken, daß es doch Aufgabe des „tüchtige[n] Gesetzgeber[s] und wahre[n] Staatsmann[s]“ sei, zu erkennen, welche Verfassung unter den jeweiligen Umständen für ein Volk die angemessene sei. Kontinuitätsbrüche, hieß das, seien tunlichst zu vermeiden.156 Vielmehr müsse die historische Verwurzelung von Staat und Gesellschaft in der Geschichte eines Landes als „erste Elemente seiner Verfassung“ verstanden und berücksichtigt werden.157 Eben deshalb läßt Stein zunächst einen historischen Rückblick folgen, der sich weit ausgreifend vom Mittelalter bis zum Zusammenbruch 1945 erstreckt. Es wird auf den tief verwurzelten Dualismus in der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands verwiesen, der in den Gegensätzen von Stamm und Volk, Land und Reich, Partikularismus und Zentralismus seit jeher zum Ausdruck gekommen sei und das politische Geschehen beherrscht habe. Die staatliche Ordnung des Deutschen Reiches beginnt im Zeichen des demokratischen genossenschaftlichen Aufbaues einer Gemeinschaft GleichDie hessische Verfassung 95

berechtigter und Gleichverpflichteter. […] Mit der Bildung des Fränkischen Reichs beginnt die folgenschwere Wandlung des germanischen Volksstaates zum Herrscherstaat über den Weg des Beamtenstaates und des Lehnsstaates.158

Das war historisch arg verkürzt und begrifflich problematisch. Auch die daran anschließenden Ausführungen zum weiteren Verlauf der deutschen Verfassungsgeschichte erfolgten in einem rasanten Durchmarsch durch die Jahrhunderte. Wie schon in seinen Wahlkampfreden erklärt Stein am Ende das Königreich Preußen, besonders die preußische Politik unter Bismarck zum Urheber einer fatalen Fehlentwicklung in der jüngeren Geschichte, die innenpolitisch die Klassengesellschaft zementiert und den Untertan hervorgebracht, außenpolitisch die Kriegsgefahr geschürt habe. „Von Anfang an war das ­Bismarckische Reich tot krank“, resümiert Stein, „[o]hne Widerstand brach es am 9. November 1918 zusammen“.159 Beim Blick auf die jüngste deutsche Geschichte räumt er der Weimarer Reichsverfassung von 1919 einen prominenten Platz ein und stellt Überlegungen darüber an, warum sie von so kurzer Dauer gewesen sei. Einen Grund meint er darin zu sehen, daß mit der Schaffung der „freieste[n] Verfassung der Welt“ nicht auch schon ein funktionierender demokratischer Staat entstanden sei. „Eine Verfassung bedeutet noch nicht einen neuen staatlichen Zustand, sondern enthält nur die Voraussetzungen für die Schaffung eines neuen Staates.“160 Nun wäre es Aufgabe der Bürger gewesen, den Staat auf dieser Basis zu verwirklichen, doch dazu habe der Wille gefehlt. Stein weist auf Konstruktionsfehler der Republik hin, wie die beibehaltene Vormachtstellung Preußens im Reich, das Verhältniswahlrecht, die Vielzahl an Parteien und die ungelösten wirtschaftlichen wie sozialen Fragen. Mit Walther Rathenau verurteilte er das Weimarer Verfassungswerk als aus der Zeit gefallen; orientiert an den überkommenen Vorstellungen und Ideen des liberalen 19. Jahrhunderts, sei es von seinen Urhebern „‚als letzte Neuheit in der Form von 1848“‘ angepriesen worden. Von reaktionären Mächten bedroht und nur halbherzig verteidigt, sei der Weimarer Staat letztlich am Zusammenspiel von „wiedererstarktem Militarismus 96  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

und Kapitalismus“ zugrunde gegangen. Auch habe es, resümiert Stein, an Unterstützung der Weimarer Demokratie durch die „Demokratien der übrigen Welt“ gemangelt.161 Für die Zeit des Nationalsozialismus betont er den allgegenwärtigen „Terror“ des Regimes, der am Ende nur noch von außen habe besiegt werden können. An diesem Punkt zieht er Parallelen zu früheren markanten Daten der deutschen Geschichte, als fremde Mächte in die inneren Verhältnisse Deutschlands eingegriffen hätten, 1648, 1814, 1918 und 1946. „Immer ist Deutschlands politisches Schicksal in den Wendepunkten seiner Geschichte von außen bestimmt worden“.162 Der historische Exkurs endet mit einem Zitat aus dem Tagebuch Friedrich Hebbels aus dem Jahr 1848, als der Dichter in Wien lebte und das dortige Revolutionsgeschehen mit spitzer Feder kommentierte. ‚Es kommt zuweilen, wie für den einzelnen Menschen, so für ein ganzes Volk ein Moment, wo es über sich selbst Gericht hält. Es wird ihm nämlich die Gelegenheit gegeben, die Vergangenheit zu reparieren und sich der alten Sünden abzutun. Dann steht aber die Nemesis ihm zur linken Seite und wehe ihm, wenn es nun nicht den rechten Weg einschlägt. So steht es jetzt mit Deutschland.‘163

Hundert Jahre später befinde sich das Land wieder an solch einer Wendemarke, gab Stein zu bedenken. Wie viele Gebildete und auch mancher zeitgenössische Historiker erklärte er die deutsche Katastrophe aus dem spezifischen Verlauf der deutschen Geschichte. Daß sich Geschichte nicht in dieser Zwangsläufigkeit vollzieht und Kausalitäten nicht ohne weiteres herzustellen sind, bedachte er nicht. Steins Geschichtsbild war nicht wissenschaftlich, sondern feuilletonistisch geprägt. Dagegen erweisen ihn seine Antworten auf die von der Kommission gestellten Fragen zu speziellen Problemen des künftigen Staatsaufbaus als einen kompetenten und besonnenen Ratgeber. Im Hinblick auf das Verhältnis von „Land und Reich“ (Punkt 1) plädiert Stein energisch für einen föderalen Staatsaufbau. Denn dieser werde den historisch gewachsenen Strukturen am ehesten gerecht, weil Die hessische Verfassung 97

er die „Eigenheiten und Selbständigkeiten“ der Länder, die „reiche Vielfalt des deutschen Charakters“ hinreichend abbilde. Der Föderalismus habe sich als die „große Stärke Deutschlands“ bewährt, als „Ordnung der kleinen Verhältnisse […], aber nicht [der] Politik der großen Macht“. Schließlich sei auch von einem christlichen Standpunkt eine bundesstaatliche Konstruktion dem Einheitsstaat vorzuziehen, wofür Stein sich auf einen „Klassiker des Föderalismus“, nämlich auf Constantin Frantz, beruft. Für den staatstheoretischen Publizisten war diese Staatsform die „weltliche Erscheinungsform des Christentums“ (Michael Dreyer) und damit dem Zentralstaat als einer „Ausgeburt des römischen Heidentums“ unbedingt vorzuziehen.164 Dem Reich will Stein die Außen-, Sicherheits-, Finanz-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik übertragen, alle sonstigen Angelegenheiten, vor allem das Bildungswesen, aber in der Zuständigkeit der Länder belassen. Die Größe der Bundesstaaten müßte aneinander angeglichen, Preußens Übermacht also entscheidend beschnitten werden. Ansonsten sei bei allen Entscheidungen auf die in den einzelnen deutschen Landschaften gewachsenen historischen, sozialen und religiösen Strukturen Acht zu geben: „Die neue Ordnung erfordert eine Selbstregierung und Selbstverwaltung, die aus sittlicher und sozialer Verantwortung den Ausgleich von Autorität und Freiheit findet.“ Keine Frage ist für Stein der Fortbestand eines politisch und wirtschaftlich einheitlichen deutschen Reichs, so wie es im Potsdamer Protokoll vom August 1945 von den Siegermächten beschlossen worden war. Schließlich solle sich das deutsche Reich in die Völkerrechtsgemeinschaft einordnen, auch wenn dies einen gewissen Souveränitätsverlust bedeute (Punkt 2).165 Beim Thema „Volksentscheid und Volksbegehren“ (Punkt 3) rät Stein von einer Implementierung direkt-demokratischer Instrumente ab, solange die dafür nötige „Staatsgesinnung“ im Volk fehle. Die unmittelbare Mitwirkung des Volkes soll auf die „außergewöhnlichen Verfassungsänderungen“ beschränkt werden.166 Er tritt nachdrücklich für ein aus zwei Kammern bestehendes Regierungssystem ein (Punkt 4), in dem der Reichstag resp. Landtag vom Volk in allgemeiner, gleicher und direkter Wahl ermittelt wird, die zweite Kammer, 98  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Reichswirtschafts- und Sozialrat bzw. Landeswirtschafts- und Sozialrat genannt, aus Vertretern der Wirtschaft, Universitäten, Selbstverwaltungskörperschaften, Verbänden und Kirchen besetzt werden. Dieser Aufbau entspreche dem Föderalismus am besten.167 Zu Punkt 5 des Fragenkatalogs „Gewährleistung der Aktionsfähigkeit der Regierung“ spricht er sich für einen Staatspräsidenten neben dem Ministerpräsidenten aus, der auf bestimmte Zeit gewählt, repräsentative Funktionen übernehme und im politischen Streitfall als Schlichter angerufen werden könne.168 Die Staatsregierung will Stein nicht vom Vertrauen des Reichs- bzw. Landtags abhängig machen, sondern die Autorität der Regierung entweder durch den Staatspräsidenten, durch ein Vertrauensvotum des Reichswirtschafts- und Sozialrates oder durch die Einbindung von zwei Ministern aus der zweiten Kammer in die Regierung sichern.169 Hinsichtlich des Wahlsystems plädiert er für die Beibehaltung des Verhältniswahlrechts, das aber in einigen Punkten zu modifizieren sei. Vor allem sei der Zersplitterung des Parteiwesens durch die Einführung einer Prozenthürde vorzubeugen.170 Stein spricht sich für ein Notverordnungsrecht im Ausnahmefall aus und tritt für die Beibehaltung des Berufsbeamtentums ein. Eine besondere Regelung sieht er für den Richterstand vor: die Richter sollen, wie bereits in der Weimarer Verfassung fixiert, „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sein“ und auf Lebenszeit ernannt werden. Es müßten höchste Maßstäbe an die für das Amt in Frage kommenden Juristen gestellt werden: „Das Richteramt ist das höchste Amt, das ein demokratischer Staat zu vergeben hat. Daher dürfen zu Richtern nur Männer ernannt werden, die sich in der Praxis zuvor in anderen Berufen bewährt haben.“171 Staat und Kirche (Punkt 6) will Stein rechtlich völlig gleichgeordnet sehen, ließen sich doch die Kirchen in Deutschland schon historisch bedingt nicht wie ein privatrechtlicher Verein oder ein Wirtschaftsverband organisieren. Die Schulen sollen als „christliche Simultanschulen“ eingerichtet werden und so zur „Überwindung der glaubensmäßigen Gegensätze des Volkes“ beitragen (Punkt 7). Nicht nur der Religionsunterricht solle im „Geist des Bekenntnisses“ erteilt werden, sondern ebenso die „ethischen Hauptfächer Deutsch und Geschichte“.172 Die hessische Verfassung 99

Zu Punkt 8, „Sozialverfassung und Wirtschaftsverfassung“, schlägt Stein die Einführung eines Rätesystems vor, das freilich nicht mit dem politischen Rätesystem zu verwechseln sei, sondern „Räte als Gebilde des Wirtschaftslebens und der Kultur“ aufbauen will.173 Er sieht dafür ein dreistufiges Modell vor, das auf Bezirks-, Landes- und Reichsebene aufbaue. „Die soziale Ordnung muß in einer organischen Gemeinschaft bestehen, in der jeder Stand gleich notwendig ist und in einer natürlichen Ordnung lebt“.174 Schließlich hält Stein auch Vorkehrungen zum „Schutz der Demokratie“ für unbedingt erforderlich (Punkt  9). So dürfe die demokratische Staatsform niemals selbst Gegenstand einer Verfassungsänderung werden und sei außerdem dadurch zu schützen, daß ein bestimmter Personenkreis (Funktionäre des NS-Regimes) von der Übernahme höherer Staatsämter ausgeschlossen würde. Auch dürfe der politische Kampf der Parteien nicht wie in der Weimarer Zeit vollkommen regellos geführt werden, sondern müsse sich in geordneten Bahnen als sachliche Auseinandersetzung vollziehen.175 Mit Erstaunen konstatiert Stein am Ende seiner Ausführungen, daß zum Thema „Grundrechte“ vom Verfassungsausschuß keine Stellungnahme erbeten worden sei. „Wie ist heute mitten in einer Kulturkrise und nach zwei Weltkriegen und einem Schreckensregiment die Konzeption der Menschenrechte überhaupt möglich?“ Die liberalen Menschenrechtserklärungen vergangener Jahrhunderte gäben darauf so wenig eine Antwort wie die Paulskirchenverfassung von 1849, denn inzwischen sei der Mensch der modernen Massengesellschaft vielfältigen widersprüchlichen Entwicklungen ausgesetzt. So werde Freiheit verkündet, der Mensch aber zugleich durch die Technik „versklavt“; der materielle Reichtum der Gesellschaft wachse, während gleichzeitig die „geistige Verarmung“ fortschreite; die Massengesellschaft werde durch die modernen Medien zwar immer „aufgeklärter“, aber die „denkende, gebildete Elite“ verschwinde. Den Menschen der Gegenwart fehle es an sozialer Bindung, diagnostiziert Stein, und mahnt die Berücksichtigung dieser Fehlentwicklung im künftigen Staats- und Gesellschaftsaufbau an, der im Geiste der Solidarität, Gerechtigkeit und des Friedens erfolgen müsse.176 100  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Steins Empfehlungen hoben sich von den übrigen Einsendungen durch ihre historische und philosophische Grundlegung ab. Andere Autoren argumentierten zum Teil ebenfalls historisch, aber keiner griff so weit zurück in die deutsche Geschichte und neigte zu so dezidierten Urteilen über ihren Verlauf. Ebenso verhielt es sich mit seiner Kulturund Technikkritik, die zeitgenössisch wohl weit verbreitet war, aber in den anderen Stellungnahmen nicht auftauchte. Es ist schwer zu sagen, wie Steins „Gedanken zur künftigen Verfassung“ im Vorbereitenden Ausschuß aufgenommen wurden. Unmittelbaren Niederschlag im Verfassungsentwurf fanden sie jedenfalls nicht. Auch wenn der Offenbacher Anwalt mit manchen seiner Vorschläge keineswegs allein stand, nahm der Verfassungsausschuß Abstand von einem spezifisch deutschen Weg und favorisierte am Ende eine demokratische Ordnung nach westlichem Vorbild. Die Aufnahme ständischer Elemente mit einem Zweikammersystem, wie es Stein als Ausdruck historisch bedingter Eigenart gern gesehen hätte, setzte sich nicht durch.177 Am 30. Juni 1946 fanden die Wahlen zur Verfassungsberatenden Landesversammlung statt, in der die SPD mit 42  Mandaten die größte, die CDU mit 36 Abgeordneten die zweitgrößte Fraktion stellte, während die KPD mit sieben, die Liberalen mit sechs Mandaten vertreten waren. Damit war der Kurs vorgegeben: Es mußte eine Einigung unter den gemäßigten Parteien erzielt werden, da keine von beiden allein über die nötige absolute Mehrheit verfügte. Vom 15. Juli bis zum 30. November 1946 rangen die Abgeordneten in der Landesversammlung erbittert um die zukünftige politische Ordnung des Landes. Erschwert wurden die Verhandlungen einmal mehr dadurch, daß die amerikanische Militärregierung die Beteiligten unter Zeitdruck setzte. Stein gehörte dem Verfassungsausschuß an und zählte bald zu denjenigen, die mit unerschütterlicher Ruhe die schwierige Konsensbildung vorantrieben. „In den Beratungen prallten die ideologischen Gegensätze scharf aufeinander. Vor allem in den Fragen der Gestaltung der Wirtschaft und Sozialordnung, des Verhältnisses von Staat und Kirche und des Erziehungswesens“, faßte Stein die erregten Diskussionen im Rückblick zusammen.178 Es kam zur Lagerbildung über Die hessische Verfassung 101

die Frage des Einkammer- oder Zweikammersystems, in der Christ­ demokraten und Liberale die Bildung von Landwirtschafts- und Kulturkammern forderten, Sozialdemokraten und Kommunisten dies jedoch vehement ablehnten. Nicht weniger heftig umkämpft war die Frage der Wirtschaftsordnung, für die das linke Spektrum die Planwirtschaft forderte, was für das bürgerliche Lager aber gar nicht in Frage kam. Ähnlich problematisch vollzogen sich die Beratungen auf den Gebieten Bildung sowie Staat und Kirche. Die Kompromißbereitschaft sank mit der Dauer der Verhandlungen bis fast auf den Nullpunkt, das Scheitern schien unmittelbar bevorzustehen. Es war das Verdienst der beiden Offenbacher Christdemokraten Karl Kanka und Erwin Stein, daß es am Ende anders kam. Um eine Einigung herbeizuführen, legte die CDU den Entwurf eines Staatsgrundgesetzes vor, das nur Bestimmungen über die Grundrechte der Freiheit und Gleichheit sowie über den Aufbau und die Funktion der Staatsorgane enthielt. Diese neue Sachlage führte zu unmittelbaren Verhandlungen zwischen der SPD und der CDU außerhalb der Plenarberatungen. Ihr Ergebnis war der sogenannte Verfassungskompromiß.179

Mit dem Vollradser Entwurf, wie der von Stein gemeinsam mit Kanka verfaßte Text nach dem Ort seiner Entstehung auf Gut Vollrads in die hessische Geschichte eingegangen ist, kam das Gespräch unter den beiden großen Parteien wieder in Gang und führte gerade noch rechtzeitig zur Fertigstellung eines Verfassungsentwurfs.180 Nach erfolgter Genehmigung durch die Militärregierung wurde er am 1. Dezember 1946 den hessischen Wählern zur Abstimmung vorgelegt. Gleichzeitig fanden an diesem Tag die ersten freien Wahlen zu einem hessischen Landtag statt. Sie führten im Ergebnis zu einer Koalitionsregierung aus SPD und CDU, wozu mit der Kompromißfindung in der Verfassungsfrage bereits eine gewisse Vorarbeit geleistet worden war.181 Die Bedeutung des Politikers Stein ist eng mit der Hessischen Verfassung verbunden: Mit seinem Einsatz bei den Beratungen und dem letztendlich erzielten Kompromiß wird er bis heute zu den hessischen Verfassungsvätern gezählt, auch wenn „die Geschichte über die in der 102  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Denkschrift entwickelten Idee von einer mit ständischen Elementen durchzogenen demokratischen Ordnung hinweggegangen ist“.182 Die Landesversammlung folgte in weiten Teilen den Vorstellungen des liberalen Staatsrechtlers Walter Jellinek, der schon bei den Weimarer Verfassungsberatungen eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. Steins Kompetenz in juristischen und verfassungsrechtlichen Fragen war dennoch sichtbar geworden, seine nimmermüde Verhandlungsbereitschaft galt als legendär. Er profilierte sich als Experte für den Aufbau eines demokratischen Bildungssystems, wenn er auch mit seinen persönlichen Vorstellungen gegen den vehementen Widerstand von links nicht durchdrang. Stein hat später gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Georg August Zinn den maßgeblichen Kommentar zum Verfassungstext geschrieben und im Verlauf der Jahre wiederholt die Gelegenheit ergriffen, sich öffentlich über das Werk, seine Auslegung und die Umstände seiner Entstehung zu äußern.183 Aus dem Offenbacher Kommunalpolitiker war in wenigen Monaten ein anerkannter Landespolitiker geworden, der sich mit seinem zielstrebigen Engagement auch für höhere Aufgaben empfahl. Kultusminister im Kabinett Stock

Im Juli 1946 erhielt Stein einen Brief aus New York von seiner vor Jahren dorthin ausgewanderten Schwägerin Rosalia Herz. Sie antwortete auf ein im Vormonat von ihm in die USA gesandtes Lebenszeichen, worin er sein Schicksal im Dritten Reich und vor allem die Todesumstände Hedwigs mitgeteilt hatte. „Ich war tief erschüttert, Deinen Bericht über die Jahre in Hitler’s Germany zu lesen. Man soll es nicht für möglich halten, daß Menschen soviel ertragen können und dann noch den Mut haben, ein neues Leben zu beginnen, wie Du es tust. Dazu noch für die Gemeinde!“ Die jüngste der vier Schwestern war als einzige aus der engeren Familie Herz übrig geblieben: Von Lilly hatte sie im Juni 1943 aus dem Konzentrationslager in Polen über das Rote Kreuz einen letzten Brief mit der Nachricht vom Tode Hedwigs erhalten, danach nie wieder von ihr gehört. Im selben Jahr war die Kultusminister im Kabinett Stock 103

älteste Schwester Selma in New York an Krebs verstorben. Mit großem Nachdruck erkundigte sich Rosalia nun nach den Lebensumständen ihres Schwagers in Deutschland, der, wie sie von Bekannten wußte, „sehr dünn“ sei und „nicht gut“ aussehe. „Kannst Du Dir nicht etwas Ruhe und Erholung gönnen?“ Rosalia kündigte Lebensmittelpakete an und lud ihn, sobald es die Umstände erlauben würden, zu sich in die USA ein. „Natürlich würde ich mich sehr, sehr freuen! Wenn es Dir gefällt, könntest Du evtl. einwandern späterhin!“, schlug sie vor, „Du hast ja schon genügend Bekannte hier zur Unterhaltung!“184 Doch so schön ein Neuanfang in den USA angesichts der Trümmerlandschaft in Deutschland vielleicht erscheinen mochte: Gerade jetzt, im Moment größter politischer Aktivität, lag Erwin Stein nichts ferner als der Gedanke an Auswanderung. Der Einsatz „für die Gemeinde“ tat dem Offenbacher Anwalt nach Jahren der politischen Ohnmacht gut. Die Arbeit im Stadtparlament wie die Verfassungsberatungen öffneten ihm neue Kreise, in denen er sich mit seiner besonnenen Art Respekt und Anerkennung erwarb. So schwer die allgemeinen Lebensbedingungen damals waren, nahm er sie angesichts der großen Aufgaben doch kaum wahr. Die Gegenwart war deprimierend, die Zukunft ungewiß, aber es war doch auch eine Zeit, in der die Chancen neu verteilt wurden. Stein war offen für Neues und voller Tatendrang. Das wirkte sich nicht nur auf den Beruf, sondern ebenso auf sein Privatleben aus. Irgendwann im Verlauf des Jahres 1946 traf er auf Lotte Lena Prigge.185 1908 als Lotte Lena Putscher in Ducherow nahe Anklam geboren, hatte es die frühere Wehrmachtsangestellte im Dezember 1945 von Prag nach Wiesbaden verschlagen. In Prag hatte sie im Jahr zuvor ihren Mann verloren, den Regierungsbaumeister Wilhelm Prigge. Drei Tage vor Kriegsbeginn war er zum Leiter des Heeresbauamts befördert und von Berlin nach Prag versetzt worden. Dort bezog das Ehepaar am Ziethenplatz eine moderne Wohnung und führte fast bis zum Kriegsende ein angenehmes Leben in den Kreisen der besseren Gesellschaft. Die Mediziner Armin Tschermak-Seysenegg und Gustav Adolf Kranz, die Professoren Swoboda, Knaus und Vollmer, aber auch der Rasseforscher und SS-Hauptsturmführer Lothar Stengel-von Rut104  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

kowski verkehrten mit den Prigges. Dann starb Wilhelm Prigge an einer Sepsis, und seine Witwe nahm ihr Leben selbst in die Hand. Der Versuch, nach der deutschen Kapitulation die tschechische Staatsangehörigkeit zu erwerben, scheiterte in naiver Verkennung der politischen Lage. Sie verlor im November 1945 ihre Prager Wohnung mit allem Hab und Gut und wurde aus der Tschechoslowakischen Republik ausgewiesen. Vom verwegenen Mut der Witwe zeugt, daß sie im Dezember 1945 noch einmal inkognito nach Prag fuhr, um einige Sachen aus ihrer alten Wohnung zu bergen.186 Es folgten ungewisse Monate. Lotte Lena Prigge zog erst für einige Wochen in die sowjetisch besetzte Zone zu ihren Eltern, dann, nachdem sie dort kein Auskommen gefunden hatte, nach Thüringen, um hier ihr Glück zu versuchen. Als auch dies sich als utopisch herausstellte, ließ sie sich in Wiesbaden nieder, wo sie gegen Ende des Jahres eine erste gute berufliche Chance erhielt. Am 2. Januar 1947 trat sie als Hauswirtschafterin der Staatskanzlei in den Dienst des Landes Hessen. Es handelte sich primär um Büroarbeit, die aber zugleich organisatorisches Geschick verlangte. Prigge war für den Wareneinkauf, den Küchenbetrieb und für die Betreuung der Gäste zuständig. Vermittelt hatte ihr diese Position kein Geringerer als der Chef der Staatskanzlei persönlich, Dr. Hermann Louis Brill. Mit ihm und seiner Frau war Lotte Lena in dem Jahr näher bekannt geworden; gemeinsam hatte man das Weihnachtsfest 1946 in Wiesbaden verbracht.187 Doch so froh sie im Moment über diese glückliche Fügung sein mochte, war Lotte Lena doch nicht der Typ Frau, dem viel daran gelegen war, sich weiter allein durchs Leben zu bringen. So hatte sie die Blicke beizeiten nach einer aussichtsreichen Verbindung schweifen lassen wie schon, „nach Willis Tod“, zum Stabsarzt Dr. Kranz im Prager Lazarett. Die Liason zerschlug sich, als Kranz in sowjetische Gefangenschaft geriet und sie lange nicht wußte, ob er überhaupt noch lebte.188 Die Begegnung mit Erwin Stein war der zweite Glücksfall in ihrem Leben nach dem Krieg. Beide überlegten nicht lang. Am 2. April 1947 fand die kirchliche Trauung in der Rumpenheimer Schloßkirche zu Offenbach durch Pfarrer Matthäus statt, bezeugt von Staatssekretär Dr. Brill und Finanzminister Werner Hilpert.189 Kultusminister im Kabinett Stock 105

Erwin und Lotte Stein Mitte der 1950er Jahre

Die so selbstbewußte wie lebenslustige Witwe gefiel Erwin Stein, ­vielleicht weil sie so ganz anders war als Hedwig. Denn unterschiedlicher hätten die beiden Frauen kaum sein können. Lotte Lena besaß ein lebhaftes Temperament, sie war gesellig, fröhlich und den Menschen zugewandt. An ihr war nichts Schwermütiges. Geistige Interessen besaß sie dagegen wenig, an Kunst und Literatur, an Ballett und Theater lag ihr, anders als Hedwig, nicht besonders viel. Aber für den sich bald nach dem Krieg schon wieder entfaltenden Glanz in den Schauspielhäusern der Republik war sie wohl empfänglich, sich in eleganter Abendtoilette zu zeigen, war ihr ein Bedürfnis. Schon bei den ersten Begegnungen mit Stein dürfte sie gespürt haben, daß es mit ihm gesellschaftlich noch einmal steil nach oben gehen konnte. Erwin Stein war ein Name, mit dem spätestens seit den Verfassungsberatungen auf dem Wiesbadener politischen Parkett gerechnet werden mußte.190 Doch es wäre eine arg verkürzte Charakterisierung seiner zweiten Frau, würde man sie nur als persönlich berechnend und an Äußerlichkeiten interessiert darstellen. Auch Lotte Lena Stein besaß ein Parteibuch der CDU und engagierte sich in der Union. Hier stärkte sie den 106  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Lotte Stein beim Staats­ besuch der Queen in ­Wiesbaden 1965

Frauenflügel, organisierte Zusammenkünfte und hielt Reden über „Die politische Verantwortung der Frau“. Sie beklagte die mangelnde Präsenz von Frauen in der Politik und den höheren Positionen des öffentlichen Dienstes, sah die Schuld daran aber in erster Linie beim weiblichen Geschlecht selbst. Frauen hielten sich von Politik fern und überließen das Geschäft lieber den Männern.191 In dieser Einschätzung traf sie sich mit ihrem Mann, der von Anfang an sehr energisch für Frauenrechte eintrat und sich immer wieder für die Besetzung von Spitzenpositionen mit Frauen einsetzte.192 Lotte Lena war am Ende also doch mehr als nur „die Frau an seiner Seite“: Sie stand selbstbewußt für ihre politischen Überzeugungen ein und wurde offenbar so wahrgenommen. Von ihrer Selbständigkeit zeugt, daß sie manche Kultusminister im Kabinett Stock 107

große Unternehmung auch ohne Erwin Stein unternahm. So brach sie 1965, mitten im „Kalten Krieg“, zu einer Studienfahrt in die Sowjet­ union auf und verfaßte darüber einen mehrteiligen, ausgesprochen lesenswerten Zeitungsartikel in der Baden-Badener Sonntagspost.193 In den ersten Jahren bewohnte das Ehepaar noch eine Etagenwohnung in der Offenbacher Kaiserstraße, in der auch Rechtsanwaltskanzlei und Notariat lagen. Durch den Bombenkrieg nur noch im Besitz weniger Möbel, stellte der hessische Staat leihweise Ersatz aus dem Fundus der Bad Homburger Schloßverwaltung zur Verfügung: einen Schreibsekretär aus Kirschbaum mit kleiner Galerie, Tisch und Spiegel aus Mahagoni, einen Tisch aus der Zeit des Rokoko in Nußbaum sowie diverse weitere Stücke.194 Die kultivierte, schon mit Hedwig gepflegte bürgerliche Lebensart kennzeichnete auch das Zusammenleben in der zweiten Ehe. 1950 erwarb das Paar ein Einfamilienhaus in der Offenbacher Blumenstraße. In einer ruhigen Seitenstraße gelegen, bot es mit Garten und Kellerräumen alles, was in der Not der ersten Nachkriegsjahre nützlich war. Das Haus wurde allerdings außer von dem Vorbesitzer noch von zwei weiteren Parteien bewohnt. Für sie mußte Ersatz gefunden werden, was angesichts der immer noch drängenden Wohnungsnot schwierig war. Es gelang, aber die Sache zog einen ernsten Konflikt mit Karl Kanka und der Offenbacher CDU nach sich. Kanka war Aufsichtsratsmitglied der Kleinwohnungsbaugenossenschaft Odenwaldring und hatte auf einer Sitzung erfahren, daß den Mietparteien aus der Blumenstraße Wohnungen der Genossenschaft am Lämmerspielerweg zugewiesen worden waren, „damit das Haus, das Sie inzwischen käuflich erworben haben, für Sie frei werde“. Kanka fand das nicht in Ordnung. Zwar gestand er zu, daß eine Ministerwohnung schon einen gewissen Zuschnitt haben dürfe und neben einem Arbeitszimmer eine „gute Stube“ zu bewohnen, noch kein besonderer Luxus sei. „Dennoch glaube ich nicht, daß ein Mitbürger für sich und seine Frau und seine Schwiegermutter nur deshalb, weil er Minister ist, ein Haus mit acht Räumen nebst Bad und sonstigen Nebengelassen erhalten soll.“ Darüber hinaus wollte Kanka gehört haben, daß die Stadt Offenbach knapp 7000 DM an Stein dafür 108  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

gezahlt habe, daß er die Adresse Kaiserstraße Nr. 115 aufgebe und der neu gewählte Bürgermeister dort die ihm zustehende Dienstwohnung beziehen könne. Einige zurückgelassene Einrichtungsgegenstände und die bereits vor der Währungsreform unternommenen Schönheitsreparaturen stünden in keinem Verhältnis zu dieser angeblich von der Stadt gezahlten hohen Summe. „Gerade ein Minister sollte in einer solchen Angelegenheit besonders genau vorgehen“, mahnte Kanka mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen. Er bat den Kollegen in freundlichen, aber unmißverständlichen Worten, die Angelegenheit „im Interesse der Partei und der Sache, der wir beide dienen wollen“ baldmöglichst zu klären.195 Es war auch damals schon eine an Gerüchten reiche Zeit, die nur zu gern vom politischen Gegner aufgenommen und skandalisiert wurden. Den Menschen waren die „Parteibonzen“ des Dritten Reichs ja noch lebhaft in Erinnerung, so daß es in der Tat nicht viel bedurft hätte, um eine kleine Geschichte wie diese zur Sensationsstory aufzublasen. Tatsächlich hatte sich Stein formal nichts zu Schulden kommen lassen. Der Hauskauf war in jeder Hinsicht korrekt abgewickelt worden, Geld für die Aufgabe der Kaiserstraße Nr. 115 nicht geflossen. Es lagen alle notwendigen amtlichen Bescheinigungen vor, um das durch den Auszug der Mietparteien frei gewordene Haus in der Blumenstraße in Besitz nehmen zu können. Nur der Luxus, mit drei Personen ein ganzes, wenn auch nicht übermäßig großes Haus zu bewohnen, hätte ein übelwollender Gegner leicht in der Öffentlichkeit gegen ihn verwenden können. Davor warnte Kanka und mit ihm der CDUOrtsverein Offenbach. Doch das Verhältnis zwischen den Parteifreunden wie zur Parteibasis war da schon länger nicht mehr das beste, wofür Stein „das Verhalten [des Herrn] Dr. Kanka seit nahezu zwei Jahren mir gegenüber“ verantwortlich machte. Nun brachte dessen Intervention in Sachen Blumenstraße das Faß zum Überlaufen. Stein fühlte sich unberechtigt angegriffen und kehrte seinem Ortsverein erst einmal verstimmt den Rücken.196 Die Zeit als Kultusminister ging nicht spurlos an Erwin Stein vorüber. Bildungspolitik war ein hart umkämpftes Feld mit dem Kultusminister in vorderster Linie, was den besonnenen, auf Ausgleich Kultusminister im Kabinett Stock 109

Haus „Blumenstraße 8“ in Offenbach

bedachten Anwalt auf die Dauer dünnhäutig machte. „Wem Gott ein Amt gegeben, […]“ hatte schon Siegfried Guggenheim im Frühjahr 1947 die Nachricht von der Ernennung Steins in einem Brief an Kanka vielsagend kommentiert. Der emigrierte Offenbacher Anwaltskollege schätzte Stein als einen „waschechte[n] Demokrat[en]“ mit „anständiger Gesinnung, das ist viel wert“, befürchtete aber, daß er mit seiner idealistischen Grundhaltung dem politischen Alltagsgeschäft nicht gewachsen sein werde. Ein gewöhnlicher Parteipolitiker hätte in der Wohnungsangelegenheit vielleicht das persönliche Gespräch gesucht und die Sache damit aus der Welt geschafft. Diese Souveränität fehlte Stein, der sich 1945 in die Politik gestürzt hatte und die ihm gestellten Aufgaben auch mit großem Pflichtbewußtsein erledigte. Nur vernachlässigte er darüber mehr als gut war den Kontakt zu den Offenbacher Parteifreunden, die ihn gern einmal bei einer Veranstaltung des Ortsvereins gesehen, das ein oder andere kommunale Pro110  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

blem mit ihm besprochen hätten. Entsprechend beklagten sich die Vorstandsmitglieder der CDU-Ortsgruppe über die Basisferne „ihres“ Ministers. Der empfand die Wünsche der alten Parteifreunde als Zumutung und ließ sie das wissen. Das gute zwischenmenschliche Verhältnis kühlte sich spürbar ab.197 Aus den Landtagswahlen am 1. Dezember 1946 war die SPD mit 42,7 % als klare Siegerin hervorgegangen, die darum auch den Ministerpräsidenten stellte und die Regierungsbildung vornahm. Mit Christian Stock trat ein altgedienter Parteimann an die Regierungsspitze, der sich von der Basis hochgearbeitet hatte und als „Landeskind“ auch über die nötige Verbindung zur Bevölkerung verfügte. Außer ihm waren im Vorfeld noch der Darmstädter Regierungspräsident Ludwig Bergsträsser und der ehrgeizige Chef der Staatskanzlei, Hermann Louis Brill, erwogen worden; beide scheiterten am mangelnden Rückhalt in der Partei. Die Koalitionsverhandlungen mit der zweitstärksten Kraft CDU im Land fanden über den Jahreswechsel hinweg statt und waren Anfang Januar 1947 beendet. Beide Parteien erhielten je vier Ministerien: Wirtschaft, Inneres, Justiz und das Befreiungsministerium gingen an die Sozialdemokraten, Finanzen, Arbeit, Landwirtschaft und Kultus fielen den Christdemokraten zu.198 Es ist darüber spekuliert worden, warum Erwin Stein als Nachfolger von Franz Schramm das Kultusministerium bekam. Daß ein Jurist ohne einschlägige Erfahrung in der Schul- und Wissenschaftspolitik, ohne Erfahrung auch in der Ministerialbürokratie und dazu als politischer Neuling in dieses keineswegs unwichtige Amt einrückte, verstand sich nicht von selbst. Gewiß war diese Ernennung auch ein Ausdruck der Sonderbedingungen, wie sie keine zwei Jahre nach der Kapitulation in dem militärisch besetzten Land noch immer herrschten und bisweilen Unwahrscheinliches möglich machten. Vermutet wird auch, daß das protestantische Bekenntnis den Ausschlag gegeben habe, weil es der CDU um konfessionelle Ausgewogenheit gegangen sei und man dem Verdacht habe entgegentreten wollen, die Partei sei eine bloße Neuauflage des alten politischen Katholizismus. Schließlich war Hessen ein religiös gespaltenes Land, in dem beide Konfessionen eifersüchtig über die Wahrung ihres Einflusses gerade im schulischen Kultusminister im Kabinett Stock 111

Kultusminister Stein auf einem Betriebsfest im Stahlwerk Buderus

Bereich wachten.199 Stein, der in den komplizierten Verfassungsverhandlungen mit zähem Verhandlungsgeschick reüssiert hatte, war vor diesem Hintergrund gewiß keine schlechte, aber auch keine direkt auf der Hand liegende Wahl. Mehr als pragmatische Rücksichten seitens der Partei dürfte es am Ende der Offenbacher Anwalt selbst gewesen sein, der sich bei seinen Parteifreunden für dieses Amt ins Gespräch brachte. Er hatte sich viel mit dem gesellschaftlichen Neuanfang beschäftigt und in seinen Vorstellungen der Jugend eine entscheidende Rolle zuerkannt. An eine erfolgreiche „Umerziehung“ der Erwachsenen zur Demokratie glaubte er weniger, es mußte die Jugend gewonnen, im christlich-humanistischen Geist erzogen und gebildet werden. Von allen Ressorts war darum das Kultusministerium dasjenige, an dem Erwin Stein ein direktes persönliches Interesse äußerte. Daß die CDU in den Koalitions­ 112  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

verhandlung den Erhalt des Kultusministeriums zur Bedingung machte, dürfte auf seinen Einfluß zurückgegangen sein. Die Sozial­ demokraten brauchten am Ende auch nicht lange um die Herausgabe dieses Ressorts gebeten werden, das erfahrungsgemäß viel Arbeit bei nur geringer öffentlicher Anerkennung mit sich brachte. Am 7. Januar 1947 wurde Erwin Stein zum Kultusminister im Kabinett der ersten demokratisch gewählten Nachkriegsregierung Hessens ernannt. Der Protest von vier Schulleitern gegen seine Ernennung verhallte ungehört.200 Schulreform

„Als ich mein Amt antrat, fand ich kein Ministerium vor, sondern lediglich Referenten, die ihre eigene Politik machten. Eine leitende Hand war nicht zu spüren“, resümierte Stein den Anfang seiner Minister­zeit rückblickend aus dem Jahr 1950.201 Die ersten beiden Jahre nach 1945 waren auch schon für seine Vorgänger Böhm und Schramm eine schwierige Zeit gewesen. Allein das Unterkommen der Behörde in der durch einen britischen Luftangriff Anfang Februar 1945 schwer zerstörten Stadt hatte sich als problematisch erwiesen. Was einigermaßen intakt war an Gebäuden, nahm die Militärregierung in Beschlag, so daß im Oktober 1945, als mit dem Aufbau des Ministeriums für Kultus und Unterricht begonnen wurde, nur eine große Altbauwohnung am Gutenbergplatz zur Verfügung stand. Diese Notunterkunft platzte schon bald aus allen Nähten. Weitere Wohngebäude kamen hinzu, in der Bierstadterstraße Nr. 7, in der Humboldtstraße Nr. 5 und in der Gustav-Freytag-Straße Nr. 4. Auf vier Adressen in der Stadt verteilt, litt die Kommunikation unter den Referenten der anfangs vier, später fünf Ministeriumsabteilungen beträchtlich. Einmischungen der amerikanischen Militärregierung in die Kultuspolitik brachten zusätzlich Unruhe in den gerade wieder anlaufenden Behördengang. All dies förderte nicht die Verbundenheit unter den Mitarbeitern und erschwerte eine zielgerichtete Führung. Erst im Oktober 1949 sollte das drängende Raumproblem ein Ende haben, als das Schulreform 113

