Leben in lebendigen Fragen: Zwischen Kontinuität und Pluralität 9783495825419, 9783495492161

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Leben in lebendigen Fragen: Zwischen Kontinuität und Pluralität
 9783495825419, 9783495492161

Table of contents :
Cover
Inhalt
Christian Bermes: Vorwort
Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu: Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung
I. BEWEGUNG UND WIDERSTAND
Markus Enders: Das Leben als das Prinzip der Selbstbewegung – zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Antike, in der christlichen Bibel und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters
1. Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Antike
Platons Verständnis des Lebens als die Idee der Selbstbewegung – vollkommenes Leben als die Selbsterkenntnis der Ideen – das »vollkommene Lebewesen« des Ideenkosmos und das »unvollkommeneLebewesen« des sichtbaren Kosmos
Aristoteles: Das Leben als das nach dem Grad der Selbstbewegung unterschiedene Sein der Lebewesen und als die reine Aktualität der Selbstreflexion des göttlichen Geistes
Plotin und der philosophische Neuplatonismus: Das Leben als die Selbstentfaltung und Selbstunterscheidung des Seins im Geist
2. Zum Verständnis des Lebens in der christlichen Bibel
Zum alttestamentlichen Verständnis des Lebens: Die Seele (næpæš) als Träger des Lebensatems und das Ideal eines langen und erfüllten Lebens als Geschenk Gottes
Das neutestamentliche Verständnis des Lebens: Der göttliche Logos bzw. Christus als das Leben selbst – die Heilsgabe des Lebens für die Gläubigen
3. Zum Verständnis des Lebens bei Augustinus und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters
Augustinus: Gott bzw. der göttliche Logos als der präexistente Vorentwurf der ganzen Schöpfung ist das Lebens selbst – die unsterbliche Seele als der Träger des Lebens in allen Lebewesen
Johannes Scottus Eriugena: Das göttliche Leben, das »allgemeinste Leben« und die verschiedenen Arten des L.s
Thomas von Aquin: Die Begriffsbestimmung und die vier Stufen des Lebens
Meister Eckhart: Die Gottheit als die Quelle und die trinitarische Selbsterkenntnis als die Aktualität des Lebens, seine Selbstursprünglichkeit und Selbstzwecklichkeit – die Gottes- bzw. Sohnesgeburt der menschlichen Seele als deren Rückkehr zum (göttlichen) Leben
Markus Enders: Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart – ausgewählte Positionen von René Descartes bis Michel Henry
1. Zum Verständnis des Lebens bei ausgewählten Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts (Descartes, Leibniz, Herder, Jacobi, Kant)
2. Der Begriff des Lebens im Denken des Deutschen Idealismus
Zur Einheit von spekulativem und nicht-spekulativem Verständnis des Lebens bei Johann Gottlieb Fichte
Leben als Einheitsprinzip eines ursprünglichen Gegensatzes – zu Schellings Verständnis des Lebens
3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Leben als der kreislaufförmige Prozess der Selbstbewegung des Geistes bzw. der Idee
3. Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Romantik
Friedrich Schlegels Verständnis des Lebens als eines unaufhörlichen Werdens
Novalis: Das Leben als unbegreifliche Verbindung von Sein und Nicht-Sein
4. Arthur Schopenhauer: Das Leben als die sichtbare Erscheinung des Willens – der Wille zum Leben als das Wesen der Welt und seine Verneinung als Erlösung vom Leidenscharakter des Lebens
5. Friedrich Nietzsche: Das Leben als der Kreislauf des Werdens und Vergehens und der gewaltsame Wille zur Macht als sein Prinzip
6. Wilhelm Dilthey: Das geschichtliche Leben des Menschen und dessen Erleben und Verstehen als universaler Zusammenhang zwischenmenschlicher Wechselwirkungen
7. Michel Henry: Das absolute Leben (Gottes) als reines Selbsterscheinen, seine Selbstaffektion, Selbstzeugung und -offenbarung im Erst-Lebendigen und seine pathischen Modalitäten (Sicherleiden und Sicherfreuen)
Franziska Neufeld: Leben und Ursprung
1. Einführung
2. Die Unhintergehbarkeit und Unergründlichkeit des Lebens
3. Philosophieren statt bloßes Leben
4. Philosophie als Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich
5. Schlussbetrachtung: Hermeneutische Ursprungsdimension
Camilla Croce: Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion:
1. Einführung: Leben und Philosophieren
2. Die Reduktion als Dispositiv: Husserls Fundamentalismus
3. Was dem skeptischen »Nichtwissen« bleibt: Kontingenz als Widerlegung des Fundamentalismus
4. Der Widerstand des Begehrens in der Epoché
Sonja Feger: Quasi-Ohnmacht
1. Einleitung
2. Lebensweltverlust und Selbsterhaltung
3. Absolutismus der Wirklichkeit als Quasi-Ohnmacht
4. Selbstbehauptung
5. Offene Horizonte, mögliche Intentionen
II. ERFAHRUNG UND ZEIT
Mingyu Wang: Leben und Zeit. Von der Zeitlichkeit zur Allzeitlichkeit
1. Einführung
2. Konstitution der Zeitlichkeit der realen Gegenstände
3. Die Konstitution der Allzeitlichkeit idealer Gegenständlichkeiten
4. Zusammenfassung
Karl Kraatz: Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben
1. Über den Kunstwerk-Aufsatz – Der philosophische Kontext
2. Das Kunstwerk – Das Sein des Seienden kommt zum Vorschein
3. Die Parallelen zu Sein und Zeit
4. Wissen und Wollen – Die Verwandlung der Bezüge
5. Die Erschütterung und der Umstoß des Bisherigen – Durchsichtigkeit
6. Über die Begrenztheit des menschlichen Lebens – Kunst und Leben
Diego D’Angelo: Das Leben erfahren.
1. Einleitung
2. Husserl
Lebenspulse
Schlafen und Wachen
Geburt und Tod
3. Merleau-Ponty
4. Cassirer
5. Schlussfolgerungen
Sihan Wu: Sein und Zeit und Leben – eine Interpretation der Schelerschen Kritik an Heideggers Sein und Zeit
1. Einleitung: Leben in lebendigen Fragen
2. Scheler und Heidegger
3. Schelers Auffassung von Leben
4. Sein und Zeit: Sein oder Sein des Lebens
5. Der ontische Zugang des Daseins zu seinen Möglichkeiten
6. Der ontologische Zugang des Daseins zu seiner Möglichkeit
7. Schlussbemerkungen
III. TRANSZENDENZ UND INNENWELT
Sylvaine Gourdain Castaing: Die Existenz »zum Unmöglichen«: eine Interpretation von Maldineys Verständnis des menschlichen Lebens zwischen Anthropologie, Psychopathologie und Ethik
1. Einleitung
2. Zur »Hyperphänomenalität« des menschlichen Lebens: die Unmöglichkeit des Selbst-werdens
3. Zur Bildhaftigkeit des menschlichen Lebens: Körperbild, Weltbild und internes Bild
4. Abschließende Bemerkungen
Chiara Pasqualin: Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens: Heidegger und Lévinas
Einleitung
1. Lévinas’ Kritik an Heidegger und das hermeneutische Verständnismodell der Transzendenz
2. Das ›pathische‹ Verständnismodell der Transzendenz
3. Abschließender Überblick: Konvergenzen und Divergenzen
Danka Radjenović: Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens im Kontext gegenwärtiger Diskussionen
1. Einleitung
2. Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens
Tagebücher / Notebooks 1914–16
Von dem Problem des Lebens im Tractatus logico-philosophicus (1921)
Vortrag über Ethik / Lecture on Ethics (1929/1930)
1930er Jahre – Vermischte Bemerkungen
Von dem Problem des Lebens in der späteren Philosophie Wittgensteins
3. Die Frage nach dem Sinn des Lebens in den gegenwärtigen Diskussionen
DANKSAGUNG:
Saulius Geniusas: Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
1. Versunkenheit: Eine phänomenologische Beschreibung
2. Versunkenheit als Selbstverschiebung
3. Versunkenheit und Selbsttäuschung
4. Versunkenheit und Vergegenwärtigungen
5. Versunkenheit und Ichspaltung
6. Versunkenheit und Zuneigung
7. Versunkenheit und Gefangenschaft
8. Schlussbemerkungen
IV. WELT UND PRAXIS
Annette Hilt: »Ent-fremdung« – Dialektik in Finks Ontologie des Sozialen
1. Lebendigkeit phänomenologischen Fragens
2. Ontologische Grundstrukturen des Erscheinens
3. Was uns erscheint – und wie wir uns darin erkennen: Das Reflexionsfeld der Grundphänomene und Finks Weg zur Kosmologie
4. Weltdialektik und die Idee des Unendlichen
Anne Kirstine Rønhede: Wahrheit im Leben
1. Einleitung
2. Seinsarten
3. Seinsarten und Wahrheitsformen
4. Die Seinsarten-Auslegung versus pragmatistische Auslegungen
5. Zusammenfassung – Wie wird die Wahrheit bei Heidegger im Leben verortet?
Erik Norman Dzwiza-Ohlsen: Zwischen Erlebnis und Ausdruck – Grundzüge einer phänomenologischen Psychopathologie der Alzheimer-Demenz im Rückgang auf die Lebenswelt
1. Einleitung. Demenz in Wissenschaft und Gesellschaft
2. Zur Möglichkeit einer phänomenologischen Psychopathologie im Ausgang von der Lebenswelt
3. Die drei Dimensionen lebensweltlicher Orientierung, oder: der Zusammenhang von Orientierung, Sprache und Gedächtnis
4. Analysen der gestörten Orientierung, Sprache und Gedächtnis bei AD
5. Therapeutische Möglichkeiten bei AD: Habitus als kontextspezifische Ressource
6. Fazit
Anne Lepper: Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule: Leben im Spannungsfeld der Praxis
1. Einführung
1. Zum Begriff der Bildung
2. Anerkennung und Universalisierung als Grundlage von Bildung
3. Bildung und Diversität im schulischen Kontext
4. Bildung ermöglichende autonomiestiftende Sozialbeziehungen im Unterricht
5. Schlussbemerkungen
Die Autoren

Citation preview

Franziska Neufeld, Chiara Pasqualin, Anne Kirstine Rønhede, Sihan Wu (Hg.)

Leben in lebendigen Fragen Zwischen Kontinuität und Pluralität

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825419

.

B

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu (Hg.) Leben in lebendigen Fragen Zwischen Kontinuität und Pluralität

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu (Hg.)

Leben in lebendigen Fragen Zwischen Kontinuität und Pluralität

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu (Ed.) Living in Lively Questions Between Continuity and Plurality What is life? The present collection of essays shifts the focus from this general question of What to the basic question of How: the question how human life unfolds itself. Due to this particular emphasis, life is investigated in its movement – life which encounters resistance, that continuously transcends, that experiences itself as temporal and which realizes itself in the world as praxis. The volume gathers essays on the historical transformation of the concept of life, philosophicalphenomenological inquiries (in dialogue with Husserl, Heidegger and Scheler among others), as well as practice-oriented contributions (within the area of dementia research and educational science).

The Editors: Franziska Neufeld was a doctoral fellow at the graduate school »Herausforderung Leben« at the University of Koblenz-Landau from March 2019 to December 2020. She is currently working on her dissertation on philosophy as a primordial science in Martin Heidegger's early Freiburg lectures and is a member of the Research Centre for Phenomenology and Hermeneutics at the University of Koblenz-Landau. Chiara Pasqualin is a member of the Research Centre for Phenomenology and Hermeneutics (University of Koblenz-Landau) and since November 2020 co-editor of the Journal Heidegger Studies. From 2016 to 2020, she was a postdoctoral fellow at the graduate school »Herausforderung Leben« at the University of Koblenz-Landau and lecturer at the Institute of Philosophy at the same university. Anne Kirstine Rønhede is a member of the Research Centre for Phenomenology and Hermeneutics at the University of Koblenz-Landau and is working on her dissertation on phenomenological truth starting from Heidegger's conception of truth. From February 2018 to October 2020, she was a doctoral fellow at the graduate school »Herausforderung Leben« in Landau, and subsequently worked there as a research assistant at the Institute of Philosophy until February 2021. Sihan Wu is currently working on her dissertation on the question of sympathy in Max Scheler's thought in relation to the question of friendship and is a member of the Research Centre for Phenomenology and Hermeneutics at the University of KoblenzLandau. From April 2018 to December 2020, she was a doctoral fellow at the graduate school »Herausforderung Leben« at the University of Koblenz-Landau.

https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu (Hg.) Leben in lebendigen Fragen Zwischen Kontinuität und Pluralität Was ist Leben? Im vorliegenden Sammelband wird der Akzent von dieser allgemeinen Frage nach dem Was auf die grundlegende nach dem Wie, nach der Entfaltung des menschlichen Lebens, verschoben. Dabei wird das Leben in seiner Bewegung verfolgt: als Leben, das auf Widerstand stößt, stetig transzendiert, sich als zeitlich erfährt und in Welt und Praxis verwirklicht. Der Band versammelt begriffsgeschichtliche Aufsätze, philosophisch-phänomenologische Reflexionen (im Zwiegespräch u. a. mit Husserl, Heidegger und Scheler) sowie an der konkreten Praxis orientierte Beiträge (im Rahmen der Demenzforschung und Erziehungswissenschaften).

Die Herausgeberinnen: Franziska Neufeld war von März 2019 bis Dezember 2020 Promotionsstipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität Koblenz-Landau. Sie arbeitet derzeit an ihrer Dissertation über die Philosophie als Urwissenschaft in den frühen Freiburger Vorlesungen Martin Heideggers und ist Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik an der Universität Koblenz-Landau. Chiara Pasqualin ist Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik (Universität Koblenz-Landau) und seit November 2020 Mitherausgeberin der Zeitschrift Heidegger Studien. Von 2016 bis 2020 war sie Habilitationsstipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität Koblenz-Landau und dort am Institut für Philosophie als Lehrbeauftragte tätig. Anne Kirstine Rønhede ist Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik an der Universität Koblenz-Landau und arbeitet an ihrer Dissertation über Wahrheit als Phänomen im Ausgang von Heideggers Wahrheitskonzeption. Von Februar 2018 bis Oktober 2020 war sie Stipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« in Landau, und anschließend dort bis Februar 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie tätig. Sihan Wu arbeitet derzeit an ihrer Dissertation über die Sympathiefrage im Denken Max Schelers in Bezug auf die Freundschaftsfrage und ist Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik an der Universität Koblenz-Landau. Von April 2018 bis Dezember 2020 war sie Stipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität Koblenz-Landau.

https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Gefördert von der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität Koblenz-Landau.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Print 978-3-495-49216-1 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82541-9

https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Bermes

Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung

. . . . . . . . .

13

Das Leben als das Prinzip der Selbstbewegung – zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Antike, in der christlichen Bibel und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters . . .

29

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu

I. BEWEGUNG UND WIDERSTAND

Markus Enders

Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart – ausgewählte Positionen von René Descartes bis Michel Henry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Markus Enders

Leben und Ursprung Der frühe Heidegger im Spannungsverhältnis zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus . . . . . . . . . . . 126 Franziska Neufeld

Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion: Der Widerstand des Subjekts in der Epoché . . . 154 Camilla Croce 7 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Inhalt

Quasi-Ohnmacht Selbstbehauptung aus bewusstseinstheoretischer Perspektive bei Hans Blumenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sonja Feger

II. ERFAHRUNG UND ZEIT Leben und Zeit. Von der Zeitlichkeit zur Allzeitlichkeit . . . . 203 Mingyu Wang

Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben . . 225 Karl Kraatz

Das Leben erfahren Husserl, Cassirer, Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . 246 Diego D’Angelo

Sein und Zeit und Leben – eine Interpretation der Schelerschen Kritik an Heideggers Sein und Zeit . . . . . . . . 271 Sihan Wu

III. TRANSZENDENZ UND INNENWELT Die Existenz »zum Unmöglichen«: eine Interpretation von Maldineys Verständnis des menschlichen Lebens zwischen Anthropologie, Psychopathologie und Ethik . . . . . . . . . . 301 Sylvaine Gourdain Castaing

Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens: Heidegger und Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Chiara Pasqualin

Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens im Kontext gegenwärtiger Diskussionen . . . . . . . . . . . 349 Danka Radjenović 8 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Inhalt

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

. . . . 367

Saulius Geniusas

IV. WELT UND PRAXIS »Ent-fremdung« – Dialektik in Finks Ontologie des Sozialen . . 393 Annette Hilt

Wahrheit im Leben Die grundlegende Pluralität der Seinsarten in Sein und Zeit versus pragmatistische Deutungsansätze . . . . . . . . . . . 413 Anne Kirstine Rønhede

Zwischen Erlebnis und Ausdruck – Grundzüge einer phänomenologischen Psychopathologie der AlzheimerDemenz im Rückgang auf die Lebenswelt . . . . . . . . . . . 435 Erik Norman Dzwiza-Ohlsen

Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule: Leben im Spannungsfeld der Praxis . . . . . . . . . . . . . . 461 Anne Lepper

Die Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

9 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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Vorwort Christian Bermes

Die Diagnose Plessners aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist bekannt. Jede Zeit, so seine Formulierung, findet ihr ›erlösendes Wort‹ : Die begriffliche Infrastruktur des 18. Jahrhunderts richtet sich an der ›Vernunft‹ aus, die des 19. Jahrhunderts an der ›Entwicklung‹ und die des 20. Jahrhunderts am ›Leben‹. Die Karriere der sogenannten Lebenswissenschaften im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist ein Beleg dafür, aber natürlich auch und sicherlich besonders die Karriere des Lebensbegriffs in der Philosophie, sei es nun in der entstehenden Philosophischen Anthropologie, die dem Leben in den Differenzen des Lebendigen nachgeht, in der Lebensphilosophie, die dem Verlust von Lebensbedeutsamkeit entgegenzuwirken sucht, in der Kulturphilosophie, die die sinnhafte Orchestrierung des menschlichen Lebens thematisiert oder auch in der Sozialphilosophie, die die institutionellen Gefüge sozialen Lebens problematisiert. Eine sicherlich besondere Rolle spielt in diesem Kontext die Phänomenologie. Mit Husserls Initiative, die vorausgesetzten Deutungen des Lebens einzuklammern und aus dem intentionalen Erleben dem lebendigen Bewusstsein eine Stimme zu geben, ergibt sich eine Perspektive, die der Objektivität des Lebens nachgeht, indem die Frage gestellt wird, wie Leben sich erleben kann. Freilich ist diese Perspektive nicht frei von Missverständnissen. Denn es handelt sich keineswegs um eine neuerliche Psychologisierung des Lebens und ebenso wenig um eine schlichte Inszenierung beliebiger Stimmungsund Gefühlslagen. Im Gegenteil, die Husserlsche Herausforderung besteht darin, in der Subjektivität des Erlebens eine eigene, nicht ersetzbare und ebenso wenig überbietbare Objektivität des Lebensphänomens zu erkennen. Bei aller Kritik im Einzelnen bleiben sowohl der frühe Heidegger, Scheler, Merleau-Ponty und viele andere diesem Programm verpflichtet. Und bei allen Schwierigkeiten ist bis heute diese Perspektive von besonderer Bedeutung. Man liegt sicherlich

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Vorwort

nicht falsch in der Annahme, dass gerade diese Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eine besondere Renaissance erlebt. 2010 wurde die Graduiertenschule »Herausforderung Leben« mit Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz an der Universität Koblenz-Landau gegründet. Das Forschungsprogramm war keineswegs auf die Phänomenologie beschränkt. Doch das Potential der Phänomenologie zeigte sich immer wieder auch in der systematischen Auseinandersetzung mit der Analytischen Philosophie, der klassischen Transzendentalphilosophie oder auch den Kulturwissenschaften. Mehr als 20 Nachwuchswissenschaftlerinnen konnten seit der Einrichtung der Graduiertenschule ihre Forschungsprojekte durchführen und in einem internationalen Netzwerk diskutieren. Gäste aus Europa, Nord- und Südamerika, aber auch aus Asien nahmen an den zahlreichen Workshops und Tagungen der Graduiertenschule teil, die in inzwischen 11 Jahren durchgeführt wurden. Es bildete sich ein lebendiges Forum philosophischer Forschung, in dem Interdisziplinarität keine Floskel, sondern gelebte Wirklichkeit war. Der vorliegende Band entstand aus der Initiative der Stipendiatinnen der zweiten und abschließenden Förderphase der Graduiertenschule. Er versammelt Beiträge von Promovendinnen und Gästen, die an der Graduiertenschule mitgewirkt haben. Sicherlich war es auch immer eine Herausforderung, all die unterschiedlichen Perspektiven zu synchronisieren und ineinander zu übersetzen. Vor allen Dingen aber war es eine intellektuelle Freude, an den Diskussionen teilhaben zu können und die Fortschritte und Weiterentwicklungen der Forschungsprojekte begleiten zu dürfen. Auch wenn die institutionelle Arbeit der Graduiertenschule nun nach mehr als 10 Jahren abgeschlossen ist, so werden die Kooperationen weiter bestehen bleiben und natürlich auch die herausfordernde Fragestellung, wie Leben als eigenständiges Phänomen zur Sprache gebracht werden kann, ohne sich in Reduktionismen verschiedenster Art zu verlieren.

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Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu

Leben in seiner Komplexität und Vielfalt ist eines derjenigen Phänomene, die den Menschen in ihrer Fraglichkeit seit jeher vor Herausforderungen und verschiedene Aufgabenhorizonte stellen. Schon die durch diese Komplexität unmittelbar angeregte Frage »Was ist (das) Leben?« verweist auf die diversen wissenschaftlichen Ansätze seiner Erschließung. So fällt das Leben in den sogenannten Lebenswissenschaften nicht nur in den Aufgabenbereich der Grundlagenforschung, in der die Lebensstrukturen und Prozesse der verschiedenen Lebewesen und Lebensformen analysiert werden, es ist vor allem auch Gegenstand der angewandten Wissenschaften, der (human-) medizinischen Forschung und der Psychologie. Letztere zentrieren sich dabei um das menschliche Leben, das wiederum Gegenstand weiterer, vornehmlich geisteswissenschaftlicher Ausrichtungen ist wie der Kulturwissenschaften, der Soziologie und Erziehungswissenschaften – und nicht zuletzt der Philosophie. Denn während die angeführten Wissenschaften sich auf thematische Schwerpunktsetzungen des Lebens spezialisieren und seiner auf diese Weise habhaft zu werden suchen, vermag es insbesondere die Philosophie, das Leben in seiner Bedeutsamkeit für den Menschen selbst, in seiner Perspektivität und Vielschichtigkeit, aber auch Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit zu beleuchten. Wenn daher im Folgenden von der Herausforderung des Lebens als menschliches Leben die Rede ist, dann vor dem Hintergrund der philosophischen Ausgangslage, dass sich der Mensch in seiner Lebendigkeit insbesondere dadurch auszeichnet, die Fragwürdigkeit des Lebens implizit oder explizit zum Thema zu machen. Und gerade diese, aus dem menschlichen Leben selbst entspringende Fraglichkeit des Lebens macht eines seiner konstitutiven Momente aus. Doch wie erscheint dann dem fragenden Menschen das Leben, das er selbst ist? Wie erlebt sich das Leben? Werden Fragen wie diese gestellt, zeigt sich das Leben in seiner Prozesshaftigkeit und Wandel13 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu

barkeit. Denn der Mensch erfährt das Leben als eines, das in ständiger Bewegung ist, weshalb sich das jeweils erlebte Leben trotz seiner Kontinuität verändert. Als ein solch fortlaufender und sich vielfältig gestaltender Prozess erscheint das Leben dem fragenden Menschen. Damit wandelt sich die Frage »Was ist das Leben?« in die Frage »Wie entfaltet und erlebt sich das Leben?« um. Es ist diese Frage nach dem Wie, die in dem vorliegenden Sammelband im Zentrum steht. Denn nur sie vermag das Leben gerade in seiner Bewegung, die es grundsätzlich auszeichnet, zu verfolgen, ohne diese zu unterbrechen und zu fixieren. Dadurch wird das Fragen nach dem Leben zum integrierten Teil von dessen Bewegung und gewinnt dadurch an Lebendigkeit. Wird das Leben in seiner Entfaltung zum Thema einer expliziten Auseinandersetzung, tritt auch die Pluralität als ein Wesensmoment dieser Dynamik zutage. Denn einerseits wird das Leben immer mit anderen Menschen geteilt, andererseits wird es auf unterschiedliche und stetig variierende Weisen vollzogen. Damit eröffnet sich eine Vielfalt an Möglichkeiten für (methodisch und inhaltlich) unterschiedliche Denkansätze innerhalb der Kontinuität, die durch den Gegenstand gegeben ist. Vor diesem Hintergrund ist ein Sammelband ein geeignetes Medium, um einerseits mehrere Auffassungen aus verschiedenen Perspektiven zu einem Spektrum des Lebens zusammenzuführen sowie andererseits durch eine Vielzahl an Fragen und Antworten die polymorphe Wirklichkeit des Lebens herauszustellen. So finden sich hier neben klassisch philosophischen Themen auch Betrachtungen zum menschlichen Leben vor dem Hintergrund der schulischen Bildung oder aber der Demenzforschung. Auch die unterschiedlichen Methoden und Zugänge – wie etwa begrifflich-historische, phänomenologische, anthropologische oder pädagogische – spiegeln die besagte Vielfalt wider. Der pluralistische Ansatz wird noch dadurch verstärkt, dass in vielen Beiträgen Vergleiche zwischen Denkern und Positionen angestellt werden, die auf den ersten Blick weit zu divergieren scheinen. Dabei versuchen die Autorinnen und Autoren, die Kontinuität – das Gemeinsame und Verbindende – innerhalb der nicht zu nivellierenden Pluralität der Ansichten hervorzuheben. Die Pluralität drückt sich hier in der vielstimmigen, aber gemeinsamen Debatte über das Leben aus, welche durch Parallelen und Kontrastierungen – die sich nicht auf die philologische Rekonstruktion begrenzen – lebendig wiedergegeben wird. Wenngleich die vorliegenden Beiträge eine Pluralität von Standpunkten und Antworten darbieten, zeigen sie eine Kontinuität auf, indem sie das einheit14 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung

liche Anliegen teilen, das Kennzeichnende des Lebens durch ein lebendiges Fragen hervorzuheben. Pluralität und Kontinuität zeigen sich auch in den verschiedenen Begriffen der vier Sektionen – Bewegung und Widerstand; Erfahrung und Zeit; Transzendenz und Innenwelt; Welt und Praxis –, die wiederkehrende Motive der Überlegungen darstellen. Der Titel jeder Sektion rekurriert auf ein Begriffspaar: Damit wird beabsichtigt, einseitige und statische Beobachtungen zu vermeiden, um das Phänomen des Lebens in seiner konkreten Spannung und Dynamik sprechen zu lassen. In einigen Fällen weisen die verknüpften Begriffe auf widersprüchliche Momente des Lebens hin, in anderen Fällen auf zusammenhängende Bestandteile des Lebensprozesses. Unter diesen begrifflichen Prägungen fließt das Leben jedoch als ein Kontinuum, das die verschiedenen Momente letztlich miteinander in Verbindung bringt. Auch die Leitfrage nach dem Wie der Entfaltung des Lebens lässt sich in der Gliederung des Sammelbandes wiedererkennen. Die erste Sektion konzentriert sich auf die Bewegung des Lebens und seiner Strukturmomente, vor allem Widerstand und Ursprung. In der zweiten Sektion wird der Akzent auf das Wie der Erfahrbarkeit dieser Bewegung gelegt. Dabei erhält die Zeit ein besonderes Gewicht, da sie formale Struktur und zugleich Objekt der Erfahrung ist. In der dritten Sektion steht das Wie der Lebensbewegung in ihrer Ausrichtung auf Alterität, Sinn und Innenwelt im Mittelpunkt. Die vierte Sektion fokussiert auf die Zusammenhänge und Dynamiken zwischen dem Vollzug des Lebens und dem Rahmen, innerhalb dessen es vollzogen wird. Im Folgenden werden die Sektionen inhaltlich vorgestellt und die einzelnen Beiträge in Bezug auf das Thema der jeweiligen Sektion umrissen. Die erste Sektion thematisiert das dem menschlichen Leben immanente Spannungsverhältnis zwischen Bewegung und Widerstand. Der Begriff der Bewegung verweist dabei auf das wesentliche Grundmerkmal des Lebens überhaupt: Es ist ein lebendiger, dynamischer Prozess, der sich nicht erst durch Anstöße und Widerstände von außen in Bewegung setzt, sondern vielmehr in Form der Selbstbewegung sein Grundprinzip in sich selbst trägt. Das selbstbewegte menschliche Leben in dieser Welt wird von inneren Gegensätzen bestimmt, es stößt auf Grenzen und Widerstände, die seine schöpferische Kraft behindern bzw. hemmen, aber auch stärken und 15 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Franziska Neufeld / Chiara Pasqualin / Anne Kirstine Rønhede / Sihan Wu

steigern können. So befindet sich der Mensch in der Spannung zwischen dem unmittelbaren Leben und der Theorie, zwischen Werden und Vergehen, zwischen seinem Selbstsein und der Welt bzw. Wirklichkeit, d. h. zwischen polaren Gegensätzen, die sein Leben fraglich werden lassen, ihn aber auch vor Aufgaben und Herausforderungen stellen und damit zugleich eine fruchtbare Potenzialität eigener Gestaltungsvielfalt mit sich bringen. In seinen beiden begriffsgeschichtlichen Beiträgen zum Begriff des Lebens in der Philosophie der Antike, der christlichen Bibel, der Philosophie des lateinischen Mittelalters sowie in ausgewählten Positionen der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart gibt Markus Enders einen philosophiehistorischen Überblick, der als Einführung in die Thematik dieses Sammelbandes dient. Der erste Beitrag »Leben als das Prinzip der Selbstbewegung – zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Antike, in der christlichen Bibel und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters« rekonstruiert die wichtigsten Antworten, die auf die Frage nach dem Wesen des Lebens in den beiden philosophiegeschichtlichen Epochen der Antike und des Mittelalters gegeben wurden. Sie ergeben ein Grundverständnis des Lebens als eines meist geistmetaphysisch begründeten Prinzips der Selbstbewegung, das sich in qualitativ unterschiedlichem Maße auf verschiedenen Seinsstufen verwirklicht. In dem zweiten Aufsatz desselben Autors »Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart – ausgewählte Positionen von René Descartes bis Michel Henry« rückt die dem Leben immanente Gegensätzlichkeit verstärkt in den Fokus der Betrachtung. In den dort behandelten Positionen äußert sich zumindest teilweise jene innere Widerständigkeit des Lebens, die u. a. durch dialektische, historistische oder phänomenologische Ansätze aufgelöst wird oder auch durch Selbstüberwindung (Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche) transzendiert werden soll. Eine spekulative Auszeichnung erfährt der Begriff des Lebens im Denken des Deutschen Idealismus, und zwar vor allem in Gestalt eines absoluten Lebens beim späten Fichte und des Prozesses der Selbstbewegung des Geistes bei Hegel. Auf die Konzeption eines absoluten Lebens und dessen immanente (Selbst-)Liebe und Seligkeit beim späten Fichte geht die radikalphänomenologische Bestimmung des Lebens als eines reinen Selbsterscheinens bzw. einer Selbstaffektion bei dem französischen Lebensphänomenologen Michel Henry zwar nicht methodisch, aber sachlich zurück. 16 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung

Franziska Neufeld thematisiert in ihrem Beitrag »Leben und Ursprung. Der frühe Heidegger im Spannungsverhältnis zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus« die genannte Spannung zwischen Bewegung und Widerstand hinsichtlich der Frage, ob das Leben in seiner Dynamik auf einen allgemeingültigen Ursprung zurückgeführt werden kann oder einem solchen widersteht. Dabei ist zunächst die Diltheysche These der Unhintergehbarkeit des Lebens leitend, nach der jegliche metaphysischen und transzendentalen Letztbegründungsansprüche zugunsten ihrer historischen Einbettung in den menschlich-gegebenen Lebenszusammenhang als das Ursprüngliche verworfen werden und die seitens des Neukantianismus auf vehementen Widerstand trifft. Mit dem frühen Heidegger weist die Autorin anschließend ein aus dem Leben selbst entspringendes hermeneutisches Ursprungsverständnis auf, das mathematisch-naturwissenschaftlich und metaphysisch orientierte Fundierungen auf letzten, allgemeingültigen Prinzipien destruiert. Auf diese Weise wird das menschliche Leben zu seinem eigentlichen Ursprungsboden in seiner zu vollziehenden und selbstgestaltenden Potenzialität zurückgeführt. Dabei leistet auch das Subjekt selbst Widerstand gegenüber der mit der transzendentalen Reduktion geforderten Voraussetzungslosigkeit bzw. Letztbegründung innerhalb der Phänomenologie Edmund Husserls, wie Camilla Croce in ihrem Beitrag »Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion. Der Widerstand des Subjekts in der Epoché« herausstellt. Dabei legt die Autorin in Anlehnung an Michel Foucault die phänomenologische Reduktion als ein historisches Dispositiv aus, womit sie zunächst zeigt, dass innerhalb der Reduktion vorausgesetzt ist, dass das natürliche Leben nur durch das reflektierte Leben seine Wahrheit erhält. Das in der Epoché gehaltene unbewusste Subjekt des Begehrens fällt somit aus dem Wissensfeld der Reduktion heraus, wobei diese das Subjekt jedoch gerade nicht ausschaltet, sondern lediglich verdrängt und verleugnet. Mit Hilfe des philosophisch-archäologischen Ansatzes Giorgio Agambens und des psychoanalytischen Ansatzes Jacques Lacans verweist Croce auf eine skeptische Epoché, die es ermöglicht, die phänomenologische Reduktion außer Kraft zu setzen und jenes Subjekt des Begehrens in seiner Kontingenz und Potenz wirken zu lassen, von dem die Philosophie ihren Ausgang zu nehmen hat. Sonja Feger hingegen vertieft in ihrem Beitrag »Quasi-Ohnmacht. Selbstbehauptung aus bewusstseinstheoretischer Perspektive 17 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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bei Hans Blumenberg« die Spannung zwischen der Ohnmacht des Menschen und der Übermacht der Wirklichkeit in den Schriften Blumenbergs. Blumenberg zufolge kann das Subjekt der Moderne die Wirklichkeit als erdrückende, unbeeinflussbare und kaum zu überwindende Größe erfahren. Wirklichkeit, wenn sie derart als absolute wahrgenommen wird, gefährdet die Stellung des Menschen in der Welt, sie figuriert als Widerstand, gegen den er sich, ›beinahe‹ ohnmächtig, mittels seiner Vernunft zur Wehr setzen muss. Mit Rückgriff auf den phänomenologischen Begriff des Horizonts zeigt die Autorin, dass dies dem Menschen gelingt, indem er Distanz zur Wirklichkeit einnimmt und sich einen offenen, freien Raum von Möglichkeiten schafft, um sich gegen eine übermächtige Wirklichkeit zu behaupten. In Bezug auf die Thematik der zweiten Sektion Erfahrung und Zeit ist zunächst der Sachverhalt zu beachten, dass sich das menschliche Leben als offen für unterschiedliche Erfahrungsformen erweist. Die Beiträge dieser Sektion konzentrieren sich also nicht auf die bereits fixierte empirische Erfahrung, die objektiv beobachtbar sowie systematisch kontrollierbar ist und daher der Erfahrungswissenschaft zugrunde liegt; ebenso wenig behandeln sie Ansätze, in denen die Erfahrung auf den rein subjektiven Sinneseindruck zurückgeführt wird. Vielmehr wird ein von der phänomenologischen Methode geprägter Spielraum eröffnet, in dem sich die Autorinnen und Autoren bewegen. Hierbei sind die Erfahrungen unmittelbar gegeben, d. h., sowohl deren Inhalte als auch ihre formalen Ordnungen sind evident anschaulich. Daraus ergibt sich einerseits die Anschauung, dass die Erfahrung einen unmittelbaren Zugang zum menschlichen Leben bildet, andererseits die Möglichkeit, die Erfahrung und damit das menschliche Leben einer theoretischen Betrachtung zu unterziehen, also die angeschauten Wesenheiten beschreibend zum Ausdruck zu bringen. Als eine der grundlegendsten Ordnungen hebt sich die Zeit hervor, die den kontinuierlichen Erfahrungsstrom des Lebens durchformt. Nach den verschiedenen Zeitmodi lässt sich der Erfahrungsbereich in wesentlich unterschiedliche Sphären aufteilen, in denen die vielfältigen Lebenserkenntnisse ausgearbeitet werden können. Während alle in unseren lebendigen Erlebnissen gegebenen Gegenstände sich der Ordnung und Regelung der Zeit unterziehen – woran wir im Alltagsleben nie zweifeln –, weigert sich allerdings die wissenschaftliche Erfahrung, in diesem zeitlichen Fluss ›mitzuschwimmen‹. Wissenschaftliche Sätze, die sich auf ideale Gegen18 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung

stände richten, beanspruchen vielmehr aus der naiven Perspektive gesehen eine zeitlose Gültigkeit, bzw. aus der Perspektive der phänomenologischen Einstellung eine Allzeitlichkeit. Mingyu Wangs Aufsatz »Leben und Zeit. Von der Zeitlichkeit zur Allzeitlichkeit« widmet sich mit Blick auf Husserls transzendentale Phänomenologie der Frage, wie der Zusammenhang zwischen der alltäglichen Zeitlichkeit und der wissenschaftlichen Allzeitlichkeit verstanden werden kann. Eine Analyse der Konstitution der Zeitlichkeit erlaubt es, sich die Unterschiede zwischen idealen und realen Gegenständen sowie die Möglichkeit, identisch ideale Gegenstände überhaupt zu konstruieren, nahezubringen. Von der sukzessiv verlaufenden Zeit hebt sich die Erfahrung des Kunstwerks ab, in der wir vor einem uns tief berührenden Kunstwerk erstarren, als würde die Zeit aufhören zu fließen. So entdeckt Karl Kraatz in seinem Beitrag »Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben« auf der Grundlage einer eingehenden Schilderung dieser merkwürdigen Erfahrung in der Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes die die Wirklichkeit umbildende Kraft der Kunst. Weil es eine andere Art von Bezug zum Seienden ist, die durch die Frage nach dem Sein des Kunstwerks aufscheint, bringt die Kunsterfahrung – als durchbreche sie die gegebene Zeitlinie – folglich einen neuen Anfang hervor. Die Erfahrung der Kunst stellt das gängige Verständnis der Zeit als Kontinuum infrage. Von diesem Moment an ist der Mensch fähig, ein besonderes, lebendiges Wissen um sein Leben zu gewinnen. Die heikelste Frage ist jedoch offenbar die, wie der lebendige Mensch sein eigenes Leben überhaupt ohne konkrete Inhalte, die es erfüllen, erfahren kann. In dem Beitrag »Das Leben erfahren. Husserl, Cassirer, Merleau-Ponty« zeigt Diego D’Angelo die jeweiligen Konzeptionen der drei Autoren in Bezug auf diese seltsame Erfahrungsmöglichkeit auf und analysiert sie im Vergleich miteinander. Ein Resultat ist die gemeinsame Einsicht, dass unser Leben auf der untersten Ebene von einer Art Puls oder Pulsschlag strukturell bestimmt wird, der zugleich das Zeitverständnis der drei genannten Autoren fundiert bzw. ihnen zufolge die Zeitlichkeit charakterisiert. Es ist, so D’Angelo, dieses Fühlen des Pulses, das unser eigenes Leben erfahrbar macht, und nur anhand der Erläuterung von dessen Erfahrbarkeit kann das Leben überhaupt als Gegenstand der Phänomenologie gelten. Auf das Leben selbst, aber aus einer anderen Perspektive, kon19 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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zentriert sich auch Sihan Wu in ihrem Beitrag »Sein und Zeit und Leben – eine Interpretation der Schelerschen Kritik an Heideggers ›Sein und Zeit‹«. Dabei steht die Todes›erfahrung‹ im Mittelpunkt der Diskussion, die den Gegensatz des Lebens und zugleich das Ende der Zeit markiert. In ihrem Beitrag zeigt die Autorin die Unterschiede zwischen Martin Heideggers und Max Schelers Positionen in Hinblick auf die Frage auf, wie die Zeitlichkeit jeweils mit dem Sein und dem Leben zusammenhängt. Während Heidegger das Leben des Daseins zugrunde legt und die Zeitlichkeit als Horizont von dessen Seinsverständnis interpretiert, wird bei Scheler das Leben mit seiner zeitlichen Charakteristik hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Geist verstanden, der jedoch wesenhaft überzeitlich ist. Der Geist wird hier als äußerlicher Fundierungspunkt des Lebens verstanden, der sich stets im Widerstreit mit dem Leben befindet. Im Ausgang von Scheler weist Wu daher nicht nur auf eine andere Möglichkeit der Ontologie hin, der eine überzeitliche Dimension zuzuschreiben ist, sondern auch auf eine metaphysische Auffassung des Lebens. Die Beiträge der Sektion Transzendenz und Innenwelt lassen sich auf den Leitgedanken zurückführen, dass das Leben durch eine Tendenz zum Transzendieren gekennzeichnet ist. Das Transzendieren, verstanden als eine Dynamik des Lebens, wird hier entweder explizit analysiert oder aber es lässt sich aus dem Kontext als ein implizites Thema herausarbeiten. Zu transzendieren bedeutet keine mystische Erhebung des Lebens zu einer vermeintlichen Überwelt, sondern ein Überschreiten bestimmter, dem Leben immanenter Grenzen, welches im Bereich der Menschenwelt statthat und daher durchaus anthropologisch zu deuten ist. Dieses Transzendieren kann sich sogar lediglich in der Innenwelt abspielen, sodass diese zum paradoxalen Ort einer immanenten Transzendenz wird. Im Allgemeinen bezeichnet die Transzendenz im Kontext dieser Sektion kein Attribut des Göttlichen, sondern das Proprium des menschlichen Lebens, das auf unterschiedliche Weisen transzendiert wird bzw. ›transzendent‹ ist. Einige dieser unterschiedlichen Entfaltungsweisen der transzendenten Dynamik des Lebens werden in den Überlegungen dieser Sektion ausgelotet. In ihrem Beitrag »Die Existenz ›zum Unmöglichen‹ : eine Interpretation von Maldineys Verständnis des menschlichen Lebens zwischen Anthropologie, Psychopathologie und Ethik« zeigt Sylvaine Gourdain Castaing anhand der Überlegungen von Henri Maldiney, 20 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Leben in lebendigen Fragen – eine Einleitung

dass der gesunde Mensch transzendieren kann, während der psychotische in seiner Transzendenz immer scheitern muss. Das Transzendieren wird hier also als die Fähigkeit der Existenz herausgestellt, über ihre Entwürfe und Prognosen hinauszugehen, um sich für das zu öffnen, was jedem subjektiven Umgrenzungsversuch entgeht – für das Überraschende und Unvorhersehbare, für das, was Maldiney das »Ereignis« nennt –, und sich von diesem verwandeln zu lassen. Zum Bereich des Unvorhersehbaren gehört auch die Existenz des Anderen. Somit ist der Mensch in der echten Begegnung mit dem Anderen aufgefordert, (sich) zu transzendieren: Er muss über sich und seine Erwartungen hinausgehen, nicht nur, um er selbst zu werden, sondern auch, um dem Anderen diese Möglichkeit zu geben. Die Spannung zwischen der entwerfenden Kraft der Existenz und ihrer Ausgesetztheit an das, was sich dem Entwurfsvermögen ursprünglich entzieht, steht im Zentrum von Chiara Pasqualins Beitrag »Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens: Heidegger und Lévinas«. Die Autorin nimmt ihren Ausgangspunkt von Heideggers vorwiegender Deutung der Transzendenz in den 1920er Jahren – eine Deutung, die dieses Phänomen mit dem Verstehen des Seins gleichsetzt und somit in ein hermeneutisches Verständnismodell von Transzendenz mündet. Im Unterschied dazu versucht Pasqualin, die Idee einer ›pathischen‹ Transzendenz zu skizzieren. Dabei wird der Akzent darauf gelegt, dass das Leben nicht primär aufgrund seines Verstehensvermögens transzendent ist, sondern auf eine ursprünglichere Weise dank seiner Affektivität, d. h. einer strukturellen ›Affizierbarkeit‹ durch die Alterität als subjekt-unabhängiger Dimension. Hier geht es um keine Bewegung des Transzendierens im engeren Sinne, sondern eher um ein Bewegt-sein, das für die Existenz unumgänglich ist und sie über die Grenzen ihrer hermeneutischen Kräfte hinausversetzt. Ein anderer Modus des Transzendierens zeigt sich darin, dass das Leben vom Faktischen nicht völlig befriedigt wird und über diesen Bereich hinaus einen Sinn sucht. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geht Danka Radjenović in ihrem Beitrag »Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens im Kontext gegenwärtiger Diskussionen« ein, in dem Ludwig Wittgensteins Gedanken zu dieser Thematik rekonstruiert werden. Die Frage nach dem Sinn zeugt davon, dass im Leben die Tendenz liegt, die Tatsachen und das Wissen über diese zu transzendieren. Vom frühen Hauptwerk Wittgensteins ausgehend wird der Behauptung nachgegangen, dass die Antworten, 21 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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welche die Wissenschaften liefern, keinen Beitrag zum Problem des Lebens leisten – einem Problem, das, wie die Autorin im Anschluss an das spätere Werk Wittgensteins nahelegt, nicht nur auf dem Weg der Theorie, sondern vor allem durch eine Veränderung des Lebens praktisch ›gelöst‹ werden kann. Auf den Drang zum Transzendieren kann letztlich auch die Tendenz zurückgeführt werden, etwas über den Sinn des Lebens sagen zu wollen – eine anthropologische Konstante, welche Wittgenstein in seinem Vortrag über Ethik anerkennt und tief respektiert. Es hat sich gezeigt, dass und wie sich die Transzendenz-Dynamik in Bezug auf den anderen Menschen intersubjektiv entfaltet. Ist aber auch ein intrasubjektives Transzendieren, ein Transzendieren innerhalb der Innenwelt, denkbar? Das zumeist unberücksichtigte Phänomen der Versunkenheit, das im Fokus von Saulius Geniusas’ Beitrag »Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit« liegt, erlaubt es, diese Frage positiv zu beantworten. Der Autor beschreibt die Versunkenheit als eine Erlebnisart, in der sich das subjektive Bewusstsein der gegenwärtigen Lage in unterschiedlichen Graden vermindert und das Ich als Subjekt der Erfahrung in die innere Welt – in die vergangene, die künftige oder eine Phantasiewelt – vertieft ist. In der Versunkenheit findet daher eine Verschiebung des erfahrenden Ichs statt, das über die Dimension des ›Hier und Jetzt‹ in die Dimension des ›Da und Dort‹ übergeht. In dieser Verschiebung lässt sich ein Transzendieren erkennen: Denn das Leben geht über die Grenzen des Gegenwartshorizonts und dessen raumzeitliche Bedingungen hinaus, womit sich letztlich eine andere Dimension eröffnet, in der sich das Subjekt freier bewegen kann. In der vierten Sektion Welt und Praxis wird das menschliche Leben vor dem Hintergrund dessen untersucht, dass es immer schon, wie aus einer phänomenologischen Perspektive gesagt werden kann, hier gelebt wird. Dass das Leben gelebt wird, besagt in Bezug auf menschliches Leben zugleich, dass gehandelt wird. Dieses Handeln wiederum geschieht hier, und damit stellt sich die Frage nach dem Status dessen, ›worin‹ gehandelt wird – mit der Entfaltung dieser Frage ist also die Weltthematik verbunden. Aus einem nicht-phänomenologischen Blickwinkel gesehen wäre es naheliegend, die Praxis, in der das Leben vollzogen wird, gerade als ein dynamisches Gegenstück zur Welt – im Sinne eines statischen Hintergrunds, in der das Handeln geschieht – zum Thema werden zu lassen. Die Zugänge der vorliegenden Beiträge, die der (hermeneutischen) Phänomenologie, 22 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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der Psychopathologie und den Erziehungswissenschaften zugeordnet werden können, untersuchen die Grundbestimmungen ›Welt‹ und ›Praxis‹ dagegen vorwiegend in ihrem Verwobensein miteinander. In der folgenden Übersicht über die einzelnen Beiträge werden die unterschiedlichen Weisen, wie diese Verbindung von Welt und Praxis in Bezug auf das Leben behandelt wird, näher dargestellt. Annette Hilt entfaltet in ihrem Beitrag »›Ent-fremdung‹ – Dialektik in Finks Ontologie des Sozialen« drei unterschiedliche Dimensionen von Welt, die sie mit Ausgangspunkt in der Mehrdeutigkeit im Begriff ›Erscheinen‹ bei Eugen Fink entwickelt. Die Welt als der sich entziehende, von uns geteilte Rahmen, in dem etwas erscheinen kann, wird insofern mit dem Begriff der Praxis verbunden, als bei Fink eine existenzielle Dimension des Erscheinens thematisiert wird, in der die dialektische Homologie von Mensch und Welt in sozialen Praktiken zum Ausdruck kommt. Die Nachzeichnung der Dialektik des Erscheinens bei Fink wird bei Hilt umrahmt von einer Gegenüberstellung mit Husserls Konzeption von Welt einerseits und einem Dialog zwischen der kosmologischen Dimension von Welt bei Fink und dem Denken der Unendlichkeit von Emmanuel Lévinas andererseits. Anne Kirstine Rønhede untersucht in ihrem Beitrag »Wahrheit im Leben. Die grundlegende Pluralität der Seinsarten in ›Sein und Zeit‹ versus pragmatistische Deutungsansätze« die Rolle der Praxis in Heideggers Wahrheitskonzeption. Dabei stellt sie infrage, ob die These der Priorität der Praxis den Beschreibungen der unterschiedlichen Seinsarten in Sein und Zeit – die ihr zufolge bei Heidegger mit unterschiedlichen Wahrheitsformen zusammengehen – gerecht wird. Ihrer These entsprechend, dass der Mensch seiner Konstitution wegen (wie Heidegger sie nachzeichnet) die Welt grundsätzlich in einer pluralen Weise erschließt, argumentiert sie dafür, dass es Welt im Heideggerschen Sinne zwar ohne Praxis nicht geben kann, dies jedoch keine Priorität der Praxis gegenüber anderen Weisen zu erschließen bedeutet. Diese These präsentiert sie anhand einer Auseinandersetzung mit pragmatistischen Deutungsansätzen von Sein und Zeit. Erik Dzwiza-Ohlsens Beitrag »Zwischen Erlebnis und Ausdruck – Grundzüge einer phänomenologischen Psychopathologie der Alzheimer-Demenz im Rückgang auf die Lebenswelt« stellt die Vorzüge eines phänomenologischen Zugangs zur Demenz gegenüber einem naturalistischen dar, indem der Autor für die Unverzichtbarkeit einer 23 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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Berücksichtigung der subjektrelativen Perspektive der lebensweltlichen Person sowohl für die Definition der Demenz als auch für den Umgang mit dieser Krankheit argumentiert. Dabei wird die spezifische Praxis des Umgangs mit Alzheimer-Demenz in seinem Beitrag im Ausgang von Husserls Konzeption der Lebenswelt entwickelt. Sein Ziel ist es, einen würdevollen Umgang mit erkrankten Personen in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, indem er zu einem Verständnis der Demenz als Krankheit einer Person – und nicht vorrangig als Defekt des Gehirns – beiträgt. Die Verbindung zwischen der (Perspektive der Lebens-)Welt und der Praxis (im Umgang mit Demenz) wird dementsprechend hergestellt, indem auf die unerwünschten Folgen für die Praxis aufmerksam gemacht wird, die aus einer Vernachlässigung der Bezugnahme auf die lebensweltliche Perspektive entstehen. Anne Lepper befragt in ihrem Beitrag »Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule: Leben im Spannungsfeld der Praxis« die konkrete Praxis der Erziehung innerhalb des deutschen Schulsystems kritisch in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit. Die Autorin argumentiert dafür, den Begriff der Bildung, anstatt ihn allein durch die empirischen Bildungswissenschaften festzulegen, verstärkt anhand der Bildungsphilosophie zu betrachten, um Werte für das pädagogische Handeln zurückzugewinnen, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, vernunftbasierte Autonomie zu entwickeln. Dabei stellt sie die Anerkennung als Bedingung der Möglichkeit von Bildung dar. Mit dieser Betonung der Notwendigkeit von Anerkennung für die Möglichkeit der Heranwachsenden, sich zu bilden, möchte sie einen Beitrag leisten, um der aktuell bestehenden Bildungsungerechtigkeit, die sie in erster Linie mit Bezug auf Kinder mit Migrationshintergrund darstellt, entgegenzuwirken. In diesem Beitrag wird somit dazu aufgefordert, korrigierend in eine konkrete Praxis innerhalb einer faktischen ›Welt‹ einzugreifen. Nach diesem Überblick über die Sektionen sollen abschließend einige Worte zu dem Forschungsumfeld gesagt werden, in dem sich das vorliegende Projekt entwickelt hat. Der Sammelband ist im Rahmen der Graduiertenschule Herausforderung Leben der Universität KoblenzLandau, Campus Landau, entstanden. In ihrer zehnjährigen Geschichte hat die Graduiertenschule Stipendiatinnen aus der ganzen Welt versammelt, die Promotions-, Post-Doc- und Habilitationsprojekte zum Thema ›Leben‹ – vorwiegend in den Bereichen der Philo24 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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sophie und der Erziehungswissenschaften – entwickelt haben. 1 Die insgesamt 22 geförderten Projekte konnten dank ihrer Vielfalt verschiedene Dimensionen dieses komplexen Phänomens erforschen. So wurde mit den unterschiedlichen Forschungsprojekten ein breites Spektrum an Zugängen zu diesem Thema entfaltet, die sich nicht in einigen wenigen Sätzen zusammenfassen lassen. Und dennoch waren trotz der unterschiedlichen Gegenstände – von der bildenden Wirkung der Musik bis hin zur Mensch-Tier-Differenz – immer wieder Fragen angesprochen, in denen das reflexionsfähige menschliche Leben als bildendes, rezeptives und relationales Wesen an erster Stelle betroffen ist. Mit diesem Sammelband wird ein Einblick in das Gedankenlabor gewährt, für das die Graduiertenschule die notwendigen Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt hat. Zahlreiche Ergebnisse der zehnjährigen Forschung wurden bereits publiziert (und weitere sind in den nächsten Jahren noch zu erwarten) – hier wird jedoch ein gemeinsames Werk vorgelegt. Dieser Band soll somit auch Zeugnis der gemeinsamen Arbeit und des (formellen wie informellen) Austausches innerhalb der Graduiertenschule sein. Bei den Autorinnen und Autoren der hier versammelten Beiträge handelt es sich sowohl um ehemalige Stipendiatinnen als auch um Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die anlässlich von der Graduiertenschule organisierter Veranstaltungen in Form von Tagungen und Werkstattgesprächen als Gäste eingeladen wurden und als wichtige Gesprächspartnerinnen und -partner für die Durchführung der einzelnen Projekte und der gemeinsamen Forschung galten. Mit ihren Aufsätzen haben die Autoren und Autorinnen einen Raum des schriftlichen Austausches geschaffen, der über die Horizonte der Graduiertenschule hinaus in die Öffentlichkeit geht. Die Beiträge spiegeln demnach inhaltliche Richtungen und Tendenzen wider, die in der Graduiertenschule im Zentrum standen, und liefern zusätzlich innovative Ergebnisse in Bezug auf den jeweiligen fachspezifischen Forschungsstand der vorliegenden Untersuchungen. Einzelne Projekte wurden auch in der Germanistik, Romanistik und Soziologie ausgearbeitet. Einen Überblick über die Forschungstätigkeit der Graduiertenschule bieten die folgenden zwei Berichte: Annika Hand, »Graduiertenschule Herausforderung Leben an der Universität Koblenz-Landau«, in: Interdisziplinäre Anthropologie, 5, 2017, 205–216; Annika Hand u. a., »Graduiertenschule Herausforderung Leben an der Universität Koblenz-Landau – Entwicklungen«, in: Interdisziplinäre Anthropologie 7, 2019, 151–161.

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Wir Herausgeberinnen möchten hiermit den Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung am Sammelband, ihr Engagement sowie die gelungene gemeinsame Arbeit danken, ohne die dieser Band in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre. Unser besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Christian Bermes, Sprecher der Graduiertenschule Herausforderung Leben, für die wertvolle Unterstützung dieses Projektes und das Schaffen eines freien Denkhorizontes. Das Projekt wird aus Mitteln der Graduiertenschule finanziert. Zusätzlich danken wir Danka Radjenović als Koordinatorin der Graduiertenschule im Jahr 2020 für die Organisation und die hilfreiche Teilnahme am Projekt während der Anfangsphase bei der Planung des Bandes. Auch möchten wir unserer studentischen Hilfskraft Maria Pape für die Unterstützung in der Übersetzungsarbeit danken. Schließlich danken wir Herrn Dr. Martin Hähnel für die Aufnahme dieses Sammelbandes im Alber-Verlagsprogramm sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Alber für die gute Zusammenarbeit.

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I. BEWEGUNG UND WIDERSTAND

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Das Leben als das Prinzip der Selbstbewegung – zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Antike, in der christlichen Bibel und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters Markus Enders Bernhard Uhde in Dankbarkeit und herzlicher Verbundenheit zugeeignet Abstract: Das faszinierende Phänomen des Lebens beschäftigt die abendländische Philosophie von ihren Anfängen im Denken der Griechen an. In diesem Beitrag werden die wichtigsten der in der Philosophie der Antike, in der christlichen Bibel, von Augustinus und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters gegebenen Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Lebens rekonstruiert. Sie ergeben ein Grundverständnis des Lebens als eines meist geistmetaphysisch begründeten Prinzips der Selbstbewegung, das in qualitativ unterschiedlichem Maße auf verschiedenen Seinsstufen verwirklicht ist. The fascinating phenomenon of life has occupied Western philosophy since its beginnings in Greek thought. This article seeks to reconstruct the most significant answers to the question of the essence of life given in ancient philosophy, in the Christian Bible, by Augustine and in Latin medieval philosophy. The result is a basic understanding of life as a principle of selfmovement that is mainly rooted in a metaphysics of spirit, and that is realized in qualitatively different degrees on respective levels of being.

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Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Antike

Platons Verständnis des Lebens als die Idee der Selbstbewegung – vollkommenes Leben als die Selbsterkenntnis der Ideen – das »vollkommene Lebewesen« des Ideenkosmos und das »unvollkommene Lebewesen« des sichtbaren Kosmos In der altgriechischen Sprache gibt es zwei Wörter, die im Deutschen mit dem Substantiv »Leben« (im Folgenden abgekürzt mit L.) übersetzt werden, und zwar βίος und ζωή. Während βίος »mit seiner 29 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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Grundbedeutung zunächst das Leben, und zwar (mit Ausnahmen, vgl. Arist. GA II 3, 736b13 oder Xen. Mem. 11,6) nur das vernünftiger Wesen« 1 bezeichnet, bedeutet ζωή im weiteren Sinne dieses Wortes das physische Lebendigsein von Mensch, Tier und Pflanze (→ zôon) (Arist. GA II 1, 732a12, EN I 6, 1097b33 f.), das sich durch die Existenz einer Seele (→ psychê) begründet, während unbelebte Dinge keine Seele und somit auch kein Leben haben (Pl. Phd. 105c–d, Rep. I 353d; Arist. Juv. 470a19, De an. II 2, 413a20). Kennzeichen der z. sind Ernährung, Wachstum und Vergehen (De an. 412a14), für Tier und Mensch auch Wahrnehmung, Bewegung und Vernunft (De an. II 2, 413a22 ff.). 2

Im engeren Sinne dieses Wortes kann ζωή auch das spezifisch menschliche Leben bezeichnen, das nicht auf die Erhaltung der Gattung begrenzt ist, sondern einem höheren Zweck, z. B. dem Staat, dienen kann (Demosthenes or. 7,17; Dionysius von Halikarnass 3,17,3) und nach Sinnerfüllung strebt (Arist. Metaph. XI 7, 1072b24 f.). Die menschliche z. hat jeweils ein eigenes Schicksal und kann glücklich oder unglücklich, recht oder schlecht gelebt werden (Pl. Rep. VII 521a, Leg 944c, Mx 248d): ›Nicht das Leben muss man am höchsten achten, sondern das gut Leben‹ (Pl. Cri. 48b). 3

Zu einem philosophischen Begriff wird das L. in der Geschichte der abendländischen Philosophie erstmals bei Platon. 4 Dieser identifiziert das L. mit dem Vermögen der Selbstbewegung, welches daher alle Lebewesen überhaupt erst zu lebendigen Wesen werden lässt. 5 Der Träger dieses Vermögens der Selbstbewegung aber ist nach platonischer Überzeugung die Seele, so dass nur der Besitz einer Seele ein Christoph Wolgast, Art. »Bios (Leben)«, in: Christoph Horn/Christof Rapp (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie (im Folgenden WbantPhil), München, C. H. Beck, 22008, 83–84, hier 83. 2 Carolin Oser-Grote, Art. »Zôê (Leben; lat.: vita)«, in: WbantPhil, 463–464, hier 463. 3 Oser-Grote, Art. »Zôê« (Leben; lat.: vita), 463. 4 Vgl. Stanislaw Kusmierz, Art. »Leben, I. allgemein«, in: Petra Kolmer/Armin C. Wildfeuer (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Begründet von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wald. Neu hrsg. von Petra Kolmer und Armin C. Wildfeuer, Bd. 2 (Gerechtigkeit – Praxis), Freiburg/München, Alber, 2011, 1383–1393, hier 1384: »Trotz der uralten Verbindung des Lebens mit der Seele, ist Platon der erste Denker, der das Wort ›Leben‹ in den philosophischen Kontext aufnimmt, wenngleich sich bei ihm eigentliche keine Untersuchungen über den Begriff des Lebens als solchen finden.« 5 Vgl. Platon, Nomoi 895c7–8. 1

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Das Leben als das Prinzip der Selbstbewegung

Wesen zu einem Lebewesen macht. 6 Denn die Seele habe wesenhaft teil an der Idee des L. und sei auf Grund dieser Teilhabe unsterblich. 7 Mit anderen Worten: Erst durch diese wesensmäßige Teilhabe der Seele an der Idee des L. als Selbstbewegung ist die Seele lebendig und wird die Selbstbewegung mittelbar auch zur Wesensbestimmung (Logos) und damit zur Idee der Seele. 8 Selbstbewegung aber sei der Bewegungsgrund auch aller anderen Formen von Bewegung und daher die älteste und mächtigste von allen Bewegungsformen überhaupt. 9 Folglich müsse die selbstbewegte (Welt-)Seele, welche den bewegten Himmel und das ganze Werden und Vergehen am L. erhalte, unsterblich und unentstanden sein, 10 während der nur von außen bewegte Körper unbeseelt sei. 11 Die Art der Selbstbewegung als der primordialen Bewegungsform charakterisiert Platon als eine solche, die sich kreisförmig auf einer einzigen Stelle um einen einzigen Mittelpunkt herum bewegt und daher die gleichförmigste und einheitlichste Bewegungsform darstellt. 12 Genau darin aber gleiche sie dem »Umschwung der Vernunft« 13, so dass die Selbstbewegung der Seele 6 Vgl. Platon, Phaidon 105c-d; Phaidros 245c5–246a2; die Wesensbestimmung bzw. die Definition der Seele besteht genau darin, diejenige Bewegung zu sein, die sich selbst zu bewegen vermag, vgl. Nomoi 895e10–896a4. 7 Vgl. Platon, Phaidon 105d3–e7. 8 Vgl. Platon, Nomoi 859b–896a; hierzu vgl. Peter M. Steiner (Hrsg.), Platon Nomoi X. Mit einer Einleitung von Helmut Kuhn. Übersetzt und kommentiert von Peter M. Steiner (Collegia Philosophische Texte), Berlin, Akademie Verlag, 1992, 153–155 (Selbstbewegung als Logos der Seele). 9 Vgl. Platon, Phaidros 245c8–9; Nomoi 895a–b. 10 Vgl. Platon, Phaidros 245d6–e4; bereits in den homerischen Epen wird die menschliche Seele als »Anlage zur Bewegung« »im lebendigen Körper« und nach dem Tod des menschlichen Körpers als »bloße Form der Bewegung« (Bernhard Uhde, »Psyche – ein Symbol? Zum Verständnis von Leben und Tod im frühgriechischen Denken«, in: Gunther Stephenson [Hrsg.], Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980, 114) verstanden. Die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele schreibt Herodot den Ägyptern als ersten zu, vgl. Herodot, Historiae II,123; die Lehre von der Metempsychose, d. h. der Seelenwanderung durch das Eingehen in verschiedene Körper, schreibt Platon den Orphikern zu (vgl. Platon, Kratylos 400c1–2). So wird im frühgriechischen, genauer im orphisch-pythagoräischen und davon beeinflussten Denken »der Glaube an die Unsterblichkeit der Psyche Inhalt der Religion« (Uhde, »Psyche«, 117). Damit erscheint »die Psyche durchaus als jene Mitte, als die Vereinigung der σύμβολα, in der die Gegensätze von Leben und Tod aufgehoben sind« (Uhde, »Psyche«, 115). 11 Vgl. Platon, Phaidros 245e4–246a2. 12 Vgl. Platon, Nomoi 898a3–6. 13 Vgl. Platon, Nomoi 898a5.

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zugleich die vernunftartigste bzw. vernunftgemäßeste und damit zugleich die beste und göttlichste Bewegungsform darstelle, die Seele also selbst eine Gottheit sei. 14 Denn die Vernunft (νοῦς) sei »den Göttern mit Recht eine Gottheit« 15. Demnach ist schon für Platon das L. selbst im eigentlichen Sinne dieses Wortes vernunftartig und göttlich. Dies bestätigt Platons gleichsam ontologische Statusbestimmung des L. als einer unsterblichen Idee. 16 Eine weitere Bestätigung für diesen Vernunft- bzw. Geist-Charakter des eigentlichen und vollkommenen L. als der höchsten Form der Selbstbewegung im Verständnis Platons sowie des L. als eines analogen Begriffs finden wir im Kontext seines Weltschöpfungsmythos in seinem Dialog Timaios. Hier bezeichnet er das göttliche Vorbild der Weltschöpfung als ein »vollkommenes Lebewesen« 17, welches alle »erkennbaren Lebewesen« 18, d. h. die Ideen, in sich einschließt, und dem der Demiurg den sichtbaren Kosmos als ein ihm verwandtes, »sichtbares Lebewesen« 19 so ähnlich wie möglich nachgestaltete. 20 Demnach ist die Ideenwelt das vollkommene Lebewesen, die sichtbare Welt ein unvollkommenes Lebewesen, das aber bedeutet: Das L. ist in der Welt der Ideen auf vollkommene Weise, in der sichtbaren Welt der erscheinenden Vielheit auf unvollkommene Weise realisiert. Das L. ist daher schon für Platon ein analoger Begriff, der in seinem Hauptanalogat vollkommen und in seinen Nebenanalogaten nur unvollkommen verwirklicht ist. 21 »Vollkommenes Lebewesen« aber kann der Ideenkosmos nur dann sein, wenn ihm

Vgl. Platon, Nomoi 899a7–b2. Vgl. Platon, Nomoi 897b1–2. 16 Vgl. Platon, Phaidon 106d5–7. 17 Vgl. Platon, Timaios, 31b1. 18 Vgl. Platon, Timaios 30c7–8. 19 Vgl. Platon, Timaios 30d4. 20 Vgl. Platon, Timaios 30c2–31a1; zur Identität des Demiurgen mit dem für die Weltschöpfung exemplarursächlichen Ideenkosmos als ganzem vgl. Jens Halfwassen, »Der Demiurg: Seine Stellung in der Philosophie Platons und seine Deutung im antiken Platonismus«, in: Ada Neschke-Hentschke (Hrsg.), Le Timée de Platon. Contributions à l’histoire de sa réception. Platos Timaios. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte, Louvain-Paris, Éditions Peeters, 2000, 39–62, insb. 50–62. 21 Dass das L. für Platon einen zweifachen Aspekt besitzt, indem es die körperliche und die unkörperliche Welt miteinander verbindet, zeigt auch Harald Morin, Der Begriff des Lebens im ›Timaios‹ Platons unter Berücksichtigung seiner früheren Philosophie. Aus dem schwedischen Manuskript übersetzt von Hannelore Zeitler, Uppsala, Almquist & Wiksells, 1965, insb. 82–84. 14 15

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das L. selbst, d. h. vollkommene Selbstbewegung, zukommt. Genau dies deutet Platon in seinem Dialog Sophistes an. Denn hier führt er aus, dass dem »wahrhaft Seienden«, d. h. den Ideen, »in der Tat Bewegung und Leben und Seele und Vernunft« 22 eignen und dass folglich auch Bewegtes und Bewegung als seiend verstanden werden müssten, 23 weil das Erkannte durch die Erkenntnis bewegt werde. 24 Wenn aber Seele, L., Vernunft, Bewegung und Bewegtsein dem »vollkommenen Seienden«, d. h. den Ideen, zukommen, dann kann das L. bzw. die Selbstbewegung der Ideen nur in ihrer Selbsterkenntnis bestehen. Der Ideenkosmos als ganzer ist daher genau deshalb ein »vollkommenes Lebewesen«, weil er das vollkommene L., d. h. vollkommene Selbstbewegung, in Gestalt einer vollkommenen Selbsterkenntnis besitzt. Im Unterschied hierzu ist der sichtbare Kosmos nach Platon nur ein unvollkommenes Lebewesen, weil er das L. nur in unvollkommener Weise besitzt, da er nicht vollkommen selbstbewegt ist, sondern von dem Ideenkosmos als seiner Exemplar-, seiner Wirk- und seiner Finalursache bewegt wird.

Aristoteles: Das Leben als das nach dem Grad der Selbstbewegung unterschiedene Sein der Lebewesen und als die reine Aktualität der Selbstreflexion des göttlichen Geistes Bei der Einführung in die Grundbedeutung der beiden altgriechischen Termini für das L., nämlich βίος und ζωή, ist bereits deutlich geworden, dass Aristoteles unter ζωή »das physische Lebendigsein von Mensch, Tier und Pflanze (→ zôon) (Arist. GA II 1, 732a12, EN I 6, 1097b33 f.) versteht, das sich durch die Existenz einer Seele (→ psychê) begründet, während unbelebte Dinge keine Seele und somit auch kein Leben haben […] Arist. Juv. 470a19, De an. II 2, 413a20).« 25

Doch worin genau besteht dieses »physische Lebendigsein«? In seiner Schrift Über die Seele, in der Aristoteles die Seele (psychê) als »die Vgl. Platon, Sophistes 248d6–249a5. Vgl. Platon, Sophistes 249b2–4. 24 Vgl. Platon, Sophistes 249b5–6; 248e1–5. 25 Oser-Grote, Art. »Zôê (Leben; lat.: vita), 463; diese Erläuterung des L. im Verständnis des Aristoteles ist allerdings bereits formal unzureichend, weil in ihr als dem Definiens das Definiendum – das L. bzw. Lebendigsein selbst – enthalten ist. 22 23

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erste Verwirklichung eines natürlichen, organischen Körpers« 26 definiert, führt er aus, dass die Seele im dreifachen Sinne dieser Worte »Ursache und Ursprung des lebenden Körpers« 27 sei. Denn sie sei Ursache der beseelten Körper erstens als ihre Bewegungsursache, zweitens als ihre Ziel- und Zweckursache und drittens auch als ihr Wesen. Die Wesensursächlichkeit der Seele für den beseelten Körper begründet Aristoteles anschließend wie folgt: »Für alle Naturen ist das Wesen die Ursache ihres Seins, das Leben aber ist für die Lebewesen das Sein; Ursache und Ursprung aber davon [sc. des Lebens] ist die Seele. Zudem ist die Wirklichkeit Wesensbestimmung des möglicherweise Seienden.« 28

Demnach ist das L. das Sein der Lebewesen, dessen Ursache und Ursprung aber ist die Seele, weil sie Bewegungsprinzip, Zielursache und Wesensbestimmung der beseelten Körper ist. Das L. ist daher genau dasjenige, was Beseeltes, d. h. Lebewesen, von Unbeseeltem, d. h. nicht lebendigen Naturen, unterscheidet. 29 Wie bereits für Platon so ist auch nach Aristoteles das L. ein analoger Begriff. Deshalb sagt er ausdrücklich, dass das L. in mehrfacher Hinsicht ausgesagt wird, es also verschiedene Lebenstätigkeiten bzw. -fähigkeiten gibt. 30 Im Einzelnen werden von ihm genannt: der Geist bzw. das Erkennen, die sinnliche Wahrnehmung, die Bewegung und der Stand im Raum, dann Bewegung nach Art der Ernährung, des Verfalls und des Wachstums. 31 Das »Prinzip« (archē´) des L., durch welches das L. den Lebewesen zukommt, ist auch nach Aristoteles die Seele. 32 Sie ist das Prinzip der genannten Lebenstätigkeiten und wird durch diese bestimmt. 33 Ernährung (und damit Wachstum), sinnliche Wahrnehmung, (geistige) Überlegung und (räumliche) Bewegung aber verhalten sich wie nicht abtrennbare (mit Ausnahme der geistigen Erkenntnis), aber begrifflich verschiedene Teile der Seele zueinander, wobei Ernährung, Wachstum und Vergehen auch den Pflanzen, die

26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Aristoteles, Über die Seele 412b5. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 415b8. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 415b12–15. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 41320–22. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 413a22–23. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 413a23–25. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 413b1–2. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 413b11–12.

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sinnliche Wahrnehmung den Tieren und die geistige Lebenstätigkeit nur den Menschen zukommen. 34 Was aber ist allen diesen Lebensäußerungen bzw. -tätigkeiten gemeinsam? Dass sie Formen der Selbstbewegung sind. Daher besteht auch nach Aristoteles das L. in der Bedeutung des Seins der Lebewesen in dem graduell unterschiedlichen Vermögen zur Selbstbewegung, das bereits auf der Ebene der pflanzlichen Lebewesen gegeben ist, und zwar in Gestalt der Ernährung und des Wachstums bzw. Vergehens. 35 Eine höhere Form der Selbstbewegung aber besitzen die tierischen Lebewesen, und zwar im Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung, das sie primär besitzen; denn nicht alle Tiere sind zur Bewegung ihrer Gliedmaßen und zur Ortsbewegung fähig, wohl aber zur sinnlichen Wahrnehmung. 36 Die höchste, weil autarkste, selbstbestimmteste Form der Selbstbewegung und damit des L. ist auf der Ebene des geistigen Erkennens realisiert. Denn der Grad seiner Autonomie übersteigt den der sinnlichen Wahrnehmung, die noch von sinnlichen Wahrnehmungsgegenständen abhängig ist, und zwar bereits in Gestalt der Vorstellungskraft (φαντασία), weil diese auf kein unmittelbar gegenwärtiges sinnliches Korrelat mehr angewiesen ist, 37 und dann umso mehr auf der nächsthöheren Stufe des geistigen Erkennens in Gestalt der Wesenserkenntnis von Gegenständen, d. h. der Ideen, weil diese Erkenntnisweise überhaupt keines sinnlichen Korrelats mehr bedarf. In Bezug auf das erkennende Seelenvermögen unterscheidet Aristoteles bekanntermaßen zwischen dem eigenschaftslosen, erleidenden Geist, der reine, körperlose Aufnahmefähigkeit für alle Formen und daher gleichsam der »Ort der Formen« ist, 38 und dem abgetrennten, d. h. transzendenten, leidenslosen, unvermischten und wesenhaft aktiven bzw. denkenden Geist, 39 der reines Erkennen, und zwar sowohl der Ideen als auch seiner selbst, ist. 40 Diese Selbsterkenntnis des akVgl. Aristoteles, Über die Seele 413b12–32. Vgl. Aristoteles, Über die Seele 413a25–31. 36 Vgl. Aristoteles, Über die Seele 413b2–4. 37 Zu Aristoteles’ Theorie der Vorstellungskraft (φαντασία) als einer ἄισθησις ἄνευ ὕλης vgl. Aristoteles, Über die Seele 427b14–429a9. 38 Vgl. Aristoteles, Über die Seele 429a10–29. 39 Zu dieser für die Geistlehre des Aristoteles fundamentalen Unterscheidung zwischen dem erleidenden und dem aktiven Geist vgl. Aristoteles, Über die Seele 43010–19. 40 Vgl. Aristoteles, Über die Seele 430a2–4: »Der Geist ist auch selbst denkbar wie die denkbaren Gegenstände [d. h. die Ideen]. Denn bei den stofflosen Naturen ist das Denkende und das Gedachte ein und dasselbe« (Übers. vom Verfasser); zur reinen 34 35

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tiven, leidenslosen, transzendenten, mit der Materie unvermischten, göttlichen Geistes aber ist die höchste, da selbstbewegteste, selbstbestimmteste Form des Erkennens, weil sie gleichsam nichts außer sich hat und von nichts anderem abhängig bzw. völlig autark ist und weil sie auf sich selbst als das werthaft Beste und Höchste ausgerichtet ist. Diese reine, wesenhaft aktuale Selbstreflexion des göttlichen Geistes stellt daher die höchste Stufe der Selbstbewegung dar und ist folglich das beste und ewige L., welches in der reinen Geisttätigkeit besteht, die von der höchsten Freude (mitfolgend) begleitet wird. Diese selbstreflexive Tätigkeit des wesenhaft aktiven, göttlichen Geistes, sein »Denken des Denkens« 41, das nur sich selbst, seine eigene Tätigkeit, zum Gegenstand hat, ist daher nach der geistmetaphysischen Theologik des Aristoteles der Inbegriff des L., ist das beste und ewige L., ist das wahre L. selbst: Sein Leben (sc. des göttlichen Geistes als des Prinzips von allem) aber ist das beste, und wie es bei uns nur kurze Zeit stattfindet, da beständige Dauer uns unmöglich ist, so ist es bei ihm immerwährend. Denn seine wirkliche Tätigkeit ist zugleich Freude. Und deshalb ist Wachen, Wahrnehmen, Geisttätigkeit das Angenehmste und durch diese erst Hoffnungen und Erinnerungen. Die Geisttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste Geisttätigkeit auf das Höchste. Sich selbst erkennt der Geist bei seiner Ergreifung des Intelligiblen. Denn intelligibel wird er selbst, indem er das Intelligible berührt und erkennt, so dass Geist und Intelligibles dasselbe werden. […] Wenn nun so, wie wir manchmal, der Gott sich immer verhält, so ist er bewundernswert. […] Und Leben wohnt in ihm. Denn die wirkliche Tätigkeit des Geistes ist Leben, jener aber ist reine (Geist-)Tätigkeit. Seine (geistige) Tätigkeit an sich ist bestes und ewiges Leben. Wir sagen, dass der Gott bestes und ewiges Lebewesen ist, so dass dem Gott Leben und beständige und immerwährende Ewigkeit zukommen. Denn dies ist der Gott. 42

Angenehm und gut ist das L. nach Aristoteles aber nicht nur für den absoluten Geist als das beste Lebewesen, sondern grundsätzlich be-

Aktualität und dem transzendenten Charakter der Selbsterkenntnis des aktiven Geistes vgl. auch Aristoteles, Über die Seele 430b24–26. 41 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII 9, 1074b33–35: »Sich selbst also denkt das Denken, wenn wirklich es das Beste ist, und das Denken ist Denken des Denkens.« (Übers. vom Verfasser). Zur umfassenden Bedeutung dieses selbstreflexiven Wesensaktes des göttlichen Geistes vgl. Hans-Joachim Krämer, »Noesis Noes eos«, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (im Folgenden HWPh), Bd. 6, Basel, Schwabe, 1984, 871–873. 42 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII 7, 1072b15–30 (Übers. vom Verfasser).

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reits für jedes Lebewesen, und zwar aus dem folgenden Grund: Die Empfindung des eigenen Lebendigseins sei für jedes Lebewesen angenehm und lustvoll, 43 »denn das Leben gehört zu dem an sich Guten und Angenehmen« 44, und »ein in sich vorhandenes Gut wahrzunehmen, ist angenehm« 45, wobei für die tugendhaften Menschen ihre Selbstwahrnehmung, dass sie leben, am angenehmsten und wünschenswertesten sei, weil das tugendhafte Sein für sie besonders gut und angenehm sei. 46 Warum aber ist das L. an und für sich selbst ein Gut und angenehm? Die Antwort des Aristoteles lautet lapidar: »Denn es ist begrenzt. Das Begrenzte aber gehört zur Natur des Guten.« 47 Und sicherheitshalber fügt Aristoteles hinzu, dass man dabei nicht an ein »schlechtes und verdorbenes und auch nicht an ein kummervolles Leben« denken dürfe, »denn ein solches L. ist unbegrenzt wie auch die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen.« 48 Für Aristoteles ist demnach das L. für jedes wahrnehmungsfähige Lebewesen grundsätzlich gut und folglich erstrebenswert, weil es jeweils ein begrenztes Gut darstellt, denn das Unbegrenzte wäre für die begrenzten Lebewesen nicht assimilierbar. Für den endlichen und vergänglichen Menschen, der sich daher auch nur begrenzte Güter anzueignen vermag, ist nach Aristoteles darüber hinaus das tugendhafte und relativ sorgenfreie L. besonders angenehm und freudvoll.

Plotin und der philosophische Neuplatonismus: Das Leben als die Selbstentfaltung und Selbstunterscheidung des Seins im Geist Während in der Stoa das L. ausschließlich im physisch-organischen Sinne dieses Begriffs und damit im Anschluss an Platon und vor allem an Aristoteles als das Vermögen der Selbstbewegung verstanden, in seiner Extension jedoch auf den ganzen Kosmos ausgedehnt wird, von dem der Mensch einen Teil darstellt, 49 greift Plotin und nach ihm der spätantike Neuplatonismus die geistmetaphysische BedeutungsVgl. Aristoteles, Nikom. Ethik IX 9, 1170b1: »Das Wahrnehmen, dass man lebt, gehört zu dem an sich Angenehmen« (Übers. vom Verfasser). 44 Vgl. Aristoteles, Nikom. Ethik IX 9, 1170a19–20. 45 Vgl. Aristoteles, Nikom. Ethik IX 9, 1170b2–3. 46 Vgl. Aristoteles, Nikom. Ethik IX 9, 1170b3–5. 47 Vgl. Aristoteles, Nikom. Ethik IX 9, 1170a20–21. 48 Vgl. Aristoteles, Nikom. Ethik IX 9, 1170a22–24. 49 Vgl. Oser-Grote, Art. »Zôê (Leben; lat.: vita)«, 463–464. 43

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dimension des L. wieder auf, die er bereits von Platon und Aristoteles her kannte. Im Ausgang von Platons Überzeugung, dass »das Sein in sich selbst, rein als solches, schon Denken und Geist enthält« 50, entwickelt Plotin eine Metaphysik des absoluten Seins und Geistes, nach der sich das vollkommene Sein in die Vielheit der Ideen hinein selbst unterscheidet und in seinen Unterschieden sich zu sich selbst verhält, indem es sich aus der je eigenen Perspektive jeder Idee selbst erkennt. 51 Diese Selbstbewegung des Seins bzw. des absoluten Geistes durch seine Selbstunterscheidung in die konkrete Totalität der Ideen hinein und durch seine gleichzeitige (im zeitfreien Sinne dieses Wortes) Rückkehr zu seiner eigenen Ganzheit durch Selbsterkenntnis ist nach Plotin sein L. 52 Dieses L. des absoluten Geistes bezeichnet Plotin als die Ewigkeit, deren Abbild die Zeit als das L. der Seele sei. 53 Im reflexiven Selbstvollzug des absoluten Seins als Geist sei das L. das den Geist dynamisierende, ihn auf sich selbst zurück bewegende Moment. 54 Daher ist »das Sein des Geistes […] wesenhaft Leben, weil es Denken ist« 55: »Jedes Leben nämlich ist Denken.« 56 Als die »dialektische Selbstdurchdringung von Sein, Leben und Denken« 57 sei daher der Geist das »Lebewesen selbst« bzw. das »vollkommene Lebewesen« 58. In dieser triadischen Selbstdurchdringung des absoluten Geistes als Sein, L. und Denken sei das L. der »Identitätsakt von Denken und Sein«, sei das Denken »durch das Leben vermitteltes Denken des Seins« und sei das Sein »ein sich selbst denkendes Leben oder

Jens Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München, C. H. Beck, 2004, 69. Vgl. Plotin, Enn. VI 2,3,20–32; Enn. III 8,8. 52 Vgl. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 72: »Und weil sich das Sein in seinen Unterschieden zu sich selbst verhält, ist seine Bewegung Leben (zoê), denn ›Leben‹ bedeutet wesentlich Selbstverhältnis.« 53 Vgl. Plotin, Enn. III 7; hierzu vgl. Werner Beierwaltes, »Einleitung«, in: Plotin, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Werner Beierwaltes, Frankfurt am Main, Klostermann, 31981, 7–88, hier 67: »Beide, Ewigkeit und Zeit, sind Leben; die erstere als unwandelbare Einheit von Ständigkeit und Bewegung des Geistes, letztere als teilhafte Bewegung und Veränderlichkeit der Seele. Ewigkeit also ist Leben des Geistes, Zeit aber Leben der Seele.« 54 Vgl. Beierwaltes »Einleitung«, 32: »Leben ist also das sich auf sich selbst zurückbewegende, d. h. sich selbst denkende Sein.« 55 Beierwaltes, 32. 56 Vgl. Plotin, Enn. III 8,8,17: »πᾶσα ζωή νόησις τίς«. 57 Beierwaltes »Einleitung«, 32. 58 Vgl. Plotin, Enn. VI 2,21,56–58; Enn. VI 7,12,3. 50 51

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lebendes Denken« 59. Das L. ist daher »an sich ein Wesenszug des Geistes: dessen Bewegtheit und synthetisierende Bezogenheit« 60. Die Seele, und zwar die Weltseele wie auch jede Einzelseele, ist nach Plotin eine lebendige Vermittlung zwischen dem Geistigen und dem Sinnenfälligen, deren L. die Zeit als jene Bewegungsform des sukzessiven Nacheinanders 61 sei, »die aus einer Lebensphase in eine andere übergeht« 62 und in der die Seele ihre Tätigkeiten zu vollziehen habe. Während die Ewigkeit das L. des absoluten Geistes sei, »das im Selben verharrt, indem es immer das Ganze gegenwärtig hat« 63, sei die sich ausdehnende und veränderliche Zeit das L. bzw. die Bewegungsform der Seele. Sie entstehe im diskursiven »Durchgang der Seele durch die von ihr getrennten Ideen als die Vollzugsform dieses Durchgangs« 64, existiere also nur durch die diskursiv erkennende Tätigkeit der Seele. 65 Wie gestaltet sich nun bei Plotin die Verhältnisbestimmung zwischen dem L. und dem Glück? In seiner Enneade I 4 Über die Glückseligkeit setzt er sich zunächst mit dem Glücksverständnis nacharistotelischer Philosophenschulen, insbesondere dem der Epikuräer und Stoiker, kritisch auseinander, die davon ausgehen, dass das L. an sich ein angenehmes Gut und insofern glücksbringend sei, wenn es nur

Beierwaltes »Einleitung«, 32–33. Werner Beierwaltes, »Deus est esse – esse est Deus. Die ontotheologische Grundfrage als aristotelisch-neuplatonische Denkstruktur«, in: Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus (Philosophische Abhandlungen, Bd. 60), Frankfurt am Main, Klostermann, 1972, 5–82, hier 20; vgl. auch Beierwaltes, »Deus est esse – esse est Deus« 20: »Das denkende Sich-selbst-Durchdringen des Seins und die Selbsterkenntnis des Geistes als wahres, eigentliches und ursprüngliches Sein ist also das ›Leben‹, die dem Sein eigentümliche ständige Bewegtheit« (unter Bezug auf Plotin, Enn. III,8,8,26–30). 61 Zum Nacheinander bzw. der Sukzession als Konstituens von Zeit nach Plotin vgl. Beierwaltes »Einleitung«, 263–264. 62 Vgl. Plotin, Enn. III 7,11,44. 63 Vgl. Plotin, Enn. III 7,3,16–17. 64 Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 106, mit Bezug auf Plotin, Enn. III 7,11,30. 65 Vgl. Plotin, Enn. IV 4,15,2–4; hierzu vgl. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 109: »Plotin bringt die Zeit also in den engsten Zusammenhang mit der Seele und der Struktur ihres bewußten Lebens. Die wesentlichen Charakteristika der Zeit, ihre Sukzessivität, ihre Kontinuität und ihre Zukunftsgerichtetheit begründet er in der diskursiven Struktur des bewußten Lebens der Seele, die sich selbst besitzen will, dies aber nur kann, indem sie sich sucht, nicht indem sie sich immer schon hat wie der Geist.« 59 60

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mit dem Wohlbefinden verbunden ist. 66 Für diese bestehe das gute L. entweder in der Lust oder in dem naturgemäßen L. und damit in einer affektiven Befindlichkeit und müsse daher auch allen anderen Lebewesen und nicht nur dem Menschen zugestanden werden. 67 Wenn aber das Glück erst in der Wahrnehmung und mehr noch in der Erkenntnis der affektiven Befindlichkeit des eigenen Wohlbefindens bestehen soll, dann liegt nach Plotin das Glück im vernunfthaften bzw. geistigen L., dessen Wert über dem des Affekts stehe. 68 Deshalb lehnt er es ab, das allen gemeinsame L. aller Lebewesen bereits als Glück anzusetzen und damit das L. als einen synonymen Begriff zu verstehen. 69 Vielmehr müsse man zur Bestimmung des Glücks von dem vernunfthaften L. als einer eigenen Art von L. ausgehen, welchem die Glückseligkeit gleichsam anhafte. 70 Denn es gebe nach dem Seinsrang ihrer Träger sich voneinander unterscheidende Arten des L., so dass das L. ein in vielfachem Sinne gebrauchter bzw. auf Verschiedenes bezogener und insofern analoger Begriff sei, wenn er sowohl von der Pflanze als auch von dem vernunftlosen Tier und schließlich auch von dem vernunfthaften Lebewesen ausgesagt werde. 71 Entsprechendes gelte von dem guten bzw. glücklichen L. 72 Nur derjenigen Art des L., welche das L. in höchstem Maße besitzt und in keiner Hinsicht des L. ermangelt, könne auch das Glück bzw. die Glückseligkeit zuteil und zugesprochen werden. 73 Denn das Glücklichsein sei das Beste für den Menschen, dieses aber sei das wahrhafte und das vollkommene L. 74 Dieses vollkommene und vollkommen glückliche L., von dem alle anderen Lebensweisen nur bloße Abbilder und im Vergleich zu dem diese anderen Lebensweisen eher Nicht-L. als L. seien, ist nach Plotin das L. im Geist. 75 Denn der absolute Geist sei das »erste und vollkommenste Leben« 76. Der Besitz der Vernunft und des wahrhaften Geistes aber gehöre zum Menschsein; und wenn der Mensch über diesen Vgl. Plotin, Enn. I 4,1,23–26. Vgl. Plotin, Enn. I 4,1,26–30. 68 Vgl. Plotin, Enn. I 4,2,23–26. 69 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,1–9. 70 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,14–16. 71 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,16–22. 72 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,22–23. 73 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,24–26. 74 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,26–28. 75 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,33–39. 76 Vgl. Plotin, Enn. I 4,3,39–40; hierzu vgl. auch Pierre Hadot, Art. »Leben, I. Antike«, in: HWPh, Bd. 5, 1980, 52–56, hier 55–56: »Für Plotin und die Neuplatoniker ist 66 67

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Besitz nicht nur potentiell verfüge, sondern ihn auch aktuell ausübe, genau dann sei er glücklich. 77 Dieses L. im Geist aber sei selbstgenügsam und tugendhaft und vollkommen ausreichend für die Glückseligkeit und den Besitz alles Guten, 78 so dass auch jede Form des Leidens und des materiellen oder sozialen Mangels dieses Glück des geistigen L. nicht beeinträchtigen könne. 79 Im unmittelbaren Anschluss an das Verständnis des L. in Plotins triadischer Konzeption des absoluten Geistes machen Plotins Schüler Porphyrios (233 bis ca. 305 n. Chr.) sowie die spätere neuplatonische Geist-Metaphysik insbesondere des Proklos (412–485 n. Chr.) das L. zum vermittelnden Moment in der triadischen Entfaltungsstruktur des absoluten Geistes. Porphyrios bestimmt die drei konstitutiven Momente dieses Entfaltungszusammenhangs als drei deutlich voneinander unterschiedene Stufen: Das ›Sein‹ bezeichnet dabei die ursprüngliche, noch unentfaltete Einheit, von der die Entfaltung des Geistes ausgeht, das ›Leben‹ die Selbstunterscheidung dieser Einheit in die Vielheit der Ideen und der ›Geist‹ schließlich die durch ihre Selbstunterscheidung zu sich zurückgekehrte Einheit, die sich als die entfaltete Totalität der Ideen selbst denkt und weiß. Diese Strukturmomente des Geistes sind einander zugleich koordiniert und subordiniert: aufgrund der konkreten Totalität des Geistes enthält jedes seiner drei grundlegenden Momente zugleich die beiden anderen in sich selbst; ebenso aber bezeichnen sie als Stufen in der Entfaltung der Einheit in die Vielheit auch eine absteigende Reihe, so daß die Struktur des Geistes eine Triade aus Triaden ist, die alle aus den gleichen Gliedern bestehen, sich aber dadurch unterscheiden, daß in jeder Triade ein anderes Glied vorherrscht. In der ersten und höchsten Triade (Sein – Leben – Geist) dominiert das Moment des Seins und der Einheit, in der zweiten (Sein – Leben – Geist) das des Lebens und der Entfaltung und in der dritten (Sein – Leben – Geist) das Moment des Geistes und der Rückkehr zu sich. 80

Dabei wird diese triadische Geistdialektik infolge des Einflusses von gnostischen, hermetischen und chaldäischen Strömungen, die seit dem 2. Jh. n. Chr. in das philosophische Denken eindringen, oft unter mythischen Aspekten [präsentiert]. Man findet daher das wahre L. in der göttlichen Vernunft hypostasiert, die vom absolut einfachen Guten emaniert.« 77 Vgl. Plotin, Enn. I 4,4,9–11, 14–15. 78 Vgl. Plotin, Enn. I 4,4,23–25. 79 Vgl. Plotin, Enn. I 4,4,25–16,29. 80 Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 144.

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Zoe [sc. das Leben] identifiziert mit den Gestalten der Psyche, der Hecate, der Artemis und der Köre. In diesen mythischen Darstellungen ist Zoe also stets eine weibliche Macht, das L. stellt auf diese Weise die weibliche Phase des Prozesses der Selbstsetzung der Wirklichkeit dar: Man kann sagen, daß das Seiende, transzendenter Vater, sich verweiblicht und ›Jungfrau-Mutter‹ wird, um den männlichen Sohn zu gebären, der der vollkommene Geist ist. 81

2.