Ministerium ein eigenes Dienstgebäude in der Luisenstraße Nr. 10 bezog. Der neue Ministeriumssitz umfaßte neunzig Büro- und Diensträume für 120 Beamte, fünfzig Angestellte und acht Arbeiter. Es war, am Mitarbeiterstab gemessen, kein übergroßes, aber auch kein kleines Ressort, dessen Führung Erwin Stein Anfang 1947 übernahm.202 Der Offenbacher Rechtsanwalt ging mit Energie und eigenem Kopf an die Aufgabe, wohl ohne „fertiges Programm“, aber mit einem „fertige[n] Weltbild“.203 Seine ersten Maßnahmen zielten auf die „Zusammenfassung und Ausrichtung der Kräfte nach einem klaren Ziel“, worunter er sowohl die praktische Zusammenarbeit im Ministerium wie die inhaltliche Ausrichtung der Kultuspolitik verstand. Für beides waren engagierte, loyale Mitarbeiter eine Voraussetzung. Den wichtigsten Posten nach dem Minister nahm der ehemalige Studienrat Willy Viehweg ein. 1888 in Leipzig geboren, hatte der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Sozialdemokrat nach Studium und Kriegsdienst eine Stelle am Realgymnasium in Weimar angenommen, aus der er 1933 aufgrund des „Berufsbeamtengesetzes“ entlassen wurde. Es folgten einige Monate Haft im Konzentrationslager Buchenwald, danach ein äußerlich unauffälliges Berufsleben im kaufmännischen Bereich. Obwohl von den Nationalsozialisten argwöhnisch überwacht, hielt Viehweg weiter Kontakt zu seinen politischen Freunden, zu denen auch Hermann Louis Brill zählte. Als Brill nach der Kapitulation wieder politisch tätig und zum thüringischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, griff er auf Viehweg „als erste[n] politische[n] Sekretär in Thüringen“ zurück. Die Zusammenarbeit war kaum zustande gekommen, als die Amerikaner im Sommer 1945 Thüringen den Russen überließen. Brill und Viehweg verließen die Zone und suchten im Westen Deutschlands nach neuen Perspektiven. Als Chef der Hessischen Staatskanzlei der eine, als Ministerialdirektor im Kultusministerium der andere, wirkten schließlich beide einflußreich am Aufbau des neuen hessischen Staates mit.204 Viehweg war ein Mann der ersten Stunde im hessischen Kultusministerium und hatte, bis Erwin Stein auf den Plan trat, bereits unter dessen glücklosen Vorgängern gedient. Spannungen zwischen Viehweg und den beiden bürgerlichen Ministern waren nicht ausgeblieben, 114  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

wofür vor allem unterschiedliche Auffassungen über die Aufgabe der Schule im demokratischen Staat ausschlaggebend gewesen sein dürften. Dem Sozialdemokraten war an einer durchgreifenden Reform des Schulsystems gelegen, in dem nicht länger Herkunft und Besitz über die Schulbiographie eines Kindes bestimmen sollten, sondern allein die Begabung. Er trat für gleiche Bildungschancen ein, während Böhm und Schramm vor allem anderen den hergebrachten, in ihren Augen auch bewährten, dreigliedrigen Schulaufbau bewahren wollten. In vielem stand Ministerialdirektor Viehweg der amerikanischen Militärregierung also näher als seinen vorgesetzten Ministern. Tatsächlich schätzten die Amerikaner ihn als „idealist, thoroughly able“, der mit den Problemen der deutschen Jugend tief vertraut sei und den amerikanischen Erneuerungsbestrebungen aufgeschlossen gegenüberstehe. Darüber hinaus genoß er die Anerkennung und das Vertrauen aller seiner Kollegen im Amt. Rastlos für die Reform des Bildungswesens tätig, fürchteten die Amerikaner sogar um seine Gesundheit. „He is deserving of every bit of support the occupation can give“, hieß es im Statement eines amerikanischen Bildungsoffiziers.205 Dergleichen Wertschätzung besaßen die Minister Böhm und Schramm nicht bei den Amerikanern, was ihnen wiederum Viehweg fast schon verdächtig machte. Der Sozialdemokrat wußte um seine Fähigkeiten und sah dem neuen Mann an der Spitze des Ministeriums mit skeptischer Gelassenheit entgegen.206 Im Unterschied zu seinen Vorgängern besaß Erwin Stein den Vorteil, als Minister einer demokratisch gewählten Regierung den Amerikanern legitimiert und mit höherer Autorität gegenüberzutreten. Die Kultusminister vor ihm hatten noch in größere Abhängigkeit zur amerikanischen Militärregierung gestanden, die mit klaren politischen Zielen und tiefgreifenden Reformvorstellungen ins Land gekommen waren. Ihre Reeducation-Politik zielte auf die radikale Beseitigung nationalsozialistischer Gesinnung und undemokratischer Haltung. Auf Widerspruch seitens der Deutschen reagierten sie empfindlich und unduldsam. So wurde 1945 die Entlassung von rund der Hälfte aller Lehrer in Hessen verfügt, die Parteimitglieder gewesen waren oder sich auf andere Weise für den Nationalsozialismus exponiert hatSchulreform 115

ten. Auch an den Hochschulen und Universitäten der amerikanischen Zone wurde zunächst mit eisernem Besen gekehrt. Daher mangelte es allerorten an Lehrpersonal, als im Herbst 1945 Schulen und Hochschulen ihre Pforten wieder öffneten.207 Doch mit der Entlassung politisch belasteter Personen allein war das Ziel umfassender Demokratisierung noch lange nicht erreicht, es mußte die vermeintlich tief verwurzelte obrigkeitshörige Mentalität der Deutschen gründlich ausgerodet werden. Über die mentale Befindlichkeit im Land hatte sich eine neunköpfige Kommission amerikanischer Bildungsexperten im Auftrag von US-Präsident Truman einen persönlichen Eindruck verschafft und im Sommer 1946 eine mehrwöchige Expedition zur genauen Erkundung des Bildungswesens im Besatzungsgebiet unternommen. Mit Erich Hylla und Franz ­Hilker hatten auch zwei namhafte deutsche Pädagogen an der Reise teilgenommen. Der Präsident des American Council of Education, George Frederick Zook, führte die Delegation an, unter dessen Namen am Ende auch das Ergebnis vorgelegt wurde. Der Zook-Report bemängelte den elitären Charakter des deutschen Schulwesens, weil es die Besitzenden privilegiere und die Klassengesellschaft festige. Als Lösung schlug die Kommission seine Umgestaltung nach dem Vorbild des amerikanischen Gesamtschulsystems vor mit zwei aufeinanderfolgenden Schulstufen, einer sechsjährigen Grundschule und einer daran anschließenden eingliedrigen, wiederum sechsjährigen Sekundarstufe. Die Privilegierung des Gymnasiallehrers sollte fallen und künftig auch der Kollege an der Volksschule ein Universitätsstudium absolvieren. Darüber hinaus riet die Kommission zu umfassenden Änderungen bei den Unterrichtsinhalten. Vor allem in Fächern wie Geschichte, Staats- und Heimatkunde sei auf die gezielte Einübung demokratischer Werte zu achten. Auch sollte das autoritäre Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern mit der Einrichtung von Schülervertretungen aufgebrochen werden. Schließlich gehörte Lernmittel- und Unterrichtsgeldfreiheit zum Forderungskatalog. Unterm Strich sahen die Vorschläge der Zook-Kommission also nicht weniger als eine Radikalkur für das deutsche Bildungswesen vor. Allein die schwierige Finanzlage setzte den weitreichenden Plänen 116  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

dann doch enge Grenzen. Den Bildungsoffizieren der amerikanischen Militärregierung dienten Zooks Empfehlungen aber gleichwohl als Kompaß auf dem Weg in eine neue Schulrealität. Abweichungen waren nicht vorgesehen, Spannungen mit den deutschen Bildungs­ experten dadurch vorprogrammiert.208 Den Ratschlägen des Zook-Reports folgend, wies der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay im Januar 1947 die Militär­ regierungen Hessens, Bayerns, Württembergs und Bremens an, ihm bis zum April des Jahres konkrete Grundsätze zur künftigen Erziehungspolitik und bis zum Sommer auch langfristige Pläne zur Umgestaltung des deutschen Erziehungswesens zu unterbreiten. Steins Amtsantritt in Wiesbaden fiel also mit einer offiziell angeordneten Bildungsoffensive der Amerikaner zusammen, für deren Umsetzung in Hessen zuerst Vaughn R. Delong, ein so selbstbewußter wie durchsetzungsfähiger Schuldirektor aus Pennsylvania, verantwortlich war. Er leitete die Bildungsabteilung innerhalb der Militärregierung (Education and Religious Affairs Division, kurz: Education Branch), die aus 21 mehr oder weniger intensiv mit pädagogischen Fragen befaßten Männern bestand, von denen mancher, wie der Nachfolger Delongs, Harry A. Wann, weder Deutsch sprach noch über deutsche Geschichte und Kultur besonders informiert war. Aber das fiel angesichts der Größe der Aufgabe nicht weiter ins Gewicht. Für die Amerikaner war das „alte deutsche Schulsystem“ die Ursache allen Übels, das es mit allen Mitteln zu beseitigen galt. Die Erziehungsabteilung beschäftigte auch eine beträchtliche Zahl an deutschen Mitarbeitern. Deren Bildungsstand war hoch, etliche waren promoviert und kamen entweder aus dem schulischen oder dem universitären Bereich. Darin und in der kontinuierlich steigenden Mitarbeiterzahl unterschied sich diese Abteilung signifikant von anderen in der Militärregierung.209 In der Phase forcierter Reeducation-Politik trat den Amerikanern mit Erwin Stein zwar kein auf dem Gebiet der Bildungspolitik erfahrener Mann entgegen, aber doch jemand mit festen politischen Überzeugungen, dem die Erziehung der deutschen Jugend zum „democratic way of life“ ein Anliegen war. Stein wurde mit Amtsantritt auf verschiedenen Ebenen unermüdlich tätig. Schon im Februar 1947 rief Schulreform 117

er eine Arbeitsgemeinschaft „Die neue Schule“, bestehend aus Volksschul- und Gymnasiallehrern sowie interessierten Eltern ins Leben. Die Reform des Schulwesens sollte nicht einfach von oben diktiert, sondern mit allen Beteiligten gemeinsam erarbeitet werden. Der Kultusminister legte in Zeitungsartikeln ein öffentliches Bekenntnis zur „sozialen Schule“ ab und versprach die Förderung jedes Schülers nach dessen Begabung. In diesen Punkten trafen sich also die Interessen des neuen Kultusministers mit den Vorstellungen der amerikanischen Bildungsoffiziere. Nur über den einzuschlagenden Weg herrschte Uneinigkeit. Auf einer gemeinsamen Sitzung im Februar 1947 fand ein erster Austausch der bildungspolitischen Vorstellungen zwischen dem neuen Minister und der amerikanischen Education Branch statt. Die „deutsche Schule ist eine undemokratische der Gruppen und Klassen“, hielt das Protokoll die Kritik Vaughn Delongs fest, der kurzerhand die Übernahme der undifferenzierten Einheitsschule nach amerikanischem Modell vorschlug. Stein hielt mit selbstbewußter Bestimmtheit dagegen, daß die Schule doch besser den Gegebenheiten folgen solle, Brüche im System also tunlichst zu vermeiden seien. Man möge doch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern besser das bereits vorhandene und vielfach bewährte Schulsystem durch Reformen in den Lehrplänen wie durch eine erhöhte Durchlässigkeit zwischen den Schulformen demokratisieren. Für Stein schien es unerheblich, ob die Grundschulzeit auf vier oder sechs Jahre festgelegt werde, denn entscheidend sei die Flexibilität innerhalb des Systems, das dem spät entwickelten Kind auch in fortgeschrittener Schulzeit Übergangsmöglichkeiten eröffne. Der Kultusminister hielt damit am Prinzip der „Auslese“ fest, wonach die intellektuelle Begabung wesentlich über die Schulbiographie eines Kindes entscheiden sollte. Elementare Voraussetzung für mehr Bildungsgerechtigkeit sei dagegen die vollkommene Schulgeld- und Lernmittelfreiheit, hierfür gelte es die nötigen Ressourcen zu mobilisieren. Für die Praxis stand Stein die demokratische „Arbeitsschule“ vor Augen, wie sie von Schulreformern der Weimarer Jahre wie Georg Kerschensteiner, Hans Richert oder Adolf Reichwein entwickelt wor118  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

den war. Ihr Programm sah die aktive Einbindung der Schüler in den Unterrichtsablauf vor, die nicht länger dem Frontalunterricht der Lehrer ausgesetzt sein, sondern sich selbsttätig in den Unterricht einbringen sollten. Schularbeit in diesem Sinne würde manuelle wie geistige Prozesse umfassen, die Schüler zur kontinuierlichen Selbstprüfung anhalten und ihnen eine immer mehr ausreifende sachliche Einstellung vermitteln. Hierin sah Stein die Gewähr, daß die soziale Zerklüftung der Gesellschaft allmählich überwunden und sich eine demokratische Haltung einstellen werde. Die schlichte Übernahme des amerikanischen Systems hielt er dagegen für unorganisch und warnte, daß dies weder Lehrer noch Eltern akzeptieren würden.210 Das gemeinsame Gespräch im Februar 1947 klärte die Standpunkte, führte aber zu keinem Beschluß. Gewiß hätten die Besatzungsoffiziere die Macht gehabt, ihre schulpolitischen Vorstellungen einfach zu dekretieren, aber dies hätte im argen Widerspruch zu dem gestanden, was man die Deutschen lehren wollte: demokratische Umgangsformen. Überdies ließ sich Stein von den Besatzungsoffizieren nicht einschüchtern, sondern berief sich selbstbewußt auf seine Legitimation als Minister einer vom Volk demokratisch gewählten Regierung. So ließen sie Hessens Kultusminister erst einmal gewähren. Stein spannte alle Kräfte seines Ministeriums an und legte im September 1947 „Pläne zur Erneuerung des Schulwesens in Hessen“ mit der sechsjährigen differenzierten Grundschulzeit im Kern vor. An allen fünften Klassen sollte Fremdsprachenunterricht, in der Regel Englisch und nur an wenigen städtischen Schulen parallel dazu Latein erteilt werden. Aus diesen Plänen entstand 1948 der Gesetzentwurf für den Schulaufbau in Hessen.211 Stein hielt zahllose Reden vor Eltern, Pädagogen und der interessierten Öffentlichkeit, in denen er für die „neue Schule“, wie er sie sich dachte, warb. In diesen Monaten leitete Harry A. Wann die Erziehungsabteilung in der amerikanischen Militärregierung, der weniger dogmatisch dachte als Delong und von Steins ehrlichem Engagement überzeugt war. Wiederholt lobte er Kompetenz und Eifer des Ministers wie seiner Mitarbeiter.212 Als Wann im Sommer 1948 wiederum von Delong abgelöst wurde, war die Zeit wohlwollender ZurückhalSchulreform 119

Kultusminister Stein in einer Besprechung

tung auf Seiten der Education Branch allerdings vorbei. Am 9. August befahl Delong in einem Brief an den hessischen Ministerpräsidenten die sofortige Einführung der sechsjährigen Grundschule in Hessen. Diese habe unmittelbar mit Beginn des Schuljahrs im Herbst zu erfolgen. Der Schuldirektor aus Pennsylvania setzte damit dem hessischen Kultusminister die Pistole auf die Brust, nachdem er den Eindruck gewonnen hatte, Stein wolle mit hinhaltendem Widerstand in Sachen Schulreform nur Zeit gewinnen, aber am überkommenen Schulaufbau nicht wirklich etwas ändern. Der Versuch des Ministers, Delong im persönlichen Gespräch zum Einlenken zu bewegen, scheiterte. Es geht eine Trennlinie mitten durch die SPD und auch die CDU; eine Reihe von Mitgliedern ist für die vier Grundschuljahre, eine Reihe für sechs Grundschuljahre. Die LDP ist wahrscheinlich überhaupt nur für vier Grundschuljahre und die KPD für 8[,]

erklärte Stein die bestehenden Schwierigkeiten. Es werde „furchtbare Diskussionen“ in der Bevölkerung geben, in denen sich dann auch 120  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

nicht verheimlichen lassen werde, daß die Amerikaner die Verlängerung der Grundschulzeit befohlen haben. „Kann, soll oder darf ich nun der Öffentlichkeit berichten, daß ein Befehl vorliegt?“, erhöhte er listig den Druck auf Delong, dem es daraufhin unwohl wurde. „Das liegt bei Ihnen“, kam die ausweichende Antwort, „von uns wird eine Veröffentlichung nicht erfolgen. Das ist nicht in unserem Interesse. Wir werden Ihnen freie Hand lassen.“ Es war den Amerikanern viel an einer tiefgreifenden Schulreform gelegen, die Verantwortung dafür sollte aber in der öffentlichen Wahrnehmung beim hessischen Kultusminister liegen. Nur für den Fall ernsten Widerstands sagte Delong amerikanische Unterstützung zu. „Die Philologen werden nie auf Seiten der Schulreform sein. Und einmal muß angefangen werden.“213 Somit war es eine heikle Mission, die Stein und seine Referenten Ende November 1948 in größerer Runde mit den Amerikanern zu übernehmen hatten. „Ich bekenne mich zu dem Gedanken der neuen Erziehung und zur differenzierten sechsjährigen Grundschule. Es ist unzweifelhaft notwendig, das Bildungsniveau des ganzen Volkes zu erhöhen“, eröffnete Stein das Gespräch. Er habe seine Reformpläne gut vorbereitet und sie allen Lehrern sowie der Öffentlichkeit gedruckt vorgelegt. Zweifel an seiner grundsätzlichen Reformbereitschaft könnten somit nicht bestehen. Danach ging der Kultusminister mit deutlichen Worten zum Angriff auf die amerikanische Position über: Dies ist für uns der gesetzliche Weg, eine Schulreform vorzubereiten. Ein anderer Weg wird vorgezeichnet in dem Brief der Militärregierung. Wird dieser Weg gegangen, so hätten wir eine amerikanische und nicht eine deutsche Schulreform. Eine Schulreform auf Befehl wird im Volk von vornherein keinen Widerhall finden. […] Die Stimmung in der Bevölkerung ist sehr schlecht. Warum ergeht ein Befehl in Hessen, nicht aber in Bayern und in Württemberg? Die Militärregierung ist zwar formal im Recht, weil Deutschland bedingungslos kapituliert hat. Auf der anderen Seite aber stehen die Bestimmungen der Haager Konvention und des internationalen Rechts. Die Befehle der Militärregierung ersticken die Keime des beginnenden demokratischen Lebens. […] Lassen Sie uns Schulreform machen auf unseren gesetzlichen Wegen. Schulreform 121

Gegen diesen Appell war wenig einzuwenden, nur konnte sich Delong schon allein aus Gründen des Gesichtsverlusts nicht so leicht geschlagen geben. Die Militärregierung, meinte er, erteile Befehle nur zur Beseitigung „destruktiver Einrichtungen“ wie Munitionsfabriken. „Das alte deutsche Schulsystem aber ist ebenso gefährlich wie Kriegsfabriken.“ Darum halte er an dem Befehl fest und verlange die kompromißlose Umsetzung der Reform: Einführung der sechsjährigen Grundschulzeit für alle Kinder ab Ostern 1949. Von der früheren Forderung nach der kompletten Übernahme des amerikanischen High School Systems war allerdings schon nicht mehr die Rede. In einem entscheidenden Punkt hatten die Amerikaner ihre bildungspolitischen Pläne bereits aufgegeben.214 Die Frage, ob eine vier- oder eine sechsjährige Grundschulzeit besser für den schulischen Erfolg eines Kindes sei, war auch zu früheren Zeiten ein Thema gewesen und zuletzt von den Schulreformern im Dritten Reich diskutiert worden. In den deutschen Ländern bestanden unterschiedliche Auffassungen darüber. Während man in Preußen und Sachsen 1933 vier Grundschuljahre für ausreichend hielt, plädierte Hamburg für sechs, weil dies der kindlichen Entwicklung besser Rechnung trage. Daß es dann doch bis 1945 flächendeckend bei vier Jahren Grundschule blieb, lag zum einen an den zu erwartenden höheren Kosten für Staat und Gemeinden, zum anderen an dem Mitte der dreißiger Jahre aufkommenden Wunsch nach einer generellen Verkürzung der Schulzeit von dreizehn auf zwölf Jahre bis zum Abitur.215 Stein hatte sich sehr genau mit dieser Frage befaßt und die Debatten, wie sie beispielsweise auf der Reichsschulkonferenz 1920 geführt worden waren, eingehend studiert. Auch über die Schulreform der dreißiger Jahre hatten ihn seine Referenten ins Bild gesetzt. Nach reiflicher Überlegung kam der Kultusminister zu dem Schluß, daß die sechsjährige Grundschule dem Ziel größerer Bildungsgerechtigkeit bei gleichzeitiger Berücksichtigung der kindlichen Bildsamkeit am nächsten komme. Daher sah sein Konzept der „differenzierten Einheitsschule“ die sechsjährige Grundschule vor, ohne freilich darüber das herkömmliche dreistufige Schulsystem über den Haufen zu werfen. Mit der Angleichung der Lehrpläne für das fünfte und sechste Schul122  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

jahr in allen Schulen sollte die Durchlässigkeit zwischen den Schultypen erhöht werden. Schon die Demokraten der 1848er-Revolution hätten eine längere Grundschulzeit gefordert. Hundert Jahre später sei der Zeitpunkt zur Einführung gekommen. Energische Unterstützung erhielt Stein durch leitende Beamte wie den Ministerialdirektor Viehweg. Er sei schon immer für sechs Jahre Grundschule gewesen, die aber nicht überall sofort einzuführen sei, am ehesten noch in den Städten, aber keinesfalls auf dem Land. Was den Widerstand in der Lehrerschaft anlangt, so wollte Viehweg nicht einfach alle über einen Kamm scheren. „Von den Studienräten gibt es viele, die der Schulreform nicht wohl gesonnen sind, aber es gibt auch eine Menge Ausnahmen. […] Das Volk wird den Entwurf des Ministers bejahen“, so seine optimistische Voraussage.216 Ihm sekundierte der Vertreter des Landesschulbeirats, Wilhelm Haupt. Der Studienrat lobte das bisherige schulpolitische Engagement der Amerikaner, zeigte sich aber über den Befehl vom 8. August „betroffen“. Er bat, nichts zu überstürzen bei der Reform, „[w]ir haben eine deutsche Reform geplant und möchten sie nun so ungestört wie möglich ausführen“. Die Amerikaner lobten die Offenheit der dargelegten Standpunkte, nur geschlagen geben wollten sie sich nicht. Eisern hielten sie an ihrer Maxime fest, die Grundschule müsse allen Schülern gleiche Möglichkeiten bieten. Sie stießen sich zuletzt am Lateinunterricht, der in Steins Konzept einer „differenzierten Einheitsschule“, in den Grundschulklassen einiger, also nicht einmal aller Schulen parallel zum Englischunterricht zulassen wollte.217 Am Ende sollte in Hessens Schulaufbau alles beim Alten bleiben. Weder Steins „differenzierte Einheitsschule“, noch Delongs Forderung nach sechs Jahren „undifferenzierter“ Grundschulzeit wurden realisiert. Das lag an der innenpolitischen Entwicklung in Hessen ebenso wie an der politischen Großwetterlage im heraufziehenden Kalten Krieg.218 In dem Maße, wie sich das Alltagsleben in Hessen normalisierte, schwand der Wunsch nach tiefgreifenden Veränderungen. Besonders in den Bereichen, die als typisch deutsch und als bewährt empfunden wurden, wozu in der öffentlichen Wahrnehmung auch das Schulwesen zählte, wuchs der Widerstand gegen Reformen. Der kam nicht nur von Seiten Schulreform 123

des Philologenverbands als Vertretung des klassischen Bildungsgedankens, von den Kirchen und konservativen Elternvertretungen, sondern zeigte sich nicht zuletzt in Steins eigener Partei. Von einer Mitverantwortung des höheren Schulwesens am barbarischen Abgleiten der deutschen Gesellschaft nach 1933, wie Stein sie in seiner Ministerzeit immer wieder vorgebracht hatte, wollte man hier wie dort nichts mehr hören. Die Demokratisierung des Schulwesens hielt man je länger, desto mehr für einen Prozeß, der sich mit dem Fortschreiten des demokratischen Staatsaufbaus ohnehin von selbst ergeben werde.219 Gewiß war in erster Linie dem Philologenverband am Erhalt des dreistufigen Schulsystems gelegen, mit dem humanistischen Gymnasium als Eliteeinrichtung zur Vorbereitung auf ein Studium. Aber auch die Eltern aus bürgerlichem Milieu traten mit wachsender Entfernung vom politischen Zusammenbruch immer lauter für die Beibehaltung dieser vielfach „bewährten“ Einrichtung ein. Wie schon in den Revolutionen 1848 und 1918 schloß sich das Zeitfenster für mögliche Reformen auch nach 1945 schnell. Hinzu kam die Beharrungskraft überkommener Strukturen, die es selbst den nicht zimperlich vorgehenden Nationalsozialisten seinerzeit unmöglich gemacht hatte, ihre Reformpläne durchzusetzen. Das Reichsschulgesetz, wie es sich das Reichserziehungsministerium unter Bernhard Rust auf die Fahnen geschrieben hatte, blieb ebenso ein Torso wie Steins „Entwurf für ein Schulaufbaugesetz“ in Hessen. Nicht einmal seine eigene Partei vermochte er von der Dringlichkeit seiner Vorlage zu überzeugen.220 In Sachen Schulreform saß Stein zwischen den Stühlen. Er stand auf Seiten der Amerikaner, wenn es um die Verwirklichung höherer Bildungsgerechtigkeit ging, er vertrat den deutschen Standpunkt, sobald es sich um die praktische Umsetzung handelte. Gerade dies brauchte aber Zeit, kam für den Juristen Stein doch kein anderer als der gesetzliche Weg in Frage. Die wachsende Verbitterung, mit der über die Schulreform gestritten wurde, hat ihn ebenso überrascht wie das gedankenlose Festhalten an äußeren Formen. Immer wieder begegnen die alten Vorurteile; man sieht in der vierjährigen Grundstufe die allein seligmachende Einrichtung, die von vielen Kreisen 124  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

nur als Gegengewicht gegen die vermeintliche amerikanische Konzeption der sechsjährigen Grundstufe verfochten wird. Dieser ganze Fragenkreis ist nur zweitrangig. Wichtiger sind die Hebung des Niveaus und bessere Lehrer[,]

schrieb er im Januar 1949 an Werner Hilpert als Antwort auf einen wütenden Protestbrief des engagierten CDU-Mitgliedes Haussmann gegen die Pläne des Kultusministeriums. Irrig sei auch die Annahme, er habe mit dem Schulaufbaugesetz die Abschaffung des humanistischen Gymnasiums beabsichtigt. „Niemand von uns denkt daran.“ Und für wirklichkeitsfremd erklärte Stein die Forderung Haussmanns, die Amerikaner aus dem Reformvorhaben einfach herauszuhalten. Dies sei ungefähr so realistisch, als fordere man von der Besatzungsmacht die sofortige „volle staatliche Autonomie in unserem Gebiet“. Stein bedauerte die mangelnde Bereitschaft gerade auch in seiner eigenen Partei, sich sine ira et studio auf das Reformvorhaben einzulassen. Obwohl in der Öffentlichkeit breit über die Pläne seines Ministeriums berichtet worden sei, feierten die alten Vorurteile fröhliche Urständ: ‚Demontage des Geistes‘ ist ein billiges Schlagwort, das nichts beweist. Es ist die neueste Walze der Philologen, die bald abgespielt sein wird. Der Stolz des Briefschreibers auf das ‚vielleicht bewährteste Schulwesen aller Länder‘ kann nur noch bei dem verfangen, der diese ‚Bewährung‘ im Jahr 1933 und den folgenden ‚1000  Jahren‘ noch heute nicht gesehen und verstanden hat.221

Von der amerikanischen Militärregierung war zu dieser Zeit keine große Unterstützung mehr zu erwarten. Noch auf der Besprechung im November 1948 hatte Delong vollmundig behauptet, daß die Militärregierung die Schulreform durchsetzen werde, „ob die Parteien es mögen oder nicht“. Wenige Monate später sollte davon keine Rede mehr sein. Mit der Berlin-Blockade 1948/49 war ein erster Höhepunkt im Kalten Krieg erreicht, in dem die Amerikaner als Verteidiger der freien Welt die zentrale Rolle spielten. Nach dem Ende der BlocSchulreform 125

kade am 15. Mai 1949 erfolgte nur acht Tage später die Gründung der Bundesrepublik Deutschland in den drei westlichen Besatzungszonen. Damit hatte sich der deutsche Status gegenüber den Siegermächten entscheidend verschoben. Wenn auch nur ein teilsouveräner Staat entstanden war, so lagen doch zentrale innenpolitische Belange wieder ganz in deutscher Hand. Da der Wille zur tiefgreifenden Veränderung am Schulaufbau in den politischen Parteien so gut wie in der deutschen Öffentlichkeit verblaßte, verschwand der Steinsche Reformplan in den Schubladen des Ministeriums. Allein die Einführung der Realschule als Bindeglied zwischen Volksschule und Höherer Schule fand 1950 eine Mehrheit im Landtag.222 Erwin Stein hat sein Scheitern in Sachen Schulreform im Rückblick auch öffentlich eingestanden. Demnach war eine Mischung aus wachsender Distanz zum Zusammenbruch 1945 und aus wieder erstarktem Konservativismus in der eigenen Partei so gut wie in der Gesellschaft die Hauptursache.223 Gleichwohl ließ ihn das Interesse an der Schulpolitik zeitlebens nicht los. Immer wieder brachte er sich bei Parteifreunden in Erinnerung, wenn es um neue Pläne für die Schule ging und bat um seine Beteiligung. In den 1960er Jahren, als die schulpolitische Debatte einen neuen Anlauf nahm, schaltete er sich mit öffentlichen Verlautbarungen aktiv für die Verwirklichung höherer Bildungsgerechtigkeit ein. Hier sah er einmal mehr den Staat in der Pflicht, der die dafür erforderlichen Mittel in Form von Stipendien und Ausbildungsbeihilfen bereitstellen müsse. „Ohne die soziale Startgerechtigkeit kann die freiheitliche Demokratie auf die Dauer nicht bestehen.“224 Einige seiner späteren Nachfolger im Amt baten ihn um Rat, den er gern und ausführlich gab. Mit Ernst Schütte stand er im Austausch, als der Kultusminister in den 1960er Jahren wegen seiner Reformvorhaben unter heftigen öffentlichen Beschuß geriet. Stein half, so gut er konnte, er schrieb dem Kollegen aufmunternde Briefe und lud ihn zu Gesprächen zu sich nach Hause ein.225 Dem in diesem Jahrzehnt heraufziehenden Jugendprotest stand Stein schon fast naiv aufgeschlossen gegenüber, weil er auch darin zuallererst eine Chance für den Wandel zu einer gerechteren Gesellschaft sehen wollte. 126  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Eine neue Generation steht an der Schwelle des Überkommenen, skeptisch und kritisch gegenüber dem Glauben und der Autorität ihrer Väter. Sie ist im Aufbruch. Sie will die Selbstentfremdung und Selbsttäuschung überwinden. Stürmisch pocht sie an die Türe der Zukunft, nicht, wie ich meine, in revolutionärem Nihilismus, sondern als Vorbote einer Wende und als Künder einer neuen, vielleicht besseren Welt.226

Wenige Jahre später war der revolutionäre Furor der 68er dahin, und Stein blieb enttäuscht zurück. Von dem sozialdemokratischen Kultusminister Hans Krollmann um eine Stellungnahme zu den Rahmenrichtlinien für den Unterricht in der Sekundarstufe I gebeten, gestand er nurmehr seine Ratlosigkeit ein gegenüber einer aus den Fugen geratenen Reform. Daß Fehler in der Rechtschreibung als „Ausdruck eines intakten Klassenbewußtseins“ gedeutet würden, mache ihn ebenso fassungslos wie die Tatsache, daß im Deutschunterricht unterschiedslos klassische Texte neben Comic-Heften wie Asterix behandelt würden. Auf diese Weise erhielten die Schüler kein Bild von Goethes literarischer Weltbedeutung, und es werde die deutsche Sprache verhunzt. Mit dem Historiker Golo Mann hielt Stein auch das Auswendiglernen von Gedichten für eine zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts, wovon in den Richtlinien freilich gar keine Rede mehr war. Mit einigem Schrecken mußte er realisieren, daß seit seiner aktiven Ministerzeit der Bildungsstandard um ein Vielfaches weiter gesunken war.227 Caux

Der Kampf um den Aufbau eines demokratischen Schulsystems mit sechs Grundschuljahren und erhöhter Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schultypen in der Sekundarstufe hatte im Zentrum von Steins Schulreformplänen gestanden, die sich darin jedoch keineswegs erschöpften. Kaum weniger Aufsehen erregte er mit Maßnahmen, die auf eine vermehrte religiöse Unterweisung an staatlichen Schulen zielten. Dem Religionsunterricht beiderlei Konfession maß er größte Bedeutung zu und ließ es dafür mehr als einmal auf ernste Krisen mit Caux 127

dem sozialdemokratischen Koalitionspartner, aber auch der eigenen Partei ankommen. Steins Eifer speiste sich außer aus der eigenen religiösen Überzeugung aus der damals in Deutschland an Popularität gewinnenden Oxford-Gruppe um den Amerikaner Frank Buchmann. Auf dessen Initiative fand im Sommer 1947 die erste „Weltkonferenz für moralische Wiederaufrüstung“ im schweizerischen Caux, oberhalb des Genfer Sees, statt. Zusammen mit 150 Vertretern aus Deutschland, darunter Konrad Adenauer, Gustav Heinemann, aber auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Hessens, Christian Stock, nahmen Erwin Stein und seine Frau an dieser Tagung und späteren Konferenzen teil.228 An Frank Buchmann, dem geistigen Initiator jener an der Universität Oxford Ende der 1920er Jahre gegründeten Studentengruppe, scheiden sich bis heute die Geister. Er gilt den einen als emphatischer Friedensstifter, den anderen als Scharfmacher gegen den internationalen Kommunismus. Der 1878 in Pennsburg/USA geborene Sohn eines Kaufmanns hatte zunächst Theologie studiert und sich der christlichen Sozialarbeit zugewandt, bis er sein Rednertalent entdeckte und fruchtbar zu machen wußte. Buchmann ging auf Weltreise und verdiente sich als christlicher Prediger sowie als ein früher Vorkämpfer gegen den Marxismus-Leninismus einen Namen. Beides sollte während der 1930er Jahre in sein Engagement in der „Bewegung für moralische Wiederaufrüstung“ münden. Unbedenklich in der Wahl seiner Mittel, hatte Buchmann ausgerechnet in Adolf Hitler einen Verbündeten gegen den Kommunismus gesehen, wovon nach 1945 freilich keine Rede mehr war. Mit Kriegsende steigerten sich nur seine Appelle zur Wiedererweckung des Religiösen und zur Verteidigung des Christentums, insbesondere gegen die gottlose Ideologie des Kommunismus. Sein Programm fiel bei Erwin Stein auf fruchtbaren Boden.229 „Caux hat mir den Glauben an die Menschen und an mein Volk wiedergegeben“, bekannte der hessische Kultusminister bewegt in seiner Rede auf jener „Weltkonferenz“ im Sommer 1947, „[a]us diesem Glauben lebt mein Werk und meine Arbeit“. Es handelte sich um eine Großveranstaltung mit fast 1000 Teilnehmern unterschiedlichster Glaubensrichtungen aus aller Herren Länder. Daß nicht nur militärisch 128  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

abgerüstet, sondern angesichts der soeben begangenen Menschheitsverbrechen moralisch wieder „aufzurüsten“ sei, zählte zur allgemein geteilten Überzeugung. Der Kampf gegen den Weltkommunismus wurde beschworen und die ideologische Festigung westlicher Werte wie Demokratie und Freiheit propagiert. Auf Stein ging die Idee einer Broschüre über die wichtigsten Gedanken der Oxford-Bewegung zurück, die noch während der Tagung realisiert wurde. „Es muß alles anders werden“, war der Text überschrieben, von dem der hessische Kultusminister am Ende so sehr überzeugt war, daß er allen 16.000 Lehrern in Hessen ein Exemplar zukommen ließ. Eine Demokratie ohne echte Idee sei wie ein Schiff ohne Steuer, hieß es darin, es werde „in den Wellen der materialistischen Ideologie ziel- und richtungslos hin und her geworfen“. Nur der Glaube an einen Gott vermöge der demokratischen Gesellschaft die Richtung zu weisen. Die amerikanischen Bildungsoffiziere waren beeindruckt von der Lauterkeit der Botschaft und genehmigten den Druck und die Verteilung der Broschüre an die hessische Lehrerschaft.230 Zurück in der Heimat warb Stein weiter für Buchmanns Ziele und versuchte, auch seine Parteifreunde für die Teilnahme an den alljährlich in der Schweiz stattfindenden Konferenzen zu begeistern. Das gelang freilich nicht immer, auch weil die Eidgenossenschaft schon damals ein teures Pflaster war, das sich selbst ein Landrat so kurz nach der Währungsreform noch nicht leisten konnte.231 Der hessische Kultusminister dagegen folgte gleich im Jahr darauf einer Einladung Buchmanns in die USA. Damit dürfte er einer der ersten Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, der ein Visum für die Staaten erhielt. Auf der zweiwöchigen Rundreise durch die USA hielt Stein mehrere Vorträge, er verschaffte sich ein Bild vom amerikanischen Highschool-System und fand am Ende auch noch die Zeit für ein Wiedersehen mit seiner Schwägerin Rosalia Herz. Die schier überwältigenden Eindrücke hielt er in einem Reisetagebuch fest.232 Im Zentrum der Amerikareise stand die Konferenz der „Bewegung für moralische Wiederaufrüstung“ in Kalifornien, von der die New York Times meinte, daß sich dahinter ein „geistiger Kreuzzug“ des Westens gegen den Osten verberge, während die Hamburger WochenCaux 129

Erwin Stein auf der Tagung in Caux 1947

zeitschrift DIE ZEIT sie für die „ideologische Entsprechung des Marshall-Plans“ hielt. Fast alle großen Staaten Europas und Asiens hatten Vertreter geschickt, die über die aktuelle geistige Situation und den Stand der Demokratie in ihren Ländern berichteten. Unisono wurden in den Vorträgen Bedeutung und Wert einer intakten Moral beschworen, die ansonsten den gefährlichen Verlockungen der modernen Gesellschaft hilflos ausgesetzt sei. Schließlich bedürfe auch die Demokratie der Ideologie, gut funktionierende Einrichtungen allein genügten nicht, um Recht und Freiheit des Einzelnen zu sichern. Der Mensch brauche Wertbilder, durch die er seine Rechte sinnvoll verwenden und seine Freiheit sinnvoll leben könne. Er stehe auch in einer Demokratie permanent in der Gefahr, zum „Massenmenschen“ zu werden, sollte er zu keinem tieferen demokratischen Verständnis finden, warnte Buchmann. Die „Bewegung für moralische Wiederauf­ rüstung“ sei die „kopernikanische Wende des Menschen im 20. Jahr130  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

hundert“, schlug der Vertreter Großbritanniens, Peter Howard, in die gleiche Kerbe, zugleich sei sie die „ideale Lösung für Deutschland“. Erwin Stein stimmte in seinem Abendvortrag am dritten Konferenztag ein und schien die Zuhörer mit seinen Worten auch erreicht zu haben: Alle erhoben sich nach der Rede von den Plätzen. Der Chor sang ein Lied aus Deutschland. Der Senator, früher Vorsitzender des Erziehungskomitees in Hardington, wünscht Rede zwecks Verbreitung in seinen Schulen.

Diese warmherzige Aufnahme der deutschen Delegation gerade einmal drei Jahre nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands tat ihm gut.233 Steins Erfahrungshorizont erweiterte sich durch die USA-Reise gewaltig. Wie die meisten seiner Landsleute hatten sich seine Auslandserfahrungen bis dahin auf das westliche Europa beschränkt. Was er wußte über ferne Kontinente, woraus sich sein Amerikabild speiste, das hatte er Zeitschriften und Büchern entnommen. Die tatsächliche Realität war damit freilich kaum in Einklang zu bringen. Die schiere Ausdehnung der Städte, die hohen Einwohnerzahlen, der dichte, rasche Verkehr – Stein kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was er sah, verglich er mit der Heimat und hielt die markantesten Unterschiede in seinem Reisetagebuch fest. „Amerika ist uns technisch und psychologisch 50 Jahre voraus“ notierte er anerkennend, aber „[w] eltanschaulich lebt es noch ganz in der Aufklärung und deren Philosophie“. Bewunderung und Ablehnung hielten sich im Urteil Steins die Waage, der nicht nur die sonnigen Seiten der weltgrößten Demokratie sah, sondern auch ihre tiefen Schatten. Die Rassentrennung fand er befremdlich, den Antisemitismus verstörend. In vielen Badeorten Floridas war Juden der Zutritt verboten, während Schwarze in den Straßenbahnen getrennt von den Weißen saßen.234 Die Hauptursache für diese ignorante Haltung in der Rassenfrage vermutete Stein in der Oberflächlichkeit des American Way of Life. „Amerika Du hast viele Dollars und riesige Gebäude, viele Autos und einen großen Reichtum – aber was man nicht kauft, das ist die sittliche Haltung und die moralischen Grundsätze, das gute Leben.“ Caux 131

Die Rückreise erfolgte von Washington aus, „eine wunderbare Stadt“, und unter allen besichtigten Orten wohl der einzige, wie Stein bekannte, in dem zu leben er sich hätte vorstellen können. Hier kam es auch zur Begegnung mit seiner Schwägerin Rosalia Herz, die gemeinsam mit Mann und Tochter eigens aus New York angereist waren. „Rührend hat sie für mich gesorgt. Viel Gedenken. Wir freuen uns alle sehr“, hielt er diesen besonderen Termin fest. Mit einst engen Freunden aus längst vergangenen Tagen, Lucie und Heinz, führte er lange Telephongespräche. Nach zwei dicht gedrängten Reisewochen quer durch die USA war Stein am Ende nur noch müde. Voller Dankbarkeit über die erlebte Gastfreundschaft und seine noble Aufnahme als Deutscher „so wenige Jahre nach dem Krieg und der Naziherrschaft“, erschien ihm Buchmanns Mission als ein Königsweg zur Befriedung der Welt. „Die Moral Re-Armement trägt wahrscheinlich mehr als ich vorher dachte dazu bei, die Welt und die verschiedenen Länder zusammenzuführen und eine internationale Verständigung zu schaffen. Moral Re-Armement wird der Welt den Frieden bringen.“ Es folgten noch weitere Tagungen in Caux mit Stein als stets aufmerksamem und diskussionsfreudigem Teilnehmer.235 Dem unchristlichen Materialismus der Zeit entgegenzuwirken und der Religion wieder zu höherer Geltung in der Gesellschaft zu verhelfen, zählte zu den erklärten Zielen Steins als Kultusminister. Die Begegnung mit Frank Buchmann bestärkte ihn in dieser Haltung. So traf Stein manche ungewöhnliche und höchst kontrovers diskutierte Maßnahme wie den Schulgebetserlaß vom 8. Mai 1947. Die Erziehungsarbeit im Lande habe unter christlichen, humanistischen und demokratischen Maßgaben zu erfolgen, hatte der Sozialdemokrat Christian Stock in seiner Regierungserklärung im Januar des Jahres verkündet. Der Kultusminister nahm den Regierungschef beim Wort und empfahl, den Schulunterricht mit einem Gebet oder einem Lied zu beginnen und zu beenden. Dem Erlaß war eine Liste mit Liedbeispielen beigefügt.236 Während die Arbeitsgemeinschaft „Die neue Schule“ und die beiden Kirchen den Erlaß wärmstens begrüßten, liefen Teile der SPD und KPD Sturm dagegen. Scharfe Worte fand Staatssekretär Brill, der 132  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

energisch die unverzügliche Rücknahme des Erlasses forderte.237 Auch viele Eltern waren mit dieser Form der Beeinflussung ihrer Kinder nicht einverstanden. Die Wellen schlugen hoch, so daß sich der Ministerpräsident zu beruhigenden Worten veranlaßt sah. Mit dem Erlaß sei doch lediglich eine Empfehlung, kein Gebot ausgesprochen. Und schließlich müsse auch nicht gebetet oder ein christliches Kirchenlied gesungen, sondern es könne ebensogut ein Gedicht humanistischen Inhalts gesprochen werden. Unbeirrt hielt Stein an dem einmal ergangenen Erlaß fest, ja setzte den Trend zur verstärkten religiösen Grundierung der hessischen Schulen mit der Einführung von Religionsunterricht an den Berufs- und Fachschulen fort. Jeder einzelne ihrer Schüler wurde mit einem „Sendschreiben“ über die Maßnahme des Ministers persönlich informiert. Das löste erneut eine Kabinettskrise aus, doch blieb es auch hier bei dem einmal gefaßten Entschluß. Steins Eintreten für mehr Religion im staatlichen Erziehungswesen besaß nachgerade missionarische Züge, so daß mancher Beobachter schon annahm, der Kultusminister sei katholischer Konfession.238 Sollte er davon gehört haben, so wird ihn das nicht weiter irritiert haben. Im Gegenteil: Erwin Stein war es wichtig, als Vorkämpfer für den Religionsunterricht an Hessens Schulen in die Geschichte einzugehen.239 Noch Jahre später, als längst andere Kultusminister das Schulgeschehen in Hessen verantworteten, brachte das Thema Religion die Menschen auf die Barrikaden, wie der gegen das Schulgebet angestrengte Prozeß des Frankfurter Elternpaares Hoffmann zeigt. Durch das Gebet werde das Recht des Schülers auf „negative Bekenntnisfreiheit“ mißachtet, urteilten die Richter am Hessischen Staatsgerichtshof, und gaben den Klägern recht. Da es sich jedoch um eine Einzelfallentscheidung mit Gültigkeit nur für diesen einen Schüler handelte und dies den Hoffmanns offenbar nicht genügte, zogen sie vor das Bundesverfassungsgericht. Die Klage wurde 1979 schließlich abgelehnt. Für die ausgehenden 70er Jahre mit ihrem verstärkten Zug zur Säkularisierung, war das ein bemerkenswertes Urteil.240 Innovation, Tradition und eine gehörige Portion Idealismus bestimmten Steins Reformpläne im schulischen Bereich, wobei ihm der große Wurf bei der Erneuerung des Schulsystems versagt blieb. Caux 133

Die von ihm gesetzten Impulse entfalteten zeitgenössisch keine Wirkung, wurden aber Jahre später unter sozialdemokratischer Federführung wieder aufgegriffen.241 Dagegen erreichte er wenigstens zeitweilig eine Stärkung des geistig-religiösen Moments an den Schulen, ob mit einem morgendlichen Gebet oder humanistischen Sinnspruch zu Beginn des Unterrichts oder mit der Erteilung von Religionsunterricht an den Berufs- und Fachschulen des Landes. Dies war allein schon deshalb eine bemerkenswerte politische Leistung, weil sie dem größeren, aller Religionstümelei unverdächtigen Koalitionspartner SPD abgetrotzt werden konnte.242 Möglich geworden war das freilich nur vor dem Hintergrund einer nach der Katastrophe zutiefst verunsicherten Gesellschaft, die den Rückgriff auf die Tradition unerprobten Experimenten vorzog. Nicht weniger kontrovers und hitzig als im Schulsektor ging es in der Hochschulpolitik zu – ein weiteres zentrales Kapitel aus der Zeit, als Erwin Stein Kultusminister in Hessen war. Hochschulpolitik

1947, als der Offenbacher Rechtsanwalt sein Amt antrat, gab es in Hessen zwei Universitäten, in Frankfurt und in Marburg. Die Ludwigs-Universität in Gießen hatte den Zusammenbruch nicht überstanden, sondern war von der amerikanischen Militärregierung geschlossen worden. Die 1607 gegründete Landesuniversität sank 1946 zur „Justus-Liebig-Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin“ herab, an die sich später eine „Akademie für medizinische Forschung“ anschloß. Seine Alma mater wieder auf die Beine zu stellen und ihr zum Universitätsstatus zurückzuverhelfen, sollte Stein ein besonderes Anliegen sein. Im Kern seiner Hochschulpolitik stand jedoch weit Größeres, nämlich die grundsätzliche Ausrichtung der Universitäten auf die Erfordernisse des demokratischen Staates und Gemeinwesens. Ebenso wie er die Schulen sozial gerechter und zu Orten demokratischer Erziehung machen wollte, sollten die Universitäten gesellschaftlich in die Pflicht genommen werden. In der festen Überzeugung, daß Deutschlands Hochschulen nicht nur 1933 kläg134  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

lich versagt, sondern schon im Kaiserreich eine politisch fatale Rolle gespielt hätten, sollte nun auch hier „alles anders werden“. Steins erste große Landtagsrede am 19. März 1947 ließ über seine Entschlossenheit zu durchgreifenden Reformen keinen Zweifel aufkommen. Seine Pläne machten vor der Hochschulautonomie nicht halt und scheuten selbst vor ministeriellen Eingriffen in die akademische Selbstverwaltung nicht zurück.243 In Steins Urteil vom politischen Versagen der Universitäten mischte sich viel vom allgemein im Land herrschenden Ressentiment gegen den sozial privilegierten und weitgehend homogenen Professorenstand. Die Kritik daran ist so alt wie das Institut des ordentlichen Professors als eines „Instituts eigenen Rechts“, die auch dann nicht unterblieb, als um 1900 die Wissenschaft im Deutschen Reich und mit ihr der „deutsche Professor“ weltweites Ansehen genossen. Dieser Hochschätzung waren sich die Professoren wohl bewußt, und einige von ihnen glaubten auch, über ihre Fachgebiete hinaus Bedeutendes zu allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Fragen beitragen zu können.244 Die „Wissenschaft als Beruf“ legitimierte dazu freilich nicht, wie schon Max Weber in seinem viel zitierten Vortrag 1917 ausgeführt hatte. Und doch hatte sich nicht nur unter den Hochschullehrern selbst die Auffassung verbreitet, daß der Professor kraft seiner humanistischen Bildung und seines wissenschaftlich geschärften Verstandes nicht nur charakterlich ein besserer Mensch sei, sondern „Weltdeutungskompetenz“ und damit einen sicheren Kompaß für den Gang in Gegenwart und Zukunft besitze. Daß er trotz dieser vermeintlichen Weitsicht dennoch nicht die erste deutsche Republik verteidigt habe, vielmehr den Nationalsozialisten auf den Leim gegangen sei, wurde ihm nach 1945 vielfach zum Vorwurf gemacht. Die deutschen Professoren hätten auf ganzer Linie versagt, lautete das pauschale Urteil nicht nur des hessischen Kultusministers. Stein war enttäuscht von ihrem mangelnden „Bekennermut“, den freilich das Gros der übrigen gebildeten Eliten im Land ebenso hatte vermissen lassen.245 Es läßt sich nur vermuten, daß auch persönliche Erfahrungen Steins in sein Urteil über den Professorenstand mit einflossen. Gewiß spielte die Vertreibung der jüdischen Professoren von den UniversitäHochschulpolitik 135

ten nach 1933 eine maßgebliche Rolle. So war auch sein Doktorvater, Leo Rosenberg, von der „Arisierung“ der Hochschulen betroffen, der 1934 sein Amt verloren und das „Dritte Reich“ in der Abgeschiedenheit der bayerischen Provinz nur knapp überlebt hatte.246 Der Widerstand der Hochschulen gegen die Entfernung der Juden war gering geblieben, was am verbreiteten Antisemitismus, aber auch an der einschüchternden Brutalität der Nationalsozialisten lag, mit der sie ihre politischen Ziele durchsetzten. Ebenso hatten die Universitäten das Schleifen ihrer inneren Verfaßtheit hingenommen, ja hatten selbst am Umbau der universitären Selbstverwaltung zur „Führeruniversität“ aktiv mitgewirkt. Prominente Gelehrte wie Martin Heidegger waren dem vermeintlichen Aufbruch als „Führer“ der deutschen Universität vorangegangen. Dies und manch anderes dürfte Stein vor Augen gestanden haben, als er in der Landtagsrede mit Professoren und Universitäten hart ins Gericht ging. An der Schäbigkeit ihres Verhaltens nach 1933 gab es tatsächlich nichts zu beschönigen, aber es hatte doch mehr als ein Beispiel für persönlichen Mut und institutionellen Selbstbehauptungswillen gegeben, die der Minister jedoch abgesehen von den Taten der Geschwister Scholl in seiner Rede nicht weiter hervorhob. Aus dem vergangenen Geschehen zog er nun die Konsequenz tiefgreifender personeller Veränderungen in den Lehrkörpern und des bewußten Wandels in der universitären Zielsetzung. Aufgabe der Hochschulen sei nicht mehr nur die Ausbildung fachlicher Spezialisten, sondern die Erziehung junger Menschen zu charaktervollen und verantwortungsbewußten Bürgern im demokratischen Staat: Der einzelne Student darf sich nicht auf sein Fachgebiet beschränken, sondern er muß viel mehr als bisher nach allgemeiner Bildung trachten. Besondere Pflege erfordern die Gebiete der Staatswissenschaften: Für weltfremde Spezialisten haben wir keinen Platz mehr.247

Als primäre Maßnahmen zur Stärkung der schon vorhandenen demokratischen Kräfte schlug Stein die Besetzung vakanter Lehrstühle „mit politisch einwandfreien und menschlich hochstehenden Persönlichkeiten“ vor. Hier dachte er vor allem an die Rückberufung von jüdi136  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

schen und politisch mißliebigen Professoren aus der Emigration, die mit dieser Geste für das erlittene Unrecht zugleich entschädigt werden sollten. Darüber hinaus sah sein Plan vor, daß die Bevorrechtung der Ordinarien gegenüber den Nichtordinarien in den Lehrkörpern auf lange Sicht aufgegeben würde. Wie nach seinen Vorstellungen in der Lehrerbildung der Standesunterschied zwischen Volksschullehrern und Studienräten verschwinden müsse, sollte an den Universitäten künftig mehr Gleichheit in der Dozentenschaft herrschen. Weiterhin schlug Stein „im Sinne der demokratischen Erneuerung“ vor, den Universitäten bis zum erstrebten Ziel vollkommener Demokratisierung einen Kurator an die Seite zu stellen, der als Beobachter über die jeweilige Entwicklung wachen sowie als Mittler zwischen Ministerium und Rektorat fungieren würde. Schließlich kündigte er ein übergangsweise geltendes Recht des Ministers zu aktiven Eingriffen in die universitäre Selbstverwaltung an. Problematische, den politischen Zielen des Ministeriums widerstrebende Beschlüsse des Senats und der Fakultäten sollten aufgehoben werden, der Minister darüber hinaus auch persönlich an Gremiensitzungen teilnehmen können. Mit großer Entschlossenheit vorgetragen, ernteten die sorgfältig formulierten Ausführungen des Kultusministers zunächst allgemein Zustimmung im Parlament.248 Steins Erneuerungsprogramm bezog sich auf die gesamte universitas. Die Studenten hätten in der Vergangenheit ebenso versagt, sich zudem weit entschiedener und früher zum Nationalsozialismus bekannt. Stein hielt auch hier die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft für ausschlaggebend, ihre bürgerliche Herkunft sei für den aggressiven Nationalismus verantwortlich gewesen. Dem sollte zukünftig mit gezielter sozialer Durchmischung entgegengewirkt werden: „Die Universität muß ein Spiegelbild des ganzen Volkes werden und darf nicht ein Bild der traditionellen Schicht sein“, forderte Stein unter dem Beifall der Regierungskoalition. Dazu schlug er vor dem Studiumsbeginn ein für alle Studenten verbindliches Praktikumsjahr vor, „weil ich der Meinung bin, daß es nicht schaden kann, wenn der künftige Lehrer oder der künftige Dozent einmal den Arbeiter bei seiner Arbeit am Schraubstock beobachtet und kennengelernt hat“. Hochschulpolitik 137

Zugleich sollte die Kluft zwischen Lehrenden und Lernenden verkleinert und die „menschlichen Beziehungen“ gezielt gepflegt werden. Es gehe nicht an, so Stein, daß sich Professor und Student nur im Seminar begegneten, im sonstigen Leben aber der soziale Abstand einem natürlichen Umgang miteinander im Wege stünde. Institutionell verlangte er die entschiedene Stärkung der studentischen Selbstverwaltung und ein größeres studentisches Mitspracherecht in den universitären Gremien.249 Es sprach gewiß viel gute Absicht aus Steins Plänen. Aber was er an grundsätzlicher Reform den Universitäten zumutete und wie er den Staat dazu in Stellung brachte, widersprach der klassischen Universitätsidee. Auf genau die hatte man sich an den Hochschulen 1945 aber nach dem Zusammenbruch wieder berufen. Für Stein dagegen war die Humboldt’sche Universitätsidee schon lange tot, gestorben im technik- und wissenschaftsversessenen 19. Jahrhundert, in dem auch Religion, Moral und Sittlichkeit der Menschen auf der Strecke geblieben seien. Von allein würden sich die Universitäten nicht demokratisieren und soziale Verantwortung übernehmen, davon war der Minister, davon war die gesamte Regierungskoalition überzeugt. Die Hochschulen bedurften in dieser Hinsicht der regulierenden Hilfe des Staates, ob sie dies einsahen oder nicht. Ihre Aufgabe sei es, die künftige demokratische Elite wissenschaftlich auszubilden und im demokratischen Sinne politisch zu „erziehen“. Beiseite geschoben war das Argument der Universitäten, sie würden damit nach 1933 ein zweites Mal vom Staat instrumentalisiert, wenn auch für die klar bessere Sache. Nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich hatte man hier jedoch jede Form der politischen Indienstnahme durch den Staat gründlich satt.250 Steins im März 1947 dem Landtag vorgetragene Hochschulreformpläne standen am Beginn eines fast die gesamte Amtszeit durchziehenden Konflikts. Unterstützung fand er außer in der eigenen Partei zunächst bei den Sozialdemokraten, namentlich bei Ministerpräsident Stock, der die Pläne als konform „mit den veränderten politischen und gesellschaftlichen Auffassungen unserer Zeit“ erklärte und ihre rigorose Durchsetzung verlangte.251 Als Hauptgegner trat Stein die Uni138  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

versität Frankfurt entgegen, prominent vertreten durch seinen erst als Dekan der juristischen Fakultät, später als Universitätsrektor amtierenden Parteikollegen Franz Böhm. Der 1895 als Sohn eines Staatsanwalts in Konstanz geborene Jurist war im Dritten Reich ein erklärter Gegner des Regimes gewesen, was er mit der Entziehung der Lehrbefugnis 1940 persönlich bezahlte. In dem vom Reichserziehungsministerium gegen ihn angestrengten Dienststrafverfahren hatte sich die Universität Freiburg bis zuletzt für ihn, freilich vergeblich eingesetzt. Danach konspirierte Böhm im Rahmen des Freiburger Kreises um Adolf Lampe, Constantin von Dietze und Walter Eucken weiter gegen Hitler und entkam gerade noch der Verhaftung nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944. Sofort nach Kriegsende erhielt er einen Lehrstuhl an der Freiburger Universität und wurde zum Prorektor gewählt. Im November 1945 übernahm Böhm auf Wunsch der amerikanischen Militärregierung kurzzeitig das hessische Kultusministerium im ersten Nachkriegskabinett unter Karl Geiler. Im Frühjahr 1946 folgte er einem Ruf an die Universität Frankfurt.252 An der politischen Integrität Böhms bestand also kein Zweifel. Der vom Geist des badischen Liberalismus durchdrungene Jurist und engagierte Christdemokrat dürfte in vielem dem entsprochen haben, was der hessische Kultusminister neben fachlicher Kompetenz von einem Professor erwartete: Wahrheitsliebe, Charakterfestigkeit und Bekennermut. Mit diesen Eigenschaften hatte Böhm die Jahre des Dritten Reichs glücklich überstanden; nun gebrauchte er sie zur Verteidigung der Universität in der Auseinandersetzung mit Erwin Stein. Franz Böhm, im März 1947 Dekan der juristischen Fakultät an der Universität Frankfurt, fühlte sich zum Widerspruch geradezu herausgefordert. Nichts bräuchten die Universitäten in dieser Phase der Neuorientierung weniger als Kontrolle durch das Kultusministerium. Böhm sah Gefahr in Verzug und verfaßte einen mehrseitigen Brandbrief an den CDU -Landesvorsitzenden, Finanzminister Werner ­Hilpert, mit dem Ziel, daß entweder ein Umdenken Steins erwirkt oder für dessen Abgang aus dem Kabinett gesorgt werde.253 Es scheint, als habe sich der Dekan bei der Niederschrift regelrecht in Rage geschrieben. Jedenfalls ließ er sich mehrfach zu Formulierungen, Hochschulpolitik 139

Vergleichen und Mutmaßungen hinreißen, die er später, mit kühlem Kopf, bedauern sollte. So brachte er es fertig, Steins Universitätskritik mit der des Propagandaministers Goebbels auf eine Stufe zu stellen, der seinerzeit ebenfalls die Universität „als Hort der Reaktion“ bezeichnet und die „feinen Herren“ Professoren der Volksferne und Weltfremdheit bezichtigt habe. Dem komme Steins Professorenbild sehr nahe, wenn er auf die „Änderung der Geisteshaltung“ in den Lehrkörpern dringe, die er notfalls mittels Versetzungen und der „autoritären Vergabe der Lehrstühle“ erzwingen wolle. Hier, meinte Böhm, ließe es doch auch der hessische Kultusminister an Achtung gegenüber dem Ordinarius missen, der schon allein rechtlich mehr als nur ein „abhängiger Staatsdiener“ sei. Erst einmal so richtig in Fahrt gekommen, machte Böhm schließlich selbst vor der politischen Integrität des Ministers nicht halt, brachte seinen geleisteten Widerstand im Dritten Reich ins Spiel und verband ihn mit der Frage, ob Stein sich in der „Judenfrage“ wohl ebenso exponiert habe wie er. Mußte der Kultusminister schon die Tatsache, daß Böhm seine Beschwerde an Hilpert und nicht direkt an ihn gerichtet hatte, als grobe Mißachtung auffassen, um wieviel mehr diese höchst unpassende Bemerkung als tiefe Kränkung! Mitglieder in ein und derselben Partei kannten die beiden einander gleichwohl nicht persönlich, so daß Stein von Böhms Widerstand nichts wußte, Böhm über das Schicksal der Familie Stein nicht orientiert war. Das entschuldigte nach Meinung des Ministers freilich gar nichts. Böhms Haltung galt ihm nur einmal mehr als Ausweis der Arroganz und des Hochmuts der Ordinarien, die selbst vor gemeinsten Mitteln in der politischen Auseinandersetzung nicht zurückschreckten. Eine ihm wenig später angetragene Entschuldigung lehnte er ab. Das Verhältnis zwischen dem Frankfurter Professor und dem Kultusminister war somit bereits früh gründlich gestört und sollte die Neigung zum gegenseitigen Mißtrauen in dem kommenden Konflikt schüren.254 Steins Hochschulreformpläne und Böhms in einem Artikel der Gegenwart auch öffentlich dagegen vorgebrachte Vorbehalte fielen in eine Zeit allgemeiner Hochschulkritik im Lande, die nicht zuletzt durch zwei Ereignisse in der Universitätsstadt Marburg befeuert wor140  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

den waren. Hier hatten, wie sich später herausstellen sollte, im Januar des Jahres 1947 zwei Jugendliche einen Kranz und Blumen an den Särgen Hindenburgs und Friedrichs des Großen niedergelegt, was von den Medien als nationalistische Demonstration einer politisch rechtslastigen Studentenschaft sofort aufgegriffen und interpretiert worden war. Hinzu kamen in die Öffentlichkeit hineingetragene Streitigkeiten unter Marburger Professoren mit etlichen peinlichen Enthüllungen. Im Kern ging es um das Rektorat des Philosophen Julius Ebbinghaus im Herbst 1945, über dessen Entnazifierungsmaßnahmen der Lehrkörper in erbitterten Streit geraten war. Auch dies erweckte in der Öffentlichkeit den Eindruck, die Universität Marburg sei politisch ganz besonders bedenklich.255 Beide Vorgänge schlugen über die Landesgrenzen hinaus Wellen, und ein Beamter des Ministeriums wurde zu ihrer Klärung eigens nach Marburg beordert. Das Untersuchungsergebnis stellte Stein seiner bildungspolitischen Grundsatzrede vor dem Landtag am 19. März voran. Demnach war die Kranzniederlegung an den Gräbern zwar nicht durch Studenten der Marburger Universität und auch ohne jede politische Demonstration erfolgt. Gleichwohl nahm der Minister den Vorfall zum Anlaß, auf eine grundsätzliche Revision des Geschichts­ bildes zu dringen, das von einer Verherrlichung des preußischen Militarismus endlich abrücken müsse. Hier sah er die Universitäten in der Pflicht, in dieser Richtung tätig zu werden. Im Falle des Professorentwists ergriff er für Ebbinghaus Partei, lobte dessen Arbeit für einen demokratischen Neuanfang und drohte der Universität, sollte man nicht bald zu einem kollegialen Miteinander zurückfinden, mit ministeriellen Maßnahmen.256 Einmal mehr hatte Stein offen Kritik an der Universität geübt und sie in dem, was sie vermittelte und wofür sie stand, der politischen Reaktion verdächtig gemacht. Die Stimmung war gereizt, als der „Fall Brill“ im Jahr darauf in Hessen und darüber hinaus für Furore sorgte. Von Hermann Louis Brill war zuvor bereits verschiedentlich die Rede, so daß es nun an der Zeit ist, näher auf den Mann einzugehen, der zwar kein Christ-, sondern ein überzeugter Sozialdemokrat war, Stein aber in mancher politischen Position und gesellschaftlichen EinHochschulpolitik 141

schätzung näher stand, als die eigenen Parteifreunde.257 Als Kind kleiner Leute 1895 im thüringischen Gräfenroda geboren, hatte Brill ähnlich wie Stein mit Begabung und Fleiß eine bemerkenswerte Bildungsbiographie aufzuweisen. Nach dem Besuch der höheren Schule und einer Ausbildung am Lehrerseminar in Gotha nahm er als Freiwilliger am Weltkrieg teil, trat 1918, von aller nationalen Emphase gründlich kuriert der USPD, 1922 der SPD bei, für die er bis 1933 im thüringischen Landtag, 1932/33 auch im Reichstag saß. Brill hatte bereits in den frühen Weimarer Jahren verschiedene öffentliche Ämter bekleidet, unter anderem als Ministerialdirektor im thüringischen Innenministerium mit besonderer Zuständigkeit für die Polizei. 1924 ließ er sich für zwei Jahre beurlauben, um Rechtswissenschaften, politische Ökonomie, Soziologie und Philosophie an der Universität Jena zu studieren, wo er 1928 mit einer Arbeit zum Verwaltungsrecht promoviert wurde.258 Inzwischen hatten die Nationalsozialisten in Thüringen bereits einen Vorgeschmack von dem gegeben, was sie ab 1933 reichsweit in die Tat umsetzen sollten. Der Regierungsantritt Hitlers führte unmittelbar zur Entlassung Brills aus dem Staatsdienst und setzte die politische Verfolgung in Gang. Enttäuscht vom schwachen Widerstandswillen seiner Partei, gab er sein Mitgliedsbuch zurück und gründete die „Widerstandsgruppe Deutsche Volksfront“ in Berlin. Brill verfaßte und verteilte unverdrossen regimefeindliche Schriften, wurde verhaftet und 1939 vom Volks­ gerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Strafe verbüßte er in verschiedenen Anstalten, zuletzt im Konzentrationslager Buchenwald. In der Haft machte er u. a. die Bekanntschaft mit Eugen Kogon und Werner Hilpert, dem späteren hessischen Finanzminister und CDU-Landesvorsitzenden. Nach der Befreiung des Lagers war Brill für wenige Wochen Regierungspräsident in Thüringen, verlor das Amt jedoch auf Betreiben Walter Ulbrichts wieder, nachdem er sich der zwangsweisen Fusion von Sozialdemokraten und Kommunisten widersetzt hatte. Zweimal nahm die sowjetische Militärregierung ihn fest und wies ihn im Herbst 1945 schließlich aus der sowjetisch besetzten Zone aus. Die gewaltsame Unterbrechung seiner politischen Karriere dauerte indes 142  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

nicht lange. Nach einem Interim bei der amerikanischen Militärregierung in Berlin als Chief Consultant übernahm Brill, der inzwischen wieder ein Parteibuch der Sozialdemokratie besaß, die Leitung der Hessischen Staatskanzlei. Ein Homo politicus, wie er im Buche steht, zeugt sein Leben bis 1945 vom unbeugsamen Widerstand gegen jede Form der politischen Unterdrückung. Dies sollte nicht zuletzt Erwin Stein tief beeindrucken, mit dem er vermutlich im Rahmen der hessischen Verfassungsverhandlungen erstmals zusammentraf. Brill hatte in den Augen des Kultusministers den Widerstand geleistet, den die meisten Professoren so kläglich hatten vermissen lassen. Es gab freilich auch eine private Verbindung zwischen beiden Männern durch Steins zweite Frau Lotte Lena Prigge. Brill hatte der mittellosen Witwe 1946 zu einer Beschäftigung in der Staatskanzlei verholfen, nachdem man sich in den Wirren der Nachkriegszeit zuerst in Thüringen, später in Berlin begegnet und einander sympathisch geworden war.259 Staatssekretär Brill stellte neben Finanzminister ­Hilpert den zweiten Trauzeugen bei der Vermählung Erwin Steins mit Lotte Lena Prigge im April 1947. Da lag Steins hochschulpolitische Grundsatzrede gerade einmal zwei Wochen zurück, und waren die ­öffentlichen Reaktionen noch frisch. Ob dies am Hochzeitstag ein Thema war, ist allerdings fraglich. Sicher ist nur, daß Brill in Sachen Hochschulreform ganz auf Seiten des Kultusministers stand. Der Sozialist war von beträchtlichem Ressentiment gegenüber der bürgerlichen Institution Universität samt ihren Professoren erfüllt, er traute ihnen politisch nicht über den Weg. Sein Mißtrauen wurzelte wie bei vielen Sozialdemokraten nicht zuletzt in den Vorgängen des Jahres 1920, als Angehörige des Marburger Studentenkorps bei einem militärischen Einsatz in seiner thüringischen Heimat 15  Arbeiter erschossen hatten. Auf die „Morde von Mechterstädt“ folgte eine im ganzen Reich erregt geführte Debatte über den an Universitäten herrschenden Rechtsradikalismus.260 Wie lebendig das Ereignis in der zweiten Nachkriegszeit erinnert wurde, zeigt die Bezugnahme des Ministerpräsidenten Stock in einer Rede vor dem Landtag. Weil „[g]ebrannte Kinder das Feuer scheuen“, meinte der Regierungschef, sei man in der Beobachtung der Universitäten nun besonders wachsam: „Es war die Hochschulpolitik 143

schwarze Reichswehr, diese Marburger Studenten-Reichswehr, die in Mechterstädt in Thüringen zur Zeit des Kapp-Putsches nicht die Demokratie vor den Kappisten schützte, sondern deutsche Demokraten ermordete.“ Nun wolle man dieselben Fehler nicht noch einmal machen und beizeiten für demokratische Verhältnisse an den Hochschulen sorgen.261 In diesem Sinne unterstützte Staatssekretär Brill den Kultusminister und dessen schul- und vor allem hochschulpolitische Erneuerungspläne nicht nur nachdrücklich, sondern er griff mit eigenen Ideen und Personalvorschlägen auch selbst in dessen Amtsgeschäfte ein. Auf Brill ging der am 17. September 1947 gefaßte Kabinettsbeschluß zurück, daß bei der Besetzung von Universitätsprofessuren das Kabinett und nicht der Kultusminister aus dem Dreiervorschlag der Fakultäten einen Kandidaten auswählt, mit dem er dann die Berufungsverhandlungen aufnehme. Das ging Stein dann doch entschieden zu weit. Er wies die „ständigen Einmischungen des Herrn Staatssekretärs in meinen Geschäftsbereich zurück“ und gab zu bedenken, daß „das von dem Herrn Staatssekretär eingeschlagene Verfahren die Konkurrenzfähigkeit der hessischen Hochschulen“ gefährde.262 Im April 1948 sollte Kultusminister Stein dann aber mit der Ernennung des Staatssekretärs Brill zum Honorarprofessor in der Juristischen Fakultät der Universität Frankfurt einen auch die eigenen Parteikollegen überraschenden Kontrapunkt setzen. Die Fakultät war zuvor informiert worden, hatte ihre Zustimmung aber nicht erteilt, doch der Minister war in seinem Entschluß fest geblieben. Der Ankündigung, daß es „anders werden müsse“ an den Hochschulen, sollten Taten folgen, und Brill mit seiner untadeligen Vita schien der rechte Mann zu sein. Mit ihm, so glaubte Stein, würde der erwünschte frische Wind in die Fakultät fahren. Bedurften doch gerade die Frankfurter Juristen ganz besonders der aktiven Unterstützung des Ministeriums bei der Personalergänzung, nachdem sie es seit Kriegsende nicht geschafft hätten, zwei zentrale Professuren der Fakultät mit politisch einwandfreien Kräften neu zu besetzen. Als promovierter Jurist und Autor kleinerer politischer Beiträge schien Brill bestens geeignet, sein Wissen auch vom Katheder herab zu vermitteln. Der Honorarprofessor würde den Etat nicht weiter belasten, aber das 144  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Lehrangebot erweitern und den Lehrkörper bereichern. Dies alles sprach in den Augen Steins objektiv für Brill. Daß die Fakultät ihn so entschieden ablehnte, lag mit an der Vorgeschichte, eben jener früheren Auseinandersetzung Steins mit Franz Böhm, sowie an der autoritären Verfahrensweise des Ministers: Die Universität Frankfurt fühlte sich zur Selbstbehauptung gegen den Staat herausgefordert und ging auch in diesem Streitfall sofort in die Offensive. Außer in den regionalen und überregionalen Tageszeitungen wurde der „Fall Brill“ im Rundfunk ein Thema.263 Die Kontrahenten bekämpften einander mit harten Bandagen. Von einem staatlichen Oktroi sprach die Universität, mit dem Rekurs auf das gesetzlich verbriefte Ernennungsrecht verteidigte sich der Minister. Die Universität bezweifelte die wissenschaftliche Eignung Brills, erhielt aber von Ministerialdirektor Viehweg nur sarkastisch zur Antwort, daß im Konzentrationslager schlecht wissenschaftlich zu arbeiten gewesen sei.264 Man wies nach, daß Brill die Unwahrheit gesagt hatte, als er, wohl um sich wissenschaftlich aufzuwerten, einen Ruf an die Universität Köln ins Spiel brachte. Kultusministerium und Regierung verkleinerten den Vorwurf zum bloßen Mißverständnis und wehrten ihn damit ab.265 Zuletzt griff die Universität Frankfurt als Reaktion auf Steins Landtagsrede vom 28. Juli 1948 zum bewährten Mittel der „Denkschrift“, die sie, an den Landtag gerichtet, aufwendig drucken ließ. Demzufolge hatte der Minister wahrheitswidrige Behauptungen aufgestellt; Stein bestritt dies energisch in seiner Replik vor dem Landtag.266 Und er beharrte auf der einmal gefällten Entscheidung, von der die Frankfurter Universität nicht müde wurde zu behaupten, es handele sich um den geradezu klassischen Fall einer politischen Ernennung. Gerade solche Ernennungen aber lehnt die Universität ab. Sie wünscht keine Entsendungen politisch oder amtlich prominenter Persönlichkeiten unter dem Nötigungszwang einer taktischen Pression.267

Angesichts der herausgehobenen Stellung Brills und des forschen Vorgehens des Ministers schien die Universität mit dieser Feststellung Hochschulpolitik 145

nicht einmal falsch zu liegen. Steins Hochschulpolitik geriet je länger desto mehr in ein fragwürdiges Licht. Es ist schwer zu sagen, warum sich Stein ausgerechnet auf Brill als Honorarprofessor so sehr kaprizierte und an ihm trotz des massiven Widerstands festhielt. Gewiß, Brills politische Vita verdiente jeden Respekt, und Stein war es ein ausdrückliches Anliegen, ihm „mit dieser Ehrung […] zugleich für die Leiden vergangener Jahre eine Wiedergutmachtung zuteil werden [zu] lassen“.268 Aber der Minister kannte auch den schwierigen Charakter des Staatssekretärs, der glühend ehrgeizig, dazu eitel, rechthaberisch und kompromißlos in der Verfolgung seiner Ziele war. Parteifreunde und Kabinettsmitglieder hatten reichlich Kostproben von seiner robusten Art der Interessenverfolgung erhalten, so daß Heinrich von Brentano schon vermutete, der Koalitionspartner SPD versuche, sich auf diese Weise den schwierigen Genossen vom Halse zu schaffen.269 Was die Persönlichkeit Brills anlangte schien er tatsächlich nur bedingt in die distinguierten Frankfurter Universitätskreise zu passen. Es wurde zeitgenössisch auch über den Einfluß der Ministergattin hinter dieser Entscheidung spekuliert. Daß Lotte Lena Stein dem Staatssekretär einst ihren beruflichen Einstieg verdankte, war kein Geheimnis ebensowenig wie ihre energisch zupackende Art. Da schien es keine ganz haltlose Vermutung zu sein, sie könnte sich bei ihrem Mann für Brill verwendet haben. „Ich kann Ihnen versichern, daß dies nicht der Fall ist“, parierte Stein das in Wiesbaden kursierende Gerücht im Brief an Finanzminister Hilpert, „vielmehr hat meine Frau ernstliche Auseinandersetzungen mit Herrn Dr. Brill wegen seines Verhaltens mir gegenüber gehabt“. Mehrmals klagte der Kultusminister entnervt darüber, daß man seine Familie mit in diesen Streit hineingezogen habe.270 Am nachdrücklichsten dürfte sich der Staatssekretär dem Minister am Ende selbst empfohlen haben. Vielseitig interessiert, belesen und eloquent pflegte Brill eine ausgiebige Korrespondenz mit Erwin Stein, in der er mit der Ausbreitung seines profunden Wissens stets zu glänzen versuchte. Der Staatssekretär fühlte sich den Universitätsprofessoren ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. Die Aufnahme in diesen Kreis glaubte er darum wohl auch mehr als verdient zu 146  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

haben. Brill begehrte den Titel, und es war ihm jedes Mittel recht, ihn zu erhalten.271 Die anfängliche Unterstützung des Ministers durch die CDULandtagsfraktion schwand im Verlauf des Konflikts. Stein registrierte die wachsende Reserve ihm gegenüber erstmals nach seiner Rückkehr aus den USA im Juni 1948, als er sich nach der politisch erfolgreichen Reise von seinen Parteifreunden nur wenig warm empfangen fand. Seine daraufhin angestellten Nachfragen ergaben, daß Hilpert und andere CDU-Politiker inzwischen besorgt auf die Entwicklung der Affäre Brill blickten und eine weitere Eskalation des Konflikts unbedingt vermeiden wollten. Selbst erste Erwägungen für einen Wechsel an der Spitze des Kultusministeriums sollte es schon gegeben haben.272 In einem Brief direkt auf die Situation angesprochen, riet der CDU-Landesvorsitzende Heinrich von Brentano seinem Freund dazu, von weiteren Presseerörterungen abzusehen, um das Ansehen des Staates, der jungen Demokratie und wohl auch der CDU nicht weiter zu schädigen. Statt dessen schlug er Stein ein sachliches Abschlußgespräch aller Beteiligten vor, das am besten in einer gemeinsamen Erklärung münden möge. In der Sache selbst ließ es Brentano an Kritik nicht fehlen. „Nach wie vor bedauere ich es aufs tiefste, daß die ganze Auseinandersetzung ausgerechnet über Herrn Dr. Brill entstehen mußte. Mich interessieren seine wissenschaftlichen Leistungen nicht, wenn ich auch nicht verschweigen möchte, daß er mich bisher in keiner Weise zu überzeugen vermochte.“ Auch menschlich schätzte er den Chef der Staatskanzlei bei weitem nicht so hoch wie Stein dies tat. Er erinnerte daran, daß Brill ihn „aus zweckdienlichen Gründen doch offensichtlich belogen“ habe und auch sonst ein eher pragmatisches Verhältnis zur Wahrheit pflege. Er wies weiter darauf hin, wie ungehalten Stein über die ständigen Einmischungen Brills in Personalfragen des Kultusministeriums geurteilt habe, so daß er sich inzwischen frage, „ob wir nicht besser daran getan hätten, dafür zu sorgen, daß Herr Dr. Brill jeden Einfluß in Hessen verliert, anstatt seinen Einfluß zu vergrößern“. Brentanos Brief gipfelte in dem unverhohlenen Vorwurf, der Parteifreund habe im Alleingang einen schweren Fehler begangen: Hochschulpolitik 147

Die Ernennung eines Herrn Dr. Brill zum Honorarprofessor gegen den Wunsch der Universität war eine politische Entscheidung. Und ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß die Fraktion oder der Fraktionsvorstand, wenn sie vorher informiert worden wären, übereinstimmend darum gebeten hätten, von dieser Ernennung unter allen Umständen abzusehen. Von allen anderen Erwägungen abgesehen, sehe ich nicht ein, warum wir ausgerechnet das Ansehen der CDU aufs Spiel setzen sollen, um der SPD einen Dorn aus dem Fuß zu ziehen.273

Deutlicher konnte die Distanzierung von der Politik des Kultusministers im „Fall Brill“ kaum ausfallen. Steins Rückhalt in der Partei bröckelte, während er öffentlich weiter unter Druck geriet. Er selbst sah die Verantwortung freilich weniger bei sich als vielmehr bei Franz Böhm liegen. Es sei Böhm gewesen, der den Vorgang an die Öffentlichkeit gezerrt, die Medien informiert und ihn „in gemeinster Weise“ angegriffen habe, verteidigte sich Stein.274 Daher komme für ihn eine geräuschlose Konfliktbeilegung auf keinen Fall in Frage, er bestehe vielmehr auf der öffentlichen Erörterung des Falls vor dem Landtag. In sachlicher Hinsicht blieb der Minister bei seinem Standpunkt; die Berufung Brills sei „formal- und materiellrechtlich in Ordnung“ gewesen, auch habe ­Hilpert dazu seine Zustimmung erteilt. Ob Brill „menschlich“ geeignet sei, eine Professur zu bekleiden, könne verschieden beurteilt werden, „[i]ch persönlich halte ihn als Hochschullehrer für geeigneter denn als Politiker.“ Im weiteren Verlauf verteidigte Stein seinen inzwischen in die Kritik geratenen Führungsstil im Ministerium. Er verwies auf die Unfähigkeit vieler seiner Mitarbeiter, die bei Amtsantritt von ihm erst einmal hätten auf Linie gebracht werden müssen, weil „jeder machte, was er wollte. Eine klare Einstellung bestand überhaupt nicht“. Bis heute bleibe aber selbst die Formulierung von Verordnungen und Erlassen an ihm hängen, „weil auch wiederholte Rückgaben mir vorgelegter Entwürfe zu keinem befriedigenden Erfolg führen“. All dies verwies auf die übermäßige Beanspruchung Steins und unterstrich zugleich die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung seiner Pläne in Schule und Hochschule entgegenschlugen. Abschließend bedauerte er 148  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

das generell mangelnde Interesse der CDU an Kultus- und Kulturpolitik; alle seine Anstöße zur Ausarbeitung eines kulturpolitischen Programms seien im Sande verlaufen.275 Der „Fall Brill“ beschäftigte den Hessischen Landtag noch einmal am 6. April 1949, nachdem die FDP-Fraktion einen Antrag auf Einrichtung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission gestellt hatte. Hier war man der Meinung, daß sich der Konflikt des Kultusministers mit der Frankfurter Universität zu einer manifesten „Vertrauenskrise“ im gesamten Hochschulwesen ausgedehnt habe, die sich nicht intern beilegen lasse, sondern der öffentlichen Klärung bedürfe.276 Nach dem Liberalen Wilhelm Bleek erhielt Stein das Wort. In geschliffener Rede kommentierte der Minister die Denkschrift der Frankfurter Universität Punkt für Punkt. Er unterstrich die Rechtmäßigkeit seines Handelns zu jedem Zeitpunkt des Konflikts und hielt der Gegenseite mangelnde Redlichkeit, zahlreiche Versäumnisse und Verfahrensfehler vor. Seinen Gegnern sei es gar nicht um einen „Fall Dr. Brill“ oder irgend eine andere Personalfrage gegangen, stellte er fest, das Ziel der Frankfurter Invektiven sei von vornherein der Minister selbst gewesen sei: „Weil ich gewissen Leuten von den ersten Monaten meiner Tätigkeit an ein Dorn im Auge im Auge gewesen bin, weil sie fürchteten, ich könne mit den Reformen Ernst machen, die ich in meiner Landtagsrede vom 19. März 1947 erörtert habe […], deshalb wurde mir schärfster Kampf angesagt.“277 Eine Orientierung allein an überkommenen Werten und Idealen in dem neu aufzubauenden demokratischen Gemeinwesen werde jedoch nicht funktionieren, erinnerte er das Parlament, und mahnte die Professoren, ihr Selbstbild und ihre Einstellung zur Wissenschaft doch einmal gründlich zu überdenken: Denn, meine Damen und Herren, auch auf diesen höchsten Höhen geistiger Betätigung gibt es nichts Endgültiges. Auch hier ist alles in ewigem Wandel begriffen, nur daß sein Rhythmus mit längeren Intervallen rechnet. Was im neunzehnten Jahrhundert das Ideal eines Zeitalters war, kann im zwanzigsten Jahrhundert ein Irrtum geworden sein, und wehe, wenn die Paßwächter in der dünneren Luft der Gipfel müde werden und nicht mehr nach den Hochschulpolitik 149