Zum Verständnis des Lebens in der christlichen Bibel

Zum alttestamentlichen Verständnis des Lebens: Die Seele (næpæš) als Träger des Lebensatems und das Ideal eines langen und erfüllten Lebens als Geschenk Gottes Im Alten Testament wird das L. mit dem Atem als einem feinstofflichen Element in Verbindung gebracht: Gott hauchte dem von ihm aus dem Staub des Ackerbodens geformten Menschen in dessen Nase den L.-Atem ein, so dass er zu einem »lebendigen Wesen« (Vgl. Gen 2,7). geworden ist. Träger dieses L.-Atems aber ist die Seele (‫ ֶנֶפשׁ‬, transkr. næpæš), die nach alttestamentlicher Überzeugung nur den Menschen und den Tieren, nicht jedoch den Pflanzen zukommt. 82 Der Sitz der Seele befindet sich im Blut eines Lebewesens. 83 Da nach alttestamentlicher Grundüberzeugung Gott selbst der Herr über L. und Tod ist, durfte bei der Schlachtung von Opfertieren daher deren Blut nicht genossen werden, sondern es wurde meist zur Sühne für das Töten der Opfertiere am Altar vergossen. 84

Hadot, Art. »Leben, I. Antike«, 55, unter Verweis auf Marius Victorinus, Adv. Arium, hrsg. von Henry/Hadot, CSEL 83, 1, 51, 28–36. 82 Vgl. Horst Seebaß, Art. »Leben, II. Altes Testament«, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, Berlin/New York, De Gruyter, 1990, 520–524, hier 520. 83 Vgl. Lev 17,11.14; Dtn 12,23. 84 Vgl. Horst Seebaß, Art. »næpæš«, in: Gerhard Johannes Botterweck/Helmer Ringgren/Heinz Josef Fabry (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. 5, Stuttgart, Kohlhammer, 1986, 531–555, hier 549; vgl. hierzu Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen: Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, Bd. 55), Neukirchen-Vluyn, Neukirchener Verlag, 1982, 222–232. 81

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Das Leben als das Prinzip der Selbstbewegung

Das von dem hebräischen Verb hājāh abgeleitete hebräische Substantiv hajjīm bezeichnet »primär die Lebensdauer« 85 insbesondere des menschlichen L. auf Erden. Von dessen »Flüchtigkeit, Kürze und Vergänglichkeit« 86 geht das alttestamentliche Verständnis des menschlichen L.s aus. Und weil dieses als hinfällig und vergänglich gewusst wurde, steht das Ideal eines langen und erfüllten irdischen L.s im Zentrum des alttestamentlichen Verständnisses des menschlichen L. 87 Als erfüllt und glücklich gilt das menschliche L. aber erst dann, wenn es von Gott gesegnet ist, insbesondere mit Gesundheit, sozialer Anerkennung und einer reichen Nachkommenschaft. 88 Dieses glückliche und erfüllte L. wird schon nach dem sog. Heiligkeitsgesetz 89 und nach dem Buch Deuteronomium 90 sowie der alttestamentlichen Weisheitsliteratur 91 von dem Einhalten der Gebote Gottes bzw. der Gottesfurcht und damit von dem Bestehen des sog. Tun-Ergehen-Zusammenhangs abhängig gemacht, als dessen Garant Gott selbst angenommen worden ist. Das erfüllte L. ist daher nach alttestamentlicher Überzeugung vor allem eine individuelle Gabe Gottes für den gerechten, d. h. den gottesfürchtigen Menschen, 92 die jedoch auch dem ganzen Volk Israel zuteilwerden kann. 93

Seebaß, Art. »Leben, II. Altes Testament«, 521. Seebaß, Art. »Leben, II. Altes Testament«, 521 (mit den entsprechenden Belegstellen). 87 Vgl. Hans Hübner, Art. »Leben, II. L.-Begriff der Bibel«, in: HWPh, Bd. 5, 1980, 56–59, hier 56: »Das diesseitige irdisch-leibliche L. in Gesundheit und Glück (hebr. hajjīm) ist für den Menschen des Alten Testaments das höchste Gut. Hat er es von Gott als dem Schöpfer auch nur befristet erhalten, so hofft er doch, erst nach einem langen und erfüllten L. ›alt und lebenssatt‹ zu sterben.« Zur Länge des menschlichen Lebens nach dem Alten Testament vgl. Seebaß, Art. »Leben, II. Altes Testament«, 521. 88 Vgl. Gen 45,27; Dtn 30,16.19; Ps 80,19–20; Ps 85,7. 89 Vgl. Lev 18,5: »Ihr sollt auf meine Satzungen und meine Vorschriften achten. Wer sie einhält, wird durch sie leben. Ich bin der Herr.« 90 Vgl. Dtn 4,1: »Und nun, Israel, höre die Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch zu halten lehre. Hört, und ihr werdet leben, ihr werdet in das Land, das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt, hineinziehen und es in Besitz nehmen«; vgl. auch Dtn 5,33; 8,1. 91 Vgl. Spr 9,6: »Laßt ab von der Torheit, dann bleibt ihr am Leben und geht auf dem Weg der Einsicht!«; vgl. auch Spr 10,27: »Gottesfurcht bringt langes Leben, doch die Jahre der Frevler sind verkürzt«; vgl. auch Spr 13,14; 14,27. 92 Vgl. Hab 2,4: »Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben.« 93 Vgl. Am 5,4: »Ja, so spricht der Herr zum Haus Israel: Sucht mich, dann werdet ihr leben.« 85 86

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Markus Enders

Nach der in den Spätschriften des Alten Testaments, insbesondere im Buch Hiob, deutlich artikulierten Erfahrung, dass der TunErgehen-Zusammenhang innerweltlich sehr häufig nicht aufgeht, wird die Hoffnung auf ein postmortales, ewiges L. unvergänglichen Glücks bei Gott geweckt, die bereits in Ps 73,23–26 anklingen dürfte. Weil Gott ein »Freund des Lebens« (Weish 11,26) ist, hat er »den Tod nicht gemacht und keine Freude am Untergang der Lebenden« (Weish 1,13). So setzt sich in der Spätzeit des Alten Testaments der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele und an die Durchsetzung der ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes für jeden Menschen nach seinem irdischen L. durch. 94

Das neutestamentliche Verständnis des Lebens: Der göttliche Logos bzw. Christus als das Leben selbst – die Heilsgabe des Lebens für die Gläubigen Schon von dem bedeutenden hellenistischen jüdischen Religionsphilosophen Philon von Alexandrien (15/10 v. Chr. bis 40 n. Chr.) wird das begriffliche Gegensatzpaar »L. und Tod« nicht im biologischen, sondern im übertragenen geistigen und ethischen Sinne dieser Begriffe gedeutet, und zwar als – in Bezug auf das L. – das Gute und die Tugend sowie – in Bezug auf den Tod – als das Schlechte bzw. die Schlechtigkeit im irdischen Leben. 95 Diese Tendenz einer Vergeistigung und Ethisierung des L.-Begriffs setzt das Neue Testament noch sehr viel intensiver fort. Denn es identifiziert im Johannesevangelium das L. selbst mit dem präexistenten 96 und dem inkarnierten 97 göttlichen Logos. Daher versteht das Johanneseangelium das L. als eine Wesensbestimmung Gottes, die appropriativ der zweiten göttlichen Person, d. h. dem göttlichen Vgl. Weish 2,23: »Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.« Deshalb sind »die Seelen der Gerechten in Gottes Hand und keine Qual kann sie berühren« (Weish 3,1). 95 Vgl. Philon von Alexandrien, De fuga et inventione, in: Quis rerum divinarum heres sit. De congressu eruditionis gratia. De fuga et inventione. De mutatione nominum. De somniis (I-II), hrsg. von Paul Wendland, Berlin, De Gruyter, 2013 (Philonis Alexandrini opera quae supersunt, vol. III), 110–155, hier 122 (§ 58), 23–24. 96 Vgl. Joh 1,4: »In ihm war Leben [ζωή], und das Leben [ἡ ζωή] war das Licht der Menschen.« 97 Vgl. Joh 14,6: »Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben [ἡ ζωή]; niemand kommt zum Vater außer durch mich.« 94

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Logos, zukommt. Worin liegt nun diese spezifische Zuschreibung des L. an den göttlichen Logos begründet? Dass aber der göttliche Sohn mit dem göttlichen Leben identifiziert wird, liegt darin begründet, dass nicht schon im ursprunglosen Ursprung des göttlichen Vaters als solchem, sondern erst im Sohn, d. h. genauer in der Zeugung des göttlichen Sohnes durch den göttlichen Vater, Gott sich selbst bewegt, sich als die vollkommene Selbstbewegung des absoluten Geistes erweist, welche Grund und Ziel aller Bewegung ausschließlich in ihr selbst, in ihrem Selbstvollzug hat. Genau dies, die reine Selbstbewegung des vollkommenen Seins im Denken seiner selbst zu sein, aber ist der klassische Inbegriff des vollkommenen Lebens. 98

Der präexistente, ewige göttliche Logos bzw. Sohn ist daher gleichsam der Inbegriff des (vollkommenen) L., das als Wesensbestimmung der ganzen Gottheit eignet. Diese starke Behauptung aber ist höchst begründungsbedürftig, mit anderen Worten: Inwiefern kann und soll der Logos das L. selbst und damit zugleich auch der Inbegriff alles Lebendigen sein? Der Logos ist deshalb das L. selbst, weil er die Formbzw. Exemplarursachen aller Geschöpfe, d. h. ihre innergöttliche Seinsweise als die idealen Schöpfungsgedanken Gottes, in sich hat. 99 Denn diese sind als die vom Geist Gottes von Ewigkeit her schon entworfenen Seinsgründe und idealen Seinsformen der Geschöpfe vollkommen lebendig, weil sie als die Gedanken Gottes vollkommen selbstbewegt sind. Markus Enders, »Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das ›Tal der Geschichte‹. Johannes Scotus Eriugenas Auslegung des Johannesprologs in seiner Homilie ›Vox spiritualis‹ und in seinem Kommentar zum Johannesevangelium«, in: Markus Enders/Rolf Kühn (Hrsg.), »Im Anfang war der Logos …«. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart. Mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, Bd. 11), Freiburg/Basel/Wien, Herder, 2011, 71–116, hier 85. 99 Genau deshalb wird Joh 1,4 von der christlichen Traditionsgeschichte auf die Exemplar- und Formursachen aller Geschöpfe im göttlichen Logos hin ausgelegt; vgl. hierzu Enders, »Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen. Augustinus’ Auslegung des Johannesprologs«, in: Enders/Kühn (Hrsg.), »Im Anfang war der Logos …«, 47–70, hier 55–56 (in Bezug auf Augustinus); Markus Enders, »Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das ›Tal der Geschichte‹, 81–87 (in Bezug auf Johannes Scotus Eriugena); vgl. auch Markus Enders, »Das göttliche Wort und seine Fleischwerdung. Inhaltliche Grundzüge des Kommentars des Thomas von Aquin zum Prolog des Johannesevangeliums«, in: Enders/Kühn (Hrsg.), »Im Anfang war der Logos …«, 117–148, hier 130–131 (in Bezug auf Thomas von Aquin). 98

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Inwiefern aber ist auch der inkarnierte Logos das L. selbst? Der inkarnierte Logos verliert durch die Inkarnation weder seine göttliche Natur noch seine appropriative Eigenschaft, das L. selbst zu sein. Vielmehr gewinnt er nach christlichem Glauben durch seine Fleischwerdung noch etwas hinzu, und zwar die individualisierte menschliche Natur und deren hypostatische Union bzw. personale Einheit mit der göttlichen Natur. Deshalb kann auch der inkarnierte Logos nach Joh 14,6 von sich sagen, das (vollkommene) L. selbst zu sein. Und nur deshalb, weil Jesus Christus das L. selbst ist, kann er anderen das L. schenken. 100 Das L. aber ist bereits nach alttestamentlichem und mehr noch nach neutestamentlichem, insbesondere johanneischem Verständnis »die Heilsgabe schlechthin« 101 für den Menschen. Dabei »beschränkt Gott das Heilsgut des Lebens nicht auf das Diesseits […], sondern [verleiht] es den Frommen zu ewiger Dauer« 102 bzw. verheißt ihnen »ewiges Leben« 103. Daher kann das L. auch »den jenseitigen Heilsbereich […] bezeichnen, in welchen die mit dem Leben Begabten (›Auferstehung zum Leben‹ : Joh 5,29; vgl. Dan 12,2) eintreten (am Ende: Mk 9,43.45; Mt 7,14; 25,46; Joh 3,36b; Röm 5,17 […])« 104. Zudem qualifiziert das L. besondere Gegenstände dieses jenseitigen Heilsbereichs wie etwa ›das Buch des Lebens‹ (Phil 4,3; Apk 3,5; 13,8; 17,8; 20.12.15; 21,27; vgl. Ps 69,29; Dan 12,1 […]), in welches die Namen der zum Heil Bestimmten eingeschrieben sind (zum Bild vgl. Lk 10,20; Hebr 12,23); den ›Kranz des Lebens‹ (Jak 1,12; Apk 2,10), welchen der Bewährte als Anerkennung seiner Treue erhalten wird (zum Bild des Kranzes vgl. 1 Kor 9,25; 1 Tim 4,8; 1 Petr 5,4, Apk 4,4 […]); den ›Baum des Lebens‹ (Apk 2,7; 22,2.14.19 […]), von welchem die Erlösten essen (zum Bild vgl. Gen 2,9); das ›Wasser des Lebens‹ (Apk 22,10; zum Bild vgl. Jes 55,1), welches sie trinken; die ›Quelle des Wassers des Lebens‹ (Apk 7,17; 21,6) und den ›Fluß des Wassers des Lebens‹ (Apk 22,1; zum Bild vgl. Ez 47,1–12; Sach 14,8; Joh 4,18). […] So kann auch schon das Wort der Verkündigung, welches zum ewigen Leben führen will,

Vgl. Joh 6,33.35.51.57; 7,37–38; 8,12; 10,10.28; 17,2; 1 Joh 5,12. Gerhard Dautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, in: Gerhard Krause/ Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, Berlin/New York, De Gruyter, 1990, 526–530, hier 527; hierzu vgl. Joh 1,4b; 5,40; 6,33; 8,12. 102 Dautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, 527, unter Verweis auf Mk 12,27; Lk 20,38; Apg 2,28; Röm 2,7; Joh 3,15.36; 4,14. 103 Griechisch »ζωὴ αἰώνιος«; vgl. Joh 5,24; 12,50, 17,2; 1 Joh 3,15; 5,11. 104 Dautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, 527. 100 101

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gelegentlich das ›Wort des Lebens‹ genannt werden (Phil 2,16; vgl. Joh 6,68; 5,39 […]). 105

Auch wenn mit dem ewigen Leben im Johannesevangelium primär der jenseitige, postmortale Heilsbereich des Gottesreiches gemeint ist, so kann doch nach johanneischer Überzeugung dieser Heilsbereich bereits im irdischen L. eines Christen seinen Anfang nehmen, und zwar genau dann, wenn der Mensch an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu glauben beginnt. 106 Jesus selbst setzt nach neutestamentlichem Zeugnis das für den Menschen vollkommene, das gänzlich erfüllte L. mit dem Reich Gottes gleich. 107 Paulus spricht von dem »ewigen Leben [ζωὴ αἰώνιος] in Jesus Christus« als der »Gabe Gottes« (Vgl. Röm 6,22–23). Diese Gabe des ewigen L. bei Gott ist aber nach dem Neuen Testament an »Einlassbedingungen« geknüpft, die der Mensch zu erfüllen hat, um das ewige L. zu »erben« (vgl. Mk 10,17; Lk 18,18, 10,25; 1 Petr 3,7). Diese Bedingungen bestehen schon nach alttestamentlichem und dann auch nach neutestamentlichem Glauben im Halten und Beachten der Gebote Gottes (vgl. Dtn 4,1; 5,33; 8,1), insbes. der Ge- und Verbote des Dekalogs (vgl. Mk 10,19), »ergänzt um […] die Zusammenstellung der Gebote der Gottesliebe nach Dtn 6,5 und der Nächstenliebe (Mk 12,28–31) als des eigentlichen Inhalts des Gesetzes (Lk 10,26 f.). Dem entsprechen die abschließenden Feststellungen: ›Tu dies und du wirst leben‹ (Lk 10,18 vgl. Lev 18,5) und ›du bist nicht weit [entfernt] vom Reiche Gottes‹ (Mk 12,34)« 108. Der Eingang in das ewige L. ist für den Gläubigen nach dem Neuen Testament aber an eine Grundbedingung dieser Möglichkeit gebunden, die der Mensch nicht selbst, nicht aus eigener Kraft, erfüllen kann, sondern die ihm nach christlichem Glauben von Gott in Jesus Christus geschenkt worden ist, die sog. Auferstehung bzw. Auferweckung. Mit Dautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, 527. Vgl. Joh 5,24: »Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen«; vgl. auch Joh 3,15–16; 3,36; 6,40; 6,47: »Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben«; Joh 20,31; 1 Joh 5,13. 107 Diese implizite Gleichsetzung des L. mit dem Reich Gottes als Bestandteil der Verkündigung Jesu erfolgt in Mk 9,43–47; hierzu vgl. Hübner, Art. »Leben, II. Der L.Begriff der Bibel«, 58–59: »Er [sc. Jesus] spricht wohl vom ›Eingehen in das L.‹ […], worunter das L. in der künftigen Gottesherrschaft […] verstanden ist.« 108 Dautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, 528. 105 106

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anderen Worten: Der Eingang in das ewige L. des Gottesreiches ist nur in dem und durch den auferstandenen Christus möglich (vgl. 1 Kor 15,1–34). Daher sind »Auferstehung und (ewiges) Leben […] in Korrelation zueinander stehende Begriffe (vgl. Röm 6,9 f.; 8,11), die sich gegenseitig vertreten können (Röm 4,17; 11,15; 1 Kor 15,22.36.45; Apk 20,4; vgl. Joh 5,21.25 […])« 109. Die »Lebensmacht des Auferstandenen« 110 kann und sollte von dem Christen aber bereits in seinem irdischen L. erfahren werden, indem der Geist Christi in ihm lebendig ist, so dass er nicht mehr »nach dem Fleisch« lebt und damit dem Tod der Seele anheimfällt, sondern indem er durch den Geist Gottes bzw. Christi lebt, der das L. selbst ist. 111

3.

Zum Verständnis des Lebens bei Augustinus und in der Philosophie des lateinischen Mittelalters

Augustinus: Gott bzw. der göttliche Logos als der präexistente Vorentwurf der ganzen Schöpfung ist das Leben selbst – die unsterbliche Seele als der Träger des Lebens in allen Lebewesen Geht man die aktuelle Online-Version des Augustinus-Lexikons durch, dessen redaktionelle Bearbeitung das Lemma »vita« noch nicht erreicht hat, so findet man unter diesem Stichwort zahlreiche Einträge mit der Bedeutung einer bestimmten Biographie wie etwa der Vita Antonii, ferner auch zahlreiche Einträge zur vita aeterna, dem christlich geglaubten und erhofften »ewigen Leben«, jedoch (noch) keine Belegstellen zu einer systematischen Reflexion des Augustinus über den Wesensgehalt des L. Eine solche Reflexion können wir jedoch zumindest anfanghaft seiner ersten 112 Auslegung des ProDautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, 529. Dautzenberg, Art. »Leben, IV. Neues Testament«, 529, unter Hinweis auf 2 Kor 2,16 und 2 Tim 1,10. 111 Vgl. Röm 8,1–17; zur Einheit von (Gottes bzw. Christi) »Geist« und »Leben« vgl. Röm 8,10–11: »Wenn Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit. Wenn der Geist dessen in euch wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er […] auch euren sterblichen Leib lebendig machen, durch seinen Geist, der in euch wohnt«; vgl. auch Gal 2,20a: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«. 112 Zu den insgesamt drei Abhandlungen, die Augustinus dem Johannesprolog ge109 110

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logs des Johannesevangeliums (zu Joh 1,1–5) entnehmen, und zwar genauer seiner Interpretation des Verses Joh 1,4, der ihm in diesem Wortlaut der Vulgata vorlag: »in ipso vita erat et vita erat lux hominum« 113. Hierzu führt Augustinus aus, dass »nicht nur durch das göttliche Wort als Schöpfungsinstrument Gottes […] alles Geschaffene geworden [ist], sondern auch in diesem Wort« 114, und zwar als Schöpfungsidee und geistige Form- oder Exemplarursache der nach ihr gestalteten Kreatur im göttlichen Geist: »Diese innergöttliche Schöpfungsidee und nicht das Geschöpf ist daher mit dem göttlichen Wort identisch, ist selbst das göttliche Leben.« 115 Diese Lehre von den innergöttlichen Form- oder Exemplarursachen aller Kreaturen veranschaulicht Augustinus mit seiner berühmt gewordenen Analogie des menschlichen Künstlers: Auf unsichtbare Weise ist ein Kasten, den ein Künstler anfertigen will, zuerst als geistiger Vorentwurf im Kopf des Künstlers, bevor dieser dem Entwurf gemäß den materiellen, sichtbaren Kasten anfertigt. Denn ohne diesen geistigen Vorentwurf könnte er gar nicht etwas künstlerisch gestalten. Dementsprechend enthält auch die Weisheit des göttlichen Weltbaumeisters die geistigen Vorentwürfe aller Geschöpfe von Ewigkeit her schon in sich, bevor sie diese Geschöpfe in Raum und Zeit hervorbringt. In ihrer ideellen, innergöttlichen, exemplarursächlichen, präexistenten Seinsweise sind daher die Geschöpfe selbst das göttliche Leben – so wie die Kunstwerke in der Geistseele des Künstlers als dessen inneres Leben präexistieren, bevor sie geschaffen werden; außerhalb ihres innergöttlichen Seins besitzen die Geschöpfe eine körperliche, materielle Seinsweise. 116

widmet hat, vgl. Enders, »Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen«, 47–48. 113 Biblia Sacra. Iuxta Vulgatem Versionem Adiuvantibus Bonifatio Fischer OSB, Johanne Gribomont OSB, H. F. D. Sparks, W. Thiele, Recensuit et Brevi Apparatu instruxit Robertus Weber OSB, Editio tertia emendata quam paravit Bonifatius Fischer OSB cum sociis H. I. Frede, Iohanne Gribomont OSB, H. F. D. Sparks, W. Thiele, Stuttgart, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart, 31983, 1658. 114 Enders, »Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen«, 55. 115 Enders, »Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen«, 55; vgl. hierzu Aurelii Augustini In Iohannis evangelium tractatus CXXIV, in: Corpus Christianorum Series Latina, vol. 36, ed. D. Radbodus Willems O. S.B., Turnhout, Brepols, 1954, I 16,1–25. 116 Übers. von Enders, »Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen«, 55–56.

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Im Gefolge des Johannesevangeliums bzw. genauer des Johannesprologs setzt daher auch Augustinus das L. selbst mit dem göttlichen L. und dieses mit der Gesamtheit der innergöttlichen Form- oder Exemplarursachen aller Geschöpfe gleich. Diese sind aber im göttlichen Wort bzw. Logos enthalten oder richtiger: Sie sind selbst der göttliche Logos, d. h. das Selbstbewusstsein Gottes in eigentümlicher Weise und damit das, wodurch Gott sich selbst (geistig) bewegt. Daher ist auch für Augustinus die zweite göttliche Person der Inbegriff des L., so dass das L. selbst zwar der Gottheit als ganzer, in eigentümlicher Weise jedoch der zweiten göttlichen Person zukommt. Dies bestätigt ein hierfür einschlägiger Passus in Augustins großem theologischen Werk De trinitate. Denn im sechsten Buch dieser Schrift legt Augustinus eine trinitätstheologische Formel des lateinischen Kirchenvaters Hilarius von Poitiers aus, die besagt, dass »die Ewigkeit im (göttlichen) Vater, die Gestalt im (göttlichen) Bild und der Gebrauch im (göttlichen) Geschenk« 117 bestehe. Mit dem Ausdruck der »Ewigkeit« habe, so Augustinus, Hilarius sagen wollen, dass der Vater selbst keinen Vater habe, der ihm die Existenz verleiht, dass aber der Sohn vom Vater die Existenz und die gleiche Ewigkeit wie der Vater empfange. Wenn nämlich das Bild seinen Gegenstand erschöpfend darstelle, dann sei es ihm gleich, während der Gegenstand seinem (Ab-)Bild nicht gleich sei. Das Bild aber habe er (sc. Hilarius) Gestalt genannt wegen der ihm eigenen Schönheit, da es die höchste Gleichheit und Übereinstimmung mit seinem Gegenstand besitze. Diesem Bild, d. h. dem göttlichen Sohn, aber komme es zu, erstes und höchstes Leben zu sein, in dem Sein, Leben und höchstes Erkennen ein und dasselbe seien. Dieses göttliche Bild sei ein vollkommenes Wort, dem kein Sein fehle, sondern gleichsam eine Kunst des allmächtigen und weisen Gottes, erfüllt von allen lebendigen und unwandelbaren Seinsgründen. Alles sei in ihm eines, wie es selbst eines von dem Einen sei, mit dem es selbst eins sei. Dort erkenne Gott alles, was er durch es schaffe. 118 Vgl. Augustinus, De Trinitate XI 10, in: Aurelii Augustini De Trinitate Libri XV, Cura et Studio, W. J. Mountain, Auxiliante Fr. Glorie (Corpus Christianorum Series Latina, vol. L), Turnhout, Brepols, 1968, 241,1–3: »Quidam cum uellet breuissime singularum in trinitate personarum insinnuare propria : Aeternitas, inquit, in patre, species in imagine, usus in munere.« 118 Vgl. Augustinus, De Trinitate XI 10, 241,8–24: »[…] non eum secutum arbitror in aeternitatis uocabulo nisi quod pater non habet patrem de quo sit, filius autem de patre est ut sit atque ut illi coaeternus sit. Imago enim si perfecte implet illud cuius 117

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Demnach ist für Augustinus die zweite göttliche Person die erste und höchste Verwirklichungsform des L., in der vollkommenes Sein, L. und Erkennen sich in einer relationalen und dynamischen Identität miteinander befinden. 119 Diese Wesenseigenschaft des L. kann aber gemäß augustinischer Trinitätstheologie nicht exklusiv, sondern nur appropriativ dem »Bild« des Vaters innerhalb der Trinität, d. h. dem Sohn Gottes, zukommen, weil alle göttlichen Wesenseigenschaften (und damit auch das L.) der einen göttlichen Natur als ganzer eignen, die alle drei göttlichen Personen gemeinsam besitzen. Wenn demnach Gott das L. selbst und dieses in der zweiten göttlichen Person des Logos als des göttlichen Vorentwurfs der ganzen Schöpfung in eigentümlicher Weise verwirklicht ist, dann muss Gott auch die Form- bzw. Exemplarursache und als Schöpfer auch die Wirkursache des Seins aller Lebewesen überhaupt sein. 120 Der Träger des L. in allen Lebewesen ist auch für Augustinus die Seele. Diese versteht er ganz platonisch als jene Kraft der Bewegung, die überall imago est, ipsa coaequatur ei non illud imaginae suae. In qua imagine speciem nominauit, credo, propter pulchritudinem ubi iam est tanta congruentia et prima aequalitas et prima similitudo nulla in re dissidens et nullo modo inaequalis et nulla ex parte dissimilis, sed ad identidem respondens ei cuius imago est ; ubi est prima et summa uita cui non est aliud uivere et aliud esse, sed idem et esse et uiuere, et primus ac summus intellectus cui non est aliud uiuere et aliud intellegere, sed id quod est intellegere, hoc uiuere, hoc esse est unum omnia tamquam uerbum perfectum cui non desit aliquid et ars quaedam omnipotentis atque sapientis dei plena omnium rationum uiuentium incommutabilium, et omnes unum in ea sicut ipsa unum de uno cum quo unum. Ibi nouit omnia deus quae fecit per ipsam […].« 119 Zur Herkunft dieser triadischen, relationalen Identität zwischen Sein, L. und Erkennen im ersten (metaphysischen) Prinzip bei Marius Victorinus und darüber hinaus bei dem Neuplatoniker Porphyrios vgl. Beierwaltes, »Deus est esse – esse est Deus«, 26–27: »Victorinus identifiziert ›esse‹ mit dem Vater, ›vivere‹ mit dem Sohn, ›intelligere‹ mit dem Hl. Geist. Das Sein des Vaters ist Grund und Ursprung des mit ihm substanzgleichen Lebens und Erkennens, des Sohnes und des Geistes. In dieser zeitlosen manifestatio (apparentia, Selbstoffenbarung) des Seins des Vaters im Sohn und im Denken des Geistes vollzieht sich die Selbstkonstitution und Selbsterkenntnis Gottes als dreifaltiger Einheit.« Zum Ineinander-Sein und Ineinander-Wirken von Sein, Leben und Denken im dreifaltigen Gott und zur eigentümlichen subsistentia des L. als in die Schöpfungsideen Gottes entfaltete potentia bei Victorinus vgl. Werner Beierwaltes, »Trinitarisches Denken. Substantia und Subsistentia bei Marius Victorinus«, in: Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum (Philosophische Abhandlungen, Bd. 73), Frankfurt am Main, Klostermann, 1998, 25–43, hier 38–39. 120 Vgl. Augustinus, Soliloquiorum libri duo I,3, in: Sancti Aureli Augustini Opera, Sect. I, Pars IV, rec. Wolfgang Hörmann (Corpus Scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, vol. LXXXIX) Wien 1986, 5,7–10: »Deus [sc. est] vera et summa vita, in quo et a quo et per quem vivunt, quae vere summeque vivunt omnia.«

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dort, wohin sie kommt, L. spendet und deshalb dem Tod als dem Gegensatz zum L. nicht ausgesetzt sein könne. 121 Weil also die Seele ein bestimmtes L. sei, sei alles Beseelte lebendig und alles Unbeseelte, d. h. dasjenige, welches des L. entbehrt, tot. Deshalb könne die Seele nicht sterben, denn wenn sie einmal kein Leben haben könnte, wäre sie keine Seele mehr. 122 Für Augustinus gilt daher: Die Seele ist das immanente Lebensprinzip in allen Lebewesen; Gott aber ist das immanente und zugleich transzendente erste Prinzip bzw. der Ursprung allen L.

Johannes Scottus Eriugena: Das göttliche Leben, das »allgemeinste Leben« und die verschiedenen Arten des Lebens Der bedeutendste karolingische Philosoph und Theologe Johannes Scottus Eriugena (815–877 n. Chr.) hat die ihm von der christlichen Tradition vorgegebene Auslegung des göttlichen L. im Johannesprolog aufgenommen und vertieft. Das innergöttliche L. bzw. die geistigen Entstehungsgründe (causae primordiales) aller Kreaturen präexistieren und subsistieren im göttlichen Wort als der zweiten Person Gottes, bevor sie in ihre kreatürliche Vereinzelung, d. h. in ihre raum-zeitliche Existenz hervortreten. Sie besitzen daher eine innergöttliche Seinsweise als das L. Gottes selbst und eine außergöttliche, kreatürliche Seinsweise. 123 In seiner Trinitätstheologie bringt Eriugena das L. als das dritte Moment des neuplatonischen geistmetaphysischen Ternars οὐσία – νοῦς – ζωή (essentia – sapientia – vita) allerdings mit dem Heiligen Geist als der dritten göttlichen Person in Verbindung. 124 Vgl. Augustinus, Soliloquiorum libri duo II,23, 77,1–5. Vgl. Augustinus, De immortalitate animae IX,16, in: Sancti Aureli Augustini Opera, Sect. I, Pars IV, 117,20–25: »Est autem animus vita quaedam, unde omne, quod animatum est, vivere, omne autem inanime, quod animari potest, mortuum, id est vita privatum intellegitur. Non ergo potest animus mori. Nam si carere poterit vita, non animus, sed animatum aliquid est.« 123 Vgl. ausführlich (mit den entsprechenden Belegstellen) Enders, »Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das ›Tal der Geschichte‹«, 83–85. 124 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. I,13, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon, (De Divisione Naturae) Liber primus, ed. by I. P. Sheldon-Williams with the collaboraton of Ludwig Bieler, Dublin, Dublin Institute for Advanced Studies, 1978, 2–9. 121 122

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Darüber hinaus hat Eriugena eine Stufenleiter bzw. Hierarchie des L. entwickelt, die nicht nur die organischen Lebewesen, sondern auch die anorganischen Körper umfasst. Denn alle Spezies bzw. Arten von Körpern seien von einer jeweils spezifischen Art des L. gesteuert, die nach ihrer jeweiligen Gattung strebe, welche ihrerseits von einer allgemeinsten Substanz abstamme, so dass jede Art des L. durch Teilhabe auf ein allgemeinstes L. zurückgehe, welches von den Naturphilosophen »Weltseele« (universalissima anima), von den Theologen jedoch »allgemeines Leben« (communis vita) genannt werde. 125 Dieses partizipiere seinerseits an dem durch sich selbst substantiellen L., welches »jeden Lebens Quelle und Schöpfer« 126 sei und welches Eriugena auch als »Leben durch sich selbst« 127 bezeichnet, womit er eine göttliche Idee bzw. einen geistigen Entstehungsgrund (causa primordialis) in Gott selbst meint. Alles Lebendige – damit bezeichnet Eriugena alles, was einen Körper besitzt 128 – lebe nur durch seine Teilhabe an diesem »Leben durch sich selbst«, 129 d. h. an dem göttlichen L. Nach Eriugena teilt sich nun das »allgemeinste L.« auf in vier Arten: In »die vita intellectualis der Engel, die vita rationalis der Menschen, die vita sensualis der Tiere und die vita insensualis der Pflanzen und der übrigen Körper« 130, wobei die Unterscheidung zwiVgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,36, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Tertius, ed. by I. P. Sheldon-Williams with the collaboration of Ludwig Bieler, Dublin, Dublin Institute for Advanced Studies, 1981, 276,6–17. 126 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,36, 276,17–18. 127 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. II,36, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Secundus, ed. by I. P. Sheldon-Williams with the collaboration of Ludwig Bieler, Dublin, Dublin Institute for Advanced Studies, 1983, 206,3: »vita per se ipsam«; diese Bezeichnung für das selbstursächliche bzw. erste und vollkommene L. und auch die Annahme seiner Schöpfer-Funktion für alle ihm nachgeordneten Lebensweisen gehen zurück auf Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus 11,6, der von Gott als dem »Leben selbst« (αὐτοζωή) und zugleich als dem überwesentlichen Urgrund und Urheber allen L. spricht, vgl. hierzu Migne Patrologia Graeca 3, 953B7–956C10 (darauf verweist Eriugena selbst, vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. II,36, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon [De Divisione Naturae]. Liber Secundus, 211,26–208,20). 128 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,36, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Tertius, 276,23–277,8. 129 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. II,36, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Secundus 206,13–14: »quaecunque uiunt participatione per-se-ipsam uitae uitam possident«. 130 Hübner, Art. »Leben, II. Der L.-Begriff der Bibel«, 60; diese Unterscheidung bezieht sich auf Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,37, in: Iohannis Scotti Eriugenae 125

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schen der vita intellectualis der Engel und der vita rationalis der Menschen für Eriugena nur eine terminologische ist, weil beide Formen geistigen L. in beiden, Engeln und Menschen, vorkommen sollen, zumal nicht nur die Menschen, sondern auch die Engel nach dem Bild Gottes geschaffen seien. 131 Dem Menschen aber eigne als »Werkstätte aller Geschöpfe« die Sonder- und Ausnahmestellung, alle vier Arten des L. in sich zu vereinigen, weil er einen Intellekt besitze wie ein Engel, eine Vernunft wie ein Mensch, ein sinnliches Wahrnehmungsvermögen wie ein Tier und das L. wie eine Pflanze und schließlich wie jede Kreatur auch aus einem Körper und einer Seele bestehe. 132 1

Zum Verständnis des Lebens bei Anselm von Canterbury, im Liber de causis und bei Albertus Magnus

Auch wenn Anselm von Canterbury keinen Kommentar zum Johannesprolog verfasst hat, so versteht er doch Joh 1,3–4 in dem gleichen Sinne wie Eriugena und Augustinus, d. h. als präexistente Immanenz aller Geschöpfe in Gestalt ihrer geistigen Exemplarursachen im göttlichen Logos. Daher sei alles Geschaffene, ob es nun lebendig sei oder nicht, im göttlichen Wort als das L. und die Wahrheit selbst. 133 Zugleich weiß Anselm darum, dass das L. eine substantielle bzw. Wesenseigenschaft und keine akzidentelle Eigenschaft der ganzen Gottheit und nicht nur der zweiten göttlichen Person ist, dass also Gott das L. selbst ist, durch das er lebt. 134 Allerdings reflektiert Anselm

Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Tertius, 284,13–286,6; diese vier Arten des Lebendigen entsprächen den vier Elementen der Welt, und zwar dem Äther, der Luft, dem Wasser und der Erde; vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,37, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Tertius, 286,6–8. 131 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,37, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Tertius, 284,17–33. 132 Vgl. Joh. Scottus Eriugena, De div. nat. III,37, in: Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De Divisione Naturae). Liber Tertius, 286,8–13. 133 Vgl. Anselm von Canterbury, Monologion 35, in: S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera Omnia, Volumen Primum. Ad Fidem Codicum Recensuit Fransiccus Salesius Schmitt O.S.B., Stuttgart/Bad Cannstatt, Friedrich Frommann Verlag (Günter Holzboog), 1968, 54,5–13, insb. 8–10: »Quidquid igitur factum est sive vivat sive non vivat, aut quomodocumque sit in se: in illo est ipsa vita et veritas.« 134 Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion 12, in: S. Anselmi Cantuariensis Archi-

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nicht auf die spezifische Bedeutung des L. als einer Wesenseigenschaft Gottes. Eine solche inhaltliche Bestimmung des L. wird im Hohen Mittelalter erst vom sog. Liber de causis vorgenommen, einer von Gerhard von Cremona († 1187) angefertigten lateinischen Übersetzung einer ursprünglich arabischen philosophischen Schrift aus dem 9. Jahrhundert, die vor allem neuplatonische Philosopheme insb. aus der Elementatio theologica des Proklos enthält und eine enorme Verbreitung und Kommentierung im Hohen und Späten Mittelalter erfahren hat. 135 Diese Schrift ist nach Lehrsätzen geordnet, denen jeweils ein Kommentar angefügt ist. Im Lehrsatz Nr. 17 dieser Schrift wird eine Definition des L. formuliert, und zwar als »ein Hervorgang, der aus dem ersten, ruhenden, ewigen Seienden hervorgeht, und die erste Bewegung.« 136 Demnach ist das L. die erste Bewegung überepiscopi Opera Omnia, Volumen Primum, 110,5–8, insb. 6–7: »Sed certe quidquid es, non per aliud es quam per te ipsum. Tu es igitur ipsa vita quod vivis […].« 135 Zur Verbreitung des Liber de causis im Mittelalter vgl. Alexander Fidora/Andreas Niederberger, Von Bagdad nach Toledo. Das »Buch der Ursachen« und seine Rezeption im Mittelalter, Mainz, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 2001 (lateinischer Text und deutsche Übersetzung). 136 Vgl. Liber de causis, Propos. 17, in: Liber de causis. Arabische Version und deutsche Übersetzung, ed. O. Bardenhewer, Die pseudoaristotelische Schrift »Über das reine Gute«, Freiburg im Breisgau 1822, nach Maßgabe der textkritischen Ausgabe von Adriaan Pattin (Tijdschr. Filos. 28, 1966) überarbeitet, satzstrukturell gegliedert und ins Netz gestellt durch Hans Zimmermann, Görlitz, 2001, online abrufbar unter: http://12koerbe.de/pan/causis-0.htm, 143–148: »res omnes entia propter ens primum et res vivae omnes sunt motae per essentiam suam propter vitam primam et res intellectibiles omnes habent scientiam propter intelligentiam primam. quod est quia si omnis causa dat causato suo aliquid tunc procul dubio ens primum dat causatis omnibus ens. et similiter vita dat causatis suis motum quia vita est processio procedens ex ente primo quieto sempiterno et primus motus. et similiter intelligentia dat causatis suis scientiam. quod est quia omnis scientia vera non est nisi intelligentia et intelligentia est primum sciens quod est et est influens scientiam super reliqua scientia. redeamus autem et dicamus quod ens primum est quietum et est causa causarum et si ipsum dat omnibus rebus ens tunc ipsum dat eis per modum creationis. vita autem prima dat eis quae sunt sub ea vitam non per modum creationis immo per modum formae. et similiter intelligentia non dat eis quae sunt sub ea de scientia et reliquis rebus nisi per modum formae (deutsche Übersetzung: »Alle Dinge haben das Sein durch das erste Sein, alle lebenden Dinge sind selbstbewegungsfähig durch das erste Leben und alle intellectuellen Dinge sind erkenntnissfähig durch die erste Intelligenz. Denn wenn jede Ursache dem von ihr Verursachten etwas mittheilt, so kann kein Zweifel sein, dass das erste Sein allem von ihm Verursachten das Sein mittheilt; und ebenso theilt das Leben dem von ihm Verursachten die Bewegung mit, weil das Leben ein Ausgang von dem ersten, ruhenden, bleibenden Sein und der Anfang der Bewe-

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haupt, und zwar ein erster Ausfluss (Emanation) aus dem Ersten, unbewegten Beweger, d. h. dem Ersten Prinzip im metaphysischen Sinne dieses Wortes. Von dieser ersten Bewegung wird gesagt, dass sie allem von ihr Verursachten die Bewegungskraft verleihe, und zwar nicht auf die Weise einer Erschaffung, wie die erste Ursache allen Entitäten das Sein verleihe, sondern nach Art einer Formursache. Das L. geht daher aus der unbewegten Einheit des ersten Seins hervor und verursacht form- bzw. exemplarursächlich die Vielheit der raum-zeitlich existierenden Entitäten. Daher ist das L. mit der bewegten Einheit des zweiten Seins, d. h. dem absoluten Geist, identisch, in dem die Totalität der Ideen als der Schöpfungsgründe enthalten ist. Dieses neuplatonisch geprägte, geistmetaphysische Verständnis des L. hat die mittelalterlichen Kommentare zum Liber de causis noch bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts hinein bestimmt. Erst als sich die philosophische Rezeption der naturphilosophischen und metaphysischen Schriften des Aristoteles Bahn brach, gewann dessen Verständnis des L. als das nach dem Grad der Selbstbewegung unterschiedene Sein der Lebewesen eine größere Bedeutung. Diese Entwicklung setzt mit Albertus Magnus ein, der zwischen dem L. erstens als einem Besitz der Seele, zweitens als einer Gabe der Seele und drittens als einer Form des belebten Körpers unterscheidet. Das L. als Gabe der Seele definiert er als »der erste und wesentliche und kontinuierliche Akt der Seele im Körper« 137. Das L. ist demnach für Albert genauer gung ist; und ebenso theilt die Intelligenz dem von ihr Verursachten die Erkenntnisskraft mit, denn jede wahre Erkenntnisskraft geht nur von der Intelligenz aus, und die Intelligenz ist das erste erkennende Wesen, welches existirt, und zugleich dasjenige, was die Erkenntnisskraft auf die übrigen erkennenden Wesen ausströmen lässt. Wir wiederholen und sagen also: Das erste Sein ist ruhend und es ist die Ursache / der Ursachen, und wenn es allen Dingen das Sein mitteilt, so theilt es dasselbe in der Weise einer Erschaffung mit; das erste Leben hingegen theilt dem, was unter ihm ist, das Leben mit nicht in der Weise einer Erschaffung, sondern in der Weise einer Form; und ebenso theilt auch die Intelligenz dem, was unter ihr ist, von der Erkenntnisskraft und den übrigen Dingen mit in der Weise einer Form, nicht in der Weise einer Erschaffung, weil die Weise der Erschaffung ausschliesslich der ersten Ursache eigen ist«); vgl. auch Anonymus, Liber de causis. Das Buch von den Ursachen, hrsg. von Andreas Schönfeld, Hamburg, Meiner, 2004, prop. XVII (XVIII), n. 145, 36: »Vita (arab. ḥayāt) est processio procedens ex ente (arab. huwīya) primo quieto sempiterno et primus motus«. 137 Vgl. Albertus Magnus, De morte et vita tr. I, c. 1, in: Super Porphyrium De V universalibus, hrsg. von August Borgnet, Paris, 1890 (Alberti Magni Opera Omnia), 346b: »Vita est actus primus et essentialis et continuus animae in corpus«.

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jener Akt bzw. jene Tätigkeit der Seele im Körper, durch den die Seele als Lebensprinzip den physisch-organischen Körper formt und bewegt. 138

Thomas von Aquin: Die Begriffsbestimmung und die vier Stufen des Lebens Thomas von Aquin hat in seinen beiden Summen das Phänomen und den Begriff des L. genauer untersucht, und zwar in der Quaestio 18 des ersten Buches seiner Summa theologiae und im elften Kapitel des vierten Buches seiner Summa contra gentiles. Die Quaestio 18 des ersten Buches seiner Summa theologiae behandelt das Leben Gottes (De vita Dei) und unterscheidet die folgenden vier Einzelfragen zu diesem Gegenstandsbereich: 1. Besitzen alle natürlichen Wesenheiten das L.? 2. Ist das L. eine gewisse Tätigkeit? 3. Kommt Gott das L. zu? 4. Ist alles in Gott L.? Gehen wir diese vier Einzelfragen der Reihe nach durch: Zu 1: Aus dem evidenten Phänomen der Selbstbewegung bei lebendigen Pflanzen und Tieren schließt Thomas, dass »jenes im eigentlichen Sinne lebendig ist, was sich selbst nach irgendeiner Art von Bewegung bewegt« 139, und zwar unabhängig davon, ob Bewegung im eigentlichen Sinne als ein actus imperfecti, d. h. als ein unvollendeter Zustand eines in Möglichkeit Befindlichen, oder im allgemeinen Sinne als ein actus perfecti, d. h. als die Wirklichkeit des Vollendeten, verstanden wird, so wie das Erkennen und das Fühlen als ein Bewegtwerden bezeichnet werden. Daher nenne man alles das lebend, was sich zu irgendeiner Bewegung oder Tätigkeit antreibt. 140 Zu 2: Nach Aristoteles werde das L. als ein Gattungsbegriff nach insgesamt vier Tätigkeiten als seinen Arten unterschieden, und zwar Vgl. auch Joachim Vennebusch, Art. »Leben, III. Mittelalter«, in: HWPh, Bd. 5, 1980, 59–62, hier 60: »Wenn Albertus L. als actus animae bestimmt, so meint er damit nicht ein die Seele konstituierendes Prinzip, sondern eine aus der Seele erfließende Wirklichkeit.« 139 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 1 resp.: »Ex quo patet quod illa proprie sunt viventia, quae seipsa secundum aliquam speciem motus movent.« 140 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 1 resp.: »sive motus accipiatur proprie, sicut motus docitur actus imperfecti, idest existentis in potentia ; sive motus accipiatur communiter, prout motus dicitur etiam actus perfecti, prout intelligere et sentire dicitur moveri, ut dicitur 3 de Anima [cap. 7, et lib. 1, cap. 4]. Ut sic viventia dicantur quaecumque se agunt ad motum vel operationem aliquam«. 138

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in das Sichernähren, das Fühlen, die Ortsbewegung und das Erkennen. 141 Folglich müsse das L. eine Tätigkeit sein. Der Name des L. aber werde von der äußeren Erscheinung des Sichselbstbewegens bestimmter Naturen abgeleitet; daher bezeichne man mit dem Namen des L. diejenige Substanz, der es gemäß ihrer Natur zukommt, sich selbst zu bewegen oder sich auf irgendeine Weise zur Tätigkeit anzutreiben. 142 Folglich bedeute »leben« (vivere) nichts anderes als das Sein einer solchen Natur, und das Substantiv »Leben« (vita) bezeichne dasselbe, nur in begrifflicher Fassung. 143 Daher sei »lebendig« (vivum) kein akzidentelles, sondern ein substantielles Prädikat, das eine Wesenseigenschaft einer Natur bezeichne. 144 Gleichwohl werde manchmal das Substantiv »Leben« (vita) in weniger eigentlichem Sinne zur Bezeichnung jener Tätigkeiten verwendet, von denen der Name des L. abgeleitet sei. 145 Zu 3: In seiner Antwort auf die Frage, ob Gott das L. besitzt, geht Thomas von seinem Grundverständnis des L. als des Vermögens zur Selbstbewegung aus, das verschiedene Grade besitze: Je vollkommener dieses Vermögen einem Wesen zukomme, umso vollkommener finde sich in diesem Wesen das L. 146 In Bezug auf die Bewegung aber bestehe eine Ordnung zwischen drei Arten von Ursächlichkeit: Die Zielursache bewege die Wirkursache, die Hauptwirkursache wirke durch ihre eigene Form, bisweilen aber auch durch ein Werkzeug, das nicht aus der Kraft seiner eigenen Form, sondern aus der Kraft des Hauptwirkenden wirke und daher nur die Tätigkeit Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 2, 1. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 2, resp.: »Nam hoc nomen [sc. vita] sumitur ex quodam exterius apparenti circa rem, quod est movere seipsum: non tamen est impositum hoc nomen ad hoc significandum, sed ad significandam substantiam, cui convenit secundum suam naturam movere seipsam, vel agere se quocumque modo ad operationem.« 143 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 2, resp.: »Et secundum hoc vivere nihil aliud est quam esse in tali natura: et vita significat hoc ipsum, in abstracto«. 144 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 2, resp.: »Unde vivum non est accidentale praedicatum, sed substantiale.« 145 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 2, resp.: »Quandoque tamen vita sumitur minus proprie pro operationibus vitae, a quibus nomen vitae assumitur«. 146 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »[…] considerandum est quod, cum vivere dicantur aliqua secundum quod operantur a seipsis, et non quasi ab aliis mota; quanto hoc perfectius competit alicui, tanto perfectius in eo invenitur vita.« 141 142

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ausführe. 147 Diese zuletzt genannte Form der Selbstbewegung komme den Pflanzen zu, bei denen die Form- und die Zielursache ihrer Selbstbewegung gemäß dem Wechsel von Wachstum und Zerfall ihnen von Natur aus vorgegeben seien. 148 Auf der nächsthöheren Stufe der Selbstbewegung und damit des L. befänden sich die Tiere, die nicht nur ihre Bewegung selbständig ausführten, sondern die auch die Form als den Grund ihrer Selbstbewegung selbst bestimmten, und zwar auf Grund ihrer sinnlichen Wahrnehmung. Allerdings sei den Tieren das Ziel ihrer Selbstbewegung durch die Natur eingegeben, unter deren Antrieb sie »durch die vom Sinn erfasste Form dazu bewegt werden, etwas zu bewirken.« 149 Deshalb stehen über den Tieren, so Thomas weiter, noch jene Lebewesen, die sich auch das Ziel ihrer Selbstbewegung selbst setzen, und zwar mittels der Vernunft und des Verstandes, dessen Aufgabe es sei, das Verhältnis zwischen dem Ziel und den Mitteln zu seiner Erreichung zu erkennen und das eine auf das andere hinzuordnen. »Daher haben die Naturen, die Verstand besitzen, eine vollkommenere Weise des L., denn sie bewegen sich selbst vollkommener.« 150 Ein Zeichen dafür sei der Umstand, dass in ein und demselben Menschen die Verstandeskraft die sinnlichen Fähigkeiten bewege und diese die körperlichen Organe bewege, welche ihrerseits eine Bewegung ausführten. Dennoch gebe es auf dieser Lebensstufe der Vernunft und des Verstandes, d. h. des geistigen Erkennens, doch noch erhebliche Gradunterschiede. Denn dem menschlichen Verstand sei doch noch einiges von Natur aus unverfügbar vorgegeben wie etwa die ersten Grundsätze (prima principia) des Denkens und Erkennens, deren Gültigkeit die menschliche Vernunft zu beachten gezwungen sei; ferner auch im Hinblick auf das menschliche Wollen dessen letztes Ziel, d. h. Gott selbst als das höchste Gut, welches das menschliche Wollen nicht nichtwollen könne, mit anderen Worten: Das zu wollen es von seiner Natur determiniert sei. 151 In beiderlei Hinsicht ist nach Thomas die menschliche Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp. 149 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »[…] cuius instinctu ad aliquid agendum moventur per formam sensu apprehensam.« 150 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »Unde perfectior modus vivendi est eorum quae habent intellectum: haec enim perfectius movent seipsa.« 151 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »Sed quamvis intellectus noster ad aliqua se agat, tamen aliqua sunt ei praestituta a natura; sicut 147 148

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Geistseele eingeschränkt und daher nicht vollkommen bzw. nicht uneingeschränkt selbstbewegt. 152 Deshalb könne auf der höchstmöglichen Lebensstufe nur ein Wesen stehen, dessen Natur sein eigenes Erkennen sei und welches das, was es von Natur aus besitzt, durch sich selbst besitze und ihm nicht von einem anderen bestimmt worden sei. Ein solches Wesen aber sei Gott. Daher befinde sich in Gott das L. in höchstem Maße. 153 Mit anderen Worten: Nur der Geist Gottes ist vollkommen selbstbewegt und damit das L. in höchstem Maße, weil seinem Erkennen nichts von außen vorgegeben ist, weil es vollkommen selbstbestimmt und selbstgenügsam ist. Deshalb, so resümiert Thomas, habe Aristoteles, nachdem er gezeigt hatte, dass Gott reiner Geist sei, zu Recht geschlussfolgert, dass Gott das vollkommenste und das ewige L. besitzt, weil sein Geist der vollkommenste und immer tätig ist. 154 Zu 4: Schließlich beantwortet Thomas noch die Frage, ob alles in Gott L. ist, und zwar in Auslegung des Schriftwortes nach Apg 17,28: »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.« In seinem »Sed contra« auf die Einwände geht Thomas von dem einschlägigen Vers des Johannesprologs aus: »Was geworden ist, war in ihm Leben« (Joh 1,3). Da aber alles außer Gott, wie Thomas konstatiert, geworden sei, d. h. einen Anfang seiner Existenz habe, sei auch alles in Gott L. 155 Da Gott aber reiner Geist ist, sei sein L. sein Erkennen. Die Einfachheit der Natur des göttlichen Geistes aber bedingt die Identität zwischen seinem erkennenden Geist mit den von diesem Erkannten und dem Erkenntnisvollzug selbst. Daher müsse alles Erkannte in Gott identisch mit seinem Lebendigsein bzw. mit seinem L. sein. Und da alles sunt prima principia, circa quae non potest aliter se habere, et ultimus finis, quem non potest non velle.« 152 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »Unde, licet quantum ad aliquid moveat se, tamen oportet quod quantum ad aliqua ab alio moveatur.« 153 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »est Illud igitur cuius sua natura est ipsum eius intelligere, et cui id quod naturaliter habet, non determinatur ab alio, hoc quidem obtinet summum gradum vitae. Tale autem est Deus. Unde in Deo maxime est vita.« 154 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 3, resp.: »Unde Philosophus, 12 Metaph. [lib. 11, cap. 7], ostenso quod Deus sit intellectus, concludit quod habeat vitam perfectissimam et sempiternam: quia intellectus eius est perfectissimus, et semper in actu.« 155 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 4: »Sed contra est quod dicitur Joan. 1: ›Quod factum est, in ipso vita erat.‹ Sed omnia praeter Deum facta sunt. Ergo omnia in Deo sunt vita.«

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von Gott Geschaffene in ihm als Erkanntes sei, folge daraus, dass alles in ihm das göttliche L. selbst sei. 156 Die Immanenz der Geschöpfe in Gott aber sei eine zweifache: Einmal insoweit sie von der Kraft Gottes umfasst und erhalten werden. Und in diesem Sinne sei das Schriftwort nach Apg 17,28 zu verstehen. Denn sowohl unser Sein als auch unser L. als auch unser Bewegtwerden seien (letztlich) von Gott (als dem kreativen, konstitutiven und finalursächlich auf sich hin zurückführenden Grund aller Geschöpfe) verursacht. 157 In anderer, zweiter Weise seien die Geschöpfe Gott immanent wie einem Erkennenden, und zwar in Gestalt ihrer eigenen Wesensbilder, die sich nicht von der göttlichen Wesenheit in Gott unterscheiden. Die göttliche Wesenheit aber sei in Gott L., nicht aber Bewegung. Daher seien die Geschöpfe in Gott nicht Bewegung, sondern (göttliches) L. 158 Zwar seien auch die Übel in Gottes Wissen und damit Geist enthalten, aber weder als etwas von ihm Geschaffenes und Erhaltenes noch als ein Wesensgrund von etwas, denn sie würden von Gott nur durch die Wesensbilder der guten Entitäten erkannt; deshalb könne man auch nicht sagen, dass die Übel in Gott L. seien. Das Zeitlose aber könne in Gott L. genannt werden, sofern man unter dem L. (vivere) nur das Erkennen (intelligere) verstehe, soweit es nämlich von Gott erkannt werde, d. h. als zeitloses Wesensbild, nicht jedoch sofern das L. (vivere) ein Tätigkeitsprinzip bedeute. 159 Im elften Kapitel des vierten Buches seiner Summa contra gentiles begründet Thomas dieselben vier Lebensstufen, die er bereits in Summa theologiae I, q. 18, a. 3, differenziert hatte, mit dem unterschiedlichen Maß der Immanenz ihrer L.-Akte bzw. Hervorgänge: 156 Zum ganzen Respondeo dieses Artikels vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 4, resp.: »dicendum quod, sicut dictum est, vivere Dei est intelligere eius. In Deo autem idem est intellectus, et quod intelligitur, et ipsum intelligere eius. Unde quidquid est in Deo ut intellectum, est ipsum vivere vel vita eius. Unde, cum omnia quae facta sunt a Deo, sint in ipso ut intellecta, sequitur quod omnia in ipso sunt ipsa vita divina.« 157 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 4, ad 1, insb.: »ergo dicendum quod creaturae dicuntur esse in Deo dupliciter. Uno modo, inquantum continentur et conservantur in virtute divina«. 158 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 4, ad 1, insb.: »Alio modo dicuntur res esse in Deo sicut in cognoscente. Et sic sunt in Deo per proprias rationes, quae non sunt aliud in Deo ab essentia divina. Under es, prout sic in Deo sunt, sunt essentia divina. Et quia essentia divina est vita, non autem motus, inde est quod res, hoc modo loquendi, in Deo non sunt motus, sed vita.« 159 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 18, a. 4, ad 4.

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Weil Lebendiges sich selbst zur Tätigkeit bewege, 160 könne es bei unbeseelten Körpern kein L. geben, weil bei ihnen Hervorgänge bzw. Veränderungen nur durch Einwirkung von außen hervorgerufen würden. 161 Bei den beseelten Körpern nähmen die Pflanzen den niedrigsten Rang in der Stufenleiter des L. ein, weil bei ihnen zwar Wachstum und damit ein Hervorgang aus dem Inneren erfolge; da dieser Hervorgang jedoch in dem Samen und darüber hinaus in der Blüte und schließlich in der Frucht sich entfalte, die vom Baum falle, ende er in etwas gänzlich Äußerem, das sich von dem Inneren trenne. 162 Im Vergleich zu dieser anima vegetativa besitze die anima sensitiva ein höheres Maß an L. Denn ihre eigentümliche Hervorgehensweise finde im Inneren ihren Abschluss, auch wenn sie von außen beginne, indem ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand den äußeren Sinneswahrnehmungsorganen seine Form aufpräge. Von dort gelange sie in die Vorstellung (imaginatio) und schließlich in den Gedächtnisspeicher. Zwar sei dieser Grad von L. höher als der der Pflanzen, weil sich dessen Tätigkeit mehr im Inneren bewege. Da jedoch Beginn und Ende dieses Hervorgangs verschieden seien, weil sie sich auf Verschiedenes – das äußere Sinneswahrnehmungsobjekt und das Gedächtnis – bezögen, handele es sich hier nicht um ein schlechthin vollkommenes L. 163 Diese höchste und vollkommene Lebensstufe sei erst mit der Tätigkeit des Verstandes erreicht. Denn dieser beziehe sich auf sich selbst und könne sich selbst erkennen. 164 Doch auch im Verstandesleben gebe es verschiedene Stufen. 165 Denn der menschliche Intellekt müsse den Anfang seiner Selbsterkenntnis von außen, Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, in: Thomae Aquinatis Summae contra gentiles libri quattuor. Thomus quartus librum continens quartum. Edidit, transtulit, adnotationibus instruxit Markus H. Wörner, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, 82: »nam viventia sunt quae seipsa movent ad agendum«. 161 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 82. 162 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 82. 163 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 82–84, insb. 84: »Est ergo hic gradus vitae tanto altior quam vita plantarum, quanto operatio huius vitae magis in intimis continetur: non tamen est omnino vita perfecta, cum emanatio semper fiat ex uno in alterum.« 164 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 84: »Est igitur supremus et perfectus gradus vitae qui est secundum intellectum: nam intellectus in seipsum reflectitur, et seipsum intelligere potest.« 165 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 84: »Sed et in intellectuali vita diversi gradus inveniuntur.« 160

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bei der sinnlichen Wahrnehmung, nehmen, da es kein Erkennen ohne sinnlich vermittelte Vorstellung gebe. 166 Im Vergleich hierzu besäßen die Engel als die geschaffenen reinen Geistwesen ein vollkommeneres geistiges L., weil ihr Intellekt sich nicht im Ausgang von etwas Äußerem, sondern durch sich selbst erkenne. 167 Dennoch, obwohl ihr Erkennen und Begreifen vollständig innerlich bleibe, sei das L. der Engel noch nicht schlechthin vollkommen, weil ihr Erkennen nicht ihre Substanz sei, sondern ihr Erkennen und Sein verschieden seien. 168 Daher komme die Vollkommenheit des L. alleine Gott zu, weil in ihm Erkennen und Sein nicht verschieden seien, so dass der in seiner Selbsterkenntnis hervorgebrachte Begriff in Gott das göttliche Wesen selbst sei. 169 Im Unterschied zum Intellekt sowohl des Menschen als auch der Engel seien in der Selbsterkenntnis Gottes der Intellekt, der erkannte Gegenstand und der im Erkennen hervorgebrachte Begriff ein und dasselbe. 170 Das L. kann daher nach Thomas von Aquin als ein – im Modus der zeitfrei präsentischen Selbsterkenntnis Gottes – Erkanntsein bzw. als ein Erkanntwerden (von Gott selbst) verstanden werden. 171 Fassen wir zusammen: Thomas von Aquin entnimmt sei166 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 84: »Nam intellectus humanus, etsi seipsum cognoscere possit, tamen primum suae cognitionis initium ab extrinseco sumit: quia non est intelligere sine phantasmate, ut ex superioribus patet.« 167 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 84: »Perfectior igitur est intellectualis vita in angelis, in quibus intellectus ad sui cognitionem non procedit ex aliquo exteriori, sed per se cognoscit seipsum.« 168 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 84: »Nondum tamen ad ultimam perfectionem vita ipsorum pertingit: quia, licet intentio intellecta sit eis omnino intrinseca, non tamen ipsa intentio intellecta est eorum substantia; quia non est idem in eis intelligere et esse, ut ex superioribus patet.« 169 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 84: »Ultima igitur perfectio vitae competit Deo, in quo non est aliud intelligere et aliud esse, ut supra ostensum est, et ita oportet quod intentio intellecta in Deo sit ipsa divina essentia.« 170 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles IV,11, 86: »Cum ergo in Deo sit idem esse et intelligere, intentio intellecta in ipso est ipse eius intellectus. Et quia intellectus in eo est res intellecta, intelligendo enim se intelligit omnia alia, ut in Primo ostensum est [sc. I 49]; relinquitur quod in Deo intelligente seipsum sit idem intellectus, et res quae intelligitur, et intentio intellecta.« 171 Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 4, a. 8. Diese Wesensbestimmung des L. könnte man mit Vennebusch, Art. »Leben, III. Mittelalter«, in der Tat als eine »transzendentale Seinsbestimmung« auffassen: »Thomas entfaltet, wie viele mittelalterliche Autoren, die These, daß alle Dinge, auch die bloß möglichen, in Gott L. seien. Dieses L. bestimmt er als ein Erkanntwerden. L. wird so zu einer transzendentalen Seinsbestimmung. Während die transzendentale (ontologische) Wahrheit die Erkennbarkeit des Seienden meint, zielt ›vita‹ auf dessen faktische Er-

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nen Grundbegriff des L. als der Tätigkeit der Selbstbewegung der phänomenalen Tatsache, dass die sog. Lebewesen sich selbst zu bewegen vermögen. Dieses Vermögen zur Selbstbewegung, das auch als Innerlichkeit des L.-Aktes bzw. als ein wesensimmanenter Hervorgang verstanden werden kann, besitzt allerdings verschiedene Grade, die in der realen, objektiven Wirklichkeit als vier verschiedene Stufen des L. verwirklicht sind: In geringstem Maße ist das L. daher auf der Stufe der anima vegetativa bzw. der Pflanzen verwirklicht, weil diese sich selbst durch Ernährung, Wachstum und Zerfall zu bewegen vermögen, denen die Form- und Zielursache dieser ihrer Selbstbewegung aber von Natur aus vorgegeben sind. Die nächsthöhere Stufe der Selbstbewegung und damit des L. nimmt die anima sensitiva der Tiere ein, die nicht nur ihre Bewegung selbständig ausführen, sondern die auch die Form als den Grund ihrer Selbstbewegung selbst bestimmen kann, und zwar auf Grund ihrer sinnlichen Wahrnehmung. Allerdings ist den Tieren das Ziel ihrer Selbstbewegung durch die Natur ein- bzw. vorgegeben. Deshalb stehen über den Tieren noch jene Lebewesen, die sich nicht nur die Form, sondern auch das Ziel ihrer Selbstbewegung selbst setzen, und zwar mittels ihrer anima intellectualis bzw. ihrer Geistseele, die das Verhältnis zwischen dem Ziel und den Mitteln zu seiner Erreichung erkennen und das eine dem anderen zuordnen kann. Doch auch auf dieser Lebensstufe der geistigen Selbstbewegung gibt es noch Gradunterschiede, und zwar genau drei verschiedene Grade. Denn während der menschliche Intellekt den Anfang jeder Erkenntnis und damit auch seiner Selbsterkenntnis noch von außen, nämlich von der sinnlichen Wahrnehmung, nehmen muss, weil jedes menschliche Erkennen auf eine sinnlich vermittelte Vorstellung angewiesen ist, besitzen die Engel als die geschaffenen reinen Geistwesen ein vollkommeneres geistiges L., weil ihr Intellekt sich nicht im Ausgang von etwas Äußerem, sondern durch sich selbst erkennt. Daher ist ihre geistige Selbstbewegung zwar vollständig innerlich, da jedoch bei den Engeln ihr Sein und ihr Erkennen noch verschieden sind, kann ihr L. noch nicht gänzlich selbstbewegt und somit auch nicht vollkommen sein. Erst in Gott als demjenigen Wesen, dessen Erkennen sein Sein und dessen Erkanntes sein eigenes Wesen ist, ist daher das Erkennen in höchstmöglichem Maße selbstbewegt und selbstbestimmt und damit das L. vollkommen. kanntheit. Dieser thomanische Ansatz ist weder von Thomas selbst noch von späteren Denkern des Mittelalters systematisch aufgegriffen worden.«

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Meister Eckhart: Die Gottheit als die Quelle und die trinitarische Selbsterkenntnis als die Aktualität des Lebens, seine Selbstursprünglichkeit und Selbstzwecklichkeit – die Gottes- bzw. Sohnesgeburt der menschlichen Seele als deren Rückkehr zum (göttlichen) Leben Meister Eckharts intellekttheoretisches bzw. genauer geistmetaphysisches Verständnis des L. 172 als der raum- und zeitfreien Aktualität der absoluten Selbstreflexion des Ersten Prinzips aller Wirklichkeit geht davon aus, dass das innerste Wesen dieses Prinzips vollkommen einfach, d. h. relations- und differenzlos, ist. Folglich muss eine Rekonstruktion dieses geistmetaphysischen Lebensbegriffs mit dessen einheitsmetaphysischem Fundament beginnen. Letzteres nennt Meister Eckhart die Gottheit bzw. deitas, die er von dem aktualen Leben dieses Prinzips insofern unterscheidet, als er ihr negativ-dialektisch bzw. apophatisch jede Tätigkeit, immanente Relationalität und damit Unterschiedenheit, Begreifbarkeit und Aussagbarkeit abspricht. 173 Diesem differenzlosen Einen als dem innersten Grund des göttlichen Lebens spricht Meister Eckhart im Anschluss an die neuplatonische Henologie zwar keinen Totalitätscharakter, wohl aber den einer radikalen Immanenz bei gleichzeitiger absoluter Transzendenz zu. 174 Als das eigentümliche Wesen des absoluten Intellekts wird diese verborgene Einheit von Meister Eckhart in Übereinstimmung mit der einheitsmetaphysischen Prinzipientheorie des philosophischen Neuplatonismus (Plotin, Proklos) zugleich als die unentfaltete Fülle dessen bestimmt, was aus ihr hervorgeht – der Totalität der weltschöpferi172 In diesem Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse der Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg von Amanda Viana de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Freiburg im Breisgau, SS 2018, online abrufbar unter: https://freidok.unifreiburg.de/data/151319, zuletzt abgerufen am: 11. 1. 2020, zusammengefasst, die unter der Erstbetreuung von Herrn PD Dr. Jorge Uscatescu Barrón und der Zweitbetreuung des Verfassers entstanden ist. Es handelt sich bei dieser Monographie seit ihrem Erscheinen zweifellos um das Standardwerk der Forschung zum Verständnis des L. bei Meister Eckhart, weshalb hier darauf umfänglich verwiesen wird. 173 Vgl. (mit den entsprechenden Belegstellen) de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 1: Das einfache Wesen des Lebens, 1.1: Die Gottheit, 163–169, insb. 167. 174 Vgl. (mit den entsprechenden Belegstellen) de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 1: Das einfache Wesen des Lebens, 1.2: Die Innerlichkeit, 169–173.

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schen Ideen des absoluten Intellekts. 175 Sie unterscheidet sich von diesem Intellekt auch durch ihre vollkommene Bewegungslosigkeit bzw. Ruhe und Unwirksamkeit, während der absolute Intellekt die reine Aktualität bzw. Lebendigkeit einer vollkommenen Selbsterkenntnis darstellt. 176 Nach Meister Eckhart ist es im Gefolge ebenfalls neuplatonischer Geist- und Einheitsmetaphysik die Einfachheit seines Wesens, welche den permanenten Rückbezug des absoluten Geistes auf sich selbst, d. h. seine selbstreflexive Bewegung, und darin seine Rückbeugung auf sein eigenes Wesen bedingt: »Meister Eckhart greift auf die Rückwendung des Einen zum Einen zurück, d. h. er stellt dar, dass Gott aus der Einfachheit seines Seins sich selbst erkennt und in seiner vollkommenen Selbsterkenntnis in seine Einfachheit zurückfließt.« 177 Denn der absolute Geist geht in einer unaufhörlichen, raum- und zeitfreien Kreisbewegung aus seinem Wesen hervor und kehrt zugleich in dieses wieder zurück, weil er das Sich-selbst-Sehen des Einen ist. Deshalb ist die Gottheit »die Urquelle des göttlichen Lebens« 178, das gleichsam aus ihr heraus- und in sie zurückfließt. Die Aktualität des L. besteht nach Meister Eckhart in der trinitarischen Selbstreflexion des göttlichen Geistes. Dabei besitzen die drei göttlichen Existenzmodi des absoluten Lebens des dreieinigen Geistes auf Grund ihrer Wesensgleichheit miteinander dasselbe absolute L. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Ursprungsbeziehung zu diesem L. voneinander und stellen daher gleichsam drei verschiedene Lebensweisen – im absoluten Sinne dieses Wortes genommen – dar. 179 Im Anschluss an die traditionelle Trinitätstheologie nennt Meister Eckhart den innergöttlichen Ursprung des absoluten L. (der nicht mit der Gottheit als der Urquelle des göttlichen L. verwechselt werden darf) den Vater, der das hervorbringende bzw. – im geistigen 175 Vgl. (mit den entsprechenden Belegstellen) de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 1: Das einfache Wesen des Lebens, 1.3: Die Gottheit und das Leben, 173–180. 176 Vgl. (mit den entsprechenden Belegstellen) de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 1: Das einfache Wesen des Lebens, 1.3: Die Gottheit und das Leben, 174–175. 177 De Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 1: Das einfache Wesen des Lebens, 1.3: Die Gottheit und das Leben, 177. 178 De Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 1: Das einfache Wesen des Lebens, 1.3: Die Gottheit und das Leben, 177. 179 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 2: Die Aktualität des Lebens: Die Dreifaltigkeit, 2.1: Das Leben und die Dreifaltigkeit, 181–182.

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Sinne dieses Wortes – zeugende Moment der innertrinitarischen Einheit ist. Der selbst ungezeugte, d. h. ursprungslose, Vater gibt dem Sohn als dem vollkommenen Erkenntnisbild seiner selbst sein eigenes L., indem er ihn aus seiner eigenen Wesenheit zeugt. Daher ist der göttliche Vater der innertrinitarische Grund allen Lebens. 180 Der von ihm gezeugte Logos ist aber nicht nur das vollkommene (Selbst-) Bild des Vaters, sondern als die Totalität der Schöpfungsideen zugleich auch der geistige Vorentwurf bzw. die Form- oder Exemplarursache der ganzen Schöpfung; im Sohn als dem lebendigen Werk und Wirkgrund des Vaters ist die väterliche Weltschöpfungskraft und damit das L. selbst gleichsam verwirklicht, 181 weil Meister Eckhart »das L. als die Aktualität des göttlichen Wirkens versteht.« 182 Dabei besteht das L. des göttlichen Sohnes in nichts anderem als in der Erkenntnis des göttlichen Vaters, so dass der Logos die Aktualität der göttlichen Selbsterkenntnis und damit gleichsam der Inbegriff des absoluten L. ist. 183 Das göttliche als das nach Meister Eckhart eigentliche, weil vollkommen selbstbewegte L. hat als Erste Ursache (prima causa) der geschaffenen Welt keine Ursache außerhalb seiner selbst, sondern ist selbst die Wesensursache (causa essentialis) aller Kreaturen. Unter einer Wesensursache versteht Meister Eckhart eine Ursache des Seins und nicht des Werdens einer Entität. Denn während die Wirk- und die Finalursache außerhalb des Seins ihrer Wirkungen verbleiben und deshalb das Werden der geschaffenen Entitäten in der äußeren Welt bestimmen, ist die Form- oder Exemplarursache die Ursache für das Sein und das Wesen aller raum-zeitlich existierenden Entitäten, das sie in sich enthält. 184 In ihrer wesenhaften Ursache besitzen die Kreaturen daher keine endliche und begrenzte Seinsform, sondern sind mit der vollkommenen Kraft ihrer wesentlichen Seinsursache identisch. Meister Eckhart konzipiert diese Wesenskausalität als ein uni180 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 2: Die Aktualität des Lebens: Die Dreifaltigkeit, 2.2: Der himmlische Vater und das Leben, 182–186. 181 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 2: Die Aktualität des Lebens: Die Dreifaltigkeit, 2.3: Der himmlische Sohn und das Leben, 186–192. 182 de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 2: Die Aktualität des Lebens: Die Dreifaltigkeit, 2.3: Der himmlische Sohn und das Leben, 191. 183 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 2: Die Aktualität des Lebens: Die Dreifaltigkeit, 2.3: Der himmlische Sohn und das Leben, 191–192. 184 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 3: Das, »was geworden ist, war in ihm Leben«: die causa essentialis, 3.1: Die causa essentialis, 196–199.

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vokes Ursachenverhältnis gemäß seinem univoken Seinsverständnis, 185 indem er den Logos, d. h. das innergöttliche Formprinzip aller kreatürlichen Entitäten, als deren Wesensursache bestimmt und diese daher mit dem ungeschaffenen und unerschaffbaren L. Gottes identifiziert. 186 Lebendig zu sein bedeutet daher für Meister Eckhart im strengen, eigentlichen Sinne dieses Wortes nichts anderes, als ein inneres Moment des selbstursächlichen göttlichen L. selbst zu sein, das alles Geschaffene mit L. erfüllt, insofern die wesentliche Ursache in ihren kreatürlichen Wirkungen mit der schöpferischen Kraft ihrer eigenen Wirksamkeit lebendig ist. 187 Mit anderen Worten: Das Geschöpf ist lebendig, sofern es in Gott ist. In Gott aber ist jedes Geschöpf nicht als Geschöpf, d. h. in seiner raumzeitlich konkreten, vereinzelten Seinsweise, sondern als ein Moment des göttlichen L., d. h. als ein eigener Schöpfungsgedanke Gottes, der allerdings der kreatürlichen Seinsweise des Geschöpfes erst ihre innere Lebendigkeit verleiht. Daher besteht das eigentliche L. im Erkennen, und zwar genauer in der absoluten Selbsterkenntnis Gottes; denn das Erkennen bedeute für die Erkennenden im eigentlichen und wahren Sinn L., dieses aber sei für die Lebenden das Sein. 188 Aus Meister Eckharts univokem Seins- und Lebensbegriff bzw. seiner Gleichsetzung der Wesensursache aller Entitäten mit dem göttlichen Leben ergibt sich daher die radikale Konsequenz, dass alles von Gott Verschiedene weder ist (nicht im Sinne des Existenzquantors, sondern im eminenten Sinne des Wortes) noch (im ebenfalls qualitativ ausgezeichneten, eminenten Sinne dieses Wortes) lebt bzw. lebendig ist. 189 In seiner Exodus-Metaphysik, d. h. in seiner Auslegung der 185 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 2: Die Aktualität des Lebens: Die Dreifaltigkeit, 2.3.2: Der Sohn ist das Werk und der Wirkgrund des Vaters, 189–190. 186 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 3: Das, »was geworden ist, war in ihm Leben«: die causa essentialis, 3.2: Das Leben und die causa essentialis, 203–209. 187 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 3: Das, »was geworden ist, war in ihm Leben«: die causa essentialis, 3.2: Das Leben und die causa essentialis, 205. 188 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 3: Das, »was geworden ist, war in ihm Leben«: die causa essentialis, 3.2: Das Leben und die causa essentialis, 209. 189 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kap. 3: Das, »was geworden ist, war in ihm Leben«: die causa essentialis, 3.2: Das Leben und die causa essentialis, 206.

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Selbstoffenbarung des göttlichen Namens ego sum qui sum in Ex 3,14, deutet Meister Eckhart die diesen Satz kennzeichnende Identität von Subjekt und Prädikat bzw. die doppelte Bejahung des Subjektbegriffs als eine Selbstaffirmation des absoluten Seins, das in einer noetischen Selbstreflexion in sich aus sich hervorgeht und wieder vollständig in sich zurückkehrt, indem es sich selbst denkt bzw. erkennt. 190 Diesen ewigen, selbstreflexiven Prozess des immanenten Hervorgangs des göttlichen Geistes aus sich heraus und in bzw. auf sich hin zurück bei gleichzeitiger Selbstaffirmation bzw. Selbstliebe des Erkannten aber nennt Meister Eckhart das Leben (Gottes). 191 Dabei führt Meister Eckhart eine christliche, genauer trinitätstheologische Adaptation, d. h. transformierende Rezeption, des neuplatonisch konzipierten triadischen Bewegungsprozesses des absoluten Geistes von mansio (In-sich-Bleiben), bullitio (Hervorgang aus sich heraus) und conversio (Rückwendung zu sich selbst) durch. 192 Einen wichtigen Aspekt des Verständnisses des L. bei Meister Eckhart stellt dessen Lehre von der Grundlosigkeit und der Selbstzwecklichkeit des L. dar. Dabei geht es um Passagen insbesondere aus dem deutschsprachigen Werk Meister Eckharts, die als Beleg für die Eigenart seines Lebensverständnisses gewöhnlich zitiert werden, weil sie besonders einprägsam sind, nämlich jene Passagen, welche die für Meister Eckhart schon fast sprichwörtlich gewordene Warumlosigkeit sowie das Sich-selbst-Wollen des L. dokumentieren: Das L. lebt um seiner selbst willen und will in seinem Grunde nichts Anderes als sich selbst. Diese Selbstzwecklichkeit des Lebens ist nach Meister Eckhart genau genommen eine Folge seiner Selbstursprünglichkeit: Weil das Leben seinen Ursprung in sich selbst hat, ist es auch sein eigenes Ziel. 193 Es wird daher von uns Menschen auch primär um seiner selbst willen gewollt, denn es ist an und für sich selbst in Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 4: Das Leben als Kern der Exodus- und Logosmetaphysik Meister Eckharts, 4.1: Das »Ego sum qui sum«: die Reflexivität des göttlichen Lebens, 210–215. 191 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 4: Das Leben als Kern der Exodus- und Logosmetaphysik Meister Eckharts, 4.2: Das Leben als die Verbindung zwischen der Exodusmetaphysik und der Logosmetaphysik Meister Eckharts, 215–220. 192 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 4: Das Leben als Kern der Exodus- und Logosmetaphysik Meister Eckharts, 4.2: Das Leben als die Verbindung zwischen der Exodusmetaphysik und der Logosmetaphysik Meister Eckharts, 216. 193 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der 190

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höchstem Maße vollkommen und deshalb erstrebenswert. 194 Sein göttliches Wesen macht es für uns Menschen unendlich wertvoll und kostbar. Seine innergöttliche Verlaufsform beschreibt Meister Eckhart wiederholt mithilfe des metaphorischen Terminus der bullitio, d. h. als ein überquellendes Fließen, das die Kreisbewegung eines Hervorgangs aus sich selbst sowie einer gleichzeitigen Rückkehr in sich selbst beschreibt. 195 Dabei handelt es sich genauer um eine Emanation der wesenhaften Form bzw. der göttlichen Personen. 196 Die Rückkehr des Menschen zum göttlichen L. vollzieht sich nach Meister Eckhart in Form der sog. Gottes- bzw. Sohnesgeburt der menschlichen Seele, d. h. ihrer Geburt im ewigen Leben bzw. genauer im göttlichen Logos als dem ewigen Leben. 197 Diese bestimmt er als eine (gnadenhaft) empfangene Gotteserkenntnis der menschlichen Seele bzw. genauer und richtiger als die Selbsterkenntnis Gottes, die operatio divina, in der menschlichen Seele, die Meister Eckhart in Auslegung von Joh 17,3 als deren ewiges Leben bezeichnet. 198 Unter dem L. der menschlichen Seele versteht Meister Eckhart daher eine rein geistige Geburt, die sich nicht nur in Gott, sondern zugleich auch im Innersten, dem Grund, der menschlichen Seele vollzieht. 199

Seele im ewigen Leben, 6.1: Die Warumlosigkeit und das Sichselbstwollen des Lebens, 237–244. 194 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der Seele im ewigen Leben, 6.1: Die Warumlosigkeit und das Sichselbstwollen des Lebens, 238. 195 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der Seele im ewigen Leben, 6.1: Die Warumlosigkeit und das Sichselbstwollen des Lebens, 239–243. 196 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der Seele im ewigen Leben, 6.1: Die Warumlosigkeit und das Sichselbstwollen des Lebens, 241. 197 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der Seele im ewigen Leben, 237–278. 198 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der Seele im ewigen Leben, 6.2.5: Die Geburt als das Erkennen Gottes, 273–275. 199 Vgl. de Sousa, Das Lebensverständnis Meister Eckharts, Kapitel 6: Die Geburt der Seele im ewigen Leben, 6.2.5: Die Geburt als das Erkennen Gottes, 272–273; 6.2.6: Die Geburt der Seele als das Bild Gottes im ewigen Leben, 277.

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Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart – ausgewählte Positionen von René Descartes bis Michel Henry Markus Enders Rolf Kühn in Dankbarkeit und herzlicher Verbundenheit zugeeignet Abstract: Spielt der Begriff des Lebens in der frühneuzeitlichen Philosophie nur eine untergeordnete Rolle, so erfährt er im Denken des Deutschen Idealismus eine spekulative Aufwertung, und zwar vor allem in Gestalt eines absoluten Lebens beim späten Fichte und des Prozesses der Selbstbewegung des Geistes bei Hegel. Wird in der Philosophie der Romantik das Leben als ein unaufhörliches Werden (Friedrich Schlegel) bzw. als unbegreifliche Verbindung von Sein und Nicht-Sein (Novalis) verstanden, so sieht die moderne Lebensphilosophie in dem Leben entweder eine sichtbare, leidvolle Erscheinung des Willens zum Leben als des Wesens der Welt (Schopenhauer) oder die von dem gewaltsamen Willen zur Macht bestimmte kreislaufförmige Wiederkehr des immer gleichen Werdens und Vergehens (Nietzsche) oder das geschichtliche Leben des Menschen und dessen Erleben und Verstehen im Sinne eines universalen Zusammenhangs zwischenmenschlicher Wechselwirkungen (Dilthey). Michel Henrys radikalphänomenologische Bestimmung des absoluten Lebens als eines reinen Selbsterscheinens, einer Selbstzeugung und -offenbarung im Erst-Lebendigen bzw. einer Selbstaffektion mit ihren pathischen Modalitäten des Sicherleidens und Sicherfreuens geht zwar nicht methodisch, aber sachlich auf das Konzept eines absoluten Lebens und dessen immanente (Selbst-)Liebe und Seligkeit beim späten Fichte zurück. Whereas the concept of life only plays a subordinate role in early modern philosophy, it experiences a speculative upgrading in the thought of German Idealism, above all in the form of absolute life in the late Fichte and of the process of the self-movement of spirit in Hegel. In the philosophy of Romanticism, life is seen as an incessant becoming (Friedrich Schlegel) or as an incomprehensible connection between being and non-being (Novalis). More recent philosophies of life see in it either a visible, sorrowful appearance of the will to life as the essence of the world (Schopenhauer), the circular recurrence of the same becoming and passing away determined by the violent will to power (Nietzsche), or the historical life of humans and

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their experience and understanding in the sense of a universal connection of interhuman interactions (Dilthey). Michel Henry’s radical phenomenological determination of absolute life as a pure self-appearance, as a self-generation and -revelation in the so-called first-living, and as a self-affection with its pathic modalities of suffering and enjoying oneself–goes back in fact (though not in terms of method) to the concept of an absolute life and its immanent (self-)love and bliss in the late Fichte.

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Zum Verständnis des Lebens bei ausgewählten Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts (Descartes, Leibniz, Herder, Jacobi, Kant)

Für die neuzeitliche Geschichte des L.-Begriffs besitzt die Philosophie René Descartes’ (1596–1650) insofern eine wichtige negative Bedeutung, als Descartes dem L. nahezu jede metaphysische und ontologische Relevanz abspricht. Weil nach seiner Überzeugung die mathematisch beschreibbaren Gesetze der Mechanik auch im organischen Bereich gelten, versteht er die physiologischen Erscheinungen als rein mechanische Vorgänge und daher auch die Lebewesen als eine Art von Maschinen oder Automaten. Dennoch kann er auf die Annahme eines L.-Elements nicht ganz verzichten. Denn das Zusammenwirken von Seele und Körper bei dem Zustandekommen von Empfindungen und den daraus folgenden Reaktionen »will er durch ›esprits animaux‹ (L.-Geister) erklären. Diese seien aber selbst Körper, wenn auch sehr kleine.« 1 Wirkungsgeschichtlich gesehen hat sich diese etwa von Baruch de Spinoza (1632–1677) heftig kritisierte Hypothese der Existenz von L.-Geistern jedoch nicht durchsetzen können. In seiner Auseinandersetzung mit Descartes nimmt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) den L.-Begriff auf, und zwar in seiner Kritik an Descartes’ Konzeption der Substanz als res extensa bzw. als res cogitans. Zu der res cogitans gehöre mehr der Begriff der Kraft als der der Ausdehnung. 2 Diese ursprüngliche, aktive Kraft bezeichnet 1 Rainer Piepmeier, Art. »Leben, IV. Frühe Neuzeit bis vor Kant«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (im Folgenden HWPh), Bd. 5, Basel, Schwabe, 1980, 62–71, hier 66. 2 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Briefwechsel zwischen Leibniz und de Bolder 1698–1706«, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. 2, Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1879, 169–170.

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Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart

Leibniz auch einfach als »das Leben« (la vie), das zur Seele, d. h. zur einfachen Substanz, gehöre, die Leibniz auch die Monade nennt. 3 Jede Monade aber ist für Leibniz ein »lebendiger Spiegel des ganzen Universums« 4, so dass »folglich die ganze Natur voll von Leben« 5, d. h. aus lebendigen Substanzen zusammengesetzt sei. Dieses substanzontologische Grundverständnis des L. als der Selbstbildung einer Seelen-Substanz durch Kraft, Harmonie und Ordnung greift Johann Gottfried Herder (1744–1803) auf, der darauf insistiert, dass das L. das geistige Band sei, das in jeder ›Organisation‹ »von der leblos erscheinenden Materie bis zum Menschen als Spitze der lebendigen Pyramide« 6 konstitutiv wirke. Herder verwendet den Begriff des L. auch als einen »universalen Kampfbegriff gegen den Rationalismus und die Herrschaft des Verstandes, der Form und der Regel. Es [sc. das L.] meint den Inbegriff von Fülle und Ursprünglichkeit, so dass Herder mit L. zu einem neuen Begriff des ›Enthusiasmus‹ gelangt« 7. Damit ist der Grund für ein Verständnis des L. gelegt, das im L. ein universales, ewiges und unzerstörbares Form-Prinzip der ganzen Natur sieht. 8 Ein solches Verständnis des L. findet man etwa bei Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), der daher »alles Lebendige vollkommen« nennt und das L. bezeichnet als »das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben« 9.

3 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Monadologie«, in: Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. 2, 588. 4 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Principes de la nature et de la grâve, fondés en raison«, in: Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. 6, 599; vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Monadologie«, in: Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. 6, 621. 5 G. W. Leibniz, »Principes de la nature et de la grâve, fondés en raison«, in: Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. 6, 607. 6 Ulrich Dierse/Klaus Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, in: HWPh, Db. 5, 1980, 71–97, hier 72 (unter Bezug auf Johann Gottfried Herder, »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« [1778], in: Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 16, Berlin, Weidmann Verlag, 1887, 569; Bd. 13, 170, 402). 7 Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 72. 8 Vgl. in diesem Sinne Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 72: »L. wird zu einem in der ganzen Natur vorherrschenden und sie formenden Prinzip, das, ewig und unzerstörbar, eher ein die Einzelwesen umgreifendes Prinzip ist, da es sie gerade gestaltet.« 9 Johann Wolfgang Goethe, Werke, Hamburger-Ausgabe, Hamburg, Christian Wegner Verlag, 1982, Bd. 12, 227; Bd. 13, 21.

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Man findet ein solches Grundverständnis des L. auch bei Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), der daher nicht das L. als »Beschaffenheit der Dinge«, sondern im Gegenteil die Dinge als »Beschaffenheiten« und »verschiedene Ausdrücke« des L. versteht, wobei der höchste Grad des L. »mit dem Maximum an Bewußtsein und Vernunft […], d. h. in Gott«, verwirklicht sei, der »›sein L. in ihm selbst hat‹ und von dem das menschliche L. eine ›Ahndung‹ erhält.« 10 In der Tradition des substanzontologischen Grundverständnisses des L. steht Immanuel Kants (1724–1804) Begriff des L. als das »Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Princip zum Handeln, […] zur Veränderung […] zu bestimmen« 11. Selbstbildung und Selbsttätigkeit sind daher die Kennzeichen des L. im Verständnis Kants.

2.

Der Begriff des Lebens im Denken des Deutschen Idealismus

Auf das von Herder grundgelegte Verständnis des L. als eines universalen und unvergänglichen, einheitlichen Form-Prinzips der Natur geht Johann Christian Friedrich Hölderlins (1770–1843) Verständnis des L. zurück, wenn er sagt, dass das L. alle innerweltlichen Entzweiungen versöhne und den Tod überwinde: »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles.« 12

Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 72, unter Bezug auf Friedrich Heinrich Jacobi, Werke (1812–25), Bd. 2, 258, 263–264, 285. 11 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781), in: Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Bd. 4, 544; vgl. auch Immanuel Kant, Vorkritische Schriften (1757–77), in: Akademie-Ausgabe, Bd. 2, 327; Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. 5, 9. 12 Friedrich Hölderlin, Hyperion, in: Friedrich Hölderlin, Werke in zwei Bänden, Bd. 1 (Die Bibliothek Deutscher Klassiker), hrsg. von Günter Mieth, München/Wien, Carl Hanser Verlag, 1978, 744. 10

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Zur Einheit von spekulativem und nicht-spekulativem Verständnis des Lebens bei Johann Gottlieb Fichte Fichtes nicht-spekulatives Verständnis des Lebens in seinen frühen Schriften: Der unbedingte Wert des Lebens und dessen Reflexionsfreiheit 13

Für den frühen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) besitzt einzig und allein das L. einen »unbedingten Werth und Bedeutung«, während das »Denken, Dichten, Wissen […] nur Werth [hat], insofern es auf irgendeine Weise sich auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht und in dasselbe zurückzulaufen beabsichtigt.« 14, mit anderen Worten: Nur das L. ist Zweck an sich selbst, 15 so dass »man das Leben nur durch das Leben selbst, keinesweges aber durch Speculiren kennenlernt« 16. Das Verhältnis zwischen dem L. und dem »Speculiren«, d. h. dem Vernunftwissen des Subjekts, kennzeichnet Fichte als ein Gegensatz-Verhältnis, wobei beide Glieder dieses Gegensatz-Verhältnisses sich wechselseitig bestimmen 17: »Leben ist ganz eigentlich Nicht-Philosophiren; Philosophiren ist ganz eigentlich Nicht-Leben.« 18 Beide Bestimmungen, das L. und die Speculation, bilden in ihrer Ganzheit die »Duplicität« des Subjekt-Objekt-Verhältnisses auf seiner höchsten Stufe: »Das Leben ist die Totalität des objectiven Vernunftwesens; die Speculation ist die Totalität des subjectiven.« 19 Das L. und die »Speculation« schließen sich daher wechselseitig ein, 20 sofern das L.

Eine ausführliche Darstellung des Lebensbegriffs bei Fichte findet sich bei W. H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J. G. Fichtes, Stuttgart/Bad Cannstatt, Frommann Holzboog, 1972; vgl. auch Jean-Christophe Goddard, La philosophie fichteénne de la vie, Paris, Vrin, 1999. 14 Johann Gottlieb Fichte, Sonnenklarer Bericht über das Wesen der neuesten Philosophie, in: Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Herrmann Fichte, Bd. II, Berlin, Walter de Gruyter, 1971, 333–334. 15 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen, in: Fichtes Werke, Bd. V: Zur Religionsphilosophie, 342: »Nun ist das Leben Zweck, keinesweges das Speculiren; das letztere ist nur Mittel.« 16 Fichte, Sonnenklarer Bericht, 332. 17 Vgl. Fichte, Rückerinnerungen, 343: »Leben und Speculation, sind nur durcheinander bestimmbar.« 18 Fichte, Rückerinnerungen, 343; zu diesem sowohl Gegensatz- als auch wechselseitigen Implikations-Verhältnis zwischen dem L. und der philosophischen Speculation nach Fichte vgl. Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 71–97, hier 73. 19 Fichte, Rückerinnerungen, 343. 20 Vgl. Fichte, Rückerinnerungen, 343: »Eins ist nicht möglich ohne das andere«. 13

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sich nur durch die und in der Speculation erkennt, 21 während die philosophische Speculation insofern des L. bedarf, von dem sie abstrahiere, als dass sie die Empfindung »als das einige, wahre, innere Lebensprincip« 22 voraussetzen müsse. 23 Daher stelle die Wissenschaftslehre bloß eine »Abbildung des Lebens«, keinesweges […] das wirkliche Leben selbst« 24 dar: »Was sie über Weisheit, Tugend, Religion sagt, muss erst wirklich erlebt und gelebt werden, um in wirkliche Weisheit, Tugend und Religiosität überzugehen.« 25 Obwohl die Wissenschaftslehre an und für sich nicht »Lebensphilosophie«, d. h. nicht »die richtige praktische Denkart selbst« sei, »weil ihr dazu das Lebendige und Andringende der Erfahrung fehlt«, so gebe sie »doch ein vollständiges Bild« 26 der Erfahrung. Daher erzeuge die Wissenschaftslehre »das in der Anschauung wirkliche Leben im Denken schematisch. Sie behält den Charakter des Denkens, die schematische Blässe und Leerheit, und das Leben den seinigen, die concrete Fülle der Anschauung.« 27 Fichtes spekulativer bzw. ontologisch-metaphysischer Lebensbegriff in seinen späteren Schriften: Das absolute bzw. göttliche Leben und Sein ist seine Liebe und Seligkeit, sein absolutes (Selbst-)Bewusstsein – das wahrhafte und das scheinbare Leben des Menschen

Fichte hat in den späteren Fassungen seiner Wissenschaftslehre diese als »die einzig mögliche Lebenslehre« 28 bezeichnet, der zufolge »das Eine absolute Leben eben das unsrige, und das unsrige das absolute Leben sey« 29, so dass es nur ein L. und nicht zwei L. gebe, nämlich das absolute L., welches in uns Menschen unmittelbar lebe. 30 Dieses einVgl. Fichte, Rückerinnerungen, 342: »Es [sc. das Speculiren] ist nur Mittel, das Leben zu erkennen.« 22 Fichte, Rückerinnerungen, 343. 23 Vgl. Fichte, Rückerinnerungen, 343: »die Speculation [kann es nicht geben] ohne das Leben, von welchem sie abstrahirt«; vgl. auch Fichte, Rückerinnerungen, 343: »Die Philosophie, selbst vollendet, kann die Empfindung nicht geben noch selbst ersetzen«. 24 Fichte, Sonnenklarer Bericht, 396. 25 Fichte, Sonnenklarer Bericht, 396. 26 Fichte, Sonnenklarer Bericht, 408. 27 Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre a. d. J. 1801, in: Fichtes Werke, Bd. 2, 1971, 161. 28 Johann Gottlieb Fichte, Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben, in: Fichtes Werke, Bd. 8, 371. 29 Fichte, Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre, 371. 30 Vgl. Fichte, Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre, 371. 21

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zige und »einzig mögliche, auf sich selber beruhende und sich selber tragende Dasein und Leben, wovon alles, was als daseyend und lebendig erscheint, nur die weitere Modification, Bestimmung, Abänderung und eigene Gestaltung ist« 31, sei »überall nur Ein lebendiges, die Eine lebende Vernunft« 32. Dieses »Eine und sich selber gleiche Leben der Vernunft« 33 aber werde »durch die irdische Ansicht und in derselben, zu verschiedenen individuellen Personen zerspaltet«, die daher »keineswegs aber an sich und unabhängig von der irdischen Ansicht, da sind und existiire.« 34. Die Vernunft aber beziehe sich auf das eine, in der Idee begründete L., welches als L. der Gattung in Erscheinung trete. 35 Der reine, gute, selige »Urquell« allen L. aber sei die Gottheit, dessen Ausdruck und Werkzeug zu sein die Seligkeit des Menschen bedeute. 36 Zu diesem einen, einzigen L. Gottes stellt Fichte in seiner Schrift Über das Wesen des Gelehrten, und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit von 1805 die folgenden Grundsätze auf: 37 1. Das mit dem L. identische, wahre »Seyn« ist in sich tätig und lebendig, d. h. dynamisch. 2. Das einzige L., das von, aus und durch sich ist, ist das L. Gottes bzw. des Absoluten, welches mit Gott identisch ist. 3. Dieses göttliche L. ist »an und für sich rein in sich selber verborgen […], zugänglich nur sich selber« 38, eins mit dem Seyn und daher »ohne Veränderung oder Wandel.« 39 4. Das göttliche L. äußert sich aber und tritt aus sich hervor in Gestalt der Welt: »diese seine Darstellung, oder sein Daseyn und äusserliche Existenz ist die Welt.« 40 5. Das lebendige göttliche Sein in seiner Erscheinung bzw. Darstellung aber ist das menschliche Geschlecht, das ein sich unendlich 31 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel H. Fichte, Bd. VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte, Berlin, Walter de Gruyter, 1971, 23. 32 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 23. 33 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 24. 34 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 24–25. 35 Vgl. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 34–35, 36 Vgl. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 60–61. 37 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, in: Fichtes Werke, Bd. 6: Zur Politik und Moral, 361–367. 38 Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 361. 39 Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 361. 40 Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 361.