Tälern schauen, durch die der heiße Atem der Zeit bläst. Wer heute im Jahre 1949 den Geist Humboldts als Gradmesser unseres Kulturlebens beschwört, hat vergessen, daß wir in das soziale zwanzigste Jahrhundert eingetreten sind.278

Am Ende seiner Verteidigung fand Stein einige versöhnliche Worte, wenn er einmal mehr davon sprach, daß „alles anders werden [könne], wenn wir mit uns selbst beginnen“. In diesem Sinne verstehe er sich als „Diener“ der Hochschulen, ohne sich zum „Sklaven derer [zu] machen, die den Weg nach vorwärts durch Fallgruben unpassierbar machen“. Von seinem generellen hochschulpolitischen Kurs rückte er um kein Jota ab.279 Mit der Landtagsrede Steins war der Höhepunkt in der Auseinandersetzung erreicht. Es folgten wohl noch einige Reaktionen der Frankfurter Universität; auch nahm der Untersuchungsausschuß im Landtag seine Arbeit auf, die am Ende freilich wie das Hornberger Schießen ausging.280 Es war Ministerpräsident Stock, der die verhärteten Fronten aufbrach und auf die Frankfurter Universität zuging. Mit dem Universitätsrektor Boris Rajewski einigte er sich auf eine stille Beilegung des Konflikts, der manchem Beteiligten schon wenig später wie eine Schlacht längst vergangener Tage erscheinen mochte. Da hatte Staatssekretär Brill seine Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität zum Wintersemester 1948/49 bereits aufgenommen und offenbar freundliche Aufnahme im Kreis der Kollegen gefunden. Allzu viel unterrichten sollte er freilich nicht in den kommenden Jahren. Immer wieder sagte er Lehrveranstaltungen kurzfristig wegen wichtiger politischer Termine in Bonn, Arbeitsüberlastung oder Krankheit ab. Dennoch nahm er nicht weniger als 30 Doktoranden an und machte sie mit seiner Sicht auf das Staats- und Verwaltungsrecht vertraut.281 Eine kaum zu überschätzende Bedeutung erlangte der „Fall Brill“ für das sozialdemokratische Milieu. Hier verstand man die umkämpfte Ernennung nicht nur als eine längst fällige Honorierung des überaus verdienten Genossen, sondern als Signal, daß der so viel beschworene politische Neuanfang auch die Hochschulen erreicht habe und sie in ihrer sozialen Gestalt verändern würde. 150  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Wenn einer jetzt an die Universität gehört, wenn einer jetzt zu den Studenten sprechen muß, dann bist es Du. Ich weiß, die Zweifel gegen Deine wissenschaftliche Qualifikation, die Beamte der Gelehrtenfabrik öffentlich äußern, werden Dich nicht erschüttern, denn mit Wissenschaft hat das ja nichts zu tun, sondern nur mit dem Stellenplan, den diese Ignoranten für sich und ihresgleichen in Erbpacht zu halten versuchen. Ein ‚politischer‘ Professor, wie schrecklich. Endlich ein politischer Professor, wie bitter nötig![,]

kommentierte Ernst Thape beglückt den Sieg seines Freundes. Gefeiert wurde der gelungene Treffer auf einen neuralgischen Punkt des „Klassenfeinds“. Daß ein „politischer Professor“ mit der Idee der Universität nicht gut vereinbar war, sah er nicht. Dieses Verständnis hatte freilich auch dem Minister selbst gefehlt, der fixiert auf seine Reformagenda, Maßgaben zur politischen und charakterlichen Erziehung der Studenten den Vorrang gegenüber den eigentlichen Aufgaben von Universität und Wissenschaft einräumte. Heinrich von Brentano blickte darum mit Sorge auf das Kultusministerium, dessen Hochschulpolitik er insgesamt „sehr wenig glücklich“ fand.282 Die Auseinandersetzung um den Frankfurter Honorarprofessor überschattete die Hochschulpolitik Steins, trug ihm aber keineswegs nur Kritik ein. An liberal eingestellten Orten wie der Universität Hamburg schätzte man seinen energischen Erneuerungskurs, und auch innerhalb der seit 1948 wieder regelmäßig tagenden Kultus­ ministerkonferenz fand er mehr Unterstützung als Gegnerschaft für seine Position. 1949 übernahm er den Vorsitz in dem Gremium, was doch einiges Vertrauen der Ministerkollegen in seine Kompetenz verriet. Stein hatte sich so eloquent wie standhaft gezeigt in dem Konflikt, was vielen wohlmeinenden Zeitgenossen Respekt abrang. Andere hingegen bemängelten die „selbstherrliche“ Art seiner Machtausübung und seine Starrheit, von einem einmal eingenommenen Standpunkt um keinen Preis abzurücken, „das war so bei Ihrer Berufung nach Frankfurt; jetzt ist es dasselbe bei der Berufung Hagemanns nach ­Gießen; es war so bei dem Erlaß über das Schulgebet, über Religionsunterricht in der Berufsschule u. ähnliches mehr“, konstatierte ReinHochschulpolitik 151

hard Strecker, einst hessischer Kultusminister in der Weimarer Zeit, im Brief an seinen Parteifreund Brill.283 Eine gewisse Beratungsresistenz auf seinem kultuspolitischen Kurs wird man Stein wohl tatsächlich attestieren müssen. Doch dürfte dies nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, daß mit ihm kein „Vollblutpolitiker“ am Werk war, sondern jemand, der sich aus innerer Verpflichtung kopfüber in das politische Geschehen gestürzt hatte. Die Behauptung einer als richtig erkannten Position war für Stein eine Frage innerer Wahrhaftigkeit und Ausdruck seines tief protestantisch geprägten Wesens. Ihm fehlte die Flexibilität des versierten Politprofis, dem eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad keine größeren Probleme bescherte, wenn es nur politisch geboten schien. Hinzu kam der Aufbruchcharakter der Nachkriegszeit, der für die Umsetzung von Reformen verheißungsvoller schien, als er in Wirklichkeit war. Aus dem, was schon da ist, etwas ganz anderes zu machen, sollte sich nicht nur in der hessischen Kultuspolitik als unmöglich erweisen. Auf die Habenseite von Steins Hochschulpolitik gehört dagegen seine Förderung der Gießener Universität. Der Entschluß zur dauerhaften Schließung der Ludoviciana 1945 war nicht leichtfertig gefallen: der gravierende Geldmangel, die stark bombenzerstörte Stadt sowie die Tatsache, daß auf dem zukünftigen Staatsgebiet Hessen mit Frankfurt und Marburg schon zwei Volluniversitäten und in Darmstadt eine Technische Hochschule bestanden, hatten den Ausschlag gegeben.284 Universität und Stadt waren vergeblich gegen die Schließung Sturm gelaufen, und selbst prominente Namen wie der des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Otto Hahn, hatten dagegen nichts auszurichten vermocht. Die im Mai 1946 eröffnete Justus-Liebig-Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin war eine „schmerzliche Verstümmelung“ der alten Tradition, wie mancher zeitgenössische Beobachter meinte. Daß es am Ende nicht dabei blieb, ist Erwin Stein zu verdanken. Zwar erteilte er dem eigentlichen Wunsch der Gießener nach einer Wiedereröffnung der alten Universität beizeiten eine Absage, nährte aber zugleich die Hoffnung auf weitere Veränderungen. Wie kein anderer Hochschulort in Hessen schien Gießen den Raum für grundlegend Neues zu bieten. Hier konnte „alles anders 152  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

werden“, weil die alten Strukturen nicht mehr bestanden. Gleich mit seinem Amtsantritt wurde Stein tätig und schmiedete, unterstützt von der amerikanischen Militärregierung, Pläne für eine moderne, der Gesellschaft zugewandte Hochschule. Es war zunächst an den Ausbau zur Spezialhochschule in den Bereichen Land- und Forstwirtschaft sowie Veterinärmedizin mit einem Schwerpunkt in der Ernährungswissenschaft gedacht, der in nicht allzu ferner Zukunft eine Fortbildungsstätte für Medizin angeschlossen werden sollte. Daneben lief die Planung für eine Campus-Universität nach amerikanischem Vorbild an. Eine Hochschulstadt auf einem Gelände von rund 500.000 qm sollte entstehen, bebaut mit lichten, modernen Gebäuden. Für deren Realisierung wurde der Architekt Fritz Naumann gewonnen, der 1948 auch schon erste Entwürfe vorlegte. Doch die kühnen Pläne scheiterten am Geld. Selbst bei bestem Willen des hessischen Finanzministers waren die 10–12 Millionen Mark, die allein das Land hätte beisteuern müssen, einfach nicht aufzubringen, und das Projekt Hochschulstadt wurde ad acta gelegt. Gleichwohl ging die Entwicklung zur Spezialhochschule mit dem Ausbau der Naturwissenschaften weiter.285 Mit dem Aus der Ludoviciana 1945 war auch die gesetzliche Grundlage erloschen; eine neue zu schaffen, war für den weiteren Weg der Hochschule dringend geboten.286 Während ihre Gießener Vertreter an eine Verfassung in den Bahnen der alten Universität dachten, an eine Körperschaft eigenen Rechts und damit unabhängig vom Staat, ergriff Stein die Gelegenheit zur Verwirklichung seiner hochschulpolitischen Pläne. Das „Gesetz über die Errichtung der Justus-LiebigHochschule“ erhöhte den von ihm grundsätzlich erwünschten Einfluß des Staates. Die Aufgaben von Rektor und Senat wurden auf die Belange der akademischen Selbstverwaltung reduziert, während ein dem Minister verantwortlicher Kanzler die Verwaltungsgeschäfte führte und ein mit Vertretern des öffentlichen Lebens besetzter Hochschulrat einen Rückzug der Professoren in den akademischen Elfenbeinturm verhindern sollte. Gießen sollte als Hochschule neuen Typs wieder erstehen, beispielgebend für die übrigen Hochschulen im Land. Bemerkenswerterweise erfuhren die Gießener Professoren erst aus der Presse von der modernen Gestalt ihrer Hochschule. Hochschulpolitik 153

Erneut kam es zu lautstarken öffentlichen Protesten über die Eigenmächtigkeit des Kultusministers Stein in Sachen Hochschulautonomie. Sensibilisiert durch den „Fall Brill“ fürchteten die Rektoren in Marburg, Frankfurt und Darmstadt einmal mehr um ihre Selbstverwaltung und protestierten gegen Steins Gesetzentwurf. Wiederum kam es zu einem Schlagabtausch im Landtag, in dem die Liberalen zeitweilig den Standpunkt der Hochschulen gegenüber der Regierungskoalition verteidigten. Der Widerstand war vergeblich, der Gesetzentwurf wurde unverändert am 6. September 1950 vom Landtag einstimmig, d. h. auch mit den Stimmen der FDP, angenommen. Für Gießen bedeutete seine Verabschiedung gleichwohl einen entscheidenden Schritt in Richtung Wiedererlangung des Universitätsstatus. 1957 war das beharrlich erstrebte Ziel mit dem Gesetz über die Errichtung der Justus-Liebig-Universität erreicht. Daß man sich trotz des neuen Namens der alten Ludoviciana verbunden fühlte, zeigte der im Sommer des Jahres mit allen Ehren begangene 350. Gründungstag. Im Rahmen dieser Feierlichkeiten wurden auch die Verdienste Erwin Steins um die Hochschule mit der Ernennung zum Ehrensenator gewürdigt.287 Die Gesamtbilanz über die „Ära Stein“ in der hessischen Kultuspolitik fällt am Ende ambivalent aus. Gewiß nötigt der unermüdliche Einsatz des Offenbacher Anwalts für die Reform von Schulen und Hochschulen bis heute großen Respekt ab. Es lag ja fraglos manches im Argen, das freilich oft weniger dem System, als vielmehr den Menschen darin geschuldet war. Stein nahm an, daß mit durchgreifenden Änderungen im System, auch der Mensch ein anderer, besserer werden würde. Dies dürfte die Vehemenz, mit der er seine Reformvorhaben formulierte und durchsetzte, erklären. Im Engagement für die gute Sache schoß er allerdings schon mal über das Ziel hinaus und ließ Universitäten und Hochschulen mehr als nötig war die Macht des Staates spüren. Rektoren und Senate verstanden die akademische Selbstverwaltung in klassischer Lesart als Freiheit vom Staat, die es nun, nach Jahren des Mißbrauchs durch die Diktatur vehement zu verteidigen galt. Männern wie Franz Böhm und Walter Hallstein war doch so wenig wie Stein selbst die Einsicht abzusprechen, daß sich 154  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

auch die Universitäten auf den demokratischen Staat würden einstellen müssen. Dies war allerdings nicht über Nacht ins Werk zu setzen, sondern würde Zeit brauchen. Steins oft ausgesprochenes Credo „[…] wir haben kein Recht zur Ruhe, wir müssen nicht nur wiederaufbauen, sondern wir müssen neu aufbauen,“ dürfte den Professoren mehr wie eine Drohung, denn als Verheißung in den Ohren geklungen haben.288 Am Bundesverfassungsgericht

Am 19. November 1950 wurden die Bürger Hessens zur Wahl eines neuen Landtags an die Urnen gerufen. Es war politisch viel geschehen seit dem letzten Urnengang, worunter die Währungsreform 1948, die Gründung der beiden deutschen Staaten 1949, schließlich die erste Bundestagswahl im August des Jahres gewiß die tiefgreifendsten Veränderungen auch für Hessen bedeuteten. Landes- wie bundespolitische Themen bestimmten daher den Wahlkampf 1950. Die CDU Hessen hielt unter ihrem Spitzenkandidaten Werner Hilpert am christlich-sozialen Programm fest und faßte angesichts der vielen Gemeinsamkeiten mit den Sozialdemokraten eine Neuauflage der Großen Koalition ins Auge.289 Einen anderen Kurs steuerte dagegen die Bundespartei unter Führung Konrad Adenauers. Der Bundeskanzler stand für Westintegration und Wiederbewaffnung, propagierte das Wirtschaftsprogramm Ludwig Erhards einer „sozialer Marktwirtschaft“, setzte aber vor allem auf eigene Mehrheiten und die Bildung bürgerlicher Koalitionen. Am 15. September 1949 war Adenauer von CDU/CSU, FDP und DP mit knapper Mehrheit zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Auf den „linken“ CDU-Landesverband Hessen blickte er als das Enfant terrible der Gesamtpartei herab. Womöglich sahen viele bürgerliche Wähler in Hessen das ähnlich, denn das Wahlergebnis 1950 fiel mit nur 19 % der abgegebenen Stimmen für die Christdemokraten verstörend schlecht aus. Sehr deutlich hinter die Liberalen (38,8 %) zurückgefallen, war an die Fortsetzung der Großen Koalition nicht mehr zu denken. Die Am Bundesverfassungsgericht 155

zweite Nachkriegsregierung in Hessen stellten die Sozialdemokraten allein mit Georg August Zinn an der Spitze. Infolge des schlechten Wahlergebnisses trat Werner Hilpert schließlich im Sommer 1952 vom Amt des Landesvorsitzenden zurück. 290 Als Direktkandidat für den Wahlkreis Groß Gerau aufgestellt, hatte Erwin Stein im Landtagswahlkampf 1950 mit mehreren Auftritten um die Wählergunst geworben. Die CDU als eine „Partei der Mitte“ sei für alle diejenigen wählbar, denen politischer Extremismus ein Greuel sei. Er kündigte den weiteren Einsatz seiner Partei für die Verbesserung der Lebensbedingungen, aber auch für die Pflege kultureller Aufgaben in Hessen an. Einmal mehr beklagte er den Trend wachsender Entchristlichung der Gesellschaft, die keineswegs nur eine Folge der beiden zurückliegenden Weltkriege sei, sondern ein „Versagen des Menschen unserer Zeit [ist], der seine Mitte verloren hat und damit glaubenslos und unglaubwürdig geworden“ sei. Stein gewann das Direktmandat zwar nicht, erhielt aber über die Landesliste einen der zwölf CDU-Sitze im Wiesbadener Landtag. Die Zeit in der Regierungsverantwortung, in der er außer als Kultusminister seit November 1949 auch als Justizminister gestanden hatte, war allerdings vorbei. Auf dem Gebiet der Justiz hatte er in dem einen Jahr bis zur Landtagswahl keine annähernd so große Tätigkeit entfalten können wie im Kultusbereich. Seine Bemühungen zielten auf die Abstellung der ärgsten Mißstände im Strafvollzug, wo es den Gefängnisinsassen an den nötigsten Dingen wie Leib- und Bettwäsche fehlte. Darüber hinaus leitete er erste Schritte für den verstärkten Einsatz von Sozialarbeitern, Psychologen und Geistlichen zur „erziehlichen Einwirkung“ auf die Insassen ein. „Auch der Gefangene ist ein Mensch mit einer Seele“, erinnerte Justizminister Stein die Abgeordneten im Landtag, und plädierte für einen „humane[n] Strafvollzug“ nach der Maxime „Strafe und Erziehung“ zur Resozialisierung.291 Die Wahlniederlage seiner Partei traf Stein und seine Parteifreunde gewiß nicht unvorbereitet, wenn man auch nicht mit einem solch niederschmetternden Ergebnis gerechnet hatte. Auf der konstituierenden Landtagsfraktionssitzung im November 1950 fand im Anschluß an den nüchternen Bericht des Vorsitzenden Hilpert eine Diskussion 156  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

über die Ursachen des schlechten Wahlausgangs statt, die Stein in Stichworten festhielt: Unklarheit über die Frage der Remilitarisierung – Schlimmer als Problem Niemöller die Frage Heinemann – keine aktive Wirtschaftspolitik, sondern Schleppenlassen (Kohle, Brotpreis) […] – organisatorische Fehler: wo Einsatz, da auch Erfolg […] – die schwarz-rote Koalition hat am wenigstens gekostet.292

Was die Wiederbewaffnungspolitik Adenauers anlangte, so waren die hessischen Christdemokraten gespalten in ihrer Auffassung. Zum einen hielt man eine ausreichende Wehrhaftigkeit in Zeiten des Kalten Krieges für eine dringende Notwendigkeit, andererseits sollte der Weg zur deutschen Wiedervereinigung nicht blockiert werden. Der Widerstand des hessischen Kirchenpräsidenten Martin Niemöller gegen Adenauers Remilitarisierungspläne ging der Hessen-CDU aber entschieden zu weit. Die Entlassung Gustav Heinemanns, der Adenauers Politik in diesem Punkt vehement ablehnte und deshalb kurz vor der Hessenwahl vom Amt des Bundesinnenministers zurückgetreten war, hatte im protestantisch geprägten Nordhessen erheblich Stimmen gekostet, zumal er der einzige Protestant im ersten Kabinett Adenauers gewesen war.293 Doch so schmerzhaft der Verlust der Regierungsbeteiligung war und so selbstkritisch die Christdemokraten die Ursachen für ihre Niederlage untersuchten, die Fraktion blickte gleichwohl mit Stolz auf die zurückliegenden Jahre und das in dieser Zeit für Hessen Erreichte. „Nicht nur nach den alten Fehlern suchen, sondern was ist zu tun für die Zukunft!“, ermunterte der Darmstädter Christdemokrat Heinrich von Brentano die Runde und schwor seine Parteifreunde auf eine kämpferische Haltung ein. Mit „stärkstem Mißtrauen“ nahm Stein die Regierungserklärung Georg August Zinns im Januar 1951 zur Kenntnis, dessen Ankündigung einer „maßvollen Politik“ er für eine gezielte Täuschung hielt. Die Bundes-SPD rechne vermutlich mit Neuwahlen in nächster Zeit, und Zinn versuche, „mit den geistigen Sirenenklängen den Schrecken der Bürger vor dem Sozialismus zu bannen“, analysierte er die marAm Bundesverfassungsgericht 157

kante sozialdemokratische Wende in Hessen gegenüber Hilpert und mahnte „äußerste Wachsamkeit“ an. Für Erwin Stein scheint das parlamentarische Leben auf der Oppositionsbank keinen Reiz besessen zu haben. Bevor er sich aber mit dem Beruf des Rechtsanwalts und Notars in Offenbach bescheiden wollte, hielt er erst einmal nach anderen Perspektiven Ausschau.294 Eine Option stellte die Rückkehr in den Justizdienst dar, aus dem er 1933, seiner sicheren Entlassung zuvorkommend, „freiwillig“ ausgeschieden war. Um das erlittene Unrecht auszugleichen, hatte Stein nach dem Krieg einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt, dem bis 1950 „unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Beförderungen“ stattgegeben worden war.295 Eine Zukunft als Richter oder Staatsanwalt stand ihm somit offen, was sich mit einer Stellung am Bundesgerichtshof zum 1. April 1951 bald glücklich fügen sollte. Ein Richterwahlausschuß, bestehend aus den Justizministern der Länder und 16 vom Bundestag gewählten Mitgliedern, hatte in geheimer Abstimmung über die Kandidaten befunden, anschließend die Bundesregierung der Wahl zugestimmt. Die Personalie Stein scheint keine Schwierigkeiten aufgeworfen zu haben. Da er 1933 noch am Beginn seiner Laufbahn gestanden hatte, war für seine Ernennung zum Richter lediglich eine Ausnahmegenehmigung beim Bundespersonalausschuß einzuholen. Sie wurde anstandslos erteilt. „Mit einem heiteren und einem nassen Auge habe ich die Wahl angenommen“, ließ er Ministerialrat Müller im Wiesbadener Kultusministerium nach erfolgter Ernennung durch den Bundespräsidenten wissen. Stein bedauerte, nun keinen Einfluß mehr auf das kulturelle Geschehen in Hessen zu haben, glaubte aber, in seiner neuen Funktion Bedeutenderes für Deutschland leisten zu können. „Ohne Verzicht und ohne Bescheidung geht es nun einmal nicht“, schloß er seinen Brief, wobei er unerwähnt ließ, daß er hinter den Kulissen schon an den Fäden für seine Berufung an das Bundesverfassungsgericht zog. 1951 stand dessen Gründung unmittelbar bevor.296 Die Errichtung dieses höchsten Bundesgerichts als eines „Hüters der Verfassung“ war im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich vorgesehen. Erwin Stein erfüllte nicht nur die formalen 158  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Bedingungen für diese Position, sondern besaß überdies die Reputation und nötigen Verbindungen für eine aussichtsreiche Kandidatur.297 Auf einer Sitzung des Ellwanger Kreises Anfang 1951 war sein Name schon gefallen, wie ihm Parteifreund Hilpert mitgeteilt hatte. Umgehend wandte sich Stein an den CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Heinrich von Brentano und erbat dessen Hilfe. Er verwies auf seine formale Eignung, sein grundsätzliches juristisches Interesse am Öffentlichen Recht sowie auf seine während der letzten Jahre gesammelte reiche politische Erfahrung. Damit glaubte er, „die Voraussetzungen zu erfüllen, die dieses hohe Amt erfordert“, von dem der Kollege Hilpert außerdem meinte, „daß ich einen derartigen Ruf im allgemein-öffentlichen Interesse nicht ablehnen dürfe, auch wenn ich als Anwalt und Notar mich günstiger stelle“. En passant die materielle Seite der Sache streifend, stellte Stein von vornherein klar, daß für ihn nur die Stellung als „beamteter Richter“, nicht die eines Richters auf Zeit in Frage komme. Bundesjustizminister Dehler sei bereits informiert und habe seinen Beistand zugesagt. „Ich wäre Dir dankbar, alsbald Deine Meinung kennen zu lernen und zu erfahren, ob Du bereit bist, mein Vorhaben zu unterstützen.“ Fraktionschef von Brentano war einverstanden und sagte seinen Beistand zu. Er wußte, wie wichtig der innerparteiliche Austausch im Vorfeld einer solchen Kandidatur war.298 Angesichts seiner besonderen Stellung im Verfassungsgefüge kommt der Richterauswahl am Bundesverfassungsgericht bis heute besondere Bedeutung zu. Die damals noch 24 Richter der zwei Senate wurden zu einer Hälfte vom Bundestag, zur anderen vom Bundesrat gewählt. Dabei bediente sich der Bundestag eines zwölfköpfigen Wahlausschusses, der die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments spiegelt. Für die Wahl zum Richter sind mindestens zwei Drittel der Stimmen erforderlich. Der Bundesrat hingegen wählt die von ihm zu bestimmenden Richter direkt, ebenfalls mit einer Zweidrittelmehrheit. Es bedurfte also für eine aussichtsreiche Kandidatur schon damals der gezielten Absprachen in Bonn und in den sonstigen formellen wie informellen Kreisen der politischen Parteien.299 In Bonn vertrat der Fuldaer Bundestagsabgeordnete Anton Sabel Steins Interessen und hielt seinen Parteifreund kontinuierlich über Am Bundesverfassungsgericht 159

den Stand der Dinge auf dem Laufenden. Schon im Mai hieß es, die Stimmung im „Wahlmännerkollegium“ sei günstig für ihn, und Anfang Juni teilte Sabel mit, daß Stein nun auch offiziell als „CDUVorschlag“ geführt werde, nachdem er sich mit Kurt Georg Kiesinger und dem Vorsitzenden des Richterwahlausschusses, Wilhelm Laforet, besprochen hatte. Übereinstimmend sei man in Bonn der Meinung, „daß Ihre Kandidatur durchgesetzt werden soll“. Trotzdem erfolgte im Juli aus dem CDU-Bundesvorstand heraus „Dr. Erdsick, Niedersachsen“ als Vorschlag, den Sabel freilich umgehend mit den Bonner Parteifreunden aus der Welt schaffte: „Es wurde mir daraufhin mitgeteilt, daß die Dinge wieder in Ordnung gebracht worden seien. Dabei hat sich  – wie ich höre  – Herr Zinn gleichfalls für Ihre Kandidatur eingesetzt.“300 Steins Gegner opponierten unerkannt im Hintergrund, wobei es ihnen offenbar gelang, diffuse Gerüchte über den unliebsamen Konkurrenten in Umlauf zu setzen. Sabel bezog dagegen so „entschieden Stellung“ wie Werner Hilpert: Mir tut es sehr leid, daß Sie im Augenblick so wenig kontrollierbaren Anfeindungen ausgesetzt sind. Ich habe bei meiner letzten Anwesenheit in Bonn am Dienstag noch einmal mein Bestes getan, um dafür zu sorgen, daß Ihre Wahl zum Bundesverfassungsrichter gesichert ist. Hoffentlich haben diese Vorstellungen ihren Eindruck nicht verfehlt. Aufklärung von Ihrer Seite brauche ich nicht, denn mir ist Ihre Haltung so klar und eindeutig, daß ich bei jeder Gelegenheit derart unglaubhaften, törichten Bemerkungen, wie Sie unter Ziffer 1–3 angeben, mit Entschiedenheit gegenübertreten würde und schon gegenübergetreten wäre, wenn mir solche Andeutungen zu Ohren gekommen wären.301

Der energische Einsatz seiner Parteifreunde zahlte sich aus. Am 6. September 1951 erfolgte die Wahl des Bundesrichters Stein zum Richter am Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts – dem „roten Senat“, in dem die SPD sieben ihrer Kandidaten untergebracht hatte, die CDU nur fünf.302 Zahllose Glückwünsche erreichten daraufhin die Offenbacher Blumenstraße. Alle Gratulanten betonten, daß mit Stein der rechte Mann ans Ziel gekommen sei, der „von den Idealen der 160  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

freiheitlichen Demokratie durchdrungen  – Fähigkeit und Kraft besitzt, diese Ideale mit den Realitäten des Lebens in Einklang zu bringen, sie durchzusetzen und zu schützen.“303 Für Leopold Ziegler befand sich Stein nun überhaupt erst in seinem eigentlichen Element, das er zur Entfaltung seines pädagogischen und politischen Talents brauche: „So gehört Dein Mann und mein Sohn zu den Seltenen, die als Staatsmann oder Richter – Rex war einmal Judex! – ihr Volk zu erziehen trachten, als Erzieher aber weit in die Bereiche der Gemeinschaft und des Volkes, des Staates und der Gesellschaft vorzudringen einen starken Willen haben,“ ließ er Lotte Lena Stein wissen. Welche Position entsprach dem wohl besser als die eines Bundesverfassungsrichters? Aber Ziegler dachte schon weiter und faßte womöglich die Bundespräsidentschaft ins Auge, wenn er den weiteren Aufstieg seines Ziehsohnes in ein Amt, „das noch besser auf seine Doppelanlage, Doppelneigung und Doppelleidenschaft zugeschnitten sein mag“, für die Zukunft nicht ausschließen mochte.304 1951 stand Stein im Zenit seiner Laufbahn, nicht einmal zehn Jahre, nachdem Deutschland in Trümmern gelegen hatte. Von Stolz erfüllt war die gesamte Familie, die dem älteren Sohn wohl seit Kindertagen eine Karriere vorausgesagt hatte, vom tatsächlich eintretenden Erfolg aber doch überwältigt wurde. Lange vergessen waren die Konflikte um die Eigenwilligkeit des Heranwachsenden ebenso wie um die erste eheliche Verbindung mit einer jüdischen Frau. Die zweite Schwiegertochter hatten der Bahnmeister und seine Frau mit großer Wärme aufgenommen und als Teil der Familie vollauf akzeptiert. Allein Erwin Stein hielt die Erinnerung an Hedwig zeitlebens in sich wach. Geburts- und Sterbetag übertrug er von Jahr zu Jahr in seinen Taschenkalender und sorgte dafür, daß ihre Grabstätte auf dem Offenbacher Stadtfriedhof erhalten blieb.305 Das hohe Amt brachte Veränderungen mit sich. Abgesehen von seiner Zeit als Soldat an der Westfront hatte das Rhein-Main-Gebiet die Bühne für Steins bisheriges Leben abgegeben. Nun war Karlsruhe der neue Dienstort, das man als Sitz des Bundesgerichtshofs und aufgrund seiner räumlichen Distanz zur politischen Macht in Bonn bewußt auch für das Verfassungsgericht vorgesehen hatte. An einen Umzug Am Bundesverfassungsgericht 161

Bundesverfassungs­ richter Erwin Stein

war vorerst schon wegen des knappen Wohnraums in der badischen Residenzstadt nicht zu denken. Schließlich lebten die betagten Eltern beider Eheleute noch, so daß die Steins lieber in der Offenbacher Blumenstraße wohnen blieben. Unter der Woche in Karlsruhe behelfsmäßig untergebracht, pendelte Stein wie alle seine Kollegen fortan regelmäßig mit der Bahn ins Südwestdeutsche und zurück. Daß es für die Bundesverfassungsrichter keine Freifahrkarten der Ersten Klasse gab, empfand er als grobe Mißachtung und ließ ihn wiederholt bei den zuständigen Bonner Politikern vorstellig werden. Er fahre mit einer „Arbeiterrückfahrkarte dritter Klasse nach Hause“, empörte sich Stein bei Heinrich von Brentano und fürchtete schon um das „Ansehen des Gerichts“. Noch ärgerlicher als die fehlende Freifahrkarte empfand 162  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Stein die niedrige Besoldung, die mit rund 3500 DM gerade einmal dem Gehalt eines Ministerialdirektors entsprach. Auch in dieser Hinsicht wurde Brentano von Stein bestürmt, er möge mit dafür Sorge tragen, daß die Bundesverfassungsrichter eine ihrem Status entsprechende Remuneration erhielten. Die Besoldungsreform kam nach einigen Jahren, und Steins Wohlhabenheit wuchs kontinuierlich. Ein neuer Mercedes Benz 180 demonstrierte dies ebenso wie der Kauf einer Jugendstilvilla in Baden-Baden – aber davon später.306 Das Bundesverfassungsgericht wurde am 28. September 1951 mit einem Festakt im Karlsruher Schloß offiziell eröffnet. Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer gaben sich die Ehre und stimmten in ihren Ansprachen die neue Institution auf ihre Funktion im Verfassungsgefüge der jungen Bundesrepublik ein. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes habe Deutschland ein „Bekenntnis zu Menschenrecht und Menschenwürde“ abgelegt, hieß es in der Rede des Bundespräsidenten, und Aufgabe der Richter müsse es nun sein, diese Errungenschaft nach Maßgabe der Gesetze zu verteidigen. Zum Schlichter in allen Streitfällen zwischen Bund und Ländern bestellt, sollte das Gericht zugleich Anlaufstelle für jeden Bürger sein, der sich in seinen Grundrechten beeinträchtigt fühlte. Die Schieds- und Kontrollfunktion sowie die grundgesetzlich garantierte Unabhängigkeit verliehen „Karlsruhe“ eine Macht, mit der Parlamentarismus und Politik nun rechnen mußten. Von Anfang an schielten Bundesregierung und Opposition auf das Bundesverfassungsgericht als eines Instruments ihrer Politik. Daher beherrschte die „Statusfrage“ die Diskussion der ersten Jahre: das Ringen des Gerichts um seine Unabhängigkeit vom Bundesjustizministerium, um einen eigenen Etat und ein funktionales Gebäude sowie um die Sonderstellung der Richter. Wiederholte Versuche namentlich der Bundesregierung, unmittelbar Einfluß auf die Entscheidungen zu gewinnen, scheiterten. Karlsruhe zeigte sich unerwartet widerspenstig und wurde kein willfähriger Helfer weder der Bundesregierung noch der Opposition, was Adenauer mit dem Satz quittiert haben soll: „Dat ham wir uns so nich vorjestellt“.307 Bis zu seiner endgültigen Konsolidierung vergingen gut zehn Jahre. Funktionierende Verfahrensweisen mußten gefunden, die eigene Am Bundesverfassungsgericht 163

Unabhängigkeit erprobt werden und dies in einer außen- wie innenpolitisch turbulenten Zeit. Bemerkenswert war die personelle Zusammensetzung des Gerichts, das zu zwei Dritteln aus Verfolgten des Nationalsozialismus bestand und sich damit erheblich von anderen Richterkollegien unterschied. Unter den wenigen Richtern mit einer mehr oder weniger „braunen“ Vergangenheit stach einer markant hervor. Ausgerechnet der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der Liberale Hermann Höpker-Aschoff, hatte als Vertreter der Haupttreuhand-Ost eine unrühmliche Rolle bei der Enteignung jüdischen und polnischen Besitzes während des Krieges gespielt. Adenauer wußte davon, hielt aber aus taktischen Motiven an der Berufung des Liberalen fest.308 Die Karlsruher Richter ziehen seither der Politik Grenzen und korrigieren Mißstände. Sie fällen ihre Urteile nach bestem Wissen und Gewissen, aber doch nicht aus dem Nichts heraus. Vielfältig geprägt durch Herkommen und Zeitumstände sind auch sie „Kinder ihrer Zeit“ und urteilen vor ihrem jeweiligen Erfahrungshintergrund. Dieser Faktor läßt sich nicht ausschalten, ihn gilt es bei der Betrachtung einiger damals wie heute umstrittener Urteile zu berücksichtigen. Dies trifft etwa auf die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde zweier homosexueller Männer wegen § 175 im Jahre 1957 ebenso wie auf das von den Richtern im Jahr zuvor gefällte Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zu. Mit letzterem Urteil verbunden ist der Name Erwin Stein, der als Berichterstatter die Federführung in diesem Verfahren besaß. Dem Parteiverbotsverfahren der KPD war das gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) vorausgegangen, ein 1949 von dem Wehrmachtsgeneral Otto Ernst Remer gegründeter Zusammenschluß ehema­liger Nationalsozialisten. Die Partei hatte es bei den nieder­ sächsischen Landtagswahlen 1951 mit 11 % der Stimmen in den Landtag geschafft und bei den Wahlen zur Bremer Bürgerschaft acht Mandate errungen. Erinnerungen an Weimar lebten auf, und mit Blick auf das Ausland, den gerade mit Frankreich, den Benelux-Staaten und Italien geführten Verhandlungen zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), registrierte die Bundesregierung 164  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Richterkollegium des Bundesverfassungsgerichts

den Aufstieg des Rechtsextremismus mit Besorgnis. Doch allein dem rechten Spektrum den Kampf anzusagen, wo sich doch mit der Kommunistischen Partei auch links eine Partei die Überwindung der Bundesrepublik auf die Fahnen geschrieben hatte, hielt man in Bonn für einseitig. Die Entscheidung fiel, mit der SRP auch gleich die KPD zu erledigen. So ging vier Tage nach dem Verbotsantrag der Bundesregierung gegen die Remer-Partei vom 19. November 1951 ein zweiter Antrag beim Karlsruher Verfassungsgericht ein. Es brauchte kein Jahr und die Verfassungswidrigkeit der SRP war festgestellt, die Partei wurde verboten. Das Verfahren gegen die KPD sollte sich dagegen über mehrere Jahre hinziehen.309 Dabei legte Richter Stein zunächst ein strammes Tempo vor. Als Berichterstatter war er „Herr“ des Verfahrens, d. h. er strukturierte den Ablauf, bestimmte die auswärtigen Gutachter und informierte die Kollegen des Ersten Senats fortlaufend über den Stand der Dinge. Dem Berichterstatter oblag außerdem die Abfassung eines Votums, das alle für die Urteilsfindung wichtigen Punkten enthalten mußte. Die Praxis lehrt, daß mehr als hundert Seiten für ein solches Votum keine Seltenheit sind.310 Steins Empfehlung „Die Kommunistische Partei Deutschlands – eine marxistisch-leninistische Kampfpartei. Eine Einführung in den Marxismus-Leninismus“ reichte mit 400 SeiAm Bundesverfassungsgericht 165

ten nebst einem separaten Anhangsband, in dem die Geschichte des Kommunismus in synoptischer Gegenüberstellung visualisierte wurde, weit darüber hinaus. Das Werk lag im September 1952 vor und ließ an Ausführlichkeit über die historisch-politische Genese des Marxismus nichts zu wünschen übrig. Es ließ auch keinen Zweifel an der Gefährlichkeit der Partei, die in der Bundesrepublik für den Kommunismus eintrat, nachweislich unterstützt und gelenkt durch die Regierung Ulbricht in Ost-Berlin: Der Angriffsplan der bolschewistischen Führer der SED steht damit nach Angriffsgegenstand und Angriffsziel fest. Seine Verwirklichung ist für eine nahe Zukunft in Aussicht genommen. Die Schriften, die aus der sowjetischen Besatzungszone in das Bundesgebiet eingeführt werden, sollen diesen Plan seelisch vorbereiten helfen. Sie sind demnach Mittel der Vorbereitung eines bestimmten gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gerichteten hochverräterischen Unternehmens, das mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt durchgeführt werden soll. Das vorbereitende Mittel im Sinne des § 21 braucht selbst nicht gewaltsam zu sein oder eine Drohung mit Gewalt enthalten. Es fallen auch Mittel der geistigen und seelischen Beeinflussung der Bevölkerung des Staates darunter, der Gegenstand des Angriffs ist.311

Stein hatte sich mit der ihm eigenen Akribie in die Klassiker des Marxis­mus-Leninismus vertieft, und sich über die kadermäßigen Strukturen kommunistischer Parteien und deren Gewalttätigkeit ein Bild gemacht. Auf dieser Grundlage hätte „kurzer Prozeß“ gemacht werden können, aber die politischen Zeitläufte standen einem schnellen Verfahren entgegen. Das Gericht hatte zunächst über mehrere Anträge zum Beitritt der Bundesrepublik zur EVG zu befinden, was „geraume Zeit beanspruchen“ werde, wie Stein Heinrich von ­Brentano erklärte. Daher werde „der Prozeß gegen die KPD vor November [1952] nicht stattfinden können“.312 In die Phase der Beweisaufnahme fiel die Vernehmung des im März 1952 von Ostberlin in den Westen geflohenen SED-Funktionärs Georg Wilhelm Jost. Zuletzt Leiter der „Westabteilung“ innerhalb der 166  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

„Nationalen Front“ und damit ein Mitglied aus dem Innern der SEDFührung, war Jost mitten im „Kalten Krieg“ sowohl für die Amerikaner wie für den deutschen Verfassungsschutz ein wertvoller Zeuge. Nach der CIA verhörte der deutsche Geheimdienst den prominenten Flüchtling am 16. Mai 1952 im Poelzig-Bau der IG-Farben in Frankfurt, dem damaligen Hauptsitz des amerikanischen Geheimdienstes in Deutschland. Am Ende lag eine schriftliche Erklärung über Josts Tätigkeit für die SED vor, die der Verfassungsschutz an die Bundes­ regierung weiterreichte. Der Vertreter der Bundesregierung im KPDVerfahren, Staatssekretär Ritter Hans von Lex, wies daraufhin das Karlsruher Gericht auf diesen Zeugen hin. Da dessen Aussage verfahrensrechtlich nicht einfach in das Beweismaterial integriert werden konnte, wurde das Gericht selber tätig und beauftragte den Bericht­ erstatter Stein mit der Befragung. Die eigentlich gesetzlich vorgeschriebene Benachrichtigung der KPD-Bevollmächtigten unterblieb allerdings, weil die Richter „unzulässige Einwirkungen auf Jost“ befürchteten. Schließlich war es schon zu Überfällen und sogar Entführungen von politischen Flüchtlingen durch den Geheimdienst der DDR gekommen. Schon am nächsten Tag reiste Stein in Begleitung einer Justizbeamtin zum Verhör nach Frankfurt, eine Liste mit acht an Jost zu richtende Fragen im Gepäck: nach Verbindungen zwischen KPD und SED, nach finanziellen und organisatorischen Zusammenhängen sowie nach den Zielen der Nationalen Front und ihrer Agitationsweise im Westen.313 Das Verhör dauerte zwei Tage. Der Zeuge wurde laut Protokoll „mit dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt gemacht“ sowie auf die „Bedeutung des Eides hingewiesen“, und es spricht nichts dafür, daß er die Tragweite dieser Befragung und den Zusammenhang, in dem sie stattfand, nicht erfaßt hätte. Jost war keineswegs der „ungelernte Landwirt“, als den der Historiker Foschepoth ihn hinstellt. Der Mann hatte die höhere Schule bis zur Untersekunda besucht, war eine Zeitlang in der Berliner Filmbranche, als Verwalter einer Farm in Südwestafrika tätig gewesen und hatte sich in vielen Rollen durchs Leben geschlagen, zuletzt in der eines höheren Funktionärs der SED. Beharrlich stand er dem Berichterstatter Rede und Antwort, wovon ein Am Bundesverfassungsgericht 167