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fortentwickelndes, nach dem Grad der inneren Lebendigkeit und Kraft aufsteigendes L. ist, welches seine Einschränkung durch die Natur kontinuierlich und zunehmend überwindet. 6. Dieses Verhältnis zwischen dem göttlichen Leben bzw. Sein und seiner Darstellung bzw. seinem Dasein aber kann der Mensch durch einen Rückgang in seinen Ursprung mit zweifelsfreier Gewissheit einsehen hinsichtlich seiner Gegebenheit, seines Dass. 7. Nicht einsehen aber kann die endliche Darstellung des absoluten L. im Menschen das Wie und das Warum des Hervorgangs des kontinuierlichen, unvollendbaren Zeitlebens aus dem unendlichen und unwandelbaren Einen des göttlichen L.. 8. Zwar kann das Zeitleben »im Allgemeinen nach seinem Wesen begriffen werden«, nicht jedoch »im Besonderen, seinem eigentlichen Inhalte nach« 41, d. h. im Bereich der Erfahrung. Diese kann nur unmittelbar ge- und erlebt werden, weil sie nicht vollständig im Begriff aufgeht. 9. Zwar können die Zeitordnungen als die gleichartigen Massen in der Zeit in ihren Gesetzen und Regeln erkannt werden, die konkreten Objekte, »d. h. die Hemmungen und Störungen des Lebens« 42, aber sind nur der unmittelbaren Erfahrung zugänglich. 10. »Diese erkennbaren Gesetze der gleichartigen Massen des Lebens« 43 aber sind die Gesetze des L. selbst, welche als göttliches Gesetz oder Sittengesetz sich an die Freiheit als das selbstständige Prinzip des Zeitlebens richten, um diese zur freien Einwilligung in das wahrhafte L. zu bewegen, dessen Erfüllung bzw. Verwirklichung der einzige Zweck alles anderen ist. Das menschliche L. sei daher »das einzige und unmittelbare Werkzeug und Organ […] der göttlichen Idee in der Sinnenwelt«, so dass die »Fortbildung der menschlichen Gattung« 44 die Wirksamkeit der göttlichen Idee zum einzigen Ziel habe. In seiner Anweisung zum seligen Leben setzt Fichte dieses absolute L. mit der Liebe und ihrem Selbstgenuss als Seligkeit sowie dem Sein gleich 45: Indem die Liebe das an sich tote Sein teilt und zu einem Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 365. Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 366. 43 Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 366. 44 Fichte, Über das Wesen des Gelehrten, 368. 45 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre, in: Fichtes Werke, Bd. V, 401–402: »Das Leben ist selber die Seligkeit, sagte ich. Anders kann es nicht seyn: Denn das Leben ist Liebe und die ganze Form 41 42

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zweimaligen Sein bzw. zu einem Ich oder Selbst macht, das sich seiner selbst bewusst ist, vereinigt und verbindet sie das geteilte Ich zu der Zweieinheit des L. 46 Und weil die Liebe zugleich Selbstgenuss und damit Seligkeit ist, deshalb sind »Leben, Liebe, und Seligkeit, schlechthin Eins […] und dasselbe.« 47 Dabei ist die Liebe das Individuationsprinzip des L., welches das Prinzip seiner Bewegung in sich selbst hat. 48 Dem L. als dem absoluten Sein aber ist der Tod und das Nichtsein entgegengesetzt, während der Schein des nur scheinbaren L.s eine Mischung aus L. und Tod, Sein und Nichtsein darstellt. 49 Genauer betrachtet ist nach Fichte das L. dasjenige, was er das Dasein, die Darstellung, die Äußerung, die Offenbarung und das Bild des Seins bzw. des Absoluten nennt und als das absolute Wissen und Bewusstsein des Seins versteht. 50 Es gibt für ihn in Wahrheit nur dieses einzige, göttliche L., 51 so dass alles Lebendige kein selbstständiges, unabhängiges, an und für sich bestehendes Sein besitzt, sondern mit

und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus der Liebe.« Hierzu vgl. Frédéric Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«. Ein Kommentar zur Religionslehre von 1806 (Seele, Existenz und Leben, Bd. 24), Freiburg/München, Karl Alber, 2014, 27–28: »Damit ist für Fichte eine der fundamentalsten Erkenntnisse ausgedrückt, und eine wesentliche Aufgabe der Anweisung wird darin bestehen, sie einleuchtend zu machen.« 46 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 402: »Die Liebe theilet das an sich todte Seyn gleichsam in ein zweimaliges Seyn, dasselbe vor sich hinstellend –, und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut und von sich weiss; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet. Wiederum vereiniget und verbindet innigst die Liebe das getheilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde. Diese letztere Einheit, in der dadurch nicht aufgehobenen, sondern ewig bleibenden Zweiheit, ist nun eben das Leben […]«. Hierzu vgl. Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«, 28: »Das Moment der Vereinigung des Getrennten ist lebendiger Vollzug, von Fichte verstanden als Einheit in der jedoch nicht aufzuhebenden Zweiheit, welche notwendig das Bewusstsein charakterisiert. Dadurch erfolgt eine identische Charakterisierung von Leben und Liebe. Und insofern beide in der Vereinigung des Getrennten bestehen, die Liebe aber zugleich Genuss ihrer selbst und Seligkeit ist, ist Leben notwendig auch Seligkeit.« 47 Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 402. 48 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 403: »Was du liebest, das lebest du. Diese angegebene Liebe eben ist dein Leben, und die Wurzel, der Sitz und der Mittelpunct deines Lebens. […] Nur das Leben vermag selbständig, von sich und durch sich selber dazuseyn«. 49 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 404. 50 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 441–446. 51 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 475: »Es giebt durchaus kein Seyn und kein Leben, außer dem unmittelbaren göttlichen Leben.«

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dem absoluten L. wesenhaft identisch ist. 52 Dieses eine, einzige L. liebt sich selbst und ist daher »vollendete Seligkeit« 53. Das dem scheinhaften L. entgegengesetzte wahrhaftige L. des Menschen 54 hat das Eine, Unveränderliche und Ewige, d. h. das »Seyn« bzw. Gott selbst, zum Gegenstand seiner Liebe, während das scheinbare L. das Veränderliche bzw. die Welt zum Gegenstand hat. 55 Und weil dem wahren L. das Vermögen des Selbstbewusstseins zukommt, ist es im Genuss seiner selbst selig. 56 Die Seligkeit des wahrhaftigen L. besteht daher in dessen Vereinigung mit dem Ewigen bzw. Göttlichen im Gedanken bzw. in der Erkenntnis der Wahrheit. 57 In dieses wahrhaftige, selige L. aber kann der Mensch nicht durch sein eigenes Vermögen und seine eigene Anstrengung gelangen, sondern nur, indem er seine eigenen Hindernisse dafür beseitigt und aufhebt, damit das selige L. selbst zu ihm kommt. 58 Denn nur durch die Sammlung seines Gemüts in der Einkehr zu sich selbst, durch wahren Ernst und echten Tiefsinn kann sich der Mensch dem seligen L. öffnen und es empfangen. 59 Nur durch diesen Tod des alten Scheinlebens hindurch kann das neue, wahre L. im Menschen erstehen. 60 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 538: »Dieses wahre [sc. absolute, göttliche] Leben ist im Grunde allenthalben, wo irgend eine Gestalt und ein Grad des Lebens angetroffen wird.« 53 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 538: »Das Leben an sich ist Eines, bleibt ohne alle Wandelbarkeit sich selbst gleich, und ist, da es die vollendete Ausfüllung der in ihm ruhenden Liebe des Lebens ist, vollendete Seligkeit.« 54 Zu diesem Gegensatz zwischen dem wahrhaftigen und dem scheinbaren L. in Fichtes Anweisung vgl. Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«, 42–46. 55 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 406. 56 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 410. 57 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 410: »Im Geiste, in der in sich selbst gegründeten Lebendigkeit des Gedankens, ruhet das Leben. Denn es ist ausser dem Geiste gar nichts wahrhaftig da. Wahrhaftig leben heisst wahrhaftig denken und die Wahrheit erkennen.« Hierzu vgl. Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«, 47–52 (Der Gedanke als Element des wahrhaftigen Lebens). 58 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 412: »Die Seligkeit erwerben können wir nicht, unser Elend aber abzuwerfen vermögen wir, worauf sogleich durch sich selber die Seligkeit an desselben Stelle treten wird.« 59 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 412. 60 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 413: »nur durch den Tod hindurch dringt sie [sc. die Endlichkeit] zum Leben.« Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 447: »die einzige und absolute Bedingung des seligen Lebens sey die Erfassung des Einen und Ewigen mit inniger Liebe und Genusse: wiewohl dieses Eine freilich nur im Bilde erfasst, keineswegs aber wir selber in der Wirklichkeit zu dem Einen werden, noch in dasselbe uns verwandeln können.« 52

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In diesem neuen L. eines seligen, gottergebenen Menschen ist das göttliche L. selbst das handelnde und wirkende, mithin logische Subjekt seines ganzen Handelns, Wirkens und Verhaltens. 61 Dem entspricht das »Grundgesetz der höhern Moralität sowohl, als des seligen Lebens« 62: »wolle seyn, was du [nach dem Willen Gottes] seyn sollst, was du seyn kannst, und was du eben darum seyn willst« 63. Dieses selige L. ist dem Zweifel und der Angst vor der Zukunft enthoben und ganz von der Liebe Gottes erfüllt. 64 Der selig lebende Mensch ist daher »seit seiner Einkehr in die Gottheit […] zum Leben geboren.« 65

Leben als Einheitsprinzip eines ursprünglichen Gegensatzes – zu Schellings Verständnis des Lebens Friedrich Wilhelm Josef Schelling geht in seiner frühen Auseinandersetzung mit der Wissenschaftslehre Fichtes davon aus, dass ein lebendiges Wesen dasjenige sei, welches »ein inneres Prinzip der Bewegung in sich selbst hat« 66. Als ein solches lebendiges, tätiges Wesen schaue sich der Geist in der Sukzession seiner Vorstellungen selbst an, und zwar als das L. der Natur. In der Stufenfolge des L. in der Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 475–476: »frei aber von jenen Verhüllungen […] tritt es [sc. das göttliche Leben] wieder heraus in dem Leben und Handeln des gottergebenen Menschen. In diesem Handeln handelt nicht der Mensch, sondern Gott selber in seinem ursprünglichen inneren Seyn und Wesen ist es, der in ihm handelt und durch den Menschen sein Werk wirket.« 62 Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 533. 63 Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 533. 64 Vgl. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 540–550; hierzu vgl. Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«, 181–190 (Die Liebe: Mittelpunkt des wahrhaftigen Lebens); Seyler zeigt dabei deutlich auf, dass Fichte auch die menschliche Liebe zu Gott als »Gottes Liebe zu sich [versteht], aber in der Form der Empfindung, welche die Reflexion begleitet.« 65 Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, 550; hierzu vgl. auch Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«, 186: »Dass der Mensch diese lebendige Mitte [der Liebe] immer und notwendig ist, heisst: sein Leben kann nicht anders als im absoluten Leben Gottes sein.« 66 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus in der Wissenschaftslehre (1796/1797), in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ausgewählte Schriften, Bd. 1: 1794–1800, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 21995, 180; vgl. Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus in der Wissenschaftslehre (1796/1797), 180: »Ein solches Wesen heißt lebendig.« 61

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Natur erscheine daher der Geist sich selbst als »äußerlich, und zwar als organisierte, belebte Materie.« »Denn nur das Leben ist das sichtbare Analogon des geistigen Seins.« 67 Die Kontinuität der Vorstellungen des Geistes sei daher konstitutiv für die Kontinuität der inneren Bewegungen alles Lebendigen. Während der gemeine Verstand das L. nur dort erkennen könne, »wo freie Bewegung ist« 68, die sich als Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize vollziehe, setze das Reiz-Reaktionsschema ein höheres Prinzip voraus, welches »alle einzelnen Bewegung ordnet, zusammenfaßt und so erst aus einer Mannichfaltigkeit von Bewegungen, die untereinander übereinstimmen, sich wechselseitig produciren und reproduciren, ein Ganzes schafft und hervorbringt.« 69 Als dieses Prinzip einer »absoluten Vereinigung von Natur und Freiheit in ein und demselben Wesen« 70 versteht der frühe Schelling das L. Diese Vereinigung von »Naturprodukt« und »ordnendem, zusammenfassendem Geist« könne als »Leben außer uns« 71 nicht empirisch erkannt, sondern »nur durch unmittelbare Erfahrung« 72 bzw. durch »ein unmittelbares Wissen« 73 erfasst werden. Denn das L. könne nur im Leben vorgestellt werden. 74 Den Geist als ein Prinzip des L. bezeichnet der frühe Schelling als die Seele. 75 Dieses Verständnis des L. ist es, das den frühen Schelling annehmen lässt, dass das L. der Materie sachlich und zeitlich vorgeordnet sei, 76 sodass die Ursache des L. früher sei als die Materie, »die [nicht lebt, sondern] Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus in der Wissenschaftslehre, 180. 68 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft 1797, 18032, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, 286. 69 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 286. 70 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 286. 71 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 287. 72 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 289. 73 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 290. 74 Vgl. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 290: »Denn das Leben kann so wenig außer dem Leben als das Bewußtsein außer dem Bewußtsein vorgestellt werden.« 75 Vgl. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 289: »Geist, als Princip des Lebens gedacht, heißt Seele.« 76 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Von der Weltseele. Eine Hypothese zur Erklärung des allgemeinen Organismus, Hamburg, Friedrich Perthes, 1798, 190: »Wir räumen ein nicht nur, sondern wir behaupten, daß die Bildung thierischer Materie nur nach chemischen Analogien erklärbar ist, wir sehen aber, daß diese Bildung, wo sie geschieht, immer das Leben selbst schon voraussetzt.« 67

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belebt ist.« 77 Dieser »Grund des Lebens« sei daher nicht in materiellen Strukturen, sondern »in entgegengesetzten Principien enthalten, davon das Eine [sc. positive] außer dem lebenden Individuum, das Andre [sc. negative] im Individuum selbst zu suchen ist.« 78 Das positive Prinzip des L. durchdringe die ganze Natur gleichsam als deren Atem und sei keinem Individuum eigentümlich, sondern allen Individuen gemeinsam; das negative Prinzip des L. individualisiere sich in jedem lebendigen Wesen, und zwar in Abhängigkeit von dessen jeweiliger Rezeptivität. 79 Dabei individualisiere sich ein und derselbe Lebensprozess in jedem einzelnen Lebewesen. 80 Das Wesen des L. bestehe »überhaupt nicht in einer Kraft, sondern in einem freien Spiel von Kräften, das durch irgend einen äußern Einfluß continuirlich unterhalten wird.« 81 Deshalb sei das Prinzip des L. nur »die Ursache einer bestimmten Form des Spiels, nicht die Ursache des Seyns selbst«. 82 Es »zeigt sich nur in den einzelnen Erscheinungen des L. und ist nur ›als die gemeinschaftliche Seele der Natur‹ zu erahnen« 83. Die beiden entgegengesetzten Prinzipien, als deren »Wechselbestimmung« Schelling in dieser Phase seines Denkens das L. versteht, sind die Tätigkeit und die Rezeptivität und deren Synthese sieht er im Begriff der Erregbarkeit, 84 »so dass in jedem Organismus eine ›ursprüngliche Duplicität‹ zwischen Erregung und Erregbarkeit vorausgesetzt werden muß.« 85 In seiner Auseinandersetzung mit Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben bezeichnet Schelling die Einheit Gottes als eine »lebendige, eine wirklich existirende Einheit« 86, deren Wesen in ihrer Existenz bestehe, die Schelling als das Band der Einheit und Vielheit und Schelling, Von der Weltseele, 191. Schelling, Von der Weltseele, 195. 79 Vgl. Schelling, Von der Weltseele, 195. 80 Vgl. Schelling, Von der Weltseele, 223. 81 Schelling, Von der Weltseele, 300., 82 Schelling, Von der Weltseele, 300. 83 Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 74; das Zitat nach Schelling, Von der Weltseele, 305. 84 Vgl. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, 322–323. 85 Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 74. 86 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 617–618: »Die göttliche Einheit ist von Ewigkeit eine lebendige, eine wirklich existirende Einheit«. 77 78

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damit zugleich als die innere Selbstoffenbarung der Einheit Gottes versteht. 87 In dieser »lebendige[n] Identität« von Wesen und Existenz bzw. Form der göttlichen Einheit sei der Gegensatzpol der Vielheit das L. und der Einheitspol gleichsam die Synthese des L. 88 Dieser Gegensatz von Unendlichkeit und Endlichkeit sei in Gott »ewig und ursprungslos«. Das »Wunder der Lebendigkeit und Wirklichkeit Gottes« bzw. »das göttliche Leben« sei daher das Dasein des Alls in seiner Endlichkeit. 89 In seinem System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere von 1804 führt Schelling aus, dass es die Selbstaffirmation des Absoluten sei, welche das All in sich auf ewige Weise hervorbringe und dieses All selbst sei. Deshalb sei dem Besonderen, mithin vereinzelt Vielen, im All ein doppeltes L. verliehen: Ein wahres L. in Gott, als »das Leben der Idee, welches eben daher auch als die Auflösung des Endlichen im Unendlichen, des Besonderen im All beschrieben wurde – und ein Leben in sich selbst, welches […] aber getrennt von dem Leben in Gott ein bloßes Scheinleben ist.« 90 Durch die Auflösung des Besonderen »in das unendliche Allseyn, erlangt [das zeitliche L. in sich selbst] […] ein absolutes Leben, es ist absolut in sich selbst.« 91 Im Gegensatz zu dem absoluten L. der besonderen Wesenheiten in Gott ist ihr L. im All ein aufeinander relatives L., ein »von Gott abgefallenes und getrenntes Leben« 92. Vgl. Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, 618. 88 Vgl. Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, 619. 89 Vgl. Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, 620. 90 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 197. 91 Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, 197. 92 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 679: »Das Leben, welches die Wesenheiten des All relativ aufeinander haben, ist entgegengesetzt ihrem Leben in Gott, worin jede als eine freie, selbst unendliche ist; es ist insofern ihr von Gott abgefallenes und abgetrenntes Leben.« Vgl. auch Schelling, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, 653: »Dieses Leben, welches die Dinge bloß in Relation haben, und inwiefern sie es nur durch diese haben, ist es, welches einen Anfang hat durch Entstehen und Geburt und ein Ende durch Auflösung oder Tod. Das Leben jedes Dings in Gott ist eine ewige Wahrheit, das Zeitleben aber ist nur das Leben des Dinges, soweit es durch die bloßen Positionen des Verhältnisses untereinander möglich ist, d. h. es ist ein nichtiges Leben.« 87

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In seiner Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 geht Schelling davon aus, dass der Idee des göttlichen Wesens nur eine Folge, die »Zeugung, d. h. Setzen eines Selbständigen, ist«, entspricht. Denn Gott sei »nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen.« 93 Gegen Fichte polemisiert Schelling, dass Gott »etwas Realeres als eine bloße moralische Weltordnung« sei »und ganz andre und lebendigere Bewegungskräfte in sich [habe], als ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten zuschreibt.« 94 Weil Gott selbst ein L. und kein System sei, gebe es in ihm einen Urgegensatz zwischen dem geistfreien Grund seiner Existenz und seiner geistigen Existenz, zu welcher ein stets das allgemeine Gute wollender Universalwille gehöre. 95 Die »Erweckung des Lebens« und damit des Gegensatzes zwischen der partikulären Selbstheit und der universalen Liebe und folglich auch des Kampfes zwischen Gut und Böse sowohl in Gott als auch im Menschen sei »der Wille des Grundes«. 96 Weil Gott ein L. sei und nicht nur ein Sein, besitze er ein Schicksal und sei dem Leiden und Werden unterworfen; denn das Sein könne nur am Werden als seinem Gegensatz sich verwirklichen, d. h. seiner selbst bewusst werden; deshalb sei der »Begriff eines menschlich leidenden Gottes« in der Religionsgeschichte der Menschheit weit verbreitet und sachlich notwendig. 97 Weil demnach Schelling Gott nur als L., dieses aber nur als einen antagonistischen Gegensatz zweier Prinzipien zu denken vermochte, entwickelte er die Vorstellung eines geschichtlich werdenden und damit auch leidenden und sich durch seine Weltschöpfung notwendigerweise offenbarenden Gottes. Schelling kennt auch eine basale Unterscheidung zwischen dem wahren und dem falschen menschlichen L. Das wahre, sittliche L. des Menschen bestehe in der Übereinstimmung seines persönlichen Partikularwillens mit dem göttlichen Universalwillen, während das falsche L. der Lüge, der Unruhe und der Verderbnis in der Loslösung Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Einleitung und Anmerkungen von Horst Fuhrmans, Stuttgart, Reclam, 1977, 57. 94 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 68. 95 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 118–119. 96 Vgl. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 119–120: »Die aktivierte Selbstheit ist notwendig zur Schärfe des Lebens; ohne sie wäre völliger Tod, ein Einschlummern des Guten; denn wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben. Nur die Erweckung des Lebens also ist der Wille des Grundes, nicht das Böse unmittelbar und an sich.« 97 Vgl. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 124. 93

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und Trennung des menschlichen Partikularwillens vom göttlichen Universalwillen bestehe, worin Schelling zugleich die Bestimmung des sittlich Schlechten, d. h. des Bösen, für den Menschen sieht. 98

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Leben als der kreislaufförmige Prozess der Selbstbewegung des Geistes bzw. der Idee Bereits in seinen Theologischen Jugendschriften geht Hegel davon aus, dass »das Göttliche reines Leben ist« und deshalb keinen unversöhnten, unvermittelten Gegensatz in sich enthalte. 99 Als den inkarnierten Gottessohn, d. h. als den »Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen« 100, definiert Hegel hier in seiner Auslegung des Johannesprologs das L. Der Mensch gewordene Sohn Gottes aber habe das Leben in sich selbst von seinem göttlichen Vater. 101 Wie nun Jesus »ewiges Leben in sich hat, so sollen auch die Gläubigen an ihn [Joh 6,40] zum unendlichen Leben gelangen.« 102 Dies aber setze eine »Belebung durch den heiligen Geist« 103 voraus, denn »Gott kann nicht gelehrt, nicht gelernt werden, denn er ist Leben, und kann nur mit dem Leben gefaßt werden« 104. Das göttliche L. konstituiert nach Hegel den Gemeinschaftscharakter des Reiches Gottes, in dem alle in Gott lebendig seien, weil sie von dem »lebendigen Band« der »Empfindung der Einigkeit des Lebens«, d. h. der Liebe, in der alle Entgegensetzungen und Feindschaften aufgehoben sind, miteinander

Vgl. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 79–81. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, bearbeitet und kommentiert von Inge Gellert (Philosophiehistorische Texte), Berlin, Akademie Verlag, 1991, 528–529: »Weil das Göttliche reines Leben ist, so muß notwendig, wenn von ihm und was von ihm gesprochen wird, nichts Entgegengesetzes in sich enthalten«; Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 527: »Reines Leben zu denken ist die Aufgabe […].« 100 Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 537: »[D]er Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil dieser Zusammenhang das Leben selbst ist; die Reflexion, die das Leben trennt, kann es in Unendliches und Endliches unterscheiden«. 101 Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 536: »[B]esonders bei Johannes [beruft sich Jesus] immer auf seine Einigkeit mit dem Vater, der dem Sohne Leben in sich selbst zu haben gegeben, wie der Vater selbst Leben in sich habe«. 102 Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 543. 103 Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 544. 104 Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 549. 98 99

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verbunden seien. 105 Denn die Liebe sei eine »Vereinigung des Lebens« und setze daher »Trennung, eine Entwicklung, gebildete Vielseitigkeit desselben voraus« 106; »und in je mehr Gestalten das Leben lebendig ist, in desto mehr Punkten kann es sich vereinigen, und fühlen, desto inniger die Liebe sein« 107. Darin erfüllt sich für Hegel die Bestimmung des wirklich existierenden, mannigfaltigen Einzelnen und Besonderen in dieser Welt als Entgegengesetztes und damit gleichsam Totes, zugleich auch »ein Zweig des unendlichen Lebensbaumes« und damit ein L. bzw. lebendig zu sein, sodass es nicht nur Teil eines von ihm verschiedenen Ganzen, sondern zugleich auch selbst eine eigene Ganzheit (von Teilen) sei. 108 In Hegels Schriften aus seiner Jenaer Zeit gewinnt sein geistmetaphysisches Verständnis des L. Gestalt und Kontur: Das L. besteht demnach aus zwei Faktoren, und zwar aus der notwendigen Entzweiung zwischen Endlichem und Unendlichem und der Macht der Vereinigung beider Seiten als dem Vermögen der Vernunft. 109 Wenn aber »die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.« 110 Deren Aufgabe aber besteht darin, diese Voraussetzungen [sc. das Absolute und »das Herausgetretensein des Bewußtseins aus der Totalität […], die Entzweiung in Sein und Nichtsein, in Begriff und Sein, in Endlichkeit und Unendlichkeit« 111] zu vereinen, das Sein in das Nichtsein – als Werden, die Entzweiung in das Absolute – als dessen Erscheinung, das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen. 112 Vgl. Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 553. Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 554. 107 Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 554. 108 Vgl. Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, Fragment 5, 533: »[D]as Einzelne, Beschränkte, als Entgegengesetztes, Totes, ist zugleich ein Zweig des unendlichen Lebensbaumes; jeder Teil, außer dem das Ganze ist, ist zugleich ein Ganzes, ein Leben«; Hegel, Frühe Studien und Entwürfe 1787–1800, 535: »Nur von Objekten, von Totem gilt es, daß das Ganze ein anderes ist, als die Teile; im Lebendigen hingegen der Teil desselben ebensowohl und dasselbe Eins, als das Ganze«. 109 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), in: Werke, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801–1807, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970, 21–22: »[D]enn die notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der Trennung möglich.« 110 Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 22. 111 Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 24. 112 Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 25. 105 106

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Damit aber wird das L. zur Vollzugsgestalt der Selbstbewegung des Geistes, d. h. des Selbstbewusstseins. Der Gegenstand seiner sinnlichen Wahrnehmung und Gewissheit sei das Negative, welches in sich zurückgegangen und insofern L. geworden sei. 113 Dieses Lebendige sei jedoch ein in sich reflektiertes Sein und als solches »der Gegenstand der unmittelbaren Begierde« 114 des Selbstbewusstseins. Das L. als die Form des Selbstbewusstseins wird von Hegel im Bild eines Kreises vorgestellt, dessen Wesen »die Unendlichkeit als das Aufgehobensein aller Unterschiede, die reine achsendrehende Bewegung« bzw. »die Ruhe ihrer selbst als absolut unruhiger Unendlichkeit« 115 sei und in deren Selbstständigkeit »die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind« 116 in die raumzeitliche ›Sichselbstgleichheit‹ dieser ›allgemeinen Flüssigkeit‹ des L. hinein. Diese sichselbstgleiche Selbstständigkeit aber sei das Bestehen oder die Substanz der unterschiedenen Glieder und fürsichseienden Teile dieser Flüssigkeit des L. und seiner »reinen Bewegung in sich selbst« 117. Nach dem ersten Moment des Bestehens der selbstständigen Gestalten des L. sei dessen zweites Moment »die Unterwerfung jenes Bestehens unter die Unendlichkeit des Unterschiedes.« 118 So komme es zur Bewegung der Gestalten des L. und damit »zum Leben als Prozeß« 119, d. h. zur Entstehung des Lebendigen. Daher sei der Prozess des L. »ebensosehr Gestaltung, als er das Aufheben der Gestalt ist« 120. Dieser ganze Kreislauf von Gestaltwerdung und Aufhebung der Gestalten »macht das Leben aus«, und zwar »das sich entwickelnde und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze.« 121 Dies sei die »reflektierte Einheit« 122 des Selbstbewusst-

113 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1986, 139: »Der Gegenstand, welcher für das Selbstbewusstsein das Negative ist, ist aber seinerseits für uns oder an sich ebenso in sich zurückgegangen als das Bewußtsein andererseits. Er ist durch diese Reflexion-insich Leben geworden.« 114 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 139. 115 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 140. 116 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 140. 117 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 140. 118 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 141. 119 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 141. 120 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 142. 121 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 142. 122 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 142.

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seins, welche die »einfache Gattung« bzw. das ›reine Ich‹ zum Gegenstand habe. 123 Im ersten Teil seiner Enzyklopädie der Wissenschaften widmet Hegel in seiner Darstellung der Idee mehrere Paragraphen dem L., nachdem er gezeigt hat, dass die Idee wesentlich Prozess ist. Das L. sei die unmittelbare Idee, denn der Begriff sei als die Seele in »einem Leibe realisiert, von dessen Äußerlichkeit jene [sc. die Seele] die unmittelbare sich auf sich beziehende Allgemeinheit, ebenso dessen Besonderung, […] endlich die Einzelheit als unendliche Negativität ist« 124. Daher sei »das Leben wesentlich Lebendiges und nach seiner Unmittelbarkeit Dieses Einzelne Lebendige.« 125 Das L. sei demnach »die als Begriff existierende, unmittelbare Idee« 126. Der Mangel des L. bestehe darin, »daß hier Begriff und Realität einander noch nicht wahrhaft entsprechen« 127; denn: Der Begriff des Lebens ist die Seele, und dieser Begriff hat den Leib zu seiner Realität. Die Seele ist gleichsam ergossen in ihre Leiblichkeit, und so ist dieselbe nur erst empfindend, aber noch nicht freies Fürsichsein. Der Prozeß des Lebens besteht dann darin, die Unmittelbarkeit, in welcher dasselbe (Leben) noch befangen ist, zu überwinden, und dieser Prozeß, welcher selbst wieder ein dreifacher ist, hat zu seinem Resultat die Idee in der Form des Urteils, d. h. die Idee als Erkennen. 128

So führt die »Aufhebung und Überwindung der Unmittelbarkeit, in welcher die Idee als Leben noch befangen ist« 129, zur Befreiung der Idee des L. zu sich selbst, zu ihrer eigenen Wahrheit, indem sie »als freie Gattung für sich selbst in die Existenz« 130 tritt. Insofern ist der Tod des einzelnen Lebendigen »das Hervorgehen des Geistes.« 131 Hegel entwickelt also ein geistmetaphysisches Verständnis des L. als die dialektische, durch Setzung und Überwindung eines Gegensatzes Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 143. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Werke, Bd. 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 1830. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970, a. Das Leben, § 216, 373. 125 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 374. 126 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 374. 127 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 374. 128 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 374. 129 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 377. 130 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 377. 131 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 377. 123 124

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bzw. Widerspruchs hindurch gehende Bewegung der Idee bzw. des Selbstbewusstseins des Geistes in allen lebendigen Wesen: Diesen Prozeß des Gegensatzes, Widerspruches und der Lösung des Widerspruches durchzumachen ist das höhere Vorrecht lebendiger Naturen; was von Hause aus nur affirmativ ist und bleibt, ist und bleibt ohne Leben. Das Leben geht zur Negation und deren Schmerz fort und ist erst durch die Tilgung des Gegensatzes und Widerspruches für sich selbst affirmativ. Bleibt es freilich beim bloßen Widerspruche, ohne ihn zu lösen, stehen, dann geht es an dem Widerspruch zugrunde. 132

3.

Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Romantik

Friedrich Schlegels Verständnis des Lebens als eines unaufhörlichen Werdens Ein Hegels geistmetaphysischem Begriff des L. diametral entgegengesetztes Verständnis des L. findet sich bei dem bedeutendsten Theoretiker der deutschen Frühromantik, bei Friedrich Schlegel (1770– 1829). Auf Schlegel geht die Prägung des Terminus der »Philosophie des Lebens« bzw. der »Lebensphilosophie« zurück. Unter der »Philosophie des Lebens« versteht er in seinem Gespräch über die Poesie eine Philosophie der Tätigkeit bzw. den Idealismus, d. h. eine Auffassung der Wirklichkeit als ein bloßes Produkt der Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins im Sinne der Wissenschaftslehre des frühen Fichte, den er mit dem substanzontologischen Realismus zu einem sog. »Ideal-Realismus« vereinigen will. 133 In seiner Jenaer Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Erster Teil: Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal, in: Werke, Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970, 134. 133 Vgl. Friedrich Schlegel, Das Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (im Folgenden KFSA), Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796– 1801), hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien, Ferdinand Schöningh, 1967, 316–317, Anm. 1: »Hiernach gilt mir die Philosophie des Lebens und der Tätigkeit, oder der Idealismus, nur als erster wirksamer Anstoß und Anfang der intellektuellen Bewegung, Veränderung, Wiedergeburt.« Zu Schlegels programmatischer Konzeption eines sog. »Real-Idealismus« im Rahmen seines Konzepts einer »Neuen Mythologie« vgl. Markus Enders, »Die Mythologie ist ein Kunstwerk der Natur. Zum Konzept einer Neuen Mythologie bei Friedrich Schlegel, in Schellings System des transzendentalen Idealismus und im Ältesten Systemprogramm des Deut132

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Transcendentalphilosophie von 1801 unterscheidet Schlegel drei Teile, Abschnitte oder Epochen der Philosophie: In ihrer ersten Epoche konstituiere diese sich selbst, indem sie die Einheit von Dasein und Bewusstsein darstelle, und zwar in Gestalt einer Theorie der Natur, welche die Realität von Freiheit in der Natur aufzeigen soll. In ihrer zweiten Phase gehe die Philosophie aus sich selbst heraus und in das L. hinein, indem sie die Begriffe des L., der Religion und der Moral zunächst voneinander unterscheide und dann wieder miteinander vereinige und damit »Harmonie im Leben« herstelle. Diese zweite Epoche der Philosophie enthält nach Schlegel daher eine Theorie des ganzen Menschen. 134 In ihrer dritten und letzten Epoche gehe die Philosophie wieder in sich selbst zurück, mache sich die Verbindung von Theorie und Empirie sowie aller Künste und Wissenschaften zur Aufgabe, betrachte das Ganze bzw. das Unendliche oder das Universum und werde somit zur »Philosophie der Philosophie« 135. Die zweite Epoche der Philosophie, in der »die Philosophie aus sich selbst herausgeht, und LebensPhilosophie wird« 136, ist demnach die der Lebensphilosophie. In ihr »entscheidet das Leben; das Leben muß hier eine entscheidende Stimme haben.« 137 In ihr bringe die »gemeine Denkart« 138 den Idealismus mit dem Dogmatismus – gemeint ist ein dogmatischer Realismus – in Berührung. In dieser zweiten Epoche der Philosophie lasse diese »von der Strenge ihrer Methode ab« 139. Deshalb müsse der Vortrag »hier lebendig seyn, durch eine Anregung der Kraft, durch eine Erschütterung der vorgefaßten Meyschen Idealismus«, in: Jens Halfwassen/Markus Gabriel (Hrsg.), Kunst, Metaphysik und Mythologie, Heidelberg, Winter, 2008, 65–88, hier 70–77 (»Der ›Real-Idealismus‹ der ›Neuen Mythologie‹ und die Natur als ihre Inspirationsquelle«). 134 Vgl. Friedrich Schlegel, Transcendentalphilosophie, eingeleitet und mit Erläuterungen versehen von Michael Elsässer (Philosophische Bibliothek, Bd. 416), Hamburg, Felix Meiner, 1991, 32–33, insb. 33: »Aus dem 2ten Satz der Realität, nämlich reell sei das Nothwendige in dem Menschen, geht uns die Theorie des Menschen hervor. Des Menschen, sagen wir, nicht des Geistes, weil sich die Theorie auf den ganzen Menschen beziehet.« 135 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 91–105; zur Einteilung der Philosophie in drei Epochen vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 78–79. 136 Schlegel, Transcendentalphilosophie, 78; vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 78, Anm. 1: »Die Philosophie des Lebens ist ein Produkt aus der Philosophie eines Philosophen, und aus seinem Leben.« 137 Schlegel, Transcendentalphilosophie, 79. 138 Schlegel, Transcendentalphilosophie, 79. 139 Schlegel, Transcendentalphilosophie, 78–79; vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 78–79, 62.

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nungen.« 140 Die drei Grundbegriffe der Philosophie des L. in dieser zweiten Epoche der Philosophie seien Moral, Religion und Politik, von denen Moral und Religion die beiden Extreme seien und die Politik das sie Verbindende. 141 Denn die Moral sei eine Philosophie des L. in Bezug auf dessen äußere Verhältnisse bzw. die allgemeine menschliche Lebenspraxis, während die Religion eine Philosophie des L. in Bezug auf das höhere L. des inneren Menschen sei. 142 Die Politik schließlich ist nach dieser Einteilung eine Philosophie des L. in Bezug auf das gesellschaftliche L. des Menschen. Die Grundbegriffe der Moral seien Bildung im Sinne von Selbstständigkeit und Originalität sowie Ehre. Die Grundbegriffe des gesellschaftlichen L. des Menschen seien Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit, die des religiösen L. des Menschen seien Natur und Liebe, 143 denn nur in der subjektiven Gestalt der Liebe und der objektiven Gestalt der Natur komme das Göttliche in das menschliche Bewusstsein. 144 Diese Philosophie des L. soll die Frage nach der Bestimmung des Menschen und ihrer Erfüllung, d. h. nach dem Wesen des Menschen, beantworten. 145 Worin aber besteht nun für Schlegel das L. im allgemeinen Sinne dieses Wortes, das er mit seiner Philosophie des L. in Bezug auf den Menschen im Einzelnen zu bestimmen sucht? Friedrich Schlegel setzt in seiner Jenaer Transcendentalphilosophie die Natur mit dem Werden und Leben gleich, wenn er formuliert: »Die Natur ist das Werden und Leben, welches zwischen die Urfakta der Dualität und der Identität fällt.« 146 Um dieses Zitat verstehen zu können, muss man es in den Gesamtzusammenhang von Schlegels Naturbegriff einordnen. Das wesenhafte Werden und Vergehen in der Natur ist nach Schlegel das Resultat eines der Natur immanenten Widerspruchs zwischen den sog. »Urfakta« der Dualität und der Identität, der das Spiel der Natur in

Schlegel, Transcendentalphilosophie, 79. Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 61. 142 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 48: »Wir können recht gut ein höheres Leben des inneren Menschen unterscheiden von den äußern Verhältnissen oder der Praxis, dem gemeinen Leben. Dies letztere ist gemeint, wenn die Moral eine Philosophie des Lebens genannt wird. Die Philosophie des innern Menschen, ist die Religion, oder Religionsphilosophie.« 143 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 46–53. 144 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 70. 145 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 45: »Nun aber besteht das Wesen des Menschen in seiner Bestimmung, und in der Möglichkeit, sie zu erreichen.« 146 Schlegel, Transcendentalphilosophie, 58. 140 141

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einem unaufhörlichen Werden hält. 147 Als solche aber ist die Natur »das Bild der werdenden Gottheit« 148 bzw. die reell oder wirklich gewordene Gottheit selbst. 149 Unter der Gottheit versteht Schlegel das Unendliche selbst, insofern es gedacht oder bewusst gemacht wird beziehungsweise werden kann. 150 Die Natur aber ist nach seinem VerVgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 58: »Die Natur ist das Werden und Leben, welches zwischen die Urfakta der Dualität und der Identität fällt. Alles Werden setzt einen Wiederstand voraus. Denn sonst wäre kein Werden, sondern absolutes Seyn. Nun ist aber das Spiel der Natur nicht in einem Nu abgelaufen, sondern es ist ein Werden, es muß also ein Wiederstand in die Natur gesetzt werden. Er ist in der Sphäre der Natur das böse Prinzip.« 148 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 54: »Die Natur ist das Bild der werdenden Gottheit.« 149 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 21: »Die Natur ist das Mittelglied zwischen der Realität und der Gottheit. Ihre unendliche Aufgabe ist, die Gottheit zu realisieren«; Schlegel, Transcendentalphilosophie, 21, 25: »Verbinden wir die Gottheit mit der Realität und centriren diese Verbindung durch das Unendliche, so erhalten wir eine reelle Gottheit mit Unendlichkeit, oder was dasselbe ist, die Natur. Diesen Begriff in einen Satz gebracht, würde heißen: Es ist die unendliche Aufgabe der Natur, die Gottheit zu realisiren«; Schlegel, Transcendentalphilosophie, 21, Anm. 2: »Natur ist gleichsam eine wirklich gewordene Gottheit.« 150 Vgl. Friedrich Schlegel, Transcendentalphilosophie. [Jena 1800–1801], in: KFSA, Bd. 12: Philosophische Vorlesungen [1800–1807]. Erster Teil, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Jean-Jaques Anstett, München/Paderborn/Wien, Ferdinand Schöningh, 1964, 20 (Nachtrag zu den Elementen der Philosophie): »Wenn das Unbestimmte wirklich werden soll, so muß es aus sich selbst herausgehen, und sich bestimmen. (Angewandt könnte dies heißen: Die Gottheit hat die Welt gebildet, um sich selbst darzustellen.)«; Schlegel, Transcendentalphilosophie. [Jena 1800–1801], 21: »das Unendliche mit Bewußtseyn verbunden, giebt den reinen Begriff der Gottheit.« Für eine Ineinssetzung der Gottheit mit dem Unendlichen spricht auch die Gleichsetzung von »Gottheit« und »Werden«, vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie. [Jena 1800–1801], 53: »Wir wissen das Daseyn der Gottheit unmittelbar, weil das die Quelle alles Wissens ist. Wenn man die Urfakta übersetzen will, so heißt es, die Gottheit kann nur im Werden gedacht werden«; Schlegel, Transcendentalphilosophie. [Jena 1800–1801], 54: »Wie die Natur ein Bild der werdenden Gottheit ist, so ist die Liebe ein Vorgefühl der noch nicht vorhandenen Gottheit«; Schlegel, Transcendentalphilosophie. [Jena 1800–1801], 79: »Die Natur ist die werdende Gottheit. Aus dieser Ansicht geht die Gemeinschaft hervor, in der wir mit der Gottheit stehen; hingegen wird die Gottheit gedacht als Daseyn, wie es gewöhnlich geschieht, so ist alle Verbindung mit ihr Täuschung«; Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente. Zweite Epoche. II. [1798–1801], in: KFSA, Bd. 18: Philosophische Lehrjahre, hrsg. von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien, Ferdinand Schöningh, 1963, 414, Nr. 1119: »Das Bewußtsein d[es] Unendlichen potenzirt giebt d[ie] Idee der Gottheit, die Idee aller Ideen«; Friedrich Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern [Köln 1804–1805], in: KFSA, Bd. 13: Philosophische Vorlesungen [1800–1807]. Zweiter Teil, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Jean-Jaques Anstett, München/Pader147

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ständnis nur dessen unbewusste Manifestation, die Gestalt gewordene Kontraktion der unendlichen Fülle des göttlichen Universums. 151 Unter Voraussetzung dieses Naturbegriffs und seines Verständnisses des Werdens lässt sich nun auch Schlegels Verständnis des L. in seiner Jenaer Transcendentalphilosophie erschließen: Demnach muss das L. ein Werden und Vergehen sein, welches einen inneren Widerstand bzw. einen inneren Gegensatz besitzt. Im Bereich der Natur nennt Schlegel diesen Widerstand »das böse Prinzip« und versteht darunter den sog. Mechanismus, weil in ihm Endlichkeit absolut gesetzt sei. 152 Was der Mechanismus in der außermenschlichen Natur bewirkt, genau dies bringt die kausale Naturnotwendigkeit im menschlichen L. hervor, welcher die Freiheit bzw. die Kausalität der Liebe entgegengesetzt sei. 153 Folglich muss zum L. nach Schlegel auch dieses »böse Prinzip« eines Widerstands gehören, das dafür verantwortlich ist, dass zum L. das Werden und Vergehen, d. h. seine Übergänglichkeit, gehört. Darin aber ist das L. im Allgemeinen (wie die Natur) als auch das individuelle menschliche L. im Besonderen ein Abbild der werdenden Gottheit, die daher ebenfalls einen Widerstand bzw. ein Gegensatzverhältnis in ihr selbst besitzen muss. 154

born/Wien, Ferdinand Schöningh, 1964, 14; zur Thematik »Gottheit und Werden« vgl. ausführlich Michael Elsässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding, mit einem Geleitwort hrsg. von Werner Beierwaltes, Hamburg, Felix Meiner, 1994, 65–91, insb. 89, Anm. 152: »Das Universum ist das eigentlich Göttliche.« 151 Vgl. Michael Elsässer, »Erläuterungen zu wesentlichen Gedanken und Begriffen des Textes«, in: Friedrich Schlegel, Transcendentalphilosophie, eingeleitet und mit Erläuterungen versehen von Michael Elsässer (Philosophische Bibliothek, Bd. 416), Hamburg, Felix Meiner, 1991, 107–125, hier 123: »Die wahre Gottheit ist das Universum, die Natur ist nicht mit diesem identisch. […] Natur ist demgegenüber der aktuale Vollzug der wahrnehmbaren, unbewußten Manifestation des göttlichen Universums, die individuierte Kontraktion von dessen unendlicher Fülle. Wenn Universum das unendliche strukturlose Reservoir von Anlässen für Produktionen der Phantasie ist, so ist dies die Natur in gestalthafter Weise.« 152 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 52: »Der Mechanismus ist allerdings das böse Prinzip in der Philosophie und der Realität. (Weil in dem Mechanismus Endlichkeit absolut gesetzt ist.)« 153 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 52–53. 154 Vgl. Schlegel, Transcendentalphilosophie, 53: »Wenn man die Urfakta [von Dualität und Identität] übersetzen will, so heißt es, die Gottheit kann nur im Werden gedacht werden«; Schlegel, Transcendentalphilosophie, 54: »Es liegt in dem Begriff Werden die Bedingung eines Wiederstandes – sonst würde die Gottheit seyn oder es würde nichts seyn.«

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In seinen späten Vorlesungen über eine »Philosophie des Lebens« von 1828, die sich als »angewandte Theologie« 155 versteht, verstärkt Schlegel den von ihm latent immer schon angenommenen Gegensatz zwischen der »Vernunftwissenschaft« der »reinen Philosophie« und dem wirklichen L., von dessen Fülle die Philosophie des L. auszugehen habe. 156 In Analogie zur Jenaer Transcendentalphilosophie führt sie die Fülle des wirklichen L. ursächlich auf Gott zurück, der das »höchste Leben und der Urquell alles andern Lebens« 157 sei. Deshalb nennt Schlegel die Philosophie des L. auch »wahre Gottes-Philosophie« 158. Den Wert ihres Wissens gewinne die Philosophie des L. jedoch erst in ihrer Anwendung auf das wirkliche, das praktische L. 159 Der Vollzugsmodus dieser Philosophie des L. aber ist für Schlegel das affirmative Urteil, d. h. die Bejahung, die das »lebendige Bewußtsein« als einen letztlich von Gott erleuchteten Akt vollziehe, der im Unterschied zum verneinenden Urteil die Positivität der Wirklichkeit treffe, weil diese L. sei. 160

Novalis: Das Leben als unbegreifliche Verbindung von Sein und Nicht-Sein In seinen frühen Fichte-Studien hat Novalis den »Begriff des Lebens« als das Mittelglied bzw. die Sphäre zwischen Sein und Nicht-Sein bzw. als das »Schweben« zwischen diesen beiden Polen bestimmt. 161 Elsässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding, 33. Hierzu (mit Belegstellen) vgl. Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 80. 157 Friedrich Schlegel, Philosophie des Lebens, in: KFSA, Bd. 10, hrsg. und eingeleitet von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien, Ferdinand Schöningh, 1969, 167. 158 Schlegel, Philosophie des Lebens, 167. 159 Vgl. Schlegel, Philosophie des Lebens, 226. 160 Vgl. Elsässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding, 127–128. Die Arbeit von Hennig Brinkmann, Die Idee des Lebens in der deutschen Romantik, Augsburg/Köln, Filser, 1926, übergeht Friedrich Schlegels Beitrag hierzu völlig. 161 Vgl. Novalis, Philosophische Studien 1795/96 (Fichte-Studien), in: Novalis, Bd. II: Das philosophisch-theoretische Werk, hrsg. von Hans-Joachim Mähl, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1999, 11: »Sollte es noch eine höhere Sfäre geben, so wäre es die zwischen Seyn und Nichtseyn – das Schweben zwischen beyden – Ein Unaussprechliches, und hier haben wir den Begriff von Leben. Leben kann nichts anders seyn – der Mensch stirbt – der Stoff bleibt – das Mittelglied, wenn ich so sagen darf, zwischen Stoff und Vernichtung ist weg – der Stoff wird bestimmungslos – Jedes eignet sich zu, was es kann.« 155 156

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Das L. sei daher »ein aus Synthese, These und Antithese Zusammengesetztes und doch keins von allen dreyen.« 162 Wichtig ist für Novalis dabei die Eigenschaft des Lebens, unbegreiflich und unaussprechlich zu sein. 163 Die Unbegreiflichkeit des L. dürfte sich nach Novalis auf das (menschliche) Herz als dessen »reiche Quelle« zurückführen lassen. 164 Grundsätzlich versteht Novalis das L. als einen »ununterbrochenen Strom«, dessen Anfang »antimechanisch« bzw. sich selbst bildend 165 sei, so dass das L. aus dem L. selbst hervorgehe. 166 Wie Friedrich Schlegel spricht Novalis auch von einer »Philosophie des Lebens«, welche »die Wissenschaft vom unabhängigen, selbstgemachten, in meiner Gewalt stehenden Leben« in sich enthalte und zur »Lebenskunstlehre« gehöre, d. h. zu dem »System der Vorschriften, sich ein solches Leben zu bereiten.« 167 Diese ›wahrste, anschaulichste Philosophie des Lebens‹ lehre einige Tugenden für das innere wie auch für das äußere L. wie etwa Bescheidenheit und Zurückgezogenheit in sich selbst. 168 Das menschliche L. ist nach Novalis »absolut und abhängig zugleich« und folglich teilweise auch »Glied eines Größern, gemeinschaftlichen Lebens« 169. Deshalb kann er auch sagen: »Unser ganzes Leben ist Gottesdienst.« 170

Novalis, Philosophische Studien 1795/96 (Fichte-Studien), 11. Vgl. Novalis, Philosophische Studien 1795/96 (Fichte-Studien), 11: »Hier bleibt die Filosofie stehn und muß stehn bleiben – denn darin besteht gerade das Leben, das [sic!] es nicht begriffen werden kann.« Zur Unaussprechlichkeit des L. vgl. Anm. 161. 164 Vgl. Novalis, Geistliche Lieder, in: Novalis, Band I: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hrsg. von Richard Samuel, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1999, 182: »Das Herz, des Lebens reiche Quelle, […].« 165 Vgl. Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798, in: Novalis, Band II, 363: »[…] der Künstler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen belebt«. 166 Vgl. Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798, 364– 365: »(Aller Anfang des Lebens muß antimechanisch – gewaltsamer Durchbruch – Opposition gegen den Mechanism seyn – Absolute Materie – primitives Element des Geistes = Seele). (Alles Leben ist ein ununterbrochener Strom – Leben kommt nur vom Leben und so fort. Höhere Erklärung des Lebens).« 167 Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798, 388. 168 Vgl. Novalis, Briefe von Novalis, in: Novalis, Band I, 531: »Stilles Zurücktreten in sich selbst, leise Abwägung der mancherlei Verhältnisse des menschlichen Lebens und eine Bescheidenheit, die man fast nicht zu weit treiben kann sowohl im innern als äußern Leben, sind einige der Hauptingredienzen der wahrsten, anschaulichsten Philosophie des Lebens […]«. 169 Vgl. Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798, 396: »Unser Leben ist absolut und abhängig zugleich. Wir sterben nur gewissermaaßen. 162 163

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Novalis hat sich für sein Verständnis des L. auch von Beobachtungen seiner zeitgenössischen Naturwissenschaften anregen lassen. Deshalb liegt für ihn »in der Materie selbst der Grund des Lebens« 171, das als »Kraftäußerung« das »Produkt entgegengesetzter Factoren« 172 und deshalb wie das Licht auch »der Erhöhung und Schwächung und der graduellen Negation fähig« 173 sei. Darüber hinaus versteht er das L. als ein »Menstruum universale«, d. h. als ein »allgemeines Bindemittel« 174, so dass es »unendlich viele Arten des Lebens« gebe; alles Organische sei ein Produkt des L.. 175 Im Hinblick auf die unabänderliche Sterblichkeit und Vergänglichkeit des L. bezeichnet Novalis das L. auch als den »Anfang des Todes« und als »um des Todes willen« da. Der Tod aber ist für ihn nicht nur Vernichter des L., sondern er führt zugleich auch zu neuem L. 176, denn nur im Himmel sei vollkommenes L. 177

4.

Arthur Schopenhauer: Das Leben als die sichtbare Erscheinung des Willens – der Wille zum Leben als das Wesen der Welt und seine Verneinung als Erlösung vom Leidenscharakter des Lebens

Karl Albert hat in seinem instruktiven Buch über die Geschichte der sog. Lebensphilosophie in der Moderne zu Recht darauf hingewiesen, dass Arthur Schopenhauer zu den Vorbereitern der modernen Lebensphilosophie gehört. 178 Albert behauptet sogar, dass das »Thema Unser Leben muß also zum Theil – Glied eines Größern, gemeinschaftlichen Lebens seyn.« 170 Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798, 398. 171 Vgl. Novalis, Fragmente und Studien 1799/1800, in: Novalis, Band II, 820: »In der Materie selbst liegt der Grund des Lebens – das Spiel des Triebs der Oxyd[ation] und der Desoxydation.« 172 Vgl. Novalis, Fragmente und Studien 1799/1800, 821: »Leben ist Kraftäußerung – mithin Produkt entgegengesetzter Factoren.« 173 Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798, 416. 174 Novalis, Das Allgemeine Brouillon 1798/1799, in: Novalis, Band II, 514. 175 Vgl. Novalis, Das Allgemeine Brouillon 1798/1799, 514–515. 176 Vgl. Novalis, Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, in: Novalis, Band II, 230: »Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich.- Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet.« 177 Hierzu vgl. Dierse/Rothe, Art. »Leben, V. 18. Jh. bis Gegenwart«, 80. 178 Vgl. Karl Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer

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des Lebens« »ganz im Zentrum des Schopenhauerschen Denkens« stehe. 179 Es ist die zentrale Bedeutung des Willens in Schopenhauers Denken, die Albert zu dieser Einschätzung geführt hat. Was aber versteht Schopenhauer unter dem Willen und in welchem Zusammenhang steht er mit dem L.? In seiner ersten Betrachtung der Welt als Wille im zweiten Buch seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung führt Schopenhauer den Willen als das Ding an sich bzw. als das Wesen der Welt und als die eigentliche Wirklichkeit sowie als grundlos und irrational und die gesamte anschauliche Welt als seine Erscheinung bzw. Objektivation ein. 180 Gegen Ende dieses zweiten Buches stellt er zunächst fest, dass jeder Wille ein konkretes Objekt und ein Ziel, d. h. ein Worumwillen, seines Wollens besitze. 181 An diese Feststellung des nicht nur intentionalen, sondern auch transzendentalen Charakters des Willens, der stets etwas um etwas anderen und schließlich um eines letzten Zieles willen will, schließt Schopenhauer die entscheidende Frage nach dem Worumwillen bzw. letzten Ziel jenes Willens an, den er zuvor als das Wesen der Welt behauptet hat. 182 Diese Frage beantwortet er in seiner ›zweiten Betrachtung der Welt als Wille‹ wie folgt: Der Wille, welcher rein an sich betrachtet, erkenntnislos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, […] erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntniß von seinem Kritik bei Lukács, neu hrsg. und mit einem Nachwort von Elenor Jain, Freiburg/München, Karl Alber, 2017, 25: »Bei Schopenhauer kommt, anders als bei Schlegel, der Begriff der Lebensphilosophie zwar nicht vor, aber bereits dadurch, daß Schopenhauer entscheidend auf Nietzsches Denken eingewirkt hat, gehört er in die Vorgeschichte der Lebensphilosophie. Sein Einfluß war sogar noch größer als der von Schlegel auf Diltheys Philosophie. So erscheint Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung mit seinen Grundbegriffen ›Wille‹ und ›Vorstellung‹ bei Nietzsche in seinen Begriffen des ›Dionysischen‹ und des ›Apollinischen‹.« 179 Vgl. Albert, Lebensphilosophie, 26. 180 Vgl. Arthur Schopenhauer, »Die Welt als Wille erste Betrachtung: Die Objektivationen des Willens«, in: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, in: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von Ludger Lütkehaus, Bd. 1, Zürich, Haffmanns Verlags, 1988, 143–230. 181 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille erste Betrachtung«, 227: »Jeder Wille ist Wille nach Etwas, hat ein Objekt, ein Ziel seines Wollens«. 182 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille erste Betrachtung«, 227: »[…] was will denn zuletzt, oder wonach strebt jener Wille, der uns als das Wesen an sich der Welt dargestellt wird?«.

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Wollen und von dem, was es sei, das er will, daß es nämlich nichts Anderes sei, als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht. Wir nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektivität: und da was der Wille will immer das Leben ist, eben weil dasselbe nichts weiter, als die Darstellung jenes Wollens für die Vorstellung ist, so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt schlechthin zu sagen, ›der Wille‹, sagen ›der Wille zum Leben‹. 183

Demnach ist der von Schopenhauer als ein metaphysisches Prinzip verstandene Wille, der das Wesen der Welt ausmacht, nichts Anderes als Wille zum L. Das L. selbst aber sei »die sichtbare Welt, die Erscheinung, aber nur der Spiegel des Willens« 184. Wie die Erscheinung unzertrennlich dem Ding an sich folgt, ebenso unzertrennlich folge das Leben dem Willen als dessen Erscheinung bzw. Spiegel. 185 Folglich sei dem Willen zum Leben »das Leben gewiß, und solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Daseyn nicht besorgt seyn, auch nicht beim Anblick des Todes.« 186 Schopenhauers ausdrücklich philosophische, d. h. in seinen Ideen, vollzogene Betrachtung des L. will zeigen, dass das L. mit seinen polaren zeitlichen Erscheinungsformen von Geburt und Tod nur zur Erscheinungswirklichkeit und nicht zum Wesen der Welt gehört, das sich als grundund vernunftloser Wille aber im bzw. richtiger als das L. objektivieren bzw. in Erscheinung treten müsse, weil es selbst nichts anderes als Wille zum L. sei. 187 Dementsprechend sei die Natur nichts anderes

183 Arthur Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung: Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben«, in: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 361–362. 184 Arthur Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 362. 185 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 362: »so wird diese (sc. die Erscheinung des Willens, d. h. das Leben) den Willen so unzertrennlich begleiten, wie den Körper sein Schatten: und wenn Wille da ist, wird auch Leben, Welt daseyn.« 186 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 362. 187 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 362: »aber wir wollen ja eben das Leben philosophisch, d. h. seinen Ideen nach betrachten, und da werden wir finden, daß weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, noch das Subjekt des Erkennens, der Zuschauer aller Erscheinungen, von Geburt und von Tod irgend berührt werden. Geburt und Tod gehören eben zur Erscheinung des Willens, also zum Leben, und es ist diesem wesentlich, sich in Individuen darzustellen, welche entstehen und vergehen, als flüchtige, in der Form der Zeit auftretende Erscheinungen Desjenigen, was an sich keine Zeit kennt, aber gerade auf die besagte Weise sich darstellen muß, um sein eigentliches Wesen zu objektiviren.«

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als »der objektivirte Wille zum Leben« 188. Zeugung und Tod als polare Wesenselemente des L. aber seien nur höher potenzierte Ausdrücke für den »steten Wechsel der Materie, unter dem festen Beharren der Form: und eben das ist die Vergänglichkeit der Individuen, bei der Unvergänglichkeit der Gattung.« 189 Dieses hermeneutische Schema von Materie und Form wendet Schopenhauer auch auf das L. an: Die Form des L. als der Erscheinung des Willens bzw. der eigentlichen Realität sei nur die Gegenwart, nicht jedoch Vergangenheit und Zukunft. 190 Seine Begründung dafür mutet zunächst abenteuerlich an: In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. Die Gegenwart ist immer da, samt ihrem Inhalt. Beide stehen fest, ohne zu wanken […]. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiß. 191

Schopenhauer begründet diese erstaunliche These damit, dass nur die Gegenwart der »Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt« als dem Korrelat des Objekts sei, welches nicht der Zeit unterworfen sei. Reale Objekte aber seien nichts anderes als Vorstellungen gewordener Wille, die es nur in der Gegenwart geben könne. 192 Daher sei die Gegenwart »die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. Die Gegenwart allein ist Das, was immer da ist und unverrückbar feststeht.« 193 Genauer betrachtet, versteht Schopenhauer diese Gegenwart allerdings als das »Nunc stans der Scholastiker« bzw. als »die ausdehnungslose Gegenwart« 194, mithin als zeitfreie und nicht als zeitliche Gegenwart. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 364. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 364. 190 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 365: »Vor Allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft noch Vergangenheit«. 191 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 366. 192 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 366–367: »In Wahrheit aber macht […] nur der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, welches keine Gestaltung des Satzes vom Grunde zur Form hat, die Gegenwart aus. Nun ist aber alles Objekt der Wille, sofern er Vorstellung geworden, und das Subjekt ist das nothwendige Korrelat des Objekts; reale Objekte giebt es aber nur in der Gegenwart.« 193 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 367. 194 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 367. 188 189

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Deshalb kann er den transempirischen bzw. präexistenten und außerweltlichen Willen zum L. als »die Quelle« und als »Träger ihres Inhalts« 195 bezeichnen. »Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart gewiß.« 196 Doch was bedeutet es genau, dass diese streng genommen nicht übergängliche Gegenwart »die einzige Form des wirklichen Lebens« bzw. »die einzige Form, in welcher der Wille sich erscheint« 197, sein soll? Schopenhauer zieht aus seiner Formbestimmung des L. durch die zeitfreie Gegenwart die Konsequenz, dass das L. endlos und die Todesfurcht daher gegenstandslos sein müsse. Die Gegenwart, welche »als ausdehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet«, stehe »unverrückbar fest […] gleich einem immerwährenden Mittag« 198. Weil die immerwährende Gegenwart die Form des L. sei, deshalb sei das L. selbst endlos. Folglich sei sowohl die Todesfurcht gegenstandslos als auch die Annahme unzutreffend, sich durch einen selbst gewählten Freitod vom L. befreien zu können. 199 Während gleichsam die Materie des L. die beständige Sukzession der Individuen sei, »die in der Zeit entstehen und vergehen« 200, sei die Form des L. »Gegenwart ohne Ende« 201, so dass das L. selbst endlos sei. Während das individuelle L. jedes einzelnen Lebewesens flüchtig und vergänglich sei, sei das L. selbst jedoch unaufhörlich und unvergänglich, weil es die Form der Gegenwart besitze. Diese Überzeugung folgt genau besehen bereits aus Schopenhauers Annahme, dass »dem Willen zum Leben das Leben immer gewiß ist« 202. Denn der Wille zum L. ist nach Schopenhauer als das Ding an sich zeitlos, folglich muss auch das L. selbst endlos und unvergänglich sein. 203 Gleichsam intuitiv sei diese Gewissheit der Unvergänglichkeit des L. den Menschen eigen, weil diese sich entweder so verhalten würden, als gebe es den Tod für sie nicht, d. h. den Tod ignorierten, oder fest an eine Fortdauer nach dem Tod glauben wür-

Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 367. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 367. 197 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 368. 198 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 368. 199 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 368–369. 200 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 369. 201 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 369. 202 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 370. 203 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 371: »Denn zwar ist Jeder nur als Erscheinung vergänglich, hingegen als Ding an sich zeitlos, also auch endlos«. 195 196

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den. 204 Wenn aber der Tod auf das Individuum zukommt, dann fürchte das Individuum meist seinen Untergang, weil sich sein ganzes Wesen als eine einzelne Objektivation des Willens zum L. gegen den Tod sträube. 205 Auf einem höheren Reflexionsstandpunkt jedoch verliere der Tod seinen Schrecken für den Einzelnen, weil er wisse, »daß ja er selbst jener Wille ist, dessen Objektivation oder Abbild die ganze Welt ist, dem daher das Leben allezeit gewiß bleibt und auch die Gegenwart, die eigentliche, alleinige Form der Erscheinung des Willens« 206. Dieser »Standpunkt der gänzlichen bejahung des Willens zum Leben« 207 bejahe nun aus Einsicht und Erkenntnis dasjenige, was er zuvor »ohne Erkenntnis, als blinder Drang« 208, gewollt habe, nämlich das L. als Erscheinung des Willens zum L. Aus der Erkenntnis, in seiner Individualität und damit in seiner je eigenen weltlichen Existenz nichts anderes als eine einzelne Erscheinung des Willens zum L. zu sein, kann und sollte nach Schopenhauer sich jedoch ein anderer Wille im Individuum entfalten, nämlich »die verneinung des Willens zum Leben« 209. In ihr werde die »Erkenntniß des Wesens der Welt, die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens« 210, so dass der Wille sich selbst aus eigener freier Selbstbestimmung aufhebe, indem er die Tätigkeit seiner Selbstbewegung einstellt. Doch warum sollte der Mensch den ihm gleichsam natürlichen Willen zum L. verneinen? Schopenhauer fasst den Willen in allen seinen weltlichen Erscheinungsweisen als ein unaufhörliches und unvollendbares Streben auf, das von keinem (innerweltlichen) Ziel und Zweck erfüllt werden könne. 211 Das Ziel des Willens definiert er als erreichtes mit den TerVgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 370–372. Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 372: »was wir im Tode fürchten, ist in der Tat der Untergang des Individuums, als welcher er sich unverhohlen kund giebt, und da das Individuum der Wille zum Leben selbst in einer einzelnen Objektivation ist, sträubt sich sein ganzes Wesen gegen den Tod.« 206 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 373. 207 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 374. 208 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 374. 209 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 374. 210 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 374. 211 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 403–403: »[…] wie der Wille, auf allen Stufen seiner Erscheinung, von den niedrigsten bis zur höchsten, eines letzten Zieles und Zweckes ganz entbehrt, immer strebt, weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende macht, das daher keiner endlichen Befriedigung fähig ist, sondern nur durch Hemmung aufgehalten werden 204 205

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mini »befriedigung, Wohlsein, Glück« 212. Die Hemmung des Willens durch ein Hindernis, »welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt« 213, bezeichnet er ausdrücklich als Leiden. Das wirkliche L. in dieser Welt ist nach Schopenhauers auch buddhistisch inspirierter Überzeugung in stetem Leiden begriffen und ohne bleibendes Glück. Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß und Ziel des Leidens. 214

Daher sei »wesentlich alles Leben Leiden« 215. Dem weltlichen L. seien daher »Mangel, Noth, Sorge um die Erhaltung des Lebens« sowie der Schmerz unabänderlich zu eigen. 216 Das Leiden sei dem L. wesentlich und ströme daher nicht primär von außen auf uns Menschen ein, sondern jeder trage »die unversiegbare Quelle desselben [sc. des Leidens] in seinem eigenen Innern« 217. Dies gelte aber nicht nur im großen Maßstab, sondern auch im kleinen Maßstab, d. h. für das L. jedes Einzelnen, das Schopenhauer als ein Trauerspiel bezeichnet 218 und das bereits auf Grund seiner Konkurrenz- und Kampfsituation mit allen anderen Individuen vom Leiden bestimmt sei. 219

kann, an sich aber ins Unendliche geht.« Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 403–404: »Wir haben längst dieses den Kern und das Ansich jedes Dinges ausmachende Streben als das selbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es sich am deutlichsten, am Lichte des vollesten Bewußtseyns manifestirt, wille heißt.« 212 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 404. 213 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 404. 214 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 404. 215 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 405. 216 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 410, 414. 217 Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 410, 415. 218 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 419: »Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel. […] Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und Tode am Schlusse, geben immer ein Trauerspiel.« 219 Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 433.

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Während die Bejahung des Willens zum L. mit der Bejahung des eigenen Leibes und seiner Erhaltung sowie meist auch mit der Betätigung des Geschlechtstriebes zur Weitergabe des L. und damit zum Erhalt der eigenen Gattung im Bereich der Lebewesen verbunden sei, folge die Verneinung des Willens zum L. der Erkenntnis, dass alles L. »in einem steten Vergehen, nichtigem Streben, innerm Widerstreit und beständigem Leiden begriffen« 220 sei: »Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit.« 221 Aus dieser intuitiven Erkenntnis des Wesens des L. als Leiden gehe die Verneinung des Willens zum L. hervor, 222 in der Schopenhauer »das innere Wesen der Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis« 223 sieht. Diese Praxis der Verneinung des Willens zum L. ist für Schopenhauer der Inbegriff der Erlösung des Menschen vom Leiden. 224 Zugleich sei der menschliche Wille erst und nur in seiner Verneinung des Willens zum L. vollkommen frei, weil er dann nicht mehr den Charakter einer Wahlentscheidung besitze, die von vorgegebenen Alternativen in der Erscheinungswirklichkeit abhängig ist. 225 Diese Verneinung des Willens als die »einzige unmittelbare Äußerung der freiheit des Willens« sei eine gnadengewirkte Wiedergeburt des Menschen, denn die »Freiheit ist das Reich der Gnade.« 226

5.

Friedrich Nietzsche: Das Leben als der Kreislauf des Werdens und Vergehens und der gewaltsame Wille zur Macht als sein Prinzip

Genau genommen müsste nach Schlegel, Novalis und Schopenhauer auch noch ein weiterer Vorbereiter der sog. Lebensphilosophie in diesem Zusammenhang behandelt werden, und zwar der ›französische 220 221 222 223 224 225 226

Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 488. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 488–489. Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 492–493. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 493. Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 504–505. Vgl. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 519. Schopenhauer, »Die Welt als Wille zweite Betrachtung«, 519.

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Nietzsche‹, wie man ihn häufig bezeichnet hat, nämlich Jean-Marie Guyau (1854–1888). Aus Umfangsgründen kann dies hier jedoch nicht geschehen. Stattdessen sei an dieser Stelle auf die diesbezügliche Untersuchung von Karl Albert verwiesen. 227 Zu den eigentlichen Begründern der ›Lebensphilosophie‹ zählt Albert im Anschluss an Max Scheler das Dreigestirn Friedrich Nietzsche (1844–1900), Wilhelm Dilthey (1833–1911) und Henri-Louis Bergson (1859– 1941). 228 Von diesen drei Autoren können wir hier ebenfalls aus Umfangsgründen nur das Verständnis des L. bei Friedrich Nietzsche und bei Wilhelm Dilthey eigens behandeln und müssen für Bergson abermals auf die vorbildliche Monographie von Karl Albert zur Geschichte der Lebensphilosophie von ihren Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács verweisen. 229 In seiner unter dem deutlichen Einfluss der Philosophie Schopenhauers stehenden Frühschrift Die Geburt der Tragödie lässt Friedrich Nietzsche das in seinem Denken nahezu leitmotivische Thema des L. bereits anklingen, wenn er von dem ›metaphysischen Trost‹ spricht, den die wahre Tragödie in Gestalt des Satyrchores spende, und der darin bestehe, »dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei […].« 230 Mit dem Chor tröste sich der von der Verneinung des Willens zum L. gefährdete Hellene, so dass er von der Kunst und durch die Kunst hindurch vom L. selbst gerettet werde. 231 In Bezug auf die Vernichtung des tragischen Helden spricht Nietzsche im Gefolge Schopenhauers von der Verneinung der höchsten Erscheinung Vgl. Albert, Lebensphilosophie, 31–38; in diesem Kapitel hat Albert gezeigt, dass für Jean-Marie Guyau das L. die Grundlage der Sozialität und damit auch ihrer Erscheinungsformen der Moral, der Religion, der Kunst, der Erziehung und der Metaphysik und dass das Ziel des L. die »Steigerung seiner Intensität und Extensität« (Albert, Lebensphilosophie, 32) ist. 228 Vgl. Albert, Lebensphilosophie, 39. 229 Zu Wilhelm Dilthey vgl. Karl Albert, Lebensphilosophie, 57–70; 230 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe (im Folgenden KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München, Walter de Gruyter, 1999, 56; zur Bedeutung des ›metaphysischen Trostes‹ vgl. Albert, Lebensphilosophie, 55–56: »Dieser Trost besteht in der Erkenntnis des einen Seinsgrundes in seiner Unvergänglichkeit gegenüber der Vergänglichkeit des einen Seienden in seiner Einzelhaftigkeit und Vielheit.« In Bezug auf das L. spricht Nietzsche in Die Geburt der Tragödie auch von dem »eine[n] Lebendigen, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 109). 231 Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 56. 227

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des ewigen L. des Willens, das von dieser Vernichtung nicht berührt werde. 232 Bei Schopenhauer ist dieser allem Wirklichen wesenhaft innewohnende Wille, wie wir sahen, der Wille zum L., bei Nietzsche ist er, wie wir noch sehen werden, der Wille zur Macht. Friedrich Nietzsche hat den Begriff des L. erstmals zentral in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen thematisiert, die den Titel trägt: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In dieser Betrachtung wendet sich Nietzsche gegen den Historismus seiner Zeit, indem er einen Gegensatz zwischen der gelehrten Geschichtswissenschaft und dem L. konstruiert: Das historische Phänomen als ein von der Geschichtswissenschaft erkanntes Phänomen habe seine geschichtliche Macht und Lebendigkeit für den Historiker verloren, weil die reine Geschichtswissenschaft »eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit« 233 sei. Stattdessen solle die Historie »zum Zwecke des Lebens« 234 betrieben werden. Denn die »historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt.« 235 Im Dienste des L. als einer »unhistorischen Macht« könne und solle die Historie niemals reine Wissenschaft werden. 236 Auch wenn ein Übermaß der Historie dem L. schade, bedürfe doch das L. der Historie, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens bedürfe das »thätige und strebende« L. der Historie, insofern es aus der Vergangenheit »Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag.« 237 Das »bewahrende und verehrende« L. aber bedürfe einer antiquarischen Historie, sofern es das alte Bestehende mit behutsamer Hand pflegen und für seine Nachkommen bewahren wolle. 238 Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 108. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 1, in: Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II, in: KSA, Bd. I, 257. 234 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 1, 257. 235 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 1, 257. 236 Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 1, 257. 237 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 2, 258. 238 Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 3, 265: »Die Geschichte gehört also zweitens dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist; durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein ab. Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er 232 233

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Schließlich diene die kritische Historie dem »leidenden und der Befreiung bedürftigen« L., insofern sie die Vergangenheit be- und verurteile, über sie im Auftrag und Namen des L. gleichsam zu Gericht sitze, 239 wobei die Recht sprechende Instanz nicht die Gerechtigkeit noch die Gnade, sondern alleine das L. sei, »jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.« 240 Diese Macht aber sei ungerecht, weil sie nicht aus einer Erkenntnis hervorgegangen sei. 241 So bedürfe das L. der Historie in dieser dreifachen Hinsicht, aber nicht mit dem Ziel der Erkenntnis, »sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Zweckes.« 242 Denn dem Erkennen gehe das L. voraus, nicht umgekehrt. 243 Der Jugend empfiehlt Nietzsche in dieser Schrift daher eine »Gesundheitslehre des Lebens« 244, deren Grundsatz laute: »das Unhistorische und das Ueberhistorische sind die natürlichen Gegenmittel gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit.« 245 Doch was genau versteht Nietzsche unter dem Begriff des L.? Im Kapitel Von der Selbst-Ueberwindung in seinem von ihm noch zu Lebzeiten veröffentlichten Werk Also sprach Zarathustra setzt Nietzsche den »unerschöpfte[n], zeugende[n] Lebenswillen« mit dem Willen zur Macht gleich. 246 Im Herz alles Lebendigen befinde entstanden ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen – und so dient er dem Leben.« 239 Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 3, 269. 240 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 3, 269. 241 Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 3, 269: »Sein [sc. des L.] Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der Erkenntniss geflossen ist […].« 242 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 4, 271. 243 Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 10, 331: »Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eigenen Fortexistenz hat.« 244 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 10, 331. 245 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 10, 331; hierzu vgl. auch Albert, Lebensphilosophie, 46: »Aber Nietzsche setzt seine Hoffnung auf die Jugend, in deren Namen er gegen die historische Jugenderziehung protestiert und in deren Namen er fordert, dass der Mensch vor allem zu leben lerne und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche‹.« (Zitat aus Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie 10, 325). 246 Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KSA, Bd. 4, 147: »Nicht der Fluss ist eure Gefahr und das Ende Eures Guten und Bösen, ihr Weisesten: sondern jener Wille selber, der Wille zur Macht, – der unerschöpfte, zeugende Lebenswille.«

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sich der Wille zur Macht, 247 der wolle, dass das Schwächere dem Stärkeren diene. 248 Der »Lebens-Wille« ist für Nietzsche paradoxerweise kein Wille zum L. im Sinne eines Willens zum Dasein und dessen Selbsterhalt, sondern nichts anderes als der Wille zur Macht. 249 Nach Nietzsche ist also das L. in allem Lebendigen wesenhaft ein willentliches Streben nach Mächtig-Sein, nach Macht über andere und anderes. Inwiefern kann dann aber alles Lebendige zugleich auch »ein Gehorchendes« sein, wie Nietzsche in diesem Kapitel Von der SelbstUeberwindung paradoxerweise behauptet? 250 Darauf antwortet Alexander Hogh in seiner Dissertation über Nietzsches Lebensbegriff treffend: »›Alles Lebendige ist ein Gehorchendes‹, denn prinzipiell ist jedes Individuum dem Machtwillen unterworfen; es ist nicht möglich, sich dem beständigen Prozeß dieses Willens zu entziehen.« 251 Demnach scheint es so, als ob nach Nietzsche alles Lebendige diesem Willen zur Macht gehorchen müsse, der in ihm als dessen innerstes Wesen tätig und wirksam ist. Wie kann es dann aber sein, dass allem Lebendigen, das sich nicht selber gehorchen könne, befohlen werde, wie Nietzsche hinzufügt? 252 Es muss also doch möglich sein, dass sich das Lebendige dem ihm innerlichen Willen zur Macht verweigert, so dass dieser doch nicht gleichsam allmächtig und damit unwiderstehlich ist. In diesem Fall widerfahre dem Lebendigen das unweigerliche Schicksal, »von einem anderen Willen zur Macht unterworfen« 253 zu 247 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 147–148: »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.« 248 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 148: »Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen.« 249 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 148–149: »›Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ›Willen zum Dasein‹ : diesen Willen – giebt es nicht! ›Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! ›Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht! ›Vieles ist dem Leben höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht!‹«. 250 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 147: »Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes.« 251 Alexander Hogh, Nietzsches Lebensbegriff. Versuch einer Rekonstruktion, Stuttgart/Weimar, Metzler, 2000, 38. 252 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 147: »Und diess ist das Zweite: Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art.« 253 Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 38.

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werden und diesem anderen Willen zur Macht gehorchen zu müssen. Und schließlich fügt Nietzsches Zarathustra noch ein drittes Paradoxon hinzu, dass nämlich das Befehlen, d. h. die Ausübung der Macht des Stärkeren über das Schwächere, schwerer sei als das Gehorchen. 254 Diese Aussage wird nur verständlich, wenn man Nietzsches ausdrückliche Überzeugung berücksichtigt, dass das L. sich selbst stets überwinden müsse. 255 Denn dann muss auch der Akt des Befehlens eine Selbstüberwindung und damit schwerer sein als das bloße Gehorchen. Aber inwiefern soll die beständige Selbstüberwindung zum L. gehören? Selbstüberwindung kann nur dann »die Entwicklungsform des L. überhaupt« 256 sein, wenn das L. eine beständige Höherentwicklung, eine unaufhörliche Steigerung des Selbst, ein willentliches Streben nach immer mehr Macht bedeutet. Genau das lehrt Nietzsches Zarathustra: In die Höhe will es [sc. das Leben] sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten, – darum braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden. 257

Mit anderen Worten: Das L. ist nach Nietzsche nichts anderes als die sich selbst transzendierende Bewegung des Willens zur Macht, die in der Auseinandersetzung mit und der Bekämpfung von Widerständen auch gegen die eigene Trägheit und Schwerkraft permanent ankämpfen und sich insofern beständig selbst überwinden muss. 258 Das L. ist demnach nicht nur ein beständiger Kampf gegen äußere, sondern auch gegen innere Widerstände. Weil daher zum L. wesenhaft die

254 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 147: »Dieses aber ist das Dritte, was ich hörte: dass Befehlen schwerer ist als Gehorchen. Und nicht nur, dass der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und dass leicht ihn diese Last zerdrückt: -«. 255 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 148: »Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. ›Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.« 256 Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 39. 257 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 130. 258 Vgl. hierzu auch Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 39: »Die Überwindung als notwendige Bedingung der Höherentwicklung ist an einen Widerstand geknüpft. Jeder Widerstand stellt ein fruchtbares Element des Lebens dar, denn er fordert eine spontane Reaktion. Diese kann über den Widerstand hinausführen, indem sie ihm eine eigene Form aufprägt. In der Überwindung manifestiert sich das Übergewicht des Machtwillens gegenüber allen anderen Lebensinteressen.«

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Selbststeigerung und damit auch Selbstüberwindung gehört, ist für Nietzsche auch der Mensch »etwas, das überwunden werden muss« 259, und zwar zum Übermenschen hin. Dieser höhere Zweck, dem sich das L. opfere, sei daher die Macht bzw. die Vergrößerung der Macht. 260 Schon alleine deswegen ist das L. für Nietzsche immer auch ein Leiden, eignet dem L. der Charakter des Leidens, wie Nietzsche im Gefolge der Lehre Schopenhauers annimmt. 261 Dieser Leidenscharakter des L. kontrastiert bei Nietzsche allerdings mit dessen Überzeugung, dass das L. »ein Born der Lust« 262 sei; doch es fragt sich, von welcher Lust ist das L. »ein Born«? Es muss die Lust an der Machtergreifung und Machtausübung, der Beherrschung, der Unterdrückung und Ausbeutung des Fremden und Schwächeren sein, denn das L. ist der Wille zur Macht und folglich gilt für Nietzsche, was er in Jenseits von Gut und Böse sagt: »Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung« 263. Als der Verkünder der ewigen Wiederkunft genau dieses gleichen und selbigen L. als des Willens zur Macht wird Zarathustra von Nietzsche stilisiert. 264 In dem berühmten Nachtwandler-Lied gegen Ende des vierten und letzten Buches von Also sprach Zarathustra lässt Nietzsche seinen Zarathustra das verzückte, dionysische Ja-Sagen zu diesem L. in seiner Ganzheit lehren: »Es lohnt sich, auf der 259 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 249: »schone deinen Nächsten nicht! Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.« Vgl. auch Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 248: »[…] und dass der Mensch etwas sei, das überwunden werden müsse […]«. 260 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 148: »Und wie das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran.« Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 148: »[…] und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht!« 261 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 199: »so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.« 262 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 258. 263 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: KSA, Bd. 5, 207; vgl. hierzu auch Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 253: »Ist in allem Leben selber nicht – Rauben und Todtschlagen?«. 264 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 276: »Ich komme wieder […] nicht zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre […].«

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Erde zu leben: Ein Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich die Erde zu lieben. ›War Das – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan! Noch Ein Mal!‹« 265 Doch worin besteht der besondere Charakter dieses »dionysischen« Ja-Sagens zu diesem L.? Und was meint Nietzsche hier genauer mit »diesem Leben«? Auf beide Fragen antworten zwei Nachlassfragmente Nietzsches aus dem Jahre 1888, die deshalb hier zunächst zitiert seien: Mit dem Wort ›dionysisch‹ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens, das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes Ja-Sagen zum Gesamtcharakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Errungenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens […]. 266 Sie [sc. die Experimental-Philosophie, die Nietzsche lebt] will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati … 267

Es ist der gleichsam ewige Kreislauf des Werdens und Vergehens, der Zeugung, der Fruchtbarkeit, des Schaffens und des Vernichtens bzw. Zugrundegehens, den Nietzsche in diesen Texten als das L. und dieses als das Beständige in allem Wandel hymnisch feiert bzw. dionysisch beschwört. Diesem Kreislauf des L. schreibt er eine einzigartige Mächtigkeit und Seligkeit zu, und zwar einschließlich seiner von ihm nicht geleugneten Abgründe und Schrecknisse. Sein dionysischverzücktes Ja-Sagen zu diesem irdischen L., zu dieser leiblichen Welt kommt einer Apotheose der scheinbaren Unvergänglichkeit des Vergänglichen gleich, die jedoch dessen fallende Linie im Einzelnen wie

Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 396. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888 14 [13], in: KSA, Bd. 13, 224. 267 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Frühjahr Sommer 1888 16 [32], in: KSA, Bd. 13, 492. 265 266

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im Ganzen nicht aufzuhalten vermag und deshalb tragisch enden muss. Dem L. als dem Willen zur Macht eignet bei Nietzsche »eine elementare Gewaltsamkeit« 268. Diesen gewaltsamen Charakter des L. veranschaulicht Nietzsche auch an den von ihm so genannten »Grundfunktionen« des L.: […] insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverän und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt […], wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. 269

Demnach charakterisiert Nietzsche sein Verständnis des L. als »biologisch«, und zwar de facto im gleichsam sozialdarwinistischen Sinne dieses Wortes, d. h. als einen gewaltsamen Kampf jedes einzelnen Willens zur Macht gegen jeden anderen Willen zur Macht um die Herrschaft bzw. die größtmögliche Macht. 270 Dieses Grundverständnis des L. wird in den umfangreichen Nachlassschriften Nietzsches noch vertieft, so etwa in den folgenden Zitaten: Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 41. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA, Bd. 5, 313. 270 Zur chaotischen Konstellation des L. als eines permanenten Werdens und Vergehens verschiedener Kraftfelder bzw. Machtquanten, die in einem beständigen Kampf miteinander liegen, bei Nietzsche vgl. Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 42– 45, insb. 44–45: »Die Formel Wille zur Macht, ›das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen‹ (11: 661) soll damit dreierlei zum Ausdruck bringen: Erstens besitzt jedes Machtquantum eine Art lebendigen Impetus, insofern es sich behaupten und erweitern will. Zweitens handelt es sich in allen Kraftverhältnissen um einen Kampf, dessen Ausgang immer ungewiss bleibt. Von Gesetz und Ordnung, Sinn und Zweck kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Der ursprüngliche Prozeß des Aufeinandertreffens von Kräften vollzieht sich vielmehr chaotisch. Drittens wird als Motiv jeder Kraft die Herrschaft über andere Kräfte unterstellt, die sich in Befehl und Gehorsam manifestiert. Nur unter Berücksichtigung der Faktoren Strebung, Kampf und Herrschaft ist es für Nietzsche erklärbar, warum es überhaupt Bewegung und Veränderung gibt.« 268 269

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[…] das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr ›Äußeres‹ sich unterwirft und einverleibt. 271 Leben wäre zu definiren als eine dauernde Form von Prozeß der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen. In wie fern auch im Gehorchen ein Widerstreben liegt; es ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben. Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst. ›Gehorchen‹ und ›Befehlen‹ sind Formen des Kampfspiels. 272 Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang, heißen wir ›Leben‹. Zu diesem Ernährungs-Vorgang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles sogenannte Fühlen, Vorstellen, Denken, d. h. 1) ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte 2) ein Zurechtmachen derselben nach Gestalten und Rhythmen 3) ein Abschätzen in Bezug auf Einverleibung oder Abscheidung. 273

Diese Zitate aus den Nachlassfragmenten Nietzsches zeigen, dass Friedrich Nietzsche das L. nicht im Sinne der Evolutionstheorie Darwins als Anpassung innerer Bedingungen an äußere Bedingungen, sondern als den Prozess eines Kampfes zwischen unterschiedlichen Kraftzentren versteht, die ihre jeweilige Kraft im Kampf miteinander erproben, weil sie nach Macht über einander streben. Dieses »Kampfspiel« des L. ist von dem Willen zur Macht bewegt, 274 der sowohl das organische L. als auch alles Anorganische beherrschen soll. 275 Schließlich soll wenigstens kurz die Frage behandelt werden, ob sich Nietzsche selbst als einen »Philosoph des Lebens« und sein Denken als »Philosophie des Lebens« verstanden hat. In diesem Zusammenhang wird in der Forschung immer wieder eine Stelle aus einem 271 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Ende 1886 – Frühjahr 1887 7 [9]: Prinzip des Lebens: »Rangordnung«, in: KSA, Bd. 12, 295. 272 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Juni–Juli 1885 36 [22], in: KSA, Bd. 11, 560. 273 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Winter 1883–1884 24 [14], in: KSA, Bd. 10, 650–651. 274 Auf Nietzsches Unterscheidung des Organischen durch seinen Willen zum Schein, d. h. durch seine Fähigkeit zur Täuschung (als der spezifisch lebendigen Erscheinungsform des Willens zur Macht), vom Anorganischen kann in diesem Zusammenhang ebensowenig eingegangen werden wie auf den Leib als die primäre Manifestationsform des L., vgl. zu beiden Themenkomplexen Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 51–65 (der Wille zum Schein), 80–113 (zum Leib als primärer Manifestationsform des L.). 275 Vgl. ausführlich Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 42–52.

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Brief Nietzsches an Mathilde Mayer, eine Freundin Richard Wagners, vom 15. 07. 1878 zitiert, an der Nietzsche zwar sein Vorhaben, ein »Philosoph des Lebens« werden zu wollen, beschreibt, sich selbst aber von diesem selbst gesteckten und schwer zu erreichenden Ziel noch weit entfernt sieht. 276 Dass Nietzsche eine dionysische Form der Lebensbejahung literarisch inszeniert, die er in seiner eigenen Lebensführung auch nicht annähernd verwirklichen konnte, hat Josef Maria Werle höchst plausibel gemacht. 277 Zusammenfassend betrachtet, ist für Friedrich Nietzsche das L. mit seiner kreislaufförmigen Wiederkehr des immer gleichen Werdens und Vergehens als seiner gleichsam zeitlichen Ewigkeit von dem gewaltsamen Willen zur Macht bestimmt, der als ein quasi-metaphysisches Prinzip alles Lebendige und alles Materielle überhaupt beherrscht.

6.

Wilhelm Dilthey: Das geschichtliche Leben des Menschen und dessen Erleben und Verstehen als universaler Zusammenhang zwischenmenschlicher Wechselwirkungen

Für Wilhelm Dilthey bildet das vom menschlichen Subjekt erfahrene, ihm innerlich bekannte, das erlebte L. die Grundstruktur der Wirklichkeit, die er zum Ausgangspunkt seiner Philosophie macht. 278 Nach Dilthey besitzt das L. eine »unergründliche Tiefe« bzw. einen »unergründlichen Zusammenhang« 279, den die Philosophie soweit 276 Zu dieser Briefstelle und ihrer Auslegung sowie zum Gesamtverständnis dieses Vorhabens Nietzsches als das Projekt »Philosoph des Lebens« vgl. Josef Maria Werle, Nietzsches Projekt »Philosoph des Lebens« (Trierer Studien zur Kulturphilosophie, Bd. 9), Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, 30–35. 277 Vgl. Werle, Nietzsches Projekt »Philosoph des Lebens«, 175–184. 278 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 21958, 359: »Leben ist nun die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte; es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden.« 279 Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt, Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 4. Aufl., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1964, Vorbericht des Herausgebers (Georg Misch), LIV.

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wie möglich sichtbar machen und zum Bewusstsein bringen wolle. Die traditionelle Metaphysik des Seins und des Geistes hält Dilthey für gescheitert, weil sie dem L. als der »Grundtatsache« bzw. dem Urelement der Wirklichkeit nicht gerecht werde; an ihre Stelle setzt Dilthey eine neue »Metaphysik der inneren Erfahrung, eine Metaphysik der Erfahrung des L., wie es sich der Innerlichkeit, dem Bewusstsein zeigt.« 280 Was sich dem erlebenden Subjekt und seiner inneren Erfahrung zeigt, ist nach Dilthey aber nicht primär, wie später bei Husserl, der Erlebnisstrom des reflektierenden Bewusstseins, sondern das gleichsam objektive, das über das einzelne Erlebnissubjekt und dessen persönliches, subjektives Erleben hinausgehende L., von dem gemäß seinem bekannten Diktum: »Leben ist ein Teil des Lebens überhaupt« 281 das subjektive L. und Erleben jedes Einzelnen ein Teil sein soll. Doch was genau versteht Dilthey unter dem »Leben überhaupt«? In den Zusätzen zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften kommt Dilthey auf die »Kategorien des Lebens« zu sprechen und definiert das L. wie folgt: Leben ist der Zusammenhang der unter den Bedingungen der äußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen, aufgefasst in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den wechselnden Zeiten und Orten. Ich gebrauche den Ausdruck Leben in den Geisteswissenschaften in der Einschränkung auf die Menschenwelt; […]. Das Leben besteht in der Wechselwirkung der Lebenseinheiten. 282

Diltheys rein geisteswissenschaftliche Definition des L. bestimmt das L. demnach als einen universalen Zusammenhang zwischenmenschlicher Wechselwirkungen, der von bestimmten Zeiten und Orten unabhängig ist. Mit anderen Worten: Dilthey versteht unter dem L. die Objektivität des menschlichen Geistes und seiner Kultur »in ihren verschiedenen Bereichen: Philosophie, Kunst, Religion, Gesellschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw., kurz: ›die Menschenwelt‹« 283. Diese verschiedenen Bereiche der menschlichen Kultur fasst Dilthey auch mit dem Begriff der »Objektivationen des Lebens« 284 zusammen. DieAlbert, Lebensphilosophie, 61. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 359. 282 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 228. 283 Albert, Lebensphilosophie, 65. 284 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 146–152. 280 281

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se aber besäßen einen ausnahmslos geschichtlichen Charakter, weil das L. selbst ganz und gar geschichtlich bestimmt sei. 285 Die Geschichtlichkeit des L. gründet nach Dilthey in dessen Zeitlichkeit, die er als die grundlegende kategoriale Bestimmung des L. versteht. 286 Denn die Erfahrung der Zeit bestimme den Gehalt unseres L., 287 insofern das Erleben den jeweiligen geschichtlichen Augenblick und damit die Gegenwart des L. aktiv wahrnehme und die unabänderliche Vergangenheit eines Lebenslaufs angemessen nur gleichsam passiv verstanden werden könne. Damit ist bereits jene Erkenntnismethode angesprochen, mit der nach Dilthey das universale, geschichtliche L. erfasst werde, die des Verstehens. Das Verstehen aber begreift er als jene Erkenntnisweise, welche den ursprünglich gegebenen Zusammenhang des Seelenlebens und seine »gleichförmig auftretenden Bestandteile« 288 zu erfassen vermag. Denn das »Leben ist die Fülle, die Mannigfaltigkeit, die Wechselwirkung des in alledem Gleichförmigen, was diese Individuen erleben. Es ist seinem Stoffe nach eins mit der Geschichte. An jedem Punkte der Geschichte ist Leben.« 289 Daher könne das menschliche L. angemessen nur erlebt (nicht beobachtet) und in den Geisteswissenschaften auch rückblickend verstanden werden, während die Natur in den Naturwissenschaften erklärt, d. h. auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werde. Herausragende kulturelle Leistungen wie etwa bedeutende Dichtungen oder auch bildende Kunstwerke versteht Dilthey folglich als Ausdrucks- und Darstellungsformen des L., die ihrerseits durch menschliche LebenserfahHierzu vgl. Wilhelm Dilthey, Pädagogik. Geschichte und Grundlinien des Systems, in: Gesammelte Schriften, Bd. 9, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 21960, 174: »was der Mensch sei, erfährt er erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrhunderte, nie bis zum letzten Worte, nie auch in allgemeingültigen Begriffen, immer nur im Erlebnis, das aus den Tiefen seines ganzen Wesens stammt.« Vgl. auch Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 250: »Alle letzten Fragen nach dem Wert der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt. Nicht durch Introspektion erfassen wir die menschliche Natur.« 286 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 192: »In dem Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle andern, die Zeitlichkeit enthalten. Dies tritt schon in dem Ausdruck ›Lebensverlauf‹ hervor.« 287 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 193–194. 288 Albert, Lebensphilosophie, 65. 289 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 256. 285

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rungen und persönliche Erlebnisse motiviert seien. Daher erschließe etwa große Poesie dem Leser zumindest partiell das Verständnis des L. und seines Sinnzusammenhangs. 290 Weil aber das L. ein reines Werden und Vergehen, eine ständige Bewegung des Fließens sei, 291 könne das gegenwärtige L. angemessen nur erlebt und nicht auch – wie das vergangene L. – hinreichend verstanden und in seinem Wesen adäquat erfasst werden. 292 Denn das L. bleibe immer »widerspruchsvoll, Lebendigkeit zugleich und Gesetz, Vernunft und Willkür, immer neue Seiten darbietend, und so im Einzelnen vielleicht klar, im Ganzen vollkommen rätselhaft« 293. Weil daher das L. selbst im Ganzen irrational sei, sei auch »in allem Verstehen ein Irrationales« 294. Es ist also nach Dilthey letztlich die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des L., die den Rätselcharakter seines Wesens für uns Menschen bedingt.

7.

Michel Henry: Das absolute Leben (Gottes) als reines Selbsterscheinen, seine Selbstaffektion, Selbstzeugung und -offenbarung im »Erst-Lebendigen« und seine »pathischen« Modalitäten (Sicherleiden und Sicherfreuen)

Als letzte der in diesem Zusammenhang behandelten neuzeitlichen Positionen zum Verständnis des L. soll diejenige Michel Henrys, des Begründers der Radikalen Lebensphänomenologie, vorgestellt werden. Michel Henrys radikale Phänomenologie des L. spricht den von der Biologie untersuchten L.s-Phänomenen den Charakter des L.s genauso ab wie dem Seienden, weil sie dezidiert davon ausgeht, dass das Vgl. hierzu mit zahlreichen Belegstellen bei Dilthey: Albert, Lebensphilosophie, 66–67. 291 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 157; Wilhelm Dilthey, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Vorbericht des Herausgebers (Georg Misch), XLII. 292 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 195: »[…] können wir das Wesen dieses Lebens selbst nicht erfassen.« 293 Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 2. unveränderte Aufl., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1960, 80 (unter dem Titel »Das Rätsel des Lebens«). 294 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 218: »So ist in allem Verstehen ein Irrationales, wie das Leben selber ein solches ist; es kann durch keine Formeln logischer Leistungen repräsentiert werden.« 290

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L. ein rein bzw. transzendental phänomenologisches Wesen und als solches »reine Manifestation, Offenbarung« 295 bzw. Selbstoffenbarung sei. 296 Die Biologie mit ihrer wissenschaftlichen, mathematisierten Betrachtungsweise ihrer Forschungsgegenstände untersuche nicht das L. und wisse nichts vom L. 297 Was die Biologie praktiziere, sei vielmehr eine unhaltbare »Reduktion des absolut phänomenologischen ›Lebens‹ auf den Gehalt der Biologie« 298, indem sie die pathischen Modalitäten des L. auf materielle Teilchen zurückführe, die zu keinerlei Empfindungen fähig seien. 299 Denn dem szientifischen Wissen der Biologie könnten nur weltliche Phänomene begegnen, in denen sich das unsichtbare »Erleben« des L. gerade nicht zeige. 300 Und zwar deshalb, weil Henrys radikale Phänomenologie des L. grundlegend unterscheidet zwischen der Phänomenalität der Welt als dem »Außer-sich-Sein« bzw. der »Außenheit« (Exteriorität), die alles von ihr Entborgene als etwas Äußeres, Anderes, Differentes und damit als Gegenstand der Vorstellung erscheinen lasse, und der reinen Phänomenalität, d. h. dem Selbsterscheinen des L., die Henry als Selbstoffenbarung im zweifachen Sinne dieses Wortes bestimmt: »zum einen ist es das Leben, welches das Werk der Offenbarung vollzieht, […]. Des Weiteren ist das, was es offenbart, es selbst. […]. Die Offenbarung des Lebens und das, was sich in ihm offenbart, sind Michel Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums. Übers. von Rolf Kühn. Mit einem Vorwort von Rudolf Bernet (Phänomenologie. Texte, Bd. 2), Freiburg/München, Karl Alber, 1999, 52. 296 Vgl. Michel Henry, Affektivität und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen. Übers. von Rolf Kühn, Freiburg/München, Karl Alber, 2005, 19; vgl. auch Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 45–47, 51–52. 297 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 57: »Denn die Biologie begegnet in der Tat niemals dem Leben, weiß nichts von ihm, hat noch nicht einmal eine Vorstellung davon.« Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 58: »In der Biologie gibt es kein Leben: es gibt darin nur Algorithmen.« 298 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 59. 299 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 59: »Eine absurde Reduktion, sofern es sich dabei um die Behauptung handelt, daß das Sich-selbst-Erfahrende in der unzerbrechlich pathischen Umschlingung des Erleidens und Sicherfreuens in Wirklichkeit etwas sei, das nichts empfindet oder erfährt und sich grundsätzlich außerstande findet, es zu tun: eben materielle Teilchen.« 300 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 58: »Und wer uns dies [sc. dass man nichts vom L. wisse] sagt, ist die Biologie, die sagt, daß sich vor ihrem Blick, in ihrem wissenschaftlich begrenzten und definierten Forschungsfeld, niemals so etwas wie das ›Erleben‹ des Lebens zeigt.« 295

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eins.« 301 Dem L. und seinen Modalitäten wie etwa dem (empfundenen) Schmerz oder der Freude eigne daher eine »unmittelbare, unbezweifelbare, unbezwingbare Realität« 302, in der das »Außer-sichSein« als der Phänomenalisierungsmodus der Weltwirklichkeit abwesend sei. Daher könne sich das L. der menschlichen Vorstellung bzw. dem weltlichen Wissen einschließlich des wissenschaftlichen Wissens niemals zeigen. 303 Denn auf dem »Sichtbarkeitshorizont« der Welt »findet sich das Leben der Wahrheit, des Vermögens, zu offenbaren, beraubt und seinerseits auf etwas zurückgeführt, was sich in der Wahrheit der Welt, in der Lichtung ihres ›Außen‹ zeigt – nämlich auf ein Seiendes.« 304 Als das reine Selbsterscheinen muss das L. nach Henry daher für die Menschen unsichtbar, unvorstellbar und undenkbar sein, aber affektiv erfahr- und empfindbar. Denn das L. wohne allem Lebendigen als jene Macht inne, die sich selbst begründe und ihm die Lebendigkeit verleihe. 305 Das Verhältnis des L. zum Lebendigen sei daher »ein Verhältnis absoluter Immanenz.« 306 Dieses Verhältnis differenziert Henry, indem er in einem ersten Schritt seiner radikalphänomenologischen Analyse des absoluten L. auf dessen Selbstverhältnis eingeht. Denn das absolute L. sei nicht nur Selbstoffenbarung, sondern auch Selbstzeugung, Selbst-Erfreuen und »Selbsterprobung« 307. Mit diesen Termini beschreibt er jene ort- und zeitfreie, affektive Selbstbewegung des absoluten L., die er auch dessen ewiges Ankünftig-Werden und »In-sich-selbst-Gelangen« nennt. 308 Sich seiner selbst erfreuen kann das absolute L. jedoch nur dann, wenn es in sich selbst gleichsam ein Anderes seiner selbst herHenry, Affektivität und Subjektivität, 19. Henry, Affektivität und Subjektivität, 20. 303 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 65: »Warum also verleihen wir Auge oder Blick diese Bedeutung, Bewegungen des Lebens selbst zu sein, wenn sich das Leben niemals in sich selbst in deren welthaftem Schein offenbart?« 304 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 68. 305 Vgl. Henry, Affektivität und Subjektivität, 20 306 Henry, Affektivität und Subjektivität, 21. 307 Zur »Selbsterprobung« und »Selbstzeugung« vgl. Henry, Affektivität und Subjektivität, 22; zum »Selbst-Erfreuen« vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 50. 308 Vgl. Henry, Affektivität und Subjektivität, 22: »Das Leben ›ist‹ nicht; es wird ankünftig und hört nicht auf, ankünftig zu werden. Dieses Kommen des Lebens ist sein ewiges In-sich-selbst-gelangen; der Prozeß, worin es sich an sich selbst gibt, sich gegen sich selbst erdrückt, sich selbst erprobt und seiner erfreut; wodurch es ständig sein eigenes Wesen hervorbringt, insofern dieses in jener Erprobung und in jener Selbstfreude besteht.« 301 302

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vortreten lässt durch Selbstzeugung, d. h. durch die Hervorbringung von etwas wesenhaft Identischem und relational Verschiedenem. So zeugt das absolute L. das göttliche Wort als den »Erst-Lebendigen« bzw. als die erste »Ipseität« oder Selbstheit, in der es sich erprobt und sich seiner selbst erfreut. 309 Das Verhältnis des absoluten L. zum innertrinitarischen Christus ist daher ein wechselseitiges Ineinandersein. 310 Dieser Prozess der »Lebensselbstzeugung« bzw. »Lebensselbstoffenbarung« habe den Charakter einer »Ur-Geburt« bzw. einer transzendentalen Geburt des einzigen Ur-Sohnes aus dem einzigen L. 311 Diese Bestimmungen Christi als des »Erst-Lebendigen« überträgt Henry in einem zweiten Schritt auch auf den Menschen, indem er diesen als den »Sohn Gottes« und damit die »Selbstzeugung des absoluten Lebens als Zeugung des transzendentalen Menschen, seines transzendentalen Ich bzw. Mich und seines transzendentalen Ego, das heißt die Zeugung des Menschen als ›Sohn Gottes‹« 312 versteht. Denn:

Vgl. Henry, Affektivität und Subjektivität, 22: »Allerdings geschieht keine Erprobung als Selbsterprobung (épreuve de soi), wenn sie in ihrem Vollzug nicht selbst die Ipseität zeugt, in welcher es ihr gegeben ist, sich selbst zu erproben und sich ihrer zu erfreuen.« Zu Henrys Begriff der Ipseität des Individuums bzw. Ur-Ipseität des Sohnes vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 173: »Die Individualität des ›Individuums‹ existiert nur als seine Ipseität. ›Ipseität‹ gibt es nur im Leben. […] Die ›Ipseität‹ ist jene des transzendentalen ›Ur-Sohnes‹ und existiert nur in ihm als das, was das Leben notwendigerweise in sich zeugt, indem es sich selbst zeugt. […] Die Ipseität ist der ›Logos des Lebens‹, in dem sich und als was sich das Leben offenbart, indem es sich an sich selbst offenbart. Die Ipseität ist am Anfang und kommt vor jedem transzendentalen Ich, vor jedem ›Individuum‹.« 310 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 97: »In dem Maße, wie die Zeugung des ›ErstLebendigen‹ sich nicht von der Selbstzeugung des absolut phänomenologischen Lebens selbst unterscheidet und so wie auch die Selbstzeugung des ›Lebens‹ sich nicht von der Zeugung des Erst-Lebendigen unterscheidet, indem sie sich unter der Form des letzteren vollzieht – in dem Maße folglich, wie die Offenbarung des Sohnes sich nicht von der Selbstoffenbarung Gottes selbst unterscheidet, findet sich somit das konstitutiv erste Verhältnis im Gehalt des Christentums, nämlich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, in einer absoluten Strenge als ein Verhältnis gegenseitiger Innerlichkeit oder Interiorität definiert, da sich der Sohn nur in der Selbstoffenbarung des Vaters offenbart, während die Selbstoffenbarung des Vaters sich nur in der Offenbarung des Sohnes und als diesselbe vollzieht.« Vgl. auch Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 114: »Somit sind beide […] einer im anderen, der Vater im Sohn und der Sohn im Vater.« 311 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 83–89. 312 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 77. 309

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In der Wahrheit der Welt ist jeder Mensch der Sohn eines Menschen und folglich auch einer Frau. In der Wahrheit des ›Lebens‹ ist jeder Mensch Sohn des Lebens, das heißt Sohn Gottes selbst. 313

Genau dies hält Henry für die zentrale anthropologische Lehre des Christentums, dass der Mensch »der Sohn Gottes ist.« 314 Wenn aber der lebendige Mensch in Wahrheit nichts anderes als der Sohn Gottes selbst ist, dann folge daraus, dass »in der Welt und in der Exteriorität ihres ›Außen‹ keinerlei ›Leben‹ wie ›Erleben‹ möglich ist – und infolgedessen auch keinerlei Lebendiger.« 315 Daher entweltlicht Henrys Anthropologie den Menschen, indem sie die Annahme zurückweist, der Mensch sei ein Realelement dieser Welt der erscheinenden Vielheit. 316 Und Henry unterstellt genau diese Annahme auch dem Christentum, wenn er z. B. sagt: »Für das Christentum ist der Mensch in der Tat kein Weltwesen. Er ist es weder im naturhaften noch im transzendentalen Sinne.« 317 Folglich gehörten »weder das Sinnliche noch das Geistige so zum Wesen des Menschen […], wie es das Christentum versteht.« 318 Vielmehr müssten alle Eigenschaften des UrSohnes auf den Menschen ausgeweitet werden. Folglich sei das göttliche L. selbst das Wesen des Menschen. 319 Denn das »›Leben‹ [habe] denselben Sinn für Gott, für Christus und für den Menschen […], und zwar, weil es nur ein und dasselbe Wesen des Lebens gibt, sowie noch radikaler nur ein einziges und einmaliges Leben.« 320 Die alttestamentlich bezeugte Schöpfung des Menschen nach dem Bild Gottes deutet Henry daher als Selbstgabe des göttlichen L. und Wesens an den Menschen in dessen ewiger Geburt als der Sohn Gottes. 321 Näherhin spricht Henry von dem Menschen als dem »Sohn im Sohn (Gottes)« bzw. von der Geburt jedes einzelnen transzendentalen Sich Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 101–102. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 133. 315 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 102. 316 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 134–135. 317 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 136; vgl. auch Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 137: »Durch die Definition des Menschen als Sohn [Gottes] setzt das Christentum von vornherein jede Denkform herab – Wissenschaft, Philosophie oder Religion – die den Menschen für ein Weltwesen hält, und sei dies in einem naiven oder kritischen Sinne. Sohnsein gibt es in der Tat nur im Leben. Die streng phänomenologische Analyse des Lebens hat gezeigt, daß dieses an sich der Welt gegenüber fremd ist.« 318 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 137. 319 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 142. 320 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 142. 321 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 144–146. 313 314

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bzw. Mich, das in der Ipseität des Ur-Sohnes und damit im Erst-Lebendigen gezeugt werde. 322 Daher kann Henry sagen: »›Leben‹ zeugt mich als sich selbst.« 323 Dem L. ist es nach Henry »eigentümlich, sich selbstzuaffizieren. Diese Selbstaffektion (Auto-Affektion) definiert sein Erleben, das ›Sich-selbst-Erfahren‹, in dem es besteht.« 324 Unter Affektion versteht Henry »Offenbarwerden oder Manifestation.« 325 Das L. könne von nichts anderem affiziert werden als von sich selbst, Selbstaffektion bzw. Selbstempfindung sei daher das Wesen des L. 326 So sei etwa das reine Erleben der Freude »eine pathische Modalität des Lebens, eine Weise, wie das Leben sich erfährt.« 327 Dabei unterscheidet Henry zwischen einem starken und einem schwachen Begriff der Selbstaffektion. Gemäß dem starken Begriff der Selbstaffektion bringe das L. den Inhalt seiner eigenen Affektion wie etwa den der Freude selbst hervor, es gebe und zeuge sich selbst in dem Pathos seiner transzendentalen Affektivität, es sei selbst das, was sich affiziert. 328 Diese Identität zwischen dem Affizierenden und dem Affizierten bringe das L. selbst hervor. Im Unterschied hierzu sei diese Identität bei dem singulären »Sich«, das wir jeweils selbst sind, nicht von ihm selbst gesetzt, sondern von dem absoluten L. Denn: »Das Sich affiziert sich nur selbst, insofern sich das absolute Leben in ihm selbstaffiziert.« 329 Deshalb bezeichnet Henry die Selbstaffektion jedes einzelnen Sich als eine schwache Form der Selbstaffektion. In ihr sieht er die wesenhafte Passivität jedes singulären Sich begründet, und zwar eine Passivität

Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 156–157. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 147. 324 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 148. 325 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 148: »Affektion will im Allgemeinen sagen: Offenbarwerden oder Manifestation.« 326 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 149: »Somit konstituiert das Leben selber den Inhalt seiner Affektion. Im Begriff der Selbstaffektion als Wesen des Lebens ist ihr Akosmismus einbeschlossen; die Tatsache, daß sie sich in sich selbst in der absoluten Genügsamkeit ihrer radikalen Innerlichkeit erfüllt, da sie von nichts Anderem oder Fremdem affiziert wird und der Welt gegenüber radikal fremd ist – nur sich erfahrend, nur durch sich affiziert, vor jeder möglichen Welt und unabhängig von ihr.« 327 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 149. 328 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 150. 329 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 151; vgl. ebd.: »Das Leben in seiner Selbstoffenbarung ist es, welches das Sich diesem selbst offenbart. Das Leben in seiner pathischen Umschlingung ist es, welches dem Sich gibt, sich pathisch zu umschlingen und ein Sich zu sein.« 322 323

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hinsichtlich des L. und dessen absoluter Selbstaffektion als auch hinsichtlich seiner selbst und jeder Modalität seines L. 330: »Diese Passivität des singulären Sich im Leben setzt es in den Akkusativ und läßt aus ihm ein Mich und kein Ich werden, denn dieses Sich ist sich gegenüber nur passiv, weil es zunächst hinsichtlich des Lebens und dessen absoluter Selbstaffektion passiv ist.« 331

Deshalb sei unser menschliches L. von dem Grundgefühl bestimmt, gelebt zu werden, deshalb rufe die beständige Erfahrung des Sich, an sich selbst gebunden zu sein und sich selbst nicht entkommen zu können, seine Ohnmacht bzw. seine Angst hervor. 332 Denn »kein Lebendiger ist lebendig, das heißt: selbstaffiziert sich, außer im Selbstaffektionsprozeß des absoluten Lebens.« 333 Und weil diese Selbstaffektion in sich die wesenhafte Ipseität zeuge, gelte: »Daß kein Lebendiger möglich sei außer im Leben, will deshalb besagen: Er ist es im Ur-Sohn, und allein in ihm.« 334 Der göttliche Logos sei daher die transzendentale Bedingung aller transzendentalen Iche bzw. Miche, so dass deren lebendige Selbstaffektion, deren Selbstberührung, ihr ›lebendiges Fleisch‹ mit dem lebendigen Fleisch Christi identisch sei. 335 Ein anderes Fleisch könne man daher nur berühren in dem und durch das Fleisch Christi hindurch, das jedem Fleisch das Vermögen verleihe, sich selbst zu empfinden und zu erfahren. 336 In seiner Auslegung insbesondere des Johannes-Evangeliums im Neuen Testament setzt Henry das absolute L. mit der Liebe gleich, »weil es sich in der Freude seiner selbst ohne Unterlaß selbsterfährt und sich somit unbegrenzt wie ewig liebt. Weil er das ›Leben‹ ist, ›ist Gott Liebe‹, wie Johannes sagt (1 Joh 4,8 u. 16). Weil Gott als das absolute ›Leben‹ Liebe ist, gebietet er die ›Liebe‹.« 337 Es ist allerdings nur die (nichtegoistische) Selbstliebe, die die »Söhne Gottes« in »unendlicher und ewiger Liebe« üben. 338

Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 151–152. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 152. 332 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 152–153. 333 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 154. 334 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 155. 335 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 162. 336 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 162–163. 337 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 261. 338 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 261: »Jene, die sich in der Selbsterprobung des unbegrenzten ›Lebens‹ und in dessen ewiger Liebe selbsterfahren, lieben sich selbst in 330 331

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Michel Henry schreibt dem absoluten L. und seinem ursprünglichen Offenbarungsmodus eine antinomische Struktur zu, die darin bestehe, dass es in seiner Selbstaffektion ein Sich-selbst-Erleiden und zugleich ein Sichfreuen an sich selbst sei. 339 Und je stärker dieses Sich-Erleiden sei, »umso stärker ist diese Erfahrung als Erprobung, umso gewaltsamer ist die Umschlingung, in der dieses Ich sich selbst umschlingt und sich selbst ergreift sowie sich seiner erfreut; umso größer ist die Freude.« 340 Diese Ur-Einheit von Erleiden und Sicherfreuen, diese »Mitzugehörigkeit des Leidens zur Freude, als ihre innere Bedingung« 341, hält Henry für eine »Grundintuition des Christentums« 342, die er in den Seligpreisungen der Bergpredigt ausgedrückt findet: »Was die ›Seligpreisung‹ ausspricht, ist die phänomenologische Struktur des absoluten Lebens.« 343 Es sei »nicht das Leiden selber, sondern das in ihm beschlossene Erleiden, das dem Leiden sich selbst ausliefert, welches zum Erfreuen wird, das in jedem Erleiden enthalten ist und von ihm ermöglicht wird.« 344 Denn im Übermaß des Leidens gebe sich das Erleiden zu empfinden und steigere dadurch die Empfindsamkeit für das Sicherfreuen. Henrys radikale Phänomenologie des L. bildet auch den Ausgangspunkt seiner Kritik der durch Wissenschaft und Technik bestimmten gegenwärtigen Kultur: Zwar sei die Wissenschaft ursprünglich eine konkret modale Lebensweise der Subjektivität, durch ihre methodische Ausklammerung der Lebenswelt, des sinnlichen L. wie des L. überhaupt und ihre Reduzierung der Wirklichkeit auf ihre geometrische und mathematische Erscheinung sowie der Wahrheit auf objektive, universale Wahrheit verneine sie strukturell das L. und spreche ihm jeden Wert ab 345: »Ein Leben, das sich selbst verneint, die Selbstverneinung des Lebens als solche, ist jenes entscheidende Geschehen, das die moderne Kultur als wissenschaftliche

unendlicher und ewiger Liebe; sie lieben sich selbst, insofern sie ›Söhne‹ sind und sich als solche selbsterprobend erfahren.« 339 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 277–287. 340 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 280. 341 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 281. 342 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 281. 343 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 286. 344 Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 286. 345 Vgl. Michel Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Übersetzt und eingeleitet von Rolf Kühn und Isabelle Thireau, Freiburg/München, Karl Alber, 1994, 197–204.

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Zum Verständnis des Lebens in der Philosophie der Neuzeit bis zur Gegenwart

Kultur bestimmt.« 346 Zwar sei diese Verneinung des L. durch die ›galiläische Wissenschaft‹ ein Modus, gleichsam die Krankheit des L. selbst, sie setze sich damit jedoch in einen inneren Widerspruch zu ihrer eigenen Voraussetzung, sich zu empfinden und sich selbst zu erfahren, mithin lebendig zu sein, und damit zu sich selbst. 347 Damit praktiziere die moderne Wissenschaft neben anderen praktischen Verneinungen des L. »den Prototyp eines Verhaltens […], das die moderne ›Kultur‹ insgesamt in die Barbarei stürzt« 348: Sie verneine das L. und zerstöre damit die Kultur, welche stets »die Kultur des Lebens ist.« 349

346 347 348 349

Henry, Die Barbarei, 204. Vgl. Henry, Die Barbarei, 206–212. Henry, Die Barbarei, 226. Henry, Die Barbarei, 225.

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Leben und Ursprung Der frühe Heidegger im Spannungsverhältnis zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus Franziska Neufeld

Abstract: Der Beitrag stellt sich die Aufgabe, Heideggers Ursprungskonzeption in dem lebensphänomenologischen Ansatz einer Philosophie als vortheoretische Urwissenschaft bzw. Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich, die er in seinen frühen Freiburger Vorlesungen entfaltet, herauszuarbeiten. Heidegger ist hier bemüht, das Leben als ein Grundphänomen, von dem die Philosophie ihren Ausgang nehmen müsse, mit einem radikalen Letztbegründungsanspruch zu fundieren. Um diese eigentümlich paradoxe Verschränkung von Leben und Ursprung zu verstehen, arbeitet der Beitrag zunächst Diltheys Leitprinzip der Unhintergehbarkeit und Unergründlichkeit des Lebens heraus, das sich jeglicher Ursprungssetzung entzieht. Daran anschließend wird Rickerts Kritik an der Lebensphilosophie zugunsten einer Theoretisierung des Lebens herausgestellt und damit die Ausgangssituation, die Heidegger durch die vortheoretische Urwissenschaft zu destruieren sucht, exemplarisch aufgezeigt. In einem letzten Schritt erfolgt eine eingehende Untersuchung von Heideggers hermeneutischer Ursprungskonzeption. This paper aims to unpack Heidegger’s conception of origin within his lifephenomenological approach of philosophy as a pre-theoretical primordial science or science of the origin of life in and for itself, an approach that he develops in his early Freiburg lectures. Heidegger seeks to supply life, as a basic phenomenon with which philosophy must begin, with a radical claim to ultimate justification. In order to understand this peculiarly paradoxical entanglement of life and origin, this article begins by elaborating Dilthey’s guiding principle of the inscrutability and unfathomability of life, which ensure that it eludes any original definition. Next, it highlights Rickert’s criticism of the philosophy of life in favor of a theorization of life, which exemplifies the initial situation that Heidegger seeks to deconstruct through his pre-theoretical primordial science. In a final step, the article carries out a detailed examination of Heidegger’s hermeneutical concept of origin.

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Leben und Ursprung

1.

Einführung

Innerhalb der Heidegger-Forschung ist seit der Veröffentlichung der frühen Freiburger Vorlesungsschriften (1919–1923) allgemein bekannt, dass Heidegger während dieser Jahre das Leben in seiner faktischen Lebenserfahrung – das Leben in seiner Tatsächlichkeit – zum Ausgangspunkt seiner Philosophie macht, der zentrale Begriff also nicht das »Dasein«, sondern das »Leben« ist. 1 Dabei kommt es ihm vor allem auf die Gewinnung des echten, gestaltenden Lebens durch den Rückgang auf die ursprünglichen Quellen des Lebens selbst an: »Ob unser gestaltendes Leben wirklich seine historische Lebung lebt – sie selbst ist, daran hängt alles. Aber nicht an der theoretischen Betrachtung dieser Möglichkeit und nicht an der Reflexion darüber.« 2 »Nur Leben überwindet Leben – nicht Sachen und Dinge – auch nicht logifizierte ›Werte‹ und ›Normen‹ […].« 3 Vgl. bspw. Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Stuttgart, Verlag Günther Neske, 41994, 27; Matthias Jung, »Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919–1923. Aufbau einer eigenen Philosophie im historischen Kontext«, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 22013, 13–21. Innerhalb der Forschung war zunächst die Tendenz vorherrschend, das Frühwerk im Rahmen der Entstehungsgeschichte von Sein und Zeit zu interpretieren sowie dessen historische Kontextualisierung herauszuarbeiten (vgl. Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s ›Being and Time‹, Berkeley/Los Angeles/London, University of California Papers, 1993; John van Buren, The Young Heidegger. Rumor of the Hidden King, Bloomington/Indianapolis, Indiana University Press, 1994; vgl. Theodore Kisiel/John van Buren [Hrsg.], Reading Heidegger from the Start. Essays in His Earliest Thought, New York, State University of New York Press, 1994). Auf diese Weise wurde jedoch unter dem Vorgriff der Fundamentalontologie der eigenständige philosophische Charakter der frühen Freiburger Vorlesungen, der in die ›Hermeneutik der Faktizität‹ mündet, verstellt. Inzwischen sind sie jedoch zunehmend Gegenstand eines eigenständigen Forschungsbereichs, dem es darum zu tun ist, die angedeuteten Defizite aufzuarbeiten und ein Verständnis der Philosophie Heideggers dieser Jahre zu gewinnen. Der vorliegende Beitrag schließt sich dieser Richtung an (vgl. bspw. Georg Imdahl, Das Leben verstehen, Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen [1919–1923], Würzburg, Königshausen und Neumann, 1997; César Lambert, Philosophie und Welt beim jungen Heidegger, Wuppertal, Peter Lang, 2002; Francisco de Lara, Phänomenologie der Möglichkeit. Grundzüge der Philosophie Heideggers 1919–1923, Freiburg/ München, Karl Alber, 2008; Sylvain Camilleri/Guillaume Fagniez/Charlotte Gauvry [Hrsg.], Heideggers Hermeneutik der Faktizität. Die Grundbegriffe, Nordhausen, Traugott Bautz, 2018). 2 Martin Heidegger, »Brief Martin Heideggers an Elisabeth Husserl«, in: Aut aut, 223–224, 1988, 6–11, hier 6. 3 Heidegger, »Brief Martin Heideggers an Elisabeth Husserl«, 8. 1

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Es wird die Forderung nach einem neuen, ursprünglicheren Begriff von Philosophie laut, der eine radikale Abwendung von den herrschenden philosophischen Schulrichtungen, Weltanschauungs- und Systemphilosophien beansprucht. Heidegger wendet sich in diesen Zeilen einerseits gegen den Primat des Theoretischen 4, den er ausdrücklich mit der Wertphilosophie des Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule (vertreten durch Wilhelm Windelband und dessen Schüler Heinrich Rickert) verbindet, der sich aber auch als »Generalherrschaft« 5 durch alle gegenwärtigen philosophischen Strömungen hindurchziehe und ausschließlich einen erkenntnistheoretischen und objektivierenden Zugang zum Leben ermögliche. Durch das theoretische Erkennen werde hier das Leben in seinem ursprünglichen, vortheoretischen Erlebnischarakter von vornherein ›ent-lebt‹ und verdinglicht. Andererseits entspringen diese Tendenzen zur Entlebung und Entfremdung der Sphäre des Vortheoretischen selbst. Daneben ist der lebensphilosophische Einfluss, insbesondere der Wilhelm Diltheys, unverkennbar, der ebenfalls Kritik am Intellektualismus äußert und eine vom »Standpunkte des Lebens« 6 ausgehende philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften fordert. Auch Heidegger betont einen »Primat des Lebens« 7 und erkennt im Leben ein »Grundphänomen« 8, von dem die Philosophie ihren Ausgang nehmen müsse. Trotz Heideggers Nähe zur Lebensphilosophie und seiner Wertschätzung lebensphilosophischer Positionen, vor al-

»Diese Vorherrschaft des Theoretischen muß gebrochen werden, zwar nicht in der Weise, daß man einen Primat des Praktischen proklamiert, und nicht deshalb, um nun mal etwas anderes zu bringen, was die Probleme von einer neuen Seite zeigt, sondern weil das Theoretische selbst und als solches in ein Vortheoretisches zurückweist« (Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, in: Gesamtausgabe [im Folgenden GA], Bd. 56/57, hrsg. von Bernd Heimbüchel, Frankfurt a. M., Klostermann, 21999, 59). 5 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 87. 6 Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften (im Folgenden GS), Bd. V, hrsg. von Georg Misch, Göttingen/Stuttgart, Teubner, 41964, hier 136. 7 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, in: GA, Bd. 58, hrsg. von Hans-Helmuth Gander, Frankfurt a. M., Klostermann, 1993, 126. 8 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die Phänomenologische Forschung, in: GA, Bd. 61, hrsg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M., Klostermann, 21994, 80. 4

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Leben und Ursprung

lem derjenigen Diltheys, 9 darf jedoch seine Distanznahme und Abgrenzung nicht übersehen werden. Schon die programmatische Formel ›nur Leben überwindet Leben‹ deutet auf eine Überwindung der lebensphilosophischen Position Diltheys, in der die Vielgestaltigkeit des faktischen Lebens zwar den Ausgangspunkt der Philosophie bildet, aber einer fundamentaleren Grundlegung bedarf, um das Leben in seiner ursprünglichen Grunderfahrung freizulegen. Dabei erkennt Heidegger einzig in der Phänomenologie Edmund Husserls, die er zu einer vortheoretischen Urwissenschaft 10 bzw. »Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich« 11 über Husserl hinausgehend weiterentwickelt, den »echtmethodischen« 12 Zugang zum ›Ursprungsgebiet‹ des Lebens. Heideggers Denken ist ein Denken des Ursprungs, das einen Anspruch auf Letztbegründung erhebt. Seine ›Lebensphänomenologie‹ ist folglich nur vor dem Hintergrund des Ursprungsmotivs zu verstehen. Dieser eigentümlich paradoxen Verschränkung von Leben und Ursprung soll daher im Folgenden nachgegangen werden: der Hineinverlegung des Fundierungsanspruchs in das Leben und der damit verbundenen radikal neuen, auf das Ursprüngliche selbst abzielenden Idee von Philosophie. Mit seinem Anspruch auf Letztbegründung befindet sich Heidegger allerdings grundsätzlich im Rahmen der gegenwärtigen Philosophie seiner Zeit. Denn auch die Phänomenologie Husserls sowie der Neukantianismus der Marburger und Südwestdeutschen Schule verfolgen die Idee einer streng wissenschaftlichen Philosophie, die auf sogenannte letzte Gründe aus ist. 13 Zudem sind auch sie, ganz Vgl. bspw. Martin Heidegger, »Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹«, in: Martin Heidegger, Wegmarken, in: GA, Bd. 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M., Klostermann, 1976, 1–44, hier 14; Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 9–10; Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 80. 10 Vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 96. 11 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 137. 12 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/567, 3. 13 Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana (im Folgenden Hua), Bd. III/1, hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1976, 8; Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. 1. Buch: Objekt und Methode der Psychologie, Amsterdam, E. J. Bonset, 1965, IV; Wilhelm Windelband, »Kritische oder genetische Methode«, in: Wilhelm Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen, Mohr (Paul Siebeck), 7/81921, 99–135. 9

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wie die Lebensphilosophie – wenngleich diese mit dem Vorwurf des Irrationalismus und Historismus scharf kritisiert wird – 14, um das Leben als »Urphänomen« 15, hier als Kulturleben, zentriert. Inwiefern fasst daher Heideggers Lebensphänomenologie das Leben ursprünglicher als die genannten Richtungen? Heidegger selbst sucht diese Ausgangssituation der akademischen Philosophie, die er prägnant mit der »Gegensatzformel wissenschaftliche Philosophie – Weltanschauungsphilosophie« 16 bezeichnet, zu destruieren. Eine Auseinandersetzung mit den genannten Gruppen ist für Heidegger deshalb unerlässlich, weil nur durch eine echte, phänomenologische Kritik 17 (Destruktion) die in der philosophischen Tradition vorherrschenden unechten Motive, Tendenzen und Problembereiche, die das Ursprungsgebiet immer schon verdecken, freigelegt und destruiert werden können, um die Philosophie zu den ursprünglichen Motivquellen des Lebens und damit »zu sich selbst aus der Entäußerung zurückzuführen« 18. Der Beitrag stellt sich daher zunächst die Aufgabe, das Leben als Urphänomen innerhalb der Lebensphilosophie Diltheys sowie daran anschließend die Kritik Rickerts an der Lebensphilosophie in den Grundaspekten herauszuarbeiten. Der Diskussionspunkt beider Strömungen wird sich an dem lebensphilosophischen Leitprinzip der Unhintergehbarkeit des Lebens entfachen, wobei der Neukantianismus ihr eine Wertphilosophie des sinnvollen Lebens entgegenhält, um den Anspruch einer streng universalen Philosophie zu bewahren und Irrationalismus und Historismus zu vermeiden. Anhand dieser Ausgangslage ist die Problematik exemplarisch herausgestellt, die Heidegger mit seiner Konzeption einer Phänomenologie als vortheoretischer Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich zu destruieren sucht, die er in den ersten Freiburger Vorlesungen entfaltet. Vgl. Edmund Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), in: Hua XXV, hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Dordrecht u. a., Nijhoff, 1987, 3–62; Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen, Mohr (Paul Siebeck), 21922. 15 Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, in: GA, Bd. 59, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a. M., Klostermann, 1993, 15. 16 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 12. 17 »Kritik ist positives Heraushören der echten Motivationen« (Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 126). 18 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 29. 14

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Leben und Ursprung

Nur in der Sphäre des Vortheoretischen kann das Leben in seiner Grundstruktur, in seinen lebendigen Motiven und Tendenzen ›echtmethodisch‹ aufgezeigt werden. Dabei bildet die faktische Lebenserfahrung lediglich den Ausgangspunkt der Philosophie, nicht aber den eigentlichen Gegenstand der Ursprungswissenschaft. Entgegen Rickert sieht Heidegger daher im Prinzip der Unhintergehbarkeit des Lebens der Lebensphilosophie Diltheys einen wichtigen, aber zu übersteigenden Wegbereiter einer Phänomenologie des Lebens, um »das Leben aus sich selbst heraus, ursprünglich zu deuten« 19.

2.

Die Unhintergehbarkeit und Unergründlichkeit des Lebens

Diltheys »Philosophie des Lebens« 20 steht in engem Zusammenhang mit seinem Lebensprojekt einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften: einer Analyse der Tatsachen des Bewusstseins, d. h. dem inneren Erleben in Form einer Kritik der historischen Vernunft. 21 Angesichts des Erfolgs und der Vorherrschaft der Naturwissenschaften verfolgt er mit ihr das Ziel, die Geisteswissenschaften als einen eigenständigen und allgemeingültigen Wissenschaftsbereich zu begründen und ihnen einen »inneren Zusammenhang zu einem Ganzen« 22 zu geben. Den Ausgang einer solchen Grundlegung bildet dabei das Leben. Mit dem Begriff ›Leben‹ bezieht sich Dilthey daher auf die »Menschenwelt« 23, formuliert jedoch keinen einheitlichen Lebensbegriff, sondern legt ihm vielmehr verschiedene charakteristische Bedeutungen zugrunde, die sich gegenseitig durchdrin-

Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 154. Wilhelm Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: GS, Bd. XIX, hrsg. von Helmut Johach/Frithjof Rodi, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1982, 39, 41. 21 Vgl. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band, in: GS, Bd. I, hrsg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart, Teubner, 91990, XV–XX. 22 Wilhelm Dilthey/Edmund Husserl, »Der Briefwechsel Dilthey-Husserl«, in: Frithjof Rodi/Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.), Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1984, 110–120, hier 110. 23 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: GS, Bd. VII, hrsg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart, Teubner, 21958, 228. 19 20

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gen. 24 Eine umfassende systematische Thematisierung in seinen Schriften fehlt, was zwar Rickert stark bemängelt, was jedoch nicht als ein Nachteil zu bewerten ist, da sich das Leben aufgrund seiner Unhintergehbarkeit einer solchen abschließenden Systematik entzieht. 25 Dilthey schreibt rückblickend von einem »herrschende[n] Impuls […], das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen« 26. »[W]as wir zeigen, das ist das Leben selbst; nicht um etwas Transzendentes zu erschließen, wollen wir es sehen lassen. Leben zeigen, wie es ist, danach streben wir.« 27 In diesen Sätzen formuliert Dilthey seinen ›Standpunkt des Lebens‹, der das Leitmotiv »hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen« 28 seiner Philosophie bildet. Otto Friedrich Bollnow hebt dabei hervor, dass dieser lebensimmanente Standpunkt den »Verzicht auf alle außer dem Leben gelegenen ›transzendenten Setzungen‹« impliziert, weshalb das Leben nur »rein aus dem her zu verstehen [ist], was an ihm selbst gegeben ist«. 29 Damit fordere Dilthey aber nicht einfach nur eine vom Leben ausgehende Philosophie, sondern zugleich ein »strenges methodisches Prinzip innerhalb des Philosophierens selbst« 30. In seinen Schriften finden sich verschiedene Formulierungen und Akzentuierungen dieses Grundsatzes: Leben ist nun die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl Es lassen sich drei Hauptbedeutungen unterscheiden: 1. Leben als Totalität des Seelenlebens bzw. Strukturzusammenhang, der in der Zeit verläuft; 2. Leben als Wirkzusammenhang zwischen dem Selbst und der Welt (Milieu); 3. Leben als objektiver Geist, als ein Welt und Menschen übergreifender Zusammenhang. Zu den hier genannten verschiedenen Dimensionen des diltheyschen Lebensbegriffs vgl. Frithjof Rodi, Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey, Weilerswist, Velbrück Wissenschaft, 2003, 21–23. 25 Den unsystematischen Charakter der Schriften Diltheys hebt Heidegger sogar als dessen eigentliche Stärke hervor. »Es ist nicht so, daß Dilthey nicht zu einer begrifflichen Formulierung hätte kommen können, sondern er scheute sich bis zuletzt vor einem systematischen Abschluß« (Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 153). 26 Dilthey, Die geistige Welt, GS V, 4. 27 Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften, GS XIX, 330. 28 Dilthey, Die geistige Welt, GS V, 5. 29 Otto Friedrich Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, Stuttgart u. a., Kohlhammer, 31955, 12. 30 Bollnow, Dilthey, 12. 24

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der Vernunft gebracht werden. Geschichtlich ist das Leben […]. 31 Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen, d. h. es kann keinen Zusammenhang machen, der nicht in der eigenen Lebendigkeit gegeben ist. 32

Das Leben selbst ist Ausgangspunkt der Erkenntnis und bildet den unhintergehbaren Bezugsrahmen der Erkenntnis über das Leben. Heidegger zufolge ist Dilthey damit auf der Suche nach einer »Fundamentalwissenschaft vom Leben selbst« 33. Die Unhintergehbarkeit des Lebens besagt, dass das Leben in seiner inneren Struktur nur aus sich selbst heraus, aus seiner Geschichtlichkeit und seiner lebendigen Bewegung zu verstehen ist, es also nicht von etwas anderem, ihm äußerlichen abgeleitet bzw. darin fundiert werden kann. Auch kann das Leben keinen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen und sich von außen, ohne Selbstbezüglichkeit betrachten. Dilthey wendet sich damit gegen jegliche metaphysischen Setzungen – der Frage nach möglichen ersten Prinzipien bzw. einem Letzten –, die das Leben fundieren. Vielmehr ist das Leben selbst, in seiner geschichtlichgesellschaftlich gegebenen Wirklichkeit, d. h. als faktische Grundtatsache, das unhintergehbare Ursprüngliche und damit Grundprinzip der Philosophie. Daher muss jede wissenschaftliche Thematisierung des Lebens aus der inneren Verfasstheit des Lebens selbst entspringen. Mit Guy van Kerckhoven gesprochen: »Das theoretische Erkennen der Philosophie findet am Leben ein Letztes, Unhintergehbares, nicht weiter Zurückführbares, eine Realität schlechthin. Es soll sich auf das beschränken, was an diesem Leben selbst gegeben ist.« 34 Auf diese Weise formuliert Dilthey einen Primat des Lebens vor dem des Erkennens, 35 wonach sich das Erkennen, wenn es um die Thematisierung des Lebens geht, nach dem Leben zu richten habe. Vom Standpunkt der Lebensimmanenz stellt sich aber nun die Frage nach dem angemessenen ›methodisch-wissenschaftlichen‹ ZuDilthey, Aufbau, GS VII, 261. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, in: GS, Bd. VIII, hrsg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart, Teubner, 61991, 180. 33 Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, in: GA, Bd. 20, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M., Klostermann, 1979, 30. 34 Guy van Kerckhoven, »Wilhelm Diltheys Lebensbegriff und seine phänomenologische Bedeutung«, in: Hans Rainer Sepp/Ichiro Yamaguchi (Hrsg.), Leben als Phänomen. Die Freiburger Phänomenologie im Ost-West-Dialog, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2006, 31–45, hier 34–35. 35 Vgl. Dilthey, Die geistige Welt, GS V, 196. 31 32

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gang zum Leben. 36 Denn anhand naturwissenschaftlicher Erklärungen wird das Leben in seiner Lebendigkeit und seinen strukturellen Eigenschaften festgestellt, theoretisch verstellt und objektiviert. Es bedürfe daher eines eigentümlichen wissenschaftlichen Zugangs, einer eigenen, dem Leben angemessen wissenschaftlichen Strenge, die sich nach dem Leben selbst zu richten habe. Dilthey ist daher ganz dem wissenschaftlichen Habitus verpflichtet, kritisiert aber die Übernahme naturwissenschaftlicher Kriterien zur Begründung des Lebens und der Geisteswissenschaften. Eine mögliche Lösung sieht Dilthey im Beschreiben und Nachgehen der charakteristischen Züge des Lebens aus seinem ganzheitlichen Zusammenhang: Der Ausdruck Leben spricht das einem jeden Bekannteste, Intimste aus, zugleich aber das Dunkelste, ja ein ganz Unerforschliches. Was Leben sei, ist ein nicht aufzulösendes Rätsel. Alles Sinnen, Forschen und Denken erhebt sich aus diesem Unerforschlichen. Alles Erkennen wurzelt in diesem ganz nie Erkennbaren. Beschreiben kann man es. Man kann seine einzelnen charakteristischen Züge herausheben. Man kann gleichsam der Betonung und dem Rhythmus in dieser erregten Melodie nachgehen. Aber man kann das Leben nicht in seine Faktoren zerlegen. Es ist unanalysierbar. 37

Einen Zugang zum Leben haben wir durch das im Vollzug verstehende Nacherleben unserer eigenen Erlebnisinhalte des Bewusstseins, worunter Dilthey die Selbstbesinnung – eine »Erkenntnistheorie […] in Bewegung« 38 – versteht. Das Leben ist ein holistischer Zusammenhang, eine ganzheitliche Verbindung seiner Elemente, die nicht aus diesem Zusammenhang herausgelöst und vereinzelt außerhalb dieses Zusammenhangs anhand naturwissenschaftlicher Kausalerklärung analysiert werden können. Das Leben kann nur in seinem Zusammenhang aus diesem selbst verstehend erlebt werden, weshalb es auch nur möglich ist, »dieses Leben in seinen verschiedenen Formen zu beschreiben, seine Bestandteile und Funktionen zu distinguieren« 39. Vgl. bspw. Dilthey, Die geistige Welt, GS V, 143–144. Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften, GS XIX, 346. Vgl. auch: »Man muß vom Leben ausgehen. Das heißt nicht daß man dieses analysieren muß, es heißt daß man es in seinen Formen nachleben und innerlich die in ihm liegenden Consequenzen ziehen muß. Die Philosophie ist eine Aktion, welche das Leben dh. das Subjekt in seinen Relationen als Lebendigkeit, zum Bewußtsein erhebt und zu Ende denkt« (Dilthey, Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul York v. Wartenburg 1877–1897, Halle, Niemeyer, 1923, 247). 38 Dilthey, Die geistige Welt, GS V, 151. 39 Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften, GS XIX, 348. 36 37

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Leben und Ursprung

Aufgrund der hermeneutischen Zirkelstruktur der Verstehbarkeit des Lebens wird einerseits bereits ein Vor-Verständnis des Lebens vorausgesetzt, weshalb Dilthey dann auch den seelischen Zusammenhang zum »Untergrund des Erkenntnisprozesses« 40 erklärt. Dieses Vorverständnis begründet Dilthey mittels ›elementarer logischer Denkoperationen‹, dem vor-diskursiven Denken, das dem diskursiven Denken zugrunde liegt, mit dem Leben untrennbar verbunden ist und aus dem Leben selbst stammt. Mit der Steigerung des Bewusstseins zum diskursiven Denken entstehe aber aus dem Leben ein sich immer mehr vom Leben lösender Erkenntnistrieb, um dieses erklären zu können, was jedoch aufgrund seiner Unhintergehbarkeit in einen »tragischen Widerspruch« führe. 41 So beschreibt Dilthey das Leben, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, trotz seiner Nähe und Vertrautheit als das ›Dunkelste‹, ›Rätselhafteste‹, als ein ganz ›Unerforschliches‹. Denn wenn das Leben nur vom Standpunkt der Lebensimmanenz aus beschrieben bzw. erhellt und angezeigt werden kann, entzieht es sich sogleich einer umfassenden Erklärung. Jede erklärende Theorie ist nämlich nur eine Abstraktion, welche die Einheit des Lebens in seiner Struktur auseinanderreißt. Daher kann auch das Erlebnis nicht gänzlich in Begriffe aufgelöst werden. 42 Es ist die Unergründlichkeit des Lebens, die mit seiner Unhintergehbarkeit einhergeht. Das Leben steht dem Menschen in einer gewissen »Fremdartigkeit« 43, in seinen großen Rätseln – »Zeugung, Geburt, Entwicklung und Tod« 44 –, aber auch in seinem »Antlitz« selbst als »der einzige, dunkle, erschreckende Gegenstand aller Philosophie« 45 gegenüber. Dilthey, Die geistige Welt, GS V, 151. Vgl. bspw. Dilthey, GS XIX, 320–324, 355–358. Zum Verhältnis zwischen Leben und Denken bei Dilthey vgl. Werner Stegmaier, »Diltheys Denken des Lebens«, in: Ralf Elm/Kristian Köchy/Manfred Meyer (Hrsg.), Hermeneutik des Lebens. Potentiale des Lebensbegriffs in der Krise der Moderne, Freiburg/München, Alber, 1999, 100–116. 42 »Das wissenschaftliche Denken kann das Verfahren nachrechnen, auf dem seine Sicherheit beruht, und es kann seine Sätze genau formulieren und begründen: die Entstehung unseres Wissens vom Leben kann nicht so nachgerechnet, und feste Formeln derselben können nicht entworfen werden« (Dilthey, Weltanschauungslehre, GS VIII, 80). 43 Zur Fremdartigkeit vgl. Bollnow, Dilthey, 29–30, 67–69. 44 Dilthey, Weltanschauungslehre, GS VIII, 80. 45 Dilthey, Weltanschauungslehre, GS VIII, 140. Damit deutet Dilthey zwar die Unheimlichkeit des Lebens im Ansatz an, doch macht er sie nicht zu einem existenziellen 40 41

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Angesichts dieser Rätselhaftigkeit versucht das Leben, mithilfe von Weltanschauungen und Wissenschaften sich einen Halt zu geben. In diesem Sinne sucht das Denken über den Lebenszusammenhang hinauszuschreiten und einen umfassenden Weltzusammenhang durch Festigkeit, Objektivität und sinngebende Normen und Werte zu begründen, die als zeitliche Gebilde auf das Leben zurückwirken. Dadurch gerät das Leben in einen »tragischen Widerspruch«, denn das Denken vermag das Leben zwar zu erhellen, nicht aber, hinter es zurückzugehen und es in seinem sich bildenden Zusammenhang zu begreifen. 46 Aufgrund der Unhintergehbarkeit und Unerklärbarkeit des Lebens und der ihnen innewohnenden Tragik des Denkens sind absolute Erkenntnis und damit jede Gewinnung eines absoluten Anfangs bzw. Ursprungs ausgeschlossen. Das Leben selbst entzieht sich einer Letztbegründung anhand überzeitlicher Denkgesetze und axiomatischer Setzungen, weshalb alle Erkenntnis desselben vielmehr dem geschichtlichen Wandel unterliegt. Nur das Leben in seiner faktisch historischen Realität und seinen Objektivationen ist Ausgangsund Zielpunkt der Lebensphilosophie Diltheys.

3.

Philosophieren statt bloßes Leben

Während Dilthey die großen Typen der Weltanschauungen als geschichtliche Erzeugnisse versteht, die in ihrer Mannigfaltigkeit aus dem Leben in seiner Unhintergehbarkeit und Unergründlichkeit entspringen und in ihrer Pluralität »selbstmächtig, unbeweisbar und unzerstörbar nebeneinander aufrecht« 47 dastehen, vermag Rickert diese Position unter dem Vorwurf des Historismus – der bloßen Aneinanderreihung der einzelnen Typen der Weltanschauungen, ohne systematisch-philosophisches Prinzip – nicht zu teilen. 48 Auch richtet sich sein zentraler, durchaus polemischer Kritikpunkt an der Lebensphilosophie gegen ihren »Standpunkt der Lebensimmanenz« 49, den er wie folgt zugespitzt formuliert: Ausgangspunkt seiner Philosophie, sondern nur zur Wurzel der Weltanschauung, die nach einer ständigen Beruhigung strebt. 46 Vgl. Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften, GS XIX, 356–357. 47 Dilthey, Weltanschauungslehre, GS VIII, 86–87. 48 »Ja, der Historismus ist noch unphilosophischer als der Naturalismus, weil Geschichte keine systematische Wissenschaft ist« (Rickert, Philosophie des Lebens, 48). 49 Rickert, Philosophie des Lebens, 5.

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Leben und Ursprung

Das Leben ist in den Mittelpunkt des Universums zu stellen, und alles, wovon die Philosophie zu handeln hat, ist auf das Leben zu beziehen. […] Das Leben selber soll aus dem Leben heraus ohne Hilfe anderer Begriffe philosophieren, und eine solche Philosophie muß sich dann unmittelbar erleben lassen. 50

Der Einwand besteht näher in der scharfen Trennung zwischen dem »Leben des Lebens und [dem] Erkennen des Lebens« 51. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass das Leben in seiner individuellen Unmittelbarkeit eine erkenntnistheoretische Grenze für die Philosophie und die wissenschaftliche Erklärung darstellt. Erkennen ist für Rickert immer wissenschaftliches Erkennen und rein begrifflich, weshalb er mit Dilthey zumindest dahingehend übereinstimmt, dass die Lebenswirklichkeit nicht unter allgemeine Begriffe gefasst werden könne und das Erlebnis sich einer objektiven Erkenntnis entziehe. »Das bloße Erleben des Lebens ist stummgeboren und kann nie eine Sprache finden.« 52 Daraus folgt aber keine Abwertung des Lebens in seiner Unmittelbarkeit, auch wenn Rickert freilich ein solches Missverständnis durch Äußerungen wie: »die Lebensferne […] gehört zum Wesen des theoretischen Menschen« 53 bzw. dem »Willen zum theoretischen Verhalten« 54 provoziert. Schon Windelband bemerkt in seiner berühmten Straßburger Rektoratsrede »Geschichte und Naturwissenschaft«, dass »in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit – etwas Unaussagbares, Undefinierbares« 55 bleibt. Das Individuum in seiner Persönlichkeit und seinen Erlebnissen sowie das Weltgeschehen lassen sich in ihrer Unmittelbarkeit nicht in eine Form bzw. Begrifflichkeit feststellen. Diesen »Riss« zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, den alle bisherigen philosophischen Welterklärungen nur durch Einseitigkeit Rickert, Philosophie des Lebens, 5. Dieser Einwand erstreckt sich auf alle Richtungen der Lebensphilosophie sowie den naturalistischen Biologismus (vgl. Rickert, Philosophie des Lebens, 36, 74). 51 Rickert, Philosophie des Lebens, 194. 52 Heinrich Rickert, »Lebenswerte und Kulturwerte«, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 2, 1911, 131–166, hier 157. 53 Rickert, »Lebenswerte und Kulturwerte«, 155. 54 Heinrich Rickert, »Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte«, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 9, 1920/21, 1–42, hier 25. 55 Wilhelm Windelband, »Geschichte und Naturwissenschaft«, in: Wilhelm Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen, Mohr (Paul Siebeck), 7/81921, 136–160, hier 159. 50

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Franziska Neufeld

zu verdecken vermochten, gilt es laut Windelband vielmehr anzuerkennen. 56 Für den Neukantianismus ist die Kluft zwischen Leben und Denken daher Ausgangspunkt und Grenze der philosophischen Betrachtung des Lebens. Die Philosophie und die Wissenschaften können sich dem Leben nur rein wissenschaftlich, also von außen und objektiv nähern. Theoretisches Erkennen setzt damit immer schon eine Distanz und Gegenüberstellung des Gegenstandes, und daher auch des Lebens, voraus und bedeutet demnach eine begriffliche Umformung, eine Abstraktion, durch die wir uns dem Leben nur annähern können. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb Rickert der Lebensphilosophie mit dem Vorwurf des Irrationalismus 57 und Selbstwiderspruchs 58 ablehnend gegenübersteht und damit auch die Möglichkeit einer Philosophie als Erlebniswissenschaft von vornherein ausschließt. Denn man komme »beim Philosophieren über das Leben mit dem Leben allein nicht« 59 aus. Ein wissenschaftlich-philosophischer Zugang zum Leben ist damit ausschließlich von außen bzw. von oben 60 möglich, wodurch das Leben rein theoretisch betrachtet wird. Wir haben aber gesehen, dass bereits Dilthey versucht, erkenntnistheoretisch und streng wissenschaftlich (d. h. in einer vom StandVgl. Windelband, »Geschichte und Naturwissenschaft«, 160. »Die Zerstörung der unmittelbaren Erlebniseinheit beklagen, heißt die Wissenschaft überhaupt anklagen, nicht etwa einen besonderen wissenschaftlichen Standpunkt durch eine höhere wissenschaftliche Einsicht ersetzen« (Heinrich Rickert, »Vom Begriff der Philosophie«, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 1, 1910/11, 1–34, hier 22). 58 Der Selbstwiderspruch bestehe darin, dass auch die Lebensphilosophie als Philosophie das Leben begrifflich zu fassen suche. Sie sei damit aber immer schon eine Wissenschaft und könne dementsprechend das Leben in seiner Lebendigkeit nicht erfassen. Diese oberflächliche Kritik formuliert Rickert gegen alle Lebensphilosophien (vgl. Rickert, Philosophie des Lebens, 114–115). 59 Rickert, Philosophie des Lebens, VII. 60 Michael Großheim macht in diesem Zuge auf das »Turm-Motiv« innerhalb der Schriften Rickerts aufmerksam, durch das man, gleichsam über dem Leben schwebend, die Welt überblicken und formen kann (vgl. Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/Berlin, Bouvier Verlag, 1991, 8). Interessanterweise kann aber auch Rickert aufgrund seiner Wertphilosophie nicht gänzlich auf den Lebensbegriff verzichten. Unter ›Leben‹ versteht er jedoch ausschließlich das sinnvolle, d. h. das mit Werten verbundene Kulturleben. Durch überzeitliche, normgebende Werte erfährt das Leben dabei gleichsam eine Begründung von oben und gewinnt einen festen »Halt« (vgl. Rickert, »Psychologie der Weltanschauungen«, 39). Zur Wertlehrehre vgl. Rickert, »Vom Begriff der Philosophie«, 1–34. 56 57

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Leben und Ursprung

punkt der Lebensimmanenz ausgehenden, dem Leben selbst entsprechenden Strenge) in den vor-wissenschaftlichen Bereich des Lebens einzudringen, ohne begriffliche Umformung, sondern anhand einer verstehenden Beschreibung durch Selbstbesinnung. Und auch Heidegger wird sich, wie wir sehen werden, genau dieser hier angeführten Problematik einer Erlebniswissenschaft stellen, wenn er fragt: »Wie ist eine Wissenschaft von Erlebnissen als solchen möglich?« 61 Heidegger stimmt dabei mit der Kritik Rickerts an der Lebensphilosophie insofern überein, als auch er ausdrücklich die »Notwendigkeit strenger begrifflicher ›Formung‹« fordert, dabei sei jedoch »[ü]ber das Wie […] dieser Formung, über den Sinn der Strukturgebung des philosophischen Begriffs, über die Grundtendenz philosophisch-begrifflicher Explikation« noch nichts ausgemacht. 62 Damit verlangt Heidegger, auch wenn er von der faktischen Lebenserfahrung ausgeht, eine begriffliche Strenge ihrer Explikation, die dem Leben selbst entspringt (»formale Anzeige«), und schützt sich so vor dem Einwand des Irrationalismus und einer Unergründlichkeitsthese. Seine zentrale Kritik an der Lebensphilosophie Diltheys richtet sich folglich gegen dessen fehlende Problematisierung der inneren Intellektualität des Bewusstseins und der nicht aus dem Leben selbst geschöpften Begriffsbildung. 63 Andererseits bleibt Heidegger nicht bei einer Beschreibung der faktischen Lebenserfahrung stehen, sondern versucht vielmehr, zu ihrer Ursprungssphäre zu gelangen. Auf diese Weise unternimmt er den auf den ersten Blick paradoxen Versuch einer vortheoretischen Letztbegründung des Lebens, was im Folgenden näher beleuchtet wird.

4.

Philosophie als Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich

In der bahnbrechenden Kriegsnotsemestervorlesung von 1919 ist Heidegger auf der Suche nach einem völlig neuen, radikalen, auf das Ursprüngliche selbst abzielenden Begriff von Philosophie, womit freilich die alles entscheidende Frage ›Was ist Philosophie?‹ im Raum Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 98. Heidegger, »Anmerkungen zu Jaspers«, GA 9, 13. 63 Vgl. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 161– 163. 61 62

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steht, die um das Problemfeld der Idee der Philosophie bzw. Phänomenologie als vortheoretischer Urwissenschaft der Lebens- und Erlebnissphäre kreist. 64 Damit ist die Bestimmung der Philosophie schon richtungsweisend dahingehend angezeigt, dass es sich bei ihr um eine Wissenschaft vom Ursprung handelt, die auf eine radikale Letztbegründung des Lebens aus ist: »Sie [die Phänomenologie] ist die Urwissenschaft, die Wissenschaft vom absoluten Ursprung des Geistes an und für sich – ›Leben an und für sich‹« 65. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass die Philosophie ihren eigentlichen Ursprung bisher verfehlt habe und es daher gelte, »das Schicksal der Philosophie, ihre Idee, deren größte Manifestationen wir kennen unter den Namen: Plato, Kant, Hegel […] ursprünglich und radikal aus einer neuen Grundsituation heraus zum ›Leben‹ zu bringen« 66. Damit will Heidegger das traditionelle Ursprungsverständnis unterlaufen und steht ganz in der Nähe zur Phänomenologie Husserls, der ebenfalls den Anspruch eines radikalen Rückgangs zu den wahren Anfängen und Ursprüngen der Philosophie fordert. 67 Andererseits wird das Leben als das gesuchte Ursprungsgebiet der Philosophie angedeutet, das von der Philosophie in ihrer 2000-jährigen Tradition aufgrund des Primats des Theoretischen immer schon übergangen wurde. Das besagt aber zugleich, dass der echte, absolute Ursprung im Leben, und zwar im ›Leben an und für sich‹, liege und nur eine vortheoretische Urwissenschaft die Philosophie zu ihrem Ursprung zurückführen könne, »sich in ihr die Idee der Wissenschaft allererst radikal erfüllt« 68. Sie ist demnach eine ›Theorie‹ vor aller Theorie, keine Logik oder Erkenntnistheorie, sondern eine a-theoretische ›Wissenschaft‹, aus der alle Theorie und Wissenschaft als das Sekundäre allererst entspringt. Mit der Entdeckung des ›Vortheoretischen‹ als Ursprungsgebiet des Theoretischen kann daher nur eine solche Wissenschaft die echte Urwissenschaft sein, die die Erlebnissphäre vor- bzw. a-theoretisch untersucht. Heidegger ist dabei, ganz im Sinne Husserls, um eine wissenschaftliche Strenge der Philosophie bemüht, die sich aber klar von der tradierten, an den Naturwissenschaften orientierten wissenschaftlichen Strenge unterscheiden

64 65 66 67 68

Vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 12. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 1. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 1–2. Vgl. Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, Hua XXV, 60–62. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 171.

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Leben und Ursprung

soll. Daher wäre es verfehlt, anzunehmen, Heidegger würde hier eine ganz ›unwissenschaftliche‹, ›naive‹ Vor-Philosophie betreiben, indem er bei der unmittelbaren Lebenserfahrung stehenbleibe. Die Naivität des unmittelbaren Lebens gilt es vielmehr einzuklammern, 69 jedoch in einer Umwendung ihrer selbst, um sie so in der Struktur aus ihrem Ursprung, der ihr sonst verdeckt bleibt, verstehend freizulegen. Ähnlich wie Dilthey stellt sich auch Heidegger die Aufgabe einer philosophischen Erschließung bzw. Explikation des Lebens in einer dem ›Phänomen Leben‹ angemessenen und ihm selbst entspringenden ›vortheoretischen Strenge‹ 70, die es vor der Entlebung und Objektivierung im wissenschaftlichen Denken schützt. Doch während sich die Lebensphilosophie, trotz ihrer echten Tendenzen, das Leben aus sich selbst heraus zu deuten, an tradierten Begriffen orientiert und damit letztlich auch ihr, wenn auch verdeckt, der Primat des Theoretischen zugrunde liegt, sucht Heidegger mithilfe der Phänomenologie den lebensphilosophischen Ansatz zu radikalisieren und ursprünglich zu vollziehen. 71 Die Phänomenologie braucht also neben dem angemessenen Zugang zum Leben eine eigene Form des Ausdrucks, eine eigene Art von Begrifflichkeit, die die Phänomene verstehend und beschreibend wiedergeben kann, ohne sogleich in deren Objektivierung zurückzufallen. Im »Prinzip aller Prinzipien« der Phänomenologie Husserls, das Heidegger zu einem vortheoretisch-hermeneutischen Prinzip vor aller Theorie umdeutet, findet er einen solch ›streng wissenschaftlichen‹ Zugang zur Erlebnissphäre. Er bezeichnet es näher als die hermeneutische »Urintention des wahrhaften Lebens überhaupt, die Urhaltung des Erlebens und Lebens als solchen, die absolute, mit dem Erleben selbst identische Lebenssympathie« 72. Sie ist eine in lebendiVgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 3. Zur positiven Umwandlung der phänomenologischen Reduktion als Verständlichmachung der Selbstgenügsamkeit des Lebens an sich vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 249–250. 70 »Die ›Strenge‹ der Methode hat nichts zu tun mit rationalistischer Exaktheit der Naturwissenschaft. ›Strenge‹ betrifft nicht logisches Beweisen und unwiderlegliches Argumentieren, restloses Aufgehen der Rechnung oder gar mathematische Klarheit der Begriffe; ›streng‹ : ›angestrengt‹ – rein hingegeben den echten Lebenssituationen; aber auch nach der anderen Seite gesehen: nicht Mystik und Mystizismus, keine willkürlichen Verstiegenheiten und schwächlichen Ahndungen!!« (Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 137; vgl. 231) 71 Vgl. Heidegger, »Anmerkungen zu Jaspers«, GA 9, 14. 72 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 110. 69

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ger Forschung zu vollziehende Grundhaltung, die wir erst durch das »phänomenologische Leben in seiner wachsenden Steigerung seiner selbst« 73 erreichen. Heidegger bestimmt die hermeneutische Intuition (als Vorläuferin der »formalen Anzeige«) näher als eine »originäre phänomenologische Rück- und Vorgriffs-bildung, aus der jede theoretisch-objektivierende, ja transzendente Setzung herausfällt« 74. Damit meint er, dass sich das Leben einer objektivierenden Begrifflichkeit und Generalisierung entzieht, aber im ›Rückgriff‹ auf seine Motivationen und im ›Vorgriff‹ auf seine Tendenzen erlebend verstehbar ist. Das heißt, im Mitgehen und sich auf das Erlebnis einlassende, gleichsam affizieren lassende Erleben sei durch ein ›Hineinhören‹ und ›Heraushören‹ der vom Leben selbst motivierten Ausdruckgestalten eine »absolute Verstehbarkeit des Lebens« sowohl in seiner faktischen Lebenserfahrung (welthaftes Etwas) als auch in seinem Ursprung (Ur-Etwas) – ohne stillstellende Reflexion 75 – möglich. 76 Entgegen der Behauptung Rickerts, dass das bloße Erleben des Lebens ›stummgeboren‹ sei, nie eine Sprache finden könne und damit irrational sei, 77 heißt es bei Heidegger: »Bedeutungsmäßiges also, Sprachausdruck, braucht nicht ohne weiteres theoretisch oder gar objektartig meinend zu sein, sondern ist ursprünglich erlebend, vorwelthaft bzw. welthaft.« 78 Diese sprachlichen Ausdrücke sind daher keine feststehenden und allgemeingültigen Begriffe, sondern »hermeneutische Begriffe« 79, die in phänomenologischer Grundhaltung vollzugsmäßig gewonnen werden müssen. Die hermeneutische Intuition entwickelt Heidegger dabei in Anlehnung an Husserls Unterscheidung von Formalisierung und Generalisierung, wobei er zugleich die Leistung der Formalisierung Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 110. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 117. 75 Heidegger folgt hier der Kritik Natorps an der Phänomenologie Husserls, kritisiert aber auch dessen Ansatz der Rekonstruktion als theoretische Wiedergewinnung des ursprünglichen Lebens (vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 102–109). Zur Methode der Rekonstruktion vgl. Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, 189–213. 76 Vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 219. Zum Phänomen des Hineinhörens als Verstehen vgl. Manfred Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1990, 79– 80. 77 Vgl. Rickert, »Lebenswerte und Kulturwerte«, 157. 78 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 116–117. 79 Heidegger, »Anmerkungen zu Jaspers«, GA 9, 32. 73 74

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(Etwas überhaupt) gegenüber einem stufengebundenen Theoretisierungsprozess hervorhebt. Denn auch die hermeneutische Intuition geht letztlich auf »das Eidetische« (Sein) zurück, sie ist jedoch in ihrem ursprünglichen Charakter aus dem Leben selbst motiviert. 80 Da alles Erlebte formal als Etwas aufgefasst werden könne, ist der eigentliche Gegenstandsbereich der vortheoretischen Urwissenschaft daher nicht das konkrete Umwelterleben, wie es zunächst den Anschein erweckt, sondern das vorweltliche Ur-Etwas: »›Erlebbares überhaupt‹« 81. Es ist vorweltlich, was besagt, dass es sich noch nicht in konkrete welthafte Erlebnisse ausgestaltet und differenziert hat. Es ist aber auch nicht dem Leben als ein metaphysisches Prinzip enthoben, außer dem Leben stehend, sondern zeichnet sich vielmehr als ein aus dem ›Inneren‹ des Lebens selbst entspringender ›Ursprungsbereich‹ aus, der den Charakter des »›Noch-nicht‹« hat und »Index für die höchste Potenzialität des Lebens« selbst ist. 82 Das Vorweltliche ist ein rein intentionales »Moment des ›Auf zu‹, der ›Richtung auf‹, des ›In eine (bestimmte) Welt hinein‹ – und zwar in seiner ungeschwächten ›Lebensschwungkraft‹« 83, wie er in Anlehnung an Bergson schreibt. Es ist ein »Grundphänomen« des Lebens, das verstehend in bestimmten Erlebnissituationen besonders »intensiv gelebten Lebens« erfahren werden kann, in denen das Leben gerade nicht unabgehoben in der faktischen Lebenserfahrung aufgeht bzw. sich verliert. In dieser ausgezeichneten Grunderfahrung wird der »Grundcharakter des Lebens« – dass das Leben »in sich motiviert ist und Tendenz hat; motivierende Tendenz und tendierende Motivation« 84 – formal, ohne inhaltliche Bestimmung der Ausdifferenzierung in konkrete Lebenswelten, sondern vielmehr in seiner Indifferenz als Indifferenz verstehbar. Das Ur-Etwas ist der Ursprung des Lebens, das sich von der faktischen Lebenserfahrung in eine andere (nahe einer eidetischen) Dimension abhebt, weshalb sich die Frage stellt, 80 Vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 112–115, 220; Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 216–217. Erst 1920/21 entwickelt Heidegger in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Formalisierung und Generalisierung die formale Anzeige (vgl. Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, in: GA, Bd. 60, hrsg. von Matthias Jung/Thomas Regehly/ Claudius Strube, Frankfurt a. M., Klostermann, 1995, 55–65). 81 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 115. 82 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 115. 83 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 115. 84 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 218.

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wie diese Urerfahrung überhaupt erfahrbar ist, wenn unsere Erfahrung doch immer in konkreten ausdifferenzierten Erlebnissen besteht. In der Kriegsnotsemestervorlesung gibt Heidegger freilich keine Antwort, sondern ist primär um die Entdeckung der Sphäre des Vortheoretischen als Ursprungsgebiet des Theoretischen und Gegenstandsbereich der Philosophie bemüht. Erst in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie wendet er sich im konkret phänomenologisch-hermeneutischen Vollzug der Gewinnung und Freilegung eines unverstellten und ursprünglichen Zugangs zum ›Leben an und für sich‹ (Ur-Etwas) zu. Den Hauptgegenstand seiner Untersuchung beschreibt er dabei folgendermaßen: Die Idee der Phänomenologie ist: Ursprungswissenschaft vom Leben. Das faktische Leben selbst und die unendliche Fülle der in ihm gelebten Welten soll nicht erforscht werden, sondern das Leben als entspringend, als aus einem Ursprung hervorgehend. 85

Hier zeigt sich deutlich, dass es Heidegger nicht um die Gewinnung konkreter Lebenserfahrung geht, weshalb auch die ausschlaggebende Differenz der Lebensphänomenologie Heideggers zur Lebensphilosophie Diltheys an dieser Stelle unzweideutig erkennbar ist. Anders als Dilthey, der die Vieldeutigkeit des Lebens in seiner historischen Realität zum unhintergehbaren Leitprinzip seiner Philosophie macht und damit jede Letztbegründung des Lebens ausschließt und als metaphysisch verwirft, versucht Heidegger ganz im Sinne einer prima philosophia das Leben auf einen letzten, absoluten Grund hin auszulegen. Daher trennt Heidegger auch strikt zwischen den beiden Lebensbegriffen »Leben an sich« als faktischer Lebenserfahrung und »Leben an und für sich« als Ursprungsgebiet. Ihre Trennung zeigt aber auch an, dass dieser absolute Grund weder außerhalb des Lebens liegt noch einfach im Leben gegeben ist, sondern überhaupt erst innerhalb der faktischen Lebenserfahrung ursprünglich gewonnen werden muss. Heidegger geht daher ebenfalls von der Unhintergehbarkeit der faktischen Lebenserfahrung aus, verbindet sie jedoch mit seinem radikal neuen Ursprungsverständnis, das wir als die geschichtlich-hermeneutische Ursprungsdimension bezeichnen. Dies soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

85

Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 81.

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Leben und Ursprung

Zu Beginn der Vorlesung macht Heidegger auf die »Urparadoxie des Lebens an und für sich«, mit der die Phänomenologie »unablässig kämpft«, aufmerksam. 86 Sie bestehe einerseits in dem methodischen Problem, dass die Phänomenologie nur im Vollzug der in ihr wirkenden Tendenzen zu sich selbst und ihrem eigentlichen Grundproblem geführt werden könne, und sie sich dadurch erst in ihrem Vollzug verwirkliche und ein Verständnis ihrer selbst und ihrer eigentlichen Aufgabe gewinne. Gleichzeitig könne sie aber nur in ihrer echten Verwirklichung ihre Aufgabe erfüllen und stehe damit jederzeit vor der Gefahr, in Unechtheit abzufallen. »Sie muß sich echt manifestieren, um sich selbst als Manifestation manifestierend zu verstehen.« 87 Ihre Aufgabe wird dabei dadurch erschwert, dass das Leben in seinen ursprünglichen Tendenzen und Motivationen im Leben an sich nicht originär gegeben ist, sondern erst in urwissenschaftlicher Methode originär gewonnen und freigelegt werden muss – worin dann auch eine der entscheidenden Differenzen zur Phänomenologie Husserls liegt. 88 Andererseits dreht sich die Phänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft um die Grundproblematik der Gewinnung des Anfangs, der jede Urwissenschaft unterliegt: Denn um den Ursprung bestimmen und freilegen zu können, muss bereits eine urwissenschaftliche Methode erarbeitet sein, die nicht aus den Methoden der Einzelwissenschaften gewonnen werden kann. Andererseits kann die urwissenschaftliche Methode nur dann ›echtmethodisch‹ sein, wenn sie dem Wesen des Gegenstandes selbst entspringt. 89 »Letzte Ursprünge sind wesenhaft nur aus sich selbst und in sich selbst zu begreifen« 90 und damit wesenhaft zirkulär. Während Heidegger in der Kriegsnotsemestervorlesung die Zirkelhaftigkeit der Urwissenschaft Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 2. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 2. 88 Zur Differenz des Letztbegründungsanspruches zwischen Husserl und Heidegger vgl. Virginie Palette, »Heideggers früher Durchbruch zur hermeneutischen Phänomenologie als Kritik des ›cartesianischen Weges‹ in Husserls Ideen I«, in: Friederike Rese (Hrsg.), Heidegger und Husserl im Vergleich, Frankfurt a. M., Klostermann, 2010, 152–168. Ralf Elm betont hingegen die Nähe Heideggers zu Husserl innerhalb seiner Ursprungskonzeption (vgl. Ralf Elm, »Das Leben und die Ursprünglichkeit des Selbst. Das systematische Grundproblem im Frühwerk Heideggers«, in: Ralf Elm/ Kristian Köchy/Manfred Meyer [Hrsg.], Hermeneutik des Lebens. Potentiale des Lebensbegriffs in der Krise der Moderne, Freiburg/München, Alber, 1999, 172–213, hier 207–210). 89 Vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 15–16. 90 Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 16. 86 87

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als ein erkenntnistheoretisches Problem ›aufgehoben‹ hat, 91 wird sie nun vielmehr zum hermeneutischen Wesenscharakteristikum der echten, vortheoretischen Urwissenschaft. Angesichts der Paradoxie ist das »ursprünglichste und endgültigste Grundproblem der Phänomenologie […] sie selbst für sich selbst« 92. Diese Grundproblematik fasst Heidegger wie folgt zusammen: 1. Ursprungsgebiet nicht im Leben an sich (dessen Grundaspekt ›Selbstgenügsamkeit‹, der es zugleich fraglich macht, ob überhaupt ein Ursprungsgebiet des Lebens zugänglich wird). 2. Ursprungsgebiet nur radikaler wissenschaftlicher Methode zugänglich, überhaupt gegenständlich nicht in anderer Weise erlebnismäßigen Erfassens. 93

Damit stellt sich für und mit Heidegger einerseits die Frage nach dem Ursprungsgebiet selbst, andererseits die nach der Methodik, d. h. die Frage nach der echtmethodischen, ›urwissenschaftlichen‹ Gewinnung und Erschließung des Ursprungs. Daneben eröffnet er das Problem der »Notwendigkeit« einer Ursprungswissenschaft, denn, so Heidegger, »faktisch könnte der Lebensablauf sein, ohne diese Wissenschaft je zu betreiben« 94. Doch was versteht Heidegger unter Ursprung genauer? »Der ›Ursprung‹ ist nicht ein letzter einfacher Satz, ein Axiom, aus dem alles abzuleiten wäre, sondern ein ganz Anderes« 95. Durch diese implizite Kritik am Neukantianismus versucht Heidegger das gewöhnliche ontologisch-metaphysische und transzendental-erkenntnistheoretische Ursprungsverständnis seit der Antike und Neuzeit zu destruieren. Heidegger sucht aber kein der faktischen Lebenserfahrung zugrundeliegendes Prinzip, mit dem er auf absolute, allgemeingültige und überzeitliche Erkenntnis abheben könnte. Dieses ›Andere‹ – das Leben an und für sich – ist etwas, dem man sich im Vollzug der phänomenologischen Methode immer weiter annähern muss, was Heidegger in seiner Vorlesung auch beispielhaft vollzieht. »Der Ursprung und das Ursprungsgebiet haben eine ganz ursprüngliche Weise des erlebenden Erfassens zum Korrelat« 96, die es erst zu gewinnen gilt. 91 92 93 94 95 96

Vgl. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 95–97. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 1. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 27. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 86. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 26, vgl. 203. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 26.

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Um daher überhaupt einen Anfang gewinnen zu können, wendet sich Heidegger zunächst der Beschreibung des Grundcharakters des ›Lebens an sich‹ zu, um sich von dort aus dem Ursprungsgebiet annähern zu können. Die faktische Lebenserfahrung hat Heidegger bereits am ›Umwelterlebnis‹ 97 in der Kriegsnotsemestervorlesung eindringlich beschrieben. In den Grundproblemen der Phänomenologie stellt er nun den umfassenden Weltcharakter, bestehend aus der Um-, Mit- und Selbstwelt, heraus, welche die Lebenswelt bilden und sich gegenseitig durchdringen. »Unser Leben ist unsere Welt« 98, in der wir, wenn auch zumeist ›unabgehoben‹, immer mit dabei sind, was besagt, dass wir unser Leben im Alltag lebend vollziehen, unser Leben führen und uns daher nicht von außen beobachtend zu ihm in Distanz setzen, weil es uns am nächsten ist. Es ist das »Fehlen der absoluten Distanz des Lebens an sich und zu sich selbst« 99, wodurch es sich selbst nicht fragwürdig wird. Das Grundcharakteristikum des Lebens an sich stellt Heidegger daher als die Selbstgenügsamkeit heraus. Sie ist eine »charakterisierte Motivationsrichtung des Lebens an sich«, die aus seinem faktischen Ablauf selbst stammt. Das Leben spricht sich immer schon in seiner eigenen Sprache an. Seine Aufgaben und Anforderungen, die es an sich selber stellt, verbleiben dabei in dem Umkreis seiner eigenen Motivations- und Tendenzrichtung. »Es braucht strukturmäßig aus sich nicht heraus (sich nicht aus sich selbst herausdrehen), um seine genuinen Tendenzen zur Erfüllung zu bringen.« 100 Das Leben hat sich auf diese Weise immer schon ausgelegt, jedoch nicht auf seinen Ursprung hin. Und weil es in seiner alltäglichen Auslegung verfangen ist, bemerkt man gar nicht, »in ihm selbst bleibend, daß es selbst überhaupt noch anders angesprochen werden kann« 101. Heidegger wird erst in den Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles den Terminus »Ruinanz« als den »eigene[n] Sturzcharakter des faktischen Lebens« 102 verwenden, was er mit den Wendungen »Unvollkommenheiten« »Das Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen nach«, das ich verstehend als Ereignis erlebe (Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 75). 98 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 33. 99 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 29. 100 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 31. 101 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 31. 102 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 121. 97

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und »Ungenügendheiten« 103 des Lebens schon andeutet. Auch könne das Phänomen der Selbstgenügsamkeit im Leben an sich gar nicht von ihm selbst gesehen werden. Jede Fraglichkeit des Lebens, auch die theoretisch-wissenschaftliche, erhält ihre Antwort aus der Selbstgenügsamkeit als Strukturform des Lebens selbst. Weltanschauungen, Wissenschaft, Religion – sie alle geben dem Leben auf seine großen Rätsel letzte Antworten, einen Sinn, der aber nicht aus dem Ursprungsgebiet des Lebens gewonnen wird. 104 Von hier erklärt sich dann auch, warum Heidegger kritisch gegenüber einer Philosophie als Weltanschauung eingestellt ist. Zusammengefasst: [Der Sinn der Selbstgenügsamkeit] trifft einen Strukturcharakter des Lebens, der es auf sich selbst stellt: daß es sich selbst ein ›an sich‹ ist. Es trägt in sich selbst strukturhaft (das alles inhaltliche Wie und Was im Innerstem durchherrscht) die von ihm selbst benötigten Verfügbarkeiten als Möglichkeiten der Erfüllung der ihm selbst entwachsenden Tendenzen. 105

Angesichts der Selbstgenügsamkeit des Lebens stellt sich jedoch die Frage, wie überhaupt ein Zugang zum Ursprungsgebiet innerhalb der faktischen Lebenserfahrung gewonnen werden kann. Wie soll denn das Leben streng wissenschaftlich fraglich werden können? Es bedarf daher eines Moments der Distanzierung bzw. Herausdrehung des Lebens aus sich selbst, welches in sich selbst die Motivierung trägt, wegweisend ins Ursprungsgebiet zu führen. Ein solches Moment sieht Heidegger zunächst im Phänomen der Zugespitztheit bzw. Betontheit der faktischen Lebenserfahrung in seinen Bedeutsamkeitszusammenhängen auf die Selbstwelt. Sie entspringt dabei keiner besonderen Betrachtung und Beobachtung ihrer selbst von außen, »sondern faktisch aktuellem, weltwärts gerichtetem Vollzug des Lebens« 106. In der alltäglichen Lebenswelt ist die Selbstwelt sogar zumeist ›unabgehoben‹ und geht ganz in den lebensweltlichen Bezügen auf, in der die Selbsthabe ausdrücklich fehlt. Als »Grundsituation« ist in ihr die Lebenswelt »in einer Situation des Selbst« gelebt und bekundet sich in den jeweiligen Bedeutsamkeitszusammenhängen »in und für eine jeweilige Situation der Selbstwelt«. Sie bildet damit als

103 104 105 106

Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 42. Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 42. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 42. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 60.

148 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Leben und Ursprung

»labile, fließende Zuständlichkeit« das Zentrum aller lebensweltlichen Bezüge im faktischen Leben. 107 »Diese Zugespitztheit ist kein Wasgehalt, sondern ein Wiegehalt, in dem jeder noch so verschiedene Wasgehalt stehen kann.« 108 Das bedeutet, dass die Wasgehalte (Gehaltssinn), auf die das faktische Leben bezogen ist, in der Zugespitztheit auf die Selbstwelt einen Wandel zum Wiegehalt (Vollzugssinn) erfahren können, der nicht theoretisch abstrahiert werden kann. Dieser Wandel zur Wie-Betontheit wird bspw. erfahren »in und an einem bedeutenden Menschen, in dessen Selbstleben die Welt eine ganz neue Charakterisierung erfährt« 109 und demnach eine besondere ›Grundsituation‹ hervorrufen kann. Heidegger hat hier insbesondere das Christentum vor Augen, das für ihn das tiefste historische Paradigma für die Schwerpunktlegung des faktischen Lebens in die Selbstwelt markiert, 110 aber auch Forscher, Künstler, Literaten, die eine Bereicherung für unser Leben darstellen – vielleicht sogar eine Gefahr –, da sie uns aus der Selbstgenügsamkeit des Lebens heraus in die Beunruhigung stoßen können. Die oben beschriebene Selbstwelt darf aber noch nicht vorschnell mit dem Ursprungsgebiet gleichgesetzt werden, denn die Selbstgenügsamkeit des Lebens zeigte uns gerade, dass das faktische Leben aufgrund der Vertrautheit mit der Welt zunächst und zumeist in seinen lebensweltlichen Bezügen aufgeht: »Man kann leben, ohne sich selbst zu haben.« 111 Es muss folglich eine ›Grunderfahrung‹ der Selbstwelt streng urwissenschaftlich gewonnen werden, die in das Ursprungsgebiet (das Selbst) führt: Gewinnung der Grunderfahrung der Selbstwelt: es handelt sich also um eine Erfahrung der Selbstwelt, in der diese selbst als solche in ihrer Abgehobenheit erfahren wird, selbst also im eigenen Grundaspekt irgendwie eigentümlich erfahren wird. Aber nicht nur um den genuinen Vollzug einer Selbstweltgrunderfahrung, sondern zugleich um ein Verstehen ihrer BeHeidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 62. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 85. 109 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 175. 110 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 56, 61. Zur Bedeutung der religiösen Erfahrung des faktischen Lebens vgl. Gerhard Ruff, Am Ursprung der Zeit. Studie zu Martin Heideggers phänomenologischem Zugang zur christlichen Religion in den ersten »Freiburger Vorlesungen«, Berlin, Duncker und Humblot, 1997. 111 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 260. 107 108

149 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Franziska Neufeld

sonderheit als gerade dieser Grunderfahrung (nicht Vollzug nur der Grunderfahrung, sondern ›Gewinnung‹) handelt es sich. Wir wollen verstehen: die Weise des Erfahrens der Selbstwelt, ihren eigenen Sinn, die darin beschlossenen Tendenzen und Möglichkeiten. 112

In den fragmentarischen Schlusspassagen der Vorlesung deutet Heidegger das Phänomen des ›Selbst‹ bzw. des ›Sich-selbst-habens‹ – das er in der »Jaspers-Rezension« als das existenzielle Phänomen des »›ich bin‹« 113 herausstellt – als die gesuchte Grundsituation bzw. das Ursprungsgebiet an. Grundsituationen sind für Heidegger »letzte Phänomene«, die nur im ›habhaftwerdenden‹ Vollzugsinn ihrer selbst verstehend erlebt werden können und sich damit jeglicher theoretischen Erklärung entziehen. 114 Das Selbst sei dabei gerade kein transzendentales, durch Reflexion gewonnenes, »›reine[s] Ich‹« bzw. »›Ichpunkt‹«, 115 sondern vielmehr eine »Ausdrucksgestalt des Selbst im Michselbsthaben«. Dies besagt letztlich: »[D]ie lebendige Situation [des Selbst als Sichselbsthaben] wird verständlich«, 116 wobei das Selbst immer als ein historisch-geschichtliches verstanden werden muss. Die Urstruktur der Situation stellt Heidegger als Zusammenhang von Bezugs-, Vollzugs- und Gehaltssinn heraus als »›Sinnführungen‹ […] des Lebensstromes selbst« 117 – man denke hier an die Lebensschwungkraft aus der Kriegsnotsemestervorlesung. In ihr seien die aufgewiesenen Grundphänomene des Lebens, wie das der Selbstgenügsamkeit, destruiert und aufgehoben »in die reine Sphäre des Lebens« 118, d. h. durch die Destruktion der traditionellen Begriffsbildung kommen die echten Grunderfahrungen in ihrer Lebendigkeit erst zur Abhebung in echter, hermeneutischer Explikation, 119 was Heidegger auch als »›Diahermeneutik‹« 120 bezeichnet. Schlussendlich kommt es Heidegger auf eine Vertiefung des Selbst in seine Ursprünglichkeit – verstanden als reine, echte Selbstbezüglichkeit – an, die er in der prozesshaft sich steigernden »Konzentration des Vollzugs« sieht, wodurch es schließlich zur »Spontaneität des Selbst« 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 101. Heidegger, »Anmerkungen zu Jaspers«, GA 9, 10. Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 102–103. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 247. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 166. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261. Vgl. Heidegger, »Anmerkungen zu Jaspers«, GA 9, 34. Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 262–263.

150 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Leben und Ursprung

kommt. 121 Sie ist der gesuchte Ursprung, aus dem »der Grundsinn von ›Existenz‹ geschöpft werden kann« 122. Die Ursprungswissenschaft ist somit eine »Phänomenologie des Selbst«, die den »Ursprungssinn von Existenz« – die Situation des Selbst – verstehbar zu machen sucht. 123 Dabei kommt es hier nicht auf den Inhalt des Erlebten an, sondern auf die Spontaneität als gestaltende Lebensschwungkraft in reiner Potenzialität.

5.

Schlussbetrachtung: Hermeneutische Ursprungsdimension

Es wurde gezeigt, dass Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen das Leben zum Ausgangs- und Zielpunkt der Philosophie macht. Dabei versucht er vor allem, den in der tradierten Philosophie vorherrschenden Primat des Theoretischen, der exemplarisch an der neukantianischen Position Rickerts dargestellt wurde, zu destruieren. Wie schon zuvor Dilthey, zeigt auch Heidegger auf, dass das Leben kein irrationaler, philosophiefremder Gegenstand ist, sondern vielmehr ein Grundphänomen. Während es jedoch der Lebensphilosophie an einer strengen, aus dem Leben selbst geschöpften Begrifflichkeit fehlt, greift Heidegger ihre Tendenzen auf und radikalisiert sie durch eine hermeneutisch gewandelte Lebensphänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft. Gegen Rickert gewendet kann Heidegger dann auch sagen, dass die Lebensphilosophie für ihn eine »notwendige Station auf dem Wege der Philosophie [sei], im Gegensatz zur leer formalen Transzendentalphilosophie« 124. Doch trotz seiner Nähe zur Lebensphilosophie darf nicht übersehen werden, dass er Philosophie ausdrücklich als ›Ursprungsforschung‹ versteht, weshalb sich schon im Ansatz eine ausschlaggebende Differenz gegenüber der Lebensphilosophie zeigt. Heidegger ›transzendiert‹ auf diese Weise die Unhintergehbarkeit des faktisch-historischen Lebens durch Eröffnung einer neuen, dem Leben an sich enthobenen Dimension, die – trotz vehementer Abgrenzungsversuche – eine gewisse Nähe zu einem transzendentalphilosophischen Ich aufweist, sich jedoch allen metaphysischen 121 122 123 124

Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 260. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 167. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 154.

151 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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Setzungen entzieht und vielmehr als Lebensschwung, reines BeimLeben-selbst-sein, zu verstehen ist. 125 Galt innerhalb der philosophischen Tradition zuvor der Ursprung als etwas Letztes, als ein konstituierendes Prinzip, ein Axiom, ein Apriori, mit dem man auf überzeitliche, allgemeingültige und absolute Erkenntnis aus ist, eröffnet Heidegger mit seiner vortheoretischen Urwissenschaft eine völlig neue, aus dem Leben selbst entspringende Ursprungsdimension, die sich jeder absoluten Letztbegründung und dem Fundierungsanspruch der übrigen Wissenschaften aufgrund ihres hermeneutisch-vortheoretischen Charakters entzieht. Denn anders als im traditionellen Verständnis besteht die Hierarchie zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften nun nicht mehr darin, dass sie die höchste Wissenschaft ist, weil durch sie die anderen Wissenschaften ihr Fundament erhalten, sie deren Erkenntnisbedingungen klärt oder sie zu einem einheitlichen System werden lässt. Sondern sie verbleibt als vortheoretische Urwissenschaft ganz in der Lebens- und Erlebnissphäre, aus der überhaupt Wissenschaft als Ausdruckszusammenhang entspringt, weshalb sie gewissermaßen den geforderten Bruch – den Sprung – zwischen sich und den theoretischen Wissenschaften sowie der theoretisch orientierten Philosophie radikal vollzieht. 126 Auch versteht sich der Ursprungsbegriff nicht mehr als ein der Sache nach erstes, sondern wird vielmehr im Rückbezug auf die faktische Lebenserfahrung in eine geschichtlich-hermeneutische Dimension überführt. Auf diese Weise ist ein Offen-Lassen der Perspektive, ein ständiges Neu-Ansetzen gefordert, weshalb unter der Absolutheit des Ursprungs auch keine absoluten Erkenntnisse zu verstehen sind, sondern vielmehr ein hermeneutisches Ursprungsverstehen in immer Vgl. Pöggeler, Der Denkweg, 28. Diese Bestimmung des Ursprungs ändert sich jedoch mit dem ab 1921 einsetzenden Ontologisierungsprozess, in dem Heidegger nun die Regionen des Seienden durch das Prinzip des Seins fundiert: »Die Problematik der Philosophie betrifft das Sein des faktischen Lebens. Philosophie ist in dieser Hinsicht prinzipielle Ontologie, so zwar, daß die bestimmten einzelnen welthaften regionalen Ontologien von der Ontologie der Faktizität her Problemgrund und Problemsinn empfangen« (Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und der Logik, in: GA, Bd. 62, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a. M., Klostermann, 2005, 364). Zum Ursprungsdenken Heideggers und dessen Wandel nach der Fundamentalontologie vgl. Günter Figal: »Von Anfang an. Über die Möglichkeit voraussetzungslosen und dennoch geschichtlichen Denkens«, in: Emil Angehrn (Hrsg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin/New York, de Gruyter, 2007, 233–245. 125 126

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Leben und Ursprung

wieder zu erneuernder Aktivität, das nie ›fertig‹ ist. Kriterium der urwissenschaftlichen Methode sind folglich nicht Wahrheit/Richtigkeit oder Falschheit, sondern Nähe und Ferne zur Ursprünglichkeit der vollzogenen hermeneutischen Intuition in ihrer Vertiefung auf das Selbst in seiner Ursprünglichkeit.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion: Der Widerstand des Subjekts in der Epoché Camilla Croce

Abstract: Husserls Versuch, die Kontingenz in das reine Bewusstsein zu integrieren, wird in diesem Beitrag als der Felsen aufgewiesen, an dem der fundamentalistische Anspruch der Phänomenologie zerschellt. Es wird gezeigt, dass und wie unter dem Banner der Letztbegründung der neuen Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie die moderne Auffassung des Subjekts der Wissenschaft weiterwirkt. Was Husserls Streben nach einem Grund widersteht und die phänomenologische Begründung der Philosophie als ein im Imaginären befangenes, idealisiertes Selbstbild erscheinen lässt, wird sich als jenes unbewusste Subjekt des Begehrens erweisen, das die Phänomenologie glaubt, immer wieder neu durch die Reduktion verdrängen zu können. Dieses Begehren jedoch hält sich – gerade in der Skepsis, die Husserl besiegen wollte – am Leben und widersteht der Reduktion. This article identifies Husserl’s attempt to integrate contingency into pure consciousness as the rock on which the foundational claim of phenomenology shatters. It demonstrates how the modern conception of the scientific subject continues to operate under phenomenology’s banner of ultimate justification of new scientificity. There is something that resists Husserl’s pursuit of a foundation and which reveals the phenomenological legitimation of philosophy to be an idealized self-image trapped in fantasy. This reveals itself to be the unconscious subject of desire that phenomenology believed itself capable of displacing ever anew through the reduction. However, this desire remains alive and resists the reduction precisely in such skepticism that Husserl sought to defeat.

1.

Einführung: Leben und Philosophieren

Die Epoché weist eine wunde Stelle in Edmund Husserls Theorie der phänomenologischen Reduktion auf, von der letztlich auch die universale Gültigkeit der Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie abhängt. Der vorliegende Aufsatz hat zum Ziel, die Auswirkungen der ›Sache der Epoché‹ durch das Auffinden anderer Aspekte und Moti154 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

vationen ihres Gebrauchs für die postphänomenologische Philosophie herauszustellen. Die Brisanz der Epoché, so meine These, überschreitet die disziplinären Grenzen der transzendentalen Phänomenologie. Husserls Epoché bildete zunächst den ersten Schritt der transzendentalphänomenologischen Reduktion, durch welche die Phänomenologie ihr Forschungsfeld – das reine Bewusstsein – immer genauer abgrenzen sollte. Zu diesem Zweck hatte die Epoché alle transzendenten Seinsgeltungen innerhalb des Bewusstseins so einzuklammern und zu neutralisieren, dass sie keinerlei Wirkung mehr auf das transzendentale Bewusstseinsleben ausüben. Sogar Husserl selbst musste allerdings einräumen, dass dies so nicht gelingt, ja dass in Bezug auf die Existenz der Welt die Ausklammerung des Weltglaubens, also des Glaubens in der transzendenten Setzung ihrer Existenz, den Verlust der Vernunft riskiert. 1 Er sah sich daher gezwungen, eine Spaltung im Bewusstseinsleben anzunehmen, die sich als ein »Sich-immerfort-in-tätigem-Verhalten-spalten« 2 entfalte, aber gleichwohl nicht verhindere, dass sich dennoch ein »allüberschauendes Ich […] etablieren kann« 3. In allen in der Reflexion auftretenden neuen Ichs identifiziert sich nach Husserl ein einziges Ich, welches sich in »evidenter synthetischer Identifizierung der Selbigkeit aller dieser Aktpole und der Verschiedenheit ihrer Seinsweise bewusst werden kann« 4. Die Spaltung ist Husserl zufolge somit überwindbar, sodass angenommen werden könne, das transzendentale Leben des Bewusstseins fließe unbehelligt von der natürlichen Einstellung. Und doch wirkt das natürliche Leben weiter im transzendentalen Bewusstseinsleben, ja es muss sogar weiterwirken, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens, um die Phänomenologie vor einem negativen und sterilen Solipsismus zu hüten. 5 Zweitens, weil 1 Siehe: Edmund Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil. Kritische Ideengeschichte. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, Hamburg, Meiner, 1992. Jeder Vorlesungsteil folgt einer eigenen Nummerierung. Für den Verlust der Vernunft siehe den »Einwand der Verrücktheit,« in: Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 51. 2 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 91 3 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 91 4 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 91 5 Siehe: Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 44–64.