25 Seiten starkes Protokoll zeugt. Es weist an einigen Stellen wortgleiche Passagen mit Josts Selbsterklärung vom 16. Mai zu Sachverhalten auf, die über die von Stein vorbereiteten acht Fragen hinausgingen. Es lag nahe, die früheren Aussagen Josts zu übernehmen, um die ohnehin schon überlange Vernehmung nicht noch weiter auszudehnen. Von einer „höchstrichterlichen Fälschung“ durch Bundesverfassungsrichter Stein, wie Foschepoth mit Blick auf dieses Vernehmungsprotokoll meint, kann keine Rede sein.314 Das Jahr 1952 verstrich, und der Prozeß hatte noch immer nicht begonnen. Unterdessen war die „Prozeßstrategie“ der KPD angelaufen, in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln gegen das Verbotsverfahren vorzugehen. Es wurden die programmatische Friedensliebe der Partei und der Wunsch nach einem einigen Deutschland nach vorn gespielt und zugleich die Bundesregierung bei jeder passenden Gelegenheit scharf kritisiert. Im Hintergrund der Kampagnen stand die Regierung Ost-Berlins, wo man nicht müde wurde, das Verfahren als politischen Prozeß anzuprangern, mit dem die Kommunisten Deutschlands nach 1933 ein zweites Mal vom Staat mundtot gemacht werden sollten. Dergleichen Meinungsmache blieb in der Öffentlichkeit nicht ohne Resonanz, zumal sich mancher politischer Beobachter ohnehin fragte, worin die Bedrohung durch eine Partei bestehe, die bei der Bundestagswahl im September 1953 gerade einmal 2,2 % der Stimmen errungen hatte und damit weit von einem Einzug in den Bundestag entfernt war. „Was den KP-Prozeß angeht, so war ich schon früher der Meinung, daß er nicht sehr sinnvoll sei. Nach dem Wahlergebnis sollte man ihn stillschweigend liquidieren,“ meinte von Brentano gegenüber Stein.315 Kein Zweifel: Die KPD war kein nennenswerter Faktor mehr in der westdeutschen Parteienlandschaft, nachdem die Brutalität der Regierung Ulbricht offen zutage lag, und der Strom an Menschen, die der ostdeutschen Republik den Rücken kehrten, nicht abreißen wollte. Daß die Bundesregierung mit ihrem Verbotsantrag womöglich mit Kanonen auf Spatzen schießen lasse, war darum auch außerhalb kommunistischer Kreise eine oft anzutreffende Meinung, die, je länger sich der Verfahrensbeginn hinzog, desto mehr Anhänger fand. 168  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Den ersten Termin für den Beginn der mündlichen Verhandlung setzte das Gericht auf den 8. Juni 1953 fest. Er kam nicht zustande, weil die Anwälte der KPD umgehend eine Verschiebung mit der Begründung beantragten, daß die Zeit für die Sichtung des umfangreichen Beweismaterials nicht ausreiche. Weitere Anträge zögerten den Prozeßbeginn bis zum 23. November 1954 hinaus. An diesem ersten Prozeßtag überraschten die KPD-Anwälte Gericht und Öffentlichkeit mit einem Befangenheitsantrag gegen den Berichterstatter. Als Grund gaben sie an, über die Vernehmung des Zeugen Jost durch Richter Stein im Juni 1952 nicht informiert worden zu sein; außerdem sei ihnen Beweismaterial vorenthalten worden. Beides prangerten sie als Verstöße gegen die Strafprozeßordnung an.316 Die persönliche Gefährdung Josts deckte dessen geheime Einvernehmung durch Stein, nicht aber die Geheimhaltung des Protokolls. Davon hätte die beklagte Seite Kenntnis bekommen müssen, sollte das Protokoll Teil des Beweismaterials werden. Nach mehrstündiger Beratung lehnte das Gericht den Befangenheitsantrag als unbegründet ab, begleitet von lautstarker Entrüstung der KPD-Anwälte, in diesem Prozeß werde gegen geltendes Recht verstoßen. Sie trugen einen klaren Punktsieg davon. Ihre Strategie des Hinterfragens, Störens und Verzögerns ging auf: Das Verfahren zog sich immer weiter in die Länge, während die Öffentlichkeit über den Sinn dieses Prozesses zusehends ins Grübeln geriet. Selbst die Richter schienen sich ihrer Sache längst nicht mehr so sicher wie am Anfang zu sein. Schon hoffte mancher, es mögen Ereignisse wie im Zusammenhang mit dem EVG-Verfahren eintreten und einen Urteilsspruch überflüssig machen.317 Der Unmut Bonns über den schleppenden Fortgang des Prozesses wuchs, während die Karlsruher Richter mit einer fintenreichen Prozeßstrategie von den kommunistischen Anwälten in Atem gehalten wurden. Schließlich hatte die KPD mit Friedrich Karl Kaul den besten ihrer Leute nach Karlsruhe geschickt. Der Staranwalt der DDR betrachtete das Verbotsverfahren als einen klaren Fall von „politischer Justiz“ und ließ keinen mündlichen Verhandlungstag verstreichen, ohne dies der Welt mitzuteilen. Mit beträchtlichem Spürsinn deckte er juristische Schwächen der gegnerischen Partei auf und forderte sie zu Am Bundesverfassungsgericht 169

umständlichen Begründungen heraus. In diesem zum ideologischen Kampf stilisierten Kräftemessen der politischen Systeme, erwarb sich Kaul die kaum verhohlene Bewunderung der linksliberalen bundesdeutschen Presse. Daß er unterlag, als die KPD am 17. August 1956 erwartungsgemäß verboten wurde, war letztlich nachrangig. Wichtiger war, daß es mit dem Prozeß gelang, die Westdeutschen Kommunisten als Opfer des bundesdeutschen Unrechtsstaats dastehen zu lassen – eine von manchem noch in der Gegenwart vertretene Sicht.318 Die Urteilsbegründung ließ es an Ausführlichkeit nicht fehlen. Steins Federführung in vielen Passagen ist deutlich zu erkennen, so in dem geschichtlichen Abriß über die Geschichte der KPD, über den Aufbau der Partei und ihre Organisationsstruktur sowie über ihre ­Zielsetzung, die sich ähnlich im Votum des Berichterstatters finden. Die „vorzügliche Zusammenfassung der Lehren des Marxismus-­ Leninismus, schöner und klarer als jedes marxistische Lehrbuch“, stößt noch heute auf Anerkennung.319 Mochte es sich im Fall der KPD lediglich um eine Splitterpartei ohne große Wählerresonanz handeln, für Stein und seine Richterkollegen stand fest, daß die angestrebte „Diktatur des Proletariats“, mit der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ unvereinbar sei. Daß mit dem Verbot der Partei auch gleich der kommunistische Spuk in Westdeutschland ein Ende habe, nahm Stein nicht an. Hermann Brill, mit dem er sich während des Verfahrens wiederholt beriet, ließ darüber keine Illusionen aufkommen. Die KPD sei gar keine Partei „im Sinne des modernen Staatsrechts“, meinte er, sondern „eine Kaderorganisation für den Umsturz, eine fünfte Kolonne. Kein Verbot, kein Gesetz, keine Feststellung der Verfassungswidrigkeit, keine Einziehung des Vermögens oder andere bisher vorgesehene Maßnahmen schafft die Kader der Kommunistischen Partei aus der Welt.“ Brill hatte seine Erfahrungen mit Kommunisten gemacht, er wußte, wovon er sprach.320 Größere Demonstrationen von KPD-Sympathisanten blieben nach der Urteilsverkündung aus, und auch die Öffentlichkeit wandte sich bald anderen Themen zu. Unterdessen wurde vielen Kommunisten der Prozeß gemacht und das Vermögen der Partei eingezogen. Beides rief tiefe Erbitterung und Wut hervor, so daß sich Stein als der maß170  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

gebliche Richter in dem Verfahren ernstlich um seine Sicherheit sorgte. Schon während des Prozesses hatte sein Offenbacher Wohnhaus unter polizeilicher Beobachtung gestanden; mit der Urteilsverkündung wuchs die Angst vor einem Attentat noch einmal beträchtlich. Er wandte sich an das Ordnungsamt der Stadt Karlsruhe und bat mit „Rücksicht auf meine besondere Gefährdung“ um die Erteilung eines Waffenscheins. Denn Entführungen westdeutscher Bürger durch Handlanger der DDR-Staatssicherheit hatte es schon gegeben, worüber die westdeutschen Medien ausgiebig berichteten.321 Die Genehmigung zur Führung einer „Faustfeuerwaffe Kaliber 7,65 mm“ wurde im November 1956 vom Ordnungsamt Offenbach ausgestellt und im Dezember 1959 in Baden-Baden verlängert. Zwar hatte es keinen tätlichen Angriff auf Stein gegeben, aber Vorkommnisse wie das Beschmieren der Eingangsstufe zu seinem Haus mit „Hammer und Sichel in gelber Ölkreide“ faßte er gewiß nicht grundlos als Bedrohung auf. Selbst bis ins beschauliche Baden-Baden, wohin das Paar im April 1959 gezogen war, reichte der Ruf Steins, den Kommunisten Deutschlands mit dem Verbot ihrer Partei den entscheidenden Stoß versetzt zu haben.322 Die 1950er Jahre waren „die große Zeit des Bundesverfassungs­ gerichts“, heißt es im Rückblick auf die Geschichte der höchsten deutschen Gerichtsinstanz. Bedeutende Urteile fielen in diesen Jahren mit weitreichenden Konsequenzen für die Menschen im Land. Dafür sei beispielhaft nur auf das Urteil im sogenannten „Stichentscheid“ verwiesen, das im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau stand. Die rechtliche Gleichstellung war wohl grundgesetzlich verbrieft, aber Reste männlicher Bevorrechtung lebten etwa in Fragen der Kindererziehung fort, in denen der Vater im Streitfall das letzte Wort haben sollte. Hier sorgte das von der einzigen Richterin im Ersten Senat verfaßte Votum Erna Schefflers 1959 für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit.323 Dies dürfte durchaus im Sinne Steins gelegen haben, dem Gleichwertigkeit wie Gleichberechtigung von Mann und Frau in einem demokratischen Gemeinwesen selbstverständlich waren. Viele Zeitgenossen sahen das inzwischen ähnlich, auch wenn ansonsten der Konservatismus Adenauers vorherrschend Am Bundesverfassungsgericht 171

war. Der restaurative Zug des Bundeskanzlers gab dem Jahrzehnt die Signatur, von der das Gericht in seinen Entscheidungen nur selten abwich. Auch Stein gehörte cum grano salis zu den Bewunderern des Rheinländers, dem er immer wieder auf der Bonner politischen Bühne begegnet war. Als der Kanzler seinen 80. Geburtstag im Januar 1956 beging, übersandte er einigen engeren Parteifreunden eine zu diesem Anlaß geprägte Gedenkmünze. Aus dem Dankschreiben Steins sprach die tiefe persönliche Verehrung für Adenauer, mit dem er sich in Erinnerung an den Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands zu einem Staatswesen „aus christlicher und demokratischer Verantwortung“ verbunden wußte. In diesem Sinne wolle er auch in der Zukunft weiterarbeiten: „für die CDU, für die Einheit und Freiheit Deutschlands in einem vereinten Europa.“324 Das Karlsruher Amt bot dazu beste Voraussetzungen. Stein wirkte an vielen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts mit, zuletzt kurz vor seiner Pensionierung in dem viel beachteten Prozeß um ein Werk von Klaus Mann. Erstmals 1936 in den Niederlanden erschienen, sollte „Mephisto – Roman einer Karriere“ nach dem Krieg auch in Deutschland auf dem Buchmarkt erscheinen. Das Buch handelte kaum verborgen von Gustav Gründgens glänzendem Aufstieg zum „Staatsschaupieler“ im Dritten Reich, der unter dem Schutz Hermann Görings u. a. in der Rolle des Mephisto brilliert hatte. Die Nymphenburger Verlagshandlung brachte 1963 Manns Roman im Rahmen einer Werkausgabe heraus, der Lebensgefährte und Erbe Gründgens, Peter Gorski, klagte dagegen und erreichte mit einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg ein Vertriebsverbot. Die Hauptfigur des Romans, der Schauspieler Hendrik Höfgen, sei so nah an der Vita Gründgens angelegt, daß dessen Persönlichkeitsrechte verletzt würden, argumentierte Gorski, während der Verlag sich auf die künstlerische Freiheit des Autors berief und erst den Bundesgerichtshof, schließlich das Bundesverfassungsgericht zur Klärung anrief. Die Karlsruher Richter bestätigten mit Urteil vom 24. Februar 1971 das Vertriebsverbot, der Roman durfte in Deutschland weiterhin nicht verlegt und verkauft werden. Erwin Stein war in dieser Frage freilich anderer Auffassung und nutzte eine seit 1970 bestehende Regelung, 172  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

wonach vom Urteil abweichende Sondervoten einzelner Richter der Öffentlichkeit nicht länger vorenthalten blieben. Eine Verletzung des Andenkens an den inzwischen verstorbenen Gründgens vermochte Stein nicht zu erkennen, gehöre der Schauspieler doch „weitgehend bereits der Theatergeschichte an“ und werde sein Bild mehr von „seriösen historischen Veröffentlichungen, nicht aber durch die Romanfigur des Hendrik Höfgen bestimmt“. Steins Votum war nicht zuletzt ein Plädoyer für den mündigen Leser, dem durchaus ein vernünftiges Urteil zuzutrauen sei: „Die Befürchtung, daß der Roman nicht als künstlerische Aussage, sondern nur wörtlich genommen wird, wird dadurch [durch den gebildeten Leser, A. C. N.] weiter gemindert. Dieser produktiven und phantasievollen Mitwirkung des Lesers, der ein Kunstwerk in seiner Einheit und in seinen immanenten Zusammenhängen sich vergegenwärtigt, messen die Gerichte den angefochtenen Entscheidungen überhaupt keine Bedeutung zu.“ Ein Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes liege nicht vor, votierte Stein, vielmehr würde ein Grundrecht der Nymphenburger Verlagsanstalt verletzt.325 Sein Sondervotum ist ein bemerkenswertes Dokument für die Freiheit der Kunst, das bis heute nichts an grundsätzlicher Bedeutung verloren hat. Nachdem Eltern und Schwiegereltern verstorben waren, hatte sich Offenbach als Lebensmittelpunkt erledigt, und die Steins sahen sich im Karlsruher Raum nach einer geeigneten Immobilie um. Während Lotte Lena der leichteren Bewirtschaftung wegen einer stattlichen Wohnung den Vorzug gegeben hätte, kam für ihren Mann nur ein Haus mit Garten in Frage. Nach zwei Jahren intensiver Suche fand sich 1959 in einer ruhigen Nebenstraße mitten in Baden-Baden eine um die Jahrhundertwende erbaute Jugendstilvilla. Mit sechs Zimmern, einer Küche im Souterrain und einer ausgebauten Mansarde nicht übermäßig geräumig, bot sie doch den repräsentativen Rahmen, auf den es neben der praktischen Nutzbarkeit dem Bundesverfassungsrichter und seiner Gattin ankam.326 Rund 50 Kilometer von Karlsruhe entfernt, war das Gericht mit dem Auto, aber auch mit der Bahn gut erreichbar. Das warme gemäßigte Klima sprach ebenso für die Bäderstadt wie der Strom an Kurgästen, der dem Ort sein internatioAm Bundesverfassungsgericht 173

Fernreise in den Süden 1964

nales Gepräge gab. Konzerte, Theatervorstellungen und Vorträge konkurrierten um die Gunst der Besucher, wenn „Saison“ war in BadenBaden. Berühmt und berüchtigt zugleich war das Spielkasino, das in seiner Geschichte wenige reich gemacht, aber viele gründlich ruiniert hat. Und wem das Glücksspiel am Kartentisch nicht genügte, der konnte sein Geld mit Pferdewetten beim Großen Preis von BadenBaden auf der Galopprennbahn einsetzen. Inwieweit die Steins diese Art der Zerstreuung suchten, war nicht zu ermitteln; doch besaß Erwin Stein eine Ehrenmitgliedskarte des Baden-Badener Kasinos und scheint auch bisweilen dort gewesen zu sein – vermutlich mehr aus soziologischem Interesse, denn seine eigentliche Leidenschaft in diesen Jahren galt dem Gartenbau. Der kleine Ziergarten der Villa war in 174  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Haus „Bismarckstraße 5“ in Baden-Baden

dieser Hinsicht freilich keine Herausforderung; so erwarben die Steins 1960 ein großes Gartengrundstück mit bewohnbarem Gartenhaus.327 Die Adresse Metzgerstraße 38 wurde in den Baden-Badener Jahren zum Refugium des Bundesverfassungsrichters, der viel seiner freien Zeit dort verbrachte. Rund ein Jahrzehnt bewirtschaftete er gemeinsam mit seiner Frau und der Hauswirtschafterin Grete die Parzelle, pflanzte Obstbäume und legte einen Nutzgarten an. Die jährlichen Ernteerträge konnten sich sehen lassen, zentnerweise Kirschen, Äpfel, Pflaumen und Birnen, daneben jede Menge Gemüse wurden eingekocht. Mit dem „kleinen Häuschen“ diente der Garten nicht nur den Steins der Erholung, sondern auch der weiteren Familie und Freunden, die hier über mehrere Jahre ihre Ferien verlebten. Ein 1960 angeAm Bundesverfassungsgericht 175

legtes „Hausbuch“ zeugt von der Bedeutung, die dieser Ort für die Steins gewann. Gelegentlich trug der Hausherr selbst seine Gedanken ein, so am Tag vor dem Weihnachtsabend 1961, als er am Nachmittag allein im Gartenhaus saß, sich ein Feuer anmachte und der untergehenden Wintersonne zusah: Die Rosen sind mit Tannenreisern zugedeckt. Nun kann es kalt werden. Die zweite Weihnacht, daß wir dieses Häuschen haben. Mir macht alles große Freude. Es war viel Arbeit, bis alles so weit war. Aber nun freut man sich am Erfolg der Arbeit. Ich bin dankbar für jeden Tag, den ich hier sein konnte.328

Die körperliche Arbeit im Garten rief Erinnerungen an die Jugendzeit wach, als er in den Sommerferien auf dem Hof des Großvaters in Buseck geholfen und sich unbewußt Land und Leuten tief verbunden gefühlt hatte. Diese Seite des Landlebens ließ ihn auch im späteren Leben nicht los, in Büdingen, wo er beim Schlachten geholfen, oder in Offenbach während des Krieges, als er nach dem Tode seiner ersten Frau Obst und Gemüse selbst eingekocht hatte. Stein war Mitglied in einem Angelsportverein und ging noch als Minister in den Offen­ bacher Jahren bisweilen zum Fischen. Neben seinen vielseitigen geistigen Interessen suchte er Ausgleich in bodenständigen Tätigkeiten. Zeitlebens pflegte er damit zugleich den Kontakt zu „einfachen“ Menschen, denen er mit gewinnender Offenheit begegnete. Aber vor allem wuchs mit zunehmendem Alter seine Liebe zur Natur: Vielleicht hat man zu der Erde jetzt, wo man älter wird, auch ganz andere Beziehungen. Mir geht es wie dem Riesen: berühre ich die Erde, spüre ich ihre Kraft und ich fühle mich stark. Ich werde glücklich. Wirklich, es ist so – ich schwärme keineswegs. Es mag sein, daß der moderne, der Technik verhaftete Mensch anders denkt. Aber ist er darum glücklicher, zufriedener?

Steins Verantwortungsgefühl beschränkte sich nicht auf das menschliche Miteinander, sondern bezog die Natur ausdrücklich mit ein. Schließlich war eine intakte Natur die Basis allen Lebens, die es vor rücksichtsloser Ausbeutung durch den Menschen zu schützen galt. 176  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Das Gartenhaus Baden-Baden

Lange bevor es die Grünen gab, setzte sich Stein für eine Umweltschutzgesetzgebung ein und arbeitete in einschlägigen Gremien wie dem „Deutschen Rat für Landespflege“ an vorderster Stelle mit. Er verfaßte juristische Stellungnahmen und verfolgte die Entwicklung des Umweltrechts im Ausland, verschaffte sich aber auch selbst Eindrücke vom Stand der Umweltverschmutzung in der Bundesrepublik. So bereiste er mit einer Arbeitsgruppe im Mai 1971 das Ruhrgebiet, das unter den umweltschädlichen Folgen der Industrialisierung damals besonders dramatisch litt.329 Unter Steins Vorsitz entstand schließlich der „Steinsche Entwurf“ eines Bundesgesetzes für Landschaftspflege und Naturschutz, das dem 1976 vom Bundestag verabschiedeten Rahmen­gesetz als Vorbild dienen sollte. Damit war ein entscheidender Am Bundesverfassungsgericht 177

Anfang gemacht, an den eine jüngere Generation anknüpfen konnte. Für seine Verdienste um die „Weiterentwicklung des Naturschutzrechtes zu einem umfassenden modernen Landespflegerecht“ verlieh ihm 1974 die Universität Bonn den Van Tienhoven-Preis.330 Der Verkauf des Gartens in Baden-Baden 1972 fiel mit der Entscheidung des Bundesverfassungsrichters zusammen, nach der Pensionierung noch einmal den Wohnort zu wechseln. Erwin Stein zog es mit Macht zurück nach Hessen, während seine Frau einen Lebensabend in der mondänen Bäderstadt klar präferiert hätte. Am Ende entschlossen sie sich zu einem Neuanfang auf dem Land nahe der Universitätsstadt Gießen. Mehr als um die Villa in der Baden-Badener Bismarckstraße trauerten Steins um den Verlust des Gartens: Garten verkauft, verkauft – weg – weg – weg – weg – Amen. Mehrere Besuche im und am Garten, Blumen gepflückt […] 1974 Frühjahr: Es wird gebaut. Das Haus und 3 Garagen. Das Häuschen steht still und leer am Wald. In Baden-Baden nicht mehr zu Hause und in Annerod noch nicht zu Hause. […] Immer noch mal zum ‚Häuschen‘ gefahren. Nun steht ein großes Haus dort. Das Häuschen träumt dahinter still vor sich hin. Letzte Eintragung: Oktober 1974.331

Erwin Stein sollte in Hessen noch einmal Wurzeln schlagen. Eine gute Zeit am Bundesverfassungsgericht lag hinter ihm, ein Lebensabend als Elder Statesman im Umfeld von Kultur, Wissenschaft und Politik noch vor ihm. Stein nutzte die ihm verbleibende Zeit nach Kräften. Ein Leben für die Demokratie

Das Dorf Annerod, seit der großen Gebietsreform in Hessen 1971 mit den Dörfern Albach und Steinbach zur Gemeinde Fernwald zusammengefaßt, liegt rund fünf Kilometer von Gießen entfernt direkt an der Bundesstraße 49. Es gehört zu den Dörfern, die von dem Modernisierungsschub der 1970er Jahre profitiert haben, als der Straßenbau die Verbindung in das regionale Zentrum nach Gießen verbesserte 178  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

und es üblich wurde, dort zu arbeiten, aber auf dem Land zu wohnen. Die Gemeindevertreter erkannten den Trend der Zeit und wiesen beizeiten gleich mehrere Neubaugebiete aus. Der Bauplatz Am Kirschenberg mit schöner Aussicht, den das Paar erwarb, blieb nicht lange ohne Nachbarschaft. Es dauerte keine zehn Jahre und der Ort hatte sich um etliche hundert Neubürger vergrößert. Das wirkte sich positiv auf die Gemeindefinanzen aus, ging aber zu Lasten des ursprünglichen dörf­ lichen Charakters. Seit Stein auf dem Hof der Großeltern in Buseck die Ferien verbracht und die Gegend durchwandert hatte, war aus dem Dorf Annerod eine Vorstadt Gießens geworden. Zwischen Bundesstraße und Autobahn gelegen, beides gleichermaßen hoch frequentiert, braucht es ein wenig Phantasie, sich heute die Idylle vorzustellen, die Stein 1923 in seinem Tagebuch festgehalten hat: Von einem Stein aus für den Vogelsberg charakteristische Landschaft gesichtet – viele Tannen wie im Schwarzwald. Dann viele Buchen. […] Ich liebe solche Landschaften vielfältiger Einheitlichkeiten und innerer Ruhe. Des Nachmittags bis zum Abend wieder durch den Wald, nach Annerod zu, dann nach Rödgen. Sommerliche Waldbilder entdeckt. Ein Hase und später ein Reh liefen mir über den Weg.

Vielleicht haben Erinnerungen wie diese den Entschluß für den Zuzug nach Annerod befördert. Alternativen hätte es in Ulrichstein gegeben, wo das Ehepaar drei Bauplätze am Südhang des Schloßbergs besaß. Aber die Kleinstadt mitten im Vogelsberg hatte außer einer reizvollen Umgebung wenig von dem zu bieten, worauf es für ein älteres Ehepaar später einmal ankommen würde. Auch um den Erwerb eines Forsthauses aus dem Besitz der Hessischen Forstverwaltung hatte sich der Bundesverfassungsrichter, freilich vergeblich, bemüht. Annerod dürfte am Ende ein Kompromiß der Eheleute gewesen sein, ländlich genug für ihn, mit der Stadt in zumutbarer Nähe für sie. Wenn Gießen auch nicht Baden-Baden war, versprachen die dortige Universität und das sonstige Kulturleben doch vielfältige Anregungen.332 Tief verwurzelt haben sich die Steins nicht mehr in Annerod, aber Anschluß fanden sie schon. Leicht fiel ihnen der Zugang zur dörflichen Ein Leben für die Demokratie 179

Vor dem Wohnhaus in Annerod 1987

Kirchengemeinde. Seit jeher protestantisch geprägt, besaß Annerod eine lebendige Kirchengemeinde rund um die in den 1880er Jahren erbaute Kirche neugotischen Stils. Ihr Besuch am Sonntag und zu den Festtagen verstand sich für das Paar von selbst. Ob ihm freilich die Modernisierungswelle besonders zusagte, die seit den 1970er Jahren das protestantische Kirchenleben mit Macht ergriff und vielerorts zu experimentellen Formen des Gottesdienstes führte, kann nur vermutet werden. Zu dem jungen, 1981 an der Anneroder Kirche ordinierten Pfarrer Rolf Klingmann, scheint Stein aber Zutrauen gefaßt zu haben, als er ihm eine der Gemeinde dedizierte Luther-Bibel aus dem Jahr 1685 „als Gabe und Erinnerung“ überreichte. Die Schenkung erfolgte zum Kirchweihfest im September 1986 und fand würdige Erwähnung in der 180  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Lokalpresse.333 Über sonstige Aktivitäten der Steins in Annerod schweigen die Quellen. Aber das komfortable Wohnhaus mit großzügiger Wohnhalle, Terrasse und Garten bot angemessenen Raum nicht nur für Familienfeste, sondern ebenso für manchen Empfang zu Ehren des nach wie vor rege am öffentlichen Leben teilnehmenden Erwin Stein. Die Verbindung zur Familie hatte sich mit den Jahren gelockert, wie es nur natürlich ist, wenn die Eltern erst einmal verstorben sind und die Nachkommen ihre je eigenen Weg gehen. Gleichwohl hatten die Brüder Stein stets zusammengehalten, hatte Erwin sich auch manches Mal für Wilhelm verwendet und ihm den Weg in die akademische Berufsschulpädagogik geebnet. Eine vergleichbare Karriere wie der ältere Bruder machte der jüngere nicht. Doch trug auch er den Professorentitel und verbrachte den Ruhestand gutsituiert im vornehmen Bad Homburg.334 Am schmerzlichsten dürfte Stein die wachsende Entfremdung zu seinem ältesten Neffen empfunden haben. Zu ihm hatte ein besonders enger Kontakt bestanden, er hatte Hedwig Stein gekannt, die ihm abends oft aus Kinderbüchern vorgelesen hatte. Aber selbst in Beruf und Familie eingespannt, lockerte sich dieses Band mit den Jahren, was Stein in Briefen an ihn beklagte. Neben der Schreibfaulheit kritisierte er Fehler in Rechtschreibung und Zeichensetzung, was der Neffe als unangemessene „Belehrung“ auffaßte. Am Ende dürften auch politische Motive eine Rolle gespielt haben, die Mißstimmung zwischen den Generationen hervorriefen. Unzufrieden mit der Bundespolitik ließ Wolfgang Stein den Onkel zum Jahreswechsel 1985/86 wissen, daß er nicht „der Wirtschaftswachstumstheorie der Birne zuliebe so viel arbeite“ und daher keine Zeit zum Briefeschreiben habe. Vielmehr müsse er deshalb so viel tun, weil unsere Generation ein Erbe angetreten hat, das in sittlicher und moralischer Hinsicht und was unsere Lebensgrundlagen angeht einem Scherbenhaufen gleicht. Schlimm ist nur, daß die alten Politiker, die uns derzeit steuern noch immer nichts gemerkt haben. Wenn das Geld, das für die Bundeswehr ausgegeben wird, nur für private Zwecke zum Wohle der Menschheit ausgegeben werden würde, könnte für unsere Kinder vielleicht noch etwas gerettet werden. Ein Leben für die Demokratie 181

Der Neffe stellte die Bedrohung durch Sowjetrußland und DDR, wie viele seiner Generation, in Frage und protestierte gegen die Verabschiedung des Nato-Doppelbeschlusses. Seine grundsätzliche Kritik am Gemeinwesen mußte den Onkel, der doch einen Teil der Grund­ lagen nach 1945 mit gelegt hatte, persönlich treffen.335 In den zwanzig Jahren als Bundesverfassungsrichter hatte sich Stein von seinen parteipolitischen Ursprüngen allmählich entfernt. Die Verbindung zur Hessen- wie zur Bundes-CDU lockerte sich, wozu der Verlust früh verstorbener Parteifreunde wie Werner Hilpert oder Heinrich von Brentano beigetragen haben mag. Einen formalen Parteiaustritt vollzog er zwar nicht, aber ob er den Mitgliedsbeitrag noch regelmäßig entrichtete, ist ungewiß. Sicher ist dagegen, daß er sich im Laufe der Jahre immer mehr sozialdemokratischen Positionen annäherte. Ernst Schütte und Hans Krollmann beriet er in Fragen der Schulpolitik, mit Heinrich August Zinn stand er wegen der gemeinsamen Herausgabe des Kommentars zur Hessischen Verfassung in Verbindung. Seinen Parteifreund Bernhard Vogel hatte er 1970 hingegen daran erinnern müssen, daß neben anderen ehemaligen Kultusministern auch er zur Kultusministerkonferenz eingeladen würde.336 Für die neuen Curricula an Hessens Schulen verfaßte Stein 1978 auf Bitten des Kultusministers Krollmanns eine Grundlage „Allgemeine Grundlegung der Hessischen Rahmenrichtlinien“ und warb in der Folgezeit für die geplanten Neuerungen mit Vorträgen und Rundfunkbeiträgen. Eine Wende in der Schulpolitik hielt er für dringend geboten und prangerte die gegenwärtigen Auswüchse in der Bildungspolitik an: Die Hochschulen seien überfüllt, die weiterführenden Schulen ausgezehrt, während „die Hauptschule auf der Strecke bleibt. Alle Beschwörungsformeln über die vermeintliche Gleichwertigkeit der Hauptschulbildung sind wertlos.“ Schon damals wurde sichtbar, daß die wachsende Akademisierung zu Lasten der allgemeinen Ausbildung gehen und die Hauptschule als „Restschule“ ihr gutes Niveau verlieren würde. Der Trend hatte spätestens mit dem Bildungsaufbruch der sozialliberalen Koalition im Bund eingesetzt und binnen eines Jahrzehnts die ganze Republik erfaßt. Trotz grundsätzlicher Bejahung der sozialdemokratischen Bemühungen im Bildungsbereich war 182  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Erwin Stein mit Holger Börner

Stein aber nicht blind für die Schwächen reformerischen Übereifers. Pädagogische Experimente im linken Milieu, wie sie im Zuge der „antiautoritären Erziehung“ damals unternommen wurden, hielt er für eine gesellschaftliche Verirrung.337 Mit Holger Börner stand er auf direkt freundschaftlichem Fuß. Auch der Ministerpräsident bat den Elder Statesman wiederholt um Rat, den Stein mit der ihm eigenen Sorgfalt erteilte. Nach dem Wahlsieg der SPD 1978 würdigte Börner ausdrücklich den „hervorragenden Anteil“ Steins an diesem Erfolg, „denn durch Ihre Beratung und Mitarbeit sind einige Probleme der Landespolitik besser gelöst worden, als ich es Ende 1976 für möglich gehalten habe.“ Nur zu vermuten steht, daß diese Beratung auch im Zusammenhang mit dem Finanzskandal um die Hessische Landesbank erfolgt war, der 1976 zur Ablösung von Ministerpräsident Albert Osswald durch Börner geführt hatte. Stein brachte dem Sozialdemokraten die Notwendigkeit umfassender Umweltgesetzgebung nahe und warnte ihn vor einer zu offenherzigen Ausländerpolitik. Als am Ende der 1970er Jahre der Ruf nach einem Ausländerwahlrecht in Politik und Gesellschaft laut wurde, riet er zu „größter Zurück­ Ein Leben für die Demokratie 183

haltung“ mit der Warnung: „Sollen wir denn eine fünfte Kolonne für den Heiligen Krieg in unserem Land institutionalisieren?“338 Voller Elan im Ruhestand schätzte Stein seine Inanspruchnahme und brachte sich notfalls selbst in Erinnerung, wenn er meinte, daß seine Expertise von Nutzen sein könnte. Das entsprach seinem Verständnis von verantwortungsvoller Bürgerschaft, ohne die ein Gemeinwesen stets Gefahr laufe, auf Abwege zu geraten. Die Erinnerung an die Weimarer Republik und das Dritte Reich bestätigte ihn in dieser Auffassung. Einigermaßen ratlos registrierte er den in den 1980er Jahren überraschend stark auflebenden Antisemitismus in der Bundesrepublik. Verschiedene Vorkommnisse wie die Bemerkung eines rheinischen Kommunalpolitikers, zur Sanierung der Gemeindefinanzen müßten nur „ein paar reiche Juden erschlagen werden“, oder die umstrittene Uraufführung des Theaterstückes von Rainer Werner Fassbinder „Der Müll, die Stadt und der Tod“ in Frankfurt schienen diesen Trend zu belegen. Gespannt verfolgte Stein die Kontroverse um den Historikerstreit 1986.339 Erklären konnte sich Stein die zunehmende Attraktivität nicht, wie er dem Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, Max Willner, eingestand. Besonders erstaunlich fand er, daß selbst aktive Politiker ungeniert auf der antisemitischen Klaviatur spielten, sich erst zur Gewinnung von Wählerstimmen despektierlich über Juden äußerten, um sich anschließend „lauwarm“ zu entschuldigen: „Ich bin sehr traurig über die gegenwärtige Entwicklung und frage mich immer wieder, wie die Wandlung des deutschen Volkes nach diesen verbrecherischen Handlungen im Grunde ausgeblieben ist. Ist es der Wohlstand, ist es das große Verdrängen auch bei den Politikern oder gerade bei ihnen?“ Für Stein war es in seiner politisch aktiven Zeit noch innere Verpflichtung gewesen, jüdischem Leben in Deutschland nach der Shoa eine neue Grundlage zu verschaffen. Hessen hatte als erstes Bundesland 1946 einen Staatsvertrag mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden abgeschlossen, der damit eine Körperschaft öffentlichen Rechts wurde. Seither waren die jüdischen Gemeinden kontinuierlich gewachsen, um sich nun erneut diffuser Verunsicherung ausgesetzt zu sehen.340 184  „Es muß alles anders werden!“ Der Politiker Erwin Stein

Für seine vielfältigen Verdienste um die Bundesrepublik mit allen Ehren ausgezeichnet, blieb Stein bis ins hohe Alter aktiv, hielt Vorträge und lehrte an den Universitäten Gießen und Frankfurt. Er war ein begehrter Diskussionspartner und geschätzter Ratgeber. Der Tod seiner zweiten Frau, Lotte Lena, am 11. September 1988 traf den 86jährigen schwer. „In großer Trauer zeige ich den Tod meiner geliebten, herzensguten Frau, meiner einzigartigen, lebensfrohen und fürsorglichen Weggefährtin an“, stand in der Traueranzeige zu lesen. Es wurde still im Haus Am Kirschenberg.341 Erwin Stein konnte auf ein erfülltes Leben zurückschauen. In der Jugend von nietzscheanischen Gedanken bewegt, hatte er früh die Bedeutung rechtsstaatlicher Institutionen für ein Gemeinwesen erkannt. Den Nationalsozialismus empfand er als Absturz in die Barbarei; den Freitod seiner ersten Frau Hedwig hat er wohl nie ganz verkraftet. Mit aller Energie kämpfte Stein darum nach 1945 für die junge Demokratie und den Aufbau eines Rechtsstaats. Er glaubte an die Bedeutung universaler Prinzipien und an die Notwendigkeit ihrer festen institutionellen Verankerung. Wie weit er dem neuen Gemeinwesen trauen konnte, wußte er nicht. Deshalb hat er gelegentlich ungewöhnlich scharf auf Kritik an seiner Politik reagiert und trotz seines konservativen Weltbildes gesellschaftliche Reformbemühungen meist unterstützt. Sein Sinn für Sachlichkeit und den Ausgleich verschiedener Kräfte ging darüber nie verloren. Auch der politische Gegner schätzte an Stein die politische Zuverlässigkeit und Wertorientierung seines Handelns. Erwin Stein starb am 15. August 1992 in seinem Haus in Annerod. Er wurde wunschgemäß auf dem kleinen Friedhof im Kloster Arnsburg an der Seite seiner zweiten Frau bestattet. Die Erwin-Stein-Stiftung pflegt sein Andenken und fördert die wissenschaftliche Forschung nach der Maßgabe des Stifters: Toleranz auf allen Gebieten der Kultur zu üben und wachsam zu sein für die Brüchigkeit menschlichen Lebens.342

Ein Leben für die Demokratie 185

Anmerkungen

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Brief von Erwin Stein an die Graf zu Solms Laubachsche Rentkammer, 17.7.1984, in: Privatnachlaß Erwin Stein. Demnach hatte Stein bereits Anfang der 1970er Jahre den Ankauf einer Grabstätte versucht und darüber auch mehrere Gespräche mit dem Landeskonservator Dr. Friedrich Bleibaum geführt. Das Zitat in der Kapitelüberschrift nach: Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft. Aphorismus Nr. 270, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, München 1973, S. 159: „Was sagt dein Gewissen? – ‚Du sollst der werden, der du bist.‘“ Lebendige persönliche Schilderungen über Erwin Stein erfuhr ich durch Frau Ueck, der dafür herzlich gedankt sei. Plastisch wird Steins Persönlichkeit auch bei Helmut Fetzer, Erwin Stein – Bio-Bibliographie, in: Der Neubeginn im Wandel der Zeit. In Memoriam Erwin Stein (1903–1992), herausgegeben von Peter A. Döring, Frankfurt a. M. 1995, S. 171–284; Andreas Hedwig/Gerhard Menk (Hg.), Erwin Stein (1903–1992), Politisches Wirken und Ideale eines hessischen Nachkriegspolitikers, Marburg 2004; Gerhard Menk, Erwin Stein – Mitgestalter des neuen Bundeslandes Hessen, Wiesbaden 2003. Grundlegend zur soziologischen Fassung des Generationenbegriffs: Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingel. und hg. von Kurt Hubert Wolff, Neuwied 21970, S. 509–565; fruchtbar angewendet auf die Geschichtswissenschaft wurde das Modell bei: Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge/ Mass. 1979, sowie Detlev Peukert, Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987. Das Zitat in diesem Absatz entstammt einem 1932 von Suhrkamp verfaßten Artikel in der „Neuen Rundschau“, hier zitiert nach: Peter Suhrkamp: Die Sezession des Familiensohnes. Eine nachträgliche Behandlung der Jugendbewegung, in: Barbara Stambolis/Jürgen Reulecke (Hg.), 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen 2015, S. 197–200, hier S. 200.

Anmerkungen 187

4 Ebd. 5 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Beispielhaft auch der durch Krieg und Niederlage radikalisierte Lebenslauf eines Jahrgangsgenossen von Stein: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996. 6 Goethe an Eckermann, 18.12.1828, hier zitiert nach: Gespräche mit G ­ oethe in den letzten Jahren seines Lebens: 1823–1832, Bd. 2, hg. von Johann Peter Eckermann, Leipzig 1836, S. 43. 7 Zur biographischen Literatur Anm. 2. Der persönliche Nachlaß befindet sich in Obhut der Erwin Stein-Gesellschaft und wird im folgenden als „Privatnachlaß Erwin Stein“ zitiert. Nach Abschluß der in Arbeit befindlichen Biographie wird das Material an das Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden übergeben werden. 8 Stein wurde „nachmittags um 8 ½ Uhr geboren“, wie aus dem Taufregister der ev. Pfarrei Grünberg Hessen, S. 209, Nr. 17 des Jahres 1903 hervorgeht, hier zitiert nach einer Kopie aus dem Privatnachlaß Erwin Stein. Über die vermeintlich glücklichen Sonntagskinder: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg., von Hanns Bächthold-Stäubli, Bd. 7, Berlin 1936, S. 205, Stichwort „Sonntagskind“. 9 Als Taufpaten von Erwin Stein wurden eingetragen: die beiden Onkel mütterlicherseits, Heinrich Ruppel, Färbermeister aus Nidda, und Hans Gebhardt, Postassistent in Mainz, der Onkel väterlicherseits, Johannes Stein, Steinmetzmeister zu Großen-Buseck, sowie ein Kollege des Vaters, Heinrich Myk, Bautechniker zu Cassel. Dies nach dem Auszug aus dem Taufregister der ev. Pfarrei Grünberg Hessen, S. 209, Nr. 17 des Jahres 1903, hier zitiert nach einer Kopie aus dem Privatnachlaß Erwin Stein. 10 Die Zahlen im Text nach dem Eintrag „Grünberg“, in: Brockhaus’ Konversationslexikon, Bd. 8, 14. Aufl. Leipzig 1898, S. 487, demnach gab es in Grünberg nur vierzig Katholiken. Auf das Stammlersche Haus als sein Geburtshaus weist Stein im Nachlaß hin. 11 Fetzer, Erwin Stein, S. 179. Informationen über Wilhelm Balthasar und Frieda Stein sind spärlich. Das Folgende wurde aus den wenigen Unterlagen im Privatnachlaß Erwin Stein zusammengestellt.