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es weiter als jener Untergrund fungieren muss, dessen »vorlogische […] Geltungen begründende sind für die logischen, die theoretischen Wahrheiten« 6. Daher wirkt die natürliche Einstellung in der theoretischen Einstellung fort, denn sie verkörpert und erdet sie; sie ›stimmt‹ die theoretische Einstellung sogar um so stärker, je unbeachteter und damit unbewusster sie bleibt. Von den Wirkungen des natürlichen Lebens in dem durch Reduktion erworbenen Bewusstseinsleben ist selbst der ausgebildete Phänomenologe nicht ganz frei. Das revolutionäre Potenzial der Epoché 7 verlangt daher, so meine These, keine Verstärkung des Willens, sich dieser Latenz des natürlichen Lebens bewusst zu werden – es spricht vielmehr eine Haltung an, die mit ihr umzugehen vermag. Die entschiedenste Epoché für die letztbegründenden Ansprüche der Phänomenologie ist jene, mit der das »universale Korrelationsapriori« 8 auftritt, womit sich die Lebenswelt zum »philosophische[n] Universalproblem« 9 erhebt. Von hier aus zeigt die Historizität dieses Apriori den kritischen Punkt jeder reinen transzendentalen Herangehensweise auf: Das historische Apriori muss vorausgesetzt werden, aber zugleich wirkungslos bleiben, um die Voraussetzungslosigkeit der neuen Wissenschaftlichkeit beweisen zu können. Die phänomenologische Herangehensweise neigt dazu, ihren theoretischen Blick mittels der Ausschaltung der natürlichen Einstellung immer stärker zu neutralisieren und gefährdet dadurch den Erhalt der Historizität der Quelle ihrer neuen Wissenschaftlichkeit. Die Ontologie der Lebenswelt, welche Husserl zur Aufgabe der Phänomenologie gemacht hatte, scheint daher eher einer Abstandnahme vom phänomenologischen Willen zur Letztgründung zu bedürfen – und genau hier hat die Epoché jenseits ihrer phänomenologischen disziplinären Anwendung andere Formen der Philosophie hervorgebracht. 6 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg, Meiner, 2012, 134. 7 Revolutionär ist die Einfügung der Subjektivität in »die Korrelation von Welt und subjektive[r] Gegebenheitsweise« (Husserl, Krisis, 179) insofern, als sie, so Husserl, ein bis dahin unerhörtes »philosophische[s] Staunen« hervorrief. Die Korrelation von Welt und Subjekt trat zunächst in der vorsokratischen Philosophie hervor – nämlich in der skeptischen Epoché –, aber da sie sich »nur als Motiv skeptischer Argumentation« (Husserl, Krisis, 179) äußerte, konnte die Skepsis diese Revolution nicht vollenden. Siehe auch: Jean Vioulac, Science et révolution. Recherches sur Marx, Husserl et la phénoménologie, Paris, PUF, 2015, 122. 8 Husserl, Krisis, 172 9 Husserl, Krisis, 143.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

Die postphänomenologischen Herangehensweisen von Michel Foucault und Giorgio Agamben werde ich als beispielhaft dafür betrachten, durch einen anderen Gebrauch der Epoché die Erhebung der Lebenswelt als »philosophisches Universalproblem« angekurbelt und sich damit von der Phänomenologie distanziert zu haben. Foucaults Bestimmung der Philosophie als »ontologie historique de nousmêmes« 10 kann in dieser Hinsicht als Implementierung jener Ontologie der Lebenswelt gelesen werden, die Husserl als Verwirklichung der »universale[n] Forschungsaufgabe der transzendentalen Reduktion« 11 ansah. Die genealogische Archäologie Foucaults ist zweifellos zugleich in Husserls Denken verwurzelt; 12 so kann beispielsweise Nathalie Depraz den Weg von Husserl zu Foucault als eine »restitution pratique de la fénoménologie« lesen. 13 Foucaults Begriff des Dispositivs wird auf den folgenden Seiten dazu verwendet, die Operation der Reduktion als eine der Schaffung und Abgrenzung des phänomenologischen Wissensfeldes herauszustellen. Die Wirkungen dieser Grenzziehung lassen sich dadurch als eine eher allgemeine Verständigung über die Form der Philosophie begreifen. Die Reduktion als Dispositiv zu lesen ermöglicht es zudem, die systematische Tragweite der Differenz zwischen Epoché und Reduktion zuzuspitzen: Während die Reduktion den ganzen Prozess der Zurückführung des Blicks vom Konstituierten zum Konstituierenden umfasst, zeichnet die Epoché den Anfang des Philosophierens aus und zielt so darauf, den Beweggrund des philosophierenden Subjekts in die Geschichte der Philosophie einzuschreiben. Mit der Epoché tritt die Motivation des Subjekts auf, sich phänomenologisch auszubilden. 14 Michel Foucault, »Qu’est-ce que les Lumières?«, in: Michel Foucault, Dits et Écrits, 1958–1988. IV 1980–1988, Paris, Gallimard, 1994, 562–578, hier 574. 11 Husserl, Krisis, 189. 12 »En d’autres termes, nous avons réexaminé l’idée husserlienne selon laquelle il existe partout du sens qui nous enveloppe et qui nous investit déjà, avant même que nous ne commencions à ouvrir les yeux et à prendre la parole« (Michel Foucault, »Qui êtes-vous professeur Foucault?«, in: Dits et Écrits 1958–1988. I 1954–1969, Paris, Gallimard, 1994, 602. 13 Nathalie Depraz »De Husserl á Foucault: La restitution pratique de la fénoménologie«, in: Les Études philosophiques, 106 (3), 2013, 333–344, hier 335. Depraz erkennt auch einen Parallelismus zwischen der archäologischen Praxis Foucaults und Husserls Neutralisierung der Epoché. 14 Die Frage nach der Motivation der Epoché ist immer präsent, ohne angemessene Erklärung zu erfahren, siehe z. B. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 79. Zu diesem Thema siehe: Amaury Delvaux, »Le 10

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Als »exemplarische« 15 Geste ermöglicht die Epoché zunächst, die Reduktion gewissermaßen zu deaktivieren, sodass das Auftreten des subjektiven Anteils, mit dem sie konnotiert ist, der Reduktion als phänomenologisch unaufklärbar entzogen wird und eine andere Kontextualisierung fordert. 16 Der kontingente, ereignishaft subjektiv auftretende Anteil der Epoché, den Husserl als eine unaufhebbare »Erkenntniskontingenz der Welt« 17 anerkannte, überschreitet die Struktur der transzendentalen Wahrnehmung. Husserls Argument, dass die transzendentale Wahrnehmung, obwohl die Welt ihre faktische Kontingenz beibehält, 18 dennoch als Ausgangsparadigma der Ontologie der Lebenswelt weitergelten könne, 19 insofern die Weltwahrnehmung »freilich ihre absolute Notwendigkeit« 20 behalte und die Kontingenz lediglich eine Minderung der »universale[n] Struktur der mundanen Wahrnehmung« 21 bedeute, die als »relative Notwendigkeit« 22 gilt, scheint fraglich. Die notwendige Kontingenz beeinträchtigt vielmehr den universalistischen Fundierungsanspruch der Phänomenologie im Kern – und aus diesem Grund sind die post-

problème de la motivation de la réduction phénoménologique dans la phénoménologie de Husserl« in: Bullettin d’analyse phénoménologique, [En ligne], 11 (4), 2015, https://popups.uliege.be:443/1782–2041/index.php?id=788, XI, 4, 2015, insbesondere 12 und 23. 15 Agamben holt den technischen Sinn des Exemplums wieder hervor, den »das paradoxe Verhältnis des Paradigmas zum Allgemeinen« aufweist. Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2008, 24. 16 Deaktivierung des »gewöhnlichen Gebrauchs« und Hervorbringung eines »neue [n] Problemkontext[es]« sind die methodologischen Ziele der Hervorhebung einer Beispielhaftigkeit, vgl. Agamben, Signatura rerum, 22. 17 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 51. 18 »Jedes Faktum, und so auch das Weltfaktum, ist als Faktum, wie allgemein zugestanden, kontingent; darin liegt: wenn es überhaupt ist, es könnte doch anders sein und vielleicht auch nicht sein« (Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 50). 19 Vgl. Hans-Helmut Gander »Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger« in: Gunther Figal/Hans Helmut Gander (Hrsg.), Husserl und Heidegger. Neue Perspektiven, Frankfurt a. M., Klostermann, 2009, 137–158, hier 138. 20 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 52. 21 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 52 22 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 53.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

phänomenologischen Ansätze Foucaults und Agambens post-fundamentalistisch. Foucaults genealogische Archäologie wird von Agamben auf die Geschichte der Philosophie bezogen; die daraus entwickelte philosophische Archäologie spürt Bildungen auf, deren in der Philosophiegeschichte bislang unaufgebrochenes Potenzial ein hohes Entwicklungspotenzial aufweist. Eine dieser Bildungen greift direkt die Methode der Epoché auf und entwickelt ihre von der Phänomenologie unerforschte Sprengkraft. Agambens »archäologische Epoché« 23 scheint ihren systematischen Einsatz aus einer früheren Herausarbeitung der skeptischen Epoché zu beziehen, wo Agamben anhand von Melvilles Novelle »Bartleby der Schreiber« einen anderen Gebrauch der Skepsis konturiert, einen, der es jeder beliebigen Singularität erlaubte, sich gegenüber dem universalistischen Fundierungsanspruch als widerstandsfähig zu erweisen. Die Epoché der philosophischen Archäologie hemmt die Anwendung, mit der solche Bildungen gewöhnlicherweise konnotiert sind, um das ihnen zugrundeliegende historische Apriori als »indistinto primordiale« 24 – also vor der Intervention des sich daraus konstituierenden Wissensdispositivs – wirkmächtig werden zu lassen. Wenn somit das die Philosophie begründende Subjekt ihr auch entkommt 25 und ihre Existenz bedroht, so tritt doch zugleich der Philosoph zusammen mit seinem unbewussten und doch wahren Begehren ein, das die Philosophie eines Bewusstseinssubjekts untergräbt. Um dieses Begehren zu subjektivieren und daraus zu philosophieren, bedarf er eines anderen Wissens, eines Wissens, das erst Sigmund Freud und Jacques Lacan hervorgebracht haben.

Agamben, Signatura rerum, 113. Agamben, Signatura rerum, 112. 25 Foucault suggeriert, dass das Verschwinden der Philosophie nicht das der Philosophen bedeute: Foucault, Dits et Écrits I, 620. 23 24

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2.

Die Reduktion als Dispositiv: Husserls Fundamentalismus Das Subjekt ist, wenn man so sagen kann, in innerem Ausschluß seinem Objekt eingeschlossen. 26

Die Letztbegründung der »neuen Art Wissenschaftlichkeit« 27 hängt vom Beweis ihres wahren Objektivismus ab. Das Prädikat »wahr« soll dabei streng phänomenologisch, d. h. seine »Objektivität« als subjektiver Charakter erworben werden. 28 Dafür ist die Theorie der phänomenologischen Reduktion da, mittels derer Husserl das Bewusstsein als Wissensfeld der Phänomenologie abgrenzt und die Begründung der neuen phänomenologischen Wissenschaft im Subjekt zu verankern beansprucht. Die Operation der Epoché ist jedoch eine »opération délicate et peut être dangereuse« 29: Sie verleitet »une schizophrénie volontaire où le phénoménologue prend le risque de se détacher de la réalité, où il décide volontairement de rompre avec l’attitude normale« 30. Wenn Husserl auch darauf beharrt, dass die Verdoppelung des natürlichen Ichs um den »unbeteiligten Zuschauer« 31 nur eine vorübergehende schizophrene Spaltung der transzendentalen und der natürlichen Ebene darstelle, welche die Einheitlichkeit der transzendentalen Subjektivität erfolgreich überwinde, so scheint doch diese erfolgreiche Überwindung der Aufrechterhaltung des universalistischen Fundierungsanspruchs in der neuen Wissenschaft der Phänomenologie verpflichtet und so in einer petitio principii gefangen zu bleiben. Jacques Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit« (1966), in: Jacques Lacan, Schriften II, Freiburg im Breisgau, Walter-Verlag Olten, 1975, 239. Lacans Herausarbeitung des unbewussten Subjekts des Begehrens wird meine Überlegungen leiten. 27 Husserl, Krisis, 166; die neue Wissenschaftlichkeit ist die nicht »objektiv-logische, aber als die letztbegründende nicht die mindere, sondern die dem Werte nach höhere« (Husserl, Krisis, 134). 28 Dieses Argument wird ausreichend anhand von Husserls Erste Philosophie-Vorlesungen von Aguirre entwickelt, siehe: Antonio F. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion. Zur Letztbegründung der Wissenschaft aus der radikalen Skepsis im Denken Husserls, The Hague, Netherlands Martinus Nijhoff, 1970, 89. 29 Vioulac, Science et révolution, 97. Sie ist »délicate« nicht zuletzt deswegen, weil sie zwingend die genetische Phänomenologie einbezieht, wie Aguirre zeigt. 30 Vioulac, Science et révolution, 97. 31 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 98. Zur »ontologisch-methodisch[en] Verwirrung« in der Bestimmung des Verhältnisses des phänomenologischen Zuschauers zum transzendentalen Ego siehe: Vioulac, Science et révolution 97–99. 26

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

Husserls Theorie der phänomenologischen Reduktion impliziert einen komplexen Prozess, auf den Husserl immer wieder zurückkommen wird. Ich werde mich hier an die wesentliche Differenzierung zwischen Epoché und Reduktion und deren Verhältnis halten, das Husserl in § 41 der Krisis wie folgt beschreibt: »Die echte transzendentale Epoché ermöglicht die transzendentale Reduktion.« Mit der Epoché befreit sich der Blick des Philosophen »von der stärksten und universalsten und dabei verborgensten inneren Bindung, von derjenigen der Vorgegebenheit der Welt« 32. Die Epoché bedeutet den anfänglichen Schritt der »Entdeckung der universalen […] Korrelation von Welt selbst und Weltbewusstsein« 33. Auf sie folgt »die Leistung der Reduktion der ›Welt‹ auf das transzendentale Phänomen ›Welt‹ und damit auf ihr Korrelat: die transzendentale Subjektivität« 34. Die Reduktion wiederum soll auf das Bewusstseinsleben als Urquelle aller vorwissenschaftlichen Seinsgeltungen stoßen, da gerade die Vorwissenschaftlichkeit der Lebenswelt jenen Boden darstellt, aus dem die »neue Art Wissenschaftlichkeit« der Phänomenologie hervorgehen soll. So wird die Lebenswelt erstmals zum »Thema eines theoretischen Interesses« 35. Dieser Ablauf impliziert, dass nach der transzendentalen Epoché und (mittels der folgenden transzendentalen Reduktion) der Gewinnung der Lebenswelt eine weitere Epoché stattfinden muss, denn das »theoretische Interesse« für die Lebenswelt muss sich auf eine noch umfassendere Neutralität des Blicks des Phänomenologen stützen. Der Phänomenologe muss sich nun von der Motivation, die »ursprünglich dieses Thema gefordert« 36 hatte, lösen – und diese Epoché wird von Husserl »eine Art universaler Epoché« 37 genannt. Zusammenfassend: Eine erste Epoché als anfängliche Einklammerung des Weltglaubens schaltet alle transzendenten Setzungen aus, welche die natürliche Einstellung kennzeichnen, und auf diese erste Ausschaltung folgt wiederum die Aktivierung der Reduktion. Das so stufenartig strukturierte, transzendentalphänomenologische reduktive Prozedere wiederholt sich bis zum Erreichen der Lebenswelt, deren entsprechende Epoché jene »Art universaler Epoché« ist, 32 33 34 35 36 37

Husserl, Krisis, 164. Husserl, Krisis, 164. Husserl, Krisis, 165. Husserl, Krisis, 168. Husserl, Krisis, 169. Husserl, Krisis, 169.

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durch welche die Voraussetzungslosigkeit der universalen Gültigkeit der neuen Wissenschaftlichkeit erlangt werden soll. 38 Sie ist daher die letzte Voraussetzung, die sich im Laufe des von ihr aktivierten Verfahrens auflösen muss. Husserls Ansatz, einen der klassischen Engpässe der Philosophie anzugehen, besteht darin, das Problem des subjektiven Ausgangspunkts der objektiven, »wahren« Erkenntnis systematisch in die Problematik des Grundes einzufügen. Die Begründung der Phänomenologie als Erste Philosophie und die Theorie der phänomenologischen Reduktion hängen unmittelbar zusammen; wie schon Dominique Pradelle festgestellt hat, muss die Letztbegründung der Philosophie zwingend mit einer Philosophie der Gründung zusammenfallen. 39 Die Phänomenologie denkt sich als Wissenschaft von dem und aus dem Ursprünglichen, aber letztlich bleibt sie der Auffassung des Primats des epistemologischen Grundes verhaftet, aufgrund dessen nur die Selbstdarlegung der phänomenologischen Vernunft die transzendentale Struktur des absoluten Bewusstseins als Struktur der Lebenswelt ans Tageslicht bringt. 40 Im zweiten Teil der Vorlesungsreihe Erste Philosophie entwickelt Husserl als »Eröffnung eines zweiten Wegs zur transzendentalen Reduktion« die »Phänomenologie der phänomenologischen Reduktion« 41, um die epistemologisch-ontologische Verwirrung durch eine einheitliche Gründung der sich letztbegründenden Wissenschaft aufzulösen. Das Gelingen dieser Gründung wird gerade jenem Wahrheitswillen anvertraut, der in einer ursprünglichen Ununterscheidbarkeit von ontologischer und epistemologischer Ebene verstrickt ist. Der Phänomenologe soll daher zunächst Sein und Wissen auseinanderhalten können, um sodann ihre Zusammenfügung auf einer ursprünglicheren Ebene als begründet zu beweisen und somit die epistemologisch-ontologische Ambiguität zu überwinden. Das heißt, dass das Subjekt der Phänomenologie zunächst die Verstrickung von Sein und Wissen entflechten bzw. dekonstruieren muss, um anschließend mit den so entwirrten Fäden die epistemologische Stimmigkeit des Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 63. Dominique Pradelle, »Fondation de la philosophie et philosophie de la fondation«, in: Philosophie, 127, 2015, 114–138. 40 Dieser Punkt wurde insbesondere von Pradelle hervorgehoben, siehe: Pradelle, »Fondation de la philosophie et philosophie de la fondation«, 130. 41 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 82. 38 39

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

vorgegebenen Netzes der Beziehungen zwischen Sein und Wissen von seiner Subjektivität aus ontologisch zu prüfen. Die vorgegebene Gültigkeit der Knoten dieses Netzes, d. h. der Verknüpfungen zwischen der ontologischen und der epistemologischen Ebene, werden von der subjektiven Wahrheit seines Wissens aus geprüft, und nur diejenigen Korrelationen, die sich in seiner Subjektivität als begründet erweisen, wird das Subjekt als wahr und objektiv anerkennen. Die Beziehungen zwischen der ontologischen und der epistemologischen Ebene ergeben sich aus unzähligen Verbindungen zwischen heterogenen Elementen, darunter Diskursen und Institutionen, die zur Sphäre der natürlichen Einstellung zählen, und philosophischen und wissenschaftlichen Aussagen, die der Sphäre der theoretischen Einstellung angehören. Auch sie werden in der Topographie dieses Netzes verortet; ihre vorgegebene Gültigkeit wird so zunächst suspendiert, um sie dann von ihrer genetischen Untersuchung aus, gegebenenfalls ontologisch begründet, zu beweisen. Die reine Phänomenologie geht davon aus, die Natur dieser Verbindungen aus ihrer methodologischen Voraussetzungslosigkeit epistemologisch herleiten zu können, um sodann ihre ontologische Gültigkeit – durch den Aufweis ihrer Objektivität als subjektiver Charakter – 42 als universal zu behaupten. Die Verflechtungsarbeit der Reduktion spielt sich in jenem Feld zwischen Wissen und Sein ab, das sich dem Phänomenologen dank der Epoché offenbart hat; aber auch das Bestehen der Verankerung der Immanenzsphäre, in welcher die Arbeit der Reduktion stattfindet, in der Außenwelt hängt von der Epoché ab: Sie setzt die in der Welt vorgegebenen korrelativen Entsprechungen zwischen Sein und Wissen außer Kraft und hält doch gleichzeitig das Subjekt der Phänomenologie mit der Außenwelt zusammen. Die Beständigkeit des neuen Rationalitätsfeldes hängt letztlich von der Zweipoligkeit dieser Operation ab, die den winzigen Punkt der Koinzidenz von Immanenzsphäre des Bewusstseins und Welttranszendenz erhalten muss: Die Epoché soll die Voraussetzungslosigkeit der phänomenologischen Haltung etablieren und die Verankerung des Subjekts in der Außenwelt bewahren. Um diesen Koinzidenzpunkt von aller Vorgegebenheit zu entkleiden und bewahren zu können, unterwirft Husserl selbst die Reduktion einer weiteren Reduktion; er bezeichnet sie nun

42

Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 89.

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als »Phänomenologie der phänomenologischen Reduktion« 43, deren Epoché die schon erwähnte »Art universaler Epoché« 44 ist. Was soll nun diese Epoché wiederum außer Kraft setzen? Sie soll die Reste der vorprädikativen und pränormativen Ebene, die der theoretischen Einstellung nach wie vor anhaften, suspendieren, um durch eine Aufdeckung der konstituierenden Prozesse seiner eigenen Motivation den Blick des Phänomenologen noch umfassender zu neutralisieren. Zu diesem Zweck soll die Epoché den ursprünglichen transzendentalen Impuls des Bewusstseins anhalten. Die angestrebte neue Wissenschaftlichkeit ist letztlich auf die Phänomenologie der phänomenologischen Reduktion angewiesen, die eine Phänomenologie der gesteigerten und zugleich neutralen Aufmerksamkeit des Phänomenologen ist. Bernhard Waldenfels hat eine entsprechende Phänomenologie der Aufmerksamkeit ausgearbeitet und gezeigt, dass und wie der Phänomenologe in letzter Instanz einem »Auffallen« ausgeliefert ist, dessen Geschehen er keineswegs bewusst steuern kann: Seine Aufmerksamkeit ist im Griff eines Auffallens mit Eventcharakter. 45 Von dieser ereignishaften Schicht zwischen Subjekt und Welt, zwischen jemand und etwas, 46 hängt somit letztlich die Begründung der neuen Wissenschaftlichkeit der transzendentalen Phänomenologie ab. Die theoretische Einstellung soll diese Schicht einholen können, ohne aber die ereignishafte Welttranszendenz, die den Zusammenhang zwischen Subjekt und Welt hütet, ganz in der Theorie aufzulösen, da sie sonst in jenen Dualismus zurückfallen würde, den sie ja gerade überwinden will. Waldenfels hat daher vollkommen recht: Die Phänomenologie verlangt eine »reflexive Verdoppelung

43 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 82. 44 Husserl, Krisis, 169 45 Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2004, 39. Das Ausgeliefertsein selbst der Aufmerksamkeit des Phänomenologen an unbewusste Ereignisse, deren Tragweite und Auswirkungen keineswegs eine private Angelegenheit des Subjekts bleiben, sondern sich in das soziale Feld einschreiben, ist die Voraussetzung von Waldenfels’ Phänomenologie der Aufmerksamkeit, vgl. 39–41. »Das Motiv des Ereignisses« (hier 39) verweist »auf das eigentümliche Geschehen der Erfahrung selbst« (hier 39), gerade weil das Es sowohl die freudsche »andere Szene« umfasst als auch die metapsychologische Tragweite dieser Szene, den Zwischenbereich des sozialen Feldes, der »weder auf Individuen aufgeteilt ist noch zu einem Ganzen vereint ist«, hier 42. 46 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 69.

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der Aufmerksamkeit« 47, eine mise en abyme ihres eigenen Aufmerkens, die sie davor schützt, sich nicht erneut in den von ihr entflochtenen Fäden zu verstricken. 48 Mit der »reflexiven Verdoppelung der Aufmerksamkeit« wird sich der Phänomenologe der Verschiebung der Rätselhaftigkeit des Verhältnisses zwischen Welttranszendenz und Bewusstsein auf die Problematik der Intentionalität hin bewusst. 49 Und doch – geht die Brisanz der Sache der Epoché nicht gerade über dieses Bewusstwerden hinaus? Findet sich das Subjekt in der Epoché nicht vielmehr auf die Schwelle des Bewusstseins gebannt, von der aus es dessen »Verkennung und Anmaßung« 50 entblößt und die Gelegenheit ergreift, sich der Reduktion zu entziehen? Denn gerade die Voraussetzungslosigkeit der neuen phänomenologischen Wissenschaftlichkeit ließe sich von da aus als größte Verkennung und Anmaßung des Subjektbewusstseins aufweisen: als Verkennung des Überschusses bzw. Mangels, den die Kontingenz in Bezug auf das reine Bewusstsein darstellt, und als Anmaßung, sie als »relative Notwendigkeit der Weltwahrnehmung« begründen zu können, sich also des Mangels des Bewusstseins bewusst zu bemächtigen. Auch wenn Waldenfels die Relevanz einer Differenz zwischen Epoché und Reduktion aufgreift, so stellt doch die Epoché für ihn nicht jene Geste dar, die zwingend zu einer Kritik der Phänomenologie führt, möglicherweise deshalb, weil er Husserls Auffassung des Unbewussten verpflichtet bleibt. 51 Foucaults Begriff des Dispositivs erweist sich für die weitere Entwicklung meiner Argumentation als nützlich: Die Reduktion als Schaffung des Wissensfeldes der Phänomenologie vor Augen zu ha47 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 283. Waldenfels schlägt eine »speziell attentionale Epoché« (hier 286) vor, die in einer Form der »responsiven Epoché« (hier 286) enthalten sei, um die Dialektik zwischen Auffallen und Aufmerken, der sich die Gesetzlichkeit der Logik der Phänomenologie letztlich überlassen findet, begründen zu können. 48 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 285. 49 Von »Verschiebung der Rätselhaftigkeit« spricht Emmanuel Housset, Husserl et l’énigme du monde, Paris, Éditions du Seuil, 2000, 52. 50 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 65. 51 Husserl leugnet das Unbewusste nicht, aber es vermag für ihn das begründende Subjekt der Wissenschaft nicht zu widerlegen; ganz im Gegenteil bedarf die Psychoanalyse der Phänomenologie, um sich ontologisch zu begründen, siehe dazu: Rudolph Bernet »Husserls Begriff des Phantasiebewusstseins als Fundierung von Freuds Begriff des Unbewussten«, in: Christian Jamme (Hrsg.), Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1997, 277–306.

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ben, erlaubt es, dieses Wissen zu hinterfragen, um dann die Auswirkungen von Husserls Theorie der Reduktion auf die Form der Philosophie besser einschätzen zu können. Dass die Theorie der Reduktion wie ein Dispositiv operiert, lässt sich schnell rechtfertigen. Foucault lehrt uns zunächst, dass Dispositive immer aus strategischen Gründen entstehen: Sie sind stets historisch bedingt, um »einer dringenden Anforderung nachzukommen« 52. Husserls Reduktion ist historisch zweifelsohne durch die »Krisis der europäischen Wissenschaften« bedingt. Zudem hebt Foucault hervor, dass ein Dispositiv ein »neues Rationalitätsfeld« zugänglich mache und dies durch eine Rechtfertigung und das Verschleiern einer Praxis erreiche, die »selbst stumm bleibt« 53. Die phänomenologische Reduktion operiert genau durch eine solche Rechtfertigung der skeptischen Epoché: Die Gründe, aus denen der Skeptiker sie praktiziert, werden verschleiert und gleichsam arretiert. Außerdem erweist sich das Dispositiv als ein geeigneter Begriff, um die Theorie der Reduktion zu erfassen, weil auch sie, genau wie Foucaults Dispositiv, der »Ort eines doppelten Prozesses« 54 ist, an dem Struktur und Genese zusammengehalten werden (was übrigens auch ein phänomenologisch-immanenter Entwicklungsstrang der husserlschen Reduktion wie der Jean Luc Marions nicht dementiert) 55. Jeder Zuspitzung und detaillierteren Determinierung der disziplinären Funktion der Epoché muss die »Wiederaufnahme und Wiederanpassung heterogener Elemente […], die hier und da entstehen« 56, folgen – phänomenologisch gesagt: Jede erworbene Erweiterung der Grenzen des Bewusstseins verlangt den Prozess einer immer neuen Ausfüllung. Die Reduktion als Dispositiv eines doppelten Prozesses zeigt, wie die phänomenologische Aufklärung der Heterogenität der natürlichen Lebensform ihre Integration in die wissenschaftliche Lebensform verfolgt, um die Einheitlichkeit des reinen Bewusstseins zu begründen; in das reine Bewusstsein und seine Einheit integriert, erhält das natürliche Leben da, wo es mit der 52 Michel Foucault, »Das Spiel des Michel Foucault«, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bände. Dits et Écrits, Bd. 4, 1976–1979, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2003, 391– 429, hier 392. 53 Foucault, »Das Spiel des Michel Foucault«, 393. 54 Foucault, »Das Spiel des Michel Foucault«, 393–394. 55 Dessen Formel »Autant de réduction, autant de donation« verdichtet diesen Gedanken gut, siehe: Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris, PUF, 1989, 303. 56 Foucault, »Das Spiel des Michel Foucault«, 393.

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Wahrheit des transzendentalen Bewusstseinslebens zusammenfällt, einen universalen und wahren Sinn. Was aber das transzendentale Bewusstsein nicht denken kann, fällt aus dem Wissensfeld der phänomenologischen Wahrheit heraus und wird ausgeschlossen, auch wenn dieses Ungedachte unbestreitbar jene ontologische Beständigkeit aufweist, die das transzendentale Bewusstsein übersteigt. 57 Und mehr noch: Die Motivation des philosophierenden Subjekts scheint vielmehr diesem Ungedachten da zu entspringen, wo das Leben das reine Bewusstsein in die Enge treibt. Und doch setzt die Reduktion als Dispositiv voraus, dass nur das reflektierte Leben das natürliche, vorreflektierte Leben wahr werden lässt. In einer Linie mit Foucaults Ansatz 58 deckt auch die Zuordnung der Phänomenologie zum »philosophischen Diskurs der Moderne« 59 durch Jürgen Habermas jene Logik dieses Diskurses auf, welche die Reduktion favorisiert und das Potenzial der Epoché aus einem »Bedürfnis nach Selbstvergewisserung« 60 bändigt. Der Kontrollverlust, der sich aus der Aufdeckung der Strukturen des Zeitbewusstseins ergibt, wird im Namen der fundamentalistischen Ansprüche der Moderne gedrosselt und bei Husserl durch einen Voluntarismus des Bewusstseins gezähmt. 61 Husserls Logik von Reduktion und Diskurs kennt keine Differenz zwischen Wille und Begehren, sie stehen auf einer Stufe, und so wie der Wille ist auch das Begehren bewusst. Und doch hat sich gezeigt, dass und wie die begehrte Letztbegründung der Phänomenologie auf die Epoché als »Phänomenologie der phänomenologischen Reduktion« angewiesen ist, die kaum vom Willen gesteuert werden kann. Die phänomenologische Aufmerksamkeit ist einem ›Auffallen‹ ausgeliefert (Waldenfels), welches das aufgedeckte geschichtlich überlieferte Seinsverständnis, das selbst das Subjektsein des phänomenologischen Bewusstseins mit-bedingt, nie ganz ausFoucault betont, dass das phänomenologische Verhältnis des Menschen zum Ungedachten zum Hintergrund seiner Befragung der Lebensweisen wird, sodass die ontologische Frage, zu der die Phänomenologie immer wieder führt, in einer »ontologie de l’impensé qui met hors circuit la primauté du ›Je pense‹« endet. Siehe: Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris, Éditions Gallimard, 1966, 337. 58 Foucault, Les mots et les choses, 336. 59 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1989. 60 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 26. 61 Husserl spricht vom »bewussten Willen zur strengen Wissenschaft« der Phänomenologie, der dem gleiche, den er auch Descartes zuschreibt, siehe: Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 80. 57

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schalten kann, um zur Voraussetzungslosigkeit des transzendentalen Bewusstseins vorzustoßen. Denn wie könnte es dem Bewusstsein möglich sein, eine Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich seiner geschichtlich-ontologischen Vorverständnisse zu erlangen, wenn es doch gerade aus diesen besteht? Nach ihrer – durch die Epoché geleisteten – Aufdeckung kann die Reduktion nichts anderes machen, als sie zu dekonstruieren. 62 Was sie damit erreicht, ist nicht die Voraussetzungslosigkeit des Ausgangspunkts der Phänomenologie, mittels derer Husserl die natürliche und die theoretische Haltung voneinander differenzieren möchte, als könnten sie auseinandergehalten werden. Gerade die Prämisse, dass sich natürliches und theoretisches Leben voneinander trennen ließen, stellt die implizite Voraussetzung der methodologischen Voraussetzungslosigkeit der Phänomenologie dar – und gerade sie soll fallen, um die Phänomenologie von ihrer fundamentalistischen Logik zu befreien. 63 Auch wenn es der Philosophie vielleicht nie wirklich gelingen kann, sich von dem Ideal einer klaren Trennung von Theorie und Praxis, von theoretischer und natürlicher Haltung zu befreien, sollte doch der Philosoph gerade davon seinen Ausgang nehmen: »[I]l faut être aux frontières« 64, sagt Foucault. Und er kann das genau dann, wenn er sich der Epoché überlässt und dem Reduktions-Dispositiv entzieht. Eher, als von der angeblichen Voraussetzungslosigkeit des philosophischen Denkens auszugehen, lernt das philosophierende Subjekt, von den widerständigen Voraussetzungen seinen Ausgang zu nehmen, die sich dem phänomenologischen Rationalitätsfeld entziehen und ihm die ontologisch-geschichtliche Unterwerfung seines Subjekt-Seins vor Augen stellen. Dieses Feld wird dann zugänglich, wenn man – sich in der Epoché haltend – diese nicht radikalisiert, Vgl. Rolf Kühn/Michael Staudigl, »Von der skeptischen Epoché zur Gegen-Reduktion«, in: Rolf Kühn/ Michael Staudigl (Hrsg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, 11–29. 63 Die postfundamentalistischen Herangehensweisen werden sich daher explizit auf Heideggers Aufdeckung dieses unvertretbaren Fundamentalismus stützen und auf seinen tiefen Blick in das ›Wesen des Grundes‹, dem die ontologische Differenz entspringt. Marchart sieht in Heidegger »den bedeutenden Vorläufer des gegenwärtigen Postfundamentalismus« (Oliver Marchart, Die politische Differenz – Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2013, 37). 64 Michel Foucault, »Qu’est-ce que les Lumières?«, in: Michel Foucault, »Dits et Écrits, 1958–1988. IV 1980–1988«, Paris, Gallimard, 1994, 562–578, hier 574. 62

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

sondern sich vielmehr der Aufgabe einer »ontologie historique de nous-mêmes« 65 hingibt.

3.

Was dem skeptischen »Nichtwissen« bleibt: Kontingenz als Widerlegung des Fundamentalismus … denn eine Wahrheit, die spricht, hat wenig gemein mit einem noumenon, das, als bloß gedachte, sie verschließt. 66

Husserl beabsichtigt, die Skepsis durch die radikale, uneingeschränkte Anwendung der phänomenologischen Epoché Schachmatt zu setzen. Nachdem die Philosophie »den Stachel des Skeptizismus schmerzhaft genug empfunden« 67 hat, muss sie »wahrmachen« 68, was die skeptische Epoché erstmals aufgedeckt hat. Die Skepsis hat die Korrelation Subjekt-Welt freigelegt, die jetzt, als universales Korrelationspriori – und jenseits einer Stellungnahme pro oder contra zur Thesis des Parmenides – 69 durch »das Studium der transzendentalen Subjektivität, in der sich Welt und Welttheorie transzendentalsubjektiv konstituiert« 70, aufgeklärt werden muss. Dadurch differenziert sich die skeptische von der phänomenologischen Epoché: die letztere impliziert die Wiederholung einer historischen Anfangssituation des Denkens, nämlich jene der ersten skeptischen Epoché, die ihrerseits einen Bruch mit der Natürlichkeit und die Annahme einer die Natur übersteigenden Richtung bedeutet. Die Wiederholung der skeptischen Epoché führt zur Aufdeckung der daseinsgeschichtlichen Verwurzelung der Skepsis selbst. Somit gewinnt die Phänomenologie die Skepsis als geschichtliches Phänomen: 71 Jetzt wird sie zum Korrelat Foucault, »Qu’est-ce que les Lumières?«, 574. Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, 247. 67 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 27. 68 Husserl, Kritische Ideengeschichte, 147. 69 Vgl. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 97; dazu auch Klaus Held, »Von Pyrrhon zu Husserl. Zur Vorgeschichte der phänomenologischen Epoché«, in: Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy, 1 (2), 2013, 233–244. 70 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 27. 71 Wie Aguirre unmissverständlich feststellt: »Wenn ich mich auf diese Weise besin65 66

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des Bewusstseins und damit auf die Intentionalität zurückgeführt. Wie Derrida festhält, wird so die faktische Kontingenz der Skepsis, wie jede andere geschichtliche Tatsache auch, durch die Reduktion zur Notwendigkeit gemacht. 72 Die Kontingenz in ihrem historischen Gewand erlaubt die Erörterung der »transzendentalen Motivation, die in der Skepsis verborgen lag« und die durch die Radikalisierung »zu vollendeter Klarheit« 73 gebracht, d. h. idealisiert wird. Die gegenwärtige skeptische Haltung des Subjekts, die seine eigene Geschichtlichkeit aufweist, eine, die nicht mit der Teleologie der Geschichte übereinstimmt, ist so neutralisiert. Die Skepsis als geschichtliche Tatsache ermöglicht es, die sie konstituierenden Bewusstseinsleistungen so zurückzuverfolgen, dass das phänomenologische Subjekt sie, befreit von den ihr impliziten ontologischen Prämissen, wahrmachen und überwinden kann. Das Reduktions-Dispositiv setzt eine Narration in Gang: Während die skeptische Haltung entweder zu einem Relativismus führt, der zwar die Welt rettet, aber auf das transzendentale Subjekt verzichtet, oder aber zu einem eigensinnigen Subjektivismus, der am transzendentalen Subjekt festhält, jedoch die Welt verliert, gelingt es der Radikalisierung der skeptischen Epoché, die Idee der Welt in der Immanenzsphäre des Bewusstseins zu erlangen und die Philosophie somit von jener Antiphilosophie zu befreien, welche die Skepsis grundsätzlich darstellt. 74 Die Motivation der Skepsis wird idealisiert und verrät auf diese Weise, dass Husserls Standpunkt der sokratisch-platonischen Reaktion gegen die Skepsis gleicht. Was er als Motivation der Skepsis bezeichnet, ist eher die Motivation ihrer Gegner, und diese wird er als »Motivation des Anfangs« 75, als »historische Motivation« 76 für seine Phänomenologie in Anspruch nehmen. ne, wiederhole ich in mir jenen Reflexionsprozess, der einmal zu dem geschichtlichen Phänomen der Skepsis führte« (Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 93). 72 Jacques Derrida, »Introduction« in: Edmund Husserl, L’origine de la géométrie, Paris, PUF, 1962, 20. Derrida zufolge ist der Sinn aller Reduktion die iterative historische Reduktion. Sie markiert durch ein »so soll gewesen sein, weil so es ist« die Notwendigkeit »d’une pré-scription éidétique et d’une normalité apriorique présentement reconnue et intemporellement assignée à un fait passé« (Derrida, »Introduction«, 34). 73 Husserl, Kritische Ideengeschichte, 68. 74 Husserl, Kritische Ideengeschichte, 57 75 Husserl, Kritische Ideengeschichte, 32. 76 Husserl, Kritische Ideengeschichte, 32.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

Die »historische Motivation«, auf die sich Husserls Auffassung der Genesis als zugleich historische wie ideale stützt, scheint jene teleologische Zauberformel zu sein, durch welche Husserl die Geschichte an das transzendentale Subjektbewusstsein bindet. Mit dieser Operation wird dem Willen der Phänomenologie eine historisch motivierte Grundlage zugeschrieben. Die Skepsis avanciert zum Vorfahr seiner Denkbewegung, sodass jetzt die historische Legitimität des Anspruches der Phänomenologie durch die ideale und historische Genesis der Philosophie nachgewiesen werden soll. Die Motivation der Skepsis war aber eine andere: Die Skeptiker enthielten sich in der Epoché und machten dabei Gebrauch von einem Willen, der sich als Enthaltung von jedwedem Wahrheitswillen äußerte. Ist diese Motivation, die Widerlegung der universalen Ansprüche jenes Wahrheitswillens, nicht an sich schon historisch? Husserls Versuch, der Skepsis ihre Wahrheit zurückzuerstatten, scheint eher das unbequeme skeptische Nichtwissen stummschalten zu wollen. Er scheint ein neues Kapitel im Buch der alten Machtverhältnisse zur Skepsis aufzuschlagen, das von einem noch höher gesteigerten Wahrheitswillen dominiert wird. Die Selbstbegründung der Phänomenologie geht davon aus, die Radikalisierung der skeptischen Epoché als pharmakon gegen die Anti-Philosophie der Skepsis einsetzen zu können. Die »Kur« besteht darin, die anti-philosophischen Züge der skeptischen Epoché noch radikaler zu durchdenken, um die universale Gültigkeit der Objektivität einer – im Subjekt fundierten – Wahrheit von der Alternative zwischen der vorsokratischen Thesis des Parmenides und der hellenistischen ontologischen Prämisse zu lösen. Pyrrhons skeptische Epoché ging aus der Widerlegung des Parmenides hervor: Weil das Sein uns verborgen bleibt, klafft »zwischen [den] Erscheinungsweisen und dem Sein einer Sache ein Abgrund« 77. Von ihm aus können wir die Natur der Verbundenheit zwischen der Sache und ihren Erscheinungsweisen nicht wissen. Während Parmenides ein wahres Sein voraussetzte, das sich in den Weisen seines Erscheinens zeigt, ging Pyrrhon davon aus, dass das Sein einer Sache in der Offenkundigkeit ihrer Erscheinungsweise gerade verborgen bleibt. So verortete Parmenides das Sein, als Sub-jektum der Wahrheit, in der Offenkundigkeit der Welt, während Pyrrhon vertrat, dass es sich nicht offenbare, sich nicht durchschauen lasse und nur der 77

Held, »Von Pyrrhon zu Husserl«, 241.

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verborgenen Innerlichkeit des Menschen unterstellt werden könne. Das Subjekt, als grundlegendes Wahr-Sein der Verbundenheit einer Sache mit ihrer Erscheinungsweise, wurde so von der Skepsis in die Innerlichkeit des Menschen verlegt, sodass der Streit der Meinungen, der von einer offenkundigen Sache ausging, nie die Wahrheit ihres Seins betraf und daher überflüssig wurde. 78 In Bezug auf die universale Gültigkeit der epistemologischen Wahrheit übernimmt Husserl die skeptische Haltung, ohne damit für die ontologische Dimension der Wahrheit Stellung zu beziehen, denn er geht davon aus, deren Gültigkeit direkt von der Struktur der Erscheinung aus nachweisen zu können. Die Erscheinung ist immer Erscheinung von einem Erscheinenden und, wie Klaus Held prägnant formuliert, die Phänomenologie die »konkrete Analyse dieses ›von‹«, 79 die die Natur der Verbundenheit genetisch zurückverfolgt. Held zufolge übernimmt Husserl von der Skepsis die entscheidende Verlegung des Zugangs ›zu der Sache selbst‹ von der Außenwelt zum Subjekt, 80 um die wahre und absolute »Objektivität als subjektiven Charakter« zu beweisen. Auf diese Weise hofft er, den Dualismus zwischen Bewusstsein und Außenwelt, der das moderne Bewusstsein kennzeichnet, von seinem Ursprung aus zu überwinden – nämlich im Ausgang von der Skepsis – 81, indem er die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Bewusstsein und Welt als die zugrundeliegende, wenngleich ungedachte Voraussetzung der Skepsis selbst zur Evidenz bringt. Die Praxis der skeptischen Epoché wird dabei notwendigerweise eingeklammert, denn das Sichenthalten der Skeptiker war die praktische Umsetzung eines Nichtwissens, das auf der Verborgenheit des Seins basierte. Die Verlegung der Transzendenz der Welt auf die Immanenzsphäre des Subjektbewusstseins beruhte aber nicht nur auf dem Nichtwissen, ob die Verbundenheit einer Sache mit einer Erscheinungsweise wahr oder falsch sei, sondern auch darauf, ob sie überhaupt sei. Die Skeptiker verpflichteten sich so der Unverfügbarkeit eines Wissens des Wahr-Seins und deckten damit auf, dass das Wissen, das eine solche Verbundenheit affirmiert oder negiert, einen Akt des Willens darstellt, dem nur eine Suspension des Willens stand78 79 80 81

Held, »Von Pyrrhon zu Husserl«, 239. Held, »Von Pyrrhon zu Husserl«, 242. Held, »Von Pyrrhon zu Husserl«, 239–240. Held, »Von Pyrrhon zu Husserl«, 240.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

halten kann. Sich desjenigen sprachlichen Akts zu enthalten, durch den der Zusammenfall des epistemologischen und des ontologischen Registers behauptet oder aber negiert wird, muss zunächst als Geste gedeutet werden, mit dem die Skeptiker sich den Wissensbedingungen der Machtposition des herrschenden Diskurses entzogen. Sich enthalten hieß daher zunächst, sich dem Zwang zu entziehen, den vorgegebenen Erkenntnisbedingungen ein Wissen in der Wahrheit zu- oder abzusprechen. Die skeptische Epoché öffnet so das Feld, in dem die Wissensproduktion hinterfragt werden kann, weil sie aufdeckt, dass das Prädikat, durch welches das wahre Sein der Erscheinungsweise einer Sache aboder zugesprochen wird, selbst einen Willensakt darstellt. Die Suspension dieses Willens zeigt die Prädikation als Macht auf, die Verbundenheit von Sein und Erscheinung herzustellen. Die Sprache wirkt und ist nie neutral; sie ist immer auch ein Mittel, durch das die »subjektivistische Macht des Willens« 82 sich der Wahrheit bemächtigt, indem sie das Feld des Wissens abgrenzt. Das Nichtwissen vorauszusetzen, war die Art der Skeptiker, sich dieser Macht zu entziehen. Husserl denkt hingegen, das skeptische Nichtwissen stelle einen phänomenologisch noch nicht ausreichend reduzierten, weiterbestehenden Rest der natürlichen subjektiven Einstellung dar. Das Subjekt der Phänomenologie Husserls vertraut, wie man mit Jacques Lacan sagen könnte, weiter auf ein wirkendes sujet supposé savoir, auf den »Gott der Philosophen« 83. Husserls Kampf gegen jede Form des Skeptizismus eignet sich die anti-philosophischen Argumente der Skepsis an und integriert sie, zusammen mit dem »revolutionären« Umbruch des skeptischen Denkansatzes, in die Phänomenologie, wie dies bereits Aguirre aufgezeigt hat. 84 Wie steht es aber mit der existentialontologischen Wurzel der Wahrheit, d. h. mit dem Schlüssel, um dem Subjekt der Phänomenologie universale Objektivität zu verleihen? Ist es nicht gerade sie, die Husserl zusammen mit der ontologischen Prämisse der Skepsis außer Geltung setzt? Wie kann eine Wahrheit, die ihrer Verwurzelung im Wahrsprechen entbehrt, objektive Absolutheit beanspruchen? Um Held, »Von Pyrrhon zu Husserl«, 243. Jacques Lacan, »La méprise du sujet supposé savoir« (1967), in: Jacques Lacan, Autres écrits, Paris, Éditions du Seuil, 2001, 329–341, hier 337. 84 Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 90. 82 83

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diesen Anspruch zu erlangen, muss Husserl entweder für die Verborgenheit des Seins Stellung beziehen oder aber annehmen, dass die Wahrheit lediglich Objekt einer Aussage, d. h. von ihrer existentialontologischen Basis abgekoppelt ist. Die Wahrheit würde so den Grund verlieren, die Objektivität ihres subjektiven Charakters universal gelten zu lassen, denn die subjektive Verankerung ihrer Objektivität, die ontologische Verankerung, durch die sie begründet werden kann, liegt nicht in der Aussage beschlossen, sondern lässt sich nur dann verspüren, wenn sich die Spaltung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Subjekt des Aussagens im Moment des Wahr-Sprechens selbst zum Ausdruck bringt. Die Letztbegründung der Phänomenologie scheint dagegen ganz dem Subjekt der Aussage anvertraut zu sein, welches sich gerade aus der Verkennung und Verdrängung der Spaltung, die sich im Wahrheitssprechen des Subjekts verkündet, konstituiert. Die Phänomenologie Husserls scheint daher von jener Grenzziehung bedingt zu sein, durch die nach Foucault »eines Tages sich die Wahrheit von dem ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt des Aussagens (énonciation) weg und zur Aussage (énoncé) selbst hin verschoben hatte: zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegenstand, ihrem referentiellen Bezug« 85. Die Theorie der Reduktion hat, indem sie eine »ideale Wahrheit als Gesetz der Diskurse und eine immanente Rationalität als Prinzip ihrer Abfolge« 86 durchsetzte, als einer jener Diskurse operiert, von denen Foucault sich fragt, ob sie »diese Einschränkungen und Ausschließungsspiele gebildet haben und sie vielleicht auch verstärken« 87. Das Reduktions-Dispositiv operiert wie eine dieser diskursiven Praktiken der Ausschließung: ein Diskurs, der, gehalten von einem Subjekt, das sich als begründendes Subjekt voraussetzt, die »Realität des Diskurses elidiert« 88. Dieser Diskurs wird von einem Subjekt zementiert, das durch jenen Willen der Wahrheit strukturiert ist, der nur die logische Form der Wahrheit zulässt. Dieses Subjekt glaubt so, die Wahrheit »vom Begehren« abgelöst und »von der Macht« befreit zu haben. In Wirklichkeit aber ist dieses Subjekt nicht mehr in der

85 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München, Hanser Verlag, 1974, 11, Übersetzung modifiziert, C. C. 86 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 31–32 87 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 31. 88 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 32, Übersetzung modifiziert, C. C.

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Lage, »den Wahrheitswillen«, der seinen Diskurs »durchdrängt«, zu erkennen. 89 Die Reduktion ist das Dispositiv, durch das die Phänomenologie das moderne Subjektbewusstsein als Wissensfeld instituiert und das Subjekt der Wissenschaft als Grund dieses Wissensfelds gesetzt hat: Sie schaltet die Spaltung zwischen dem unbewussten – verborgenen – Subjekt des Begehrens und dem Subjekt des Willens stumm und legitimiert sich auf diese Weise. Das Unbewusste durchdringt aber gerade das Sein des Subjekts; dem Subjekt des Wissens, d. h. dem Ich der Wahrheitsaussage, gelingt es zumeist nur, das Subjekt des Unbewussten zu verkennen, zu verleugnen, zu verdrängen. Das Unbewusste meldet sich beim Subjekt-Ich der Aussage in seinem Sprechen oder besser: in seinem sich Ver-sprechen bzw. im Lapsus und lässt eine fremdartige Präsenz vordringlich werden. Das Nichtwissen der Skepsis scheint dies ›gewusst‹ zu haben, da die Skeptiker nicht glaubten, sich dieses Nichtwissens durch einen Willensakt bemächtigen zu können; vielmehr dachten sie, gerade mit der Suspension des Wahrheitswillens diesem Nichtwissen weniger ausgeliefert zu sein. Foucault antwortet einmal auf die Frage: [Ê]tes-vous un penseur sceptique?«: »– Absolument. […] [C]ar le scepticisme n’a jamais été un scepticisme total! […]; il me semblait bien que, pour le sceptiques, l’ideal était d’être des optimistes sachant relativement peu de chose, ce que je voudrais faire, c’est un usage de la philosophie qui permette de limiter les domaines de savoir. 90

Foucault greift den Skeptizismus auf eine Weise auf, der auf sein antiphilosophisches Potenzial gerade nicht verzichten will, bildet doch die Antiphilosophie jenen anti-universalistischen Operator, der die Ansprüche des Wissens zu begrenzen vermag. Der Skeptizismus ermöglicht es, in einem Dispositiv nicht gefangen zu bleiben, indem er die Kontingenz des Entstehens eines Wissensfeldes, nämlich die Machtverhältnisse, die da am Werke sind, nicht von der angesprochenen Wahrheit dieses Wissens trennt. Somit wirkt die Kontingenz als Bedingung dieser Wahrheit und als Grenze ihres Wissens. Die Philosophie bedarf der Skepsis, nicht nur, wie Husserl dachte, als Anfang, Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 15. Michel Foucault »Le retour de la morale« (1984), in: Dits et Écrits. 1954–1988. IV 1980–1988, 696–707, hier 706–707 (Hervorh. d. Verf.). Zum Skeptizismus Foucaults siehe auch Paul Veyne, Foucault. His Thought, his Character, Cambridge, Polity Press, 2010. 89 90

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sondern und vor allem, um die historische Kontingenz der Entstehung ihres Wissens nicht aus den Augen zu verlieren; um sie nicht im Namen der Teleologie der Geschichte und des Universalismus preiszugeben. Die Kontingenz, so haben wir schon gesehen, ist das Thema der Auseinandersetzung Husserls mit der Skepsis: Er löst die »unaufhebbare Erkenntniskontingenz der Welt« aus ihr heraus, »die grundwesentlich an der behandelten Struktur der Weltwahrnehmung hängt, ohne die eine Welt nicht für uns da –, also auch nicht in einer sonstigen Weise für uns erkennbar sein könnte« 91. Wir haben ebenfalls schon gesehen, dass und wie die Voraussetzungslosigkeit der Phänomenologie der ontologischen Beständigkeit der Welt bedarf und letztere wiederum an der Kontingenz hängt. Mit der Radikalisierung der Skepsis erwirbt die Phänomenologie die Kontingenz als »historisches Faktum«. Ihre Unaufhebbarkeit wurde mittels der Kompromissbildung »notwendige Kontingenz« in den Selbsterkenntnisbildungsgang des Bewusstseins integriert. Der Reduktion blieb dann nichts anderes mehr zu tun, als diese Urform der Geschichte, die notwendige Kontingenz, in die Selbstbegründung dieses Subjektbewusstseins einzuholen, da sie methodologisch schon gerechtfertigt hatte, ein »wahres Wissen« der Kontingenz auch unabhängig von der faktischen Erfahrung erlangen zu können. 92 Während die Skeptiker, gerade weil ihr Sprechen von der Kontingenz bedingt blieb, dieser keine absolut wissenskonforme Wahrheit zusprechen konnten, verleiht Husserl dem hartnäckigen skeptischen Nichtwissen sogar die abschließende Funktion der historischen Motivation, durch die alles, was die Phänomenologie nicht wissen kann, dennoch von ihr umfasst wird, um die Konturen der Erfahrbarkeit noch nicht bewusster möglicher Erfahrungen abzeichnen zu können. 93 Und doch: Deckt nicht gerade jenes Wissen, das dem Bewusstsein entkommt, aber ihm doch verhaftet bleibt, eine eigenständige Logik der Kontingenz auf, welche die Logik des Satzes vom Grunde ins Schwanken bringt?

91 Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, 51 (hervorgehoben von Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 104). 92 Derrida, »Introduction«, 35. 93 Vgl. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, 150.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

4.

Der Widerstand des Begehrens in der Epoché Muss gesagt werden, dass wir zur Behandlung des Wissenstriebs andere Arten von Wissen als das der Wissenschaft kennen müssen? 94

Neben der politischen Bedeutung des Widerstandes, die schon evoziert wurde, werde ich jetzt seine psychoanalytische Bedeutung ins Spiel bringen, um das dialektische Verhältnis der skeptischen Epoché zur transzendentalphänomenologischen Reduktion aufzuzeigen. »Widerstand« nennt die Psychoanalyse das, »was in den Handlungen und Worten des Analysierten sich dem Zugang zu seinem Unbewussten entgegenstellt« 95. Der Widerstand bzw. die Widerstände sind ein Signal dafür, dass das Subjekt sich seinem Unbewussten nähert, dass das sprechende Subjekt sich im Gravitationsfeld eines Verdrängten bewegt, in der Nähe von etwas, das nicht symbolisiert worden ist und sich in der Lücke des subjektiven Diskurses ankündigt. Da aber jede Verdrängung von der »Urverdrängung« 96 angezogen wird, weist jeder Widerstand Spuren von etwas auf, das sich dem Symbolisieren allgemein und immer von Neuem entzieht. 97 Die Resistenz ist jedes Mal ein Effekt der Verdrängung, der wiederum auf die Urverdrängung hinweist: Je mehr man sich dieser nähert, desto stärker wird der Widerstand. Das dialektische Verhältnis zwischen phänomenologischer Reduktion und skeptischer Epoché wird von diesem Widerstand skandiert und lässt sich prägnant in Bezug auf jene Wahrheit fassen, deren Wissen die Phänomenologie aus dem Sein des Subjektes entstehen lassen will. Die Wahrheit der Phänomenologie darf ihren subjektiven Charakter nicht verlieren, d. h., die wahre Aussage des phänomenologischen Zuschauers muss mit der Wahrheit des Seins der ausgeklammerten natürlichen Einstellung zusammenfallen. Doch je wei-

Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, 247. Jean Bertrand Pontalis/Jean Laplanche/Daniel Lagache, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1972, 622. 96 »Wir haben also Grund, eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, dass der psychischen (Vorstellungs-) Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewusste versagt wird.« Sigmund Freud, »Die Verdrängung« (1915), in: Psychologie des Unbewussten, Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt a. M., Fischer Verlag, 1982, 109. 97 Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, 247. 94 95

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ter das Subjekt der Phänomenologie – dem Wahrheitswillen gehorchend – die Reduktion vollzieht, desto mehr verliert das wahre Sein dieses »neutralisierten« Subjekts, also sein von der Welttranszendenz Affiziertsein, an bindender Kraft für die Wahrheits-Aussage des Subjekts der Reduktion. Das Subjekt der Phänomenologie erfährt, wie das der Wissenschaft, dieses ihm zugrundeliegende, verborgene Sein als Affekt, und die Phänomenologie geht davon aus, auch den Affekt der Reduktion unterziehen und so seine Wahrheit erlangen zu können. Der Affekt könnte dann für die Phänomenologie tatsächlich als Boden der »neuen« wissenschaftlichen Wahrheit gelten, als würde sie als Prädikat das Sein des Subjekts fassen, vorausgesetzt, der Affekt bliebe auf einen festen Ort des Seins des Subjektes bezogen. Die Affekte würden so sogar das wahre objektive Wissen des Subjekts bezeugen. Lacans Kritik an der Phänomenologie bezieht sich genau auf diesen Punkt: »Ein Philosoph«, so spottet er, »schreibt: ›Die Wahrheit des Schmerzes ist der Schmerz selbst.‹ […] [D]ie Phänomenologie kommt als Vorwand für die Gegen-Wahrheit und für ihren Status gerade recht« 98. Die Phänomenologie verleugnet nach Lacan, dass die Wahrheit eines Schmerzes dort zu suchen ist, wo der Schmerz seine Ursache hat. Die Affekte sind Effekte und nicht Vorstellungen der Wahrheit; die Wahrheit ist Ursache ihres Seins und nicht Prädikat. Eine Aussage wie jene des Phänomenologen, welche die subjektive Wahrheit als objektive Wahrheit, als »das Wahre über das Wahre« behauptet, glaubt sich auf »Affektentbindung und Vorstellungsinhalt« als auf »eine ›unauflösbare organische Einheit‹« 99 beziehen zu können. Jedoch hat Freud festgestellt, dass diese »unauflösbare organische Einheit« eine Täuschung ist, wie der Gang von Verdrängung und Urverdrängung insbesondere klinisch aufzeigt. 100 Die Affekte schreiben vielmehr einen strukturellen Mangel an Wahrheit in das Subjekt der Wissenschaft ein, »den Mangel des Wahren über das

Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, 249. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. M., Fischer Verlag, 2000, 445. 100 Freud stellt in seiner Trieblehre fest, »dass etwas anderes, was den Trieb repräsentiert, neben der Vorstellung in Betracht kommt und dass dieses andere ein Verdrängungsschicksal erfährt, welches von dem der Vorstellung ganz verschieden sein kann« (Freud, »Die Verdrängung«, 113). 98 99

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

Wahre« 101, denn die zwingende Wahrheit, an welche sie appellieren, 102 ist keine Wahrheit des Bewusst-seins des Subjekts, sondern vermutlich jene, die diesem Wissen entkommt oder entkommen ist, die verdrängt worden und unbewusst geblieben ist. Die Affekte insistieren, bleiben »unverrückt« 103, treten jedoch mit anderen Vorstellungsinhalten verknüpft auf, indem sie sich von ihren ursprünglichen Vorstellungsinhalten, die »Verschiebungen und Ersatz erfahren« 104 haben, lösen. Die Affekte tauchen im sprachlich bewussten Wissensgewebe des Subjekts auf, ohne an ihre ursprüngliche Einheit mit dem Vorstellungsinhalt appellieren zu können, und beanspruchen dennoch Wahrheit; sie kreisen um ein fundamentales Nichtwissen, das auf die Unverfügbarkeit einer absoluten Wahrheit für das Subjekt der Wissenschaft hinweist, und fordern zugleich die Anerkennung ihrer singulären, kontingenten Wahrheit. Giorgio Agambens Herausarbeitung der modernen Figur des Skeptikers anhand von Melvilles Bartleby deutet einen skeptischen Gebrauch der Sprache an, der an eine scheinbar komplette Abwesenheit von Affekten appelliert, um sich dem Dispositiv zu entziehen. Diese A-pathie bedeutet jedoch keine Abwesenheit des pathos, sie ist vielmehr Leidenschaft in ihrer ganzen Reinheit, eine an kein weltliches Objekt gebundene Leidenschaft, eine, die sich nur von der Sprache affizieren lässt, also von der Tatsache, dass die Sprache die Phänomene zum Erscheinen bringt, ohne von ihnen etwas zu behaupten. Bartlebys Formel »I would prefer not to«, so Agamben, verschiebt »die Sprache der Aussage, die etwas von etwas behauptet (legein ti kata tinós), auf die Sprache der Ankündigung, die nichts behauptet. Indem sie sich in der epoché des ›eher nicht‹ hält, wird die Sprache zum Engel der Verkündigung, pures Verkünden ihrer Leidenschaft« 105. Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, 246–247. »Der Affekt hat hier [in der Psychoneurose] immer recht« (Freud, Die Traumdeutung, 445). 103 Freud, Die Traumdeutung, 444. 104 Freud, Die Traumdeutung, 444. 105 Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, Berlin, Merve Verlag, 1998, 40; die Modifizierung der deutschen Übersetzung verdanke ich Cathrin Nielsen. Während im Italienischen »non piuttosto« einfach die Wortumstellung der gewöhnlichen Redeweise ist, verweist die deutsche Übersetzung dieser Wendung von M. Zinfert und A. Hiepko durch »nicht eher« auf die temporale 101 102

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Die Hervorhebung eines Gebrauchs der skeptischen Epoché, die nichts anderes macht, als »die Leidenschaft für den Logos« 106 zu verkünden und sich nur darauf stützt, macht deutlich, inwiefern gerade das Auftreten der Affekte in der Sprache das begründende Subjekt der Reduktion vom Grund seines Wissensbegehrens entblößt: Wenn man sich auf die Affekte stützt, gibt es noch weniger absolute Wahrheit. Das in der Epoché gehaltene Subjekt ist daher viel eher in der Lage, die Wahrheit auszusagen, gerade weil es von ihr affiziert wird, ohne sie zu wissen. »Die Sprache spricht« auch jenseits der Prädikation – wie Heidegger sagen würde. Agambens Erarbeitung der skeptischen Formel Bartlebys erweist sich weiterhin als hilfreich, um sich dem auf die Skepsis fixierten Bemächtigungstrieb Husserls zu entziehen. Agamben zeigt, inwiefern das skeptische »eher nicht« eine Negation freisetzt, welche die Verbundenheit zwischen Wort und Sache, zwischen Urteil und Erscheinung weder affirmiert noch negiert, aber doch als möglich verkündet. Das Weder-Noch verlässt die Logik der Phänomenologie und ihre Voraussetzungen, geht über sie hinaus und setzt erneut die Möglichkeit frei, dass etwas sowohl sein als auch nicht sein kann. So wird die Kontingenz gerade von der Notwendigkeit ihres Schon-gewesenseins (der Geschichte) und ihres So-gewesen-sein-Werdens (des berechenbaren Effekts einer Kausalität) entbunden. Ihr wird der Grund entzogen – und gegenüber dieser grundlosen Kontingenz bleibt die fundamentalistische Logik der Phänomenologie machtlos. Die Umwandlung der actualitas zur dynamis – Potenz –, ist die letzte Station jeder Zurückführung, jeder Reduktion, indem sie zu der Kontingenz führt, die sich gerade der Logik des absoluten universalen Grundes entzieht. Diese Operation folgt aber dennoch einem transzendentalen Impuls: Sie geht über die historisch-ontologische Erkenntnisbedingung der Welt hinaus, um von da aus die Potenz auch nicht aktualisierter Realitäten freizusetzen. 107

Konstruktion »nicht eher (als)« und suggeriert so einen anderen Sinn als das zurücknehmende »eher nicht«. 106 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M., Klostermann, 1983, 439. 107 Nach Agamben geht der skeptische transzendentale Impuls über die nihilistische und die positivistische ontologische Voraussetzung hinaus; Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, 45–46.

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Kontingenz und Bewusstsein in der phänomenologischen Reduktion

Man könnte daraus schließen, dass man sich nur, indem man skeptisch bleibt, dem Versuch des subjektivistischen Wissenswillens entziehen kann, sich immer wieder von der Grundlosigkeit der Kontingenz zu befreien. Während Husserl zugibt, dass die Phänomenologie die »völlige personale Wandlung« 108, welche die Epoché erwirken könne, nicht aufzuklären vermag, weshalb er sie mit einer religiösen Wandlung vergleicht, lässt sich die bei Agamben angedeutete Wandlung der actualitas zur dynamis, die in der skeptischen Epoché stattfindet, gut als Wunsch des an der Schwelle verharrenden Subjekts erklären, das Wissensdispositiv, durch das die natürliche und die theoretische Einstellung auseinandergehalten werden, wirkungslos werden zu lassen. Das Subjekt in der Epoché widersteht dem Dispositiv der Reduktion dank des Auftretens von etwas, das wie die Kontingenz sowohl sein als auch nicht sein kann, das weder ist noch nicht ist: Hier wird eine nicht realisierte, nicht aktualisierte Realität evoziert, an die das Subjekt gebunden ist. Für Lacan zeigt sich auf diese Weise das Unbewusste »als etwas, das sich im Wartestand im Bereich, ich würde sagen, des Ungeborenen aufhält«; hier finden wir uns »mit Sicherheit in einem Register, das nichts mit Irrealität, nichts mit Derealität zu tun hat, aber mit dem Nichtrealisierten« 109. Die Geste der Epoché legt die Struktur des Subjekts frei, zwischen Wahrheit und Wissen gespalten zu sein; sich an ihre Voraussetzung zu halten heißt, das Subjekt der Wissenschaft als Grund abzusetzen, über seinen Willen hinauszugehen, ihm seinen Grund zu entziehen und seine ratio zu suspendieren. 110 Das Subjekt, das in der Epoché der Reduktion widersteht, ist das unbewusste Subjekt des Begehrens, »essentiellement le désir d’avoir son désir« 111. Ob das Subjektbewusstsein sein unbewusstes Begehren übernehmen wird, ist eine andere Frage.

Husserl, Krisis, 149. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI, hrsg. von Jacques-Alain Miller, übers. von Norbert Haas, Berlin, Turia & Kant, 2015, 29. 110 Vgl. Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, 43–44. 111 Jacques Lacan, Le Séminaire de Jacques Lacan. Livre V. Les formations de l’inconscient. 1957–1958, Paris, Éditions du Seuil, 1998, 430. 108 109

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Quasi-Ohnmacht Selbstbehauptung aus bewusstseinstheoretischer Perspektive bei Hans Blumenberg Sonja Feger

Abstract: Der Beitrag fragt, ausgehend von den bei Blumenberg prominent verwendeten Begriffen ›Selbsterhaltung‹ und ›Selbstbehauptung‹, nach der Souveränität des Bewusstseins gegenüber der Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund, dass ›Lebenswelt‹ mit Blumenberg als ein Bewusstseinsmodus der Stimmigkeit zwischen Bewusstsein und Welt verstanden werden kann, wird Blumenbergs Theorem des ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ herangezogen und als ›Quasi-Ohnmacht‹ des Menschen gegenüber einer übermächtig scheinenden Wirklichkeit gedeutet, gegen die der Mensch sich mit den Mitteln seiner Vernunft zu behaupten hat. Der Beitrag verortet einzelne zentrale Theoreme bei Blumenberg zwischen Anthropologie und Bewusstseinstheorie und ist selbst vornehmlich bewusstseinstheoretisch ausgerichtet. Abschließend wird die vorgestellte Interpretation auf Husserls Verständnis von ›Horizont‹ als ›vorgezeichnete Potentialitäten‹ bezogen. Hans Blumenberg prominently draws on the notions of ›self-assertion‹ (Selbsterhaltung) and ›self-preservation‹ (Selbstbehauptung). This essay scrutinizes to which extent there is human sovereignty in the process of the constitution of reality (Wirklichkeitskonstitution). Self-assertion and self-preservation can be understood both from an anthropological and an epistemological angle. In this regard, the contribution deals with the entanglement of anthropology and epistemology in Blumenberg’s thinking. The contribution takes up Blumenbergs’ notion of the ›absolutism of reality‹ (Absolutismus der Wirklichkeit) and suggests conceiving of the absolutism of reality as a ›quasi-impotence‹ of humans against a seemingly overwhelming reality, one which humans resist by means of reason. The article concludes by linking this interpretation to Husserl’s notion of horizon, understood as ›predelineated potentialities‹ (vorgezeichnete Potentialitäten).

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Quasi-Ohnmacht

1.

Einleitung

»Was ist der Mensch?«, fragt Kant, wenn er die vierte Grundfrage der Philosophie festlegt. 1 Hans Blumenberg greift diese Frage auf und schlägt gleichzeitig eine »Minimalisierung der anthropologischen Grundfrage« vor: »Wie ist der Mensch möglich?« 2 Doch handelt es sich hierbei tatsächlich um eine Minimalisierung? Ist es nicht vielmehr so, dass Blumenberg die Komplexität der anthropologischen Grundfrage noch steigert? Denn wenn vom ›Faktum Mensch‹ ausgegangen wird, bleibt eine Suggestion unausgesprochen, die in der Frage nach der Möglichkeit des Menschen liegt, namentlich die Vorstellung, dass die Möglichkeit des Menschen keineswegs selbstverständlich oder gesichert ist. Der Mensch erscheint im Lichte der »Minimalisierung der anthropologischen Grundfrage« besehen plötzlich als ein »Wesen, das sich hätte mißlingen können und noch mißlingen kann«. 3 Die Annahme, der Mensch hätte – als einzelner, als Gesellschaft oder als Gattungswesen – auch scheitern können und könne es immer noch, fokussiert auf die Verletzlichkeit menschlichen Daseins. Diese Verletzlichkeit menschlichen Daseins kommt in einem Gemälde Caspar David Friedrichs auf besonders einprägsame Weise zum Ausdruck. Das gemeinte Bild ist unter dem Titel Mönch am Meer bekannt und entstand zwischen 1808 und 1810. 4 Es macht durch seine Komposition darauf aufmerksam, dass das Verhältnis des Menschen zur Welt, seine Stellung darin, fraglich werden kann. Friedrichs Darstellung ist horizontal in drei Farb- oder Helligkeitszonen geteilt. Der hellste, der von kleineren Sandhügeln strukturierte Strand, nimmt zusammen mit dem algengrünen Meer gerade einmal ein Viertel des gesamten Bildes ein. Kleine Schaumkronen der brechenden Wellen sind die einzigen Lichtpunkte im Meer, ansonsten reichen einzelne Schattierungen des Wassers bis ins Schwarze hinein. Der Himmel, der das Gemälde flächenmäßig dominiert, ist am Hori1 Immanuel Kant, »Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen«, in: Logik. Physische Geographie. Pädagogik, in: Kant’s gesammelte Schriften (im Folgenden AA), hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9, Berlin, de Gruyter, 1911, 1– 150, hier 25. 2 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, hrsg. von Manfred Sommer, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2006, 535. 3 Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 524. 4 Vgl. https://smb.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=144260, zuletzt abgerufen am 13. 12. 2020.

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zont dunkel, fast schwarz, gibt die Wasseroberfläche in hellerer Farbgebung wieder und hellt erst ab etwa der Bildmitte auf – jedoch nicht, ohne dunklere, fleckige Wolken in der oberen rechten Ecke aufziehen zu lassen. Der lichte Teil des Himmels lässt ein Wolkenspiel erkennen, hier kommen helle Blautöne und weiße Wolkenspitzen vor, zudem fliegen einzelne Möwen am Himmel. Am linken Rand des mittleren Vertikaldrittels des Bildes steht – dem Betrachter abgewandt, aufs Meer blickend – eine menschliche Figur. Sie ist einheitlich dunkel gekleidet, einzig der kahle, unbedeckte Kopf hebt sich von der Kutte ab. Die Figur ist verhältnismäßig klein, angesichts der schieren Größe und Weite des Himmels ist sie im Gemälde gerade noch erkennbar. Das Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Welt in dieser Darstellung scheint unmissverständlich und unwiderruflich ausgemacht: Der einzelne Mensch ist gerade noch als diskretes Bildelement vorhanden, jedoch dominieren Strand, Meer und vor allem die Weite des Himmels die Szene. Auf Friedrichs Darstellung des einzelnen Menschen am Meer wird zurückzukommen sein. Zuvor werden aus Blumenbergs Werk einzelne Begriffe – insbesondere Selbsterhaltung, Absolutismus der Wirklichkeit und Selbstbehauptung – aufgegriffen und aus einer bewusstseinstheoretischen Perspektive aufeinander bezogen. Die Analyse fußt auf dem, was man mit Blumenberg ›Lebensweltverlust‹ nennen kann. In einem ersten Schritt wird deswegen, ebenfalls aus bewusstseinstheoretischer Perspektive, der Austritt aus der Lebenswelt als initiatives Moment der Selbsterhaltung dargestellt (2). Anschließend wird Caspar David Friedrichs Mönch am Meer wieder aufgegriffen, um den »Absolutismus der Wirklichkeit« als ›QuasiOhnmacht‹ plastisch zu machen (3). All diese Schritte bilden die Grundlage, um das Selbstbehauptungs-Theorem zu konturieren (4) und in der abschließenden Interpretation auf Husserls Horizontbegriff anzuwenden (5).

2.

Lebensweltverlust und Selbsterhaltung

Die Lebenswelt ist für Blumenberg der Inbegriff von »Selbstverständlichkeit«. 5 Weil sich in der Lebenswelt alles fraglos abspielt, ist

5

Für die Lebenswelt sei ihr »einziges definitorisches Merkmal […] ihre Selbstver-

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Quasi-Ohnmacht

sie die »Sphäre der Unverlegenheit«. 6 Lebenswelt und deren Selbstverständlichkeit sind jedoch wesentlich vulnerabel, können brüchig werden und abhandenkommen. Mit einem Mal merkt man auf, hält inne und wird sich dessen bewusst, dass irgendetwas entweder gar nicht mehr da, ganz anders als zuvor oder schlicht nicht vorhanden ist. Das kann flockende Milch im Kaffee sein oder eine ausgefallene Heizung, auf die man fröstelnd aufmerksam wird, während man doch eigentlich nur aufstehen und den Tag beginnen will. Es könnte auch ein schmerzender Zeh sein, den man sich gestoßen hat und der nun auf einmal bei jedem Schritt darauf hinweist, wie selbstverständlich und unmerklich man doch zuvor einfach auftreten konnte. Gedanklich vergegenwärtigt man sich nun das, was fehlt: die tänzelnden Milchschlieren im Kaffee, das sonst übliche leise Summen des Heizkörpers im Hintergrund oder die unzähligen sonst mühelosen Schritte, die man den ganzen Tag macht. Man kommt in die Verlegenheit, das einst Selbstverständliche und nun Abwesende erklären zu wollen – und »Verlegenheit ist geradezu Symptom des Lebensweltverlustes«. 7 Die Lebenswelt ist der Inbegriff der Unauffälligkeiten. Was lebensweltlich begegnet, ist selbstverständlich in dem Sinne, dass es nicht zum Innehalten und nicht zum Aufmerken veranlasst. Lebensweltlich stört und irritiert nichts, Stirnrunzeln gibt es in der Lebenswelt nicht. Die Lebenswelt ist »Feststellungsunbedürftigkeit« – »Was es gibt, versteht sich von selbst, und was es nicht gibt, braucht erst recht nicht gedacht zu werden«. 8 Die Lebenswelt bezeichnet eine unmittelbare Passung zwischen Mensch und Welt, denn alles fügt sich ohne Weiteres. Lebensweltlich gibt es nichts, was erst vermittelt oder verhandelt werden müsste.

ständlichkeit« (Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1986, 350). 6 Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, hrsg. von Manfred Sommer, Berlin, Suhrkamp, 2010, 14. 7 Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 14. Gleichwohl ist Lebensweltlichkeit nicht mit Eu- und Lebensweltverlust nicht mit Dysfunktionalität gleichzusetzen. Auch ein erfrischender Witz oder ein erfreulicher Zufallsfund auf dem Trödelmarkt können in diesem Sinne Lebensweltunterbrechungen sein. Die Beispiele schildern vornehmlich die empirische Dimension der Lebenswelt, zugleich ist Blumenbergs Lebensweltbegriff jedoch so vielschichtig, dass er ›Lebenswelt‹ ebenfalls als transzendentalen Begriff auffasst, demzufolge es sich, transzendental verstanden, in der Lebenswelt gar nicht leben lässt, vgl. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 79. 8 Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 42.

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Erst der Verlust lebensweltlicher Unverlegenheit legt offen, was die verlorengegangene Selbstverständlichkeit eigentlich bedeutete. »Verlassen der Lebenswelt heißt, in die Kontingenz der Welt einzutreten und ihre Unselbstverständlichkeit als Antrieb zu ihrer theoretischen Aufarbeitung weniger auferlegt als verhängt zu bekommen.« 9 Wenn sich Selbstverständlichkeit durch die unmittelbare Passung von Mensch und Welt auszeichnet, bedeutet der Austritt aus der Lebenswelt den Verlust dieser Passung, was Blumenberg hier »Unselbstverständlichkeit« nennt. Erst jetzt ist es möglich (und nötig!), das Leistungsrepertoire des Bewusstseins aufzurufen und auszuschöpfen, um sich versuchsweise aus dieser Verlegenheit herauszumanövrieren. Bewusstseinstheoretisch gesprochen muss das Verhältnis des Bewusstseins zu seinen Gegenständen neuerlich ausgelotet und wiederhergestellt werden, und zwar just durch Anstrengungen des Bewusstseins. Das kann die Suche nach einer Erklärung sein, das Ordnen des Geschehenen in Begriffe und nicht zuletzt das Erzählen eines Mythos über die Entstehung der Welt im Ganzen. Wenn die Welt oder einzelne Gegenstände der Welt einmal unselbstverständlich geworden sind, können Begriffe, Geschichten oder Metaphern dazu dienen, die Risse in der Lebenswelt zu übertünchen. Da kann es etwa schon helfen, sich das Heizungsventil mit der Vermutung, es sei lange nicht entlüftet worden, näher anzusehen oder zu erzählen, wie es zum Stolpern und dem gestoßenen Zeh kommen konnte. Bewusstseinstheoretisch verbindet Blumenberg mit der Lebenswelt einen Bewusstseinsmodus, der vortheoretisch bzw. protophilosophisch ist. In phänomenologischen Termini ausgedrückt ist es das intentionale Bewusstsein als wesentliches Zusammengehören von Bewusstseinsakt und -gegenstand, das sich einstellt, sobald die lebensweltlich-vortheoretische Einstimmigkeit des Bewusstseins mit seinen Gegenständen gebrochen ist. 10 In dem Moment, in dem die Lebenswelt verlassen und damit die ursprünglich unmittelbare Passung zwischen Mensch und Welt aufgebrochen und die Position des abstandnehmenden Betrachters eingenommen ist, ist das Bewusstsein mit seinen theoretisierenden Leistungen gefragt. Der verwende-

Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 350–351. Vgl. zu Husserls Bestimmung der noetisch-noematischen Korrelation etwa: Edmund Husserl, »Cartesianische Meditationen«, in: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, in: Husserliana (im Folgenden Hua), Bd. I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag, Martinus Nijhoff, 21973, 43–184, hier 72.

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te Theoriebegriff geht zurück auf die ursprüngliche Bedeutung des Terminus θεωρέω, der das abstandnehmende Betrachten bezeichnet und den Gedanken birgt, »daß Sehen nicht nur der Zugang der Griechen zu ihrer Welt war, sondern daß ihr Verstehen der Welt sich am Akt des Sehens orientierte«. 11 Mit und nach dem Lebensweltverlust geht es darum, das nunmehr klärungsbedürftig gewordene Verhältnis des denkenden Subjekts zu seinen Objekten zu verhandeln und die verlustig gegangene Unmittelbarkeit zu überbrücken, sie zu kompensieren und den Bezug zwischen Bewusstsein und Gegenstand neuerlich herzustellen. Das Auseinandertreten von Bewusstsein und Gegenstand, und gleichzeitig die (phänomenologische) Erkenntnis, dass Bewusstseinsakt und -gegenstand in der noetisch-noematischen Korrelation wesentlich zusammengehören, machen aus transzendentaler Perspektive den Hintergrund von Selbsterhaltung aus. Das Wegbrechen lebensweltlicher Strukturen als der Verlust einer unmittelbaren Passung nötigt das Bewusstsein allererst dazu, sich in ein Verhältnis zu seinen Gegenständen zu setzen – und dieses Verhältnis aufrechtzuerhalten. Zum Gebot der Stunde wird nunmehr das andauernde Verhandeln und Ausloten des Abstands zwischen dem Bewusstsein und dessen Gegenständen, zwischen Beobachter und den ihm plötzlich vor Augen stehenden Fraglichkeiten. Im Auseinandertreten von Bewusstsein und seinen Gegenständen entsteht eine Distanz zwischen beiden, die das Bewusstsein in und mit seinen Akten fortan gleichsam feinjustieren muss. Selbsterhaltung ist Abstandsregulation des Bewusstseins. Weil das Gelingen dieser Abstandsregulation nie ein für alle Mal gesichert ist, eignet dieser Figur immer schon etwas Prekäres. Zur Intentionalität des Bewusstseins bemerkt Blumenberg: »Niemals kann mit zureichender Sicherheit entschieden werden, ob der Informationsstand über eine ›Sache‹ ausreicht« – ob der Abstand zu ihr angemessen ist –, »das Verhalten zu ihr zu bestimmen«. 12 Blumenberg schreibt über die Selbsterhaltung, diese sei »ein biologisches Merkmal, und insofern der Mensch als ein mangelhaft ausHans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2001, 327–405, hier 365–366. Siehe auch Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 71993, 15. 12 Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, hrsg. von Manfred Sommer, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2002, 133. 11

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gerüstetes und angepaßtes Lebewesen auf die Bühne der Welt getreten ist, bedurfte er von Anfang an der Hilfsmittel, Werkzeuge und technischen Verfahren zur Sicherung seiner elementaren Lebensbedürfnisse«. 13 Der Anklang der sogenannten Mängelwesenthese, die von Herder in ihren Ursprüngen geprägt und im 20. Jahrhundert etwa von Gehlen maßgeblich aufgegriffen wurde, ist hier unverkennbar. 14 Doch ist Selbsterhaltung keinesfalls ausschließlich biologistisch zu verstehen, vielmehr hebt das Theorem auf eine anthropologische Dimension ab. Noch einmal anders gesagt: Der Protagonist der ›Unternehmung Selbsterhaltung‹ ist weder (biologistisch) mit dem menschlichen Organismus noch (erkenntnistheoretisch) mit der reinen transzendentalen Subjektivität treffend identifiziert. Vielmehr betont Blumenberg die genuin philosophisch-anthropologische Dimension, indem er den Menschen als solchen mitsamt dessen Vernunftbegabung in den Fokus rückt. Auch und gerade in anthropologischer Hinsicht nimmt Blumenberg mit dem Theorem der Selbsterhaltung auf emphatische Weise Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung zwischen Subjektivität und Umgebung, zwischen Mensch und Welt in den Blick, wie sie nach dem Verlust lebensweltlicher Strukturen erforderlich wird: Denn es geht nicht um die Lebenswelt selbst, sondern um die Möglichkeit eines Lebens, das die genauen Passungen zu einer ihm adäquaten Welt nicht mehr hat und mit dieser – unter allen sonst bekannten Bedingungen für Lebewesen tödlichen – Desolation fertig geworden ist und ständig fertig zu werden hat. 15 13 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 31996, 151. Für eine historische Übersicht vgl. Martin Mulsow, »Selbsterhaltung«, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Schwabe, 1971–2007, 393–406. Vgl. darüber hinaus, was an hiesiger Stelle nicht vertieft werden kann, zu einer Darstellung von ›Selbsterhaltung‹ und ›Selbstbehauptung‹ aus philosophiehistorischer Perspektive: Hans Blumenberg, »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche«, in: Helmut Kuhn/Franz Wiedmann (Hrsg.), Das Problem der Ordnung, Meisenheim am Glan, Hain, 1962, 37–57; Jürgen Goldstein, »Selbstbehauptung«, in: Robert Buch/Daniel Weidner (Hrsg.), Blumenberg lesen, Berlin, Suhrkamp, 2014, 260–275, hier 267–274. 14 Johann Gottfried von Herder, »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Bernhard Suphan, Hildesheim, Olms, 1891, 1–147, hier insb. 22–30; vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, in: Arnold Gehlen Gesamtausgabe, Bd. 3.1, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M., Klostermann, 1993, 16–17; 30–31. 15 Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 63.

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Was oben unter transzendentalphilosophischen Vorzeichen durchgespielt wurde – namentlich die Auflösung der lebensweltlichen Passung zwischen Bewusstsein und seinen Gegenständen –, kehrt auf der Ebene anthropologischer Annahmen wieder und wird weiterverarbeitet: Es geht nunmehr darum, die Umstände zu eruieren, mit denen menschliche Vernunft sich konfrontiert sieht. Insofern sie als menschliche Vernunft in den Blick genommen wird, geht es Blumenberg nicht um eine reine, von allem Empirischem gereinigte transzendentale Subjektivität. 16 Es gilt nunmehr zu fragen, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Welt durch Vernunftleistungen moderiert werden kann; eine Transzendentalphilosophie in Reinform sucht man bei Blumenberg daher vergebens. Vielmehr birgt jedes transzendentalphilosophische Theorem bei Blumenberg im Kern immer schon eine Anthropologie oder hebt zu einer solchen an. 17 Umgekehrt legen viele der anthropologischen Beobachtungen Blumenbergs gleichsam eine vernunfttheoretische Spur, deren Rückverfolgung auf transzendentalphänomenologische Annahmen wie etwa die der noetisch-noematischen Korrelation führt.

3.

Absolutismus der Wirklichkeit als Quasi-Ohnmacht

Anhand des Selbsterhaltungstheorems tritt das enge, kaum zu entflechtende Verwobensein von Erkenntnistheorie und Anthropologie bei Blumenberg zu Tage. Vor diesem Hintergrund bringt Blumenberg in Anlehnung an Kant die »Selbsterhaltung der Vernunft« in Stellung. Es geht Blumenberg darum, die Umstände darzustellen, unter denen menschliche Vernunft sich zu erhalten und gegen die sie sich letztlich auch zu behaupten hat. Die »Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft« profiliert er, indem er diese von Kant zusammen mit dessen Rede von der Würde der Vernunft aufgreift. 18 Blumenberg 16 Vgl. Edmund Husserl, »Phänomenologie und Anthropologie«, in: Aufsätze und Vorträge, Hua, Bd. XXVII, hrsg. von Thomas Nenon/Hans Rainer Sepp, Dordrecht/ Boston/London, Kluwer, 1989, 164–181, hier 172–173. 17 Eine ausgearbeitete Anthropologie wurde von Blumenberg selbst zu Lebzeiten nicht vorgelegt, sodass sich anthropologischen Annahmen verstreut in verschiedenen Texten sowie verstärkt in posthum veröffentlichten Publikationen finden, die etwa Manuskripte und Entwürfe bündeln. 18 Immanuel Kant, »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, in: AA, Bd. 8, 147, zitiert in: Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 507; an anderer Stelle betont

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weist den Gedanken einer Vernunft, die angetreten ist, sich selbst ihre Würde zuzusprechen, keinesfalls zurück. Vielmehr nimmt er eine Verschiebung in der Hierarchie vor: Im Katalog der Aufgaben menschlicher Vernunft steht deren Selbsterhaltung nunmehr oberhalb der Würde. Kants Darstellung der Würde der Vernunft erscheint Blumenberg durchaus treffend, jedoch entspreche Kant »der Härte der geschichtlichen Lage der Vernunft, in die er hineinwirkt, genauer, wenn er statt von Würde von Selbsterhaltung der Vernunft spricht«. 19 Dass Blumenberg die Anstrengungen der Vernunft umsortiert und nicht mehr der Wahrung ihrer Würde, sondern der Selbsterhaltung einen vorrangigen Stellenwert zumisst, kann nur einleuchten, wenn man mit ihm annimmt, spätestens der Mensch der Moderne sei ein Wesen, dessen Bewusstseinsfähigkeit überhaupt mit der Nötigung zu Schutzmaßnahmen einhergeht. Selbsterhaltung als Vernunftleistung steht bei Blumenberg in enger Verbindung zu einer tieferliegenden Diagnose, namentlich der Diagnose der »Übergröße um den Menschen ringender Gewalten«. 20 Das ist erläuterungsbedürftig. Wie sind derlei Schutzmaßnahmen geartet, wogegen genau werden sie ergriffen und sollen abschirmen? Verschlagworten lässt sich das Konglomerat dieser Gewalten mit dem Titel Absolutismus der Wirklichkeit. Mit einer Wirklichkeit, die sich als absolute Größe gegenüber dem menschlichen Bewusstsein ausnimmt, ist gemeint, »daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte«. 21 Der Mensch sei ein »ständig auf dem scharfen Grat seiner Möglichkeit sich haltendes Lebewesen. Daß es auf der Oberfläche der Erde noch da ist, resultiert aus der Gesamtheit seiner Überlebenskünste und läßt ihn immer nahe der Angst hausen«. 22 Diese Angst, als deren Index sich der Absolutismus der Wirklichkeit verstehen lässt, ist die Angst eines Wesens, das sich der Verletzlichkeit seines Daseins bewusst wurde, die Angst des herderschen Mängelwesens. Blumenberg, es gelte »in der kürzesten Formel Kants, als der Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung.« (Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 41; mit Referenz auf: Immanuel Kant, Anthropologie, in: AA, Bd. 15, 823). 19 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 506–507 (Hervorh. S. F.). 20 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 506. 21 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 51990, 9. 22 Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1997, 551.

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Quasi-Ohnmacht

Der Mensch meint, seine Existenzbedingungen nicht beherrschen zu können und deswegen erscheint ihm die Wirklichkeit als absolute Größe. Aus diesem Blickwinkel ist die Wirklichkeit das Unverhandelbare, das über den Menschen hereinbricht, ohne dass dieser auch nur das Geringste dabei mitbestimmen könne. Der Absolutismus der Wirklichkeit ist die Allegorie für die Härte des Lebens, von der der Mensch nicht beeinflussen kann, wann und in welcher Form sie sich in die Lebensrealität eines Einzelnen einschreibt. Auch Schicksalsschläge, für die vergeblich ein Grund und eine Erklärung gesucht wird, geben Erfahrungen des Absolutismus der Wirklichkeit wieder. Die Wirklichkeit, wenn sie als absolute erscheint, ist eine dem Menschen ganz und gar nicht gefügige Welt, in der dem Menschen Handlungsspielraum und Möglichkeiten zur Einflussnahme entzogen sind. Wirklichkeit ist dann etwas, was bewältigt werden muss, aber nicht bewältigt werden kann. Sie tritt als eine dem Menschen entgegengesetzte Größe auf: Wirklichkeit ist der Widerstand, gegen den der Mensch sich zu beweisen und bewähren hat. 23 Wirklichkeit gemäß dem Absolutismus der Wirklichkeit stellt eine – vermeintlich – unentrinnbare Größe dar, gegen die das menschliche Bewusstsein sich fortwährend zu behaupten hat: »Immer schon ist der Mensch diesseits des Absolutismus der Wirklichkeit, niemals aber erlangt er ganz die Gewißheit, daß […] die relative Übermacht der Realität über sein Bewußtsein und sein Geschick umgeschlagen ist in die Suprematie des Subjekts.« 24 Es ist die Erfahrung, dass nicht des Menschen Zutun ausschlaggebend dafür ist, dass sich Wirkliches als Wirkliches gebärdet. Was sich dem Menschen als Wirklichkeit aufdrängt, hat, sofern es sich um eine Erscheinungsform des Absolutismus der Wirklichkeit handelt, den Einflussbereich des menschlichen Bewusstseins gleichsam einfach übersprungen. Was wirklich ist, scheint notwendigerweise so und nicht anders wirklich zu sein. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass der Mensch die (seine) Wirklichkeit in der Hand hat und gestaltet, doch die Gewissheit darüber, dass es grundsätzlich und jederzeit so sei, bleibt unerreicht. Jederzeit kann es sein, dass der Absolutismus der Wirklichkeit als unberechenbare und unverhandelBlumenberg zufolge ist insbesondere der Wirklichkeitsbegriff der Moderne derjenige, der mit der »Erfahrung von Widerstand« einhergeht, sodass »Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende« gilt (Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Hans Robert Jauß [Hrsg.], Nachahmung und Illusion, München, Fink, 21964, 9–27, hier 13–14). 24 Blumenberg, Arbeit am Mythos, 15–16. 23

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bare Größe einzelne Lebenssituationen bestimmt, denen der Mensch nur wie ein Zuschauer beiwohnt, ohne selbst die Regie übernehmen zu können. Umgekehrt formuliert: Dass die »Suprematie des Subjekts« sich einmal vollends, mit letzter Gewissheit und unwiderruflich einstelle, ist undenkbar. Mit Blumenberg ist man geneigt, den Absolutismus der Wirklichkeit als Handlungsunfähigkeit des Menschen gegenüber der Wirklichkeit zu interpretieren. Die geschilderten Erfahrungen, die mit dem ständigen Versuch einhergehen, sich gegen die Wirklichkeit zu behaupten, rangieren nahe der Ohnmacht. Aber, und hier muss über Blumenberg hinausgegangen werden, eben nur nahe derselben. Denn selbst eine sich als absolute Größe gebärdende Wirklichkeit lässt gerade noch genug Raum für die Möglichkeit gelingender Selbstbehauptung. Der Mensch sieht sich mit dem »ständigen und unablösbaren Zwang der ›Bestätigung‹« konfrontiert, die letztlich zur »Selbstbehauptung durch Beherrschung der Wirklichkeit« anstiftet. 25 Die Ohnmacht ist nur fast vollkommen, sie ist Quasi-Ohnmacht. Das eingangs beschriebene Gemälde Mönch am Meer von Caspar David Friedrich lässt sich nun als Versinnbildlichung für den Absolutismus der Wirklichkeit heranziehen. Der einzelne Mensch droht sich in der schieren Weite des Himmels und des Meers zu verlieren, er steht in der Welt und findet in ihr doch keinen Anhaltspunkt. Dass dieses Gemälde Friedrichs im Betrachter Gefühle von Verlorensein in der Welt hervorrufen kann, zeigt etwa auch der Kommentar Heinrich von Kleists. Dieser schreibt nach einem Ausstellungsbesuch in den Berliner Abendblättern über Friedrichs Werk: Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunct im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnißvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da[.] 26

Blumenberg, »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung«, 50. Heinrich von Kleist, »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«, in: Berliner Abendblätter, 12, 1810, 47–48, hier 47. Die gesamte Passage stützt sich in Teilen auf Clemens Brentanos Ausführungen, wie Kleist sich in der Ausgabe 19 vom 22. 10. 1810 der Berliner Abendblätter richtigzustellen genötigt sieht, vgl. Christian Begemann, »Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 64 (1), 1990, 54–95, hier 56–57.

25 26

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Kleists Lagebestimmung des Menschen inmitten des »weiten Reiche[s] des Todes« ist zugleich eine Bewertung der vorgefundenen Situation: Das empfundene Unbehagen ist von der Größenordnung existenzieller Bedrohung. In Kleists Überlegungen zu Friedrichs Mönch am Meer liegt eine Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Welt. Verortet wird der Mönch, der emblematisch für den Menschen und dessen Verhältnis zum ihm umfangenden Ganzen steht. Der Mönch scheint ausgestoßen aus einem vormals stimmigen Weltgefüge, seine »Desolation« spiegelt sich in den verlustig gegangenen »Passungen zu einer ihm adäquaten Welt«, und er wird sich dessen gewahr, dass diese Passungen nicht mehr ohne Weiteres gewährleistet oder zu restituieren sind. Es ist die Stimmigkeit zwischen Mensch und Welt, die verlustig gegangen ist. Friedrichs Figur ist einsam, der kargen Weite des Himmels und des Meeres ausgesetzt. Nichts in dem Bild bietet ihm – oder dem Auge des Betrachters – einen Anhaltspunkt, an dem er sich orientieren oder gar ableiten könnte, »daß der Mensch in die Welt passe«, wie es an einer Stelle bei Kant heißt. 27 Der Mönch ist »der Weite des Raumes ausgesetzt, ohne seinen Blick vor der Übermacht des Unendlichen verschließen zu können. Strand, Meer und Himmel sind auf dem Bild unbegrenzt, es gibt keinerlei Gegenstände, zu denen die Figur des Mönches sich verhalten oder in Bezug gesetzt werden könnte«. 28 Der Mönch ist auf sich selbst und seine eigenen Möglichkeiten zurückgeworfen, ist auf sich selbst gestellt, wenn es darum geht, seinen Platz in der Welt zu bestimmen und einzunehmen. Es ist, als habe er mit der unmittelbaren Passung zur Welt auch seine Heimat verloren, als sei er – allein zurückgeworfen auf die Möglichkeiten seiner Vernunft – »das in der Transzendenz unbeheimatete Mängelwesen«. 29 Friedrichs Mönch am Meer repräsentiert die Erfahrung einer Quasi-Ohnmacht. Der Mensch ist ja nur vom Verschwinden bedroht, ohne tatsächlich nichtig zu werden. Er ist gerade noch da, gerade noch groß genug, um auf der Leinwand erkennbar zu sein.

Immanuel Kant, Logik. Handschriftlicher Nachlaß, in: AA, Bd. 16, 127. Jürgen Goldstein, Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen, Berlin, Matthes & Seitz, 2017, 50. 29 Goldstein, Blau, 51. 27 28

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4.

Selbstbehauptung

Mit der Lesart, die Wirklichkeit begegne dem Menschen seit Anbeginn der Neuzeit als schier unbeeinflussbare Größe und in Gestalt ohnmachtsähnlicher Erfahrungen geht einher, dass der Mensch sich dazu irgendwie verhalten muss. Blumenbergs Titel für die menschlichen Versuche, die Übermacht der Wirklichkeit handhabbar zu machen und zu halten, ist »Selbstbehauptung«: ›Selbstbehauptung‹ meint daher hier nicht die nackte biologische und ökonomische Erhaltung des Lebewesens Mensch mit den seiner Natur verfügbaren Mitteln. Sie meint ein Daseinsprogramm, […] in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will. 30

Insbesondere in Legitimität der Neuzeit arbeitet Blumenberg heraus, dass sich Selbstbehauptung als Motiv menschlicher Daseinsgestaltung im Ausgang des Mittelalters und im Einbruch der Neuzeit einstellt. Genauer geht es um den Verlust der (mittelalterlichen) Gewissheit, ein (scholastischer) Gott habe die Welt für den Menschen so geschaffen, wie dieser sie vorfinde und bürge deswegen für die Realität im Ganzen. Diese durch eine göttliche Instanz gewährleistete Weltordnung werde mit Einsetzen der Neuzeit zunehmend brüchig und fragwürdig. 31 Doch sind Selbsterhaltung und Selbstbehauptung letztlich so verschieden voneinander? Ist die terminologische Unterscheidung sinnig oder sind nicht beide identisch darin, dass sich der Mensch dabei jeweils in ein Verhältnis zur Welt setzt? Entscheidend für das Verständnis des Theorems Selbstbehauptung – so lautet die hier vorgestellte Interpretation – ist das Verhalten des Menschen angesichts der Verknüpfung von Wirklichkeit mit dem Attribut der Übermacht. Dem geht Selbsterhaltung insofern vorauf, als der Mensch unter Anstrengung der Vernunft eine Verortung seiner selbst in der Welt vornimmt. Es handelt sich dabei um die fortwährende Aufgabe, das Verhältnis des Subjekts zu seinen Objekten zu bestimmen und zu bewerten. Kleists Kommentar zu Friedrichs Mönch am Meer lässt sich auch deswegen als Beispiel für Selbsterhaltung heranziehen: Dem Betrachter entfährt das Urteil, seine »Stellung in der Welt« sei nicht beständig und gesichert, und die MöglichBlumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 151; siehe auch Blumenberg, »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung«, 37. 31 Vgl. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, insb. Teil II. 30

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keit der »Apokalypse« müsse mitgedacht werden. Selbsterhaltung ist Selbstverortung in der Welt, mit den Mitteln und Möglichkeiten der Vernunft. Selbstbehauptung ist die Verwirklichung einzelner Akte der Selbsterhaltung. Im Zuge der Selbstbehauptung inventarisiert der Mensch die Mittel und Möglichkeiten der Vernunft, da gemäß seiner (neuzeitlichen) Lagebestimmung alle Zeichen auf ›Bedrohlichkeit‹ stehen. Er verwirklicht seine Möglichkeiten gegen aufziehende Widerstände. Kurz: Selbstbehauptung ist das Ergreifen der Möglichkeiten der Vernunft, um mit der Wirklichkeit fertig zu werden. 32 Überdies verdeutlicht sich hiermit, wie eng Selbsterhaltung und Selbstbehauptung miteinander verwoben sind und als Begriffe nur bedingt trennscharf verwendet werden können. 33 Ein nochmaliger Blick auf Friedrichs Mönch am Meer zeigt dies ebenfalls: Der einsame Mensch am schier unendlichen Strand ist ein Mönch, 34 ein Vermittler und Entschlüssler des göttlichen Weltarrangements. Wie in transzendentalphilosophischer Hinsicht das Bewusstsein an den Rand der Lebenswelt gedrängt ist und das Verhältnis zu den Dingen fortan unter Anstrengung seiner eigenen Leistungskraft verhandeln muss, findet sich der Mönch an den Rand einer göttlich verbürgten Wirklichkeitsordnung gedrängt. »Der natürliche Faden zur Transzendenz ist in diesem Bild gerissen.« 35 Beide Male wird eine Abschiedsformel zitiert: in bewusstseinsgenetischer Hinsicht müssen lebensweltliche und in historischer Hinsicht göttlich verbürgte Passungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Welt, aufgegeben werden. Dass die Epoche der Neuzeit dem Menschen anderes als im Mittelalter abnötigt, verbindet sich nicht »Vernunft bedeutet eben, mit etwas – im Grenzfall: mit der Welt – fertig werden zu können.« (Blumenberg, Arbeit am Mythos, 72). Goldstein zufolge kommt dem Motiv humaner Selbstbehauptung »leitmotivische Bedeutung« zu (Goldstein, »Selbstbehauptung«, 262). Vgl. zudem drei exemplarische Fälle individueller und historisch gewordener Selbstbehauptung – namentlich Goethe in seiner Begegnung mit Napoleon, Thomas Manns Ansprache an die Jugend 1931 und Blumenbergs Haltung gegenüber Carl Schmitt –, die Goldstein schildert: Jürgen Goldstein, »Arbeit an der Bedeutsamkeit. Humane Selbstbehauptung bei Hans Blumenberg«, in: Michael Moxter (Hrsg.), Erinnerung an das Humane, Tübingen, Mohr Siebeck, 2011, 86–105. 33 Vgl. Goldstein, »Selbstbehauptung«, 263. 34 Friedrich selbst sprach allerdings nicht von einem Mönch, sondern von einem »Mann, im schwarzen Gewande«. Zitiert nach: Reinhard Zimmermann, »Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Caspar David Friedrichs ›Gedanken‹ in den Bilderpaaren«, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 42, 2000, 187–257, hier 213. 35 Goldstein, Blau, 52. 32

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zuletzt erneut mit Blumenbergs Rezeption Kants, der der »Härte der geschichtlichen Lage der Vernunft, in die er hineinwirkt«, noch »genauer« entspreche, »wenn er statt von Würde von Selbsterhaltung der Vernunft spricht«. 36 Die Diagnose, die Blumenberg dem Menschen stellt – »Es bleibt dabei: Der Mensch ist das Wesen, welches ›trotzdem‹ zu leben vermag« 37 –, trifft damit nur auf ein Wesen zu, dessen Wirklichkeitsbeschreibung auf eine Lagebestimmung der Bedrohlichkeit hinausläuft. Es handelt sich, mit anderen Worten, um die Lagebestimmung des neuzeitlichen Menschen, aufgrund derer er sich dazu veranlasst sieht, einen Umgang mit der – und das heißt für Blumenberg immer auch: gegen die – Wirklichkeit zu finden. 38

5.

Offene Horizonte, mögliche Intentionen

Doch es ist keineswegs ausgemacht, dass es bei der Beschreibung des Menschen als eines präventiven Wesens bleiben müsse. Wenngleich nicht allzu scharf konturiert, ist bei Blumenberg zumindest angelegt, dass der Mensch in seinem ›Fertigwerden mit der Wirklichkeit‹ nicht ausschließlich das vor der Wirklichkeit erschauernde und niedergekauerte Bewusstseinsbündel ist, für das man ihn zuweilen halten kann. Der im Fortgang vorgestellte Interpretationsversuch, der mit Blumenberg über ihn hinausgeht, beschließt die hiesigen Überlegungen. Dazu wird Blumenbergs Beschreibung des Menschen aufgegriffen, für den sich mit Anbruch der Neuzeit die Vorstellung, »daß die Wirklichkeit rücksichtslos gegenüber jedem ihrer Glieder sei«, 39 durchsetze und damit die »Alternative der immanenten Selbstbehauptung der Vernunft durch Beherrschung und Veränderung der Wirklichkeit in den Horizont der möglichen Intentionen« rücke. 40 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 506–507 (Hervorh. S. F). Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 633. 38 Der Gedanke, dass sich etwa Theorie als genuin menschliche Bewusstseinsleistung »als Minderung menschlicher Beängstigung auswies«, findet bei Blumenberg in unterschiedlichen Variationen immer wieder Ausdruck, hier: Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1987, 12. 39 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 157. 40 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 150. Zum Wandel des Wirklichkeitsbegriffes zwischen Mittelalter und Neuzeit/Moderne und zur Sequenzialität historischer Wirklichkeitsbegriffe im Ganzen bei Blumenberg siehe etwa Blumenberg, 36 37

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Die Rede vom »Horizont möglicher Intentionen« ist offensichtlich von Husserl inspiriert: diesem zufolge lassen sich Horizonte als »vorgezeichnete Potentialitäten« auffassen. 41 Husserl geht davon aus, dass ein »Horizont bestimmbarer Unbestimmtheit« das Bewusstsein umgibt, 42 ein Horizont also, der den Bereich der Unbestimmtheit vorzeichnet, innerhalb dessen alles Begegnende in Bestimmtheit überführt werden kann. Dieser Horizont ist offen, denn mit jeder aktualen Bezugnahme des Bewusstseins treten weitere mögliche Bezugnahmen auf (gleichzeitig verschwinden andere als mögliche Intentionen wieder). Anders gesagt lässt sich der Bereich der Unbestimmtheit nie in Gänze in Bestimmtheit überführen, ohne dass neue Unbestimmtheiten hinzuträten. Mit der »bestimmbaren Unbestimmtheit« ist keine Unendlichkeit gemeint, die Beliebigkeit in den Bezugnahmen bedeutete (sonst hätte man es mit einer ›unbestimmten Unbestimmtheit‹, gleichsam mit einem Absolutismus der Möglichkeit zu tun). Husserl zufolge zeichnet sich das Horizonthafte des jeweils Angeschauten dadurch aus, dass es sich in »Erscheinungsweise[n]«, gleichsam in je verschiedenen Hinsichten, gibt und keine Erscheinungsweise je »den Anspruch« habe, »als die absolut gebende zu gelten«. 43 Ein so verstandener Horizontbegriff ist offenbar frei von einem Absolutismus der Wirklichkeit. Was sich am Absolutismus der Wirklichkeit so absolut ausnimmt, ist ja nicht die Tatsache, dass sich Begegnendes als Wirkliches ins Bewusstsein einschreibt – derartiges geschieht ohnehin unweigerlich, es kann gar nicht anders sein als so, dass unbestimmte, aber bestimmbare Intentionen irgendwann Bestimmung erfahren und damit vom Bewusstsein als wirkliche

»Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«; Hans Blumenberg, »Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff«, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, 4, 1974, 3–10. 41 Husserl, »Cartesianische Meditationen«, Hua I, 82. Den Horizontbegriff stellt Husserl ausgehend von seinen Analysen zur Gegenstandskonstitution vor, er spricht jedoch davon, dass diese übertragbar seien auf »transzendentes Sein überhaupt«, das »nur zur Gegebenheit kommen kann in analoger Weise wie ein Ding« (Edmund Husserl, Ideen I. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Hua, Bd. III.1, hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1976, 92). 42 Husserl, Ideen I, Hua III.1, 92. 43 Husserl, Ideen I, Hua III.1, 93.

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modalisiert werden. Der Absolutismus der Wirklichkeit erhebt vielmehr den Anspruch, als absolut zu gelten, indem er keinen Spielraum für Variationen gewährt. Wenn es einen Freiraum für bewusstseinsmäßiges Sondieren, für das Abschreiten anderer möglicher Intentionen nicht gibt, nimmt sich die Wirklichkeit als unverhandelbare Größe aus. Die möglichen Intentionen sind dann nicht mehr Inbegriff eines Horizonts der Potentialitäten, innerhalb dessen das Bewusstsein zunächst einmal variieren und abwägen könnte, wie es diese Möglichkeiten ergreifen will; vielmehr haben die Wirklichkeiten als – scheinbar – absolute den Horizont vorgezeichneter Potentialitäten als ihr Hoheitsgebiet reklamiert. Einen so verstandenen Absolutismus der Wirklichkeit gibt es bei Husserl nicht. »Wir leben«, heißt es dort zwar, »in der Welt, von einem offen endlosen Horizont von unbekannten Wirklichkeiten umfangen«. 44 Doch haben die »unbekannten Wirklichkeiten« für Husserl keinen bedrohlichen Charakter. Der Horizont ist offen, das heißt, Angeschautes, das sich letztlich als Wirkliches entpuppt, ist nicht gewaltsam in den Horizont eingedrungen. Vielmehr bildet es sich heraus, indem das Bewusstsein seine möglichen Intentionen abschreitet und das Angeschaute schließlich als Wirkliches ansieht. Auch Blumenberg schreibt: »›Horizont‹ ist nicht nur der Inbegriff der Richtungen, aus denen Unbestimmtes zu gewärtigen ist. Es ist auch der Inbegriff der Richtungen, in denen Vorgriffe und Ausgriffe auf Möglichkeiten orientiert sind.« 45 Mit dem Horizont bestimmbarer Unbestimmtheit besteht ein Freiraum, in dem Intentionen als mögliche – als unbestimmte, aber bestimmbare – vorgezeichnet sind. Die im Auseinandertreten von Bewusstsein und Bewusstseinsgegenstand entstandene Distanz kann innerhalb dieses Freiraums feinjustiert werden, und wenn Selbsterhaltung oben als Abstandsregulation beschrieben wurde, ist Selbstbehauptung in diesem Sinne Abstandsgestaltung. Zwar kann das Bewusstsein das, was ihm begegnet, nicht nach Belieben erschaffen, umdeuten oder gar eliminieren. Jedoch kann der Mensch sich seine »möglichen Interpretationen«, etwa Erwartungen und (Welt-)Interpretationen, zunächst

Edmund Husserl, »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem«, in: Revue Internationale de Philosophie, 1 (2), 1939, 203–225, hier 222. 45 Blumenberg, Arbeit am Mythos, 13. 44

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Quasi-Ohnmacht

einmal offenhalten, indem er sich selbst mögliche Weltbezüge aufzeigt. Er schlägt gleichsam den Katalog möglicher Beschreibungen auf. Dabei erlebt der Mensch sich selbst als (bewusstseinsmäßig) handlungswirksam, denn die »Beherrschung und Veränderung der Wirklichkeit« gehören zu den ihm offenstehenden Möglichkeiten, die er (wiederum bewusstseinsmäßig) zu verwalten und verhandeln vermag. Mit dem Horizont möglicher Intentionen zieht das Bewusstsein dem Absolutismus der Wirklichkeit gleichsam eine Grenze: 46 Es ist zwar nicht in der Lage, Kontingenzen und Unvorhersehbarkeiten oder gar die Gesamtheit an Bedrohlichkeiten zu eliminieren. Jedoch sind die Mittel menschlicher Vernunft zahlreich und ausdifferenziert genug, um der absolut scheinenden Wirklichkeit einen Möglichkeitsraum abzutrotzen. Beim Horizont möglicher Intentionen handelt es sich, könnte man sagen, um eine semipermeable Membran. Denn die Gefahr, dass Wirklichkeiten von jenseits des Horizonts her einbrechen, sich als absolute und nicht verhandelbare gebärden, ist ja nicht ein für alle Mal gebannt. Der Mensch gibt sich selbst einen Freiraum, in dem (und: indem) er Distanz zur sich aufdrängenden Wirklichkeit gewinnt, indem er mit Begriffen und Mythen, mit Metaphern und Geschichten seine eigene Wirklichkeit zwar nicht erfindet und formt nach seinem Bilde, sich doch aber gegen sie – die Möglichkeiten seiner Intentionen ausschöpfend – zur Wehr setzt. Bei Blumenbergs Modifikation der anthropologischen Grundfrage handelt es sich nicht um eine »Minimalisierung« derselben. Die Frage, wie der Mensch möglich sei, wirft auch diejenige nach seinem Umgang mit der Wirklichkeit auf – und macht nicht zuletzt darauf aufmerksam, dass es wesentlich zum Selbstbild des Menschen gehört, nach sich selbst, nach seiner Stellung in der Welt und nach seinen Möglichkeiten darin zu fragen. Wenn eine mögliche Antwort auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, lautet: »durch Distanz«, 47 dann vermag diese Antwort unter anderem zu zeigen: Im Sinne der Quasi-Ohnmacht ist noch Platz zwischen der Ohnmacht des Menschen und der Übermacht der Wirklichkeit. Dazwischen liegt ein 46 Bereits im altgriechischen Verb ὁρίζω ist die Begrenzung angesprochen, vgl. die ursprüngliche Bedeutung von ὁρίζω als »begrenzen«: Henry George Liddell, Robert Scott, »ὁρίζω«, http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3Atext% 3A1999.04.0057%3Aentry%3Do(ri%2Fzw, zuletzt abgerufen am 13. 12. 2020. 47 Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 570.

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Sonja Feger

offener Horizont, den der Mensch sich aufzuspannen und offen zu halten vermag. Hier und so lebt der Mensch ›trotzdem‹, und wird mit seinen Möglichkeiten so schnell hoffentlich auch nicht fertig. 48

Hilfreiche Hinweise verdanke ich Felix Schroeter, Marie Spindler, Robert Wenzl und besonders Christian Hauck.

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II. ERFAHRUNG UND ZEIT

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Leben und Zeit. Von der Zeitlichkeit zur Allzeitlichkeit Mingyu Wang

Abstract: Es gilt als eine Selbstverständlichkeit, dass wir in einer Welt leben, deren Form die Raumzeitlichkeit ist. Wie die uns transzendierende Welt von uns zu erkennen ist, ist die Problematik und Aufgabe der transzendentalen Philosophie. Husserls Untersuchungen zufolge sind sowohl Zeitlichkeit als auch Allzeitlichkeit konstitutive Leistungen. Hier gehe ich der Frage nach, wie die mathematischen und logischen Gegenständlichkeiten allzeitlich identisch bleiben, während alle Dinge der Welt dem Gesetz der zeitlichen Modifikation unterworfen sind. Dazu betrachte ich zuerst die Konstitution der Zeitlichkeit, um ideale und reale Gegenstände vergleichen und mögliche Unterschiede finden zu können. Als Ergebnis zeigen sich zwei Unterschiede zwischen der Konstitution realer und idealer Gegenständlichkeiten, nämlich die darstellende Funktion zugrunde liegender Sinnlichkeit und die Längsintention. Eine Analyse dieser Faktoren im Fall der Konstitution idealer Gegenständlichkeiten erlaubt, deren Allzeitlichkeit zu verstehen. We naturally take it for granted that we live in a world with a spatiotemporal form. To answer how this world that transcends us can be known is the problem and task of transcendental philosophy. According to Husserl’s investigations, both temporality and omnitemporality are results of constitution. In what follows, I pursue the question of how mathematical or logical objects remain omnitemporally identical, whereas things of the world are subject to the law of temporal modification. I focus first on the constitution of temporality in order to compare temporal and omnitemporal objects and locate possible differences. The result are two differences between the constitution of real and ideal objects: the presentational function of sensuality and longitudinal intentionality. An analysis of these two factors in the constitution of ideal objects enables one to comprehend their omnitemporality.

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1.

Einführung 1

Im alltäglichen Leben bezweifeln wir nicht, dass wir in einer Welt leben, die sich zeitlich und räumlich erstreckt. Was ist aber überhaupt Zeit? Nehmen wir diese Frage ernst, müssen wir mit Augustinus zugeben: »wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht« 2. Außerdem könnte man sich fragen, ob Zeitlichkeit und Räumlichkeit die notwendige Seinsform aller möglichen Gegenstände sind. Wenn ja, sind die idealen Gegenständlichkeiten wie mathematische oder logische auch dem Gesetz der zeitlichen und räumlichen Modifikation unterworfen? Wenn nein, wie können sie in den reellen zeitlichen Bewusstseinsfluss eingehen, also letztlich auch erkannt werden? Diese Fragestellungen zeigen, dass das, was wir für selbstverständlich halten, eigentlich sehr fragwürdig ist. Laut Edmund Husserl sollte die Philosophie aber solche Selbstverständlichkeiten nicht fraglos hinnehmen 3, sondern kritisch hinterfragen und nach Erfüllung der Erkenntnis durch Evidenz streben. Diese Aufgabe soll nicht nur die Lebensneugierde befriedigen, sondern nach Husserl auch die Idee der Wissenschaft in Form von Selbstbesinnung und Vorurteilslosigkeit realisieren. Husserl gewann die ursprüngliche, absolut zweifellose Gegebenheit durch transzendentale Reduktion, und versuchte, von dort aus die verborgene Konstitution der Transzendenzen Schritt für Schritt zu enthüllen. Die folgende Analyse erarbeitet dabei näher, wie sich ausgehend vom transzendentalen Bereich die objektive Zeit der Naturwissenschaft und die eigentümliche Zeitform der idealen Gegenständlichkeiten konstituieren. Das Thema ist also die Konstitution der Zeitlichkeit der sinnlichen Gegenstände und der Allzeitlichkeit der idealen Gegenständlichkeiten.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei Dr. Christopher Gutland und Julian Meergans für die sprachliche Korrektur sowie wichtige Rückmeldungen. Sihan Wu danke ich sehr für die Einladung und die Verbesserungsvorschläge. 2 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, übers. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart, Reclam, 2014, elftes Buch, vierzehntes Kapitel, 278. Husserl hat diesen Satz auch in der Einleitung der Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins zitiert. Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), in: Husserliana – Gesammelte Werke (im Folgenden Hua), Bd. X, hrsg. von R. Boehm, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1966, 3. 3 Vgl. z. B. Edmund Husserl, »Persönliche Aufzeichnungen«, in: Philosophy and Phenomenological Research, 16, 293–302, hier 297. 1

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Leben und Zeit

Husserls Analyse der hier fraglichen Zeitlichkeit beginnt schon mit seinen Logischen Untersuchungen, wo er zwischen »Realem und Idealem« unterscheidet 4. Unter ›Realem‹ versteht Husserl »das Individuum mit all seinen Bestandstücken; es ist ein Hier und Jetzt«. Husserl charakterisiert somit Zeitlichkeit als ein Merkmal des Realen. 5 Zum Realen gehören alle sinnlichen Gegenstände und ihre Bestandsstücke, die in der objektiven Zeit ihre Stelle haben. Die sinnlichen Gegenstände entstehen zu einem Zeitpunkt, dauern eine Zeit lang, und vergehen. Ganz anders das »unzeitliche« Ideale. Das rote Ding ist ein Hier und Jetzt. Es entsteht, besteht und vergeht. Doch können wir unseren Blick auch auf das Rot als ideale Spezies richten. Anders als ein individueller Gegenstand entsteht und vergeht das Rot als ideale Spezies nicht. Ganz ähnlich können wir beliebig oft 2 + 2 = 4 urteilen. Der Urteilsakt entsteht und vergeht. Doch die Bedeutung von 2 + 2 = 4 bleibt identisch. Die Unabhängigkeit des Idealen von der Zeit wurde in den Logischen Untersuchungen stark betont, wo Husserl noch sagt, die idealen Wahrheiten blieben selbst dann, was sie sind, wenn es keine intelligenten Wesen gäbe, die sie erkennen. Die Idealität, so Husserl dort, sei »nicht ›irgendwo im Leeren‹, sondern ist eine Geltungseinheit im unzeitlichen Reiche der Ideen«. 6 Vor diesem Hintergrund formulierte Husserl die diesbezügliche erkenntnistheoretische Grundfrage wie folgt: Es gilt zu erforschen, »wie die Idealität des Allgemeinen als Begriff oder Gesetz in den Fluss der realen psychischen Erlebnisse eingehen und zum Erkenntnisbesitz des Denkenden werden kann« 7. Um den Kontrast des Idealen zum Realen zum Ausdruck zu bringen, spricht Husserl statt von idealen auch von ›irrealen‹ Gegenständlichkeiten. 4 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und 2. Auflage, in: Hua, Bd. XVIII, hrsg. von Elmar Holenstein, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1975, A188/B188. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die in Logische Untersuchungen wiedergegebene Paginierung der ersten (A) und zweiten (B) Auflage. Der Sperrdruck des Originals wird hier durchweg kursiv wiedergegeben. 5 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, in: Hua, Bd. XIX.1, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1984, A123/B1124. 6 Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und 2. Auflage, Hua XVIII, A130/B130. 7 Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, Hua XIX.1, A8/B18.

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Die Unterscheidung zwischen dem Idealen und Realen sowie das Kriterium der Unterscheidung durch Zeitlichkeit wird bis in seine Spätphilosophie hinein von Husserl durchgehalten. 8 Allerdings wird der überzeitliche Charakter des Idealen nicht mehr so verstanden, als ob das Ideale ein eigenes unzeitliches Reich ohne Beziehung zur raumzeitlichen Welt wäre. Stattdessen versteht Husserl später die Überzeitlichkeit als eine besondere Zeitlichkeit, nämlich als Allzeitlichkeit. 9 Diese Umdeutung der Zeitlichkeit des Idealen deutet Liangkang Ni dahingehend, der spätere Begriff der Allzeitlichkeit erweise die spezielle Zeitlichkeit der Seinsart idealer Gegenstände, die Husserl früher als Überzeitlichkeit falsch gedeutet habe. 10 Dieter Lohmar führt den späteren Ansatz Husserls, also reale und ideale Gegenständlichkeiten mit verschiedenen Modi der Zeitlichkeit aufzufassen, auf eine Selbstkritik Husserls an seinem Ansatz in den Logischen Untersuchungen zurück, genauer gesagt, die Identität der Bedeutung des Satzes sei dort als Spezies verstanden worden. 11 Meines Erachtens hängt die geänderte Auffassung des zeitlichen Status idealer Gegenstände damit zusammen, dass Husserl nach seiner transzendentalen Wende nicht mehr so einseitig wie noch in den Prolegomena zur reinen Logik die Unabhängigkeit der idealen Gegenständlichkeiten betont. Das besagt allerdings nicht, Husserl verstehe die idealen Gegenständlichkeiten als abhängig von empirischen oder anthropologischen Fakten. Vielmehr stellen sich für ihn alle Gegenständlichkeiten, reale wie irreale, notwendig als konstitutive Leistung des transzendentalen Bewusstseins dar. Im Vergleich zur vermeintlich unabhängigen ›Unzeitlichkeit‹, weist ›Allzeitlichkeit‹ das korrelative Verhältnis zum Bewusstsein auf, nämlich Resultat der Konstitution zu sein. Denn alle Erlebnisse konstituieren sich in Form der Zeitlichkeit. In den Erlebnissen konstituieren sich somit auch intentionale Gegenstände als zeitliche. Nur sei diese Beziehung eine Vgl. z. B. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchung zur Genealogie der Logik (im Folgenden EU), redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 71999, 319. 9 Vgl. z. B. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, in: Hua, Bd. I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag, Martinus Nijhoff, 21991, 155–156; EU, 313. 10 Vgl. Liangkang Ni, (Lexikon der phänomenologischen Begriffe Husserls), Beijing, (Commercial Press), 2016, 33. 11 Vgl. Dieter Lohmar, »Zur Allzeitlichkeit mathematischer Gegenstände. Bemerkungen aus der Sicht der Husserlschen Phänomenologie«, in: Philosophia naturalis, 25, 1988, 186–193. 8

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andere für sinnlich-reale, individuelle Wahrnehmungsgegenstände als für ideale Gegenständlichkeiten. 12 Doch damit ist die Frage noch nicht beantwortet, wie genau sich die Allzeitlichkeit der idealen Gegenständlichkeiten im zeitlichen Bewusstseinsfluss konstituiert. Um sich einer Antwort zu nähern, gilt es meines Erachtens, zunächst die Konstitution der Zeitlichkeit der sinnlichen Gegenstände zu klären. Nur auf dem Umweg der Betrachtung, wodurch sich die Konstitution idealer und sinnlicher Gegenständlichkeiten unterscheidet, könnte der Boden erst gewonnen werden, auf dem sich die Frage nach der Konstitution der Allzeitlichkeit der idealen Gegenständlichkeiten beantworten lässt. Denn die Zeitlichkeit bestimmt den Sinn der Allzeitlichkeit.

2.

Konstitution der Zeitlichkeit der realen Gegenstände

Die erste Analyse der Konstitution der Zeitlichkeit lieferte Husserl in seiner Vorlesung über inneres Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905, wo er sich der Untersuchung grundlegender Akte widmete. In den Logischen Untersuchungen (1900/01) dagegen hatte er sich vor allem auf die höheren Akte bzw. Urteilsakte konzentriert. Nach Husserl ist die Analyse über Zeitbewusstsein ein besonders schwieriger Bereich. Dies kann wohl als eine Art Entschuldigung für die Verworrenheit der Analyse in der Vorlesung über inneres Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905 angesehen werden. Nach Lohmar verfolgt diese Analyse zwei Ziele. Das eine sei, die Konstitution der subjektiven Zeit in den fließenden hyletischen, also materialen Sinnesdaten zu klären, das andere die Konstitution der objektiven Zeit aus der subjektiven Zeit herzuleiten. 13 Diese beiden Zeiten und Konstitutionsschichten gilt es deutlich zu unterscheiden, um die Analyse nicht durch Ebenenvermengungen zu trüben. Um Klarheit zu wahren, rekurriere ich hier nicht allein auf die Vorlesung über inneres Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905, sondern berücksichtige auch spätere Begriffe und Analysen Husserls. Zudem ziehe ich stets die Erfahrung heran, analysiere

Vgl. Husserl, EU, 305. Vgl. Dieter Lohmar, »Konstitution der Welt-Zeit. Die Konstitution der objektiven Zeit auf der Grundlage der subjektiven Zeit«, in: Alfredo Ferrain (Hrsg.), Passive Synthesis and Life-world, Pisa, Edizioni ETS, 2006, 55–77.

12 13

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also an den ›Sachen selbst‹, um Husserls Zeitlehre zu ergänzen und zu konkretisieren. Einige Forscher nehmen an, in der Vorlesung über inneres Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905 habe Husserl noch keine transzendentale Reduktion vollzogen. 14 Doch einen phänomenologischen Charakter seiner Analyse des Zeitbewusstseins nimmt er klar in Anspruch, und zu diesem Zweck fordert er die Ausschaltung der objektiven Zeit: Unser Absehen geht auf eine phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins. Darin liegt, wie bei jeder solchen Analyse, der völlige Ausschluß jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem). In objektiver Hinsicht mag jedes Erlebnis, wie jedes reale Sein und Seinsmoment, seine Stelle in der einen einzigen objektiven Zeit haben – somit auch das Erlebnis der Zeitwahrnehmung und Zeitvorstellung selbst. 15

Die Vermischung von subjektiver und objektiver Zeit ist nach ihm die Quelle, warum alle psychologischen Studien über die Zeit bis auf Franz Brentano geirrt haben. 16 Was Husserl unter objektiver Zeit verAllgemein wird angenommen, Husserl habe die phänomenologische Reduktion 1905 in Seefeld konzipiert, 1907 in seiner Vorlesung eingeführt und 1913 im Druck veröffentlicht. Doch Toine Kortooms zufolge ist die Reduktion der Vorlesung 1904/05 noch keine phänomenologische Reduktion: »However, this does not mean that, at this time, Husserl already has at his disposal the operation that he will call the phenomenological reduction as of 1907« (vgl. Toine Kortooms, Phenomenology of Time: Edmund Husserl’s Analysis of Time-Consciousness, Dordrecht/Boston/London, Springer, 2002, 25). Auch nach Lohmar ist die Ausschaltung der objektiven Zeit noch keine transzendentale Reduktion: »Natürlich ist dies noch nicht die transzendentale Reduktion der Ideen I, obwohl es eine gewisse Verwandtschaft gibt.« (Lohmar, »Konstitution der Welt-Zeit. Die Konstitution der objektiven Zeit auf der Grundlage der subjektiven Zeit«, 57) Ich lasse die Frage hier offen. 15 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 4. 16 »Die Psychologen bis auf Brentano haben sich vergeblich bemüht, die eigentliche Quelle dieser Vorstellung aufzufinden. Es lag dies an einer allerdings naheliegenden Vermischung von subjektiver und objektiver Zeit, welche die psychologischen Forscher beirrte und sie das eigentliche Problem, das hier vorlag, gar nicht sehen ließ« (Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins [1893–1917], Hua X, 11). Zwar scheint es hier, dass Brentano zum ersten Mal die subjektive und objektive Zeit unterschieden hätte. Doch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem, was Brentano mit ›subjektiver Zeit‹ und Husserl mit ›phänomenologischer Zeit‹ gemeint hat. Nach Brentano sind subjektive Zeit und objektive Zeit nicht gleichgesetzt, weil der dauernde Reiz nicht die Dauer der Empfindung verbürge, und somit ein äußerer Reiz allein kein Zeiterleben bedingt. Um dies zu ermöglichen, sollen wir laut Brenta14

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steht, ist »die Weltzeit, die reale Zeit, die Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft und auch der Psychologie als Naturwissenschaft des Seelischen« 17. Die Ausschaltung der objektiven Zeit besagt jedoch keine Ausschaltung der Zeit überhaupt, wenn sie absolute Bewegungslosigkeit heißt. Um dies verständlicher zu machen, werde ich erklären, was genau ausgeschaltet wird und was danach noch übrigbleibt. Im alltäglichen Leben sind wir überzeugt, alles Reale, inklusive psychischer Erlebnisse, habe eine Stelle in einer einzigen objektiven Zeit, die unendlich weiterlaufend mit gleichbleibender Geschwindigkeit vergeht. Wir können mit Hilfsmitteln wie Uhren und Landkarten alles objektiv datieren und lokalisieren. Doch auch ungemessen habe alles seine jeweilige Stelle in der Raumzeitlichkeit. Also, die Zeit und die Räumlichkeit sind die objektive Form der Welt und aller Gegenstände. Dies legt nahe, dass die Welt und ihre Zeiträumlichkeit von Subjekten unabhängig sind, die aber von Subjekten zu erkennen sind. Husserl hat dagegen eine Wende vollzogen und auf die verborgene intentionale Leistung des Bewusstseins aufmerksam gemacht. Für ihn verweist die objektive Zeit zurück auf die Leistung der Konstitution. M. a. W., sie ist so konstituiert, dass sich die Zeit endlos ausbreitet und alle Gegenstände in eine einzige Zeit eingeordnet sind. Ihre Geltung wird nur bewährt, wenn die kontinuierliche Einstimmigkeit der Erfahrung nicht gebrochen wird. 18 Wenn wir auf die genaue Konstitution eingehen möchten, muss die objektive Zeit zuerst ausgeschaltet werden, sonst wäre es ein Zirkel, wenn man unbemerkt von dem Gebrauch machen würde, was das Ziel der Erklärung sein sollte. Die objektive Zeit auszuschalten, besagt allerdings nicht, Phänomenologie wolle die Naturwissenschaften widerlegen, sondern nur, sie wolle die Idealität der Wissenschaft verstehen, indem die verborgene Leistung des Bewusstseins enthüllt wird.

no noch eine Fähigkeit, die sogenannte ursprüngliche Assoziation, haben, was im Folgenden noch vertieft wird. Da Husserl am Anfang schon eine Ausschaltung der objektiven Zeit vollzogen hat, ist von äußeren Reizen keine Rede in seiner Untersuchung. 17 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 4. 18 Vgl. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, in: Hua, Bd. XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag, Martinus Nijhoff, 242.

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Was bleibt noch übrig, wenn wir die objektive Zeit ausschalten? Was ausgeschaltet wird, ist nicht die Zeit überhaupt, sondern vielmehr die Annahme der objektiven Zeit. Diese Annahme wird geklammert. Statt unhinterfragter Ausgangspunkt zu sein, ist sie nun im Wie ihrer Konstitution das Erkenntnisziel der phänomenologischen Analyse. Zweifelsohne haben wir noch Zeit, auch wenn wir keine Vorstellung der objektiven Zeit haben. Husserl sprach von phänomenologischer oder immanenter Zeit. Um die immanente Zeit besser zu verstehen, kann analogisch Husserls Annahme eines subjektiven Raums dienen. In der naturalistischen Einstellung leben wir in einer unendlich ausgedehnten Welt, wo alle Dinge ihre eigene objektive Gestalt haben. Vor mir etwa ist ein Tisch, dessen Oberfläche rechteckig ist. Aber wenn wir diese Annahme des objektiven Raums ausschalten, was sehen wir nun? Nichts anderes als ein Kontinuum des Gesichtsfeldes. Die Oberfläche eines Tisches erscheint im Gesichtsfeld normalerweise nicht rechteckig, sondern eher wie ein Trapez. Denn mir Nahes erscheint hier größer, mir Fernes kleiner. Daran sieht man: Was wir eigentlich empfinden, ist anders als unsere Auffassung. Die phänomenologische Analyse der Zeit ist deswegen in erster Linie eine Untersuchung darüber, was wir eigentlich erleben, wenn die Setzungen der Realität außer Spiel gesetzt sind. Es ist zu erwähnen, dass die Zeitanalyse Husserls von der Brentanos ausgeht. Deshalb ist es hilfreich, für die Vorstellung von Husserls Theorie der Konstitution der Zeitlichkeit von Brentano auszugehen. Schon Brentano wies auf die dreifache Struktur des Zeitbewusstseins hin. Erstens verschwindet das, was wir gerade gehört haben, z. B. eine Melodie, nicht spurlos, sonst hörten wir keine Melodie als aufeinanderfolgende Töne, sondern nur den aktuellen Ton. Was wir soeben empfunden haben, ist also noch auf irgendeine Weise im aktuellen Bewusstsein. Aber die jeweiligen vergangenen Erlebnisse und das aktuelle Erlebnis werden nicht als gleichzeitig erlebt, sonst »hätten wir statt einer Melodie einen Akkord gleichzeitiger Töne oder vielmehr ein disharmonisches Tongewirr« 19. Weil dies nicht so ist, müssen die vergangenen Töne eine Modifikation, die sogenannte Vergangenheitsmodifikation, erfahren haben. Dass die vorhergehenden Erlebnisse eine derartige Modifikation erfahren und sich somit an die gegenwärtige Vorstellung wie ein Kometenschweif anschließen, Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 11.

19

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macht es uns möglich, eine Melodie zu erfahren. Parallel haben wir auch eine Erwartung der Zukunft bei der Wahrnehmung eines Zeitobjektes. Dies zeigt sich, wenn eine Melodie abrupt endet und dies uns enttäuscht. Diese Enttäuschung entsteht, weil wir etwas anders erwarteten, als es real eintrat. Wenn wir also eine bekannte Melodie noch nicht zu Ende gehört haben, erwarten wir, den noch übrigen Teil zu hören. Eine solche Erwartungshaltung gibt es bei allen Wahrnehmungen, selbst bei unbestimmten oder unbekannten Objekten. Die Struktur der Wahrnehmung des Zeitobjektes ist also eine dreifache: das aktuelle Erlebnis, die vergangenen modifizierten Erlebnisse, und die Erwartung. Husserl spricht auch von Urimpression, Retention und Protention. Weil nach Husserl die Erwartung wie eine »umgestülpte« Erinnerung ist, 20 kann die ganze Struktur durch folgendes Diagramm veranschaulicht werden. `A

`B

`D

`C

A

B

D

C

B` AC: Reihe derJetztpunkte AA``, BB`: Herabsinken

A``

`DA``: Jetztpunkt mit Retention und Protention CD: noch nicht eingetreten

Bislang sind wir noch im primären Zeitfeld. Es sind jedoch nicht etwa alle vergangenen Erlebnisse zusammen mit der Urimpression bewusst. Vielmehr erfahren die Retentionen stetige Modifikation, werden zunehmend schwächer, und sinken dann ins ›Leere‹. Aber die vergangenen Erlebnisse verschwinden nicht ganz. Sie können noch aktiviert, also wiedererinnert werden. Die Retention oder primäre Erinnerung ist aber von der sekundären Erinnerung oder WiedererinHusserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 56.

20

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nerung zu unterscheiden. Ab wann eine Retention nicht mehr primäre, sondern sekundäre Erinnerung wird, ist aber nicht fest bestimmbar. Die Grenze dazwischen ist eine ideale Grenze. Ein Unterschied ist aber: Die Retention ist an die aktuelle Wahrnehmung lückenlos angeschlossen, während Wiedererinnerung nicht mit aktueller Gegenwärtigung zusammen auftaucht. 21 Die Wiedererinnerung hat die gleiche Struktur wie die Gegenwärtigung. Denn beide haben einen bevorzugten Punkt, einen ›Jetztpunkt‹. In der Wiedererinnerung haben wir auch eine quasi-Urimpression, quasi-Retention und quasiProtention. Nur können wir uns mit willkürlicher Geschwindigkeit an ein vergangenes Zeitobjekt erinnern, was bei der Wahrnehmung nicht der Fall ist. 22 Wie kommen wir nun von der dreifachen Struktur des inneren Zeitbewusstseins zum Bewusstsein der objektiven Zeit? Gemäß Husserls Analysen ist die objektive Zeit in einer bestimmten Reihenfolge konstituiert. Das Wort ›Reihenfolge‹ meint hier nicht eine zeitliche Abfolge, sondern ein konstitutives Fundierungsverhältnis. Was uns ursprünglich und absolut gegeben ist, ist der Strom einer Mannigfaltigkeit, die noch jeder Einheit und Bestimmung entbehrt. Diese Mannigfaltigkeit als Einheit zu intendieren, die darüber hinaus mit Bestimmungen versehen ist, ist die konstitutive Leistung des intentionalen Bewusstseins. M. a. W., das intentionale Bewusstsein muss auf Basis der reinen Mannigfaltigkeit, die uns ursprünglich gegeben ist, noch etwas hinzu »tun« 23, damit sich die Mannigfaltigkeit vergegenständlicht und für uns einenbestimmten Sinn hat. Das zeigt sich dadurch, dass uns auf unterster Ebene eigentlich bloß hyletische Daten gegeben sind. Erst durch die intentionale Leistung des Bewusstseins liegen sie uns als Gegenstände vor, die von anderen Gegenständen abgegrenzt sind. Die höherstufige Konstitution leistet oft konkrete Bestimmungen. Die Bedeutung einer roten Ampel ist zum Beispiel eine gesellschaftliche, intersubjektive Konstitution. Die konstitutive Leistung besteht somit in einem Beitrag, den ich oder wir zu Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 35. 22 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 48. 23 Die Rede von einem »Tun« bedeutet normalerweise eine bewusste Aktivität. Doch eine solche muss hier nicht vorliegen. Es gilt hier vielmehr, unbewusstes und bewusstes konstitutives Leisten bzw., in Husserls Worten, passive und aktive Synthesen zu unterscheiden. 21

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dem Erlebnisstrom hinzufügen, was dann zum Intendieren einheitlicher Bedeutungen führt. Die im alltäglichen Leben verborgen fungierende Konstitution zu enthüllen, ist somit eine wichtige Aufgabe der Phänomenologie. Husserl drückt dies so aus: Alle intentionalen Einheiten sind aus einer intentionalen Genesis, sind ›konstituierte‹ Einheiten, und überall kann man die ›fertigen‹ Einheiten nach ihrer Konstitution, nach ihrer gesamten Genesis befragen und zwar nach deren eidetisch zu fassender Wesensform. 24

Die Einheiten unterschiedlicher Stufe können meiner Meinung nach als Index der phänomenologischen Intentionalanalyse dienen. Die Analyse ist somit in verschiedene Schichten zu unterteilen, die in Fundierungsrelationen stehen. Husserl unterscheidet dabei folgende Zeitkonstitutionsstufen: 1.

2. 3.

die Dinge der Erfahrung in der objektiven Zeit (wobei noch verschiedene Stufen des empirischen Seins zu scheiden wären, die bisher nicht berücksichtigt wurden: das Erfahrungsding des einzelnen Subjekts, das intersubjektiv identische Ding, das Ding der Physik); die konstituierenden Erscheinungsmannigfaltigkeiten verschiedener Stufe, die immanenten Einheiten in der präempirischen Zeit; den absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseinsfluss. 25

Die dritte Stufe ist der oben besprochene reine heraklitische Erlebnisstrom, in dem nichts zweimal vorkommt. Der absolute Bewusstseinsfluss ist das, was nach der Reduktion letztlich übrig bleibt, und auch das, was jedem Zweifel trotzt. In der ersten Stufe wird die objektive Zeit konstituiert. Innerhalb dieser kann man wiederum drei Unterstufen unterscheiden: erstens, die Konstitution der objektiven Zeit für mich, zweitens, die für alle, und drittens die Idealisierung der Zeit in der Physik. Die Konstitution geht notwendig von meiner Erfahrung aus. Die Welt erscheint zuerst mir, ist zuerst für mich. Doch ich erfahre die Welt gemeinsam (intersubjektiv) mit Anderen, wir alle beziehen uns auf dieselbe Welt, der die objektive Zeit für alle entspricht. Auf dieser Basis wird die Zeit durch Physiker zudem noch idealisiert.

Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua XVII, 216. 25 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 73. 24

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Zwischen absolutem Bewusstseinsfluss und objektiver Zeit liegt jedoch noch eine Stufe. In dieser Zwischenstufe kommt es zur Konstitution der subjektiven bzw. präempirischen Zeit. Sie ist nicht die objektive Zeit, denn in dieser präempirischen Zeit gibt es keine fest bestimmbare Dauer oder Stelle in der Zeitreihe. Doch entspricht auch der präempirischen Zeit eine Einheit, und zwar eine immanente Einheit. Sie ist somit ebenfalls konstituiert, und muss daher als Zwischenstufe von den anderen Stufen unterschieden werden. Bei der Konstitution des immanenten Objektes spielt das Modell von Auffassungsinhalt und Auffassung eine wichtige Rolle. Nehmen wir einen Baum als Beispiel. Die Farbe, Gestalt usw. des Baums wird uns in der Empfindung bzw. als der Auffassungsinhalt gegeben. Ich fasse diesen Auffassungsinhalt auf als einen Baum, gebe ihm einen Sinn. Ein immanentes Objekt dauert während meiner Wahrnehmung. Normalerweise richte ich mich direkt auf das Objekt als den Gegenstand meines Bewusstseins. Aber ich kann mich ebenso dem Auffassungsinhalt und der Auffassung zuwenden. Dies tue ich z. B., wenn ich den Blick auf die Farbe oder die Gestalt des Baums als den Auffassungsinhalt richte. Ebenso kann ich auf die Auffassungsintention selbst achten, vermittels der ich den Baum als den identischen Baum auffasse, während ich seine unterschiedlichen Seiten betrachte. Auffassungsintention und Auffassungsinhalt sind jedoch ihrerseits konstituiert, weil sie schon Einheiten aus Impression und Retention sind. Die Farbe als Auffassungsinhalt beispielsweise wechselt von Zeit zu Zeit wegen der Richtung des Blicks oder des Lichts. Aber ich sehe von diesen Differenzen ab und fasse sie als identische Farbe auf. Diese zugrundeliegende Konstitution wird von Husserl ›Urauffassung‹ genannt. Sie ist die unterste Konstitution, also durch keine tiefere Konstitution konstituiert. 26 Auf sämtliche Konstitutionsstufen einzugehen, würde hier zu weit führen. Maßgeblich ist hier die Frage nach der Konstitution der Zeitlichkeit des Realen, also wie sich die Dauer, d. i. das ›Nacheinander‹ im Bewusstseinsfluss konstituiert, wie es eine Zeitstelle erlangt. Ich beschränke mich hier daher auf die Konstitution des immanenten Objektes und der objektiven Zeit für mich. Einerseits ist beachtenswert, wie vergangene Erlebnisse nicht spurlos verschwinden, sondern eine Art Anknüpfung an das aktuelle Erlebnis haben. Aus diesem Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 92.

26

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Grund sind Erlebnisse nicht beziehungslose Stücke, sondern bilden eine übergeordnete Einheit, ein ›Nacheinander‹. Andererseits bekommt das immanente Objekt eine feste Zeitstelle, während es zusammen mit den anderen Erlebnissen zunehmend herabsinkt in die Vergangenheit. Nach Brentano liegt die Lösung in der ursprünglichen Assoziation. 27 Diese ist vorzustellen wie eine ursprüngliche ›Fähigkeit‹, die den vorhergehenden Inhalt reproduziert und an den aktuellen Inhalt anknüpft. Doch der von der ursprünglichen Assoziation reproduzierte Inhalt ist von dem aktuellen Inhalt verschieden, sonst wäre eine Melodie kein zeitlich ausgedehntes Kontinuum, sondern ein gleichzeitiges Tongewirr. Husserl versteht hier Brentano so, dass »die zeitliche Modifikation durch das Hinzutreten eines mit dem sonstigen Inhaltsbelauf, mit Qualität, Intensität usw. sich verflechtenden Moments, genannt Zeitmoment, zu verstehen« 28 sei. Genauer gesagt füge die zeitliche Modifikation dem Inhalt etwas Neues hinzu, das die Qualität desselben alteriert. Ein Beispiel: »Ein lauterer Ton c ist doch ein Ton c, ein weicherer Ton c desgleichen; dagegen ist ein gewesener Ton c kein Ton c, ein gewesenes Rot kein Rot.« 29 Nur der aktuelle Ton c zählt also als ein Ton c. Sobald er in die Vergangenheit sinkt, ist er kein Ton c mehr. Gegen diese Theorie wendet Husserl ein: Der von der ursprünglichen Assoziation schöpferisch reproduzierte Inhalt und der neue aktuelle Inhalt müssten gleichzeitig erlebt sein, obwohl der vorhergehende Inhalt zeitliche Modifikation erfahren hat. Denn das von der ursprünglichen Assoziation neu hinzugefügte Zeitmoment wäre zugleich gegenwärtiges Erlebnismoment. Vergegenwärtigtes und Gegenwärtiges würden beide im Jetzt erlebt. Wie könnten wir dann aber den vorhergehenden Inhalt als schon vergangen erleben? Das ist nach Husserl ein Widersinn. 30 In der Zeitanalyse Husserls ist daher die zeitliche Modifikation kein Hinzufügen, keine Modifikation der Qualität des Inhalts. Nach Husserl bleibt der Empfindungsinhalt, der zu den verschiedenen akHusserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 10. 28 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 17. 29 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 14. 30 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 17–18. 27

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tuellen Jetztpunkten des Objektes gehört, qualitativ absolut unverändert. Hören wir einen Ton c, sehen ab von der objektivierenden Auffassung und achten rein auf den Empfindungsinhalt, so können wir einsehen, dass der Ton c der Materie nach immerfort ein Ton c bleibt. Dabei sind »Tonqualität und Klangfarbe unverändert, Intensität vielleicht schwankend usw.« 31 Auf diese beschreibende Weise hat Husserl die qualitative Identität des Empfindungsinhalts bewiesen. Nun stellt sich die Frage: Wie kann ein Objekt eine feste Zeitstelle haben, wenn der Empfindungsinhalt beim Herabsinken unverändert bleibt? Husserl unterscheidet diesbezüglich in seiner Zeitanalyse in der Struktur der Gesamtauffassung zwei Komponenten. Er schreibt, »die eine konstituiert das Objekt nach seinen außerzeitlichen Bestimmungen, die andere schafft die Zeitstelle, das Jetztsein, Gewesensein usw.« 32 Jeder Jetztpunkt wird zum vergangenen Jetztpunkt. Aber nicht, weil sich sein jeweiliger Inhalt alteriert und zu »Vergangenheit« wird, wie Husserl Brentano auslegt. Laut Husserl bleibt vielmehr das Jetzt dasselbe Jetzt, und es stellt sich nur in Bezug zum jeweilig aktuellen Jetzt als vergangen dar. 33 Wenn das Jetzt in die primäre Erinnerung zurückgeschoben wird, ändert deshalb das Objekt nicht seine Zeitstelle. Zwar ist die Zeitstelle des gesamten Gegenstandes unverändert, doch ändert sich die jeweilige Zeitstelle des Empfindungsinhalts stetig, die sogenannte absolute Zeitstelle. Jedes neue Jetzt schafft eine neue absolute Zeitstelle aufgrund seines Inhalts. Selbst wenn wir eine Zeitstrecke lang konstant einen gleichqualitativen Ton hören, bleibt dieser Ton nur der Empfindungsqualität nach gleich. Also ist es keine wahre Identität, weil es nach Husserl immer eine phänomenologische Verschiedenheit zwischen unterschiedlichen absoluten Jetztpunkten gibt, auch wenn ihr Inhalt gleich bleibt. 34 Die phänomenologische Verschiedenheit und Individualität der absoluten Zeitstellen ermöglicht so überhaupt erst die Auffassung eines dauernden Zeitobjektes. Auch dann ist dies so, wenn das Zeitobjekt qualitativ unverändert bleibt, wie im Beispiel der Ton. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 67. 32 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 63. 33 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 66. 34 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 66–67. 31

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Was für die primäre Erinnerung gilt, gilt in dieser Hinsicht auch für die sekundäre Erinnerung. Wenn eine Impression über das primäre Zeitfeld hinaus zurücksinkt, sinkt sie immer weiter in die Vergangenheit. Husserls Ansicht nach ist die zeitliche Modifikation keine inhaltliche Veränderung, sondern jeder Jetztpunkt bleibt derselbe beim Zurücksinken. Er wird nur von einem aktuellen Jetztpunkt in die Vergangenheit geschoben. Sein Charakter als ›vergangen‹ ergibt sich in Anbetracht des aktuellen Jetztpunkts, und zwar notwendig. Denn »eine Dauer ist gar nicht vorstellbar oder besser nicht setzbar, ohne dass sie in einem Zeitzusammenhang gesetzt wird, ohne dass Intentionen des Zusammenhangs da sind« 35. Deshalb wird der Begriff des Vergangenen in Relation zum aktuellen Jetzt gewonnen, und der Jetztbegriff seinerseits durch den Bezug zur Vergangenheit. Jetzt und Vergangenheit bestimmen einander also wechselseitig. Daher ist laut Husserl »in jeder Vergegenwärtigung zu unterscheiden die Reproduktion des Bewusstseins, in dem das vergangene dauernde Objekt gegeben, d. h. wahrgenommen oder überhaupt ursprünglich konstituiert war, und das, was dieser Reproduktion als konstitutiv für das Bewusstsein ›vergangen‹ oder ›gegenwärtig‹ (mit dem aktuellen Jetzt gleichzeitig) oder ›zukünftig‹ anhängt«. 36 Husserl spricht diesbezüglich von einer doppelten Intentionalität. Genauer handelt es sich hier meines Erachtens um Querintention und Längsintention. Die Querintention betrifft die außerzeitlichen Bestimmungen. Sie konstituiert das Objekt als Was. Die Längsintention dagegen stiftet die Zeitstelle des Objekts. Die Querintention ist nichts anderes als die oben besprochene Auffassung des Gegenstandes aufgrund der Empfindung. Nun wollen wir auf die Längsintention indessen näher eingehen, um die Konstitution der Zeitstelle zu erklären. Husserl erwähnt oft Analogien zwischen Raum- und Zeitobjekten und analysiert deren Konstitution jeweils anhand des Modells Auffassung und Auffassungsinhalt. Er erklärt auch die Längsintention des Zeitbewusstseins, indem er die Zusammenhänge von Raumund Zeitobjekten vergleicht. So hat jedes Ding in der Wahrnehmung seine Vorderseite als Vordergrund und seine Rückseite als Hintergrund. Wir schauen eigentlich immer nur eine Seite des Dings an, Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 53. 36 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 54. 35

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intendieren aber das ganze Ding. Dies zeigt sich dadurch, dass Dinge uns immer nur einseitig gegeben sind, wir sie aber immer für dreidimensional halten. D. h. wir haben eine einheitliche Intention, die die Intention auf die Rückseite beinhaltet. Es handelt sich hier nicht etwa um die Aufmerksamkeit. Denn nicht durch Verschieben unserer Aufmerksamkeit sehen wir die Rückseite. Daher ist die intendierte Dreidimensionalität keine Folge der Aufmerksamkeit. Die Dreidimensionalität gehört hier vielmehr zum Wesen der Intentionalität des Bewusstseins. Ihr als bloßer Intention entspricht die mögliche Erfüllung. Diese erlangt man beispielsweise, wenn man um das Ding herumgeht. Die Intention auf das Raumobjekt als eine komplexe Intention gilt, wie nun zu zeigen ist, analog für die Wahrnehmung des Zeitobjekts. Husserl schreibt: »Vordergrund ist nichts ohne Hintergrund. Die erscheinende Seite ist nichts ohne nicht erscheinende.« 37 Der Vordergrund in der Wahrnehmung des Zeitobjektes ist der Jetztpunkt, und der Hintergrund ist sein Vorher und Nachher. Also hat jede Phase des Zeitbewusstseinsflusses einerseits eine Vergangenheitsintention bzw. rückwärts gerichtete Intention. Andererseits hat sie eine Zukunftsintention bzw. vorwärts gerichtete Intention. Beiden entspricht eine Zusammenhangsintention bzw. Längsintention, in der Art eines doppelten Hofs bzw. Horizonts. In der Gegenwart ist die Intention auf die Vergangenheit bestimmt, und die auf die Zukunft unbestimmt oder bestimmt, je nachdem, ob das Objekt uns bekannt ist oder nicht. Jeder neu auftretende Jetztpunkt ist eine Erfüllung der Zukunftsintention des früheren Jetztpunktes. In der Vergegenwärtigung ist die Intention sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft bestimmt. Die Erinnerung läuft in einer bestimmten Richtung. Dabei bildet sich die Auffassung des ›als Was‹ des Objekts durch Querintention. Die Zeitstelle für das Objekt ersteht im Rahmen der Längsintention. Querintentionen erlangen Erfüllung durch außerzeitliche Auffassungsinhalte, im Falle sinnlich erfahrener Objekte also durch sinnliche Inhalte. Die Erfüllung der Längsintention ist die »Herstellung der erfüllten Zusammenhänge bis zur aktuellen Gegenwart« 38. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 55. 38 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 54. 37

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Wie schon erwähnt, ist nach Ausschaltung der objektiven Zeit unter »Vergangenheit« der Bezug zum aktuellen Jetztpunkt zu verstehen. Darüber hinaus können wir die Zeitstelle eines Zeitobjektes auf folgende Weise feststellen. Ich erinnere mich z. B. an ein Haus, das ich wahrgenommen habe. Seine Zeitstelle kann mir durch Erinnerung des Vorher und Nachher aufgehen: Zuvor aß ich zu Abend, danach ging ich joggen. Solcherart kann ich das Vorher und Nachher eines immanenten Objektes sowie die Zusammenhänge zwischen Objekt und aktueller Gegenwart vergegenwärtigen. So kann ich schließlich dahin gelangen, den Zeitpunkt der Hauswahrnehmung zeitlich im vorgestrigen Abend zu gewahren. Freilich kann dies bisweilen auch misslingen, weil die Erinnerung manchmal zu verworren ist. Hier schafft manchmal die intersubjektive Konstitution Abhilfe. Auf diese Art also ist ein immanentes Objekt nach Dauer und Zeitstelle konstituiert. Hieraus versteht sich auch seine objektive Zeit. Ich kann somit nicht nur einmal die Zeitstelle des Hauses als immanentes Objekt vergegenwärtigen, sondern immer wieder seine identische Dauer und Zeitstelle feststellen. So werden Subjekte motiviert, die Dauer und Zeitstelle eines Zeitobjektes als gewissermaßen unabhängig von sich anzusehen. Im Falle der Raumdinge wirkt diesbezüglich eine andere Motivation: Nachdem ich ein Raumobjekt wahrgenommen habe, kann ich »auf irgendeinem Wege hingehen und sehen, das Ding noch finden, und kann dann wieder zurückgehen und in wiederholten ›möglichen‹ Erscheinungsreihen die Anschauung herstellen« 39.

3.

Die Konstitution der Allzeitlichkeit idealer Gegenständlichkeiten

Nach der obigen Analyse spielen zwei Komponenten bei der Auffassung der realen Objekte eine vorrangige Rolle. Zum einen die außerzeitlichen Inhalte, also im Falle der sinnlichen Wahrnehmung die sinnlichen Inhalte. Diese bilden ein Objekt im Sinne des ›als Was‹. Zum anderen wird die Zeitstelle des Objektes durch die Herstellung des längsintentionalen Zusammenhangs bis zur Gegenwart konstituiert. Weil ich immer wieder dasselbe Objekt in denselben Horizont Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 61.

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identifizieren kann, objektiviert sich die immanente Zeit bzw. wird die immanente Zeit des Objektes fixiert. Dagegen wird eine irreale Gegenständlichkeit nicht an die Zeit gebunden, in der sie konstituiert wird. Warum? Wie nun zu zeigen ist, gibt es bei der Konstitution der Allzeitlichkeit zwei wesentliche Unterschiede: den darstellende Inhalt und die Zusammenhangsintention. Aufgrund der darstellenden Funktion der sinnlichen Inhalte für die realen, individuellen Gegenstände und der Zusammenhangsintention, konstituiert sich die objektive Zeit für mich. Doch dies fällt bei der Konstitution der irrealen Gegenständlichkeiten weg. Ich beginne mit der darstellenden Funktion. Nach Husserl ist die Wahrnehmung ein Verfahren, das die »erlebte Empfindungskomplexion von einem gewissen Aktcharakter, einem gewissen Auffassen, Meinen beseelt« 40. Die sinnlichen Empfindungen fungieren als darstellende Inhalte für die Beseelung, m. a. W., die Intention des Gegenstandes hat ihren Anhalt in sinnlichen Empfindungen. Daher sagt Husserl in den Logischen Untersuchungen, der Wahrnehmungsbegriff bekunde eo ipso eine gewisse Gebundenheit. 41 Die Zeit der Empfindungsdaten geht wegen ihrer darstellenden Funktion in den individuellen Gegenstand ein. Mit der Objektivation des individuellen Gegenstandes macht die Gegebenheitszeit der Empfindungsdaten die Zeit des individuellen Gegenstandes aus. Bei der Konstitution der irrealen Gegenständlichkeiten ist dies anders. Nehmen wir ein Beispiel: Aufgrund der Wahrnehmung von drei und vier Äpfeln fällen wir das Urteil ›3 + 4 = 7‹. Die Zeit der Erscheinung der Äpfel ist gebunden an die Zeit ihrer Wahrnehmung. Doch das Urteil ›3 + 4 = 7‹ ist nicht zeitlich gebunden. Ich kann dasselbe Urteil nicht nur aufgrund der Wahrnehmung anderer Gegenstände fällen, z. B. Bleistiften, sondern auch zu beliebigen anderen Zeiten. Der Grund liegt meiner Meinung nach darin, dass hier die individuellen Gegenstände keine darstellende Funktion für die Konstitution der irrealen Gegenständlichkeiten haben. Als Hinweis darauf dienen die folgenden Sätze in Erfahrung und Urteil:

Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, Hua XIX.1, A75/B175. 41 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, in: Hua, Bd. XIX.2, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1984, A660/B2188. 40

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So ist es bei allen höherstufig konstituierten Gegenständlichkeiten, bei denen nicht wie bei den Raumgegenständen die in den Gegenständen der unteren Stufe konstituierten Zeiten eine darstellende Funktion für die höheren Gegenstände haben. Wenn auf Gegenstände unterer Stufe (bezw. auf die intentionalen Erlebnisse, die sie konstituieren) sich Akte aufbauen, in deren Gegenständlichkeiten die der unteren Stufe nicht selbst eingehen, so tritt deren Zeit auch nicht in sie ein. 42

Gemäß dieser Analyse objektiviert sich also die immanente Zeit, weil die reellen Inhalte als ein einheitlicher Gegenstand aufgefasst werden. Anders gesagt: Die Empfindungsdaten, die zeitliche Modifikation erfahren, stellen sich während der Wahrnehmung kontinuierlich als Inhalt eines Gegenstandes dar. Dagegen betont Husserl in der sechsten Logischen Untersuchung, die ideale Gegenständlichkeiten gebende kategoriale Anschauung sei zwar notwendig in sinnlicher Anschauung fundiert, sie finde aber keine Erfüllung in sinnlichen Empfindungen. In Husserls Worten: »Überhaupt ist die intuitive, also auch die imaginative Erfüllung kategorialer Akte in sinnlichen Akten fundiert. Niemals kann aber bloße Sinnlichkeit kategorialen, genauer: kategoriale Formen einschließenden Intentionen Erfüllung bieten« 43. Die fundierenden, sinnlichen Gegenstände können kategoriale Anschauung also nicht erfüllen. Wir fassen daher auch die fundierenden Gegenstände nicht etwa als irreale Gegenstände auf, also nicht so, wie wenn wir sinnliche Empfindungen als sinnliche Gegenstände auffassen. Die fundierende Sinnlichkeit fungiert nur »als singulärer Fall, als Beispiel oder nur als rohes Analogon eines Beispiels, des Allgemeinen« 44. Wir können z. B. Farbe überhaupt meinen aufgrund einer Erscheinung eines singulären roten Dings. Zusammengefasst sind irreale Gegenständlichkeiten zeitlich ungebunden oder in der Zeit nicht individuiert, weil die fundierenden individuellen Gegenstände keine darstellende Funktion für sie haben. Auf der anderen Seite stellt die irreale Gegenständlichkeit kein einheitliches Prinzip für Empfindungsmannigfaltigkeiten dar. Jede Empfindung oder Erscheinung wird als Moment des realen Gegenstands angesehen, darum wird das zeitliche Nacheinander des Flusses als Dauer des realen Gegenstandes aufgefasst. Da hingegen der reelle Husserl, EU, 310. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, Hua XIX.2, A477/B25. 44 Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, Hua XIX.2, A604/B2132. 42 43

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Inhalt des Flusses kein darstellender Inhalt für irreale Gegenständlichkeiten ist, hat man auch kein Gefühl der Dauer während der Wahrnehmung irrealer Gegenständlichkeiten. Der nächste Punkt ist die Zusammenhangsintention. Als ein weiterer Hinweis auf die Konstitution der Allzeitlichkeit dienen folgende Sätze: Die realen Gegenständlichkeiten schließen sich in der Einheit einer objektiven Zeit zusammen und haben ihre Zusammenhangshorizonte; zu ihrem Bewusstsein gehören demgemäß Horizontintentionen, die auf diese Einheit verweisen. Hingegen eine Mehrheit irrealer Gegenständlichkeiten, z. B. mehrere Sätze, die zur Einheit einer Theorie gehören, sind nicht bewusst mit solchen Horinzontintentionen, die auf zeitlichen Zusammenhang verweisen. 45

Das Bewusstsein der Horizontintentionen, das zum Wesen des Bewusstseins der realen, individuellen Gegenstände gehört, fehlt also bei irrealen Gegenständlichkeiten. Oben haben wir versucht, klarzumachen, wie die Längsintention die objektive Zeitstelle des Objektes schafft. Roh gesprochen, hat jede Impression außer der Querintention auch eine Zukunfts- und Vergangenheitsintention als Längsintentionen bzw. Zusammenhangsintentionen. Anhand dieser Intentionen bildet sich der Bewusstseinsfluss als eine Einheit. Aber diese Einheit ist normalerweise eine unanschauliche Intention. 46 Wir richten uns auf die individuellen Gegenstände notwendig vor einem zeitlichen Hintergrund. Die Zusammenhangsintention ist die Bedingung des Bewusstseins der Zeitlichkeit. Wie sieht es nun im Fall des Bewusstseins der irrealen Gegenständlichkeiten aus? Gegenständlichkeiten aller Art haben ihre Gegebenheitszeit, also gehen sie in den Bewusstseinsfluss ein, werden erkannt, erlebt. Da sich dies Bewussthaben der Gegenständlichkeiten stets in einem zeitlichen Hof vollzieht, hat es auch eine Dauer und feste Zeitstelle in der immanenten Zeit. Deshalb kann man das Erlebnis auch vergegenwärtigen. Dabei handelt es sich um die Frage, ob wir sie wirklich ursprünglich so erlebten, wie wir sie später vergegenwärtigen. Die irreale Gegenständlichkeit, die in diesem Erlebnis gemeint wurde, wird jedoch nicht vergegenwärtigt. Man kann jedoch aufbauend auf eine Wiedererinnerung die irreale Gegenständlichkeit erneut Husserl, EU, 311. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua X, 54.

45 46

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konstituieren, und zwar ohne Vergangenheitsbewusstsein. Sie bleibt, egal ob sie in der Vergangenheit oder Gegenwart konstituiert wird, identisch dieselbe. Während also reale Gegenstände aufgrund einer Zusammenhangsintention mit einer festen Zeitstelle vermeint werden, greift bei irrealen Gegenständlichkeiten keine Zusammenhangsintention. Darum haben sie keine feste Zeitstelle. Sie sind immer wieder an jeder beliebigen Zeitstelle erneut erzeugbar. Dabei ist es egal, in welchen konkreten Individuen ihre Schau fundiert ist. Somit verstehen sich die unterschiedlichen Zeitmodi des Bewusstseins von Gegenständlichkeiten aus dem Verhältnis der bewussten Gegenständlichkeit und den begleitenden reellen Inhalten. Zeitlichkeit ist der Zeitmodus für reale Gegenstände, während der Zeitmodus der irrealen Gegenständlichkeiten die Allzeitlichkeit ist. Diese beiden sind nicht zwangsläufig die einzigen Arten der Zeitlichkeit von Gegenständen. Man könnte vermutlich ergiebige ähnliche Analysen zur Zeitlichkeit von Phantasiegegenständlichkeiten anstellen.

4.

Zusammenfassung

Das Leben ist uns am nächsten, aber auch am fragwürdigsten. Es ist selbstverständlich, weil es uns so bekannt ist. Die dem Leben zugrunde liegenden Grundbegriffe werden entweder einfach hingenommen oder als gültig vorausgesetzt, sofern sie verständlich bei der Kommunikation sind. Deshalb stoßen wir auf große Verworrenheit, wenn wir den Begriffen wie Zeit auf den Grund gehen. Die Analyse der Konstitution von Zeitlichkeit und Allzeitlichkeit ist ein Paradigma der konstitutiven Phänomenologie. Weil ihr Ziel Vorurteilslosigkeit ist, d. h., phänomenologische Forschungen am Anfang nichts als gültig voraussetzen sollten, versuchen sie, auch die ›selbstverständlichen‹ Grundbegriffe aus den transzendental-subjektiven Leistungen heraus anschaulich zu erforschen und zu beschreiben. Die Zeit wird danach nicht bloß als die Form der Welt an sich vorausgesetzt, sondern ist zuerst die Dauer und Zeitstelle des immanenten Gegenstandes, die sich dann schritweise zur objektiven Zeit objektivieren. Die Schwierigkeit, auf die die Phänomenologie Husserls am Anfang schon stößt, nämlich wie die ›unzeitlichen‹ irrealen Gegenständlichkeiten in zeitliche Erlebnisse eingehen, also zeitlich werden können, wird auch durch die konstitutiv phänomenologi223 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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schen Forschungen gelöst. Irreale Gegenständlichkeiten existieren also nicht zuerst in einer »unzeitlichen Welt«, um danach erst in unserem Bewusstseinsfluss aufzutreten. Sie sind vielmehr konstituiert und haben deshalb notwendig Beziehung zur Zeit. Sie sind allzeitlich, weil sie im Vergleich zu realen Gegenständen anders konstituiert werden. Im Rahmen der Analyse wurden diesbezüglich zwei Unterschiede erarbeitet: die darstellende Funktion der fundierenden Inhalte und die Zusammenhangsintention. Diese beiden Faktoren führen zur Konstitution der realen Gegenstände als zur objektiven Zeit gehörig. Beide fallen weg bei der Konstitution irrealer Gegenständlichkeiten. Daher sind irreale Gegenständlichkeiten nicht an die Zeit gebunden, sondern ›überall und nirgends‹.

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Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben Karl Kraatz

Abstract: Martin Heidegger hat in den Jahren 1935 und 1936 Vorträge gehalten über den Ursprung des Kunstwerkes. Das Kunstwerk wurde nicht als Gegenstand der Ästhetik genommen. Heidegger hat stattdessen nach dem Sein des Kunstwerkes gefragt. Er hat versucht, begrifflich zu bestimmen, was das Kunstwerk ist und was in der Erfahrung eines Kunstwerkes geschieht. Wir möchten mit Heidegger zeigen, dass das Kunstwerk wirklichkeitsbildende und –umbildende Kraft besitzt: Gemeint ist, dass sich in der Erfahrung eines Kunstwerkes die Bezüge zum Seienden in der Welt verwandeln. Wir beschreiben dies als eine Verwandlung des In-der-Welt-seins, innerhalb dessen das eigene Leben an Durchsichtigkeit gewinnen kann. Wir möchten damit veranschaulichen, was die Kunst mit dem Leben zu tun hat und wie in und durch die Kunst das Leben lebendig werden kann. In 1935 and 1936, Martin Heidegger gave two talks about the Origin of the Work of Art. Yet his point of analysis was not one of aesthetics. Instead, Heidegger inquired about the being of the work of art. He tried to give a conceptual account of its specific mode of being and to describe what happens within the experience of art. In this article, we trace Heidegger’s main argument and try to show that the artwork has the potential to both shape and change one’s perspective on reality. What this means concretely is that one’s relations to beings are transformed in one’s experience of the work of art. We describe this as a transformation of being-in-the-world, within which one’s own life can gain transparency. This helps reveal what art has to do with life, and how art can make things in the world come alive.

1.

Über den Kunstwerk-Aufsatz – Der philosophische Kontext

Martin Heidegger hat in den Jahren 1935 und 1936 in Freiburg und in Zürich Vorträge gehalten über den Ursprung des Kunstwerkes. Die Kunst rückte damit in den 1930er Jahren in das Zentrum von Heideg-

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gers Philosophie, 1 was etwas verwunderlich ist, weil mit dem Namen ›Heidegger‹ in den 1920er Jahren noch etwas ganz anderes assoziiert worden ist: In Sein und Zeit beispielsweise, der ersten großen Veröffentlichung, mit der Heidegger 1927 über die Landesgrenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde, spricht er nur ein einziges Mal über die Kunst. 2 Das Ziel war damals stattdessen, die Frage nach dem Sein durch die Ausarbeitung einer Fundamentalontologie vorzubereiten. Und überhaupt: Ist nicht die Kunst das Thema der Ästhetik – ein Thema für die Kunstwissenschaft und für die Kunstgeschichte, aber nicht für die Ontologie? Die von Heidegger herausgestellte Verbindung zwischen Kunst und Ontologie möchten wir mit dem Phänomen des Lebens anzeigen: Wir sprechen vom Leben des Einzelnen, das, so unsere These, in der Erfahrung eines Kunstwerkes an Durchsichtigkeit gewinnen kann. Die Erfahrung eines Kunstwerkes ermöglicht eine spezifische Form des Wissens: ein Verständnis der eigenen Situation. Wir rücken damit den Heideggerschen Begriff der Durchsichtigkeit, der nicht im Kunstwerkaufsatz, wohl aber in Sein und Zeit an zentraler Stelle vorkommt, 3 in den Vordergrund. Das Ziel ist es, zu zeigen, dass diese Art der Durchsichtigkeit das eigene Leben in einer bestimmten Weise lebendig oder besser: lebendiger werden lassen kann. Wann immer wir von Durchsichtigkeit sprechen, ist damit auf eine besondere Art des Lebendigseins verwiesen. Wie dies gemeint ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. Die Verbindung zwischen Kunst und Ontologie lässt sich dadurch anzeigen, dass das Kunstwerk bei Heidegger Thema der Ontologie wird. Er fragt nach dem Sein des Kunstwerkes. 4 Während es in Sein und Zeit noch darum ging, die Seinsfrage durch eine Analyse des Über die Bedeutung des Kunstwerk-Vortrages für die Entwicklung von Heideggers Philosophie und für die philosophische Ästhetik des 20. Jahrhunderts siehe den Sammelband: David Espinet/Tobias Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M., Klostermann, 2011. 2 »Die Mitteilung der existenzialen Möglichkeiten der Befindlichkeit, das heißt das Erschließen von Existenz, kann eigenes Ziel der ›dichtenden‹ Rede werden« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Max Niemeyer, 192006, 216). Vielen Dank an die Herausgeberinnen für den Hinweis auf diese Textstelle. 3 Heidegger, Sein und Zeit, 146. 4 Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M., Klostermann, 61980, 2: »Um das Wesen der Kunst zu finden, die wirklich im Werk waltet, suchen wir das wirkliche Werk auf und fragen das Werk, was und wie es sei.« 1

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Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben

Seins des Menschen vorzubereiten, wird nun nach dem Sein eines spezifischen Gegenstandes gefragt: nach dem Sein des Kunstwerkes. Doch gehen wir zunächst noch einen Schritt zurück: Was ist überhaupt mit der Seinsfrage gemeint? Das Sein wird in Sein und Zeit verstanden als das, »was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist« 5. Seiendes ist der Allgemeinbegriff für alle Dinge, die in irgendeiner Weise sind: Steine, Tiere, Pflanzen, Menschen, Zahlen, Gott, Sprache, Gedanken, usw. Die Frage nach dem Sein des Seienden ist die Frage, was diese Dinge sind. Gefragt wird jedoch nicht nach diesem oder jenem Ding, sondern nach dem, was die Zahl zur Zahl, das Tier zum Tier, den Menschen zum Menschen macht. Gefragt wird nicht zuletzt, ob es Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Seinsarten gibt. Heidegger zeigt in Sein und Zeit nicht nur, dass es diese Seinsunterschiede gibt. Er fragt außerdem, ob es eine einheitliche Bedeutung dieser mannigfaltigen Seinsweisen gibt. In philosophischer Terminologie ausgedrückt, wäre Sein und Zeit dann so etwas wie die Kritik eines univoken Seinsbegriffs mit dem Ziel, einen analogen Seinsbegriff zu erarbeiten und die Disjunktionen des Seins zu begründen. 6 Die Besonderheit von Sein und Zeit und das, was dieses Buch von früheren Ansätzen und auch von Ansätzen der modernen Ontologie unterscheidet, ist, dass das Sein als etwas verstanden wird, das »je schon verstanden ist« 7. Gefragt wird nach dem Sinn von Sein – d. h. nach dem Sein, »sofern es in die Verständlichkeit des Daseins [des Menschen, K. K.] hereinsteht« 8. Gefragt wird demnach nicht nach einer allgemeinen Eigenschaft des Seienden; nicht nach etwas, das jedem Seienden zukommt und das übrigbleibt, wenn man alle anderen Bestimmungen abzieht. Gefragt wird auch nicht nach einer abstrakt-allgemeinen Entität, die jedes Seiende zum Seienden macht. Aufgeklärt werden soll die Verständlichkeit des Seins. In diesem Rückgang auf das je schon Verstandene verfährt die Ontologie wie Heidegger, Sein und Zeit, 6. So von Heidegger weitergeführt in der Vorlesung, die er im Jahr der Veröffentlichung von Sein und Zeit gehalten hat und in der er fehlende Teile des Hauptwerkes (teilweise) nachgeliefert hat. Vgl. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, in: Gesamtausgabe (im Folgenden GA), Bd. 24, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M., Klostermann, 1977. 7 Heidegger, Sein und Zeit, 6. 8 Heidegger, Sein und Zeit, 152. 5 6

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die Transzendentalphilosophie. Sie fragt nach den Möglichkeitsbedingungen des jeweiligen Seinsverständnisses oder genauer: wie sich das Seinsverständnis konstituiert. Wie bei Edmund Husserl – dem Begründer der Phänomenologie und Heideggers Lehrer – geht es um die Aufklärung dieser Konstitution. Doch im Gegensatz zu Husserl werden die aufgedeckten Möglichkeitsbedingungen bei Heidegger als existenziale Möglichkeitsbedingungen verstanden. Sie sind Möglichkeitsbedingungen, die zu Seinsweisen gehören, in die der Mensch geworfen wurde. Der Philosoph Carl Friedrich Gethmann beschreibt Sein und Zeit deshalb als eine transzendentale Ontologie. 9 Er versteht Sein und Zeit als Weiterführung und Radikalisierung der Transzendentalphilosophie: Auch bei Heidegger ginge es um Konstitution, aber diese Konstitution werde nicht mehr als Selbstkonstitution des Subjekts verstanden. 10 Die transzendentale Subjektivität werde als faktische Transzendentalität gedacht 11 und das Sein als das universale Konstituens. Die Aufklärung der Konstitution führe bis zur Aufklärung des Wechselverhältnisses von Sein und Mensch. 12 Eine weitere Besonderheit von Sein und Zeit ist, dass die Aufklärung der Konstitution an einen besonderen Vollzug des Menschen gebunden wird. Heidegger führt den Leser von Sein und Zeit in einer ›extremen Konstruktion‹ 13 über Angst, Tod und Gewissen bis zur Freilegung des Selbstseinkönnens, das als die ursprünglichste Wahrheit und als Seinlassen des Seienden beschrieben wird. 14 Was diesen drei Phänomenen gemeinsam ist, ist, dass in ihnen einer Tendenz entgegengewirkt werden kann, die Heidegger als Grundcharakter 9 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln, Berlin/New York, De Gruyter, 1993, 105–106. 10 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Verstehen und Auslegung, Bonn, Bouvier Verlag, 1974, 49. 11 Vgl. Gethmann, Verstehen und Auslegung, 127–140. 12 Vgl. Gethmann, Verstehen und Auslegung, 81. 13 Vgl. Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, in: GA, Bd. 26, hrsg. von Klaus Held, Frankfurt a. M., Klostermann, 1978, 176. 14 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 221: »das Dasein erschließt sich ihm selbst im eigensten und als eigenstes Seinkönnen. Diese eigentliche Erschlossenheit zeigt das Phänomen der ursprünglichsten Wahrheit im Modus der Eigentlichkeit.« Siehe auch: Heidegger, Sein und Zeit, 298: »Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen.«

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des Lebens beschreibt: als Verfallenheit. 15 Die Freilegung des Seienden, innerhalb dessen dieses Seiende als das sichtbar wird, was es ist, wird an diese Umkehrung der Verfallenheitstendenzen gebunden. Diese zweite Besonderheit von Heideggers Philosophie wird insbesondere für die Klärung wichtiger Passagen des Kunstwerk-Vortrages von Bedeutung sein. Es ergibt sich demnach für die Kunstwerk-Vorträge 16 folgende Ausgangslage: In Sein und Zeit wird geklärt, wie nach dem Sein des Seienden gefragt werden muss. Im Kunstwerk-Vortrag wird nach dem Sein des Kunstwerkes gefragt und danach, was dieses von anderem Seienden unterscheidet. 17 Heideggers These lautet gemäß unserer Interpretation: Das Kunstwerk besitzt wirklichkeitsbildende und wirklichkeitsumbildende Kraft. Im Kunstwerk und durch es wird die Wirklichkeit verwandelt. Wir werden diesbezüglich davon sprechen, dass in der Erfahrung des Kunstwerkes das Leben lebendig wird. Gemeint ist damit, dass durch die Erfahrung eines Kunstwerkes ein besonderes Wissen möglich wird, das wir als die Durchsichtigkeit der eigenen Situation beschreiben werden.

Heidegger, Sein und Zeit, 175–190. In diesem Jahr (2020) wurden im Band 80.2 der Martin Heidegger Gesamtausgabe drei bisher unveröffentlichte Ausarbeitungen des Kunstwerk-Vortrages veröffentlicht. Martin Heidegger, Vorträge. Teil 2: 1935–1967, in: GA, Bd. 80.2, hrsg. von Günter Neumann, Frankfurt a. M., Klostermann, 2020, 563–658. In diesen Ausarbeitungen finden sich andere Gewichtungen: Bestimmte Sachverhalte sind anders formuliert und teilweise ausführlicher und verständlicher beschrieben. Sie müssen bei jeder Betrachtung des veröffentlichten Kunstwerk-Vortrages mitbeachtet werden. 17 Dass Heidegger meint, dass dem Kunstwerk eine ausgezeichnete Stellung zukommt (vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 48), können wir hier nicht weiter erläutern. Wir werden auf diese ausgezeichnete Stellung des Kunstwerkes nur indirekt zu sprechen kommen, indem wir zeigen, was das Kunstwerk von anderem Seienden unterscheidet. Über die Kehre in das seynsgeschichtliche Denken: vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Transzendenz und Ereignis, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2019. Am deutlichsten ist Heidegger über die Notwendigkeit des Kunstwerkes u. E. in der I. Ausarbeitung des Vortrages: Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 588: »Soll Wahrheit geschehen, d. h. soll Geschichte sein, dann muß ein Werk sein, d. h. es muß Kunst sein als Stiftung des Seyns.« 15 16

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2.

Das Kunstwerk – Das Sein des Seienden kommt zum Vorschein

In »Der Ursprung des Kunstwerkes« gibt Heidegger zwei Beispiele, mit denen er veranschaulicht, was das Besondere an einem Kunstwerk ist und was es von anderem Seienden unterscheidet. Das erste Beispiel ist ein Gemälde von van Gogh. Heidegger beschreibt zunächst, was im Gemälde zu sehen ist: »Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derb-gediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht.« 18 Es gilt zu betonen, dass es nicht um den Inhalt dieser Beschreibung geht. Es ist nicht einmal wichtig, ob im Gemälde tatsächlich die Schuhe einer Bäuerin abgebildet sind (oder van Goghs eigene Schuhe) 19. Die Argumentation Heideggers hat mit der Beschreibung des Inhalts wenig zu tun. Es geht nicht um dieses oder jenes Kunstwerk, auch nicht um einen bestimmten Künstler, sondern in einem viel allgemeineren Sinne um das, was geschieht, wenn man sich vor ein Kunstwerk bringt. Heidegger meint, dass in der Erfahrung des Kunstwerkes das Sein des Seienden zum Vorschein kommen kann. 20 Dies habe mit der »Beschreibung und Erklärung eines wirklich vorliegenden Schuhzeuges« 21 wenig zu tun. Um zu verdeutlichen, dass es nicht um die Beschreibung und möglichst genaue Abbildung von etwas geht, gibt Heidegger ein zweites Beispiel, das nicht aus der darstellenden Kunst stammt. »Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. […] Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier […] kommen so als das zum Vorschein, was

Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 18–19. Meyer Schapiro, »The Still Life as a Personal Object – A Note on Heidegger and van Gogh«, in: Donald Preziosi (Hrsg.), The Art of Art History: A Critical Anthology, Oxford University Press, Oxford/New York, 1998, 427–431. Schapiros Kritik an Heidegger hat zum Kern, dass es sich höchstwahrscheinlich um van Goghs eigene Schuhe und nicht um die Schuhe einer Bäuerin handelt. Heidegger habe ›zu viel‹ in dieses Gemälde ›hineininterpretiert‹. 20 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 20–21. 21 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 20–21. 18 19

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sie sind. […] Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.« 22 Heidegger hätte hier auch auf ein Gedicht verweisen können, bei dem besonders einsichtig ist, dass dessen Sinn niemals in einer bloßen Inhaltsangabe aufgeht und dass es nicht um die besonders genaue Wiedergabe des Inhalts geht. Heideggers betont in diesem zweiten Beispiel außerdem, dass nicht nur das Zeug (wie die Schuhe in van Goghs Gemälde) im Kunstwerk in dessen Sein zum Vorschein kommt, sondern auch Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge und Gott selbst. Heidegger beschreibt dies als die Eröffnung einer Welt: »Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge.« 23 In dieser Eröffnung der Welt kommt das Sein des Seienden zum Vorschein. Was Heidegger in diesem Kontext als ›Welt‹ versteht, ist etwas, das unauflösbar zur menschlichen Existenz gehört. Es handelt sich um einen Gesamtentwurf des jeweiligen Verständnisses von allem Seienden. Ein Verständnis von allem Seienden, das sich mit der jeweiligen Existenz und zugehörig zu ihr ausbildet. 24 Eine Existenz, in die der Einzelne geworfen ist. Das Verständnis der eigenen Welt muss nicht explizit sein. Zunächst ist die eigene Welt implizit. Sie ist so etwas wie der Hintergrund und die Grundlage für alle menschlichen Verhaltungen. Der springende Punkt, auf den wir im Folgenden immer wieder zu sprechen kommen werden, ist, dass das Kunstwerk das Potenzial hat, diese Welt zu verwandeln. Es geht nicht um einzelnes Seiendes, 25 sondern um die eigene Welt; um das, was Heidegger in Sein und Zeit als In-der-Welt-sein beschrieben hat. 26 Die Eröffnung der Welt durch das Kunstwerk ist deshalb nichts, das unabhängig vom Einzelnen geschieht. Dieses Geschehen bleibt auf den Einzelnen, d. h. auf den Künstler und auf diejenigen, die sich vor das Kunstwerk bringen, bezogen. 27 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 27–28. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 30. 24 Vgl. zu diesem Begriff von Welt: Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, in: GA, Bd. 27, hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel, Frankfurt a. M., Klostermann, 1996, 337–338. Der Weltbegriff Heideggers unterliegt nach Sein und Zeit einem nicht explizit gemachten Wandel. Vgl. dazu detailliert: Raimon Pàez Blanch, Heidegger i la qüestió del món (1927/30), Universitat de Barcelona, http://www.tdx. cat/handle/10803/296674 (Online-Publikation). 25 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 42. 26 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 52–60. 27 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 22 23

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Es ist dies genau der Punkt, an dem man zum einen deutlich machen kann, wie Heidegger an Sein und Zeit anknüpft und in welchen Hinsichten er dabei über Sein und Zeit hinausgeht und an dem man andererseits auch zeigen kann, was die Kunst mit dem Leben zu tun hat. Der Grundgedanke ist dabei, dass die Verwandlung des Inder-Welt-seins zur Eröffnung einer Welt führt. Verwandlung und Welteröffnung wiederum lassen das Seiende lebendig werden. Wie dies gemeint ist, werden die folgenden Ausführungen zeigen.

3.

Die Parallelen zu Sein und Zeit

Es galt zunächst, die These Heideggers möglichst präzise wiederzugeben. Wir werden im Folgenden versuchen, zu zeigen, dass die erwähnte ›Eröffnung der Welt‹ in der Erfahrung des Kunstwerkes die Voraussetzung dafür ist, dass sich das Seiende in dessen Sein zeigen kann. Wir wollen zugleich herausarbeiten, dass damit der Sache nach dasselbe gemeint ist, was Heidegger in Sein und Zeit als Vereinzelungserfahrung im Vorlaufen zum Tode, d. h. als Verwandlung der Bezüge zum Seienden beschrieben hat. Um diese Parallelen zu Sein und Zeit zu verdeutlichen, werden wir zunächst darauf eingehen, wie Heidegger das beschreibt, was in der Erfahrung des Kunstwerkes geschieht. Heidegger hat, als es um das Gemälde van Goghs ging, gesagt: »In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen.« 28 Erst gegen Ende des Vortrages erläutert Heidegger, was damit gemeint ist: Er spricht davon, dass es scheint, als würde das Werk alle Bezüge zu Menschen lösen. Er spricht von einem Stoß, der das »Ungeheure« aufstößt und das »bislang geheuer Scheinende« umstößt. 29 Das Kunstwerk eröffnet eine Welt, hält sie offen und rückt den Menschen in diese Offenheit ein. Damit ist der Mensch zugleich aus dem Gewöhnlichen herausgerückt. Die gewohnten Bezüge zur Welt ›verwandeln‹ sich. 30 In Sein und Zeit wurde ein ganz ähnlicher Sachverhalt beschrieben: das, was Heidegger im Vortrag als Stoß, als Verwandlung der Bezüge und als Verrückung bezeichnet, erinnert an das, was in Sein 28 29 30

Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 20–21. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 52–53. Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 52–53.

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und Zeit über die Loslösung vom Man und über die Vereinzelung gesagt worden ist. 31 Was im Kunstwerk-Vortrag das Ungeheure genannt wird, wurde dort als das Unheimliche bezeichnet. 32 Aber auch dort ging es der Sache nach um einen Stoß, d. h. um eine Unterbrechung des gewöhnlichen Ablaufs des Lebens. Eine Unterbrechung, die in die Ermöglichung des Selbstseinkönnens führt, welches genau wie im Kunstwerk-Vortrag als Verwandlung der Bezüge zum Seienden und zu anderen Menschen beschrieben wird. 33 Auch in Sein und Zeit ging es darum, dass die Bezüge zu anderen Menschen (scheinbar) gelöst werden; nur wurde dort deutlicher und ausführlicher beschrieben, dass der Mensch durch diesen Stoß auf sich selbst zurückgeworfen wird: Im Gewissensparagraphen von Sein und Zeit wird beschrieben, wie sich der Einzelne im Entwurf auf das eigene Schuldigsein die Unheimlichkeit seiner Existenz zu verstehen gibt und wie sich dadurch die Bezüge auf das Seiende verwandeln. 34 In Sein und Zeit hat Heidegger viel genauer beschreiben können, warum diese Unterbrechung methodisch so wichtig ist. Er spricht dort in Ausführlichkeit über die Verfallenheit – über eine natürliche Tendenz des Lebens zum Abfall ins Objektmäßige und zur Verdeckung des Seienden. 35 Dass durch die Unterbrechung des gewöhnlichen Ablaufs des Lebens eine neue Sicht auf das Leben möglich wird, wird in Sein und Zeit mit Verweis auf diesen Grundcharakter der Existenz begründet. 36 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 287. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 280. 33 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 298: »Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen.« Heidegger setzt diese Unterbrechung in der Vorlesung des Wintersemesters 1921/22 mit dem Philosophieren gleich: »Eine gegenruinante Bewegtheit ist die des philosophischen Interpretationsvollzugs« (Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, in: GA, Bd. 61, hrsg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M., Klostermann, 1985, 183, Siehe auch: 132, 178, 195). Ruinanz ist Heideggers Begriff für den Sturz und das Fallen. Er wird in Sein und Zeit durch den Begriff ›Verfallenheit‹ abgelöst. 34 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 297. 35 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 179–220. 36 Heidegger, Sein und Zeit, 297–298, »Diese eigentliche Erschlossenheit modifiziert aber dann gleichursprünglich die in ihr fundierte Entdecktheit der ›Welt‹ und die Erschlossenheit des Mitdaseins der Anderen.« Die Entschlossenheit ist als Vorlaufen in die Möglichkeit des Todes eine bestimmte Modifikation des In-der-Welt-seins. Heidegger schreibt: »Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Da-sein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie 31 32

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In fast identischer Art und Weise spricht Heidegger auch in Bezug auf das Kunstwerk von einer Verrückung aus dem Gewöhnlichen ins Ungewöhnliche. 37 Eine Verrückung, die als »Eröffnung des Daseins aus der Befangenheit im Seienden zur Offenheit des Seins« 38 beschrieben wird. Eine Verrückung, die notwendig ist, um den Blick auf das Sein des Seienden freizulegen. Das, was Heidegger Verrückung oder Stoß nennt, führt zur Freilegung des Seins des Seienden. Das Innestehen in der im und durch das Werk geschehenden Offenheit des Seienden nennt Heidegger ein Wissen. 39 Er erwähnt, dass dieses Wissen aus der »Grunderfahrung des Denkens in ›Sein und Zeit‹ gedacht« 40 wird und macht damit abermals darauf aufmerksam, dass an Sein und Zeit angeknüpft wird. Auch wenn die Parallelen nicht zu übersehen sind, möchten wir damit nicht behaupten, dass die Begriffe sich selbst nicht gewandelt haben. Wohl aber möchten wir zeigen, dass auch eine »wesentliche Wandlung der Grundstellung seit ›Sein und Zeit‹« 41 eine Kontinuität voraussetzt: etwas, das sich verändert. Um zu verstehen, wie die beschriebene Verrückung vom Geheuren ins Ungeheure, d. h. die Verwandlung mit der Eröffnung der Welt zu tun hat, müssen wir auf den Wissensbegriff eingehen. An ihm können wir entscheidende Unterschiede deutlich machen und zugleich zeigen, was das Kunstwerk mit dem Leben zu tun hat.

das auch – wo sie doch als eigentliche Erschlossenheit nichts anderes als das In-derWelt-sein eigentlich ist« (Heidegger, Sein und Zeit, 297–298). Das Vorlaufen übernimmt die (methodische) Funktion der Unterbrechung. Man denke an die Beschreibung zur Unvertretbarkeit des Todes (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 266) oder die Ausführungen zum Gewissensruf, der aus der »Verlorenheit in das Man« (Heidegger, Sein und Zeit, 287) zurückholt. Im Hören auf den Gewissensruf ist der Einzelne der Herrschaft des Man entrissen (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 287). Diese Unterbrechung führt wiederum zur Freilegung des Selbstseinkönnens als das für das Dasein (im existenzialen Sinne) Positivste: »Im existenzialen Sinne dagegen gibt der rechtverstandene Ruf das ›Positivste‹, das heißt die eigenste Möglichkeit, die das Dasein sich vorgeben kann«, Heidegger, Sein und Zeit, 294. 37 In der I. und II. Ausarbeitung des Vortrages spricht Heidegger diesbezüglich von der »Absage an alle dumpfe Wirrnis« (584), von ›Widerlegung‹ des vermeintlichen wahren Seienden und von ›Erschütterung‹, Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 582 et passim. 38 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 39 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 40 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 41 Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 592.

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4.

Wissen und Wollen – Die Verwandlung der Bezüge

Heidegger führt im Vortrag aus, dass der Mensch durch die Verrückung aus dem Gewöhnlichen eine besondere Form des Wissens gewinnt. Es ist nach dem Bisherigen bereits deutlich geworden, dass es sich dabei nicht um ein propositionales Wissen handeln kann. Es ist weder ein ›Wissen-dass‹ noch ein ›Wissen-wie‹. 42 Es muss nicht einmal ein Wissen über das sein, was im Kunstwerk abgebildet ist. Heidegger beschreibt dieses Wissen stattdessen als ein Wollen: »Wissen besteht jedoch nicht im bloßen Kennen und Vorstellen von etwas. Wer wahrhaft das Seiende weiß, weiß, was er inmitten des Seienden will.« 43 Er meint, dass dieses Wissen und Wollen aus der »Grunderfahrung des Denkens in ›Sein und Zeit‹ gedacht« 44 ist und verweist auf den Begriff der Entschlossenheit. 45 Heidegger bestätigt damit die Parallelen zu Sein und Zeit – und genau wie in Sein und Zeit spricht Heidegger auch im KunstwerkVortrag davon, dass diese Verrückung aus dem Gewöhnlichen nicht als Loslösung vom Seienden missverstanden werden darf. 46 In ihr ist der Mensch immer noch und sogar in ausdrücklicher Form »inmitten des Seienden« 47. Die Bestimmung dieses Wissens lautet: »die Eröffnung des Daseins aus der Befangenheit im Seienden zur Offenheit des Seins« 48. Das Seiende wird »aus dem verschlossenen Grunde heraufgeholt und eigens auf diesen gesetzt« 49 – ein Geschehnis, das wir als einen Wandel von implizit zu explizit beschreiben möchten: Was vorher zwar schon da war, aber nicht eigens gewusst wurde, kommt ›im Lichte des Kunstwerkes‹ eigens zum Vorschein. Was in diesem Wissen gewusst wird, ist das Sein des Seienden.