188  Anmerkungen

12 Zum industriellen und wirtschaftlichen „Takeoff“ des Kaiserreichs im letzten Jahrhundertdrittel: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 3, 1849–1914, München 1995, S. 547–684. 13 So lautete die Berufsbezeichnung auf der Todesanzeige Wilhelm Steins 1952. Zu den vielfältigen Aufgaben eines Bahnmeisters: Freiherr von Röll, Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 1, Berlin, Wien 1912, S. 418– 420; über die innovativen Auswirkungen der Staatseisenbahnen für das Ingenieurwesen sowie deren Folgen für den Staatsdienst: Christopher ­Kopper, Verkehrsträger, in: Handbuch Verkehrspolitik, hg. von Oliver Schöller, Weert Canzler, Andreas Knie, Berlin 2008, S. 83–98. 14 Ebd., S. 85. Über das Kaiserreich als „Schulgesellschaft“ und die Bedeutung von Bildung für den sozialen Aufstieg: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 531–561. 15 Der jüngere Bruder Erwin Steins, Wilhelm Ludwig, wurde am 8.2.1907 in Grünberg geboren. Zum generativen Verhalten der Bevölkerung im Deutschen Reich: ebd., S. 25 ff. 16 Frieda Ruppel, Jahrgang 1879, starb 1960 in Offenbach am Main. Sie war die jüngste von drei Geschwistern, einem Bruder, Heinrich Ruppel (geb. 1864), und einer Schwester Bertha Ruppel (geb. 1875). Dies nach der von Erwin Stein verfaßten Genealogie im Privatnachlaß Erwin Stein, wonach die Ruppels sich beruflich als Bäcker, Metzger, Gerber, Färber und Hutmacher betätigt hatten. Die Färberei Heinrich Konrad Ruppel (1835– 1902) bestand über drei Generationen bis 1937, dazu: Kurt Storck, Auf den Spuren seltener Handwerksberufe. Der Beruf des Blaufärbers, Kopie des Textes im Privatnachlaß Erwin Stein, 3 S., das Zitat auf der ersten Seite. Über Nidda zur Zeit der Jahrhundertwende siehe den Eintrag „Nidda“, in: Brockhaus’ Konversationslexikon, Bd. 12, 14. Aufl. Leipzig 1898, S. 319, demnach lebten fünfzig Katholiken und neunzig Israeliten in dem Städtchen. 17 Dies nach der vierseitigen Aufzeichnung „Gespräch zwischen dem 20jährigen Enkel Oliver Stein und dem Großvater Wilhelm Ludwig Stein anläßlich seines 80jährigen Geburtstages, 8.2.1989“, hier S. 4, in: Privatnachlaß Erwin Stein. 18 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 74. Anmerkungen 189

19 Beide Aufnahmen im Privatnachlaß Erwin Stein, auf der Rückseite jeweils mit Hand von Erwin Stein vermerkt das Datum und die abgebildeten Personen. Die ältere Fotographie wurde in einem Mainzer Atelier aufgenommen, der Ursprung der jüngeren ist unbekannt. Die Anfertigung solcher Aufnahmen war kostspielig, aber im Bürgertum weit verbreitet. Vier weitere Kinderbilder befinden sich in einem Fotoalbum: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 20 Zum sogenannten Kieler Anzug, der in keinem bürgerlichen Kinderkleiderschrank der Jahrhundertwende fehlte: Robert Kuhn, Bernd Kreutz (Hg.), Der Matrosenanzug. Kulturgeschichte eines Kleidungsstücks, Dortmund 1989. 21 Dies nach den erhaltenen Schulzeugnissen im Privatnachlaß Erwin Stein. Demnach war er ein durchschnittlich „guter“ Schüler, nur Singen und Turnen lagen ihm gar nicht. In einem für die Zulassung zur Promotion abgefaßten Lebenslauf vermerkt Stein den Besuch der „Vorschule des Realgymnasiums zu Hammborn [sic!]“, zitiert nach: Erwin Stein zum Gedächtnis. Akademische Gedenkfeier am 7. März 2003, hg. von Walter Gropp, Mönchengladbach 2003, S. 3. 22 Dies nach den Erinnerungen der Verwandtschaft mütterlicherseits in Nidda, Gespräch mit der Autorin vom 21.10.2015. 23 Das Zitat entstammt einem rückblickenden Tagebucheintrag Steins vom 31.7.1920, in: Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Zur politischen Entwicklung: Tobias Haren, Der Volksstaat Hessen 1918/19: Hessens Weg zur Demokratie, Berlin 2003. Allgemein zur Revolution 1918/19 in Deutschland: Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der Ersten Deutschen Demokratie, München 1993, S. 33–68. 24 „Vilbel“, in: Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 20, 6. Aufl. Leipzig 1909, S. 164. 25 Durch britische Seeblockade, Mißernten und mangelhafte Koordination der deutschen Behörden kam es im Ersten Weltkrieg zu mehr als 400.000 Hungertoten im Kaiserreich. Gustavo Corni, Hunger, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 565; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4, 1914–1949, München 2003, S. 61–64. Erwin Stein wurde wiederholt zum „Hamstern“ aufs Land geschickt, darüber bei190  Anmerkungen

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spielhaft der Eintrag Steins in seinem Tagebuch (1920–1921), vom 17.8.1923, Privatnachlaß Erwin Stein. Postkarte von Erwin Stein an Ludwig Schmidt, 22.7.1915, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Höhere Bürgerschulen mit Latein wurden in Preußen als Realprogymnasium, ohne Latein als Realschulen bezeichnet. Letzteres traf auf die Vilbeler Anstalt zu. Die Stationen der Schullaufbahn nach dem Lebenslauf in: Erwin Stein zum Gedächtnis, S. 3. Als beispielhaft für die Neigung des jungen Stein, am liebsten für sich zu sein, siehe den Eintrag vom 28.5.1920: „Ich träume so gern in den Stunden meiner größten Einsamkeit und Verlassenheit. Glücklich und fröhlich bin ich dabei und alles wird mir so vertraut, so liebe- und sehnsuchtsvoll – dann zieht plötzlich die trüb-traurige Melancholie in mein Gemüt ein. Besonders des Abends, wenn ich ganz allein im Wald traumverloren sitze, und der fahle Mond sein mattes Licht durch Büsche und Bäume wirft“, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Die Zitate im Text: Tagebucheintrag von Erwin Stein, 23.8.1920 sowie 13.3.1921, ebd. Tagebucheintrag von Erwin Stein, 27.6.1920, ebd. Für die Schulbiographie spielte gewiß auch eine Rolle, daß Vilbel kein Gymnasium besaß, Stein also entweder in Kost und Logis nach Frankfurt hätte gegeben werden oder hätte pendeln müssen. Beides hätte die Ausbildungskosten zusätzlich erhöht. „Wenn ich doch nur eine Lampe auf meinem Zimmer hätte, um Nachts eigenen Studien nachgehen zu können. Denn dazu fühle ich die Kraft“, Tagebucheintrag von Erwin Stein, 1.6.1920, ebd. Tagebucheintrag von Erwin Stein, 15.7.1920 mit dem Vermerk „Ein Gedicht vom 20. Mai sei hier nachgetragen“, ebd. Tagebucheintrag von Erwin Stein, 14.6.1920, ebd. Am 20.8.1920 hieß es: „Heute gab mir Direktor Dr. Neubauer 50 Mark aus einer Stiftung und sprach sich sehr wohlwollend über meinen Mithras-Vortrag aus“, ebd., und einige Wochen früher hatte es geheißen: „Von Herrn Geheimrat Neubauer wurde mir nach Schulschluß ein Geschichtsbuch als Geschenk überreicht. […] Jetzt frisch ans eigne Studium!“ 24.3.1920, ebd. Anmerkungen 191

34 Tagebucheintrag von Erwin Stein, 13.7.1920, ebd., dahinter ein späterer Nachtrag mit Bleistift „der [gemeint ist der Artikel] aber nicht erschien“. Mehr Glück hatte er mit zwei kurzen Anzeigen über eine Aufführung der „Minna von Barnhelm“ im März 1921, ebd. 35 Der Theaterbesuch nach dem Tagebucheintrag von Erwin Stein, 5.6.1920, ebd. Es handelte sich um eine Aufführung der Tragödie „Platz“ von Fritz von Unruh. Zur Person: Hans Joachim Schröder, Fritz von ­Unruh (1885– 1970) – Kavallerieoffizier, Dichter und Pazifist, in: ­Wolfram Wette (Hg.), Pazifistische Offiziere in Deutschland 1871–1933, Bremen 1999, S. 319– 337. 36 Tagebucheintrag von Erwin Stein, 6.6.1920, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. 37 Tagebucheintrag von Erwin Stein, 13.7.1920, ebd. 38 Tagebucheintrag von Erwin Stein, 23.8.1920, ebd. 39 Ebd. Die Eltern hatten in diesem Gespräch und zu anderen Gelegenheiten das viele Lesen des Sohnes als Ursache für eine Entfremdung von ihnen beklagt. Er sei, „verdorben durch das Gymnasium“, zum „Verräter der eigenen Sache“ geworden, hielt Stein die Auffassung der Eltern fest, Tagebucheintrag von Erwin Stein, 13.7.1921, ebd. 40 „Meine sämtlichen Einwände und Vorhaltungen waren unfruchtbar. Er und sie beharrten auf ihrem Standpunkt, mich zu einem staatlichen Arbeitstier mit schönen Titeln und Annehmlichkeiten für sie zu machen.“ Tagebucheintrag von Erwin Stein, 29.4.1921, ebd. 41 Tagebucheintrag von Erwin Stein, 19.5.1921, ebd. 42 Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, 7. Aufl. Stuttgart 1991; Annette Streck-Fischer: Adoleszenz – frühe Traumatisierungen und ihre Folgen, 2. Aufl. Stuttgart 2014. 43 Vom Spaziergang mit den Freunden Heinz und Lutz handelt der Eintrag vom 15.5.1921, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. 44 Zu Steins Selbstverständnis als Revolutionär Eintrag vom 8.6.1921: „Was bin ich denn jetzt? Nun, nichts weiter als ein kleiner Punkt von Mensch. Der revolutionär in geistigen Dingen aus Haß gegen das Alte, Verbrauchte u. gegen die Tradition ist.“ Ähnlich der Eintrag vom 19.4.1921, ebd. Generell zur Lehrerschaft in der Weimarer Republik: Handbuch der deutschen 192  Anmerkungen

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Bildungsgeschichte, Bd. 5: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, hg. von Christa Berg, München 1989. Die Skagerrakschlacht war das größte zwischen der deutschen und britischen Flotte im Ersten Weltkrieg ausgetragene maritime Gefecht. Das Zitat: Eintrag 31.5.1921, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Im Eintrag vom 18.1.1921 hieß es: „Der vom Volksstaat angestellte Magister verherrlicht den 4-jährigen Schmach- und Schandkrieg, predigt Haß und gedenkt der ‚schönen Tage des Kaisertums‘. Die Feier endet mit ‚Deutschland, Deutschland über alles‘. Mein Zorn und Groll zog sich – wie immer – in die Magengegend.“ Ebd. Eintrag 9.1.1921, ebd. Karl Holl, Wolfram Wette (Hg.), Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, Paderborn 1981. „Daher fürchte ich infolge meiner Extremität, daß ich im Leben nie eine gute u. sichere Stellung erlange; (so daß sich dann die Vorsehung meiner Eltern bestätigen wird!! Noli sperase.) – immer heißt es: Da du nicht ganz gesund bist, wirst du einmal … – ich möchte nur wissen, was mir fehlt! Eintrag 28.1.1921, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Eintrag „Anfang März 1921“, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. John Bowlby, Frühe Bindung und kindliche Entwicklung, München 2001, sowie ders., Bindung und Verlust. Mutterliebe und kindliche Entwicklung, München u. Basel 2006. Dies nach Erzählungen der Verwandtschaft mütterlicherseits in Nidda, Gespräch mit der Autorin vom 21.10.2015. Der Tagebucheintrag Steins im Text vom 31.7.1920, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Das Zitat aus der Kapitelüberschrift nach: Friedrich Nietzsche, „Aus hohen Bergen. Nachgesang“, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, S. 757–759, hier S. 759. Erwin Stein hat diesen Aphorismus seinem Tagebuch der Jahre 1920–1921 als Motto vorangestellt. Eintrag 25.2.1921, ebd., das Zimmer sollte frisch tapeziert werden. Das Weimarer Nietzsche-Archiv war das Werk der Schwester, dazu: Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, S. 136–142; zur Rezeption Nietzsches nach der Jahrhundertwende: Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Anmerkungen 193

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Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart u. Weimar 1996, hier bes. S. 219–250. Das Zitat im Text: Eintrag vom 28.3.1920, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Über Zarathustra: Eintrag vom 29.5.1921, ebd.: „Zum zweiten Mal habe ich jetzt den Zarathustra gelesen mit wachsender Begeisterung über den Inhalt, die Gewalt der Worte und kühnen Bilder, den reinen lebensbejahenden Hauch, der aus jeder Tiefe hervorschimmert.“ Eintrag vom 30.12.1920, ebd. Dazu: Anne Chr. Nagel, Martin Rade – Theologe und Politiker des sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie, Gütersloh 1996. Ebd. Im vorletzten Satz zitiert Stein aus Zarathustra: Friedrich Nietzsche, Die Reden des Zarathustra. Von den drei Verwandlungen, in: Ders., Werke in drei Bänden. Bd. 2, München 1973, S. 293 f. Die Zitate im Text: Eintrag vom 10.1.1921, Tagebuch (1920–1921), Privatnachlaß Erwin Stein. Weiter heißt es über den Vortrag: Der Redner, ein Theologe, sucht Nietzsche abzutun mit den Worten: „er war ein irrsinniger, halb-kranker Mensch“. Seinen Vortrag schloß der Konsistorialrat, dessen Meister gelehrt hatte: „Liebet Eure Feinde!“, – nachdem er von der knechtischen Lage Deutschlands u. seiner Unschuld am Krieg gesprochen hatte –: Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, diesen gab er Säbel, Schwert u. Spieß u.s.w.“ Eintrag 25.2.1921, ebd. Original Abiturzeugnis des Lessing-Gymnasiums Frankfurt am Main, 7.3.1922, im Privatnachlaß Erwin Stein. Das Manuskript der Abschlußarbeit ist verschollen. Zur Heidelberger Universität und ihren Professoren: Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992; Wilhelm Doerr (Hg.), ‚Semper apertus‘. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität 1386– 1986. Festschrift in sechs Bänden, Berlin u. Heidelberg 1985; Dagmar Drüll-Zimmermann, Heidelberger Gelehrtenlexikon, Bd. 1: 1803–1932, Berlin, Heidelberg, New York 1986. Dies alles nach dem Abgangszeugnis der badischen Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 24.2.1923, Privatnachlaß Erwin Stein. Demnach war

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Stein vom 6. Mai 1922 bis zum 24. Februar 1923 an der Heidelberger Universität eingeschrieben. Eintrag Stein in „Das blaue Heft 1923“, 2.3.1924, ebd. Eintrag vom 30.5.1923; siehe auch den Eintrag vom 2.3.1924 in: „Das blaue Heft 1923“, Privatnachlaß Erwin Stein. Damals wie heute war der Besuch eines Repetitors im Vorfeld des ersten juristischen Staatsexamens üblich. Eintrag vom 2.3.1924, ebd. Beispielhaft der Eintrag vom 6.8.1923: „In dem heutigen arbeitsreichen Tag bleibt mir jetzt erst ein wenig Zeit geistiger Sammlung. In der Früh mit den Kühen hinaus, Klee geholt. Dann in der Augustsonne Garben gebunden und aufgestellt vor dem Essen und danach bis ½ 5 h. Den Rest bleibe ich zu Hause, um Fütter- und Reinigungsarbeiten im Stall zu erledigen: seit einer Woche fast regelmäßiger Tages- und Arbeitsabschluß. Hier in meinem Element der Erde, der Luft und der Tiere fühle ich mich eben sehr wohl. Keinerlei Schmerzen. Trotz einiger geistiger Beschäftigung keine Kopfschmerzen und sonstige Beschwerden. Keine nervöse Müdigkeit und Abspannung. Aus mir sprüht Leben und Gesundheit. Ich fühle mich äußerst wohl.“ Ebd. Zu Werner Best, der dem völkisch gesonnenen Deutschen Hochschulring angehörte: Herbert, Best, S. 84 f. Der um einige Jahre ältere Franz Rieffel scheint der „väterliche Freund“ gewesen zu sein, den sich Stein als Gymnasiast gewünscht hatte. Mehrere Photographien und einige Briefe zeugen von dem zeitweilig engen Kontakt zwischen beiden Männern. Rieffel starb 1926 in Frankfurt, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Mitteilung des Hessisches Justizministers, 24.6.1929, Privatnachlaß Erwin Stein; die Dissertation erschien im Jahr darauf: Erwin Stein, Die Geltendmachung von Mehransprüchen nach rechtskräftigem Urteil, Groß-Steinheim a. M. 1929. Zur Biographie des jüdischen Rechtsgelehrten Leo Stein: Karl Heinz Schwab, Leo Rosenberg (1879–1963), in: Stefan Grundmann/ Karl Riesenhuber (Hg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler. Eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. 1, Berlin 2007, S. 373–384. Die einzelnen Stationen bis zum 2. Staatsexamen bei Fetzer, Erwin Stein, S. 180 f. Anmerkungen 195

70 Die Schwestern Herz: Sophie (geb. 1896), Hedwig (geb. 1898), Karoline, genannt Lilly (geb. 1900) und Rosalia (1903), dies nach den Unterlagen im Privatnachlaß Erwin Stein, dort auch der Vermerk über den Eintrag einer Hypothek auf „Haus und Grabgarten“ in das Grundbuch. 71 Dies sowie die beiden vorhergehenden Zitate nach einem vierseitigen Brieffragment der Schwester Rosalia, undatiert [Januar 1928], Privatnachlaß Erwin Stein. „Dann hast Du doch noch das Haus, das muß sich doch mal verkaufen lassen […] Denn ich für meine Person verzichte darauf, solange [ich] noch gesund bin und arbeiten kann.“ 72 Die Zahl der Hochschulabsolventen soll um 1930 schätzungsweise zweibis dreimal höher gewesen sein als der Bedarf an Akademikern, dies nach: Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn, München u. a. 1995, S. 23 f. 73 Brieffragment der Schwester Rosalia, undatiert [Januar 1928], Privatnachlaß Erwin Stein, und an anderer Stelle in diesem Brief heißt es noch einmal explizit: „Lb. Hede, überlege Dir doch noch mal recht sehr, ob Du nach hier willst, raten kann ich Dir nicht, denn jeder ist seines Glückes Schmied. In Schlamerika ist alles Talmi – nur die Dollars sind echt. Und ich – an Deiner Stell’ lb. Hede – ging nicht.“ 74 Ebd., dort auch das vorhergehende Zitat im Text. Trotz der geringen Mittel ließ es sich Erwin Stein nicht nehmen, seine Braut großzügig zu beschenken: „Du Hede, was bist Du aber beschenkt worden – zu Deinem Geburtstag – und erst Erwin, der hat ja mit dem goldenen Ührchen den Rekord geschlagen, ich freue mich mit Dir. Was magst Du da erst Weihnachten bekommen haben?“ Ebd. 75 In Großen Buseck, dem Heimatdorf Heinrich Balthasar Steins, waren 1895 4,4 % der Bevölkerung Juden: Hanno Müller/Friedrich Damrath/ Andreas Schmidt, Juden im Busecker Tal, [im Selbstverlag], Buseck 2013; ähnlich in Nidda: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen – Anfang, Untergang, Neubeginn, Bd. 2, Darmstadt 1973, S. 127; zu Otto Boeckel, dem „hessischen Bauernkönig“ im Kaiserreich: Armin PfahlTraughber, Antisemitismus, Populismus und Sozialprotest. Eine Fallstudie zur Agitation von Otto Boeckel, dem ersten Antisemiten in Deutschen Reichstag, in: Aschkenas 10 (2000), S. 389–415. 76 Zur Problematik der „Mischehe“ am Beispiel Breslaus: Till van Rahden, 196  Anmerkungen

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Juden und andere Breslauer. Die Beziehung zwischen Juden Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstatdt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000, S. 141–170, das letzte Zitat im Text S. 142. Brieffragment der Schwester Rosalia, undatiert [Januar 1928], Privatnachlaß Erwin Stein; daß seine Freunde ihm abrieten, geht aus einer Ansprache Frank Buchmanns 1947 hervor, mit der er einen Vortrag Steins in Caux einführte, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Die Anstellung am Landgericht Büdingen erfolgte mit Schreiben vom 22.12.1930, dies sowie der Heiratsschein, ausgestellt vom Standesamt Offenbach, Privatnachlaß Erwin Stein. Der Verkauf des Elternhauses in Gaulsheim erfolgte am 13. Mai 1931. Den Kaufvertrag hatte Stein vorformuliert und an den Notar in Gau-Algesheim weitergeleitet. 1930 lebten ca. 140 Juden in Büdingen, die den üblichen Beschäftigungen als Kaufleute, Viehhändler, Metzger und Bäcker nachgingen. Die Zahl der Katholiken war nicht ermittelbar, Angaben nach: Meyers Großes Konversationslexikon, Band 3, 6. Aufl., Leipzig u. Wien 1907, S. 566; Meyers ­Lexikon, Band 2, 8.  Aufl., Leipzig 1937, S. 263; Germania Judaica, Band III/3, Tübingen 2003, S. 1882 f.; Zur Geschichte und Kultur der Juden in Büdingen. Erinnerung an die jüdischen Büdinger, hg. vom Büdinger Geschichtsverein e. V., Büdingen 2013. Zu dieser Übergangsphase im Leben Steins: Fetzer, Erwin Stein, S. 177, 181. Meyers Großes Konversationslexikon, Band 1, 6. Aufl., Leipzig u. Wien 1907, S. 462. Ab Juli 1931 übernahm Stein „bis auf weiteres“ auch die Aufgaben eines Strafrichters am Amtsgericht Büdingen, ebd. S. 181. Die Zahlenangaben im Text: Jürgen Dauernheim, Kurzgefaßte Geschichte Oberhessens, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen 89 (2004), hier S. 29. Das Zitat im Text: Frank-Lothar Kroll, Geschichte Hessens, 2. Auflage München 2010, S. 76. Nach sechs Monaten Haft kam Best aufgrund einer allgemeinen Amnestie wieder frei, dazu wie zu Bests Erfahrungen mit den französischen Besatzungsbehörden: Herbert, Best, S. 29–41; Wilhelm Kreutz, Französische Rheintheorie und französische Kulturpolitik im besetzten Rheinland nach Anmerkungen 197

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dem Ersten Weltkrieg, in: Tilman Koops/Martin Vogt (Hg.), Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten 1919–1930 und 1945–1949, Koblenz 1995, S. 19–37; Martin Süss, Rheinhessen unter französischer Besatzung. Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924, Stuttgart 1988. Im Herbst 1931 regierte in Berlin ein Präsidialkabinett unter Reichskanzler Heinrich Brüning, der sein politisches Programm mit Notverordnungen gemäß Artikel 48 der Weimarer Verfassung am Reichstag vorbei durchsetzte, dazu Winkler, Weimar, S. 434 f. Kroll, Geschichte Hessens, S. 77 f. Bei der Landtagswahl am 13.11.1927 hatten nur 54,7 % der Wähler ihre Stimme abgegeben. 1931 verloren die SPD 11,2 %, das Zentrum 3,4 %, während die DDP, inzwischen mit dem Jungdeutschen Orden Artur Mahrauns zur Deutschen Staatspartei verschmolzen, lediglich 1,4 % erhielten. Die Wahlergebnisse nach: Volkmar Stein, Büdingen. Ein Versuch zur Geschichte der Stadt, Büdingen 2011, S. 419–426. Leider schweigen die Quellen darüber, wie Stein die Sache sah. Für Best folgte die Suspendierung vom Dienst und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens wegen Hochverrats. Im Oktober 1932 sprach ihn das Reichsgericht frei, dazu wie generell zu den „Boxheimer Dokumenten“: Herbert, Best, S. 112–118. Schriftsatz von Erwin Stein an den Oberstaatsanwalt in Gießen, 25.7.1932, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Gustav Althen hatte die Beschwerde gegen Stein geführt und ihm damit gedroht, daß auch er „sich in bestimmt nicht mehr allzu langer Zeit zu verantworten haben [werde]. Das nur nebenbei.“ Brief von Gustav Althen an den Oberstaatsanwalt Gießen, 14.6.1932, ebd. Schriftsatz von Erwin Stein an den Oberstaatsanwalt in Gießen, 16.11.1931, ebd. Die genannten Fälle finden sich ebd. Dazu: Gotthard Jasper, Justiz und Politik in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982), H. 2, S. 167–205. Willi Luh, Zur Geschichte und Kultur der Juden in Büdingen. Erinnerung an die jüdischen Büdinger im „Heuson-Museum im Rathaus“, in: Büdinger Geschichtsblätter, Bd. 17 (2001), S. 25–242, hier S. 48 f., sowie Gisela

198  Anmerkungen

Lorenzen, Zur Lebensgeschichte des jüdischen Arztes Dr. Ludwig Mayer aus Himbach und seiner Ehefrau Johanna geborene Seibold aus Bad ­Vilbel, in: ebd., S. 283–301; siehe auch: Stein, Büdingen, S. 466–472, sowie zur jüdischen Auswanderung nach 1933: David Jünger, Jahre der Ungewißheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938, Göttingen 2016. 94 Stein bat mit Schreiben vom 17. Juli 1933 um seine Entlassung, dies nach Fetzer, Erwin Stein, S. 183. 95 Rudolf Everling (1876–1957). 96 Handschriftlicher Zusatz Erwin Steins in einem Brief von Hedwig Stein an Elisabeth Everling, 5.12.1933, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 632, HHStA Wiesbaden. Vom „Einsatz“ am Nikolaustag ist die Rede im Brief von Erwin Stein an Elisabeth Everling, 5.12.1940: „Es waren doch schöne Zeiten, wo es noch zu den Pflichten des Amtsanwalts gehörte, in dem Hause des Oberamtsrichters Nikolaus zu sein.“ 97 Brief von Hedwig Stein an Elisabeth Everling, 20.8.1933, ebd., dort auch das vorhergehende Zitat im Text. Zum 60. Geburtstag Rudolf Everlings erinnerte Stein an seine Büdinger Zeit: „Mit ganz besonderer Freude denke ich an die Tage zurück, da ich mit Ihnen gemeinsam arbeiten durfte. Dankbarkeit gegen Sie und Ihre Familie erfüllt mich, wenn ich an die schwere Zeit um 1933 denke, in der Sie uns beigestanden haben. Ich werde Ihnen diese Tat nie vergessen können.“ Brief von Erwin Stein an Rudolf Everling, 23.7.1936, ebd. 98 Angaben nach den Unterlagen im Privatnachlaß Erwin Stein. 99 Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 14, 6. Aufl. Leipzig, Wien 1908, S. 912, Artikel „Offenbach“; Otto Schlander, Eine Stadt im Wandel. Offenbach zwischen 1860 und 1900, Offenbach 1998; Hans Georg Ruppel, Geschichte der Stadt Offenbach, Gudensberg-Gleichen 2003; Alfred Kurt, Stadt und Kreis Offenbach in der Geschichte – am Main, im Rodgau und in der Dreieich, 2. Aufl., Offenbach 2008; Jutta Braun, Helene Mayer. Eine jüdische Sportlerin in Deutschland, in: Theresia Bauer/Elisabeth Kraus u. a. (Hg.): Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 85–102. 100 Zahlenangaben nach: Eike Henning, Bernd Klemm: „Offenbach war das röteste Nest der Frankfurter Umgebung“. Die Durchsetzung der NSDAP in Offenbach a. M., in: Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur DurchAnmerkungen 199

setzung der NSDAP in Hessen, hg. von Eike Henning, Frankfurt a. M. 1983, S. 298–317. 101 Das Zitat von Heinrich Galm im Text ebd., S. 310 f.; das letzte Zitat im Brief von Hedwig Stein an Elisabeth Everling, 20.8.1933, Nachlaß Erwin Stein. 102 „Bericht über die Unterrichts- und Freizeitgestaltung in einem Arbeitslager des Rheinisch-Westfälischen Ruhrkohlengebiets. Von Gewerbelehrer Wilhelm L. Stein, Gladbeck/Offenbach (M)“, undatiert [Januar 1933], Privatnachlaß Erwin Stein. Zum zeithistorischen Hintergrund: Peter Dudek, ­Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und Freiwilliger Arbeitsdienst 1920–1935, Opladen 1988; Kiran Klaus Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003. 103 Vortragsmanuskript, ohne Titel, unterschrieben und datiert mit

„W. L. S. 12.4.1933“, Privatnachlaß Erwin Stein. Die Rede endet mit einer Strophe eines alten Fahrtenliedes „Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’ / Und die alten Lieder singen / Und die Wälder wiederklingen / Fühlen wir – es muß gelingen / Mit uns zieht die neue Zeit“. 104 Ein Kollege aus Ortenberg sandte ihm Bericht und Rede des Bruders mit dem Bemerken zurück: „Im übrigen habe ich das Gefühl, dass Sie selbst der Verfasser der Schreiben hätten sein können, weil so viele Redewendungen und Satzformen von Ihnen drin zu finden sind. Entweder gleicht Ihr Bruder geistig haarscharf Ihrem Habitus oder Sie sind der Regisseur gewesen. Erfreulich ist auf jeden Fall die Abkehr von der schulmeisterlichen Lehre der Wissenschaften.“ Brief an Erwin Stein, 13.5.1933, ebd. 105 Von Wilhelm Balthasar Stein als zeitweisem Kanzleisekretär hat Erwin Stein gegenüber Frau Ueck gesprochen, der ich für diesen Hinweis danke. Mit Kanzleibeginn am 17.7.1933 wurde ein Kassenbuch angelegt und bis 1945 akribisch genau geführt. Darin sind die aufgewendeten Kosten für eine „gebrauchte Schreibmaschine mit Filzplatte für 77,– RM“, „gebrauchte Regale“ und anderes mehr verzeichnet. Auch die Zulassung als Rechtsanwalt kostete mehrere hundert Mark. Der Vater half bis November 1934 regelmäßig mit Beträgen zwischen 20 und 100 Mark aus, Kassa-Buch, 17. Juli 1933–30. April 1936, Privatnachlaß Erwin Stein. 106 Beispielsweise gab das Paar im Oktober 1936 130, Mark für die Haushaltsführung aus; im Dezember dieses Jahres gönnte es sich über Silvester einen 200  Anmerkungen

Kurzurlaub in Titisee für 300 Mark; 1942 ist eine „Reise und Erholung (28.8.–3.9.42) 105,– M.“ vermerkt; eine Flasche Moselwein kostete in den 1930er Jahren 1,10  M inklusive Verpackung; im Juni 1939 wird ein „Dirndl-Kleid für Hedwig, 22,50 M“ gekauft, alle Angaben nach den Kontoführungsbüchern im Privatnachlaß Erwin Stein. 107 Klaus Werner, Juden in Offenbach am Main 1918–1945, Phil. Diss. Frankfurt 1991; Zur Geschichte der Juden in Offenbach am Main, Bd. 3: Werden und Vergehen, Aufstieg, Buchdruck, Friedhöfe, Erinnerungen, hg. vom Magistrat der Stadt Offenbach 2001. 108 Unter seinen Klienten befanden sich der Lederfabrikant Max Oppenheim, der Arzt Dr. Richard Bär, der Kaufmann Salomon Goldschmidt sowie viele weitere jüdische Offenbacher, die zwischen 1934 und 1939 die Stadt verließen und ins Ausland emigrierten – dies alles nach den Unterlagen (Kontobücher) im Privatnachlaß Erwin Stein. 109 Plädoyer im Fall Frech, ohne Datum [nach 1941], ohne Überschrift, maschinenschriftlicher Durchschlag, Privatnachlaß Erwin Stein. Näheres war über diesen Fall nicht herauszufinden. 110 Die Stellungnahme des Landgerichtspräsidenten Darmstadt datiert auf den 19.5.1944, G 21 B, Nr. 3249, PA Dr. Erwin Stein, HStA. Darmstadt. 111 Nach dem Reichsbürgergesetz vom September 1935 galt Hedwig Stein als „Volljüdin“, Reichsgesetzblatt 1935, T. 1, S. 1146, sowie Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz, 14.11.1935, ebd., S. 1334. 112 Frankfurter Zeitung, 6. und 7.9.1935, Ausschnitte aus dem Privatnachlaß Erwin Stein. Briefkarte von Hedwig Stein an Elisabeth Everling, 23.11.1939, ebd. 113 Nach den nationalsozialistischen Kriterien lebten das Ehepaar Stein in „privilegierter“ Mischehe, wonach es gewisse Ausnahmeregelungen von der Judengesetzgebung für Hedwig Stein gab. So mußte sie beispielsweise nicht den im September 1941 verordneten „Judenstern“ tragen. Zur schwierigen Situation der „Mischehen“: Ursula Büttner, Die Not der Juden teilen. Christlich-jüdische Familien im Dritten Reich, Hamburg 1988. ­Lilly Herz wurde mit monatlichen Überweisungen von 30,–, mal mit 25,– Mark unterstützt; die Verwandten in Berlin besuchte Hedwig gelegentlich persönlich, so im Juni 1940. Hierfür vermerkte Stein in seinem Kontobuch Ausgaben in Höhe von 150 M., Privatnachlaß Erwin Stein. Anmerkungen 201

114 Brief von Lilly Herz an „Kindelches“ [Lulu, eine Bekannte], 11.7.1943, Privatnachlaß Erwin Stein. Es handelt sich um ein eindrückliches von Hand, mit Bleistift auf zwei herausgerissenen Doppelseiten DIN A 5 geschriebenes Dokument. Den Lagerinsassen war ein Brief im Monat offiziell erlaubt; darüber hinaus gab es aber, wie Lilly schreibt, auch inoffizielle Wege, Nachrichten aus dem Lager zu schmuggeln. 115 Brief von Erwin Stein an Fam. Everling, 24.4.1943, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, HHStA Wiesbaden. Die Vorladung der Gestapo an „Hedwig Sara Stein“, 24.3.1943, Privatnachlaß Erwin Stein. Über die euphemistisch „Wohnsitzverlegung“ genannten Deportationen während des Krieges eindrücklich Werner, Juden, S. 480 ff. Im Februar 1941 lebten noch 280 Juden in Offenbach, im Herbst 1942 und im Frühjahr 1943 fanden die letzten Transporte nach dem Osten statt, zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz. „Im Laufe des Jahres 1943 war Offenbach in der grausamen Sprache der Nationalsozialisten ‚judenrein‘“, so Ruppel/Schlander (Hg.), Offenbach, S. 37. 116 Dazu ohne Quellenangaben Fetzer, Erwin Stein, S. 185 f. Im Brief von Erwin Stein an Lilly Herz, 25.8.1943 [masch. Abschrift], Privatnachlaß Erwin Stein, teilt er seiner Schwägerin den Tod der Schwester mit, ohne näher auf die Einzelheiten einzugehen. Er erinnerte sie aber an einen Tag im Vorjahr, an dem es offenbar schon einmal zu dramatischen Szenen gekommen war: „Noch viel könnte ich Dir schreiben, aber immer reisse ich die Wunde von neuem nur auf. Wenn ich Dir eins sagen darf, dann denke nur an den 21.3.42 und Du weißt alles. Es war ganz genau so. Und das ist genug.“ Stein wiederholt diesen Hinweis im Brief an Lilly Herz vom 14.9.1943 [masch. Abschrift], ebd.: „L[iebe] L[illy] denk nur immer an den 21.3.42: es war ganz genau so. Mehr brauche ich Dir wohl nicht zu sagen.“, ebd. 117 Weiter heißt es in dem Brief: „Der Schritt, den unsere H. getan hat, war nicht mehr aufzuhalten. Du kannst das vielleicht nicht so nachfühlen, da Du das ganze letzte Jahr abgeschlossen von der Welt gelebt hast. Sie hätte auch so gehandelt, wenn sie Dich noch am Leben gewusst hätte.“ Ebd. 118 Ebd. In einem Nachtrag zu diesem Brief heißt es am 15. 9.: „Heute Nachmittag war ich wieder an unserer H.s Grab. Ich habe ihr alle Deine Worte gesagt und Deine Grüsse ausgerichtet. Ich habe Zwiesprache mit ihr gehalten und es war mir, als gäbe sie mir Antwort, gute Antwort.“ 202  Anmerkungen

119 Brief von Erwin Stein an Lilly Herz, 14.9.1943, ebd. Im Nachtrag vom 15.9. hieß es: „Die sog. Freiheit, von der Du schreibst, bedeutet nicht viel. Dieses lange gemeinsame Leben kann man eben nicht vergessen.“ Lilly Herz kam an einem unbekannten Datum 1943 oder 1944 in Polen ums Leben. 120 „Morgen hat unser Oberfeldwebel Geburtstag, da haben wir auch wieder Geschenke zu machen. Ich dekoriere den Geburtstagstisch und hole die Blumen. Dabei bin ich ja nicht unerfahren.“ Stein kochte abends für sich und seinen Kameraden Engel das Abendessen (oft Bratkartoffeln und Tomatensalat), deckte den Tisch und rief zum Essen; auch verteilte er unter den Soldaten die Essensrationen; dies nach seinem Bericht an die Eltern: Feldpostbrief von Erwin Stein an Wilhelm Stein, 20.8.1944, ebd. 121 Gewiß war das „Kriegsverdienstkreuz“ kein mit dem „Ritterkreuz“ vergleichbarer Orden, sondern gehörte zu den massenhaft verliehenen Auszeichnungen im Zweiten Weltkrieg. Steins militärischer „Aufstieg“ schlug sich im Absender seiner Feldpost nieder, der erst mit „Soldat Erwin Stein“, dann „Obersoldat Erwin Stein“, schließlich mit „Gefreiter Erwin Stein“ stets korrekt angegeben wurde. – Das erste Zitat im Text stammt aus einem Brief von Erwin Stein an Familie Everling, 21.5.1944, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, HHStA Wiesbaden, das darauf folgende aus einem Brief von Erwin Stein an Familie Everling, 7.2.1945, ebd. 122 Feldpostbrief von Erwin Stein an Wilhelm Stein, 14.9.1944, Privatnachlaß Erwin Stein. 123 Die Zitate in diesem Absatz aus dem Feldpostbrief von Erwin Stein an Wilhelm Stein, 15.4.1945, ebd. Von der Zerstörung seiner Wohnung erfuhr Stein durch einen Brief seiner Eltern, auf den er mit Feldpost vom 2.1.1945 reagierte, ebd. Auch den Everlings teilte er die materiellen Verluste mit: „Von den Möbeln ist überhaupt nichts mehr vorhanden. Alle sind in kleinste Teile zersplittert. Nur etwas Wäsche, Küchengeschirr und einige sehr beschädigte durchlöcherte Anzüge konnten aus dem Schutt gezogen werden […]“. Feldpostbrief von Erwin Stein an Rudolf Everling, 7.2.1945, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, HHStA Wiesbaden. 124 Dies nach dem Eintrag in den Kassenbüchern, ab Mitte 1936 zahlte er 1,50 RM, hinzu kamen gelegentliche Spenden in Höhe von 5 bis 10 RM, Privatnachlaß Erwin Stein. Anmerkungen 203

125 Zur Entstehung Groß-Hessens, das mit der Volksabstimmung über die Verfassung am 1.12.1946 nur noch „Hessen“ hieß und sich wesentlich aus dem ehemaligen „Volksstaat Hessen“ sowie der preußischen Provinz Hessen-Nassau zusammensetzte, siehe: Böhme/Mühlhausen (Hg.), Hessische Streiflichter, S. 49–67; allgemein zur Lage Nachkriegsdeutschlands in der „Stunde Null“: Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 549–595. 126 Feldpostbrief von Erwin Stein an die Eltern, 2.1.1945, Privatnachlaß Erwin Stein. Der Vater sollte außerdem Anweisung geben, daß keine Miete mehr bezahlt und „auch kein Radiogeld mehr abgebucht“ werde. In Finanzdingen verfuhr Stein zeitlebens nach der Devise, daß nüchtern zu denken sei, „wenn es ums Geld geht“, so im Brief an eine Verwandte, Johanna Trebes, 23.2.1968. Stein hatte im Krieg einen Teil seiner Sachen zu Studien­rat Fecher ausgelagert, darunter ein Christusbild (Öl auf Holz) aus dem 16. Jahrhundert. Später beschlagnahmten die Amerikaner das Haus, und das Bild ging verloren. Auf Antrag erhielt er eine Entschädigung. 127 Aussage Steins auf einer Veranstaltung der Volkshochschule Offenbach 1980 „Der politische Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg“: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 341, HHStA Wiesbaden. Möglicherweise stand Stein auf der „Weißen Liste“ von politisch unbelasteten Deutschen, auf deren Grundlage die Amerikaner den demokratischen Neuaufbau begannen, dazu Rüschenschmidt, Gründung und erste Jahre, S. 14. 128 Die Offenbacher Volkshochschule war von dem Buchhändler Gerhard Ausleger und dem Rechtsanwalt Karl Kanka, einem Parteifreund Steins, gegründet worden. Steins Veranstaltung fand über sechs Wochen jeden Dienstagabend von 19 Uhr bis 21 Uhr statt. Im Sommersemester 1945 hielt er einen weiteren Kurs „Grundzüge der Rechtsordnung. Eine allgemeine Einführung“, dies nach dem Programm der Volkshochschule 1945/46 in: Stadtarchiv Offenbach, Akte 336–6. Stein beteiligte sich auch an den „städtischen Verwaltungskursen der Stadt Offenbach“, in deren Rahmen er am 3.11.1946 einen Vortrag „Der öffentliche Bedienstete im demokratischen Staat“ hielt, ein Sonderdruck befindet sich in der privaten Bibliothek von Erwin Stein in Annerod. 129 Zum Kontext dieses Satzes, der dem Titel einer politischen Broschüre des Jahres 1947 entnommen worden ist, siehe unten S. 127 ff. 204  Anmerkungen

130 Ein Portrait Karl Geilers gibt Mühlhausen, Karl Geiler und Christian Stock, S. 22–81, zur Regierungskrise infolge des sozialdemokratischen Wahlsiegs bei den Kommunalwahlen ebd., S. 43–46; das Zitat im Text stammt von Franz Böhm, hier zitiert nach Traugott Roser, Protestantismus und soziale Marktwirtschaft. Eine Studie am Beispiel Franz Böhms, Münster 1998, S. 137, dort auch ausführlich zum politischen Hintergrund der Regierungskrise. 131 Dazu Rüschenschmid, Gründung und erste Jahre, S. 15 ff. 132 Die Mitgliedskarte Steins mit der Nr. 61 des CDU-Ortsverbands Offenbach-Stadt wie weitere Mitgliedsausweise im Privatnachlaß Erwin Stein; das Zitat im Text nach einer Aussage Steins auf einer Veranstaltung der VHS Offenbach 1980, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 341, HHStA Wiesbaden. 133 Die beiden Zitate im Text ebd. 134 Die Zitate im Text aus: Erwin Stein, „Meine verehrten Mitbürger! Liebe Gesinnungsfreunde!“. Wahlkampfrede zur Wahl der Offenbacher Stadtverordneten im Mai 1946, Privatnachlaß Erwin Stein. 135 In den Weimarer Jahren entstand etliches an kritischen Schriften über die Moderne, von denen vieles nach 1945 wieder aufgegriffen wurde; Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, Wien 1918, Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München 1922. Die Werke sind in der privaten Bibliothek Steins nachweisbar und dürften von ihm eingehend studiert worden sein. 136 Zu Steins religiöser Krise oben Kap. 1, S. 29 ff. 137 Leopold Ziegler, Gestaltwandel der Götter, Berlin 1920, 3. Aufl. Darmstadt 1922: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 138 Thomas Seng, Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der Otto Reichl Verlag 1909–1954, St. Goar 1994, S. 244; Leopold Ziegler 30.4.1881– 25.11.1958. Leben und Werk in Dokumenten, bearb. von Gerhard Stamm, Friedbert Holz u. Helmut Schröder, o. O., o. J., [Typuskript der Ausstellung in der Badischen Landesbibliothek], S. 144, dort auch ein Tagebucheintrag Zieglers vom 12.12.1920: „Unvergeßlicher dritter Advent! Nietzsche-Preis 1920!“.