Eine übersichtliche Darstellung dieser Thematik am Beispiel der Literatur gibt Íngrid Vendrell Ferran, Die Vielfalt der Erkenntnis: Eine Analyse des kognitiven Werts der Literatur, Paderborn, Mentis Verlag, 2018. Vgl. auch den Sammelband: Christoph Demmerling/Íngrid Vendrell Ferran (Hrsg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderbände, 35, Berlin, de Gruyter, 2014. 43 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 44 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 45 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 46 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 54. 47 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 48 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 53. 49 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 62. 42

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Aber trotzdem bleibt jene Gleichsetzung des Wissens mit dem Wollen verwirrend. Nicht nur, weil beide seit jeher zwei ganz unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden. Die Frage, die sich aufdrängt, ist, was dieses Wissen des Seins mit dem Wollen zu tun haben soll. Wir verweisen zur Klärung dieses Sachverhalts auf die Philosophen Ernst Tugendhat und Steven G. Crowell, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit diesem Sachverhalt beschäftigt haben. Tugendhat kann uns weiterhelfen, indem er dies als ein Stellungnehmen und als eine Entscheidung beschreibt, die der Einzelne treffen muss. Er bindet das Wissen um Gründe zurück an ein Wollen. Wir zitieren aus den berühmten Vorlesungen von Ernst Tugendhat über Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung: »Man kann zwar gleichwohl die Frage immer auch so stellen: ›was ist für mich zu tun das Beste?‹, aber wenn wir diesbezüglich in einer konkreten Lebensentscheidung jemanden um Rat fragen, wird er zwar zunächst Gründe anführen, aber am Ende wird er sagen: ›es ist dein Leben, nur du kannst entscheiden, was für dich das Beste ist, wer du sein willst.‹« 50 Was Tugendhat hier als eine sehr bekannte und einsichtige Situation beschreibt, hilft dabei, zu verstehen, wie Wissen und Wollen zusammenhängen. In der Unterscheidung zwischen ›Anderen‹, die Gründe anführen, und ›Du selbst‹ kommt außerdem die Betonung des Selbstseinkönnens zum Ausdruck, der wir mit Verweis auf den Gewissensparagraphen in Sein und Zeit bereits begegnet sind. Tugendhat führt fort: »Es gibt also einen höchsten Punkt im Überlegen, wo wir die Entscheidung gerade nicht mehr objektiv begründen können, wo vielmehr das, was mein Bestes ist, sich seinerseits erst in meinem Wollen konstituiert.« 51 Tugendhat referiert auf eine Textstelle, in der er ausführt, dass dieses ›Wollen‹ als Stellungnehmen zum eigenen Wollen beschrieben werden kann oder in Form der Frage: »wer (bzw. wie) will ich sein?« 52 Er unterscheidet außerdem zwischen objektiver Begründung und einem Überlegen, das mit diesem Wollen einhergeht. Ob dieser ›höchste Punkt des Überlegens‹ noch als eine intellektuelle Tätigkeit im üblichen Sinne verstanden werden sollte oder doch als so etwas, 50 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1979, 238. 51 Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 238. 52 Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 219.

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das in einem bestimmten Sinne der (instrumentellen) Rationalität vorausgeht, hat Tugendhat selbst nicht mehr ausgeführt. Er beschreibt nur, dass es an diesem Punkt in zugespitzter Form um das Selbst geht, welches dazu, wie es sein will, Stellung nimmt und sich damit für etwas entschließt: »Wäre es nicht so, könnte sich das Wollen in letzter Instanz noch auf Gründe abstützen, so würde der Wille gewissermaßen seine Schwerkraft, seinen Ernst verlieren, und d. h.: es wäre nicht mehr meine Stellungnahme.« 53 In diesem ›höchsten Punkt des Überlegens‹ verschmilzt das Wissen mit einem Wollen. Der Einzelne entscheidet sich in diesem Moment dafür, wer und wie er sein will. Crowell ist deutlicher in der Bestimmung dieses ›höchsten Punktes im Überlegen‹. Er spricht in Bezug auf die Entschlossenheit von einem Vermögen zur Begründung – als eine Art Proto-Rationalität also, die auch bei ihm aufs Engste mit dem Selbst oder genauer: mit etwas, was das Selbst tut, identifiziert wird. 54 Er spricht von einem normativen Aspekt der first-person authority 55: Ein wesentliches Merkmal des Selbstbewusstseins sei, dass der Einzelne über das eigene Denken und Handeln eine Autorität besäße: »I seem to be in a privileged position to report what I believe« 56. Weil zum Sein des Menschen diese Autorität gehöre, sei jeder Einzelne für das eigene Sein verantwortlich. 57 Im Gewissensparagraphen mache der Einzelne mit sich selbst die Erfahrung (Crowell spricht von der Aufdeckung einer »hidden resource« 58), dass er für das eigene Sein, zu dem ein Mitsein und ein Sein zu Seiendem gehört, verantwortlich ist. Der Einzelne lernt in diesem Moment etwas über das eigene Sein (Wissen) und entscheidet sich für ein bestimmtes Wie des Seins, indem er es als er selbst verantwortet (Wollen). In diesem Moment verwandeln sich jegliche Bezüge zu Seiendem. Crowell beschreibt diese als eine Modifikation der Sorge-Struktur. 59 Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 238. Vgl. Steven G. Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, Cambridge (Mass.), Cambridge University Press, 2013, 184. Crowell spricht von »capacity for reason«. 55 Vgl. Crowell, Normativity and Phenomenology, 187. 56 Crowell, Normativity and Phenomenology, 88. 57 Vgl. Crowell, Normativity and Phenomenology, 170: Steven G. Crowell spricht von ›self-responsibility‹, um hervorzuheben, dass es um ein Verhalten geht, das nur vom Selbst (vom Ich-selbst im Gegensatz zum Man-selbst) vollzogen werden kann. 58 Crowell, Normativity and Phenomenology, 189. 59 Vgl. Crowell, Normativity and Phenomenology, 202 und 206. 53 54

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Crowell und Tugendhat sprechen demnach beide von einer Selbsterfahrung, in der Wissen und Wollen in einem Entschluss für eine bestimmte Seinsweise zusammenkommen. Tugendhat spricht ansatzweise von einem höchsten Punkt im Überlegen, wo Selbstbewusstsein (Wissen) und Selbstbestimmung (Wollen) zusammentreffen. Crowell beschreibt den Aspekt des Sichzusichverhaltens genauer und führt an, dass sich das In-der-Welt-sein im Stellungnehmen zum eigenen Sein modifiziert. Was Crowell first-person authority nennt, sei die Voraussetzung für Diskursivität und Rationalität. 60 Die Verweise auf Tugendhat und Crowell sollen uns eine deutlichere Vorstellung davon geben, was in der Erfahrung des Kunstwerkes geschieht. Sie zeigen, dass man durchaus in Bezug auf das Wissen zugleich von einem Wollen sprechen kann: Nämlich genau dort, wo es darum geht, dass sich der Einzelne von sich aus für ein bestimmtes Wie des Seins entscheidet (›Entschlossenheit‹). Der letzte Schritt in unserer Rekonstruktion von Heideggers Argumentation wird sein, dass das, was wir über das Wissen in Erfahrung gebracht haben, mit dem Vorherigen in Beziehung gesetzt wird: mit dem Stoß, der Verrückung und der Verwandlung.

5.

Die Erschütterung und der Umstoß des Bisherigen – Durchsichtigkeit

Bereits in den frühen 1920er Jahren ist Heidegger beim Versuch, auf den Begriff zu bringen, was die menschliche Existenz auszeichnet, auf ein eigentümliches Phänomen gestoßen: Das menschliche Leben sei grundsätzlich durch die Tendenz bestimmt, dem Schwierigen aus dem Weg zu gehen und sich das Leben leicht zu machen: »Das Abfallen des Daseins von ihm selbst im Verfallen an die Welt« 61 – Heidegger spricht diesbezüglich auch von der Flucht vor der Unheimlichkeit oder von der Flucht vor sich selbst. 62 Wir können hier nicht darauf eingehen, wie Heidegger dies nachweist und begründet. Der springende Punkt ist, dass Heidegger eine Möglichkeit beschreibt, wie dieser Tendenz zumindest für einen Augenblick WiderVgl. Crowell, Normativity and Phenomenology, 203–204. Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, in: GA, Bd. 64, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M., Klostermann, 2004, 41. 62 Vgl. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 42–43. 60 61

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stand geleistet werden kann. Sie kann außer Kraft gesetzt werden. Sie verschwindet dadurch nicht – sie wird vielmehr sichtbar als das, was sie ist. In diesem Augenblick kann der Einzelne zum Eigenen Stellung nehmen. Er sieht die Dinge, wie sie als sie selbst zum Vorschein kommen (Wissen) und entscheidet sich zugleich dafür, wie er sein will (Wollen). Die Dinge sind für ihn keine anderen Dinge geworden. Es ermöglicht ein Wissen und ein Wollen. Es zwingt in den von Tugendhat erwähnten höchsten Punkt des Überlegens, an dem sich der Einzelne dazu entscheiden muss, wie er sein will. Wir können in Bezug auf dieses Wissen, das der Einzelne in der Erfahrung des Kunstwerkes erlangt, von einer Verwandlung des eigenen In-der-Welt-seins sprechen oder davon, dass die eigene Situation, eben dieses In-der-Welt-sein, an Durchsichtigkeit gewinnt. Heidegger spricht selbst von der ›wohlverstandenen Selbsterkenntnis‹ 63 – nicht als theoretischer Blick auf einen Ichpunkt, sondern als Verwandlung des Seins dieses Ichs in der Hervorhebung der unauflösbaren Zusammengehörigkeit von Ich und Welt. In der Erfahrung des Kunstwerkes wird die eigene, jeweilige Situation durchsichtig. ›Durchsichtigkeit‹ muss jedoch in dem von Heidegger ausgeführten Sinne verstanden werden (und nicht theoretisch): »Die Sicht, die sich primär und im ganzen auf die Existenz bezieht, nennen wir die Durchsichtigkeit. Wir wählen diesen Terminus zur Bezeichnung der wohlverstandenen ›Selbst-erkenntnis‹« 64. ›Wohlverstanden‹ meint in diesem Zusammenhang, dass das Selbst nicht als ein Subjekt verstanden wird, welches aus der Reflexion an Objekten auf sich als Subjekt zurückkommt. Die Erkenntnis, um die es bei der genannten Durchsichtigkeit geht, ist nicht theoretische Gegenstandserkenntnis, sondern »verstehendes Ergreifen der vollen Erschlossenheit des In-der-Welt-seins durch seine wesenhaften Verfassungsmomente hindurch.« 65 Selbst-Erkenntnis meint dann nicht mehr so etwas wie das Beschauen eines Selbstpunktes. Das Selbst erkennt sich in seinem ›wesenhaften Bezogensein‹ auf Dinge in der Welt und auf seine Mitmenschen. 66 Mit dieser Selbsterkenntnis verwandelt sich der jeweilige Bezug auf Seiendes. Das Seiende

63 64 65 66

Heidegger, Sein und Zeit, 146. Heidegger, Sein und Zeit, 146. Heidegger, Sein und Zeit, 146. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 146.

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wird nicht ausgetauscht. Das Wie des Bezugs auf Seiendes ist das, was sich verändert. Auch für das Verständnis des Kunstwerk-Vortrages ist es wichtig, zu benennen, dass es sich bei der Verfallenheit um einen Grundcharakter des menschlichen Lebens handelt: Der Normalzustand ist der, in dem die Bezüge zu Seiendem, zu den Mitmenschen und zu sich selbst undurchsichtig sind. Es bedarf einer besonderen Anstrengung, eines besonderen Verhaltens oder eben so etwas wie einer Störung des Alltäglichen, um diese Bezüge sichtbar zu machen. Weil es sich dabei um das Leben des Einzelnen handelt, meinen wir berechtigt zu sein, diese Durchsichtigkeit mit Lebendigkeit gleichzusetzen. Die Durchsichtigkeit ist demnach nicht nur auf das Visuelle beschränkt: Es geht nicht um ein bloßes Hinschauen, sondern um das Handeln selbst und um Entscheidungen, die mit dem eigenen Leben zu tun haben. Hierbei handelt es sich nicht um ein kausales Einwirken, sondern um ein Geschehen: »Dabei ist das Seltsame, daß das Werk in keiner Weise auf das bisherige Seiende in kausale Wirkungszusammenhänge einwirkt. Die Wirkung des Werkes besteht nicht in einem Wirken. Sie beruht in einem aus dem Werk geschehenden Wandel der Unverborgenheit des Seienden, und das sagt: des Seins.« 67 Das Kunstwerk stößt das Gewöhnliche um, entrückt den Menschen aus dem Geheuren in das Ungeheure und verwandelt dadurch die Bezüge auf das Seiende. Eine Verwandlung, in der die Dinge sichtbar und so zugleich lebendig werden. Aber waren die Dinge zuvor nicht lebendig? Was ist hier mit lebendig und unlebendig gemeint? Dieser Unterschied wurde in Sein und Zeit noch mit dem Begriffspaar von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit beschrieben. Obwohl Heidegger deutlich gemacht hatte, dass diese Begriffe nicht im Sinne einer Wertung verstanden werden, sondern dass es sich bei ihnen um konstitutive Momente der Existenz handelt, 68 blieb der Verdacht, dass diese Begriffe normativ verstanden wurden: das Leben im Modus der Eigentlichkeit als das gute und wahre Leben und das

Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 58. »Das Phänomen des Verfallens gibt auch nicht so etwas wie eine ›Nachtansicht‹ des Daseins, eine ontisch vorkommende Eigenschaft, die zur Ergänzung des harmlosen Aspekts dieses Seienden dienen mag. Das Verfallen enthüllt eine wesenhafte ontologische Struktur des Daseins selbst, die so wenig die Nachtseite bestimmt, als sie alle seine Tage in ihrer Alltäglichkeit konstituiert.« (Heidegger, Sein und Zeit, 179).

67 68

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Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben

öffentliche, alltägliche Leben demgegenüber als das verwerfliche und schlechte. Selbst im Kunstwerk-Aufsatz spricht Heidegger in einem ganz ähnlichen Sinne davon, dass das Seiende im und durch das Kunstwerk seiender 69 und dass das Gewöhnliche und Bisherige zum Unseienden werde 70. Versteckt sich darin eine Wertung? Auch wenn nicht gemeint ist, dass das Gewöhnliche aufhöre zu existieren, scheint mit weniger seiend und seiender in einem normativen Sinne etwas über das Alltägliche und das Unalltägliche ausgesagt zu werden. 71 Und wenn wir davon sprechen, dass das Leben und die Dinge, die zu diesem Leben gehören, in der Erfahrung des Kunstwerkes lebendig werden, scheinen wir diese Wertung zu übernehmen. Wir müssen deshalb hervorheben, dass der Maßstab für diese Wertung allein derjenige der jeweiligen Durchsichtigkeit ist. Im und durch das Kunstwerk wird das Leben für einen selbst durchsichtig, weil sich ›im Lichte‹ des Kunstwerkes das Sein des Seienden ›lichtet‹. In dieser Durchsichtigkeit (Wissen) kann sich der Mensch dafür entscheiden, wie und wer er sein will. In der Erfahrung des Kunstwerkes verwandelt sich die eigene Wirklichkeit. Und nur in diesem Sinne wird auch das Leben lebendiger: Es wird, was es implizit immer schon war. Die Besonderheit von Heideggers Kunstwerk-Vortrag ist außerdem, dass er diese Verwandlung als Gründung einer neuen Wirklichkeit versteht. Heidegger spricht in Bezug auf das Kunstwerk nicht nur von Wirklichkeitsumbildung, sondern auch von Wirklichkeitsbildung. Die Begriffe, die Heidegger für diesen Sachverhalt verwendet, lauten: ›Stiftung und Schenkung‹ 72, ›Errichtung und Gründung‹ 73

Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 42. Etwas deutlicher ist Heidegger in der I. Ausarbeitung des Vortrags, wenn er diesbezüglich von ›wirklicher‹ spricht: »Wirklicher denn alles sonstige Seiende ist das Kunstwerk […]« (Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 580). 70 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 58. Vgl. auch: Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 583: »Kraft des dichtenden Entwurfs wird das Sonstige und Bisherige zum Unseienden.« 71 Noch deutlicher ist dieses Problem in Sein und Zeit, wenn Heidegger von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit spricht und damit eine Wertung nahelegt im Sinne von: authentischer und unauthentischer Lebensführung. Vgl. Andreas Luckner, »Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit«, in: Thomas Rentsch (Hrsg.), Martin Heidegger: Sein und Zeit, Berlin, Akademie Verlag, 22007, 149–168. 72 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 61. 73 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 29 und 62. 69

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Karl Kraatz

und ›Anfang‹ 74 und ›(Ur-)Sprung‹ 75. Dies ist eine wichtige Nuance: Die Störung des Vertrauten führt nicht in Ohnmacht der eigenen Existenz und auch nicht in die Handlungsunfähigkeit. Die Störung kann wie in Sein und Zeit verstanden werden als Ermöglichung der ›positivsten Möglichkeit‹ der menschlichen Existenz. 76 Das Kunstwerk führt zur Bildung einer neuen Wirklichkeit, indem es diejenigen, die sich vor das Kunstwerk bringt, verwandelt. Es macht die Erfahrenden zu Wissenden. Heidegger spricht diesbezüglich vom ›Anfang der Geschichte‹, der nur anfangen kann im Sprung. 77 In Sein und Zeit wurde dies noch als die Möglichkeit eines ›eigentlichen Miteinanders‹ beschrieben. 78 Im Kunstwerk-Vortrag spricht Heidegger in ähnlicher Weise von der Gründung des »Für- und Miteinandersein[s]« 79. Die Verrückung kann der Anfang und der Ursprung einer neuen Wirklichkeit werden. Zwar hatte sich dieser Gedanke eines ›anderen Anfangs‹ bereits in Sein und Zeit abgezeichnet, aber er wurde noch, so Heidegger selbst, vom Alten überdeckt. 80 Zu sehr noch sei das Denken von Sein und Zeit dem Überlieferten, d. h. vor allem der Transzendentalphilosophie verhaftet. Das Konzept der Wirklichkeitsbildung wird in den 1930er Jahren zu einem der Grundgedanken des Ereignis-Denkens von Heideggers später Philosophie. 81

Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 62. Vgl. Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 589. In der I. Ausarbeitung werden diese verschiedenen Begriffe vom Stiften aus erläutert und von dort aus als einheitliche Struktur erklärt (vgl. 586). 76 Heidegger, Sein und Zeit, 294. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 279 und 288. Heidegger spricht von ›existenzialer Positivität‹ (300). 77 Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 589–590. 78 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 298. 79 Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 56. 80 Vgl. Martin Heidegger, Zu eigenen Veröffentlichungen, in: GA, Bd. 82, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M., Klostermann, 2018. 81 Vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: GA, Bd. 65, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a. M., Klostermann, 1989, »Der Sprung«, 227–292, »Die Gründung«, 293–394. 74 75

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Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben

6.

Über die Begrenztheit des menschlichen Lebens – Kunst und Leben

Beispiele für das, was Heidegger über die Kunst sagt, wird jeder kennen: wie man sich nach dem Lesen eines Buches oder nach dem Hören von Musik wie vollständig verändert gefühlt hat. Dass man nicht genau benennen konnte, was es war, aber dass doch etwas geschehen ist: Die eigene Perspektive ist jetzt eine andere. Selbst alltäglichste Dinge erscheinen nun in einem anderen Licht. Das, was Heidegger über dieses Wissen gesagt hat, gilt in verschiedenen Graden. Die Erfahrung geschieht »in verschiedenen Stufen des Wissens mit je verschiedener Reichweite, Beständigkeit und Helligkeit« 82. Vielleicht ist es nur der nächste Augenblick; vielleicht ist es der nächste Tag – oder vielleicht ist man durch die Erfahrung des Kunstwerkes ein ganz neuer Mensch geworden. Heidegger gibt sich mit dieser Beschreibung noch nicht zufrieden. Er versucht, genau zu benennen und begrifflich zu bestimmen, was in der Erfahrung des Kunstwerkes geschieht. Er spricht von einem Streit von Erde und Welt. 83 Auf den Begriff ›Welt‹ sind wir bereits eingegangen. ›Erde‹ ist der in den 1930er Jahren bei Heidegger aufkommende Begriff für nichtdaseinsmäßiges Seiendes. Die Ausführungen zum Seienden verlieren damit ihre Formalität. Es lässt sich nicht doxographisch in Vorhandenes und Zuhandenes unterteilen. Es ist bereits vor dem Bezug des Menschen auf es Seiendes: Seiendes, das sich in dem zeigt, was es ist: als das Sich-entziehende. ›Erde‹ steht als Begriff für Heideggers Versuch, die Unverfügbarkeit des Seienden zu denken. Es würde zu weit führen, an diesem Begriff im Detail zu zeigen, wie sich das Denken Heideggers nach Sein und Zeit verändert hat. Wir können nur auf einen einzelnen Aspekt dieses Wandels eingehen. 84 Die Erde kommt im Kunstwerk als das, was sie ist, d. h. als die Sich-entziehende und Sich-verschließende, zum Vorschein. Das Besondere am Kunstwerk ist, dass etwas hervorgebracht wurde, was vorher noch nicht war – aber nicht in freier Willkür des von allem Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 54. Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 18–20. Über den Streit: vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 30–33. 84 Für eine systematische Rekonstruktion des Wandels der Grundstellung in Heideggers Philosophie siehe: Karl Kraatz, Die Methodologie von Martin Heideggers Philosophie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2020. 82 83

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losgelösten Künstlers, sondern in Abhängigkeit von und im Sichrichten nach dem Seienden. Dass das Kunstwerk ist, ist das Ungewöhnliche. Dass es ist, verwundert den Menschen und lässt ihn erstaunen. 85 Aber nicht allein die ›Kreativität‹ des Künstlers sorgt für Verwunderung, sondern auch, dass dieses Kunstwerk aus der sprachlosen, stummen, sich-entziehenden Erde geschaffen worden ist und dabei dieses Sich-entziehen der Erde mit hervorgebracht hat. Mit jedem Kunstwerk wurde etwas Bleibendes geschaffen, das in verschiedener Art und Weise die Menschen anspricht und für einen Moment den alltäglichen Ablauf des Lebens unterbricht. Zur Erfahrung des Kunstwerkes gehört die Erfahrung von Unverfügbarkeit. Bis hierhin ist diese Gedankenführung noch aus Sein und Zeit bekannt. Wir hatten auf diese Parallelen hingewiesen. Und doch gibt es einen Unterschied: In Sein und Zeit wurde die Unverfügbarkeit noch sehr stark in Bezug auf die (Un)Begründbarkeit der menschlichen Existenz gedacht: Die Erfahrung der Unheimlichkeit galt in erster Linie als Erfahrung der Endlichkeit der menschlichen Existenz. 86 Der Begriff ›Erde‹ steht nun jedoch für bedeutsam mehr als für das, was in Sein und Zeit noch in Zuspitzung auf die Endlichkeit des Einzelnen beschrieben worden ist. Thematisiert wird nun die Unverfügbarkeit des Seienden selbst – etwas, was dem Menschen (auch der transzendentalen Subjektivität) entzogen ist. Anders gesagt: Die Endlichkeit des Menschen geht nicht in der Unbegründbarkeit der eigenen Existenz auf. Zu dieser Endlichkeit gehört auch das Bezogen- und Angewiesensein auf Seiendes, das sich in dem menschlichen Bezug auf es entzieht. Die Pointe des Kunstwerk-Aufsatzes wäre dann, dass diese Unverfügbarkeit als das Sich-Entziehen der Erde im Kunstwerk zum Vorschein gebracht wird. In Anknüpfung an die Grunderfahrung von Sein und Zeit kann gesagt werden, dass die gewonnene Durchsichtigkeit der menschlichen Existenz diese Existenz im Kontext der Kunstwerk-Vorträge nun in ihrem Bezogensein auf die sich-entziehende Erde sichtbar macht. Man ahnt, dass sich dadurch der Horizont dieser Philosophie entscheidend vergrößert hat. 87 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 51–52. Heidegger, Sein und Zeit, 384. 87 Derselbe Wandel der Grundstellung könnte mit Bezug auf andere Begriffe, wie auf den der Wahrheit, angezeigt werden, der, obwohl er für den Kunstwerk-Vortrag zentral ist, hier kein einziges Mal erwähnt worden ist. Implizit ist dabei jedoch immer von Wahrheit die Rede gewesen, beispielsweise wenn hier mit Verweis auf den Begriff ›Erde‹ von einem Zeigen und Sich-entziehen des Seienden gesprochen wurde. Dies 85 86

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Martin Heidegger über das Verhältnis von Kunst und Leben

Die Kunstwerk-Vorträge zeigen diese gewandelte Grundstellung: An bestimmte Argumentationslinien in Sein und Zeit wird angeknüpft. Aber es ist gerade der Gedanke der Wirklichkeitsbildung im Sprung und im Anfang, welcher zeigt, wie Heidegger über Sein und Zeit hinausgeht: Die Endlichkeit der menschlichen Existenz, die Unverfügbarkeit und das Seiende selbst werden nicht mehr in der Blickbahn der transzendentalen Subjektivität gedacht. Heidegger versucht stattdessen, etwas zu denken, was selbst dieser Subjektivität zwar vorausliegt, worauf diese dennoch bezogen bleibt. Die Erfahrung des Kunstwerkes ist eine Erfahrung, in der die Grenzen der menschlichen Existenz sichtbar werden. Die Erfahrung des Kunstwerkes ist eine ›Grenzerfahrung‹ : Grenzen, die dem Menschen die Möglichkeit eines Maßnehmens geben. Die Menschen werden in dieser Erfahrung zu Wissenden: Sie wissen, wer (und wie) sie sind und wie sie sein wollen. 88 In einer Zeit, in der die Möglichkeiten für unbegrenzt gehalten werden, in der alles ins Maßlose gesteigert wird, kann dem Menschen in der Kunst sein Maß zurückgegeben werden. Wenn in der Erfahrung des Kunstwerkes Wissen und Wollen zusammenkommen, wird das, was vorher undurchsichtig war, durchsichtig. Der Einzelne entscheidet sich für ein bestimmtes Wie des Seins. Das Unentschiedene kommt so zur Entscheidung. 89

ist nichts anderes als das Entbergen und Verbergen der Wahrheit, die seit Heideggers Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) mit Blick auf ein Geschehen im Seienden selbst thematisiert wird. Das Kunstwerk als ›Ins-Werk-Setzen‹ der Wahrheit als Anstiftung des Streites von Erde und Welt ist aus dem Blickwinkel des Einzelnen daher nichts anderes als die Verwandlung des In-der-Welt-seins (Durchsichtigkeit) und die Eröffnung von Welt (Entschlossenheit). Vgl. Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 606. 88 Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 590: »die Klarheit darüber, wer wir sind und wer wir nicht sind, ist schon der entscheidende Sprung in die Nähe des Ursprungs«. Vgl. auch Heidegger, Vorträge, GA 80.2, 621: »Dieses Wissen oder Nichtwissen entscheidet mit darüber, wer wir sind.« 89 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 49.

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Das Leben erfahren. Husserl, Cassirer, Merleau-Ponty Diego D’Angelo

Abstract: In seinen späten Manuskripten zur Phänomenologie der Zeit, insbesondere in den sogenannten Bernauer und C-Manuskripten, stellt sich Edmund Husserl die Frage, wie der phänomenologisch ausgewiesene Strom des Bewusstseins sich selbst zeigt. Auf unterster Ebene stellt er fest, dass ein minimales Lebensgefühl diesen Erlebnisstrom durchzieht und seine Erfahrbarkeit gewährleistet. Husserl nennt dieses Grundphänomen den »Puls dieses Lebens«, der die Struktur des Lebens als Gesetz des Stromes durchformt. Maurice Merleau-Ponty spricht schon in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) von einem »Pulsschlag der Existenz«, und Ernst Cassirer entwickelt in dieser Zeit in seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) den eng damit verwandten Begriff des »Pulsschlag[s] des Bewusstseins«. Der Aufsatz nimmt sich vor, Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Positionen zu rekonstruieren und zu problematisieren. Geklärt werden soll dabei, ob, und wenn ja, wie, das eigene Leben erfahrbar ist und ein berechtigter Gegenstand phänomenologischer Forschung sein kann. In his later manuscripts on the phenomenology of time, especially in the socalled Bernauer and C-manuscripts, Edmund Husserl poses the question of how the phenomenological stream of consciousness reveals itself. At the most basic level, he notes that a minimal sense of life pervades this stream of experience and ensures its ability to be experienced. Husserl calls this basic phenomenon the »pulse of life«, which shapes the structure of life insofar as it represents the lawfulness of the stream. Maurice MerleauPonty speaks of a »pulse of existence« already in his Phenomenology of Perception (1945), and Ernst Cassirer developed the closely related concept of the »pulse of consciousness« in his Philosophy of Symbolic Forms (1923– 1929). The essay aims to reconstruct and problematize the differences and similarities of these positions. The overall aim is to clarify whether and how one’s own life can be experienced and can be a legitimate object of phenomenological research.

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Das Leben erfahren

1.

Einleitung

Die Phänomenologie hat sich seit ihren Anfängen in Edmund Husserls früheren Werken mit dem Grundsatz identifiziert, dass die von ihr thematisierten Phänomene in irgendeinem Sinne aus der Erfahrung geschöpft werden müssen. Nicht nur das bekannte »Prinzip aller Prinzipien« 1, das Husserl in den Ideen I formuliert, betont die Rolle der Anschauung als absolute Quelle aller möglichen Erkenntnis, sondern auch Husserls Selbstverständnis, seine Philosophie sei der radikalste Empirismus, den es geben kann, 2 bestätigt den Anspruch, Phänomenologie sei eine Philosophie, die auf Erfahrung und Anschauung beruht. Wenngleich dieser Grundsatz für bestimmte phänomenologische Fragestellungen zumindest prima facie einleuchtend ist – zum Beispiel für die reichhaltigen Analysen der Wahrnehmung, des Raums und des Leibes, die Husserl und seine Nachfolger vorgelegt haben –, so ist es bei einigen klassischen Fragen der Philosophie schwieriger, genau auszubuchstabieren, wie der Rekurs auf die Erfahrung aussehen könnte und worin das anschauliche Material der Beschreibung bestehen könnte. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit einem Phänomen, dessen Erfahrbarkeit fraglich ist – oder zumindest nicht trivial zu sein scheint. Es geht dabei um das Leben als phänomenologisches Thema. Im Folgenden möchte ich untersuchen, inwiefern es wirklich als Phänomen verstanden werden kann, und inwiefern seine Erfahrbarkeit

1 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, erster Halbband, in: Husserliana (im Folgenden Hua), III.1, hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag, Springer, 1976, 51. 2 Vgl. das unveröffentlichte Manuskript B IV 2 II, das den Titel »Phänomenologie und Erkenntnistheorie (bzw. der traditionellen transzendentalen Erkenntnistheorie [sic]). Phänomenologie als Intuitionismus. Phänomenologie und Rationalismus als dessen radikale Vollendung; aber auch als radikaler Empirismus« trägt. Vgl. aber auch Edmund Husserl, Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23, in: Hua, Bd. XXXV, Heidelberg u. a., Springer, 2002, 288. (Dieser Band enthält einige Teile des Manuskripts, aber nicht den Titel). Hier kann man lesen: »Die Phänomenologie ist die extremste Vollendung des Rationalismus, sie ist aber ebenso gut zu bezeichnen als extremste Vollendung des Empirismus«. Zu dem Thema vgl. auch Vittorio De Palma, »Die Phänomenologie als radikaler Empirismus«, in: Studia Phaenomenologica, 12, 2012, 331–358.

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gewährleistet ist, sodass eine Phänomenologie des Lebens ein sinnvolles Unternehmen sein kann. 3 Bereits eine flüchtige Überlegung zeigt: Die Erfahrbarkeit des Lebens kann zweiseitig sein. Zum einen kann man die Erfahrbarkeit des Lebens erörtern, insofern wir das Leben anderer Lebewesen anschauen. Eine zentrale Frage ist in diesem Zusammenhang, ob sich mir das Leben anderer Lebewesen tatsächlich anders als irgendeine sonstige Bewegung zeigt. Diese Forschungsrichtung soll hier ausgeklammert werden, um eine zweite Untersuchungsrichtung besser unter die Lupe nehmen zu können: Wie steht es mit der Erfahrbarkeit meines eigenen Lebens? Fühle ich mich lebendig? Gibt es besondere Phänomene, die zeigen, dass das philosophierende Ich selbst lebendig ist, während es philosophiert? Die Schwierigkeit, den Begriff des Lebens adäquat zu beschreiben, liegt in der spezifischen Rekursivität, die dem Begriff anhaftet: Nur Lebendiges kann Leben thematisieren. Dieser Sachverhalt impliziert eine Abstandslosigkeit, die die Möglichkeit der Beschreibung und Analyse des Lebens grundsätzlich erschwert. Leben gehört, gemäß dem Vorschlag von Theodor Wiesengrund Adorno, gerade deswegen zu denjenigen Begriffen wie Raum und Zeit, die eminent philosophisch sind, weil sie undefinierbar sind. 4 Gerade aufgrund seiner Undefinierbarkeit ist es vielleicht sogar unmöglich, sich vorzunehmen, der Komplexität und Schwierigkeit des Lebensbegriffs im Ganzen Rechnung zu tragen. Im Folgenden soll die Frage nach der Erfahrbarkeit des Lebens eben aus diesem Grund in drei Perspektiven erörtert werden, drei Perspektiven, die um dasselbe Basisphänomen kreisen, nämlich um den phänomenologischen Befund, dass sich das Leben bzw. die Lebendigkeit durch eine pulsierende Struktur auszeichnet. Den Ausgangspunkt (2.) bildet wenig überraschend Husserl selbst, der in seiner späten Phase den Begriff des »Puls des Lebens« einführt, um ein grundsätzliches Phänomen im Erlebnisstrom zu benennen, das die Erfahrbarkeit des Lebens gewährleistet. Laut Husserl Überlegungen zu Husserls Lebensbegriff – auch mit Blick auf aktuelle biologische Lebensbegriffe – finden sich in Ralf Becker, »Die Sprache des Lebens. Husserl und Maturana über Beschreibung als Unterscheidung«, in: Julia Jonas/Karl-Heinz Lembeck (Hrsg.), Mensch – Leben – Technik. Aktuelle Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie, Könighausen & Neumann, Würzburg, 2006, 243–256. 4 Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie: zur Einleitung, hrsg. von Rudolf zur Lippe, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1973, 3–42. 3

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Das Leben erfahren

lässt sich das eigene Leben am Rhythmus des Existierens erfahren, ein Rhythmus, der dem Herzschlag entspricht. Husserls Begriff »Puls des Lebens« – dem Husserl selbst nur sehr sporadische Überlegungen widmet – wird von zwei Autoren wieder aufgegriffen, denen jeweils der zweite und der dritte Teil der Untersuchung gewidmet sind. Zum einen ist es nämlich Maurice Merleau-Ponty (3.), der schon in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1947) von einem »Pulsschlag der Existenz« 5 spricht und dabei im methodologischen Rahmen einer (revidierten) Phänomenologie bleibt. Zum anderen geht es um Ernst Cassirer (4.), der, auch wenn er sicher nicht der Phänomenologie zuzurechnen ist, mehrere Anknüpfungspunkte mit dieser Tradition bietet. Cassirer entwickelt nämlich – in denselben Jahren wie Husserl – in seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) den Begriff des »Pulsschlag[s] des Bewusstseins« 6. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die genannten Konzepte unter der Leitfrage zu diskutieren, ob, und, wenn ja, wie das eigene Leben erfahrbar ist und ein berechtigter Gegenstand phänomenologischer Forschung sein kann. Dabei sollen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der genannten Positionen rekonstruiert und problematisiert werden.

2.

Husserl

Die Frage nach der Erfahrbarkeit des Lebens wird insbesondere von Husserls transzendentalem Idealismus nahegelegt. Wenn nämlich durch die Reduktion das transzendentale Ich als Bedingung der Möglichkeit und Referenzpol aller Bewusstseinsakte herausgestellt wird, bleibt dieses Ich ein leerer Pol, der kein lebendiges Individuum ist, sondern im Grunde als eine rein logische Entität verstanden werden muss. In der Tat scheint zunächst das, was nach der Reduktion übrig bleibt, eine formale, leere Struktur: das ego cogito läuft daher Gefahr,

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von Rudolf Boehm, Berlin, de Gruyter, 62011, 104. 6 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, 236. 5

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Diego D’Angelo

»ein leeres Wort« 7 oder auch »inhaltsleer« 8 zu sein, weil, wie Husserl in der Krisis sagt, wir überhaupt nicht wissen, »was damit gewonnen sein soll« 9. Um die Konkretheit des Lebens zu gewinnen, bedient sich Husserl des Begriffs der Monade, den er von Leibniz übernimmt. Dieser Begriff bezeichnet die konkrete lebendige Subjektivität (im Gegensatz zur Reinheit des transzendentalen Ich), und zwar nicht als Pol ihrer Erlebnisse, sondern als Gesamtheit des Bewusstseinsstromes. 10 Allerdings lässt sich hinsichtlich des Begriffs der Monade fragen, ob die Monade ihr Leben selbst erlebt. Eine Thematisierung dieser Problematik erfolgt bei Husserl jedoch nicht so sehr im Zusammenhang mit den Überlegungen und den Analysen zur Intersubjektivität (in deren Rahmen der Begriff der Monade besonders prägnant zum Tragen kommt), sondern vielmehr in den späten Manuskripten zum Zeitbewusstsein. Für Husserl lässt sich nämlich die Frage nach der Erfahrbarkeit des Lebens so reformulieren, dass eine phänomenologisch adäquate Problemstellung entfaltet werden kann. Denn nach der Reduktion kann es selbstverständlich nicht darum gehen, zu fragen, wie das einzelne, empirische Individuum sein eigenes Leben erfährt, da bereits in den Ideen I deutlich wird, dass der empirische Mensch in der phänomenologischen Reflexion ausgeklammert ist. Deswegen neigt Husserl dazu, die Frage nach dem Leben nur unter einem einzigen Gesichtspunkt ins Auge zu fassen: Wie ist es möglich, dass der Strom des Bewusstseins sich selbst erlebt? 7 Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion, in: Hua, Bd. VIII, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1959, 126. 8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von Walter Biemel, in: Hua, Bd. VI, Den Haag, Martinus Nijhoff, 21976, 157. 9 Husserl, Krisis, Hua VI, 158. 10 Vgl. die klassische Definition in Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, in: Hua, Bd. I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag, Kluwer, 1991, 102: »Vom Ich als identischem Pol und als Substrat von Habitualitäten unterscheiden wir das in voller Konkretion genommene Ego (das wir mit dem Leibniz’schen Worte Monade nennen wollen), indem wir hinzunehmen, ohne was das Ich eben konkret nicht sein kann; nämlich das kann es nur sein in der strömenden Vielgestaltigkeit seines intentionalen Lebens und den darin vermeinten und ev. als seiend für es sich konstituierenden Gegenständen«. Zum Thema siehe auch Klaus E. Kaehler, »Die Monade in Husserls Phänomenologie der Subjektivität«, in: Tijdschrift voor Filosofie, 57(4), 1995, 692–709.

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Das Leben erfahren

Während sich die meisten Interpreten auf die Analysen der Zeitlichkeit, der Zeitdiagramme samt Retentionen und Protentionen sowie auf die doppelte Intentionalität der Zeiterfahrung einlassen, um diese Frage zu beantworten, 11 soll hier ein anderer Zugang versucht werden. Denn der Hinweis auf eine formale Struktur des Bewusstseins, die die sogenannte Selbsterscheinung des Flusses gewährleistet (so die gängige Antwort in der Forschung) 12, reicht nicht, um zeigen zu können, dass das Leben – als ein notwendigerweise empirisches Phänomen – tatsächlich erfahren wird. Interessanterweise übernimmt Husserl zur Zeit der C-Manuskripte, wo dieser Lösung besonders scharfe Analysen und Beschreibungen gewidmet sind, einen Begriff aus den Bernauer Manuskripten, in denen das Problem der Selbsterscheinung noch unbekannt war: der Puls des Lebens. In den C-Manuskripten fasst Husserl deswegen die Problemlage zusammen und schlägt einen ersten Weg zur Lösung des Problems vor: Die phänomenologische Reduktion hat das philosophierende Subjekt von der natürlichen Naivität seines Standpunktes befreit. Dieses Subjekt ist nicht mehr für sich selbst seiend »mit dem natürlichen Sinn menschliches Ich in der Welt« 13. Gerade deswegen »bin ich für mich nicht in Geltung; und doch bin ich noch für mich«. Aber dieses Für-mich-Sein nimmt eine besondere Form an: »Ich erfahre mich als ›reines‹ Ich auf mich selbst gerichtet und bestrebt, mich als dieses transzendentale Ich auszulegen, auf mich als Seiendes« 14. Die transzendentale Reduktion verbietet nicht, das Ich als Seiendes zu betrachten, denn die transzendentale Subjektivität ist ja ein Seiendes. Nun aber – anders als in den frühen Auslegungen des reinen Ich – kommt die Selbsterscheinung des Flusses zutage, die die Erfahrbarkeit dieser reinen Struktur der Subjektivität für sich selbst gewährleistet. So schreibt Husserl in einer Passage, die dem Lesen bemerkenswerte sprachliche Schwierigkeiten aufoktroyiert: Vgl. u. a. Nicolas De Warren, Husserl and the Promise of Time. Subjectivity in Transcendental Phenomenology, Cambridge (Mass.), Cambridge University Press, 2009. 12 Vgl. u. a. den klassischen Aufsatz Rudolf Bernets, »Die ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und Abwesenheit in Husserls Analyse des Zeitbewusstseins«, in: Phänomenologische Forschungen, 14, 1983, 16–57. 13 Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, hrsg. von Dieter Lohmar, in: Hua/Materialien, Bd. VIII, Den Haag, Springer, 2006, 29. 14 Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 29. 11

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Ich erfasse mich in ersten Auslegungen als zeitlich seiend in einer strömenden Zeitigung, d. i. in einem kontinuierlichen dahinströmenden Selbsterfahren, Wahrnehmen, mir originaliter Selbsterscheinen, und zwar in der Form meiner jetzt strömenden seienden Gegenwart bzw. der lebendig strömenden wahrnehmungsmäßigen Seinsweise. In dieser Gegenwart vollziehe ich Erinnerungen, und durch sie stellt sich mir in meiner lebendigen Gegenwart meine Vergangenheit als meine selbst gegenwärtige, also als strömend-wahrnehmungsmäßig Gewesen-Sein dar, und ähnlich habe ich gegenwärtig vor mir mein kommendes selbst Gegenwärtigsein, meinen Horizont der Zukünftigkeit. 15

Aber an sich ist auch die Selbsterscheinung des Flusses – als das Selbsterfahren des reinen Ich – leer und muss mit anschaulichem Inhalt gefüllt werden. Sicherlich sind Erinnerungen und Zukunft strukturell da, aber woran erinnert sich das reine Ich? Was erwartet das reine Ich? Wie Husserl bereits in den Vorlesungen zur Ersten Philosophie festhält, erfährt das Subjekt unter anderem sich selbst bzw. sein Leben, und zwar außerhalb jeder Möglichkeit des Zweifels: »Dieses erfahrende Leben ist und ist mein Leben, […] ein fortströmendes Sein als Ichleben, an dem ich nicht im mindesten zweifle, und zunächst keinen Anlaß habe, es in Zweifel oder irgendwelche kritische Frage zu ziehen: ich erfahre es ja kontinuierlich, ganz unmittelbar wahrnehmungsmäßig«. Es handelt sich somit um »mein empirisches Selbsterfahren als Ich-Mensch«, ein Selbsterfahren wiederum, das als eine »bloss subjektive Tatsache, als ein Puls meines Ichlebens genommen ist« 16. Gerade hier findet man ein komplexes Miteinander von Empirie und Apriorität vor. Denn der Inhalt der Erinnerungen und Erwartungen ist zunächst eine rein empirische Angelegenheit, während die Struktur des Lebensstromes als Zusammenhang von Vergangenheit, Jetzt-Zeit und Zukunft eine transzendentale Eigenschaft des Bewusstseins ist. Aber diese Struktur formt auch die Empirie durch, und das zeigt sich daran, dass konkret erfahrenes Leben ebenfalls in Phasen eingeteilt ist. »Das Leben in seiner Periodizität wird verstanden« 17, schreibt Husserl in einem der spätesten C-Manuskripte. Im Folgenden möchte ich drei Aspekte dieser Periodizität bzw. Rhythmik des Lebens, welche ihre Verständlichkeit gewährleisten, heraus-

15 16 17

Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 30. Husserl, Erste Philosophie, Hua VIII, 81. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 440.

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stellen: Die Rhythmik der Lebenspulse; die Periodizität von Schlafen und Tod; und die Limes-Phänomene der Geburt und des Todes als Grenzen dieser Rhythmik.

Lebenspulse Aufgrund der dargestellten Spannung zwischen der Unterscheidung von transzendentaler Subjektivität und empirischem Menschen einerseits und dem Problem der Erfahrbarkeit des eigenen Lebens andererseits kommt Husserl zur Feststellung, dass auf der untersten und einfachsten Ebene der Erlebnisse so etwas wie ein minimales Lebensgefühl den subjektiven Erlebnisstrom durchzieht und seine Erfahrbarkeit gewährleistet. Husserl nennt in einem Manuskript aus den Jahren 1929–1934 dieses Grundphänomen den »Puls dieses Lebens« 18. Anderenorts führt er diesen Gedanken wie folgt weiter: »So geartet ist die Struktur des Lebens, dass jeder Lebenspuls selbst dem Gesetz des konstituierenden Stromes unterliegt« 19. Wir haben es somit mit einem Schlüsselphänomen zu tun. Denn was Husserl hier behauptet, ist, dass der Erlebnisstrom – als fundamentale Instanz der Erfahrung – in seiner Zeitlichkeit einen Puls des Lebens aufweist, der die Struktur des Lebens selbst ausmacht. Das Leben ist für den späten Husserl immer »strömendes Leben« 20, das in sich Vergangenheit und Zukunft trägt; in dieser Konkretheit ist die Subjektivität eine Monade im oben definierten Sinne und »Menschen sind Objektivierungen von Monaden« 21. Das Gesetz der Zeitlichkeit Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 3. Edmund Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18), in: Hua, Bd. XXXIII, hrsg. von Rudolf Bernet und Dieter Lohmar, Den Haag, Springer, 2001, 168. Dieser Text stammt aus den Jahren 1917–1918. Andrea Staiti hat gezeigt, dass Husserl den Terminus ›Lebenspuls‹ vermutlich von Georg Simmel übernommen hat:»from the 1920s onwards Husserl integrates more and more into the language of phenomenology terms and phrases that he borrowed from the tradition of Lebensphilosophie. For instance, Husserl uses Simmel’s metaphor of Pulsschläge (pulsebeats), to designate the generation of single acts of consciousness issuing from the transcendental ego, […] The Erste Philosophie lecture […] was given during the same semester in which Husserl held his seminar on Simmel’s Probleme der Geschichtsphilosophie« (Andrea Staiti, Husserl’s Transcendental Phenomenology. Nature, Spirit, Life, Cambridge [Mass.], Cambridge University Press, 2014, 174–175). 20 Vgl. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 17. 21 Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 22. 18 19

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des Bewusstseins umfasst in der lebendigen Gegenwart der Erfahrung immer Protentionen und Retentionen, die auf andere Momente dieses Stroms selbst hinweisen: »Zu meinem Leben gehört seine, die Vergangenheit, für mich erscheinend, für mich als seiend geltend, dann weiter ›eine Zeit lang‹ bestätigt geltend, dann aber durchstrichen als Schein. Nun, die Zukunft ist Vor-Wurf der Vergangenheit, also gilt da Ähnliches« 22. Der Puls des Lebens ist somit kein einfaches, punktuelles Phänomen, sondern trägt immer mit sich eine Vergangenheit und eine Zukunft. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass der rhythmische Puls erst dann wirklich ›Puls‹ sein kann, wenn er sich wiederholt. Damit ein Rhythmus entsteht – bspw. damit der Herzschlag als Herzschlag erfahren werden kann und nicht als zufälliger, isolierter Schlag –, müssen vergangene Schläge erfahren worden sein und zukünftige Schläge müssen zu erwarten sein. Leben ist daher nur Leben in einer zeitlichen Erstreckung mit einer eigenen Periodizität und Rhythmik. Dieses Phänomen bezeichnet Husserl in den Bernauer Manuskripten auch als »Bewusstseinslebendigkeit« 23. So beschreibt Husserl dieses Phänomen: Bewusstsein ist Leben, und alles Leben nach seinen besonderen Lebenspulsen ist Leben im Verleben, im stetigen Dahingehen des Lebens, und alles konkrete Leben des Lebensstroms ist eine Einheit immer neuer Lebenspulse, die ihrerseits ›auftreten‹ und ›vergehen‹, dahinschwinden. Schon in der anschaulichen Strecke nimmt die Lebendigkeit ab, das Abklingen ist noch während des eigentlichen anschaulichen Abklingens ein Verklingen, ein Dahinschwinden, und ist es noch, nachdem schon die Fülle der Anschaulichkeit dahin ist. 24

Unter anderem wird die Lebendigkeit des Bewusstseins dadurch erfahrbar, dass besondere Triebe rhythmisch strukturiert sind: Das Bedürfnis nach Schlaf, Wasser, Nahrung sowie andere körperliche Funktionen wiederholen sich in bestimmten zeitlichen Abständen. Auch Hunger hat eine Periodizität – worauf Husserl selbst im Kontext dieser Überlegungen hinweist. 25

22 23 24 25

Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 91. Husserl, Bernauer Manuskripte, Hua XXXIII, 69. Husserl, Bernauer Manuskripte, Hua XXXIII, 69. Vgl. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 314 aber auch 326–327.

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Hauptsächlich verwendet Husserl hier den Begriff der Lebenspulse, und zwar nicht nur in den schon angeführten Passagen der CManuskripte, sondern auch in den Vorlesungen zu Natur und Geist aus dem Jahr 1927, 26 in einer Beilage zu den Kaizo-Artikeln 27 sowie an zahlreichen Stellen in den Studien zur Intersubjektivität. 28 Die gesamte lebendige Gegenwart ist in Pulsen strukturiert, 29 sodass Husserl von dem »lebende[n] Pulsschlag der Gegenwart« 30 sprechen kann. Ich bin nun ein »Objektiv-Identisches« »mannigfaltiger Selbsterfahrungen«; »[…] ich bin – und in meinem Sein habe ich Selbsterfahrung – als Puls meines Seins« 31. Auch in seinen Vorlesungen zur Phänomenologischen Psychologie betont Husserl die Rolle dieser Lebenspulse für die Selbsterfahrung des Subjekts: Das lebendige Leben strömt immerfort dahin und es ist nicht nur, es ist erlebt und jederzeit kann sich darauf ein Beachten, ein Bedenken, Bewerten usw. richten. Das aber sind selbst nur neue Pulse dieses Lebens, ihm nicht äußerlich, sondern ihm selbst als Moment eingeordnet, als Erleben im Leben auftretend, auf einzeln sich abhebendes Leben in der ungebrochenen Einheit eines Lebens und Erlebens gerichtet. 32

Im Grunde kann man also das Wesen des Lebenspulses als eine Rhythmik von Bewusstseinsakten fassen: Die Wahrnehmung ist beispielsweise »ein einheitlicher Puls des Wahrnehmens« 33, aber das

Vgl. Edmund Husserl, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, in: Hua, Bd. XXXII, hrsg. von Michael Weiler, Den Haag, Springer, 2001, 172. 27 Vgl. Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), in: Hua, Bd. XXVII, hrsg. von Thomas Nenon und Hans-Reiner Sepp, Den Haag, Springer, 1989, 97. 28 Um nur einige Beispiele zu erwähnen, siehe Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Zweiter Teil, 1921–1928, in: Hua, Bd. XIV, hrsg. von Iso Kern, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1973, 160, 202, 409, sowie auch Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Dritter Teil, 1929–1935, in: Hua XIV, 28. 29 Iso Kern betont in seiner klassischen Monographie die Funktion der Subjektivität als ein ständiges nunc stans, das »stehend-strömend« ist (Iso Kern, Lebendige Gegenwart, Den Haag, Springer, 1966, 135). Der Begriff des Pulses dient im Grunde genommen dazu, die Dynamik des Stehens und Strömens besser ins Auge zu fassen. 30 Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil, Hua XIV, 359. 31 Husserl, Erste Philosophie, Hua VIII, 472. 32 Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925, in: Husserliana, Bd. IX, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag, Martinus Nijhoff, 21968, 8, vgl. auch 482. 33 Husserl, Bernauer Manuskripte, Hua XXXIII, 69. 26

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trifft auf die sonstigen noetischen Formen der Bewusstseinsakte ebenso zu: »In jedem Lebenspuls ist doch menschliches und tierisches Seelenleben Bewusstsein von dem und jenem. Als ganzes ist es zu charakterisieren als kontinuierlich einheitlicher Strom sich immer neu gestaltenden Bewusstseins, vorstellenden, urteilenden, fühlenden, strebenden, handelnden Bewusstseins, eines Bewusstseins, das überaus mannigfache Formen hat« 34.

Schlafen und Wachen Eine ähnliche Rhythmik zeichnet sich für Husserl auch in den Wachund Schlafphasen aus, denen er in seinem Spätwerk zahlreiche Analysen widmet: Im faktischen Leben finden wir die Periodizität von Schlafen und Erwachen, wobei das Erwachen zugleich Erwachen über eine verfügbare Erinnerungssphäre ist, die (abgesehen von den Träumen, die im traumleeren Schlaf, wie wir meinen, ganz fehlen) mit der neuen Wachsphäre sich synthetisch vereinigt in der Form: eine Erfahrungslücke, eine erinnerungslose Sphäre ist dazwischen, in der doch die Dinge und Vorgänge weiterdauerten, »da«, sie als dieselben, nur ereignismäßig vorgeschrittene »noch da sind«, »noch fortlaufen«. 35

Wichtig ist nun, dass die Rhythmik zwischen Schlafen und Wachen eine anschaulich erfahrene Rhythmik ist; denn im Wachen kann ich immer rekonstruieren, dass ich geschlafen habe, und das bedeutet: Ich kann im Wachen mein Wissen um die Schlafphasen mit ihrer Periodizität von Schlafen und Wachen konstituieren. Durch diese Konstitution kommt das Subjekt dazu, die »Periodizität« 36 von Schlafen und Wachen zu fassen.

Geburt und Tod Der Strom des Lebens ist nicht nur zeitlich erstreckt und rhythmisch strukturiert – er ist auch durch Geburt und Tod abgegrenzt. »Aber das

34 35 36

Husserl, Krisis, Hua VI, 59. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 156–157. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 156–157.

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Leben ist und bleibt doch endlich« 37 stellt Husserl in den C-Manuskripten (vielleicht mit einer gewissen Enttäuschung) fest. Denn obwohl die transzendentale Subjektivität selbst laut Husserl unsterblich ist, 38 gehören der Monade Geburt und Tod als ein »Relatives« in der »Funktion« 39 der Weltkonstitution zu: Geburt und Tod sind keine absoluten Grenzen der Monade, sondern nur Momente, wo die Monade völlig anders in die Konstitution der Welt eingreift. Husserl schreibt, dass, wenn seine Analysen richtig sind, »jede Monade […] vor dem Geborenwerden ihr außerweltliches Leben, wie nach ihm,« 40 hat. Geburt und Tod sind damit Veränderungen, aber nicht komplette Unterbrechungen im Rhythmus der pulsierenden Weltkonstitution. Aber nicht nur wird die Monade geboren und stirbt, sondern sie verfügt auch über ein Wissen darum. Anders gesagt: »ich werde sterben« 41 ist eine Erkenntnis, dessen Quellen Husserl nicht direkt aufspürt (woher wissen wir, dass wir sterblich sind?), die aber trotzdem eine Seite eines basalen Wissens um das eigene Leben darstellt, das dem Ich als Monade innewohnt. Die andere Seite dieses Wissens lautet: »ich bin – ich lebe« 42. Nun scheint es möglich, Ansätze für die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung dieses Wissens des eigenen Lebens und Lebendig-seins (anders als beim Wissen um die eigene Sterblichkeit) bei Husserl selbst finden zu können. Dieses Wissen meines Lebendigseins fußt auf einer ursprünglichen Erfahrung meiner Selbst: »Ich erfahre mich als die im strömenden Leben seiende und in diesem Leben mich in der ersten Zeitlichkeit konstituierende Subjektivi-

Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 165. Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil 1905–1920, in: Husserliana, Bd. XIII, hrsg. von Iso Kern, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1973, 14: »Die räumlich-zeitliche Unendlichkeit der Welt fordert Endlosigkeit der in Kommunikation stehenden absoluten Bewusstseine«; vgl. auch Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil, Hua XIV, 154: »Das Ich kann nicht entstehen und vergehen«, sowie Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–1926), in: Hua, Bd. XI, hrsg. von Margot Fleischer, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1966, 377: »Unsterblichkeit des transzendentalen Ich – Unmöglichkeit, dass das transzendentale Ich geboren wird«. 39 Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 171. 40 Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 171. 41 Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 169. 42 Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 3. 37 38

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tät« 43. Dies bedeutet, dass das Subjekt ständig sich selbst erfährt im Strom der zeitlich strukturierten Erlebnisse und unmittelbar um sich selbst weiß. Das Leben ist skandiert durch Bewusstseinsakte, die in jedem Moment (mit dem hier zentralen Begriff ausgedrückt: in jedem Puls des Lebens) auf etwas gerichtet sind: Das Subjekt ist affiziert von seiner Umwelt und antwortet darauf 44. Schon auf dieser Ebene ist das Leben nicht nur zeitlich skandiert durch das ständige Strömen von Bewusstseinsakten und -erlebnissen, sondern auch schon zeitlich erstreckt – also keineswegs auf ein punktuelles Erlebnis eingeschränkt. Das Leben ist immer schon ›mannigfaltiges Leben‹, das eine Lebenszukunft vorzeichnet und eine Lebensvergangenheit mit sich trägt und immer wieder konstituiert. 45 So schreibt Husserl: Aber was für mich ist, ist als Einheit im urphänomenalen Strom meines fungierenden Lebens; und jeden Puls dieses Lebens, sowie ich diesen als seiend im ›Gegenüber‹ habe (darauf gerichtet bin), finde ich selbst wieder als Einheit, als im Strömen Verharrendes und verharrend, während seine Erscheinungsweisen, seine subjektiven Modi, in denen es sich mir darstellt, bzw. erscheint, sich abwandeln. 46

Zusammenfassend kann man also in Husserls Beschreibungen der Selbsterfahrung des Lebens folgende zentrale Punkte festhalten: Das Leben ist laut Husserl (1.) durch Lebenspulse in seiner Rhythmik skandiert und seine Lebendigkeit in Phasen des Schlafens und Wachens eingeteilt (2.). Hinzu kommt, dass diese Lebensrhythmik klar abgegrenzt ist, und zwar durch (3.) Geburt und Tod. Erst das Pulsieren dieser Rhythmik macht es möglich, dass das Leben sich für dieses Leben selbst zeigen kann.

3.

Merleau-Ponty

Merleau-Ponty führt in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung die Thematik des Lebenspulses weiter. Genauso wie bei Husserl findet sich auch bei ihm die Erörterung dieses Phänomens nur an vereinzelten Stellen; trotzdem besitzt auch für ihn – ebenso wie für Husserl – das Thema einen ausgezeichneten systematischen Wert. 43 44 45 46

Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 32. Vgl. dazu Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 60. Vgl. zu diesem Punkt u. a. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 98. Husserl, Späte Texte, Hua/Materialien VIII, 3.

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Das Leben erfahren

Hat Husserl den Pulsschlag des Lebens als rhythmische Gestaltung des Erlebnisstromes direkt in die Mitte der transzendentalen Subjektivität gelegt, so ist die Stellung des Pulsschlags bei MerleauPonty in einem eminenten Sinne wie seine gesamte Philosophie »ambigu« 47. Der Pulschlag ist nämlich nicht mehr im Subjekt zu verorten, sondern gerade an der Schwelle zwischen Bewusstsein und Welt, also in der Wahrnehmung, die das Hauptthema von Merleau-Pontys Überlegungen bildet und eine Zwischenwelt zwischen Idealismus und Empirismus sowie zwischen Dingen und Subjekten darstellt. Insbesondere dient der Begriff des Pulsschlags dazu, zu vermeiden, dass das Zur-Welt-sein als Alleinstellungsmerkmal des Bewusstseins auf eine idealistische Konstruktion des Bewusstseins reduziert wird. Denn der Pulsschlag der Existenz führt dazu, dass nicht alles ein vom Subjekt Gewolltes ist; etwas im Leben entzieht sich dem Bewusstsein. So schreibt Merleau-Ponty in seinem Kapitel der Phänomenologie der Wahrnehmung, das mit »Der Leib« betitelt ist: Es gibt also eine gewisse von allen Reizen relativ unabhängige Konsistenz unserer ›Welt‹, die eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf eine Summe von Reflexen ausschließt; es gibt eine gewisse von allem willentlichen Denken relativ unabhängige Kraft des Pulsschlages der Existenz, die ebenso eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf einen Akt des Bewußtseins ausschließt. Die ihm eigene präobjektive Sicht unterscheidet das Zur-Welt-sein von jedem Prozeß dritter Person, von jederlei Modus der res extensa, wie auch von jederlei cogitatio, jeder Erkenntnis in erster Person: so vermöchte es zwischen ›Psychischem‹ und ›Physiologischem‹ eine Brücke zu schlagen. 48

Der Pulsschlag der Existenz gehört also zu einer präobjektiven Sichtweise dazu. Diese Sichtweise ist aber gerade deswegen ›präobjektiv‹, weil in ihr noch keine identischen Gegenstände konstituiert worden sind – Erkenntnis im eigentlichen Sinne hat noch nicht stattgefunden. Als zweiseitiges Phänomen korreliert der Pulsschlag der Existenz auf der Seite des Lebens mit der Konsistenz der Umwelt, innerhalb derer sich dieses Leben selbst abspielt, und geht jeder Konstitution von objektiv gültigen Gegenständen voraus.

Für den Vorschlag, Merleau-Pontys Phänomenologie als eine Philosophie der Ambiguität zu verstehen, siehe Alphonse De Waelhens, Une philosophie de l’ambiguïté. L’existentialisme de Maurice Merleau-Ponty, Louvain, Publications universitaires de Louvain, 1951. 48 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 104 (Hervorh. d. Verf.). 47

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Es ist nun nicht ganz einfach zu verstehen, wie genau MerleauPonty das meint. Denn wenn der Begriff des Pulsschlages an der Schwelle zwischen Subjekt und Objekt angesiedelt werden soll, damit die klassischen Dualismen der Philosophie überwunden werden können, dann muss noch erklärt werden, wie eine neue Dualität – nämlich die zwischen Pulsschlag der Existenz auf der einen Seite und Konsistenz der Welt auf der anderen – diese Dualismen beseitigen können soll. Handelt es sich nicht vielmehr um das Ersetzen eines Dualismus durch einen anderen? Nun ist es aber gerade eine klassische Gedankenfigur bei Merleau-Ponty, dass er scheinbar unüberbrückbare Dualitäten auf kleinere begriffliche Dualitäten zurückführt, die dann überwunden werden können. Das passiert auch in dem hier thematisierten Fall, und zwar durch einen Begriff, der im Titel des Kapitels schon vorweggenommen wird und der von seinem Erstlingswerk Die Struktur des Verhaltens bis zum späten, unvollendeten Das Sichtbare und das Unsichtbare den Schlüsselbegriff der Phänomenologie Merleau-Pontys ausmacht: der Leib. Man kann die Ergebnisse von Merleau-Ponty wie folgt zusammenfassen und auf den zentralen Punkt bringen: das Zwischen zwischen Existenz und Welt, zwischen Rhythmik des Pulsschlages und konsistenter Dauer, ist der Leib. So schreibt Merleau-Ponty im bereits erwähnten Kapitel aus der Phänomenologie der Wahrnehmung: Wenn Gegenstände mir notwendig stets nur eine ihrer Seiten zeigen, so weil ich selbst einen bestimmten Platz einnehme, von dem aus ich sie sehe, den ich selbst aber nicht sehen kann. Wenn ich gleichwohl an das Sein ihrer verborgenen Seiten wie auch an das einer sie alle umfassenden, mit ihnen koexistierenden Welt glaube, so darum, weil mein Leib, der mir stets gegenwärtig, gleichwohl aber durch vielfache objektive Bezüge mit ihrem Milieu verbunden ist, sie in Koexistenz mit sich erhält und alles mit dem Pulsschlag seiner Dauer durchdringt. 49

Wie aus diesem Zitat ersichtlich, verbindet der Begriff eines Pulsschlags der Existenz bei Merleau-Ponty zwei Themen, die wir schon bei Husserl im Anschluss an diesen Begriff kennengelernt haben: Zeit und Leiblichkeit. 50. Denn das, was im obigen Zitat der Puls der ExisMerleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 117 (Hervorh. d. Verf.). Ein Vergleich von Merleau-Ponty und Husserl bezüglich dieser Begriffe wird ausführlich von Jenny Slatman unternommen: Jenny Slatman, »The Sense of Life: Husserl and Merleau-Ponty on Touching and Being Touched«, in: Chiasmi International, 7, 2005, 305–324.

49 50

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tenz genannt wurde, nimmt nun eine genauere Konturierung an: Es handelt sich um den Pulsschlag der Dauer des Leibes, also eine Zeitlichkeit, die mit der leiblichen Strukturiertheit des Organismus verbunden ist. Ohne auf Merleau-Pontys Analysen der Zeitlichkeit hier eingehen zu können, 51 lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass die ganze Konstitution der Zeitlichkeit für Merleau-Ponty durch das Medium des Leibes stattfindet. 52 Das ist deswegen möglich, weil der Leib eine eigene minimale Zeitlichkeit umfasst. Was wäre nun aber die Dauer des Leibes, wenn nicht die Dauer einer Lebensspanne, die sich im Leib abspielt? Der Leib ist kontinuierlich ›zur Welt‹, d. h. er ist in ein Verhältnis zur Umwelt gesetzt, das sich perspektivisch gestaltet. Das Verhalten des Leibes zu den Dingen ist durch die notwendige Perspektivität der Gegebenheit der Dinge bedingt, sodass der Raum selbst zu einer Funktion der Zeitlichkeit des leiblichen Pulsschlages wird: Die Dinge koexistieren im Raume, da sie demselben Wahrnehmungssubjekt gegenwärtig und von einer einzigen Zeitwelle getragen sind. Doch Einheit und Individualität einer jeden Zeitwelle sind nur insofern möglich, als diese eingedrängt ist zwischen die ihr vorangehende und die ihr folgende und als derselbe Pulsschlag der Zeit, der sie entspringen läßt, auch noch die vorangehende retiniert und schon die folgende zum voraus vorhält. 53

Der Pulsschlag der Zeit ist, wie oben gezeigt, mit dem Pulsschlag der leiblichen Dauer gleichzusetzen, und die Individualität der Zeitstelle ist gerade dadurch gewährleistet, dass der Puls schlägt. Erst durch diese Absicherung wird die Einheit und Individualität der Zeitstelle möglich, und auf dieser gründet wiederum die Einheit des Raumes; denn unterschiedliche Perspektiven im Raum sind nur möglich entlang sukzessiver Zeitstellen. Hat sich nun der Pulsschlag der leiblichen Dauer der Existenz als Bedingung der Möglichkeit sowohl für Raum als auch für Zeit herausgestellt, so gilt es nun, genauer zu verstehen, wie dieser Pulsschlag beschrieben werden kann. Leider ist Merleau-Ponty – genauso wie Husserl – in seinen Anmerkungen zu diesem Phänomen äußerst Zu diesem Thema vgl. Rudolf Boehm, »Zeitlichkeit und Endlichkeit bei MerleauPonty«, in: Phänomenologische Forschungen, 13, 1982, 90–103. 52 Vgl. Maria Catena, »The Time of the Body in Maurice Merleau-Ponty«, in: Flavia Santoianni (Hrsg.), The Concept of Time in Early Twentieth-Century Philosophy, Den Haag u. a., Springer, 2016, 85–94. 53 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 320. 51

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sparsam. Interessant ist aber, dass Merleau-Ponty das Thema – auch hier Husserl vergleichbar – wieder im Hinblick auf den Schlaf und die Wachphasen des Lebens zu deuten scheint. Allerdings steht für ihn nicht der Schlaf als solcher im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern eine besondere Schlaferscheinung: der Traum. Denn hier zeigt sich besonders deutlich, wie der Sinn dessen, was geträumt wird, im Pulsieren der Existenz des Träumenden liegt. Merleau-Ponty nimmt als Beispiel den Traum, in dem der Träumende träumt, ein Vogel zu sein, der zunächst im Himmel schwebt, dann aber plötzlich zu Boden fällt und zu Asche wird: Träume ich zu fliegen oder zu fallen, so ist der ganze Sinn des Traumes in diesem Flug oder diesem Sturz enthalten, wenn ich beides mit all seinen existentiellen Implikationen nehme, und nicht auf physische Erscheinungen der Welt des Vortages reduziere. Der Vogel, der schwebt, fällt und zu einem Häuflein Asche wird, schwebt und fällt nicht im physischen Raum, er erhebt und senkt sich mit einer ihn durchdringenden existentiellen Flut oder ist das Pulsieren meiner Existenz selbst, ihre Systole und Diastole. Das von dieser Flut in jedem Augenblick erreichte Niveau bestimmt einen Raum der Phantasmen, so wie im wachen Leben unser Umgang mit der sich uns darbietenden Welt einen Raum der Wirklichkeiten bestimmt. 54

Dass diese Traumanaylse deutliche Elemente enthält, die gegen Freuds Traumdeutung gehen, sei hier aus Platzgründen dahingestellt. 55 Bezeichnend ist aber, dass sich diese Beschreibung des Traumes im Kapitel »Der Lebensraum« 56 befindet. Denn hier unternimmt Merleau-Ponty eine Analyse unterschiedlicher Raumtypen, die sich gegenüber dem geometrischen Raum als ursprünglicher erweisen. Sowohl dem mythischen als dem geschlechtlichen Raum liegt eine solche Primordialität inne; aber Merleau-Ponty beschreibt auch die »Räumlichkeit der Nacht« 57 als eine Räumlichkeit, die der Geometrie vorausgeht. Anders als der leblose Raum der Geometrie, der nur noch auf Mathematisierungen und Schematisierungen basiert, ist der Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 331. Vgl. Sigmund Freud (1989), Die Traumdeutung, in: Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. 1, München, Fischer Verlag, 1989; als Forschungsbeiträge sei hier auf James Morley, »The Sleeping Subject: Merleau-Ponty on Dreaming«, in: Theory & Psychology, 9(1), 1999, 89–101, sowie auf Dorothea E. Olkowski, »Merleau-Ponty’s Freudianism: From the Body of Consciousness to the Body of Flesh«, in: Review of Existential Psychology and Psychiatry, 18(1–3), 1982, 97–116, hingewiesen. 56 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 320–341. 57 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 323–325. 54 55

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Das Leben erfahren

Raum der Nacht vom Puls des Lebens durchzogen sowie von der Undurchdringlichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung – wozu auch die Erfahrungen und Erlebnisse in Träumen gehören. Dem Lebensbegriff kommt gerade wegen dieser Ursprünglichkeit in unterschiedlichen Erfahrungsarten, wie schon von anderen Interpreten bemerkt, eine Apriorität zu. 58 Allerdings ist hier eine Spezifizierung erforderlich: denn der Lebensbegriff, der hier ins Spiel kommt, ist vom personalen Lebensbegriff zu differenzieren. Das Leben in seinem Pulsschlag ist dem Subjekt zwar präobjektiv bewusst, und zwar als eine organische Bedingung der Erkenntnis und der Wahrnehmung. Die organischen Bedingungen – deren wichtigste eben der Pulsschlag ist – sind vom Subjekt nicht objektiv erkannt, aber doch präobjektiv bewusst, und zwar gerade im träumerischen Bewusstsein und in der Wahrnehmung außerhalb jeder Geometrisierung. In meiner personalen Existenz von einer Zeit getragen, die nicht ich konstituiere, schattet sich jede Wahrnehmung mir auf dem Untergrunde einer Natur ab. Wahrnehmend bin ich mir, selbst ohne jede Kenntnis der organischen Bedingungen meines Wahrnehmens, einer Integration von träumerischem und zerstreutem Bewusstsein, Gesicht, Gehör, Gefühl, mit vorgängig gegebenen Feldern bewußt, die meinem personalen Leben fremd bleiben. 59

Zusammenfassend kann man festhalten, dass für Merleau-Ponty sich das Leben dem Subjekt gerade darin zeigt, dass es durch einen Pulsschlag der Existenz durchdrungen ist. Die Art und Weise, wie dieses Sich-Zeigen gestaltet ist, ist ein Bewusst-Haben in der Form der rohen, primitiven Wahrnehmung, die jeder Form objektiv-gegenständlicher Erkenntnis vorausgeht. Dieser Lebenspuls ist genauer zu »Die Apriorität des Lebensbegriffs ist nun aber nicht gleichbedeutend mit der Unfehlbarkeit seiner Zuschreibung. Der stets mögliche Irrtum in der konkreten Begegnung mit Lebendigem hingegen ist kein Argument gegen die Apriorität des Begriffs. Niemals weiß ich mit absoluter Sicherheit, ob ein gegebenes Objekt lebendig ist oder nicht. Die Horizonthaftigkeit der Wahrnehmung macht eine solche Sicherheit prinzipiell unmöglich. Andererseits ist gerade die ständige Präsenz dieser Alternative in meinem Wahrnehmungsfeld Beweis genug für die zentrale Stellung, die das Lebendige innerhalb unserer Welterfahrung einnimmt: Leben ist etwas, von dem wir ausgehen« (Juliane Keusch, »Leiblichkeit und Lebendigkeit in der Phänomenologie Merleau-Pontys«, in: Thomas Ebke/Caterina Zanfi [Hrsg.], Das Leben im Menschen oder der Mensch im Leben? Deutsch-Französische Genealogie zwischen Anthropologie und Anti-Humanismus, Potsdam, Universitätsverlag Potsdam, 2017, 437–454, hier 454). 59 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 398. 58

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charakterisieren als Pulsschlag der leiblichen Dauer, die Konstitutionsquelle sowohl von Raum als auch von Zeit ist. 60.

4.

Cassirer

Cassirer entwickelt seine Sichtweise in Bezug auf die Problematik der Selbsterscheinung des Lebens u. a. in Abgrenzung von Henry Bergson. Für ihn bleibt Bergson mit seinem élan vital als einem Lebensimpuls, der alle vitalen Tätigkeiten trägt, immer noch im Bann eines zu überwindenden Naturalismus. Denn der élan vital als Struktur des bloßen Lebens wird bei Bergson den Funktionen, Strukturen und Leistungen des Geistes entgegengesetzt. Gerade dagegen möchte Cassirer argumentieren, um einen umfassenderen, nicht-naturalistischen Lebensbegriff zu entfalten. 61 Hier [und zwar in der Betonung des Gegensatzes zwischen Natur und Kultur, schreibt Cassirer,] zeigt sich Bergson, wenngleich er nicht müde wird, den scharfen Gegensatz zwischen dem Weg der metaphysischen Intuition und den Wegen der naturwissenschaftlichen Empirie zu betonen, dennoch als Sohn eines naturalistisch orientierten und naturalistisch-gebundenen Zeitalters. Denn es ist ein Kennzeichen des Naturalismus, wenn alle wahrhafte Selbsttätigkeit, alle Produktivität und Ursprünglichkeit dem élan vital, dem Lebensschwung, vorbehalten wird, während der Arbeit des Geistes eine bloß negative Bedeutung zugewiesen wird. 62

Obwohl eine Untersuchung der späteren Texte von Merleau-Ponty hier aus Platzgründen ausgeschlossen bleiben muss, deuten die Ergebnisse der Analyse auf eine deutliche Nähe zu Konzeptionen aus der Prosa der Welt (Maurice Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, übers. von Regula Giuliani, München, Wilhelm Fink, 1993) und aus den späten Vorlesungen zum Naturbegriff am Collège de France (Maurice Merleau-Ponty, Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, übers. von Mira Koller, München, Wilhelm Fink, 2000). Zum Lebensbegriff in diesen Vorlesungen vgl. Tristan Moyle, »Re-Enchanting Nature: Human and Animal Life in Later Merleau-Ponty«, in: Journal for the British Society for Phenomenology, 38(2), 2007, 164–180; zu anderen Schriften von Merleau-Ponty – vor allem in Abgrenzung von Descartes – vgl. Felix O. Murchardha, »The Place of Life in Merleau-Ponty and Descartes«, in: Chiasmi International, 7, 2005, 209–222. 61 Für weitere Ausführungen zu Cassirers Lebensbegriff vgl. Christian Möckel, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg, Meiner, 2005. Vgl. dazu Christian Möckel, Die Philosophie Ernst Cassirers. Vom Ausdrucks- und Symbolcharakter kultureller Lebensformen, Hamburg, Meiner, 2008, 23. 62 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 45. 60

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Das Leben erfahren

Gegen Bergsons Position betont Cassirer, dass alle Tätigkeiten des Organismus auf einen Lebenspuls zurückzuführen sind – das gilt auch für die vermeintlich höheren geistigen und kulturellen Funktionen. Bergsons Position führt laut Cassirer dazu, dass die Betonung des reinen Lebens keine Möglichkeit mehr in sich enthält, ein Wissen vom Leben selbst zu erreichen: »Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin in sich selbst bleibt« 63. Man könnte – etwas überspitzt formuliert – die ganze Aufgabe des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen gerade dahingehend zusammenfassen, dass man die Absicht Cassirers unterstreicht, Momente einer Selbsterfassung (bzw. Selbsterkenntnis) des Lebens durch ein phänomenologisches Instrumentarium zu erfassen. Insofern möchte ich den Interpreten Cassirers zustimmen, 64 die dafür argumentieren, dass Cassirer sich mutatis mutandis nicht in einem völlig anderen methodischen Rahmen bewegt als Husserl und Merleau-Ponty. Schon am Ende der »Einleitung« beschreibt Cassirer sehr klar, wie die Selbsterfassung des Lebens stattfinden kann: Die Formen, in denen sich das Leben äußert und vermögen deren es seine ›objektive‹ Gestalt gewinnt, bedeuten für dasselbe ebensowohl Widerstand, wie sie seinen unentbehrlichen Wiederhalt bezeichnen. Wenn sie ihm Schranken setzen, so sind es doch solche, an denen es seiner Kraft erst bewusst wird, und vor denen es seine Kraft erst gebrauchen lernt. Die scheinbare Gegenkraft wird selber zum Impuls der Gesamtbewegung: die Richtung auf die Äußerlichkeit nicht der Dinge, sondern der Formen und Symbole, gibt den Weg an, auf welchem die reine Subjektivität sich erst selber findet. 65

Denn für Cassirer ist das Leben die Quelle der symbolischen Formen, und zwar nicht nur im Sinne eines unbewussten Impulses, sondern auch in der Möglichkeit, dass diese Formen bewusst werden. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 46. Obwohl Cassirer in der »Einleitung« zu diesem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen explizit sagt, dass sein Phänomenologiebegriff vielmehr von Hegel als von Husserl abhängt (vgl. etwa Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 6), legen die hier skizzierten Überlegungen nahe, dass Cassirers Abstand zu Husserl nicht so groß ist. Diese Auffassung stimmt mit einigen Positionen in der Forschung überein, von denen hier exemplarisch Sebastian Luft, »A Hermeneutic Phenomenology of Subjective and Objective Spirit: Husserl, Natorp and Cassirer«, in: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy, 4, 2004, 209–248, erwähnt sei. 65 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 47–48. 63 64

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Diego D’Angelo

In diesen wenigen Zeilen kann man sowohl Cassirers Gesamtprojekt als auch den Gedankengang dieses Aufsatzes veranschaulicht sehen. Denn es geht ihm gerade darum, die Selbsterfassung der reinen Subjektivität zu verstehen. Die Frage ist jedoch, ob die reine Subjektivität und das Leben wirklich dasselbe sind. Ist nicht Cassirer auf dem klassischen Weg einer Transzendentalphilosophie, die mit der Empirie des tatsächlichen Lebens nicht viel gemeinsam hat? Soll man nicht Cassirers Gesamtprojekt besser mit Husserls Projekt einer transzendentalen Phänomenologie vergleichen als mit seinen knappen Ausführungen zum Lebenspuls? Aber gerade Merleau-Ponty hat gezeigt, dass die reine Subjektivität ohne Leben nicht denkbar ist, und durch den (obwohl kritischen) Rekurs auf Bergson zeigt Cassirer, dass er eine ähnliche Richtung einschlägt. Denn auch für ihn ist die reine Subjektivität nichts, dem die Welt entzogen werden kann; vielmehr handelt es sich um eine Subjektivität, die sich erst in Richtung auf die Welt findet. Wie bei Merleau-Ponty das Bewusstsein durch sein ZurWelt-sein ausgezeichnet ist, so ist Selbstbewusstsein bei Cassirer das Produkt von gegeneinander strömenden Impulsen: Die Kraft des Subjekts trifft auf eine Gegenkraft, und erst durch das Pulsieren dieses Hin und Wider kommt Bewusstsein dazu, sich selbst zu erkennen. Das Wichtigste für Cassirer – und auch hier lässt sich eine Brücke zum Struktur- und Gestaltbegriff Merleau-Pontys schlagen – ist allerdings, dass der Lebensimpuls nicht auf äußere Dinge gerichtet ist, sondern auf Symbole und Formen. Somit ist klar, dass – gegen Bergson – eine starke Unterscheidung zwischen (bloßem) Leben und Kultur bzw. Arbeit des Geistes nicht möglich ist. Derselbe Impuls, der dem bloßen Leben von Bergson als élan vital unterstellt wird, rhythmisiert auch das Leben des Geistes in seinen Begegnungen mit Formen und Symbolen. Anders und prägnanter gesagt: Gerade gegen Bergson gilt es festzuhalten, dass auch die symbolischen Formen auf Pulsen und Impulsen basieren. Das wird unter anderem dadurch unterstrichen, dass Cassirer keinen radikalen Bruch zwischen Aktivität und Kontemplation ansetzt: »Das kontemplative Moment ist hier unlöslich mit dem aktiven verwoben: das Schauen nährt sich aus dem Wirken, wie sich das Wirken aus dem Schauen nährt« 66. Ist eine starke Trennung zwischen Kontemplation und Aktivität, zwischen Anschauung und Handlung

66

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Das Leben erfahren

ausgeschlossen, so liegt dies darin begründet, dass »das geschichtliche Wollen selbst […] nicht ohne eine Tat der ›produktiven Einbildungskraft‹ möglich« 67 ist. Dabei ist erneut zu unterstreichen – und erst hier kommt wieder der Begriff des Lebenspulses ins Spiel –, dass laut Cassirer die Einbildungskraft nur dort wahrhaft schöpferisch zu werden vermag, wo sie von einem lebendigen Impuls des Willens bestimmt und beflügelt wird. So beruht das geschichtliche Bewusstsein auf einem Ineinander und einer Wechselwirkung von Tatkraft und Bildkraft: auf der Klarheit und Sicherheit, mit der das Ich imstande ist, ein zukünftiges Sein im Bilde vor sich hinzustellen und alles einzelne Tun auf dieses Bild zu richten. Wieder zeigt sich hierin die Art der symbolischen ›Repräsentation‹ in ihrer ganzen Kraft und in ihrer ganzen Tiefe: denn hier ist es das Symbol, das der Wirklichkeit sozusagen voraneilt, das ihr den Weg weist und ihr die Bahn erst frei macht. Es blickt nicht auf sie, als seiende und gewordene, bloß zurück, sondern es wird zu einem Moment und Motiv ihres Werdens selbst. 68

Wir haben es somit mit einem komplexen Rückkopplungsverhältnis zu tun. Denn das Symbol ist gleichzeitig Wegweiser der Wirklichkeit, indem es zeigt, in welche Richtung auf die Wirklichkeit Einfluss genommen werden kann. Andererseits ist aber das Symbol selbst Produkt von (geschichtlichen) Handlungen und Einflüssen. Der Rhythmus von diesen Rückkopplungsverhältnissen ist skandiert durch das, was Cassirer im Kapitel »Symbolische Prägnanz« 69 den »Pulsschlag des Bewusstseins« nennt: Von einer neuen Seite her zeigt somit dieser Prozess [nämlich der kontinuierlichen Neuformung symbolischer Formen] wie die Analysis des Bewusstseins niemals auf ›absolute‹ Elemente zurückführen kann – weil eben die Relation, die den Aufbau des Bewusstseins beherrscht und die in ihm als echtes ›Apriori‹, als wesensmäßig-Erstes, hervortritt. Nur im Hin und Her vom ›Darstellenden‹ zum ›Dargestellten‹, und von diesem wieder zu jenem zurück, resultiert ein Wissen vom Ich und ein Wissen von ideellen, wie reellen Gegenständen. Hier erfassen wir den einheitlichen Pulsschlag des

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 212. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 212. 69 Für eine phänomenologische Interpretation des Begriffes der symbolischen Prägnanz vgl. Christian Möckel, »Symbolische Prägnanz – ein phänomenologischer Begriff? Zum Verhältnis von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Edmund Husserls Phänomenologie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40(9), 1992, 1050–1063. 67 68

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Bewusstseins, dessen Geheimnis eben darin besteht, dass in ihm ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. 70

Um das zu veranschaulichen, bedient sich Cassirer bei Husserls und Merleau-Pontys Lieblingsmotiv der Perspektivität der Wahrnehmung. Hier ist Cassirers Beschreibung sehr nah an dem Grundsatz der phänomenologisch verstandenen Wahrnehmung, dass jede Wahrnehmung immer mehr enthält, als sie unmittelbar wahrzunehmen gibt. So schreibt er im unmittelbaren Anschluss an die angeführte Passage: »Es gibt keine bewusste Wahrnehmung, die bloßes ›Datum‹, die ein lediglich Gegebenes und in dieser Gegebenheit Abzuspiegelndes wäre; sondern jede Wahrnehmung schließt einen bestimmten ›Richtungscharakter‹ in sich, mittel dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist« 71. Dass die Wahrnehmung einen solchen Richtungscharakter haben und über sich hinausweisen kann, liegt für Cassirer darin begründet, dass sie nicht auf tote Materie abzielt, sondern in Kommunikation mit einer Welt von symbolischen Formen ist 72. Und wie jede Kommunikation einen alternierenden Rhythmus des Sprechens und Schweigens bzw. Zuhörens enthält, so ist auch in der Wahrnehmung und in der Erkenntnis überhaupt ein Rhythmus anwesend, der aber nicht notwendig sprachlich strukturiert und artikuliert ist, sondern vor allem dem Rückkopplungsverhältnis des symbolischen Bewusstseins geschuldet ist. Hier zeigt sich, dass – wie Ernst Wolfgang Orth gezeigt hat – das Zeitverständnis von Cassirer, Husserl und Heidegger im Grunde auf derselben Bewegung der Innerlichkeit gründet. 73. Gerade hierin spiegelt sich das Wesen jedes symbolischen Prozesses wider. Der ›Pulsschlag‹ des Bewusstseins umfasst eine Erfah-

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 236 (Hervorh. d. Verf.). 71 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 236. 72 Für ausführlichere Analysen von Cassirers Wahrnehmungsbegriff vgl. Tobias Endres, Ernst Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung, Hamburg, Meiner Verlag, 2018. 73 »In der Tat scheinen bei ihm [Augustinus] die wesentlichen Grundzüge des Zeitbegriffs herausgearbeitet, die dann sowohl bei Kant als auch bei Husserl und Heidegger – und eben auch bei Cassirer – vorausgesetzt werden: Zeit als Bewusstseinszeit, als Bewegung der menschlichen Innerlichkeit, mit ihren zwei Momenten Vergangenheit und Zukunft, die in einer jeweiligen Gegenwart als drittem Moment zu vereinigen sind.« (Ernst Wolfgang Orth, »Zum Zeitbegriff Ernst Cassirers«, in: Phänomenologische Forschungen, 13, 1982, 65–89, hier 65). 70

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Das Leben erfahren

rungstotalität bzw. ein Feld 74, die bzw. das in sich Übergänge enthält, die sich abwechseln. Das ist der Pulsschlag des Bewusstseins für Cassirer: das ständige Hin und Her zwischen Bewusstsein und Welt, das immer wieder von Neuem anfängt und doch ständig mit geschichtlich Gewordenem zu tun hat.

5.

Schlussfolgerungen

Folgt man den skizzierten Überlegungen, lässt sich Cassirers Philosophie als eine Weiterführung und Bereicherung phänomenologischer Gedankenfiguren verstehen. Dies wurde exemplarisch an dem Begriff des Pulsschlags dargestellt. Die sehr knappen und daher auch relativ undeutlichen Ausführungen bei Husserl und Merleau-Ponty zu diesem Thema bringt Cassirer in wenigen Sätzen auf den Punkt. Er bindet gleichsam die Fäden zusammen, ohne die die vorliegende Konstruktion nicht möglich gewesen wäre. 75 Danach ist der Begriff eines Pulsschlages des Bewusstseins keine einfache Metapher, sondern durchströmt Schlüsseldiskurse der Phänomenologie und wirft Licht auf eine Frage, die in der Phänomenologie relativ wenig diskutiert wird, nämlich die anschauliche Gegebenheit des eigenen Lebens. Bleibt dies für Husserl ein marginales Problem aufgrund der Fokussierung auf die transzendentale Subjektivität, so gewinnt das Thema bei Merleau-Ponty an Bedeutung, insofern sich in diesem Begriff das Problem einer inkarnierten (also lebendigen, nicht mehr reinen) Subjektivität verdichtet. Cassirer führt diese Gedanken systematisch weiter, indem er den Pulsschlag in einen breiteren Diskurs über Erkenntnis einbettet und genau zeigt, worin der Pulsschlag besteht: im Immer-wieder und Immer-schon des symbolisch-kulturellen Aufbaus der Welt. Erst in seinem Wirken erscheint das Leben für sich selbst, und erst hier wird eine Phänomenologie des Lebens im Sinne einer Phänomenologie, die tatsächlich mit

Christian Bermes, »Philosophische Feldforschung. Der Feldbegriff bei Cassirer, Husserl und Merleau-Ponty«, in: Dirk Rustemeyer (Hrsg.), Formfelder, Würzburg, Könighausen & Neumann, 2006, 9–26, argumentiert dafür, dass der Feldbegriff ein gemeinsamer Nenner zwischen Husserl, Merleau-Ponty und Cassirer sein kann. 75 Die vorliegende Rekonstruktion der Filiation des Begriffs des Pulsschlags begnügt sich damit, einige Leitlinien aufzuzeigen, ohne auf die (wohl wichtigen) Unterschiede in den einzelnen Auffassungen eingehen zu können. 74

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der Anschauung anfängt, möglich; denn der Begriff des Pulsschlags erlaubt es, dem komplexen Verhältnis des Schlagens und Zurückschlagens zwischen Leben und Kultur Rechnung zu tragen. 76

Herrn Prof. Dr. Karl Mertens sei an dieser Stelle für die hilfreichen Hinweise herzlich gedankt.

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Sein und Zeit und Leben – eine Interpretation der Schelerschen Kritik an Heideggers Sein und Zeit Sihan Wu

Abstract: Im vorliegenden Beitrag wird anhand von Max Schelers Bemerkungen zu Sein und Zeit und vor dem Hintergrund seiner gleichzeitigen Konzeption einer philosophischen Anthropologie eine spezifische Lesart für Heideggers einflussreiches Werk aufgezeigt. Sie offenbart zugleich eine grundlegende Differenz zwischen dem Denken der beiden Autoren um 1927. Im Mittelpunkt stehen hierbei ihre unterschiedlichen Auffassungen vom Begriff des Lebens. Aus einer schelerschen Perspektive wird dafür argumentiert, dass Heideggers Entwurf in Sein und Zeit das Leben nicht – wie Heidegger selbst beansprucht – überschreitet. This contribution proposes a reading of Heidegger’s Being and Time based on Scheler’s remarks on this influential work and on his concurrent conception of a philosophical anthropology. It also points out a fundamental difference between the thought of these two figures around 1927. I will focus here on their diverging understandings of the concept of life. Using Scheler’s perspective, I will argue that Heidegger’s project in Being and Time does not, as he himself claimed, go beyond life.

1.

Einleitung: Leben in lebendigen Fragen

Der Begriff »Leben« ist schon allein deshalb ein uns vertrauter Begriff, weil wir selbst zu den Lebewesen gehören. Zugleich ist er aber der uns fremdeste. Denn einerseits ist die Tatsache, dass ein Mensch lebt, ein unbestreitbares biologisches Faktum. Andererseits wird mit dieser biologischen Begriffsverwendung der Zusammenhang zwischen Mensch und Leben nicht erschöpft, denn der Mensch lebt nicht nur, sondern er führt sein Leben. Wer den Begriff Leben in dieser Hinsicht verwendet, wirft seinen Blick über das lebendige Hier und Jetzt hinaus und bringt sich eine Struktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen, die sich einzig und allein auf das menschliche Leben beziehen lässt. In diesem Kontext kommt dem 271 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Sihan Wu

Begriff Leben also eine weitere, besondere Bedeutung zu, die bei allen anderen Lebewesen, von den Pflanzen bis hin zu den intelligentesten Tieren, nicht gegeben ist. Diese Doppeldeutigkeit des Lebensbegriffes ist uralt; das Chinesische kennt eine doppelte Übersetzungsmöglichkeit, bei der die beiden subtil voneinander unterschiedenen Bedeutungen zum Tragen kommen. 1 Die Zweideutigkeit des Lebens ist im chinesischen Kulturkreis demnach so offensichtlich, dass sie sich sogar in unterschiedlichen Wörtern dafür niederschlägt. Dagegen verlangt der einheitliche Ausdruck »Leben« im Deutschen, die innere Spannung des menschlichen Lebens als Frage ausdrücklich werden zu lassen. So werden wir geradezu von Fragen überfallen wie: Wie führen wir als Menschen, die immer schon leben, unser Leben eigentlich? Wie sollten wir unser Leben führen? Und inwiefern ist es für uns überhaupt möglich oder gerechtfertigt, die oben genannten Fragen zu stellen? Leben im lebendigen Fragen heißt, dass wir zwar zweifellos auf der Erde leben, dabei jedoch nie aufhören, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Während auf die erste Frage die Biologie, die Physiologie und weitere Naturwissenschaften ihre eigenen fruchtbaren Antworten geben können, Politik, Religion und alle darauf begründeten Morallehren dagegen die zweite Frage mit Fug und Recht ihr Eigen nennen, muss in der dritten Frage die Philosophie das letzte Wort haben. Denn die Philosophie betrachtet das menschliche Leben ohne jede Vorentscheidung: weder so, dass sie den Menschen von vornherein wie alle anderen Organismen der Natur betrachtet, noch indem sie allein bei den in der menschlichen Sozialität wirkenden Prinzipien und Regeln ansetzt. Diese im Phänomen des Lebens aufbrechende Fragwürdigkeit hat im Denken Martin Heideggers ein großes Echo gefunden, auch wenn er kein Anhänger der seinerzeit wichtigen philosophischen Strömung der Lebensphilosophie war. Ganz im Gegensatz dazu engagierte er sich in seinem einflussreichen Werk Sein und Zeit gerade für den Entwurf einer neuen, von der Lebensphilosophie abweichenden Alternative. Da Heideggers Hauptanliegen von Anfang an in der Frage nach dem Sinn des Seins lag, setzt eine Antwort darauf, was das Leben ist, ein

Ins Chinesische wird der Begriff Leben entsprechend seiner biologischen Bedeutung als »Shēng Mìng« übersetzt, jedoch auch als »Shēng Huó«, wobei dieser zweite Ausdruck nur beim menschlichen Leben herangezogen wird. Vgl. Das neue DeutschChinesische Wörterbuch, Shanghai, Shanghai Translation Publishing House, 32012, 828.

1

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Sein und Zeit und Leben

Seinsverständnis voraus, das sich nur beim Menschen – oder mit Heideggers Terminus: im Dasein – vollziehen kann. Anstatt das Leben als eine Idee aufzufassen, betrachtet er nun das menschliche Leben als das elementare Phänomen, das im Mittelpunkt der philosophischen Anschauung stehen soll und als Existenz einen eigenen Ausdruck erhält. Heideggers Distanzierung von der Lebensphilosophie in Sein und Zeit ist ebenso bewusst wie unmissverständlich: Andrerseits liegt aber in der rechtverstandenen Tendenz aller wissenschaftlichen ernsthaften »Lebensphilosophie« – das Wort sagt soviel wie die Botanik der Pflanzen – unausdrücklich die Tendenz auf ein Verständnis des Seins des Daseins. Auffallend bleibt, und das ist ihr grundsätzlicher Mangel, daß »Leben« selbst nicht als eine Seinsart ontologisch zum Problem wird. 2

Der unausdrücklichen, aber zugleich primären Behauptung der Lebensphilosophie, der Mensch sei eine bestimmte Art von Leben, fehlt Heidegger zufolge eine prinzipielle Besinnung auf den Sinn des Seins. Daher sei die Fragestellung der Lebensphilosophie aus ontologischer Perspektive wurzellos. Angesichts dieses »grundsätzliche[n] Mangel[s]« wolle er mit der neuen Konzeption in Sein und Zeit – wenn auch nicht eigens für diesen Zweck – deren ontologische Begründung »nachholen«, was jedoch eine strukturelle Veränderung nach sich ziehe, die Heidegger selbst wie folgt benennt: Leben ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation; sie bestimmt das, was sein muß, daß so etwas wie Nurnoch-leben sein kann. Leben ist weder pures Vorhandensein, noch aber auch Dasein. Das Dasein wiederum ist ontologisch nie so zu bestimmen, daß man es ansetzt als Leben – (ontologisch unbestimmt) und als überdies noch etwas anderes. 3

Die Seinsart des Lebens könne in der Lebensphilosophie grundsätzlich nicht erfasst werden, da diese ihren eigenen Ansatzpunkt nur so gewinne, dass sie das Leben selbst als ein »Vorhandensein« auffasse. Ontologisch gesehen sei daher die Beziehung des Daseins zu einem solchen »Leben« problematisch. Denn das Dasein lasse sich nicht durch das Leben bestimmen, sondern stelle als das einzige Seiende, 2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, in: Gesamtausgabe (im Folgenden GA), Bd. 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann, 1977, 62. 3 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 67.