Anmerkungen 205

139 Zu Inhalt und Rezeption von Zieglers frühem Hauptwerk: Marc Jongen, Leopold Zieglers „Gestaltwandel der Götter“. Vorwort zur Neuauflage, in: Leopold Ziegler, Gestaltwandel der Götter. Mit einem Vorwort von Marc Jongen, Würzburg 2002; Biographisches enthält: Timo Kölling, Leopold Ziegler. Eine Schlüsselfigur im Umkreis des Denkens von Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, Würzburg 2009; ders., Leopold Ziegler, Philosoph der letzten Dinge. Eine Werkgeschichte 1901–1958, Würzburg 2016. 140 So Leopold Ziegler über die beiden Zusammenkünfte des Bundes im Hause Schäfer, Brief von Schäfer an Ziegler, 20.11.1919, zitiert nach: Leopold Ziegler, Briefe und Dokumente, S. 86 f. Mit von der Partie waren der Marburger Philosoph Paul Natorp, der Journalist Hermann Herrigel, der Rechtshistoriker Franz Beyerle, der Schriftsteller Alfons Paquet, die Dichter Emil Strauß und Paul Ernst. Ziegler hielt die Zielvorstellung selbst für ein wenig verstiegen und jedenfalls nicht für im Handumdrehen erreichbar: „Wenn wir nicht fest entschlossen sind, gerade die Gemeinschaft des Wollens und Handelns als die große und fast übermenschliche Aufgabe unseres Bundes aufzufassen, dann freilich können wir von vornherein quittieren. Der Geist gibt nichts, schenkt nichts, offenbart nichts.“ Ebd., S. 87. 141 Brief von Ziegler an Wilhelm Schäfer, 15.9.1919, ebd., S. 84 f. 142 Paul Ernst hatte bei Ziegler im Vorfeld der Preisvergabe angefragt, ob dieser etwas für ihn tun könne, worauf Ziegler antwortete: „Es scheint der besondere Wunsch Dr. Landmanns, des Oberbürgermeisters, eines Juden, daß Freud auf diese skurrile Weise mit dem Namen Goethes verbunden wird, – Hochzeit der weißen Lilie mit dem roten Leun: wahrhaftig … Diese Zeiten sind nicht leicht zu nehmen, nur wenige Menschen oder Begebenheiten können einen trösten.“ Brief von Leopold Ziegler an Paul Ernst, 4.8.1930, ebd., S. 172. 143 Dazu Ulrich Sieg, der dies am Beispiel von Martin Heidegger aufgezeigt hat: „Die Verjudung des deutschen Geistes“, in: DIE ZEIT Nr. 52, 1989, S. 50; Ziegler korrespondierte mit Jonas Cohn und Theodor Lessing, auszugsweise abgedruckt in: ebd., S. 13–41, S. 282–288. Im scheinbaren Widerspruch steht auch sein Briefwechsel mit Walther Rathenau 1914–1922 ebenso wie seine Freundschaft mit Kurt Hahn, dies nach: Martha Schneider-Faßbaender, Leopold Ziegler. Leben und Werk, Pfullingen 1978, 206  Anmerkungen

S. 61–65, 126–132, die, S. 41, verharmlosend von „antisemitischen Anzeichen“ beim jungen Ziegler berichtet. 144 Leopold Ziegler, Der Geistige im Volksstaat. Drei Zeugnisse, in: Deutsches Volkstum 12 (1930), S. 784, hier zitiert nach: Leopold Ziegler 30.4.1881– 25.11.1958, S. 107. Ziegler besaß ein Exemplar des Hauptwerks von Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, Berlin 1930. Eine Fülle von Anstreichungen zeugt von seiner intensiven Auseinandersetzung mit diesem Buch, das sich heute in der Bibliothek Erwin Steins befindet. Nach dem Krieg verfaßte er eine Gedenkschrift für den 1934 von den Nationalsozialisten ermordeten Jung: Leopold Ziegler, Edgar Julius Jung. Denkmal und Vermächtnis, Salzburg 1955. Ein Exemplar mit handschriftlicher Widmung befindet sich in der Bibliothek Steins. 145 Leopold Ziegler, Überlieferung, Leipzig 1936; ders., Apollons letzte Epiphanie, Leipzig 1937. Die zwei Bände „Menschwerdung“ erschienen Olten 1948. 146 Leopold Ziegler, Menschwerdung, Olten 1948. Darin legt Ziegler die sieben Bitten des Vaterunsers aus. Zur Verbindung Ziegler-Jung: Martha SchneiderFaßbaender, Leopold Ziegler. Leben und Werk, Pfullingen 1978, S. 150 f. 147 So eine Formulierung Steins in einem Vortrag über Leopold Ziegler, o. O., o. J. im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 80c, HHStA Wiesbaden. 148 1940 schloß Stein eine kleine theologische Abhandlung ab „Die Seligpreisungen. Versuch einer Erklärung“, Offenbach 1940 [ungedr. Typoskript], Privatnachlaß Erwin Stein, dort auch Notizen und Exzerpte aus der dafür konsultierten Literatur. Nach dem Tod Zieglers 1958 gründete Stein die Leopold-Ziegler-Stiftung. 149 Ebd. Außer dieser Rede haben sich weitere Manuskripte aus dem Kommunalwahlkampf 1946 erhalten: Rede im Anschluß an den Vortrag von Werner Hilpert; Einführende Rede für Maria Sevenich; Einführende Rede für Erich Köhler. 150 Die beiden Zitate im Text bei Erwin Stein „Der politische Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg“: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 341, HHStA Wiesbaden. 151 Dazu: Knapp, Erinnerungen an Dr. Karl Kanka, S. 8. 152 „Es gibt bewegende Briefe des nach den USA ausgewanderten Dr. Guggenheim an Dr. Kanka und andere Korrespondenzpartner, in denen er Anmerkungen 207

Dr. Kanka, der in der Nazizeit Kommunisten und Juden anwaltlich vertreten hatte und schon 1935 wieder aus der SA ausgetreten war, einwandfreies und mutiges Verhalten attestiert.“ Ebd., S. 8. 153 Der Antrag Steins datiert auf den 8.8.1946, die Einweihung der Tafel in Offenbach fand am 23.4.1950 mit einer Ansprache des Kultusministers Stein statt: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, Nr. 87 A, HHStA Wiesbaden. 154 Zu Steins mangelnder Verankerung in der CDU: Walter Mühlhausen, Erwin Stein als hessischer Nachkriegspolitiker (1945–1951), in: Andreas Hedwig/Gerhard Menk (Hg.), Erwin Stein, S. 24 f. 155 Zum „Vorbereitenden Verfassungsausschuß“ ausführlich: Will, Entstehung, S. 43–140; dem Ausschuß gehörten neben den führenden Vertretern der politischen Parteien der Staatsrechtler Walter Jellinek und der Historiker Karl Vossler an, ebd., S. 46 f., zur „Fragebogenaktion“ S. 64–74; eine Liste der befragten Verbände und Personen enthält Dokument  5 in Berding (Hg.), Entstehung, S. 20 f., die Denkschrift Steins datiert auf den 2. Mai 1946 und ist auszugsweise abgedruckt in: ebd., S. 78–91. Nachfolgend wird nach einem vollständigen, 18 Seiten umfassenden Typoskript „Gedanken zur künftigen Verfassung. Offenbach, 2. Mai 1946“, im Privatnachlaß Erwin Stein zitiert. 156 Ebd., S. 1. 157 Ebd., S. 78. Vermutlich bezog sich Stein auf Joseph de Maistres „Versuch über Ursprung und Wachsthum der politischen Constitutionen und anderer menschlicher Einrichtungen“; in der Naumburger Ausgabe von 1822, S. 17 heißt es: „Eine der größten Verirrungen dieses Jahrhunderts […] war die Meinung, daß die politische Verfassung geschrieben und a priori geschaffen werden könnte“. Das Zitat des Aristoteles findet sich im vierten Buch seiner „Politik“, in der Stuttgart 1860 erschienenen Fassung, S. 224. 158 Stein, Gedanken, S. 1 f. 159 Ebd., S. 3. 160 Ebd., S. 4. 161 Ebd. 162 Ebd., S. 5 163 Ebd.

208  Anmerkungen

164 Stein, Gedanken, S. 6, dort auch das Zitat von Constantin Frantz, das aus dessen Schrift „Das neue Deutschland, Leipzig 1871“ stammt; Dreyer, Föderalismus, S. 412–476, das Zitat im Text S. 422. 165 Stein, Gedanken, S. 5–7, das Zitat im Text S. 5. 166 Ebd., S. 8. 167 Ebd., S. 8–10. 168 Ebd., S. 10. 169 Ebd., 11. 170 Ebd., S. 12: „Keine Partei erhält Abgeordnetensitze, die nicht einen bestimmten Prozentsatz aller Stimmen auf sich vereinigt hat.“ 171 Ebd., S. 13 f. 172 Ebd., S. 14 f. 173 Ebd., S. 16. 174 Ebd. 175 Ebd., S. 16 f. 176 Ebd., S. 17. Die hessische Verfassung erhielt gleichwohl einen „voll ausgebildeten Grundrechtskatalog“, wie Friedrich von Zezschwitz, Die Entstehung der Hessischen Verfassung als Ausdruck des gesellschaftlichen Umbruchs nach 1945, in: Hessen. Verfassung und Politik, hg. von Bernd Heidenreich und Klaus Böhme, Stuttgart u. a. 1997, S. 317–343, hier S. 330 betont. 177 Zum Vergleich der Steinschen Denkschrift mit anderen Einsendungen: Berding (Hg.), Entstehung, S. 48–78, 92–173. Zu ihrer Einordnung in den Zeitkontext: Ders., Erwin Stein und die hessische Verfassung, in: Andreas Hedwig/Gerhard Menk (Hg.), Erwin Stein, S. 103–113, sowie Ders., Tradition und Neuanfang. Die Verfassung des Bundeslandes Hessen. Vom „Groß-Hessen“ der Proklamation Nr. 2 (19. September 1945) bis zum Bundesland Hessen (24. Mai 1949), in: Hessen. Verfassung und Politik, hg. von Bernd Heidenreich und Klaus Böhme, Stuttgart u. a. 1997, S. 274– 316. 178 Auf der Feier zum 20. Jahrestag der Hessischen Verfassung am 1.12.1966 hielt Stein die Festansprache „20 Jahre Hessische Verfassung“, Ms. im Privatnachlaß Erwin Stein. 179 Ebd.

Anmerkungen 209

180 Zu den so zähen wie kontroversen Debatten im Verfassungsausschuß: Will, Entstehung, S. 267–510, der die Wortführerschaft Steins in den extrem umkämpften Abschnitten Kirche und Schule hervorhebt, S. 432. Zur Bedeutung des „Vollradser Entwurfs“, ebd., S. 449–452. 181 Von Zezschwitz, Entstehung, S. 328, hält es freilich für eine offene Frage, ob die Zustimmung der CDU zum Kompromiß nicht mit der Zusage der SPD zu einer Großen Koalition in der ersten Legislaturperiode erkauft worden sei. 182 So Berding, Erwin Stein, S. 108. 183 Georg August Zinn/Erwin Stein u. a.: Die Verfassung des Landes Hessen. Kommentar, I. Bd., Bad Homburg, Berlin 1954; Erwin Stein, Die Staatszielbestimmung der Hessischen Verfassung, in: Ders. (Hg.): 30 Jahre Hessische Verfassung 1946–1976, Wiesbaden 1976, S. 183–203. Zu Steins Rolle in den schwierigen Debatten um das Schulsystem Will, Entstehung, S. 384 f. 184 Brief von Rosalia Herz an Erwin Stein, 19.7.1946, Privatnachlaß Erwin Stein. Rosalia hatte inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen und sich in den Dienst des Landes gestellt, indem sie nach Kriegsende „British Brides“ der in England stationierten amerikanischen Soldaten in die Neue Welt begleitete. Außerdem versuchte sie nach Kräften, entfernteren Verwandten und Freunden mit Lebensmitteln und anderen Dingen unter die Arme zu greifen. 185 Zur Nachkriegszeit als Zeit der großen Depression wie der des Um- und Aufbruchs: Herbert, Geschichte, S. 549–619. Die genauen Umstände konnten nicht geklärt werden. Das Folgende resultiert aus den Unterlagen im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, HHStA Wiesbaden sowie im Privatnachlaß Erwin Stein. 186 Dies nach den Unterlagen im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden: Briefe von Lotte Lena Putscher an ihre Eltern, 14.12.1945, 12.1.1946; Empfehlung von Dr. Armin Tschermak-Seysenegg mit einem Lebenslauf Prigges; Antrag Lotte Lena Prigge auf Erlangung der tschechischen Staatsbürgerschaft, 2.9.1945; Meldebescheinigung in Sandförde und dem Übergangslager Eisenach; Brief von Karl Thums an Lotte Lena Prigge, 11.9.1946, mit Informationen über den Verbleib gemeinsamer Freunde. 210  Anmerkungen

187 Wie es zu dieser Bekanntschaft kam, konnte nicht ermittelt werden. Mit einer Briefkarte datiert auf den 27.12.1946 bedankte sich Lotte Lena ­Prigge für die bei den Brills verbrachten Weihnachtstage, Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 57a, BA Koblenz. 188 Brief von Lotte Lena Prigge an ihre Eltern, 12.1.1946, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, HHStA Wiesbaden: „Von Dr. Kranz weiß ich nichts. Gebe Gott, daß er noch lebt. Er hat mir in der schweren Zeit nach Willis Tod unendlich viel gegeben und ich habe geglaubt, wir beide würden unser Leben gemeinsam gehen. Vielleicht wird es noch, wenn er noch lebt. Ich bete, bete und weine mich manchesmal abends in den Schlaf.“ 189 Die Heiratsurkunde befindet sich im Privatnachlaß Erwin Stein. 190 Auch gegenüber seiner zweiten Frau war Erwin Stein mit Ausgaben für Kleidung und Luxusgütern großzügig, wie die im Nachlaß enthaltenen Rechnungen für Pelzmäntel und sonstige Kleidung zeigen: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 191 Eine Kopie dieses und eines weiteren Redetextes „Die Frau in der Politik“ von Lotte Lena Stein: ebd., Nr. 637. 192 So verfaßte er im Vorfeld der Landtagswahlen 1946 einen Redeentwurf für die CDU-Frauen, in dem er einerseits Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt sehen wollte, andererseits aber für die Berufsausbildung der Frau eintrat, „damit sie nicht in Versuchung kommt, eine sittlich wertlose Versorgungsehe einzugehen“, Entwurf „Meine lieben Wählerinnen und Wähler, liebe Parteifreunde“, 1946, Privatnachlaß Erwin Stein. 193 „Als Tourist nach Moskau und Leningrad. Ein Bericht von Charlotte Stein“, Sonntagspost, 20. Juni 1965. Sie war mit einer Gruppe von Akademikern gereist. Der Artikel erschien in vier jeweils eine ganze Zeitungsseite umfassenden Teilen. Stein berichtet sehr sachlich und betont wiederholt, von den sowjetischen Behörden nicht besonders überwacht worden zu sein; Rede von Lotte Stein „Die politische Verantwortung der Frau“, vor Unionsfrauen 1961; „Die Frau in der Politik“, jeweils ebd. 194 Eine Liste mit den verzeichneten Möbelstücken befindet sich im Privatnachlaß Erwin Stein. 1948 wurde ein Teil davon zurückgegeben, weitere im Jahr 1987.

Anmerkungen 211

195 Brief von Karl Kanka an Erwin Stein, 12.10.1950, ebd., dort auch ein Schreiben des Stadtkämmerers mit Angaben zu Kauf und Finanzierung des Hauses; ein Schreiben des Offenbacher Magistrats über die künftige Verwendung der Kaiserstraße 115 und eine zu treffende finanzielle Einigung, Bescheinigung des städtischen Wohnungsamts vom 10.12.1950, daß die Blumenstraße 8 der Familie Stein überlassen werde. 196 Brief von Erwin Stein an Adolf Gebhardt, 16.10.1950, ebd. „Aufgrund der Vorkommnisse, die sich am letzten Wochenende abgespielt haben und für die Herr Dr. Kanka allein verantwortlich zu machen ist, bin ich nicht mehr in der Lage, an irgendwelchen Veranstaltungen der CDU in Offenbach teilzunehmen.“ Abschließend bat er um die Überstellung seiner Mitgliedschaft an den CDU-Ortsverein Wiesbaden. Auf den Brief Kankas rief Stein den alten Parteifreund an und bestritt alle Vorwürfe, handschriftliche Telefonnotiz, 14.10.1950, ebd. 197 Das Zitat im Brief von Siegfried Guggenheim an Karl Kanka, 7.3.1947, ist teilweise abgedruckt in: Jörg Füllgrabe, „Ich fühle mich so deutsch wie früher“ – Die Briefe Dr. Siegfried Guggenheims an Dr. Karl Kanka 1947– 1960, in: Zur Geschichte der Juden in Offenbach am Main, Bd. 3: Werden und Vergehen, hg. vom Magistrat der Stadt Offenbach, Offenbach 2001, S. 128–150. Ich danke Herrn Prof. Dr. Klaus Werner, Oberhausen, für eine Kopie des Briefes. Dem Schreiben an Adolf Gebhardt legte Stein eine Liste seiner Vorträge und Publikationen bei, Brief von Erwin Stein an Adolf Gebhardt, 16. Oktober 1950, Privatnachlaß Erwin Stein. Daß Stein kein gewöhnlicher Parteipolitiker gewesen sei, betont auch: Mühlhausen, Erwin Stein als hessischer Nachkriegspolitiker, S. 24. 198 Zur Regierungsbildung konzis: Mühlhausen, Karl Geiler und Christian Stock, S. 101 ff. 199 Dazu Ders., Erwin Stein als hessischer Nachkriegspolitiker, S. 29 f., dort wird ein Tagebucheintrag von Ludwig Bergsträsser zitiert, wonach Heinrich von Brentano sich für die Berücksichtigung von Protestanten bei der Ämtervergabe ausgesprochen habe. 200 Mühlhausen, ebd., S. 30, zitiert aus dem Sitzungsprotokoll des CDU-­ Landesvorstands mit der CDU-Fraktion vom 12.12.1946, in dem es heißt, daß die Regierungsbeteiligung vom Erhalt dieses Ressorts abhängig ­gemacht werde. Das Protestschreiben der Direktoren datiert auf den 212  Anmerkungen

7.1.1947: Stein sei kein Fachmann, er könne bestenfalls organisieren. Sie hielten den Vorgänger Schramm für geeigneter, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 201 Das Zitat im Text stammt aus einem vertraulichen Brief von Erwin Stein an Heinrich von Brentano, 9.2.1950, ebd. 202 Die Ministeriumsgeschichte folgt den Angaben im Findbuch des Bestands 504 von Peter Haberkorn, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. 203 So Notker Hammerstein, Erwin Stein als Bildungspolitiker, in: Erwin Stein (1903–1992). Politisches Wirken und Ideale eines hessischen Nachkriegspolitikers, hg. von Andreas Hedwig und Gerhard Menk, Marburg 2004, S. 173–187. Das folgende Zitat im Text aus einem Brief Erwin Steins an Heinrich von Brentano, 9.2.1950, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 204 Die Angaben zu Willy Viehweg nach einer im Nachlaß Erwin Stein abgelegten Teilpersonalakte, N 1178, Nr. 518, HHStA Wiesbaden, wonach Viehweg seit dem 24.6.1946 als Ministerialdirektor tätig war. 205 Zitiert nach James T. Tent, Mission on the Rhine: „Reeducation“ and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago 1982, S. 175. Über Viehwegs Fähigkeiten heißt es: „He has a profound grasp of the youth problem in Germany, of the german school system’s reflecting sociological changes, and of highly technical German school matters. He has the complete admiration and confidence of every member of the staff in the Ministry of Education. He is industrious to the point of ruining his own health.“ 206 Der Ministerialdirektor gab seine Auffassung später auch einer größeren Öffentlichkeit zur Kenntnis: Willy Viehweg, Die Schule als Funktion der Gesellschaft, Darmstadt 1949. 207 Dazu umfassend: Patricia Fedler, Anfänge der staatlichen Schulpolitik in Hessen nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1955). Schule, Erwachsenenbildung, Kunst und Theater im Spannungsfeld zwischen amerikanischer Reeducationpolitik und deutscher Kulturtradition, Wiesbaden 1993. 208 Johann Zilien, Der Schulpolitiker, in: Erwin Stein (1903–1992). Politisches Wirken und Ideale eines hessischen Nachkriegspolitikers, hg. von Andreas Hedwig und Gerhard Menk, Marburg 2004, S. 143–157. Die Zook-Kommission unter George Frederick Zook (1885–1951) war insgeAnmerkungen 213

samt vier Wochen im amerikanisch besetzten Gebiet unterwegs. Der am 20.9.1946 vorgelegte Bericht wurde im Oktober unter dem Titel „Der gegenwärtige Stand der Erziehung in Deutschland“ veröffentlicht. 209 Die Zahl der deutschen Mitarbeiter in der Education and Religious Affairs Division stieg von 1946 bis 1948 von sieben auf vierzig, dies nach: ­OMGUS Handbuch, Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945–1949, hg. von Christoph Walz, München 1994, S. 368–372, hier S. 371; zu Clay: Wolfgang Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945–1949, Stuttgart 1987. 210 Protokoll einer Besprechung über schulpolitische Fragen zwischen Stein, Vaughn R. Delong, Harry A. Wann, Prof. Philipps, Dr. Alexander u. a. sowie Mitarbeitern aus dem Hessischen Kultusministerium, 20.2.1947; Interview Steins in der Wetzlarer Neuen Zeitung, 1.2.47; Gründung der „Hessischen Arbeitsgemeinschaft Neue Schule“ im Februar 1947, dies alles im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 211 Entwurf eines Gesetzes über den Aufbau des Schulwesens nebst Begründung, Wiesbaden 1948, in dem es im Vorwort heißt: „Ich rufe alle, denen es ernst ist mit der Erneuerung des Schul- und Erziehungswesens, auf, zu dem Entwurf Stellung zu nehmen. Die neue Erziehung ist nicht allein Sache der Schulfachleute, sie geht das ganze Volk an. Ihm obliegt die gesamte Bildungsaufgabe.“ Ebd. 212 Es sei eine Freude, mit Stein und seinen Leuten zusammenzuarbeiten, meinte Wann, dies nach Tent, Mission, S. 174. 213 Abschrift des Befehls der amerikanischen Erziehungsabteilung sowie das Protokoll einer Besprechung zwischen Delong und Stein am 9.8.1948, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden, Hervorhebungen durch Unterstreichungen im Original. Die Sparmaßnahmen würden allein im Kultusministerium zur Entlassung von dreißig Mitarbeitern führen. Durch die Verlegung des Schuljahrbeginns würden zwei Millionen DM an Gehältern und drei Millionen DM für Schulbücher gespart. Das Protokoll endete mit der Bemerkung Steins: „Der Brief [gemeint war der Befehl Delongs an Ministerpräsident Stock] gefällt mir nicht.“ 214 Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern des Kultusministeriums und der amerikanischen Militärregierung, 29.11.1948, ebd., dort auch die beiden vorherigen Zitate im Text. Den Vergleich Delongs zwischen deut214  Anmerkungen

schem Schulsystem und Rüstungsfabriken wollte der ebenfalls auf der Besprechung anwesende Direktor des Landesschulbeirats nicht unkommentiert lassen: „Der Bemerkung von Ihnen, Mr. Delong, daß die Demontage der bisherigen höheren Schule so notwendig sei wie die Vernichtung der Kriegsindustrie muß ich entgegenhalten, daß dieses Schulsystem, das seit 150 Jahren besteht, nicht nur Militaristen, sondern unbestreitbar Persönlichkeiten erzogen hat, die einen großen Beitrag zu den hohen kulturellen Werten des Abendlandes und der Menschheit geleistet haben.“ Auch Männer des Widerstands und viele Opfer des Nationalsozialismus seien durch diese Schule gegangen, Abschrift des Briefes: ebd. 215 Das 1934 gegründete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung war mit dem Ziel einer umfassenden Schulreform angetreten. Die Reform blieb jedoch ein Torso: Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt 2012, S. 150–205. 216 Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern des Kultusministeriums und der amerikanischen Militärregierung, 29.11.1948, Nachlaß Erwin Stein, 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 217 Ebd. 218 So auch Zilien, Schulpolitiker, S. 155. 219 Beispielhaft für den Widerstand aus der eigenen Partei sei auf einen Brief Steins an Heinrich von Brentano verwiesen, 27.7.1948, in dem er sich gegen die ablehnende Haltung seiner Parteifreunde stemmte: „Wenn ich Ihre Kritik aufmerksam verfolge, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie sich völlig in den Bahnen der Philologen bewegt, die jede Schulreform ablehnen und die an der überkommenen Tradition festhalten wollen. Die CDU wird sich nun entscheiden müssen, ob sie als Partei diesen Weg gehen will oder ob sie den Weg des Fortschritts beschreiten will, der von den Parteien der Linken vertreten wird. Ich selbst habe mich weder für den einen noch für den anderen Weg entschieden, sondern schlage mit meinem Plan den Weg der Mitte vor. […] Die CDU muß Farbe bekennen und sich klar darüber werden, welchen Weg sie gehen will. Ich persönlich kann den Weg der Reaktion nicht mitgehen: ich lehne es aber auch ab, nur die Gedanken der entschiedenen Schulreformer für richtig zu halten.“ Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Anmerkungen 215

220 Für ein Reichsschulgesetz hatte sich 1934/35 vor allem Helmut Bojunga eingesetzt, ein Verwaltungsjurist, dem an einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren viel gelegen war. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 168 ff. 221 Brief von Erwin Stein an Werner Hilpert, 4.1.1949, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 31, HHStA Wiesbaden, dort auch die Zitate im vorangehenden Absatz. 222 Zur deutschen Nachkriegsgeschichte: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, Bd. 2, München 2000, S. 116–205. Nicht zuletzt hatte es sich der Sozialdemokrat Hermann Louis Brill zur Aufgabe gemacht, Steins Gesetzentwurf im Landtag „zu Fall“ zu bringen, wie er mit Brief vom 27.4.1950 an Reinhard Strecker schrieb. Strecker war in den Weimarer Jahren Kultusminister im Volksstaat Hessen gewesen und sollte nun an der Abwehr des Steinschen Entwurfs mitwirken, Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 32 A, Bundesarchiv Koblenz. 223 So Stein in einem bilanzierenden Vortrag „Der Neuaufbau des hessischen Schulwesens nach 1945“, den er 1986 vor dem Oberhessischen Geschichtsverein in Gießen gehalten hat, Ms. im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 224 Artikel „Gleiche Bildungsmöglichkeiten“, Offenbacher Post vom 16.11.1963. Darin bezog sich Stein auf einen Artikel von Ernst Buck „Freies Studium – wert, darüber zu diskutieren“; eine Kopie des Artikels im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Stein beschwerte sich bei seiner Partei, wenn er nicht zu schulpolitischen Themen konsultiert wurde, so gegenüber dem CDU-Landesvorsitzenden Fay im Brief vom 17.9.1954, ebd. 225 Brief von Erwin Stein an Ernst Schütte, 2.10.1968. Im Antwortbrief vom 14.10.1968 bedankte sich Schütte für die Einladung, der er gelegentlich nachkommen wolle, ebd., Nr. 235. 226 Brief von Erwin Stein an Ernst Schütte, 19.3.1968. Weiter heißt es: „Reichen wir ihr [der neuen Generation] heilig-nüchtern das unvergängliche Feuer des lebendigen Geistes und lassen wir Hölderlins Hoffnung und Prophetie auch die Unsere sein: Denn es hallt hinab, / Am Berge das Gewitter, sieh / und / klar, wie die ruhigen Sterne, gehen / Aus langen Zweifeln reine Gestalten auf!“, ebd. 216  Anmerkungen

227 In einem Brief vom 7.1.1978 bat Hans Krollmann seinen Amtsvorgänger Stein um die Durchsicht der erneuerten Rahmenrichtlinien für die Sekundarstufe I, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 228 Hierzu die Unterlagen in ebd. Es handelt sich um Redemanuskripte, Bilder und Berichte von Tagungen in Caux. 229 Neutral der Artikel „Frank N. D. Buchmann“, in: Munzinger-Archiv 41 (1961); seine christliche Mission betont der Artikel „Buchmann, Frank Nathan Daniel“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Hamm 1975, Sp. 790 ff. 230 Stein hielt seine Rede am 26.8.1947, der Text befindet sich im Nachlaß Erwin Stein, N  1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Das Schrei­ben Harry A. Wanns datiert vom 24.5.1948: „The pamphlet and the direction emphasizes the importance of the individual which I consider basic to democracy. I should be interested in the response you get in the schools to this splendid document.“ Privatnachlaß Erwin Stein. 231 So sagte ein Parteikollege aus Schlüchtern die Teilnahme wegen Geldmangels ab; als „Landrat diesen Normalsatz [das waren 20 Schweizer Franken, A. C. N.] nicht zu zahlen und mich in Caux von anderen durchschleppen zu lassen, halte ich für untragbar“, Brief von Walter Jansen an Erwin Stein, 10.6.1949, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 29, HHStA Wiesbaden. 232 Es handelt sich um eine kleine schwarze Kladde mit verschiedenen handschriftlichen Aufzeichnungen und den Reiseschilderungen, das Dokument befindet sich im Privatnachlaß Erwin Stein. 233 Ebd. Das Zitat aus DIE ZEIT stammt aus der Ausgabe vom 26.8.1948, dies wie die Meldung der New York Times sowie die Inhaltsangaben aus verschiedenen Reden notierte Stein in sein Heft. 234 „Supreme Court erklärt diese Haltung als gegen die Bill of Rights verstoßend“, hielt Stein in seinen Aufzeichnungen vom 12. Juni 1948 fest, ebd., dort auch unter dem 2. Juni das folgende Zitat im Text. 235 Ebd. Das Treffen mit den Verwandten ebenso wie die Telephonate fanden am Tag der Abreise am 16. Juni statt. 236 Unterlagen zum Schulgebeterlaß vom 8.5.1947: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 183, HHStA Wiesbaden Als Beispiel war unter anderem das Kirchenlied „Befiehl Du Deine Wege“ genannt. Anmerkungen 217

237 Brief von Hermann Louis Brill an Erwin Stein, 21.7.1947, ebd. 238 Ein Exemplar des Schreibens vom 14.12.1949, das mit „Liebe Freunde“ begann und mit „Euer Kultusminister Dr. Erwin Stein“ schloß, befindet sich: ebd. Reinhard Strecker, von Brill zum Kampf gegen Steins Reformpläne angeheuert, hatte nach Prüfung der Unterlagen angenommen, der Kultusminister sei katholisch. Brill kommentierte dies in seinem Antwortschreiben: „Herr Dr. Stein ist Protestant, aber als Anhänger der Una ­Sancta-Bewegung benimmt er sich wie ein Katholik.“ Briefe von Reinhard Strecker an Hermann Louis Brill, 20.5.1950 sowie von Hermann Louis Brill an Reinhard Strecker, 27.4.1950, Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 32 A, BA Koblenz. 239 Als die Frankfurter Rundschau in einem Artikel vom 3.2.1954 die Einführung des Religionsunterrichts an Berufs- und Fachschulen ein Verdienst des amtierenden Kultusministers Hennig nannte, stellte Stein das in einem Brief an das CDU Landessekretariat vom 5.2.1954 ausdrücklich richtig, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 269, HHStA Wiesbaden. 240 Stein verfolgte die Angelegenheit akribisch. Das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs erging am 27.10.1965. 1975 und 1979 war das Bundesverfassungsgericht mit der Materie befaßt und erklärte den Erlaß als verfassungskonform, hierzu die Unterlagen in ebd. Nr. 685. 241 1978 wurde die Förderstufe an Hessens Schulen eingeführt, für die Steins Konzept das Vorbild abgab. Der amtierende Kultusminister Hans Krollmann hatte seinen Amtsvorgänger in dieser Frage auch wiederholt konsultiert. Erwin Stein begleitete die Einführung publizistisch: Schul- und verfassungsrechtliche Aspekte der Förderstufe in Hessen. Die Förderstufen im Hessischen Schulsystem, in: Bernd Frommelt (Hg.), Beispiel Förderstufe. Probleme einer strukturverändernden Reform und ihre wissenschaftliche Begleitung. Frankfurt a. M, 1980, S. 31–45. 242 Schulgebet und die Regelung des Religionsunterrichts waren keineswegs im Sinne der SPD, wie der Fraktionsvorsitzende Wagner Stein 1949 wissen ließ; man habe nur aus Interesse an einer „friedfertigen und positiven Entwicklung“ auf eine „weitere Verfolgung dieses wenig glücklichen Erlasses verzichtet“, Albert Wagner an Erwin Stein, 4.1.1949, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 183, HHStA Wiesbaden.

218  Anmerkungen

243 Stenographischer Bericht über die 5.  Plenarsitzung, Wiesbaden, den 19.3.1947, in: Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 5, S. 52–58, hier S. 56 f. – Zum Folgenden siehe auch die instruktive Studie von Barbara Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945– 1949), Göttingen 2014, S. 275–278, passim. 244 Dazu am Beispiel der Philosophie: Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013. 245 Wolbring, Trümmerfeld, S. 277 ff., dort S. 277 das Zitat im Text. Max Webers Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ ist leicht greifbar in Bd. 17 der Gesamtausgabe seiner von Wolfgang Mommsen hg. Werke, Tübingen 1992; zum Verhalten der Eliten nach 1933 jetzt prononciert: Helmut Lethen, Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Berlin 2018. 246 Dazu Schwab, Leo Rosenberg, S. 373–384. 247 Stenographischer Bericht über die 5. Plenarsitzung, 19.3.1947, S. 54. 248 Ebd., S. 53 u. 56. Wiederholt quittierten die Abgeordneten die Forderungen des Ministers mit Zurufen wie „sehr richtig“ und beifälligem Händeklatschen. 249 Ebd., S. 53 ff. 250 „Die Aufgaben der Hochschulen erschöpfen sich heute nicht in der Forschung und in der Lehre. Die Erziehung ist ebenfalls Aufgabe der Hochschule. Das wird leider viel zu oft von den Universitätskreisen verkannt“, so Stein in einer weiteren Landtagssitzung: Stenographischer Bericht über die 44. Sitzung, Wiesbaden, den 28.7.1948, in: Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 44, S. 1525–1582, hier S. 1568. Ausführlich zur lebhaften Universitätsreformdebatte: Wolbring, Trümmerfeld, S. 309–348. 251 „Wir wollen die Hochschulen volksnäher bringen, wir wollen sie nicht ins Extreme klassifizieren, aber wir wollen sie von ihrer Weltfremdheit erlösen.“ So Christian Stock vor dem Landtag, Stenographischer Bericht über die 5. Plenarsitzung, 19.3.1947, S. 52, dort auch das Zitat im Text.

Anmerkungen 219

252 Eine instruktive Kurzbiographie bei Wolbring, Trümmerfeld, S. 359 f., dort auch weiterführende Literatur. 253 Brief von Franz Böhm an Werner Hilpert, 20.3.1947, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 172s, HHStA Wiesbaden, auf diesen Brief geht auch Wolbring, Trümmerfeld, S. 360 ff. ausführlich ein. 254 Ebd., S. 362. Hilpert hatte Böhms Brief an Stein weitergegeben, der sich daraufhin mit Schreiben vom 24.3.1947 bitter über die Entgleisungen Böhms beschwerte. Das Entschuldigungsschreiben Böhms erreichte den Minister am 16.4.1947. 255 Hierzu mit dem Blick auf die generelle Lage der deutschen Universitäten Wolbring, Trümmerfeld, S. 350–354. Zum damaligen Marburger Professorenstreit gehört auch der „Fall“ des Historikers Wilhelm Mommsen, dazu: Anne C. Nagel, „Der Prototyp der Leute, die man entfernen soll, ist Mommsen“. Entnazifizierung in der Provinz oder die Ambiguität moralischer ­Gewißheit. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 10 (1998), S. 55–91. 256 „Sollte hiernach wider Erwarten Ruhe und Frieden im Lehrkörper nicht einkehren, so behalte ich mir bei aller Anerkennung der Selbstverwaltung der Universität geeignete Maßnahmen vor.“ Rede Erwin Steins vor dem Landtag, Stenographischer Bericht über die 5. Plenarsitzung, 19.3.1947, S. 52 f. 257 Zum Folgenden: Renate Knigge-Tesche (Hg.), Hermann Louis Brill 1895– 1959. Widerstandskämpfer und unbeugsamer Demokrat, Wiesbaden 2011; Manfred Overesch, Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992. Brills Nachlaß im Bundesarchiv Koblenz ist eine Goldgrube für die Geschichte der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. 258 Studien zur Entstehung und Entwicklung der deutschen Selbstverwaltung, Jena 1928. 259 Die Verbindung Brills zu Steins zweiter Frau war freundschaftlicher Natur. Die beiden duzten einander, während es in den Briefen zwischen Stein und Brill bis 1954 beim förmlichen „Sie“ blieb. Vgl. hierzu die Korrespondenz im Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, BA Koblenz, Nr. 39a, 42a, 44a. 260 Zuletzt dazu: Dietrich Heither, Adelheid Schulze: Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutsch220  Anmerkungen

land, Berlin 2015; Peter Krüger, Anne Christine Nagel (Hg.): Mechterstädt – 25.3.1920. Skandal und Krise in der Frühphase der Weimarer Republik. Münster 1997; Helmut Seier: Radikalisierung und Reform als Problem der Universität Marburg 1918–1933, in: Walter Heinemeyer, Thomas Klein, Hellmut Seier (Hg.), Academia Marburgensis. Beiträge zur Geschichte der Philipps-Universität Marburg, Bd. 1, Marburg 1977, S. 303–352. 261 Ministerpräsident Stock vor dem Landtag, Stenographischer Bericht über die 5. Plenarsitzung, 19.3.1947, S. 51. 262 Brief von Erwin Stein an Ministerpräsident Christian Stock, 2.2.1948, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. Stein hatte sich schon früher mit Schreiben vom 13.11.1947 an Stock gegen den Kabinettsbeschluß vom 17.9.1947 erklärt, ebd. 263 Den „Fall Brill“ behandelt ausführlich: Wolbring, Trümmerfeld, S. 368– 408; siehe auch Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe Universität. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 1: 1914 bis 1950, Frankfurt a. M. 1989, S. 750–760, sowie ders., Erwin Stein als Bildungspolitiker, in: Andreas Hedwig/Gerhard Menk (Hg.), Erwin Stein (1903–1992). Politisches Wirken und Ideale eines hessischen Nachkriegspolitikers, Marburg 2004, S. 173–187, bes. S. 180 ff. 264 Viehweg meinte in der Landtagsdebatte, Brill habe im Konzentrationslager keine Bücher schreiben können, während die Professoren an den Universitäten „vielleicht aus anderen Büchern neue Bücher zusammenstellten und das als wissenschaftliche Leistung bezeichneten“. Außerdem sei Brills Ernennung nicht außergewöhnlich, andere Honorarprofessoren seien auch Männer der Praxis und ohne wissenschaftliches Werk, Stenographische Berichte über die 44. Sitzung, Wiesbaden, den 28.7.1948, in: Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 41, S. 1363–1437, hier S. 1396. 265 Am 8.5.1948 war der Vorgang Gegenstand in der Kabinettssitzung gewesen, in der zur Kölner Berufung festgehalten wurde, daß die Qualifikation Brills durch die „Anfang dieses Jahres erfolgte Berufung nach Köln, wo ihm neben der ordentlichen Professur der Posten des Direktors des Instituts für Sozialwissenschaften angeboten wurde“ nachgewiesen sei. Diese Feststellung sollte der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Brill nahm persönAnmerkungen 221

lich an der Sitzung teil, ohne die offensichtliche Unwahrheit richtigzustellen: Kabinettsprotokolle der Hessischen Landesregierung, Kabinett Stock 1947–1950, Bd. 1: 1947–1948, hg. von Andreas Hedwig, Wiesbaden 2008, S. 547 f. 266 Denkschrift der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main zur Landtagsrede des Herrn Ministers für Kultus und Unterricht Dr. Erwin Stein vom 28. Juli 1948, Frankfurt am Main [1948]; nach Wolbring, Trümmerfeld, S. 400, Anm. 210, wurde die Denkschrift erst Anfang 1949 versandt. 267 Denkschrift der Goethe-Universität Frankfurt, S. 20. 268 So Stein im Begleitbrief an Hermann Louis Brill zur Ernennungsurkunde, 28.4.1948, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 269 Brief von Heinrich von Brentano an Erwin Stein, 25.6.1948, ebd. 270 Brief von Erwin Stein an Werner Hilpert, 24.6.1948, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. In den Quellen fanden sich keine Hinweise auf eine Einflußnahme Lotte Lena Steins im „Fall Brill“. Es wurde aber verschiedentlich in Personalfragen an sie mit der Bitte um Intervention bei ihrem Mann herangetreten, so im Falle des Rasseforschers Otmar von Verschuers, für den sich Karl Thums im Brief vom 21.4.1949 bei ihr verwendete. Ob sie dieser Bitte entsprach, geht aus den Quellen nicht hervor. Sie scheint aber bei der Berufung des Gynäkologen Heinrich Naujoks nach Frankfurt eine Rolle gespielt zu haben, wie ein Brief Naujoks an Lotte Lena Stein vom 27.11.1948 nahelegt, beide Schreiben in ebd. 271 Ein Beispiel für die oft beckmesserische Kritik Brills ist ein Brief an Carlo Schmid vom 2.8.1950. Schmid hatte auf einer Tagung „Freiheit der Kultur“ an der Berliner Hochschule für Politik über „Recht und Freiheit am Beginn der Neuzeit“, sowie beim Bezirksamt Kreuzberg über „Sozialistische Kultur“ gesprochen. Schmids Beiträge seien zu allgemein gewesen und hätten keine Tiefe gehabt, seine Erwartungen seien nicht erfüllt worden, bemängelte Brill: Auch habe er sein Thema zu früh abgebrochen, die Rekurse auf Hugo Grotius und Leibniz hätten gefehlt: „Um es politisch zu sagen: Ich empfinde Pufendorf immer als die ansteigende Linie einer Parallele, die bis Hegel reicht. Denn Hegel’s ‚Verfassung Deutschlands‘ geht ge222  Anmerkungen

danklich nicht über Pufendorf ’s ebenso betiteltes Buch hinaus.“ Carlo Schmid, Jg. 1896, war ein renommierter Staatsrechtler, der seit 1946 wieder an der Tübinger Universität als Ordinarius lehrte, Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 32a, BA Koblenz. 272 Dies geht aus einem Brief von Erwin Stein an Werner Hilpert, 24.6.1948, hervor, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. So sollte Hilpert dem Parteikollegen Rieser geraten haben, er möge „rechtzeitig abspringen, damit er nicht mit mir im Kultusministerium untergehe“. 273 Brief von Heinrich von Brentano an Erwin Stein, 25.6.1948, mit „Persönlich und vertraulich!“ gekennzeichnet, eine Abschrift ging an Werner Hilpert, ebd. 274 Brief von Erwin Stein an Heinrich von Brentano, 29.6.1948, ebd., dort auch die drei folgenden Zitate. 275 Im Nachlaß Stein, N 1178, Nr. 29a, HHStA Wiesbaden finden sich zahlreiche Beispiele, wie genau der Minister die Arbeit seiner Referenten beobachtete und immer wieder korrigierend in deren Entscheidungen eingriff, so in mehreren Fällen des Schulrats Prediger aus dem Referat III. 276 Stenographische Berichte über die 57. Sitzung, Wiesbaden, den 6.4.1949, in: Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 57, S. 2049 ff., dort die Begründung des Antrags durch den Liberalen Wilhelm Bleek. 277 Die Rede Steins: Ebd., S. 2051–2062, hier S. 2054. 278 Ebd., S. 2057. 279 Ebd., S. 2061 f. 280 Stenographische Berichte über die 78. Sitzung, Wiesbaden, den 26.4.1950, in: Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 78, S. 2755–2795, hier S. 2779 f. der Abschlußbericht des Untersuchungsausschuß durch Berichterstatter Dr. Wagner. 281 Die kollegiale Aufnahme Brills betont Hammerstein, Johann Wolfgang Goethe-Universität, S. 757, dort auch weiteres zum Ausklang des Konflikts. Brill übte ab 1950 zusätzlich eine Dozententätigkeit an der Akademie für Arbeit sowie ab 1951 an der Verwaltungshochschule in Speyer aus.

Anmerkungen 223

282 Brief von Ernst Thape an Hermann Louis Brill, 14.5.1948, Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 104, BA Koblenz. Ernst Thape war SPDLandesvorsitzender in Niedersachsen. – Heinrich von Brentano an Erwin Stein, 9.10.1949: „Von sämtlichen Hochschulen höre ich in ständig wachsendem Maße, daß man eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Ministerium und ein Verständnis für die Sorgen und Aufgaben der Hochschulen vermißt.“ Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 269, HHStA Wiesbaden. 283 Brief von Reinhard Strecker an Hermann Louis Brill, 20.4.1950, Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 104, BA Koblenz, Nr. 32a. 284 Zum Folgenden: Eva-Marie Felschow/Carsten Lind/Neill Busse, Krieg, Krise, Konsolidierung. Die „zweite“ Gründung der Universität Gießen nach 1945, Gießen 2008, dort S. 67 das nächste Zitat im Text; siehe auch: Dirk van Laak, Von Ludwig zu Liebig. Die Gießener Universität im Umbruch des Jahres 1946, in: 50 Jahre Gießener Universitätsblätter 50 (2017), S. 61–76, hier bes. S. 68 ff. 285 Felschow/Lind/Busse, Krieg, S. 72–80. 286 Hierzu zuletzt: Franz Reimer, „Diese Universität ist in Gießen verwirklicht“. Die Errichtung der Justus-Liebig-Hochschule in Gießen im Jahre 1950, in: 50 Jahre Gießener Universitätsblätter 50 (2017), S. 77–94. 287 Dies geschah am 4. Juli 1957. Den Weg zur Volluniversität verfolgt: Felschow/Lind/Busse, Krieg, S. 93–116, sowie zuletzt Michael Breitbach, Das verdrängte Vorbild. Zur Gründung der naturwissenschaftlich-biologischen Universität in Gießen 1957, in: 50 Jahre Gießener Universitätsblätter 50 (2017), S. 95–116. 288 Landtagsrede Steins: Stenographische Berichte über die 57. Sitzung, Wiesbaden, den 6.4.1949, in: Stenographische Protokolle des Hessischen ­Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 57, S. 2051–2062, hier S. 2061. 289 Zum Folgenden: Martina Neitzke, Die CDU Hessen 1950–1967. Politikentwicklung und Organisationsstrukturen, Wiesbaden 2010, S. 27–40. 290 Ebd., S. 58 ff., sowie Mühlhausen, Walter: Werner Hilpert (1897–1957), in: Heidenreich, Bernd/Mühlhausen, Walter (Hg.): Einheit und Freiheit: Hessische Persönlichkeiten und der Weg zur Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2000, S. 245–272, hier bes. S. 269 f. 224  Anmerkungen

291 Stenographische Berichte über die 76. Sitzung, Wiesbaden, den 30.3.1950, in: Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Drucksachen Abt. III Nr. 76, S. 2675–2712, hier S. 2694–2697, das Zitat S. 2697. Justizminister Stein bezog in dieser Rede Stellung zu zwei Großen Anfragen von CDU und KPD über die Zustände in hessischen Gefängnissen. 292 Die Aufzeichnungen über die „Konstituierende Sitzung der Fraktion und des Landesvorstands“, 28.11.1950, finden sich in einem Heft mit diversen handschriftlichen Notizen 1950/51 Steins im Privatnachlaß Erwin Stein, dort auch das nächste Zitat im Text. 293 Zur Kirchenpolitik jener Jahre: Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland, Paderborn 2000; allgemein zur Remilitarisierung: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 195–233; Wolfgang Krieger, Adenauer und die Wiederbewaffnung, Bonn 2001. 294 Die Einschätzung Steins im Brief an Werner Hilpert, 11.1.1951, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 264, HHStA Wiesbaden, in dem es weiter heißt: „Ich kann mir auch nicht denken, daß diese Abkehr des Herrn Zinn von dem Marxismus seitheriger Prägung ohne Billigung des SPD-Vorstandes in Hannover geschehen ist.“ 295 Die Betreuungsstelle der Stadt Offenbach bescheinigte Stein mit Schreiben vom 9.10.1945, im Dritten Reich aus rassischen Gründen verfolgt worden zu sein. Laut Aktenvermerk der Stadt vom 15.1.1948 stellte Stein einen „Antrag auf Anerkennung als politisch-rassisch Verfolgter.“, Akte der Betreuungsstelle der Stadt Offenbach, Nr. 599, Stadtarchiv Offenbach. Über den Verlauf des Verfahrens sagen die Unterlagen nichts. 296 Brief von Erwin Stein an Otto Müller, 4.4.1951, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 266, HHStA Wiesbaden. 297 Zum BVG zuletzt: Justin Collings, Democracy’s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court, 1951–2001, Oxford 2105; Rolf Lamprecht, Das Bundesverfassungsgericht: Geschichte und Entwicklung, Bonn 2011; Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, München 2010; Uwe Wesel, Die Hüter der Verfassung. Das Bundesverfassungs­ gericht: seine Geschichte, seine Leistungen und seine Krisen, FrankAnmerkungen 225

furt a. M. 1996. Die Voraussetzungen für das Richteramt sind dem „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12.3.1951 zu entnehmen: Bundesgesetzblatt Teil I, 1951, Nr. 17, S. 243–252. Das Zitat im Text über das Wiedergutmachungsverfahren erwähnt Stein im Brief an Heinrich von Brentano, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 263, HHStA Wiesbaden. 298 Ebd. 299 Die Auswahl der Richter erläutert Horst Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, Bonn 51999, S. 49 f., sowie Limbach, Bundesverfassungsgericht, S. 27 ff.; über die im Vorfeld der Richterwahl zu treffenden Absprachen zwischen Regierungs- und Oppositionspolitikern im Bund: Wesel, Hüter, S. 16–22. 300 Briefe von Anton Sabel an Erwin Stein, 10.5., 1.6., und 6.7.1951 in: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 267, HHStA Wiesbaden. 301 Brief von Werner Hilpert an Erwin Stein, 7.7.1951, ebd., Nr. 264. Worum es bei den genannten Anfeindungen im einzelnen ging, konnte nicht ermittelt werden. Im Brief von Anton Sabel an Stein vom 6.7.1951 hieß es: „Wie Sie wissen, kann man solche Dinge und ihre Urheber nie recht greifen.“ 302 Wesel, Hüter, S. 19 f. 303 Brief von Reinhold Allstaet an Erwin Stein, 8.10.1951, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 263, HHStA Wiesbaden. 304 Brief von Leopold Ziegler an Lotte Lena Stein, 15.11.1952, Privatnachlaß Erwin Stein. 305 Die Taschenkalender vieler Jahre: ebd.; 1972 verlängerte er die Liegezeit des Urnengrabs bei der Stadt Offenbach. 306 Hierzu mehrere Briefe von Erwin Stein an Heinrich von Brentano aus den 1960er Jahren, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 216b, HHStA Wiesbaden sowie in Sachen Freifahrkarten, der Brief vom 20.9.1952, ebd., Nr. 263. Den Führerschein machte Stein in der „Privaten Kraftfahr-Schule Rothbarth“, hierzu die Nachfrage der Schule vom 26.1.1953, ob Stein „weiter an seiner Führerscheinausbildung festhalten“ wolle, ebd., Nr. 230b, der Kauf des Mercedes: ebd., Nr. 231b. 307 Der oft zitierte Satz Adenauers stammt hier aus: Ute Sacksofsky, Wellen der Empörung – Das Bundesverfassungsgericht und die Politik, in: Merkur 783 (2014), S. 711–717, das Zitat S. 711. Zur Eröffnungsfeier: Lim226  Anmerkungen

bach, Bundesverfassungsgericht, S. 14 f.; zum Kampf des Liberalen Dehler um den „Status“ des Gerichts, ob es dem Bundesjustizministerium zu unterstellen sei oder nicht: Collins, Democracy’s Guardians, S. 9–14, sowie: ­Oliver Lembcke, Hüter der Verfassung. Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2007, S. 83 ff. 308 Collins, Democracy’s Guardians, S. 7 f. 309 Das Urteil wurde am 23.10.1952 verkündet: BVerfGE 2,1, dazu Frei, Vergangenheitspolitik, S. 326–360. Die Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu § 175 erging am 10.5.1957: BVerfGE 6, 389 ff. Der Antrag der Bundesregierung auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD datiert auf den 23.11.1951. Zum folgenden: Collins, Democracy’s Guardians, S. 38–45; Säcker, Bundesverfassungsgericht, S. 102 ff.; sowie zuletzt: Josef Foschepoth, Verfassungswidrig! Das KPDVerbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen 2017. 310 Hierzu: Uwe Kranenpohl: Hinter verschlossenen Türen: Beratungsgeheimnis des Bundesverfassungsgerichts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 (2001), Nr. 35/36, S. 23–29, hier S. 24. 311 Ein Exemplar des Votums und der Anhang befinden sich im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 639 u. 640, HHStA Wiesbaden. Der Nachlaß enthält außerdem ein Gutachten von Ossip Flechtheim über den Marxismus sowie von Iring Fetcher „Von Marx zur Sowjetideologie“, ebd., Nr. 641 u. 642. 312 Brief von Erwin Stein an Heinrich von Brentano, 20.9.1952, ebd., Nr. 263. Im Zusammenhang mit dem EVG-Vertrag gab es ein jahrelanges politisches Tauziehen zwischen Regierung, Opposition, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht. Beide Senate und das Plenum des Gerichts wurden eingespannt. Stein beriet sich in dieser Frage mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt und Hermann Louis Brill. Siehe dazu die Briefe von Carl Schmitt an Erwin Stein, 31.3., 28.6. und 24.8.1953 sowie ein Manuskript Schmitts „Art. 59 Abs. 2 GG als reine Zuständigkeitsregelung für die Ausübung des treaty making power“ sowie von Hermann Louis Brill an Erwin Stein vom 2.6.1953. Die Hinweise der beiden Juristen flossen ein in das Manuskript von Erwin Stein „Bemerkungen zu dem Verfahren auf Antrag der Bundestagsabgeordneten Luise Albertz und 146 anderer Mitglieder des Bundestags wegen der Vereinbarkeit des Vertrages über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 27. Mai 1952 und des Anmerkungen 227

Deutschland-Vertrages vom 26. Mai 1952 mit dem Grundgesetz“, masch. Ms, 25 S., 13.7.1953, Privatnachlaß Erwin Stein. 313 Brief von Ritter von Lex an Bundesverfassungsrichter Stein, 24.6.1952, B 237, Nr. 215 681, BA Koblenz, dort auch das Zitat im Text. Man fürchtete um die Sicherheit Josts, nachdem „Organe der Kommunistischen Partei“ sich bemüht hätten, Jost ausfindig zu machen. Die Beauftragung Steins durch den Ersten Senat erfolgte am 26.6.1952. Eine zentrale Rolle spielt diese Vernehmung in der Argumentation von Foschepoth, Verfassungswidrig, S. 235–278, hier S. 242 ff. Bis zum Mauerbau gab es etwa 400 Fälle von „Menschenraub“ oder Überfällen auf DDR-Flüchtlinge: Susanne Muhle, Auftrag Menschenraub. Entführung von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Göttingen 2015, hier S. 151–169. 314 Das von Foschepoth beanstandete Protokoll vom 27./28.6.1952: B 237, Nr. 215681, BA Koblenz. Die beiden Zitate im Text bei Foschepoth, Verfassungswidrig, S. 242 u. S. 253; siehe auch S. 440–452 den faksimilierten Abdruck der Jostschen Erklärung vom 16. Mai 1952 sowie S. 457–466 die Wiedergabe des Steinschen Vernehmungsprotokolls vom 27./28.6.1952. Bei dem in der Akte befindlichen Exemplar handelt es sich um eine spätere Abschrift, nicht um das Original des Vernehmungsprotokolls. Das dürfte erklären, warum nur die Unterschriften von Stein und der Justizbeamtin darunter stehen, nicht aber die von Jost. Wo das Original ist und wie viele Kopien angefertigt wurden, konnte nicht geklärt werden. 315 Brief von Heinrich von Brentano an Erwin Stein, 9.11.1953: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 269, HHStA Wiesbaden. 316 Zum Befangenheitsantrag gegen Stein ausführlich: Foschepoth, Verfassungswidrig, S. 242–250. Im Zusammenhang mit einem Strafverfahren gegen einen Kommunisten waren die KPD-Anwälte an eine Abschrift des Vernehmungsprotokolls gelangt. 317 Nachdem die CDU die Bundestagswahlen 1953 haushoch gewonnen hatte, konnte Adenauer mit einer Zweidrittelmehrheit eine Grundgesetzänderung zum Aufbau einer Armee herbeiführen, wodurch sich eine Prüfung durch das BVG erübrigte, Frei, Vergangenheitspolitik, S. 200 ff. 318 Zu Kaul: Annette Rosskopf, Strafverteidigung als ideologische Offensive. Das Leben des Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul (1906–1981), in: forum 228  Anmerkungen

historiae juris, http://www.forhistiur.de/1998–08-rosskopf/. Es scheint, als sei auch Josef Foschepoth in seiner in vielem verdienstvollen Studie, Verfassungswidrig, S. 270 ff., passim, allzu sehr in den Bann der KPD-Strategie geraten, wenn er das Verbotsverfahren mit einem Wort Steins zum „Staatsprozeß“ gegen die KPD stilisiert. 319 Wesel, Hüter, S. 232, wo es weiter heißt: „Eine nicht unbeachtliche Leistung deutscher Juristen.“ Das Urteil: BVerGE 5,85. 320 Vortragsmanuskript Hermann Louis Brills „Das öffentliche Recht zur Bekämpfung totalitärer Bewegungen“, gehalten 1952 auf der Arbeitstagung Deutschland–Italien, S. 11, im Nachlaß Hermann Louis Brill, N 1086, Nr. 330, BA Koblenz. Im November 1952 erbat Stein Auskunft über ein von Brill erwähntes Gesetz in Italien zum Verbot kommunistischer Agitation. Mit Bezug auf das Votum heißt es weiter: „Sind Sie schon zum Studium meiner Arbeit gekommen? Hoffentlich ist die Kritik nicht gar so vernichtend.“ Brief von Erwin Stein an Hermann Louis Brill, 4.11.1952, ebd., Nr. 64. 321 Zu den rund 400 nachgewiesenen Entführungsfällen: Muhle, Auftrag, S. 8 f., wonach die 1950er Jahre eine „Hochphase der Entführungsaktionen des MfS“ gewesen waren. 322 Brief von Erwin Stein an das Ordnungsamt der Stadt Karlsruhe, 18.9.1956, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 232a, HHStA Wiesbaden, sowie Brief von Erwin Stein an das Amt für öffentliche Ordnung in BadenBaden, 8.12. und 14.12.1959, ebd., Nr. 215, wo es heißt: „Da ich wiederholte Drohungen seitens Mitglieder der für verfassungswidrig erklärten und aufgelösten KPD ausgesetzt war und bin, hat mir die Bundesregierung wiederholt persönlichen Schutz durch ein Mitglied der Sicherheitsgruppe gewährt. Mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse möchte ich von weiteren Angaben absehen.“ Gleichwohl kam eine Nachfrage des Amtes, auf die Stein mit Brief vom 14.12.1959 reagierte. 323 Wesel, Hüter, S. 23 ff. Zu diesem „epochemachenden Urteil“: Till van Rahden, Demokratie und väterliche Autorität. Das Karlsruher „Stich­ entscheid“-Urteil von 1959 in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2 (2005), H. 2, S. 160–179. 324 Brief von Erwin Stein an Konrad Adenauer, 19.1.1956, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 217, HHStA Wiesbaden. Anmerkungen 229

325 Siehe: Abweichende Meinung des Richters Dr. Stein zu dem Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1971–1BvR 435/68: BVerfGE 30, 173 (201). 326 Das Haus in der Bismarckstraße Nr. 5 steht seit 1986 unter Denkmalschutz. Es wurde laut Kaufvertrag am 7.1.1959 für 65.000 DM an Stein aus dem Nachlaß des Generalkonsuls a. D. Paul Roh verkauft: Privatnachlaß Erwin Stein. 327 Erwin Stein besaß eine Ehrenkarte der Baden-Badener Kurverwaltung, die zum Besuch sämtlicher kultureller Veranstaltungen berechtigte. Ebenso hielt es die Wiesbadener Kurverwaltung, die Karten befinden sich im Privatnachlaß Erwin Stein. 328 Weiter heißt es dort: Es war ein guter Gedanke von Lotte, diesen Garten aufzumachen. Ich danke ihr.“ Eintrag von Erwin Stein im „Hausbuch“, 23.12.1961, Privatnachlaß Erwin Stein, dort auch das nächste Zitat. 329 Die Fahrt fand vom 25.5. bis 28.5.1971 statt, NL Erwin Stein, N 1178, Nr. 235, HHStA Wiesbaden. Stein arbeitete eng mit Bernhard Grizmek und Graf Lennart Bernadotte in Sachen Umweltschutz zusammen. 330 Das Zitat aus dem Urkundentext, Privatnachlaß Stein. Vom bislang noch wenig beleuchteten umweltpoltischen Engagement Steins zeugen seine Beiträge in den Heften des „Deutschen Rats für Landespflege. Stellungnahmen, Gutachten, Empfehlungen“, hier Heft 6 (1966), S. 29 f. „Stellungnahme zum Bauverbot in Landschaftschutzgebieten“ oder Heft 8 (1967), S. 24–31 „Entwicklungstendenzen des Rechts der Landschafts­ pflege in der ausländischen Gesetzgebung“. Siehe dazu: Franz Reimer, ­Umweltrecht avant la lettre. Herausforderungen einer Geschichtsschreibung des Umweltrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts (2017), S. 79–101, hier S. 96 f.; Fabian ­Mainzer, „Retten, was zu retten ist.“ Grundzüge des nordrhein-westfälischen Naturschutzes 1970–1995, Marburg 2014, S. 189 f.; Willi Ober­ krome, „Deutsche Heimat“: nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in WestfalenLippe und Thüringen (1900–1960), Paderborn u. a. 2004, S. 435 f. 331 Letzter Eintrag von Lotte Lena Stein im „Hausbuch“, Oktober 1974, Privatnachlaß Erwin Stein.

230  Anmerkungen

332 Das Zitat im vorhergehenden Absatz: Tagebuch Erwin Steins „Das blaue Heft 1923“, Privatnachlaß Erwin Stein, dort auch der Hinweis auf weiteren Grundbesitz der Steins. Schon 1969 fragte Stein bei der Hessischen Forstverwaltung wegen eines Forsthauses nach: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 235, HHStA Wiesbaden. Angaben zu Annerod in Adolf ­Walbott, Annerod gestern und heute. Festschrift zum Jubiläumsjahr 2007, Fernwald 2006. 333 Im Widmungstext heißt es: „Der evangelischen Kirchengemeinde Annerod bei Gießen als Gabe und zur Erinnerung. In Dankbarkeit zugleich für meine liebe Frau, Prof. Dr. iur. Erwin Stein Hess. Kultusminister 1947– 1951, Bundesverfassungsrichter 1951–1971, Annerod, 24.6.1986“, Kopie des Textes im Privatnachlaß Erwin Stein, dort auch Ausschnitte aus der lokalen Berichterstattung. 334 Erwin Stein hatte sich für seinen Bruder beim Hessischen Kultusminister Ernst Schütte erfolgreich verwendet: Brief von Ernst Schütte an Erwin Stein, 18.2.1966: „Lieber Herr Stein! Ich kann Ihnen heute die erfreuliche Mitteilung machen, daß Ihr Bruder, Herr Professor Wilhelm L. Stein, ab 1. April 1966 zunächst mit der kommissarischen Leitung des Berufspäda­ gogischen Studienseminars in Marburg beauftragt wird. Der Auftrag ist damit dem zweifellos besten Bewerber zugekommen.“ Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 235, HHStA Wiesbaden. 335 Brief von Wolfgang Stein an Erwin Stein, 30.12.1985. Stein reagierte verständnislos mit Brief vom 10.1.1986 an Wolfgang Stein: „Deine Belehrungen halte ich für nicht angebracht. Auf verwandtschaftliche Beziehungen nur an herausgehobenen Tagen lege ich keinen Wert. Ich bedaure diese Entfremdung. Aber in meinem Alter werde ich auch noch diese Enttäuschung ertragen. Lebe wohl und sei gegrüßt.“ Privatnachlaß Erwin Stein. 336 Brief von Erwin Stein an Bernhard Vogel, 11.10.1970: „Ich war von 1947 bis 1951 in Hessen Kultusminister und war einer der maßgebenden Initiatoren der Kultusministerkonferenz.“ Vogel entschuldigt sich mit Brief vom 22.10.1970, Nachlaß Erwin Stein, N 1178, Nr. 232a, HHStA Wiesbaden. Stein befürwortete die Einrichtung von Förderstufen (5.–6. Klasse): Erwin Stein, Schul- und verfassungsrechtliche Aspekte der Förderstufe in Hessen. Die Förderstufen im Hessischen Schulsystem, Typoskript im Privatnachlaß Anmerkungen 231

Erwin Stein. Hans Krollmann realisierte die Einführung der Förderstufen 1978/79 in Hessen gegen den Protest der Opposition. 337 Stein lieferte mehrere Beiträge für den Hessischen Rundfunk, so am 17.12.1978, das Redemanuskript in: Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden, dort auch das Redemanuskript für eine Sendung am 22.11.1981: „Ein Ja zum 6. Entwurf der Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre“. Siehe auch den Brief von Erwin Stein an Hans Krollmann, 7.1.1978, in dem er den Entwurf für die Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I eingehend kritisierte, ebd. 338 Die Zitate in diesem Absatz aus Briefen von Holger Börner an Erwin Stein, 27.10.1978 sowie von Erwin Stein an Holger Börner, 5.4.1979; ferner den Brief von Erwin Stein an Holger Börner, 12.6.1978: ebd., Nr. 322. 339 Über den unsäglichen Faux pas eines Politikers aus dem niederrheinischen Korschenbroich berichtete der SPIEGEL am 3.3.1986; zum Streit über die Uraufführung des Fassbinder-Stückes: Fassbinder ohne Ende. Eine Dokumentation anläßlich der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, Frankfurt 1985. Eine Sammlung von Zeitungsausschnitten zum Historikerstreit befindet sich im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden. 340 Brief von Erwin Stein an Max Willner, 25.2.1986, ebd. Der Staatsvertrag zwischen dem Landesverband und dem Land Hessen: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Teil 1, 1.12.1946, S. 395 ff. 1951 lebten 2142 Juden in Hessen, verteilt auf 14 Gemeinden. Das Land griff dem Landesverband jährlich mit 50.000 DM unter die Arme, wie Erwin Stein dem Berliner Bürgermeister auf dessen Nachfrage mit Brief vom 6.11.1951 schrieb. 341 Ein Exemplar der Traueranzeige befindet sich im Privatnachlaß Erwin Stein. Im Wintersemester 1976/77 hielt Stein ein Seminar über „Schule im pluralistischen Staat“, im Wintersemester 1977/78 eines über Schulrecht an der Universität Gießen. Mit Brief vom 16. Mai 1977 erhielt er die Zusage des Dekans der Rechtswissenschaften für einen „vergüteten 2-stündigen Lehrauftrag“. Auch an der Universität Frankfurt dozierte er nach seiner Pensionierung noch regelmäßig. Im Nachlaß Erwin Stein, N 1178, unverzeichneter Teil, HHStA Wiesbaden, sind Seminarunterlagen sowie einige studentische Hausarbeiten zur Schulpolitik erhalten. 232  Anmerkungen

342 Erwin Stein ließ sein beträchtliches Vermögen in die Stiftung einfließen. Aus ihren Mitteln werden wissenschaftliche Forschungsarbeiten auf den Gebieten Philosophie, Staatsrecht und Religionswissenschaft unterstützt, Stipendien an förderungswürdige Nachwuchswissenschaftler erteilt sowie alle zwei Jahre der Erwin-Stein-Preis vergeben.

Anmerkungen 233

Dank

Es ist mir auch dieses Mal eine Freude, am Ende all denjenigen meinen Dank abzustatten, die am Zustandekommen dieses Buches einen Anteil haben. Angestoßen und materiell ermöglicht hat die Studie die ErwinStein-Stiftung. Dem Vorsitzenden des Vorstands, Franz Reimer, danke ich für seine stete Bereitschaft zum fruchtbaren Gespräch und für hilfreiche Unterstützung in vielen Belangen. Die Zusammenarbeit mit ihm war eine Freude; auf sein tatkräftiges Engagement geht nicht nur dieses Buch, sondern auch die damit im November/Dezember 2016 in Gießen gezeigte Ausstellung „Erwin Stein (1903–1992): Minister, Richter, Stifter“ zurück. Frauke Ueck, über lange Jahre Mitglied im Vorstand und mit Erwin Stein noch persönlich bekannt, gewährte den Zugang zum Privatnachlaß in Annerod und brachte mir durch ihre Erzählungen den Menschen Stein nahe. Auch die übrigen Vorstandsmitglieder haben zum Gelingen des Vorhabens beigetragen: Anja Klöckner und Wolfgang Achtner (†) durch klugen Rat, Peter Falzmann durch die Vermittlung konkreter Anschauung beim Besuch der Wohnhäuser Steins in Offenbach und Baden-Baden. Die Verbindung zur Stiftung hergestellt hat vor nunmehr drei Jahren Dirk van Laak, dem ich dafür herzlich danke. Albina Mayer-Hungershausen und Carl Christian Wahrmann vom Hessischen Hauptstaatsarchiv haben für eine ungehinderte Nutzung des Nachlasses von Erwin Stein gesorgt und dankenswerterweise auch den Zugang zum bislang unverzeichneten Teil ermöglicht, was alles andere als selbstverständlich ist. Ebenso danke ich dem Team im Bundesarchiv Koblenz, das bei meinen Recherchen in verschiedenen Nachlässen einmal mehr für eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre sorgte. Der erste Leser des Manuskripts war wie immer mein Freund und Gefährte Ulrich Sieg. Seine Tips und Anregungen haben den Text Dank 235

kontinuierlich verbessert und am Ende zu einer runden Sache geformt, wofür ich ihm einmal mehr herzlich danke! Mein Dank gilt außerdem unserem gemeinsamen Freund Ewald Grothe, der es sich neben seiner vielgestaltigen Berufsarbeit nicht nehmen ließ, weite Teile des Manuskripts einer sorgfältigen Lektüre zu unterziehen, und damit die Fehlerzahl entscheidend dezimierte. Schließlich hat sich das Lektorat des Böhlau Verlags, Julia Roßberg und Constanze Lehmann, den Text vorgenommen und ihm den letzten Schliff gegeben. Er wird vermutlich trotz allem nicht makellos sein, aber das ginge, besonders in inhaltlicher Hinsicht, natürlich ganz allein auf mein Konto! Schließlich sei auch der Anteil meiner Freundinnen im Reit- und Fahrverein Elnhausen sowie meines vierbeinigen Kameraden Ramondo hervorgehoben, die für Entspannung, Spaß und fröhlichen unakademischen Austausch gesorgt haben. Last but not least sei Kornelia Oepen gedankt, die mich mit ihrer unverbrüchlichen Freundschaft unterstützt hat. Marburg, im Juni 2018

236  Dank

Anne C. Nagel

Anhang

Quellenverzeichnis Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA)

N 1178, Nachlaß Erwin Stein Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStA)

G 21 B, Justizministerium, Nr. 3249: Personalakte Dr. Erwin Stein G 27, Staatsanwaltschaft Landgericht Darmstadt: Nr. 155 u. Nr. 1912 Bundesarchiv Koblenz (BA)

N 1086, Nachlaß Hermann Louis Brill N 1266, Nachlaß Walter Hallstein B 106, Bundesinnenministerium: Nr. 200800, 200808 B 237, Bundesverfassungsgericht: Nr. 215653, 215657, 215661, 215676, 215681, 215687, 1002654, 1002655 Stadtarchiv Offenbach

Akten der Betreuungsstelle: Nr. 599 Privatnachlaß Erwin Stein Annerod

Teilnachlaß Erwin Stein

Quellenverzeichnis 237

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Bildnachweis Alle Bilder stammen aus dem Privatnachlass von Erwin Stein.

Bildnachweis 249

Personenregister Achtner, Wolfgang 235 Adelung, Bernhard 50 f. Adenauer, Konrad 128, 155, 157, 163 f., 171 f., 229 Albertz, Luise 227 Allstaet, Reinhold 226 Althen, Gustav 54, 198 Anschütz, Gerhard 35 Aristoteles 95 Ausleger, Gerhard 204 Bach, Johann Sebastian 8 Bär, Richard 201 Beethoven, Ludwig van Beethoven 8 Bleibaum, Friedrich 187 Bergsträsser, Lugwig 81, 111, 212 Bernadotte, Graf Lennart von 230 Best, Werner 38, 50, 52, 195, 197 f. Beyerle, Franz 206 Bleek, Wilhelm 148, 223 Boeckel, Otto 46, 196 Böhm, Franz 85, 113, 115, 139 f., 145, 148, 154, 205, 220 Bojunga, Helmut 216 Börner, Holger 183 f., 232 Bredow, Hans 81 Brentano, Heinrich von 146 ff., 151, 157, 159, 162 f., 166, 168, 182, 212 f., 215, 222 ff., 226 ff. Brill, Hermann Louis 105, 111, 114, 211, 216, 132 f., 141–151, 154, 170, 218, 220–224, 227, 229 Brüning, Heinrich 198 250  Anhang

Buchmann, Frank 128 ff., 132, 197 Büchner, Georg 35 Clay, Lucius D. 117 Cohn, Jonas 206 Darwin, Charles 27 Dehler, Thomas 159, 227 Delong, Vaughn R. 117–123, 214, 215 Dienemann, Max 60 Dietze, Carola 83 Dietze, Constantin von 139 Dreyer, Michael 98 Ebbinghaus, Julius 114 Eisenhower, Dwight D. 81 Endemann, Friedrich 35 Erhard, Ludwig 155 Ernst, Paul 206 Erzberger, Matthias 36 Eucken, Rudolf 88 Eucken, Walter 139 Euler 65 Everling, Elisabeth 59, 70 f., 73, 76, 199–203 Everling, Rudolf 58, 70, 73, 75 f., 199, 202 f. Falzmann, Peter 235 Fassbinder, Rainer Werner 184, 232 Fehr, Hans 35 Fetcher, Iring 227

Flechtheim, Ossip 227 Förster-Nietzsche, Elisabeth 30 Foschepoth, Josef 167 f. Frantz, Constantin 98 Frech 67 f., 201 Freud, Sigmund 90 Friedrich I., preußischer König 87 Friedrich II., preußischer König 87, 141 Galm, Heinrich 62, 200 Gebhardt, Adolf 212 Gebhardt, Hans 188 Geiler, Karl 82, 84 f., 139 Goebbels, Joseph 140 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 20, 127, 206 Goldschmidt, Salomon 201 Gorski, Peter 172 Gradenwitz, Otto 35 Granzin, Max 61 Grizmek, Bernhard 230 Grothe, Ewald 236 Grotius, Hugo 222 Gründgens, Gustav 172 f. Grünewald, Matthias 39 Guggenheim, Siegfried 93, 110, 207, 212 Hahn, Kurt 206 Hahn, Otto 152 Hallstein, Walter 154 Haupt, Wilhelm 123 Hauptmann, Gerhard 20 Haussmann 125

Hebbel, Friedrich 97 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 222 Heidegger, Martin 136 Heinemann, Gustav 128, 157 Heinsheimer, Karl 35 Hennig, Arno 218 Herrigel, Eugen 35 Herrigel, Hermann 206 Herz, Lilly 40 f., 47, 68, 71–74, 103, 196, 202 f. Herz, Rosalia 40 f.,43–46, 71, 103 f., 129, 132, 196 f., 210 Herz, Salomon 39 Herz, Selma (Sophie) 40 ff., 44 f., 71, 104, 196 Heuss, Theodor 163 Hilker, Franz 116 Hilpert, Werner 105, 125, 139 f., 142 f., 146 f., 155–160, 182, 216, 220, 222 f., 225 f. Himmler, Heinrich 9 Hindenburg, Paul von 55, 141 Hirschen, Hermann 66 Hitler, Adolf 9, 51, 55, 61, 63, 128, 142 Hoch, Fritz 81 Höfgen, Hendrik 172 Hölderlin, Friedrich 216 Höpker-Aschoff, Hermann 164 Howard, Peter 131 Hylla, Erich 116 Janse, Walter 217 Jellinek, Walter 103 Personenregister 251

Jesus von Nazareth 91 Jonas, Regina 60 Jost, Georg Wilhelm 166–169, 228 Jung, Edgar Julius 90, 207 Jünger, Ernst 88 Kanka, Karl 92 ff., 102, 108 f., 204, 207 f., 212 Kant, Immanuel 8, 36 Kaul, Friedrich Karl 169 Kerschensteiner, Georg 118 Klingmann, Rolf 180 Klöckner, Anja 235 Kogon, Eugen 142 Kohl, Helmut 181 Kokoschka, Oskar 21 Kranz, Gustav-Adolf 104 f., 211 Krollmann, Hans 127, 182, 217 f., 232 Laforet, Wilhelm 160 Lampe, Adolf 139 Landmann, Ludwig 206 Lehmann, Constanze 236 Lessing, Theodor 206 Lex, Hans Ritter von 167, 228 Mahraun, Arthur 198 Maistre, Joseph de 95, 208 Mann, Golo 127 Mann, Klaus 84, 172 Mayer, Helene 60 Mayer-Hungershausen, Albina 235 Mommsen, Wilhelm 220

252  Anhang

Müller, Otto, Ministerialrat 158, 225 Myk, Heinrich 188 Natorp, Paul 90, 206 Naujoks, Heinrich 222 Naumann, Fritz 153 Neubauer, Dr., Schuldirektor 191 Niemöller, Martin 157 Nietzsche, Friedrich 8, 29 ff., 33 f., 36, 78, 89, 194 Nipperdey, Thomas 14 Oepen,Kornelia 236 Oppenheim, Max 201 Osswald, Albert 183 Otto, Rudolf 88 Paquet, Alfons 206 Prigge, Wilhelm 104 f., 211 Pufendorf, Samuel von 222 Rade, Martin 32 Rajewski, Boris 150 Rathenau, Walther 36, 96, 206 Reichwein, Adolf 118 Reimer; Franz 235 Remer, Otto Ernst 164 Richert, Hans 118 Rickert, Heinrich 35 f. Rieffel, Franz 38, 195 Roh, Paul 229 Rosenberg, Leo 39, 136 Roßberg, Julia 236 Ruppel, Bertha 189

Ruppel, Heinrich Konrad 13 f., 188 f. Ruppel, Heinrich 189 Rust, Bernhard 124 Sabel, Anton 159 f., 226 Schäfer, Wilhelm 89 f., 206 Scheffler, Erna 171 Schiller, Friedrich von 20 Schmid, Carlo 222 f. Schmidt, Fritz 10 Schmidt, Ludwig 191 Schmitt, Carl 227 Schramm, Franz 85, 111 f., 115, 213 Schütte, Ernst 126, 182, 216, 231 Sieg, Ulrich 235 Spengler, Oswald 89 Stein, Frieda, geb. Ruppel 13–16, 19 f., 23 f., 30, 34, 46, 66, 76 ff., 188 f., 192, 203 f. Stein, Hedwig, geb. Herz 39, 41–47, 52 f., 56-62, 64 ff., 68–74, 77 ff., 83, 103, 106, 161, 185, 196, 199– 202 Stein, Johannes 188 Stein, Lotte Lena, verw. Prigge, geb. Putscher 83, 104–107, 143, 146, 161, 173–176, 178 f., 185, 210 f., 220, 226, 230 f. Stein, Oliver 189 Stein, Wilhelm Balthasar 11–14, 17, 19 f., 22–25, 30, 34, 36, 45 f., 64 ff., 76 ff., 188 f., 192, 196, 200, 203 f. Stein, Wilhelm Ludwig 13, 15 f., 30, 62 ff., 181, 189, 200, 231

Stein, Wolfgang 181 f., 231 Stengel-von Rutkowski, Lothar 104 Stock, Christian 83, 111, 128, 132 f., 143 f., 150, 214, 219 Strauß, Emil 206 Strecker, Reinhard 151 f., 216, 218, 224 Suhrkamp, Peter 9 Thape, Ernst 150, 224 Thums, Karl 210, 222 Trebes, Johanna 204 Troeltsch, Enst 35 Truman, Harry S. 116 Tschermak-Seysenegg, Armin 104, 210 Ueck, Frauke 187, 200, 235 Ulbricht, Walter 142 Ulrich, Carl 50 Unruh, Fritz von 21, 192 Verschuer, Otmar von 222 Viehweg, Willy 114, 145, 123, 213, 221 Vogel, Bernhard 182, 231 Wagner, Albert 218 Wahrmann, Carl Christian 235 Wann, Harry A. 117, 119, 214, 217 Weber, Max 35, 135 Weber, Rudolf 55 Wedekind, Frank 21 Werner, Klaus 212 Willner, Max 184, 232 Personenregister 253

Windelband, Wilhelm 35 Ziegler, Leopold 88–91, 161, 206 f., 226

254  Anhang

Zinn, Georg August 103, 156 f., 160, 182 Zook, George Frederick 116 f., 214