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welches ein Verhältnis zum Sein habe, das Fundament der Bestimmung von »Leben« dar. Daher lehnt Heidegger den Begriff des Lebens sogar solange ausdrücklich ab, bis sein fundamentalontologischer ›Unterbau‹ geklärt sei. 4 Bislang ist allerdings offen, ob Heideggers Abstandnahme von der Lebensphilosophie tatsächlich so interpretiert werden kann, dass sein Entwurf in Sein und Zeit bereits über das »Leben« im Sinne der Lebensphilosophie hinaus zum Sein vordringt. Anders formuliert, es ist zu klären, ob die Möglichkeit, den ontologisch unbestimmten Lebensbegriff zu umgehen, nicht lediglich zu einem ontologisch bestimmten Lebensbegriff führt, der jedoch keinesfalls mit dem von Heidegger eigentlich erfragten (Sinn von) Sein gleichgesetzt werden kann. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich also auf die Frage, ob Heidegger mit seiner Konzeption in Sein und Zeit das Ziel, das er sich am Anfang des Werks gesetzt hat, bereits erreicht: die Frage nach dem Sinn von »Sein« angemessen auszuarbeiten. 5 Um diese Frage zu klären, soll die Perspektive eines Zeitgenossen von Heidegger herangezogen werden: diejenige Max Schelers.

2.

Scheler und Heidegger

Im Jahr 1927 wurde Heideggers Meisterstück Sein und Zeit veröffentlicht, in dem ein phänomenologisch-hermeneutischer Weg von der Existenz des Menschen als Dasein zum Sinn des Seins geebnet werden sollte. Im gleichen Jahr hielt Scheler in Darmstadt einen vierstündigen Vortrag unter dem Titel Die Sonderstellung des Menschen, der 1928 als Sonderdruck mit dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos erschien. Dieser Vortrag enthält die Quintessenz seiner philosophischen Anthropologie, die sich nur vor dem Hintergrund der metaphysischen Struktur eines Ens a se entwickeln lässt. An ihr hat Scheler in seiner späteren Lebenszeit intensiv und produktiv gearbeitet. Die Analogie der Gedankengänge der beiden Autoren Heidegger und Scheler war kein Zufall, sondern findet ihren Grund in einem tiefgehenden Austausch zwischen beiden. Auch wenn die Frage, inwiefern Heidegger durch Schelers Arbeiten wichtige Impulse erhielt, 4 5

Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 62. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 1.

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Sein und Zeit und Leben

hier offenbleiben muss, 6 und auch abgesehen davon, dass beide Denker eine hohe Meinung voneinander hatten, 7 kann man die tiefe Verbindung bereits in Heideggers Erinnerung an ihr letztes Treffen im Dezember 1927 in Köln erahnen. In diesem längeren Gespräch ging es, so einer der Scheler-Herausgeber Manfred S. Frings, um »die Fragestellung von Sein und Zeit im Verhältnis zur Metaphysik Max Schelers und seiner Auffassung der Phänomenologie« 8. Scheler war in Heideggers Augen »einer der ganz wenigen, wenn nicht sogar der einzige, der den neuen Ansatz seines Werkes sofort erkannte« 9. Der Schnittpunkt der beiden philosophischen Entwürfe, die jeweils von den sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten ihrer Autoren geprägt sind, liegt eben im Einverständnis mit »dem Wesentlichsten« bzw. der »Grundfrage« und dem »Endziel« der philosophischen Metaphysik, die neu gestellt werden müsse, um »sie von Grund aus zu entwickeln« 10. Das heißt nichts anderes, als dass die Seinsfrage als Kernfrage der Philosophie erneut in den Blick zu nehmen ist. HeidegVgl. dazu Otto Pöggeler, »Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger«, in: Phänomenologische Forschungen, 28/29 (Studien zur Philosophie von Max Scheler: Internationales Max-Scheler-Colloquium ›Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs‹ Universität zu Köln 1993), 1994, 166–203. Nach Pöggeler spielten die Anstöße, die Scheler Heideggers Philosophieren nach 1928 gab, sogar eine größere Rolle als Husserls Grundlegungen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden ist auch äußerst bedeutungsvoll für die ganze phänomenologische Bewegung. Wie Pöggeler formuliert, »zeigt [sie] eine Wende in der phänomenologischen Philosophie an« (Pöggeler, »Ausgleich und anderer Anfang«, 169). 7 Heidegger hat des im Mai 1928 verstorbenen Scheler in der Vorlesung vom Sommersemester 1928 mit folgenden Worten gedacht: »Max Scheler war – von Ausmaß und Art seiner Produktivität ganz abgesehen – die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland, nein, im heutigen Europa und sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt.« (Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, in: GA, Bd. 26, hrsg. von Klaus Held, Frankfurt am Main, Klostermann, 1990, 62). Bereits während die beiden ersten Teile von Heideggers Sein und Zeit sowie Oskar Beckers Mathematische Existenz 1927 gemeinsam in Husserls Phänomenologischem Jahrbuch veröffentlicht wurden, hatte Scheler als Mitherausgeber des Jahrbuchs die Relevanz dieser Beiträge im Blick auf eine Umwandlung der Phänomenologie hervorgehoben (vgl. dazu Pöggeler, »Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger«, 177). 8 Vgl. Manfred S. Frings, »Nachwort des Herausgebers«, in: Max Scheler, Späte Schriften, in: Gesammelte Werke (im Folgenden GW), hrsg. von Manfred S. Frings, Bd. 9, Bern, Francke, 1976, 362. 9 Frings, »Nachwort des Herausgebers«, 362. 10 »Das Wesentlichste: der Augenblick ist da, gerade bei der Trostlosigkeit der öffentlichen philosophischen Lage, den Überschritt in die eigentliche Metaphysik wieder zu wagen, d. h. sie von Grund aus zu entwickeln. Das war die Stimmung, in der wir 6

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ger betont diese Kernfrage bereits von Anfang an explizit und unermüdlich, und auch Scheler arbeitet mit »einer wahre[n] Besessenheit«, die man zwischen den Zeilen seiner Werke lesen kann, 11 daran – auch wenn das Wort »Sein« nirgendwo im Titel seiner Werke auftaucht. Insbesondere seiner »Totalität des Fragens« 12 wegen wird Scheler von Heidegger besonders geschätzt. Mit diesem gemeinsamen Ansatz entscheidet sich Heidegger für die phänomenologische Hermeneutik als eigene Methodik, während Scheler unmittelbar zu einer neuen Metaphysik aufruft. Bevor sich die Wege der Denker hier trennen, haben jedoch beide den Menschen als Phänomen in den Vordergrund ihres jeweiligen Philosophierens gebracht. 13 Davon ausgehend bringt Scheler in dieser Phase seines Denkens eine dynamische Leben-Geist-Struktur mit einem metaphysisch-anthropologischen Ansatz in Verbindung – Heidegger dagegen konzipiert in Sein und Zeit eine Fundamentalontologie. Merkwürdigerweise wird bei Scheler – im Gegensatz zu Heidegger, bei dem in Sein und Zeit auf den Begriff Leben komplett verzichtet wird – 14 wiederum das Leben als einer der beiden Weltgründe 15 hervorgehoben. Ungeachtet dessen, wie viele Übereinstimmungen im Vorfeld herrschten, schlagen die

schieden, die frohe Stimmung eines aussichtsreichen Kampfes; das Schicksal hat es anders gewollt.« (Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 165) 11 Vgl. z. B.: »Für die philosophische Metaphysik aber, deren Endziel die Erkenntnis des absolut seienden Seins ist, bilden die Wesenserkenntnis die Fenster in die Absolute, wie Hegel treffend und bildhaft sagt. […] Es kann nur, soweit es Wesen ist, dem einen übersingulären Geiste als dem Attribut des übersingulären seienden Ens a se zugeschrieben werden und alles Dasein eines solchen Wesens überhaupt als eine Setzung des ewigen Dranges als seines zweiten Attributs aufgefaßt werden.« (Max Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, in: Späte Schriften, 41) 12 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 63. 13 Für Scheler ist die Frage: »Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein?« nach wie vor »wesentlicher […] als jede andere philosophische Frage« (vgl. dazu Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 9). Grundsätzlich vertritt Heidegger in Sein und Zeit keine andere Auffassung: »Das Dasein hat sich so als das vor allem anderen Seienden ontologisch primär zu Befragende erwiesen« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 18). 14 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 62. »Es ist daher keine Eigenwilligkeit in der Terminologie, wenn wir diese Titel ebenso wie die Ausdrücke ›Leben‹ und ›Mensch‹ zur Bezeichnung des Seienden, das wir selbst sind, vermeiden.« 15 Bei Scheler sind die beiden Weltgründe jeweils der Geist und das Leben, deren Urspannung im »Sein durch sich selbst« gelegen ist, welches sich aber wiederum nur durch die Durchdringung von Geist und Leben, die sich in einem zeithaften Prozess – dem sogenannten Weltprozess – niederschlägt, verwirklichen kann.

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Sein und Zeit und Leben

beiden Denker im Blick auf das »Leben« nun deutlich unterschiedliche Wege ein. Anschaulich wird die Auseinandersetzung bereits in mehreren kritischen Ausführungen Heideggers zu Schelers Ansichten in Sein und Zeit. Die Tatsache, dass dieses Werk schon vor Schelers anthropologischem Vortrag in Darmstadt und auch vor dem bedeutenden persönlichen Gespräch im Jahr 1927 erschienen war, weist mehr oder weniger darauf hin, dass Heidegger während der Abfassung von Sein und Zeit Schelers aktuelle gedankliche Wandlung kaum in den Blick nahm. Im Gegensatz dazu war Scheler einer der ersten Leser von Sein und Zeit und beschäftigte sich einen Monat vor dem besagten Treffen begeistert und intensiv mit dem Buch. Seine diesbezüglichen Manuskripte wurden aber erst 1976 in Band 9 von Schelers Gesammelten Werken vom Herausgeber Manfred S. Frings veröffentlicht. 16 Dort versucht Scheler, sich gegenüber Heideggers Vorwürfen zu verteidigen, und notiert zahlreiche Bemerkungen – sowohl herzliche Anerkennungen als auch scharfe Kritikpunkte, zu denen mehr als 200 Randbemerkungen, systematisch angeordnete Formulierungen, aber auch noch nicht weiter geklärte Fragmente gehören. In all diesen Manuskripten hat Scheler eine eigene Lesart für Sein und Zeit entworfen. Selbst wenn diese Lesart letztlich auf Schelers 1927 bereits ausgebildeten eigenen Ansatz mit seinem metaphysisch-anthropologischen Hintergrund zurückgehen dürfte, sollten seine Bemerkungen zu Sein und Zeit angesichts der oben erwähnten tiefgründigen und umfassenden gedanklichen Verbindungen keinesfalls als willkürliche, durch irgendwelche Scheuklappen verdunkelte Deutung abgetan werden. Vielmehr kann man sagen, dass gerade Sein und Zeit als Schauplatz dafür dienen kann, die auf den ersten Blick schwer vergleichbaren Projekte – die phänomenologische Hermeneutik auf der einen und die metaphysisch-philosophische Anthropologie 17 auf der anderen Seite – in einen lebendigen Dialog zu bringen.

Vgl. Scheler, Späte Schriften, 254–340. Wie Gianfranco Boiso anmerkt, war Scheler »one of the last, and certainly one of the most original, thinkers who tried to renew the metaphysical tradition of the west and the great philosopher who, in the twentieth century, opened the way to so-called ›post-metaphysical‹ thought of our own second modern period, or the ›post-modern‹ age as people often prefer to call it […].« Vgl. Gianfranco Bosio, »Reality as ›Life‹ and ›Vitality‹ : the Idealism-Realism of Max Scheler«, in: Analecta Husserliana, 79, 2004, 147–166.

16 17

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Im Folgenden möchte ich im Kontext von Heideggers Sein und Zeit und Schelers diesbezüglichen Manuskripten einen Zugang zu Sein und Zeit bahnen, der dieses Werk im Hinblick auf Schelers Konzept und Lesart um das Jahr 1927 herum zu interpretieren versucht. Das Ziel des vorliegenden Beitrags muss aber wesentlich von der Aufgabe Abstand nehmen, die Gültigkeit von Schelers Bemerkungen zu bewerten, denn Letzteres erfordert eine tiefgreifendere Analyse, die in diesem Aufsatz nicht umfassend erbracht werden kann. Stattdessen fungiert hier das Leben als die zentrale Schnittstelle, welche die Gedankengänge der beiden Autoren auf eine kritische Weise miteinander »verkoppelt« 18. Bei den unterschiedlichen Auffassungen von Leben spielt die Auslegung der Zeit eine maßgebliche Rolle, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass und wie die Möglichkeit, die wesenhaft auf die Zukunft bezogen ist, dem Menschen zugänglich ist. Nach den einleitenden Abschnitten wird nun im Folgenden zunächst Schelers Auffassung von Leben vorgestellt (3). Sodann werden die beiden unterschiedlichen Zugänge, die das Dasein laut Sein und Zeit zu seinen zukünftigen Möglichkeiten hat (4) – der onEs gibt bereits zahlreiche Untersuchungen, die die Beziehung zwischen Heidegger und Scheler in den Fokus rücken. Die meisten davon konzentrieren sich auf die Differenzen zwischen Kernbegriffen wie Angst und Liebe, Realität und Widerstand, Person und Dasein usw., auf die Heidegger in Sein und Zeit kritisch eingeht. Vgl. Matthias Wunsch, Fragen nach dem Menschen, Frankfurt a. M., Klostermann, 2014, 118– 137; Angelika Sander, Mensch-Subjekt-Person. Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers, Bonn, Bouvier, 1996, 106–197; Mark Michalski, Fremdwahrnehmung und Mitsein. Zur Grundlegung der Sozialphilosophie im Denken Max Schelers und Martin Heideggers, Bonn, Bouvier, 1997; Manfred S. Frings, Person und Dasein: Zur Frage der Ontologie des Wertseins, The Hague, Martinus Nijhoff, 1969 (in diesem Werk wird Schelers Formalismusbuch von 1913 im Blick auf Heideggers Sein und Zeit betrachtet); Pöggeler, »Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger«; Daniel O. Dahlstrom, »Scheler’s Critique of Heidegger’s Fundamental Ontology«, in: Stephen Schneck (Hrsg.), Max Scheler’s Acting Persons: New Perspectives, Amsterdam, Rodopi, 2002, 67–92; Manfred S. Frings, »The Background of Max Scheler’s 1927 Reading of Being and Time: A Critique of a Critique through Ethics«, in: Philosophy Today, 36 (2), 1992, 99–114; Hans Rainer Sepp, »Widerstand und Sorge. Schelers Antwort auf Heidegger und die Möglichkeit einer neuen Phänomenologie des Daseins«, in: Guido Cusinato (Hrsg.), Max Scheler. Esistenza della persona e radicalizzazione della fenomenologia, Milano, Franco Angeli, 2007, 313–328; Gianfranco Bosio, »Reality as ›Life‹ and ›Vitality‹ : the Idealism-Realism of Max Scheler«; Raul Gabas, »Schelers Phänomenologie der Gefühle und der Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger«, in: Christian Bermes/Wolfhart Henckmann/ Heinz Leonardy (Hrsg.), Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, 186–199. 18

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tische (5) sowie der ontologische (6) – einzeln betrachtet. Auf diese Weise soll folgende Überlegung entfaltet werden: Zwar hat Heidegger schon mit Sein und Zeit alle ›ontologisch bodenlosen‹ Lebensphilosophien überstiegen – dennoch fällt das »Sein« im Horizont der »Zeit« aus einer schelerschen Perspektive gelesen erneut in das »Leben« zurück. Das Leben erweist sich als eine Grundkategorie der Ontologie, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Heideggers Entwurf in Sein und Zeit vermag somit das Leben noch nicht – wie er selbst es beansprucht – zu überschreiten. Den Abschluss bilden einige weitere Bemerkungen anhand von Schelers Kritik an Sein und Zeit, welche die wesentlichen Gründe für die Differenz zwischen den beiden Autoren eingehender erläutern (7).

3.

Schelers Auffassung von Leben

Um Sein und Zeit hinsichtlich einer ontologischen Auffassung von Leben zu betrachten, ist es zunächst unumgänglich, mit Scheler ontologisch auf das Lebensphänomen einzugehen, um eine anschauliche Basis für die Kernüberlegung des Beitrags zu gewinnen. Daher soll im Folgenden Schelers Ausarbeitung des Lebensbegriffs nachgezeichnet werden. Bevor er auf seine eigene Auffassung von »Leben« zu sprechen kommt, grenzt sich Scheler vor allem methodisch von allen Wissenschaften ab, die sich unter verschiedenen Aspekten, aber dennoch in einer gemeinsamen Grundeinstellung mit dem Lebensphänomen befassen: […] die Tatsache, daß Lebewesen nicht nur Gegenstände für äußere Beobachter sind, sondern auch ein Fürsich und Innesein besitzen, in dem sie sich selber inne werden, ein für sie wesentliches Merkmal – ein Merk-mal, von dem man zeigen kann, daß es mit den objektiven Phänomenen des Lebens an Struktur und Ablaufsform die innigste Seinsgemeinschaft besitzt. Es ist die psychische Seite der Selbstständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt – das psychische Urphänomen des Lebens. 19

Im Blick auf die Frage nach dem Leben zeichnen sich hierbei zwei mögliche Herangehensweisen ab. Die eine, welche die wissenschaftliche Methodik grundlegend prägt, nimmt das Gegenstandsein des 19

Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 13.

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Lebens zur Grundlage und baut ihr Lehrgebäude durch Beobachtung von außen auf. Das bedeutet, dass die Wissenschaftler allen Lebensphänomenen so gegenüberstehen, als könnten sie sich gänzlich von ihnen lösen. Allerdings ist die primäre Behauptung, das Leben sei als Gegenstand ein »Etwas«, wie Heidegger zeigt, ontologisch unbestimmt, und diese Unbestimmtheit wird mit der weiteren Theoriebildung immer stärker verdeckt. Scheler schließt sich diesem Zugang der Naturwissenschaften ganz offensichtlich nicht an, sondern schlägt einen anderen Weg ein, nämlich den des »Innewerdens« 20 des Lebens. Diese Betrachtungsweise sei angesichts der Tatsache berechtigt, dass der Mensch – jeder und jede von uns – ein »natursystematischer« Begriff sei. Dabei bleibe das »als Mensch bezeichnete Lebewesen nicht nur dem Begriff des Tieres untergeordnet, sondern [mache] auch eine verhältnismäßig sehr kleine Ecke des Tierreiches« 21 aus. Dass der Mensch selbst immer schon ein Lebewesen ist, sei dabei unabhängig von der Frage zu betrachten, ob sich die Bedeutung des Menschseins darin erschöpfe. Von hier aus entwickelt Scheler seine Anschauung der Lebensphänomene aus der Weise ihres Erlebens. Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle, dass die Bezeichnung »psychisch« keinen Bezug auf die Psychologie als Wissenschaft hat, sondern sich auf das »Innewerden« des Lebens (vom Menschen über das Tier bis hin zu den Pflanzen) erweitert. »Werden« korrespondiert hier dem Faktum, dass das Leben vergeht, während das »Inne-« das jedem Lebewesen eigene Zentrum bezeichnet, an dem sich das Werden des Lebens ausrichtet. Durch den »Gefühlsdrang« differenziert sich nach Scheler das Lebendige vom Anorganischen. In ihm sind »›Gefühl‹ und ›Trieb‹ (der als solcher stets eine spezifische Richtung und Zielhaftigkeit ›nach‹ etwas, z. B. Nahrung, Sexualbefriedigung, hat) noch nicht geschieden« 22. Der Ausdruck »Gefühlsdrang« beinhaltet somit einerseits eine unwillkürliche Tendenz und Energie über sich selbst hinaus. Denn das Korrelat von Drang ist (strukturell gesehen) das noch nicht zu »meinem« Inneren Gewordene. Daraus ergibt sich, dass »die wesenhafte Richtung des Lebens […] ein ganz nach außen gerichteter Drang« 23 ist. Andererseits weist das »[N]och nicht geschieden«-Sein 20 21 22 23

Vgl. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 13. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 12. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 13. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 15.

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von Gefühl und Drang auf ein fehlendes oder außer Kraft gesetztes Zentrum hin, welches eine Distanz schaffen könnte, die ein System von Rückmeldung und Modifikation ermöglicht. Das heißt, alles Lebendige hat ursprünglich einen direkten Kontakt zu seiner »Außenwelt«; ihm begegnen die innerweltlichen Dinge in ihrem unmittelbaren Gegebensein, ohne irgendeine Vermittlung durch Zeichen. Der Gefühlsdrang gilt daher als »bewußtlos, empfindungs- und vorstellungslos« 24 und wird der vorprädikativen Sphäre zugeordnet. Eine solche Möglichkeit, »Außen« und »Innen« von vornherein miteinander zu verflechten, bezeichnet Scheler als ekstatische Beziehung, durch die sich die »Einheit des Lebens im metaphysischen Sinne« 25 auszeichne. Da die Grenze zwischen »Außen« und »Innen« in dieser sich ekstatisch manifestierenden Einheit zunächst verschwimmt, kann man zusammenfassend sagen, dass das Werden der ursprünglichen Lebenseinheit ihren Charakter des Werdens in einem »geschlossenen Stoff- und Energiekomplex« 26 stattfindet. Die in ekstatischen Beziehungen durchgängig automatische Übereinstimmung zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt scheint im Falle des Menschen nicht zu gelten, da dieser aktiv mit der Welt umgeht. Scheler hält jedoch fest: Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, hinter der nicht der dunkle Drang stünde, die er mit seinem die Schlaf- und Wachzeiten kontinuierlich durchschneidenden Feuer nicht unterhielte – selbst die einfachste Empfindung ist nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit. Gleichzeitig stellt der Drang die Einheit aller reich gegliederten Triebe und Affekte des Menschen dar. 27

Der hinnehmende Gefühlsdrang besteht demnach nicht nur beim Menschen, sondern fundiert sogar all seine Akte im Umgang mit seiner Umwelt. Der Mensch ist somit auf der vor-reflexiven Ebene grundsätzlich ekstatisch mit seiner »Welt« verbunden. 28 Vgl. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 13. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 16. 26 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 16. 27 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 16. 28 Diese auf den ersten Blick möglicherweise metaphysisch und unbegründet anmutende Einsicht ist im asiatischen Kulturkreis, worauf auch Scheler an anderer Stelle hinweist, eine evidente. In Wesen und Formen der Sympathie (1923) zitiert Scheler diesbezüglich den indischen Dichter und Philosophen Rabindranath Tagore: »Als Waldvolk lebt der Inder – im Gegensatz zur städtischen antiken und christlichen Welt 24 25

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Diese Verbindung zwischen Lebewesen und seiner Umwelt zeichnet sich zudem dadurch aus, dass die ekstatischen Gefühlsakte der Lebewesen nicht willkürlich ablaufen, sondern »nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus« 29. »Solcher Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern«, lässt das Lebewesen sich so verhalten, »›als ob‹ es einen künftigen Zustand vorhersähe« 30, weil die Zukunft immer schon in die über sich hinaus ekstatisch »ausfließende« Gegenwart verflochten ist. Bei der lebendigen Zeit überhaupt kommt es somit letztlich auf den fundamentalen Gefühlsakt des Lebewesens an, also den Lebensdrang. Diese Art der Zeit ist primär als – die objektive Zeit fundierende – Erlebenszeit gegeben. Sie zeichnet sich vor allem durch drei Eigenschaften aus: 1. die lebendige Erlebenszeit widersetzt sich im Grunde einer Formalisierung, da der Rhythmus strukturell stets korrelativ auf einen Drang bezogen ist, der sich seinerseits auf ein inhaltsvolles Ziel richtet – nur dadurch unterscheidet sich überhaupt ein Drang von einem anderen. 2. Die Erlebenszeit ist lebendige organische Dauer, die sich von aller objektiven Sukzession insofern unterscheidet, als jedes Element allein auf ein vorgängiges Ganzes – nämlich die Lebenseinheit – ausgerichtet ist, statt als isolierte Empfindung irgendwie in eine Verbindung mit anderen gebracht werden zu müssen. Der Rhythmus, nach dem die – nicht in der Einstellung nordeuropäischen primären Herrschafts- und Lenkungswillens gegenüber der Natur, auch nicht in distanzierter Bewunderung und Liebe zu ihren plastischen Formen und Gestalten wie der Grieche, sondern er lebt ›in‹ ihr, d. h. in vitaler Einsfühlung mit ihr und ihrem als universal angeschauten All-Leben.« (Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, in: GW, Bd. 7, Bern, Francke, 1973, 89–90) Das Leben erscheint den Indern zunächst als eine Einheit, in die der Mensch eingegliedert ist. Aber über eine bloße Weltanschauungslehre hinaus hat Scheler mit seinem feinen Gespür auch im menschlichen Gefühlsleben die »Wurzel« dieser Einsicht freigelegt: die auf nichts weiter zurückführbare Gefühlsart der Einsfühlung. (Die betreffende Ausarbeitung findet sich in der zweiten Auflage seines Sympathiebuchs, der er ein Kapitel über die Einsfühlung hinzugefügt hat; vgl. Scheler, GW 7, Kapitel II, IV, V, VI und VII.) Die Einsfühlung zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Mensch 1. mit einem Fremden identifiziert und 2. die Identifikation ebenso unwillkürlich wie unbewusst stattfindet (vgl. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 29). Obwohl man prinzipiell nur unbewusst in eine Einsfühlung verfallen kann, ist man jedoch dazu fähig, ihr später bewusst nachzufühlen. Man kann die Einsfühlung daher gewissermaßen reflexiv beschreiben und sich zugleich den Sachverhalt bewusst machen, dass sich der Mensch in seinem vorbewussten Gefühlsleben zunächst ekstatisch auf seine Welt bezieht. 29 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 18. 30 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 18.

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Lebenseinheit regelmäßig verläuft, macht gerade den Kern der Ganzheit aus und ist stets, vor allem konkreten Drang, als ein kontinuierlicher Horizont gegeben. 31 3. Die Erlebenszeit kann infolgedessen als ein rhythmisch fließendes Kontinuum betrachtet werden, bei dem es nicht nur um einzelne Lebewesen, sondern vor allem um eine Lebensgemeinschaft geht, in der sich das Einzelne allererst bestimmen kann. Freilich ist der vorgegebene Rhythmus beim Menschen auch künstlich modifizierbar, aber die mögliche Modifikation »entspricht immer nur gleichsam den Variationen einer Melodie, nicht der Erwerbung einer neuen« 32. Denn was ein Lebewesen »vorstellen und empfinden kann, ist durch den Bezug seiner angeborenen Instinkte zur Umweltstruktur a priori beherrscht und bestimmt« 33. Damit wird auch die Lebenszeitlichkeit so skizziert, dass es sich bei der Zukunft des Lebewesens, in die seine Gegenwart und seine Vergangenheit verflochten sind, um einen vorgegebenen, geschlossenen und in sich strukturierten Möglichkeitsraum handelt, kurz: um eine Totalität, in der alle künftigen Möglichkeiten im Sinne von Potenzialitäten eigentlich bereits vorweggenommen sind. Ein anderer Zugang zum Lebensbegriff liegt wie erwähnt in der Tatsache beschlossen, dass der Mensch sein Leben führt. Dabei handelt es sich um einen Perspektivwechsel: Statt einfach zu leben, wird das Leben aus einer Distanz ergriffen. Dabei ist eine Aufhebung der Innenperspektive erforderlich. Der Mensch begegnet dem Leben jedoch nicht als neutraler Beobachter von außen wie der Wissenschaftler, sondern als ein Kämpfender, da sich ihm eine ausgezeichnete Möglichkeit zeigt, die der unendlichen Lebensinnewerdung abgeht und die gerade darin besteht, sich von allen sich im geschlossenen Lebensmöglichkeitsraum abzeichnenden Möglichkeiten zu distanzieren. Das bedeutet, dass die menschlichen Möglichkeiten in der Sphäre des Lebens nicht erschöpft sind. Außerhalb des »bloßen« Lebens gibt Vgl. Manfred S. Frings, »Die Zeiterfahrung im Solidaritätserlebnis«, in: Christian Bermes/Wolfhart Henckmann/Heinz Leonardy (Hrsg.), Solidarität. Person und soziale Welt, Würzburg, Könighausen & Neumann, 2006, 43–47. Der Autor fasst hier nicht nur vier Merkmale der Erlebenszeit zusammen, sondern nennt auch ein Beispiel: »Als Beispiel möge man an die Dauer unseres zwischen Geburt und Tod eingeschlossenen konstanten Lebensgefühls denken, von dem sich Gefühlszustände wie krank, gesund, jung, alt, abheben […]«. 32 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 19. 33 Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 19. 31

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es noch eine weitere Möglichkeit, die allein dem Menschen offensteht: nämlich die, ein geistiges Wesen zu sein. Beim Auftreten von Hunger beispielsweise behält einzig der Mensch in all seinem Bemühen, irgendwie sein Bedürfnis nach Sättigung zu befriedigen, immer noch die Möglichkeit, seinen Hunger »in einer distanteren, besinnlichen, kontemplativen Haltung zu diesem selben Erlebnis auch als ›Beispiel‹« 34 für einen »Wesensverhalt« aufzufassen. Er allein ist in der Lage, zu fragen: Was ist eigentlich der Hunger selbst und wie ist »Hunger überhaupt« möglich? Das lebendige Erlebnis kann dem Menschen also nicht nur wie Lebewesen mit einer Forderung nach bestimmten Reaktionen zugänglich sein, sondern auch mit der einzigartigen Möglichkeit der Ideierung über das Hier und Jetzt hinaus eine »essentielle Weltbeschaffenheit« erfassbar machen. Hier ist es entscheidend, dass dies eine Außerkraftsetzung jenes Lebensdrangs voraussetzt und eine Aufhebung des Hier und Jetzt der soseienden Wirklichkeit. Der Mensch ist eben nicht nur ein Lebewesen, sondern auch ein »Neinsagenkönner«. »Nein sagen zu können« bedeutet eine Möglichkeit, die außerhalb des Ganzen aller Lebensmöglichkeiten liegt. Sie ist daher auch eine offene Möglichkeit, da es sich bei ihr nicht um das Potenzielle handelt, das auf der Totalität des Lebens beruht, sondern umgekehrt darum, alle Bestimmungen und Beschränkungen des Lebens durchbrechen und die Lebenstotalität transzendieren zu können. Diese echte Unbegrenztheit und Unbestimmtheit erlaubt es, die offene Möglichkeit auch als Möglichkeit überhaupt zu charakterisieren. »Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ›weltoffen‹ verhalten kann.« 35 In der Menschwerdung in diesem Sinne ist nach Scheler noch ein anderer unhintergehbarer Grund am Werke: der Geist. Dieser steht einerseits in einer dauernden Auseinandersetzung mit dem Leben, die den Menschen dazu führt, zum Lebensdrang nein zu sagen. Andererseits ist er vom Leben durchdrungen, insofern der Mensch eine von der Wirklichkeit unabhängige Möglichkeit in der lebendigen Zeit verwirklicht. Die Zukunft wird nun nicht mehr als Erweiterung der von der Vergangenheit geprägten Gegenwart aufgefasst, denn »die Intentionen des Geistes schneiden sozusagen den Zeitablauf des Lebens« 36 ab. Die Möglichkeit überhaupt stellt vielmehr die absolute 34 35 36

Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 40. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 33. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 62.

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Zukunft dar, bei der es um »reine, pure Aktualität« 37 geht. Die Zukunft des Menschen als eines geistigen Wesens hat ihr Sein nur im freien Vollzug der menschlichen Akte. Der Geist als Teilzentrum des Menschen ist in diesem Sinne überzeitlich. 38 Zusammenfassend spielt das »Leben« in Schelers Denken um 1927 eine zentrale Rolle, wobei es auf zwei unterschiedliche Weisen aufgefasst wird. Erstens wird das Leben vom Menschen als einem Lebewesen durch eigene Erlebnisse in seinem Innewerden erfahren. Das Wesen des Lebens stellt sich hier einerseits als ein ganz nach außen gerichteter Drang dar, dessen ekstatischer Charakter die ursprüngliche Beziehung zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt kennzeichnet. Solche Beziehungen zeichnen zugleich die Einheit des Lebens aus. Andererseits charakterisiert der dem Lebensdrang implizite Rhythmus die Lebenszeitlichkeit, die alle zukünftigen Möglichkeiten eines Lebewesens prinzipiell bedingt. Der mit dem Rhythmus gegebene geschlossene Möglichkeitsraum lässt dem Leben einen Charakter der Totalität zukommen. Zweitens aber kann das Leben vom Menschen als einem geistigen Wesen betrachtet werden. Hier kämpft der Mensch gegen das Leben an. In diesem Kampf zeigt sich die eigentümliche und einzigartige Möglichkeit des Menschen, als ein geistiges Wesen außerhalb der Lebenszeitlichkeit zu stehen, also überzeitlich zu sein. Mit anderen Worten tritt hier eine überzeitliche Möglichkeit des Menschen hervor.

4.

Sein und Zeit: Sein oder Sein des Lebens

Sein und Zeit spielt zweifellos in Heideggers Wirken bis heute eine herausragende Rolle. Auch Scheler erkennt dies vorbehaltlos an, wenn er schreibt: »Sein Buch ›Sein und Zeit‹ ist das originalste und von bloßen philosophischen Traditionen unabhängigste und freiste Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 39. Heidegger kritisiert in Sein und Zeit das »Überzeitliche«, welches dort mit dem »Unzeitlichen« gleichgesetzt und dem »Zeitlichen« entgegengesetzt wird (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 25–26). Hier muss hervorgehoben werden, dass die Überzeitlichkeit des Geistes bei Scheler etwas grundsätzlich anderes meint. Sie ist keine Folge der naiven Unterscheidung nach dem Zeitkriterium, sondern deutet auf die Rolle des Geistes als desjenigen hin, der der Zeit ursprünglich Sinn gibt. Die Überzeitlichkeit bei Scheler hat daher nichts mit einem überzeitlichen Ewigen im traditionellen Sinne zu tun, sondern berührt den stets werdenden Geist und die Person. 37 38

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Werk, das wir in der ›Deutschen Philosophie‹ der Gegenwart besitzen – ein radikales und doch streng wissenschaftliches Angreifen der höchsten Probleme der Philosophie.« 39 »Das allerhöchste Problem« ist für Heidegger »die Frage nach dem Sinn von Sein«, die gleich am Anfang von Sein und Zeit heraufbeschworen wird. Um die seit langem in Vergessenheit geratene Seinsfrage erneut zu stellen, gelte es jedoch zuallererst, die Fragestellung selbst infrage zu stellen. Hier gibt es eine gewisse Analogie zum »Leben« – wir fragen nach dem, was uns am vertrautesten und zugleich am fremdesten ist: »Wir wissen nicht, was ›Sein‹ besagt. Aber schon wenn wir fragen: ›was ist ›Sein‹ ?‹ halten wir uns in einem Verständnis des ›ist‹, ohne daß wir begrifflich fixieren könnten, was das ›ist‹ bedeutet.« 40 Das Gefragte der Seinsfrage ist offensichtlich das Sein, das dem Dasein irgendwie in einem präreflexiven Verständnis – seinem »Seinsverständnis« – gegeben ist. In diesem dem ontologischen Wissen je schon vorgängigen Seinsverständnis zeigen sich sowohl die Quelle der Fragestellung als auch die Grundlage ihrer Aufklärung. Die Zeit als der einzige Horizont des Seins bildet hier ein Scharnier zwischen dem vorontologischen »Verständnis« und dem ontologischen »Wissen«. Sie bietet zugleich einen einheitlichen Spielraum, in dem die Frage aufgeworfen und ausgearbeitet werden kann. In diesem Spielraum zeigt sich, dass »Sein« immer das Sein von Seiendem besagt. Folglich ist das Befragte der Seinsfrage das Seiende, genauer: das sich durch das Fragen dieser Frage im Seinsverhältnis befindende Seiende, also das Dasein, »das wir selbst je sind« 41. Heidegger verfolgt somit eine phänomenologisch-hermeneutische Herangehensweise, bei der die Analyse des Daseins von dessen eigentümlichem lebendigen Verhältnis zum Sein ihren Ausgang nimmt. »Ausarbeitung der Seinsfrage besagt demnach: Durchsichtigmachen eines Seienden – des Fragenden – in seinem Sein.« 42 Beim Vordringen in das höchste Problemfeld der Philosophie gehen Heidegger und Scheler somit beide von einer unhintergehbaren Verbindung zwischen der Frage nach dem Sein und der Frage nach dem Menschsein aus.

39 40 41 42

Scheler, Späte Schriften, 304. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 7. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 10. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 10.

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Heidegger weist dem Dasein als dem ausgezeichneten Seienden insbesondere zwei Merkmale zu: 1. Das ›Wesen‹ dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein. Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muß, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden. […] 2. Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem. 43

»Zu-sein« markiert eine Verwandlung in der Fragestellung nach dem Sein des Daseins, von dem nach vorhandenen Eigenschaften eines Seienden fragenden Was hin zu einem Wie des Seins. Dasein ist strukturell wesenhaft anders verfasst als alles andere Seiende: Während es Seiendes durch sachhaltige Bestimmungen fassen kann, versteht es sich zugleich »immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein« 44. Die Verstehensart hinsichtlich der Möglichkeit weist auf die das Dasein kennzeichnende Struktur eines »Sich-vorweg-schon-sein[s]-in (einer Welt) als Sein-bei« 45 hin, die terminologisch als »Sorge« gefasst wird. Die ursprüngliche Einheit der in sich gegliederten Sorgestruktur entspringt dem einheitlichen Phänomen Zeit. So ist es die Zeitlichkeit, deren primäres Phänomen die Zukunft ist, 46 die das Sein des Daseins formal bestimmt. Mit der Unterstreichung der Möglichkeit gewinnen wir erneut eine gemeinsame Grundlage bei Heidegger und Scheler, die es erlaubt, die diesen Beitrag leitende Frage aufzuwerfen, ob die Möglichkeit, aus der sich das Dasein Heidegger zufolge selbst versteht (und aus der die Seinsfrage entfaltet wird), trotzdem so verstanden werden kann, dass sie in der von Scheler explizierten Lebenseinheit gründet. Das Dasein versteht das eigene Sein einerseits ontisch, andererseits ontologisch. 47 Das heißt, dass dem Dasein zwei Zugänge zu seinen Möglichkeiten offenstehen, die im Folgenden einzeln betrachtet werden sollen.

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 56–57. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 17. 45 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 433. 46 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 436. 47 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 16. »Ontologisch-sein besagt hier noch nicht: Ontologie ausbilden.« 43 44

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5.

Der ontische Zugang des Daseins zu seinen Möglichkeiten

Ontisch hat das Dasein seinem Sein gegenüber zunächst und zumeist »die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der ›Welt‹« 48. Dies verweist auf die Seinsart des Daseins als In-Sein, das sich bei der Welt aufhält, mit der Welt vertraut ist, ja in der Welt aufgeht. Im aktiven Umgang, also im »hantierende[n], gebrauchende[n] Besorgen« 49, begegnet das Dasein dem innerweltlichen Seienden als dem »Gebrauchte[n], in Herstellung Befindliche[n]« 50, kurz: als Zeug. Jedoch sollte dabei ein passiver Grundzug nicht unberücksichtigt bleiben: Im Besorgen ist das Dasein von der besorgten Welt »benommen« 51. Mit Ausdrücken wie »Aufgehen in« 52 und »Benommensein« wird das alltägliche Dasein so beschrieben, dass es im besorgenden Umgang mit dem Seienden auch da immer schon »in der Abdrängung der sich andrängenden und mitlaufenden Auslegungstendenzen« 53 ist, wo es nur selbstlos »arbeitet« 54. Scheler merkt diesbezüglich in mehreren Randbemerkungen »extatisch« 55 an. Offenbar erkennt er hier die gleiche Art der Beziehung des Menschen zu seiner »Welt« wie im Lebensdrang. Was beide Termini kennzeichnet, ist phänomenologisch durch die Richtung eines »Außer-sich« und Zielhaftigkeit charakterisiert. Das Besorgen und der Lebensdrang spiegeln gleichermaßen die ursprüngliche Verbindung zwischen dem Dasein bzw. dem Menschen und seiner »Welt« wider. So wie sich bei Scheler der Lebensdrang immer in einem bestimmten Rhythmus abspielt, untersteht auch das Besorgen bei Heidegger einer bestimmten Verweisungsganzheit, 56 insofern in beiden Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 22. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 90. 50 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 91. 51 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 82, 152. 52 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 73, 152. 53 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 91. 54 Im Besorgen ist das Dasein in seinem lebendigen Umgang mit dem vorthematischen Seienden lediglich als das zerstreute »Arbeitende« da. Um zum Subjekt zu werden, das das Seiende als »etwas« und das ihm gegenüberstehende Selbst als »Ich« anspricht, bedarf es noch »einer Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt«. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 82–83. 55 Vgl. Scheler, Späte Schriften, 310. 56 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 92–93. »Ein Zeug ›ist‹ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, 48 49

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Fällen die Akte nicht blind und willkürlich, sondern immer schon von einer vorläufigen Ganzheit bestimmt sind. So wird das Zeug hinsichtlich einer vorgängig entdeckten Zeugganzheit verstanden, die Scheler in einer Randbemerkung ausdrücklich als »Trieb-fortsetzung Projektion« 57 bezeichnet, was darauf hinweist, dass das Zeugganze den Rhythmus der Triebfortsetzung korrespondiert. Denn die das Zeugganze entdeckende Umsicht führt immer auf einen Drang zurück. Beispielsweise entdecke ich Zeug »um-zu« nach und nach in der Küche, wenn ich Hunger habe, und mein Entdecken hört auf, sobald mein Hunger gestillt ist. Demnach verläuft jedes Besorgen je schon in einer bestimmten »Um-zu«-Struktur bzw. einer Verweisungsganzheit, in die es als in einen nicht reduzierbaren Zusammenhang mit anderem eingebettet ist. Diese Ganzheit wird wiederum in einer besonderen Sichtweise – der »Umsicht« – entdeckt, die das Besorgen »führt und ihm seine spezifische Sicherheit verleiht« 58. Der ontische Vollzug der Umsicht spiegelt die ontologische Erschlossenheit der Ganzheit der Zeugzusammenhänge wider. So ist die Grenze des ontischen Möglichkeitsganzen, die sich das Dasein durch Umsicht vorthematisch aneignet, je schon ontologisch geschlossen – was Scheler mit dem kritischen Stichwort der »Totalitäts(?voraussetzung)« 59 versieht. Im alltäglichen Besorgen (wie auch in der alltäglichen Fürsorge 60) verliert sich das Dasein an je schon vertraute Möglichkeiten und ist von ihrer Ganzheit benommen. Ontisch befindet es sich im geschlossenen Möglichkeitsraum des Lebens und unterliegt seiner Totalität. Diese Seinsart des alltäglichen Daseins hat ontologisch ihren Grund: [E]s [das Dasein] ist seiner primären Seinsart nach immer schon ›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht

das es ist. Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu …‹. […] In der Struktur ›Um-zu‹ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas. […] Vor diesem ist je schon eine Zeugganzheit entdeckt.« »In solchem gebrauchenden Umgang unterstellt sich das Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu.« 57 Scheler, Späte Schriften, 311. 58 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 93. 59 Scheler, Späte Schriften, 311. 60 »Besorgen« und »Fürsorge« bezeichnen die Seinsart des alltäglichen Daseins, in der sich das Dasein zunächst und zumeist hält. Auf die Fürsorge werde ich in diesem Beitrag nicht gesondert eingehen können. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 157– 168.

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Sihan Wu

etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem ›Draußensein‹ beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne ›drinnen‹ […]. 61

Das Dasein ist nie ein zunächst in sich geschlossenes Subjekt, das sich erst nachträglich in Verbindung mit allen anderen befindet, sondern steht ursprünglich in einem bestimmten Verhältnis zum Seienden, das für sein Da konstitutiv ist: »Zunächst und zumeist versteht sich das besorgende In-der-Welt-sein aus dem, was es besorgt.« 62 Im ontischen Besorgen kann das alltägliche Dasein nur »aus dem, was das Besorgte ergibt oder versagt« 63, seine Möglichkeit gewärtigen. Das bedeutet, dass es seine Zukunft nur aus der ekstatischen Gegenwart verstehen kann. Dieser ekstatische Charakter findet sich auch in der schelerschen Lebenszeitlichkeit wieder, wo sich das Lebewesen durch den Lebensdrang in einer vorläufigen kontinuierlichen Einheit nach »Außen«, im zeitlichen Sinne: der kommenden Zukunft, innewird. Diese Zukunft ist je schon in der ekstatischen Gegenwart vorbestimmt, ja vorweggenommen.

6.

Der ontologische Zugang des Daseins zu seiner Möglichkeit

Was das Dasein jedoch ontisch auszeichnet, ist, dass es »ein Seiendes [ist], das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt« 64, sondern darüber hinaus ontologisch ist. Es ist das einzige Seiende, das nach seinem eigensten Seinkönnen fragen kann und sich damit selbst als Möglichsein 65 versteht. Wenn sich die ontische Seinsverfassung des Daseins in einer sich ekstatisch manifestierenden Einheit erschließt, in der sich das Dasein zerstreut, mit anderen Worten »in seinem eigensten geworfenen Seinkönnen vergessen hat« 66, kann das dem alltäglichen Dasein unthematische »sich selbst« bzw. sein eigenes Sein beiseite gestellt werden. Aber das Dasein hat in seinem »Zu-sein« noch eine andere, ihm 61 62 63 64 65 66

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 83. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 446. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 446. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 16. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 249. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 448.

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Sein und Zeit und Leben

gleichursprünglich eignende Möglichkeit. In dieser geht es dem Dasein um sich selbst, d. h. das Dasein fragt in seinem Sein nach diesem Sein. Entscheidend ist also, wie sich das Dasein zu diesem Selbst bzw. seinem Sein verhält. Damit rückt das zweite Charakteristikum des Daseins in den Mittelpunkt: seine Jemeinigkeit. Die Jemeinigkeit zeichnet das Dasein im Hinblick darauf aus, nie als Exemplar einer Gattung von Seiendem fassbar zu sein – aufgrund seines ontologischen Bezugs ist jedes Dasein vielmehr einzigartig. Denn es hat sich immer schon selbst für seine Seinsweise entschieden. So weist Heidegger ausdrücklich darauf hin, dass »Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist« 67, d. h. sich seine Möglichkeit aktiv zueignen und darin vereinzeln kann. Jedoch ist diese »Abkürzung« zum Dasein selbst – im Vergleich zum Umgang mit der »Welt« – nur unter der Bedingung möglich, dass sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz wiederfindet – und zwar in der Angst. In der Erschlossenheit der Angst offenbart sich dem Dasein eine ausgezeichnete Möglichkeit seiner selbst: sein Sein zum Tode. Die Angst bringt das Dasein vor sein eigenstes Sein als Möglichsein, vor seine eigenste Möglichkeit – den Tod –, die sich auf folgende Weise weiter expliziert: »auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein« 68. Dabei wird der Zugang zu der eigensten Möglichkeit des Daseins jeweils aus einer positiven und einer negativen Perspektive in Betracht gezogen. Im negativen Sinne ist diese Möglichkeit wesentlich von allen möglichen Seienden abgelöst, auf die im Besorgen oder der Fürsorge verwiesen wird. Sie setzt gerade voraus, dass das Dasein »aus seinem verfallenden Aufgehen in der ›Welt‹« 69 zurückgeholt wird, oder anders formuliert: dass die Ganzheit der innerweltlich entdeckten Möglichkeiten versinkt. In dem Moment, in dem alle ekstatisch verstehbaren, immer schon vertrauten Möglichkeiten versinken, steht dem sich ängstigenden Dasein »die völlige Unbedeutsamkeit« gegenüber, »die sich im Nichts und Nirgends bekundet« 70. Das Dasein wird auf sein eigenstes Sein zurückgeworfen, »das als verstehendes wesenhaft

67 68 69 70

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 57. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 353. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 251 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 248.

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auf Möglichkeiten sich [erst dann] entwirft« 71, wenn die »Welt« und das alltägliche Mitsein Anderer nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch bei Scheler spielt das Moment des Nichts eine entscheidende Rolle. »So schaut er [der Mensch] gleichsam bei dieser ›Umwendung‹ hinein ins Nichts: er entdeckt in diesem Blick gleichsam die Möglichkeit des ›absoluten Nichts‹« 72. Da er erst in diesem Moment bemerkt, dass er sich selbst nicht mehr als Teil der Welt verstehen kann, sorgt diese Umwendung ins Nichts unter anderem dafür, dass es dem Menschen nun um seinen Grund geht, 73 d. h. er sein eigenes Sein und das Sein der Welt selbstständig evozieren muss. Scheler und Heidegger sind sich einig darin, dass die Anschauung der Möglichkeit des Nichts die Voraussetzung für die Umwendung zum »Selbst« darstellt. Aber gerade in der positiven Auslegung dieser widersprüchlichen Möglichkeit radikalisiert sich zugleich die Auswirkung der grundsätzlichen Differenz zwischen beiden Autoren. Hier übt Scheler ausdrücklich Kritik an Heidegger: »Der Tod als Vorwissen um die ›Möglichkeit der Unmöglichkeit des Daseins‹ ist nicht rechtgesehen.« 74 Aus einer positiven Perspektive enthüllt sich der Tod bei Heidegger als eine Möglichkeit, »die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet« 75. Der Tod als Möglichkeit ist eine Seinsmöglichkeit des Daseins als Möglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz überhaupt, weil sie das Ende seiner Existenz darstellt. Vom Dasein als einem lebendig existierenden Seienden her ist der Tod die unvorstellbare letzte »Grenze« des Ganzen seiner Möglichkeiten. So ist der Tod zwar eine Möglichkeit des Daseins, gibt ihm aber »nichts zu ›Verwirklichendes‹, und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte« 76. Er bleibt jenseits aller Möglichkeiten in Bezug auf die besorgende Verwirklichung, ja er bleibt auch selbst wesensgemäß unverwirklichbar, weil »die Möglichkeit des Möglichen durch das Verfügbarmachen«

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 249. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 68. 73 Vgl. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, 68: »[U]nd dies treibt ihn weiter zu der Frage: Warum ist überhaupt eine Welt, warum und wieso bin ›ich‹ überhaupt?«. 74 Scheler, Späte Schriften, 294. 75 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 348. 76 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 348. 71 72

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gerade »vernichtet« wird. 77 Dabei gewährt der Tod dem Dasein jedoch in seiner Unbezüglichkeit den Bezug auf die Möglichkeit überhaupt. Das Vorlaufen in die Möglichkeit der Unmöglichkeit bedeutet Heidegger zufolge weiter, »alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten« mitzuerschließen. In dieser ausgezeichneten Möglichkeit liegt »die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren« 78. Dabei hat das Dasein im Hinblick auf den Tod als die »Grenze« seiner Existenz alle seine Möglichkeiten auf einmal vor Augen. Anhand dieser ganzheitlichen Sicht kann es allererst es selbst sein, »sofern es sich als besorgendes Sein bei … und fürsorgendes Sein mit … primär auf sein eigenstes Seinkönnen« 79 aktiv entwirft, statt von den im Besorgen und in der Fürsorge ekstatisch gegebenen Möglichkeiten benommen zu werden. Der eigentliche Zugang des Daseins zur Möglichkeit liegt somit darin, dass das Dasein nicht mehr ekstatisch in der in Umsicht entdeckten »Welt« aufgeht, sondern als »Herr der Umsicht« das zuvor ekstatische Besorgen und die Fürsorge in eine eigens entworfene Um-zu-Struktur einordnet und sich in ihrer Dynamik hält, bevor es an seiner »Grenze« anlangt. Um die grundlegende Differenz zwischen den Gedankengängen Heideggers und Schelers aufzuzeigen, ist es zunächst erforderlich, Heideggers Bestimmung des Todes näher zu erläutern. Danach ist der »Tod als Ende des Daseins […] die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins« 80. Von Heideggers Auffassung des Todes ausgehend drängt sich die Frage auf, ob die Zueignung des Todes, durch die das Dasein den Tod immer nur als seine eigenste Möglichkeit verstehen kann, tatsächlich die letzte Bezüglichkeit und Bestimmtheit des Todes ausmacht. Es ist die Jemeinigkeit, die diesen Bezug von vornherein als eines der wesentlichen Charakteristika des Daseins auszeichnet. Von ihm aus wird die Unmöglichkeit des Todes »ermöglicht«, indem das Dasein den Tod als eine Möglichkeit der Unmöglichkeit, d. h. als die »Grenze« seiner Seinsganzheit versteht. Entsprechend wird das Nichts als eines der »Glieder« des Seins – wenn auch ein ausgezeichnetes – aufgefasst. So scheint Heideggers Kritik an »dem Grübeln 77 78 79 80

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 346. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 351. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 350. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 343.

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über den Tod« auch ihn selbst zu betreffen: »Dieses Grübeln über den Tod nimmt ihm [dem Dasein] zwar nicht völlig seinen Möglichkeitscharakter, er wird immer noch begrübelt als kommender, wohl aber schwächt es ihn ab durch ein berechnendes Verfügenwollen über den Tod.« 81 Nicht nur das »Denken an den Tod«, sondern auch das Verstehen des Todes als ›je meinen‹, das schon zu einer Art »Vorwissen« über den Tod avanciert, geraten Scheler zufolge in diese Konstellation der »Grübelei«. Dass ausgerechnet der Tod als das Ende seiner Existenz zugleich als seine eigenste Möglichkeit verstanden werden soll, bezeichnet Scheler als »Selbstvernichtung« 82, gerade weil das Dasein sich seinen Tod aneignet. Zwar ›beherrscht‹ es ihn, insofern es in seiner Jemeinigkeit zum einzigen Herr all seiner Möglichkeiten wird – aber er bleibt trotz allem eine unmögliche Möglichkeit. In diesem Sinne kann der Tod dem Dasein nur dadurch möglich sein, dass es selbst sein Sein vernichtet. An diesem Punkt tritt die radikale Differenz zwischen Heidegger und Scheler offen zutage: Während Heidegger das Nichts mit der Vorentscheidung der Jemeinigkeit als Daseinscharakter in die Ganzheit der Existenz des Daseins integriert, behält Scheler es vielmehr als eine mögliche Unmöglichkeit bei, die auf einen absoluten Abgrund innerhalb des Mensch-Phänomens hinweist und von ihm nie angeeignet werden kann. Die Auslegung der Möglichkeit des Nichts ist auch entscheidend dafür, was für eine Seinsauffassung Heideggers Fundamentalontologie erreichen kann. Zwar verschwindet im aktiven Sein zum Tode die sich im vorontologischen Verstehen vollziehende zeitliche Ekstase, indem das Dasein vor sein eigenstes Sein gebracht wird. Das in der Jemeinigkeit gefesselte Dasein kann sich aber dennoch nicht aus der ontisch-ekstatischen Zeitlichkeit befreien, weil der Tod als die Möglichkeit des Nichts, die die Umwendung zum eigentlichen Sein ermöglicht, als das Ende der Zeit in der Zeitlichkeit des Daseins erscheint, womit jede überzeitliche Möglichkeit ausgeschlossen wird. »Die Sorge läßt den Geist nicht verstehen« 83, weil der Geist nach Scheler »überzeitlich zeitbezogen« 84 und auf die Möglichkeit überhaupt gerichtet ist und bleibt. Erst durch den Geist jedoch, »der in

81 82 83 84

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 347. Scheler, Späte Schriften, 294. Scheler, Späte Schriften, 301. Scheler, Späte Schriften, 301.

294 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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Heidegger über die Sorge philosophiert« 85, könne das Leben in seinem Werden aufgefasst werden, welches in Sein und Zeit mittels der Zeitlichkeit ontologisch erörtert werde. Beide Zugänge des Daseins zu seinen Möglichkeiten gelangen aus Schelers Perspektive letztlich nicht über die Sphäre des Lebens hinaus. Ontisch gründen das das Dasein benommen machende Besorgen und auch die Fürsorge im ekstatischen Lebensdrang. Dabei versteht sich das Dasein als einen in die Lebenseinheit eingebetteten Teil. Ontologisch unterbricht es den Zeitablauf des Lebens dadurch, dass es in der Angst vor seinen Tod als die unmögliche Möglichkeit gebracht wird. Aufgrund der Jemeinigkeit versteht es den Tod jedoch als seine eigentliche Möglichkeit, sodass die Unmöglichkeit, die den außer dem Leben befindlichen, überzeitlichen Geist offenbart, künstlich in das Innewerden des Lebens integriert wird. Gerade hier aber erkennt Scheler die ausgezeichnete Möglichkeit des menschlichen Lebens, in Auseinandersetzung mit dem Geist und durch aktive Integration der geistigen Möglichkeiten eine herrschende Rolle zu gewinnen. Der Entwurf von Sein und Zeit skizziert und unterstreicht daher nach Scheler im Grunde eine ausgezeichnete Seinsweise des Lebens beim Menschen.

7.

Schlussbemerkungen

Es drängt sich nun die Frage auf, weshalb der in Sein und Zeit gezeigte Weg aus Schelers Perspektive letztlich zum Leben zurückführt. Dazu rekapitulieren wir zunächst das Gesagte. Dass es sich bei der Thematisierung des Seins und des Menschen um die »höchsten Probleme der Philosophie« handelt, darin sind sich Heidegger und Scheler einig. In Sein und Zeit nimmt Heidegger das Sein des Daseins bzw. die Existenz als Ausgangspunkt für seine phänomenologisch-hermeneutische Herangehensweise. Die Existenz als Ausgangspunkt ist dabei aber nicht nur der Horizont, in dem die Frage gestellt und behandelt wird, sondern auch der archimedische Punkt der Theorie, an dem das Sein des Daseins als einheitliche Ganzheit festgemacht wird. Diese vorausgesetzte Ganzheit zeigt sich gerade im Jemeinigkeitscharakter des Daseins, der eine Ganzheit im Namen eines »Ich« als Herr und Besitzer bezeichnet. Auch wenn Heidegger davon ausgeht, dass das 85

Scheler, Späte Schriften, 301.

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»Dasein […] ihm selbst ontisch ›am nächsten‹, ontologisch am fernsten, aber vorontologisch doch nicht fremd« 86 ist, ist diese Distanz, wenn nicht am fernsten überhaupt, so doch in der von der Jemeinigkeit umgrenzten Existenz relativiert. Da alle fernen Möglichkeiten beim Vorlaufen in die Möglichkeit der Unmöglichkeit durch eine existenzielle Vorwegnahme des ganzen Daseins nähergebracht werden können, wird die absolute Ferne, die ihm daher fremd und wesentlich dunkel bleibt, vom Dasein nicht anerkannt. Heidegger wiederum kritisiert Schelers Personalismus in Sein und Zeit dahingehend, dass Scheler bei der Frage nach dem Wesen des Menschen (aufgrund seiner Orientierung an der antik-christlichen Anthropologie) eine Idee vom Sein des Ganzen vorausgesetzt habe. 87 Das Ansprechen des Ganzen in der Explikation des Daseins hat sich bei Heidegger jedoch so verschoben, dass die Ganzheit nicht nur die Reichweite der Auslegung vorzeichnet, sondern auch als erste Voraussetzung einer Verschiebung von der Ganzheit zur Totalität des Daseins dient. Mit der Ganzheit wird die Zeit als der formal einheitliche Horizont, in dem sich das Sein des Daseins erschließt, bezeichnet. Damit wird der hinter der einheitlichen Form verborgene Bruch des Horizonts, der auf die Unmöglichkeit außerhalb des Möglichkeitsganzen hinweist, prinzipiell nicht ausgeschlossen. Das gilt aber nicht für die Totalität, deren Abgeschlossenheit den sachhaltigen Bruch in der Existenz des Daseins nicht zulässt. In diesem Sinne kritisiert Scheler die Konzeption von Sein und Zeit: Es ist eine pure Umkehr des cartesianischen cogito ergo sum in ein sum ergo cogito. Aber der Grundfehler des Descartes, in der Ordnung des Seins des Seienden das primär gegeben zu halten, was tatsächlich das Allerfernste ist (eigene Ich; im Grunde ja auch nach Heideggers Lehre von der ›Weltverlorenheit‹ des Daseins) – er bleibt auch bei Heidegger bestehen. 88

Gegen Heideggers Konzeption in Sein und Zeit, »aus dem ›Man‹ und dem ›Gerede‹ […] und aus der ›Verfallenheit‹ in das Weltimmanente zurückzukommen zum Sein des solus ipse« 89, hält Scheler fest, dass das Sein als das »höchste Problem«, nach dem die Philosophie fragt, höher ist als das »Sein des solus ipse«. Das Sein als das transcendens 90 86 87 88 89 90

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 22. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 65. Scheler, Späte Schriften, 260. Scheler, Späte Schriften, 261. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 51.

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bedarf eines absoluten Abgrunds bzw. der Unmöglichkeit überhaupt, die das geschlossene Möglichkeitsganze aufreißt und die Transzendenz des Menschen über sich selbst hinaus ermöglicht. Diese Unmöglichkeit wird aber bei Heidegger gerade als eine ausgezeichnete Möglichkeit aufgefasst. Folglich verbirgt sich die absolute Differenz zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit im Unterschied zwischen der Möglichkeit und der Möglichkeit der Unmöglichkeit. Heidegger müsse daher am Ende von Sein und Zeit die Frage aufwerfen, ob die Ontologie »auch hierzu eines ontischen Fundamentes bedürfe«, 91 was jedoch den absoluten transzendenten Charakter des Seins gefährde. Die Unmöglichkeit als ›Möglichkeitsritzen‹ 92 und Bruch des Horizonts weist auf eine Sphäre, die jede Verkörperung als eine zeithafte ablehnt – und eben das ist es, was Scheler mit dem Geist bezeichnet. Allerdings ermöglicht gerade diese dunkle Sphäre das dynamische Werden des Seins, bei dem es sich zeitlich nach und nach enthüllt. Der Geist ist daher der Ursprung jedes Enthüllten und zugleich das Entziehende im Enthüllungsmoment. Er selbst ist überzeitlich. Die »starre« Unmöglichkeit bildet die Grenze zwischen dem überzeitlichen Geist und dem zeithaften Lebensprozess, oder besser formuliert: Sie bildet den Abgrund, der die absolute Differenz zwischen beidem darstellt. Da die unreduzierbare absolute Differenz in Sein und Zeit wegreduziert wird, hat Heidegger den Menschen aus einer schelerschen Perspektive gesehen letztlich auf eine privative Weise gefasst. Die Privation verkörpert sich gerade in der Charakterisierung des Daseins als Jemeinigkeit, die darauf hinweist, dass eine Auslegungsmöglichkeit der im vorontologischen Verstehen begegnenden Unmöglichkeit fixiert wird. Somit ist die stete Auseinandersetzung des Menschen zwischen seinem Lebensschicksal und seinem Geisteszentrum im formal einheitlichen Zeithorizont harmonisiert. Diese Auseinandersetzung stellt jedoch gerade den Prozess dar, in dem sich der überzeitliche Geist in der Zeit realisiert, wie auch den Prozess des menschlichen Werdens, der nicht nur unter verschiedenen vorgelagerten Möglichkeiten auswählt, sondern auch neue Möglichkeiten aus dem Dunkel schöpfen kann. Dennoch ist Heideggers Entwurf in Sein und Zeit keineswegs enttäuschend; er geht jedoch nicht weit genug, weil es dabei noch nicht um Sein und Zeit, sondern eher um das Sein in der Zeit bzw. 91 92

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 576. Scheler, Späte Schriften, 297.

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das Sein des Lebens im Gegensatz zum überzeitlichen Geist geht (die Urspannung zwischen beidem ermöglicht überhaupt erst das Werden des Seins in die Wirklichkeit). Mit dem Lebensbegriff als Verknüpfungspunkt zwischen den Überlegungen Heideggers und Schelers um 1927 herum ließe sich sogar fragen, 93 ob sich Heideggers Konzeption in Sein und Zeit nicht in gewisser Hinsicht in Schelers Leben-GeistStruktur integrieren ließe – was eine ganz neue Möglichkeit von »Fundamentalontologie« eröffnen könnte. Ihre Entfaltung würde jedoch einen neuen Aufsatz verlangen.

Vgl. Sepp, »Widerstand und Sorge. Schelers Antwort auf Heidegger und die Möglichkeit einer neuen Phänomenologie des Daseins«, 313–328.

93

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III. TRANSZENDENZ UND INNENWELT

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Die Existenz »zum Unmöglichen«: eine Interpretation von Maldineys Verständnis des menschlichen Lebens zwischen Anthropologie, Psychopathologie und Ethik Sylvaine Gourdain Castaing

Abstract: In seinem Buch Penser l’homme et la folie beschreibt der französische Phänomenologe Henri Maldiney die menschliche Existenz als eine Herausforderung, »zum Unmöglichen« zu sein. Dieser Aufsatz setzt sich zum Ziel, die Unmöglichkeit des menschlichen Lebens zu untersuchen, aufzuklären, und ihre ethische Tragweite aufzuzeigen. Der erste Teil fokussiert sich auf die »Hyperphänomenalität« des menschlichen Lebens: Die menschliche Existenz ist nämlich ihrem Wesen nach immer über sich selbst hinaus. Durch die enge Verknüpfung zwischen »Transpassibilität« und »Transpossibilität« erscheint das Leben als eine Übermöglichkeit oder ein Transmögliches, und in diesem Sinne kann es auch nicht mehr aufgrund einer fixen Dichotomie zwischen Pathologie und Gesundheit aufgefasst werden. Der zweite Teil widmet sich dem Gedanken der Bildhaftigkeit des menschlichen Lebens. Wie hier gezeigt werden soll, lässt sich dieser Gedanke produktiv mit den Ausführungen Maldineys zusammendenken, wenngleich er die Bildhaftigkeit als solche nicht explizit thematisiert. Sowohl das Körperbild als auch das Weltbild, die beide im internen Bild des Menschen miteinander verbunden sind, charakterisieren die Phänomenalität des menschlichen Lebens als eine Phänomenalität an der Schwelle zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, als eine Phänomenalität der Spektralität und des Gespenstischen. In his book Penser l’homme et la folie, the French phenomenologist Henri Maldiney describes human existence as a challenge to exist »towards the impossible«. This essay aims to examine and clarify the impossibility of human life and to show its ethical implications. The first part focuses on the »hyperphenomenality« of human life: human existence is, by its very nature, always beyond itself. Through the close connection between »transpassibility« and »transpossibility«, life appears as a hyper-possibility, and in this sense can no longer be understood according to a fixed dichotomy between pathology and health. The second part is devoted to the idea of the image-character of human life. As will be shown here, this idea can be productively combined with Maldiney’s remarks, although he does not expli-

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citly thematize the image-character as such. Both the image of the body and the image of the world, which are linked in the internal image of the human being, characterize the phenomenality of human life as a phenomenality on the threshold between visible and invisible, as a phenomenality of spectrality and ghostliness.

1.

Einleitung

In seinem Buch Penser l’homme et la folie beschreibt der französische Phänomenologe Henri Maldiney die menschliche Existenz als eine Herausforderung, »zum Unmöglichen [à l’impossible]« 1 zu sein. Mit dem Wort »das Unmögliche« bezeichnet Maldiney keineswegs eine absolute Unmöglichkeit, sondern den Überschuss und die Offenheit, die das menschliche Leben charakterisieren. Um zu leben, muss sich nämlich der Mensch – ob er es will oder nicht – der Welt und allem Seienden aussetzen. Er muss immer bereit sein für das, was kommt, für das Unbekannte und das Überraschende. Dadurch ist der Mensch seinem Wesen nach immer schon über sich selbst hinaus. Er lebt als er selbst, indem er sich selbst transzendiert. Diese Unmöglichkeit ist somit zuerst die faktische Beschreibung der gesunden Existenz im Gegensatz zur pathologischen und psychotischen Existenz: Der psychotische Mensch leidet nämlich an einem Mangel an Offenheit. Er kann das Unvorhersehbare in seiner Existenz nicht zulassen und kämpft ständig gegen diese Unfähigkeit. Die Unmöglichkeit des menschlichen Lebens ist aber nicht nur eine Beschreibung dessen, was ist, sondern auch – wie sich zeigen wird – eine ethische Aufforderung, ein Aufruf zu dem, was sein sollte. Dieser Aufsatz setzt sich also zuerst zum Ziel, die Unmöglichkeit des menschlichen Lebens zu untersuchen und ihre ethische Tragweite aufzuzeigen. Der erste Teil fokussiert sich auf das, was ich – in Anlehnung an Bernhard Waldenfels – die »Hyperphänomenalität« 2 des menschlichen Lebens nenne: Die enge Verknüpfung zwischen »Transpassibilität« und »Transpossibilität« macht nämlich aus dem Selbst-werden eine quasi unmögliche Herausforderung, wie ich er1 Henri Maldiney, Penser l’homme et la folie (im Folgenden PHF), Grenoble, Jérôme Millon, 2007, 90. Maldineys Zitate werden von mir übersetzt. 2 Siehe dazu: Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin, Suhrkamp, 2012.

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Die Existenz »zum Unmöglichen«

läutern werde. Die »Hyperphänomenalität« des menschlichen Lebens lässt sich auch an der engen Grenze zwischen Normalität und Pathologie aufweisen. Der zweite Teil widmet sich der Bildhaftigkeit des menschlichen Lebens, da diese bildhafte Dimension die Unmöglichkeit der Existenz veranschaulicht. Maldiney verwendet den Begriff der Bildhaftigkeit nicht und thematisiert ihn nicht ausdrücklich. Diese Dimension geht dennoch aus vielen seiner Ausführungen klar hervor, wie ich zeigen werde. In Penser l’homme et la folie kann man an vielen Stellen eine besondere Auffassung des Körperbildes und des Weltbildes des Menschen herauslesen. Das Körperbild und das Weltbild bilden zusammen das, was der spanische Philosoph José Ortega y Gasset das »interne Bild« 3 nennt. Die Bildhaftigkeit des Lebens ist auch hilfreich, um das Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen zu beschreiben.

2.

Zur »Hyperphänomenalität« des menschlichen Lebens: die Unmöglichkeit des Selbst-werdens

Die Unmöglichkeit des menschlichen Lebens lässt sich zuerst anhand der Verknüpfung von »Transpassibilität [transpassibilité]« und »Transpossibilität [transpossibilité]« fassen, wie sie im Buch Penser l’homme et la folie beschrieben wird. Die Zusammengehörigkeit zwischen Transpassibilität und Transpossibilität zeichnet eine Haltung der Offenheit gegenüber dem Ereignis, die erforderlich ist, damit das Ereignis sich auf das individuelle Leben überhaupt auswirken kann. Der Begriff »Ereignis« ist in diesem Zusammenhang und im Folgenden im emphatischen Sinne zu verstehen: Es handelt sich um kein beliebiges Vorkommnis, sondern um etwas, was den alltäglichen Ablauf des Lebens unterbricht und Neues hervorbringt. Das Präfix »trans« in den Termini »Transpassibilität« und »Transpossibilität« bezeichnet eine Bewegung des ›Über-etwas-hinaus-gehens‹ : Die »Transpassibilität« ist eine Passibilität, die über jede Passibilität hinausgeht. Mit »Transpassibilität« meint Maldiney also nicht die gewöhnliche Passivität, durch die ich ein beliebiges Geschehen aus der Welt erleiden würde, sondern eine ausgezeichnete Passibilität vor 3 José Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, übers. von Helma Flessa u. a., Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt, 1978, 317–350, hier 324 (mod. Übers.).

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jeder bestimmten Passivität, die gleichzeitig eine Rezeptivität ist. Die Transpassibilität ist eine Aufnahmefähigkeit, ein Empfangsvermögen, durch das der gesunde Mensch sich vom Ereignis erschüttern und verwandeln lassen kann, während beim kranken, psychotischen Menschen das Auftreten des Ereignisses eine Psychose verursacht. Dabei stützt sich Maldiney auf Erwin Straus und Viktor von Weizsäcker, die das pathische Moment der Existenz in den Vordergrund gerückt haben: »Pathisch« bedeutet, dass »der Lebende das Leben erleidet [subit la vie]«, wobei dieses Erleiden »einen Widerstand oder eine Zustimmung [une résistance ou un consentement] impliziert, die aktiv sind«. 4 Maldiney betont den Zusammenhang zwischen seiner Auffassung der Transpassibilität und Heideggers Begriff der »Befindlichkeit« 5 in Sein und Zeit. Wie die Transpassibilität ist die Befindlichkeit »eine Probe [une épreuve], ein πάθος, das sich selbst durch ein πάθει μάθος beleuchten lässt: ein durch die Probe erlerntes Wissen« 6. Dieser Bezug zur Befindlichkeit ermöglicht es Maldiney, die doppelte – aktive und passive – Dimension des pathischen Moments hervorzuheben, um dabei zu zeigen, dass die aktive Dimension einer Haltung des Sich-öffnens gegenüber dem Sinn gleichkommt: Indem der Mensch sich durch die Welt erschüttern lässt, bereitet er sich darauf vor, eine Rolle im Ereignis des Sinnes zu spielen. Heidegger erklärt nämlich, dass das Dasein das zu werden hat, was es immer schon ist: Es muss seine »Geworfenheit« und seine Faktizität übernehmen. Erst so »öffnet der Entwurf das Wirkliche auf die Möglichkeit und dadurch auf die Dimension des Sinnes hin« 7. So »wird das Wirkliche real [l’effectif devient réel]« 8, wobei für Maldiney »real« das meint, was in der Begegnung und im Ereignis geschieht. Gleichermaßen ist das pathische Moment der Transpassibilität jenes Moment, das dem Wirklichen erlaubt, auf die Existenz einzuwirken, indem es in ihr die Dimension des Möglichen vertieft, d. h. die Existenz für die Möglichkeit des Ereignisses öffnet. Mit anderen Worten: Bei Maldiney ist das pathische Moment niemals reine Passivität, noch ist es vergeblich, da es zu etwas Neuem, also zu einer Alterität, führt. Maldiney, PHF, 278. Siehe dazu: Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Max Niemeyer, 1927, 134– 140. 6 Maldiney, PHF, 283. 7 Maldiney, PHF, 285. 8 Maldiney, PHF, 285. 4 5

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Die Existenz »zum Unmöglichen«

Dennoch unterscheidet sich meines Erachtens die Maldineische Transpassibilität von der Heideggerschen Befindlichkeit. 9 Die Befindlichkeit verweist nämlich auf die Geworfenheit, d. h. auf die Möglichkeiten, die uns übertragen werden und die wir erben, ohne sie selbst zu entwerfen, die wir uns aber – und dies ist wichtig – im Entwurf wieder aneignen müssen. Die Befindlichkeit bringt uns zu dem zurück, was wir immer schon sind, während die Transpassibilität uns im Gegenteil für eine völlig andere Zukunft, für überraschende und unerwartete Möglichkeiten öffnet. In der Befindlichkeit müssen wir uns auf das einstimmen, was uns geschickt wurde, während wir in der Transpassibilität »empfänglich für das Unvorhersehbare [passibles de l’imprévisible]« 10 werden. Diesbezüglich betont Maldiney die Unzulänglichkeit der Existenzialanalytik, die »von Anfang an durch eine ›Ästhetik des Selben‹ gekennzeichnet« sei, während sie ein »Anderswerden« 11 zulassen solle. Heidegger habe zwar in Sein und Zeit versucht, eine Konzeption der »ethischen Existenz« 12 auszuarbeiten, die Radikalität der Transpassibilitat vor jedem Seinkönnen habe er jedoch verfehlt. Nun ist die Transpassibilität das Korrelat des Ereignisses, das selbst »transmöglich« ist. Das Ereignis geht über jede bestimmte Möglichkeit hinaus, so wie die Transpassibilität über jede bestimmte Passibilität hinausgeht: Es ist unvorhersehbar, unberechenbar und überraschend. Dadurch entgeht es dem »Entwurf« in der Heideggerschen Bedeutung, innerhalb dessen alles »von vornherein schon einen Platz hat« 13. Das, wofür wir offen sind, das Ereignis, ist nicht das, was wir entwerfen. […] In der Öffnung im Gegenteil gehört das Ereignis nicht zur Ordnung der Möglichkeiten. In Bezug auf jedes apriorische System von Möglichkeiten ist es gerade… das Unmögliche. Das Reale ist immer das, was man nicht erwartet hat, und wofür es keinen Grund zum Warten gibt. Das Ereignis ist

Über den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit bei Heidegger und der Möglichkeit bei Maldiney siehe Sylvaine Gourdain Castaing, »Du pouvoir-impouvoir à l’u-topos imageant: le possible selon Heidegger, Maldiney et Cézanne«, in: Augustin Dumont (Hrsg.), Repenser le possible: l’imagination, l’histoire, l’utopie, Paris, Kimé, 2019, 161–187. 10 Maldiney, PHF, 304. 11 Maldiney, PHF, 291. 12 Maldiney, PHF, 291. 13 Maldiney, PHF, 105. 9

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Sylvaine Gourdain Castaing

ein Transmögliches, für das das Selbst aufgrund seiner Transpassibilität offen ist. 14

»Das Ereignis liegt nicht in meiner Macht [in meinem Können: en mon pouvoir]« 15, schreibt auch Maldiney. So bezeichnet die Transpassibilität das Vermögen, in sich selbst einen Freiraum zu schaffen, um das zu empfangen, was man nicht kann und für das keine Haltung a priori zureicht. Die Transpassibilität ist das Vermögen, in uns für das Nichts Platz zu machen, d. h. für das Offene, für das, was wir nicht im Voraus geplant oder vorprogrammiert haben, denn erst aus dem Nichts in dieser Bedeutung kann das unmögliche Ereignis entstehen. Nichts – keine vorgegebene Möglichkeit – kann man sich also in der Transpassibilität wieder aneignen, und dies unterscheidet die Transpassibilität meines Erachtens von der Befindlichkeit, so wie sie in Sein und Zeit konzipiert wird, da diese aufgrund ihrer Zusammengehörigkeit mit dem Entwurf die Aneignung der geerbten Möglichkeiten voraussetzt. Maldiney verzichtet jedoch nicht auf die Dimension der Ermöglichung, die im Heideggerschen Entwurf miteinbezogen wird. »Die Existenz öffnet sich selbst, indem sie die Dimension des Möglichen eröffnet, des einzig authentischen Möglichen, das seine Möglichkeit nie verfehlt, weil es Ermöglichung ist.« 16 Der Existierende existiert nur, um seine Möglichkeit zu sein, und er kann sie nur sein, »wenn er nicht eine Möglichkeit zu sein hat, die bereits möglich ist, wenn die Antizipation seiner selbst das Feld der Trans-possibilität eröffnet« 17. Der Begriff der Transpossibilität bezieht sich bei Maldiney auf die Transpossibilität des Ereignisses, aber auch auf die Transpossibilität des Menschen selbst. 18 Während die Transpassibilität das Sich-öffnen für das Ereignis, das Empfangsvermögen des Ereignisses, bezeichnet, verweist die existenziale Transpossibilität auf die Fähigkeit, sich vom Ereignis verwandeln und verändern zu lassen. Die existenziale Transpossibilität ist »das Seinkönnen des Existierenden, der fähig ist, auf Maldiney, PHF, 105. Maldiney, PHF, 234. 16 Maldiney, PHF, 305. 17 Henri Maldiney, Aîtres de la langue et demeures de la pensée, Lausanne, L’Âge d’Homme, 1975. 18 Raphaëlle Cazal, »Henri Maldiney: la transpassibilité, l’Ouvert«, hier verfügbar: http://www.henri-maldiney.org/sites/default/files/imce/raphaelle_cazal_-_henri_ maldiney_la_transpassibilite_louvert_corrige.pdf; wieder aufgenommen in: L’ouvert. Revue Henri Maldiney, 2016 (9). 14 15

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seine Aufforderung zu sein oder zu verschwinden, zu antworten oder sich ihr zu entziehen« 19. Sie unterscheidet sich – so meine These – vom Heideggerschen Seinkönnen dadurch, dass sie auf das Ereignis antwortet, und also die Ursprünglichkeit des Ereignisses voraussetzt, während das eigentliche Seinkönnen des Daseins in Sein und Zeit seine Nichtigkeit zu übernehmen hat und selbst ursprünglich ist. Der Existierende bei Maldiney soll sich durch das Ereignis erschüttern lassen, ohne es vorausgesehen zu haben, und gleichzeitig soll sich seine Existenz, d. h. sein Möglichsein, durch die ereignishafte Transpossibilität in eine »Über-Möglichkeit« verwandeln lassen. Durch die Verknüpfung von Transpassibilität und Transpossibilität kann sich jede gesunde Existenz für das Unmögliche öffnen. Diese Strukturen der Existenz können jedoch modifiziert und verändert werden, und zwar in einer kranken Existenz. »Transpossibilität und Transpassibilität bestimmen zwei Modi, in Transzendenz zu existieren, deren Scheitern das Kranksein ist.« 20 Der psychotische Mensch leidet an einem »Möglichkeitsverlust« 21, der sich je nach Psychose unterschiedlich manifestiert. Der Melancholiker ist »unfähig, zu empfangen« 22, d. h. für etwas überhaupt empfänglich zu werden, und er stürzt in seiner sich ihm entziehenden Anwesenheit zusammen. Der Manische hört nie auf, alles zu antizipieren, was ihm widerfahren könnte und verfehlt somit jede Überraschung und jede Erschütterung: Er füllt zwanghaft jeden Spalt seiner Existenz, um das Unerwartete zu verhindern. Der Schizophrene wird von seinem Nichtkönnen überwältigt, er ist in seiner Geworfenheit verloren. Er »wird gekonnt [est pu]« 23, und zwar durch eine Vielzahl von Figuren der Alterität, die er in seinem Selbst nicht integrieren kann. Dabei geht es in diesen drei Fällen um dieselben Strukturen der Existenz, die die Möglichkeit und das Seinkönnen betreffen, wie beim gesunden Menschen. Hier werden diese Strukturen jedoch entstellt: Der Melancholiker hat sich in seiner ursprünglichen Passibilität verloren, der Manische erleidet eine ›Hyperbolisierung‹ des Entwurfs, und dem Schizophrenen gelingt es nicht mehr, sein eigenes Können zu sein.

19 Henri Maldiney, »Existence: Crise et création«, in: Henri Maldiney u. a., Existence, crise et création, La Versanne, Encre marine, 2001, 75–76. 20 Maldiney, PHF, 263. 21 Maldiney, PHF, 308. 22 Maldiney, PHF, 308. 23 Maldiney, PHF, 227.

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So manifestiert sich die psychische Krankheit nach Maldiney vor allem durch eine Defizienz der Anwesenheit, und »die Zeitlichkeit selber löst sich auf [se désarticule]« 24. Der Melancholiker existiert in »einer Gegenwart der reinen Dekadenz« 25, so wie er es selber erkennt: »Ich bin nichts. Ich kann nichts. Ich will nichts. Ich bitte nur um eines: dass von mir nichts verlangt wird« 26. Der Manische seinerseits »hat keine Gegenwart« 27, da er seinen Entwurf in die Zukunft hyperbolisiert. »Weit davon entfernt, in der Vergangenheit zu leben, hat der Melancholiker genauso wenig eine Vergangenheit wie eine Zukunft, und weit davon entfernt, in der Zukunft zu leben, hat der Manische genauso wenig eine Zukunft wie eine Vergangenheit. Sie sind beide in ihrer Gegenwart betroffen.« 28 Der psychotische Mensch kann dem Ereignis nicht begegnen, 29 weil er weder mit der Welt noch mit anderen kommunizieren kann. Die psychotische Existenz ist auf ein einziges Ereignis fixiert, das Ereignis der Psychose selbst, das nicht angemessen empfangen wurde und zu keiner Verwandlung führte. Der Kranke kann den Einbruch der radikalen Neuheit, d. h. das Auftauchen dessen, was seine Existenz stören und seine Selbstheit in Frage stellen könnte, nicht ertragen. Er muss in der Illusion der Selbsttransparenz leben, denn er kann keine Alterität dulden, nicht einmal seine eigene. Nach Maldiney ist die menschliche Existenz durch ihre Mobilität und ihre Plastizität gekennzeichnet: Der Existierende hört nie auf, sich in seinem Leben zu verwandeln. Die wichtigsten Verwandlungen unseres Lebens werden durch Krisen verursacht, die wir überwinden müssen, um weiterleben zu können – weiter, aber anders. Genau diesen ständigen Durchgang durch Alterität kann der kranke Mensch nicht ertragen. Er erleidet Krisen, wie jeder andere Mensch, scheitert aber an ihnen, anstatt sie als Gelegenheiten zur Verwandlung zu nutzen. Um sich zu verwandeln, soll der Existierende jede Gewissheit, jede Kontrolle und Beherrschung aufgeben, er soll auf die Stabilität des Seienden verzichten und die Instabilität und Leere des Pathischen Maldiney, PHF, 229. Maldiney, PHF, 228. 26 Maldiney, PHF, 308. 27 Maldiney, PHF, 229. 28 Maldiney, PHF, 229. 29 Zu diesem Punkt siehe Joël Bouderlique, »Transpassibilité et transpossibilité«, in: Dominique Pringuey/Frants-Samy Kohl (Hrsg.), Phénoménologie de l’identité humaine et schizophrénie, Argenteuil, Le Cercle Herméneutique, 2001, 56–62. 24 25

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hinnehmen. Der Existierende soll das Wirkliche hinter sich lassen, um sich dem Möglichen hinzugeben, das aus der Verknüpfung zwischen Transpassibilität und Transpossibilität entsteht, also einem unmöglichen Möglichen: »Die Existenz ist aus sich selbst heraus diskontinuierlich, sie besteht aus kritischen Momenten, die auch Klüfte und Risse ihrer selbst sind, in denen sie aufgefordert wird, zu verschwinden oder wiedergeboren zu werden« 30. Diese Klüfte sind gleichzeitig ein Risiko für den Existierenden, denn er kann von ihnen verschlungen werden, und eine Chance, denn sie sind für ihn ein Mittel, sich zu verändern, sich zu entwickeln und sich an seine Umwelt anzupassen. In jeder Krise steht die ganze Existenz auf dem Spiel. Wenn der Mensch unfähig ist, die Krise in seine Existenz zu integrieren, nimmt die Entwicklung seiner Existenz ein Ende: »Die nicht überwundene Krise verhindert die Möglichkeit jeder anderen Krise« 31. Deshalb ist für Maldiney das Ereignis »ein Existenzial« 32, und hier unternimmt er eine Wiederaufnahme und Modifizierung der Heideggerschen Existenzialanalytik. In Sein und Zeit wird der Heideggersche Begriff des Ereignisses noch nicht verwendet, und wenn Heidegger in den dreißiger Jahren anfängt, diesen Begriff zu benutzen, verzichtet er gleichzeitig auf seine Existenzialanalytik. So zeigt Maldiney einen anderen Weg zwischen der Fundamentalontologie und der Existenzialanalytik einerseits und der Konzeption des Ereignisses andererseits, einen Weg, der die Dimension des Empfindens gegenüber der Dimension des Hermeneutischen bevorzugt. Für Maldiney kann das Ereignis von der Existenz nicht getrennt werden, denn »der Horizont der Existenz des Selbst ist die uns zugekehrte Seite des Ereignisses« 33. Die Transpossibilität des Ereignisses hat nur Sinn, wenn sie durch die Transpossibilität der Existenz aufgenommen wird, d. h. wenn sie durch einen Existierenden empfunden wird, der dann von ihr verwandelt werden kann. »Die Anwesenheit ist die eines Selbst nur durch ihre Offenheit für das Ereignis. […] Ihre Offenheit für das Ereignis ist das, wodurch sie existiert und als Selbst existiert.« 34

30 31 32 33 34

Maldiney, PHF, 90. Maldiney, PHF, 91. Maldiney, PHF, 213. Maldiney, PHF, 213. Maldiney, PHF, 213.

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So ist das Ereignis auch das, wodurch ich ein Selbst werden kann. »Ich werde nur, sagt Erwin Straus, indem etwas geschieht, und es geschieht nur etwas (für mich), indem ich werde.« 35 Paradoxerweise kann der Existierende sein Selbst nie sein, sondern nur werden. Deshalb sieht Weizsäcker in der Krise der Existenz eine Krise des Subjekts und des Selbst, die sich durch »einen Kampf auf Leben und Tod zwischen dem Pathischen und dem Ontischen« 36 ausdrückt. Der Mensch soll über sich hinaus existieren, ohne jedoch im reinen Können zu existieren. Die Gegenüberstellung zwischen dem Pathischen und dem Ontischen ist die zwischen einer »Existenz, die sich selbst voraus ist, außerhalb ihrer selbst, und einem Seienden, das seiner Beständigkeit sicher ist«. Wie kann man aber ein Selbst werden, indem man »außerhalb seiner selbst« steht? Dies ist nur möglich, wenn der Existierende Ausdruck eines anderen Werdens wird, nämlich des Ereignisses selbst: Indem ich in meiner Existenz das aufnehme, was mir außerhalb meiner selbst zustößt, kann ich ein authentisches Selbst werden. Indem ich zum Ort dieses Ereignisses werde, existiere ich als ein Selbst, das kein Subjekt ist. Hier muss man beachten, dass das »Selbst-werden« »außerhalb seiner selbst« gleichzeitig die faktische Beschreibung einer gesunden Existenz und eine ethische Aufforderung ist. Beide Ebenen sollen unterschieden werden, ohne jedoch ganz getrennt zu werden. Zum Kranksein schreibt nämlich Maldiney: »Das psychotische Dasein ist eine Existenz, deren Authentizität in ihrer Nicht-Authentizität selbst auf dem Spiel steht« 37. Hier versteht Maldiney das Wort »authentisch [authentique]« im deutschen Sinne von »eigentlich«: Damit meint er nämlich »das, was mir ganz besonders eigen, absolut meins ist« 38. Der kranke Mensch kämpft gleichzeitig für und gegen diese Authentizität der menschlichen Existenz, insofern als er »zwischen der Unmöglichkeit, das Ideal zu verwirklichen und der Unmöglichkeit, darauf zu verzichten, befangen ist« 39. Immer wieder versucht er, das Walten der Welt durch den Aufbau einer anderen Welt zu ersetzen. Im Fall von Suzanne Urban, einer schizophrenen Patientin Binswangers, deren Ehemann an Krebs erkrankt ist, wird die Krankheit des Mannes

35 36 37 38 39

Maldiney, PHF, 91. Viktor von Weizsäcker, zit. n. Maldiney, PHF, 91. Maldiney, PHF, 7. Maldiney, PHF, 7. Maldiney, PHF, 8.

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zu einem »Oberbegriff« (nach Eugen Bleulers Terminologie), d. h. zu einem »fixen und eindringlichen Thema, das den Wert eines obersten Referenten hat und so formalisiert ist, dass es als totalitäre Kategorie funktioniert« 40. Suzannes Existenz orientiert sich ausschließlich an diesem Oberbegriff, und er bestimmt auch ihr Ideal, das darin besteht, sich mit Leib und Seele ihrem Ehemann zu widmen. Ihr »Entwurf« schreibt sich ausschließlich in den Rahmen des Krebses ein, so dass ihre Welt nur noch Angst und Schrecken ist, und anstatt zu »können«, wird sie schließlich durch den Krebs »gekonnt«, den sie nicht besiegen kann. Die Transzendenz ihrer Existenz wird so zu einer »festgefahrenen Transzendenz [transcendance enlisée]« 41. Bei ihr ersetzt also der Versuch, den Krebs zu beherrschen, die Verwandlung, die das Ereignis in ihrer Existenz hätte bewirken können, wenn sie es in ihrer Transpassibilität aufgenommen hätte, wenn sie zu dieser radikalen Passivität fähig gewesen wäre, anstatt sich in einer ausweglosen Handlung zu verlieren. So zeigt uns eine Untersuchung über die Psychose, dass Pathologie und Gesundheit nicht so stark voneinander entfernt sind, als es die Psychiatrie lange glauben wollte. Nach Maldiney »wäre die AntiPsychiatrie nicht geboren worden, hätte sich die phänomenologische Haltung in der Psychiatrie durchgesetzt« 42. Ob diese Diagnose nun richtig ist oder nicht, Maldiney meint damit, dass man alle Vorurteile, alle Vorannahmen und erst recht alle vorher festgelegten Normen, die das Normale und das Pathologische in zwei definitiv gegensätzliche Lager situieren würden, loswerden muss, um die Psychose zu verstehen. Alle normativen Begriffe sollen ausgeklammert werden, denn das Pathologische und das Gesunde werden durch eine gewisse Porosität gekennzeichnet: In jeder gesunden Existenz gibt es Pathologisches und in jeder pathologischen Existenz gibt es Gesundes. Auch Bernhard Waldenfels betont diese Verschränkung zwischen dem »Normalen« und dem »Anormalen«, zwischen Ordnung und Unordnung. Gegen eine zu starke Dichotomie zwischen Ordnung und AntiOrdnung schlägt Waldenfels vor, die Differenz innerhalb der Ordnung selbst zu berücksichtigen 43. Dies ermöglicht ihm, den Begriff Maldiney, PHF, 10. Maldiney, PHF, 254 (Hervorh. i. O.). 42 Maldiney, PHF, 9. 43 Siehe dazu: Bernhard Waldenfels, »Normalité et normativité. Entre phénoménologie et structuralisme«, in: Revue de métaphysique et de morale, 45 (1), 2005, 57–67; Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1987 40 41

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des »Hyperphänomens« zu entwickeln: Hyperphänomene sind Phänomene, »die einer Vielfalt hyperbolischer Erfahrungen entspringen« 44, also Erfahrungen, in denen »sich etwas als mehr und als anders, als es ist, zeigt« 45, die also über jede Ordnung hinausgehen. Die Psychose entspricht einer solchen Hyperphänomenalität, da in ihr die Grenzen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen verschwommen sind, weil diese eine Geschichte haben, einer Genese entspringen, vom jeweiligen Kontext abhängen und keine normative Essenz haben. Aufgrund dieser Konzeption kann die Genesung als die Eröffnung einer neuen Normalität und nicht als eine bloße Rückkehr zu einem vergangenen Zustand betrachtet werden, wie es – so Maldiney – der Fall von Roland Kuhns Patient Georg zeigt. Georg empfand sich selbst als »nichts«, da er als der Sohn einer Prostituierten keine eigene Welt und nicht einmal einen eigenen Namen hatte: Als Baby trug er den Namen »Georges« (auf französische Art und Weise ausgesprochen), und als er drei wurde, wurde er dann von seiner deutschen Pflegemutter »Georg« genannt. Er konnte aber seine Pathologie überwinden, indem er sie in sein neues Leben integrierte. Werkmeister in einer Umzugsfirma geworden, stand er gerne am Eingang der Räume, die geleert werden sollten, um den Umzug von Möbeln zu überwachen. »Ohne jemals die Dinge zu berühren, die man wegnimmt, organisiert er die Rückkehr zur Herrschaft der Leere«. 46 Georgs Genesung ist also nicht die schlichte Unterdrückung einer Krankheit, sondern die Integration eines pathologischen Zustands in ein gesundes Leben: Georg hat es geschafft, seine Existenz aus dem Ereignis seiner Psychose zu verwandeln. Er hat die Krise nicht beseitigt, er hat sie vielmehr überwunden, d. h. in sein SelbstWerden integriert. Die Untersuchung von Psychosen führt uns also dazu, die Menschlichkeit des Menschen jenseits zu eindeutiger Dichotomien neu zu denken. Der gesunde Mensch ist nicht vollständig und endgültig vor Krankheit bewahrt; jeder gesunde Mensch behält eine Spur von Pathologie in sich. Umgekehrt ist der psychotische Mensch nicht

und Bernhard Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1998. 44 Waldenfels, Hyperphänomene, 9. 45 Waldenfels, Hyperphänomene, 9 [grammatikalisch angepasst]. 46 Maldiney, PHF, 213.

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definitiv krank, er kann es schließlich schaffen, wie Georg, nach einem unerbittlichen Kampf die Krankheit in seine persönliche Entwicklung zu integrieren. Gleichermaßen kann man daraus folgern, dass das Deskriptive und das Präskriptive, die beide menschliches Verhalten betreffen, nicht so sehr entgegengesetzt sind, wie es scheint, denn Normalität kann nicht einfach auf die Seite des rein Deskriptiven und Normativität auf die Seite des Präskriptiven gestellt werden. In der Normalität gibt es immer schon Normativität. Zu sagen, dass eine Existenz »gesund« sei, ist somit immer schon ein Normativität setzendes Urteil, und nicht nur eine neutrale Beschreibung. Durch die Verwendung des Begriffs des Unmöglichen bringt Maldiney eine gewisse Verwirrung in diese starren Unterscheidungen. Er erklärt, wie sich der Mensch von allem befreien soll, was ihn in seiner ontischen Identität festsetzt, um in der Überraschung des Pathischen er selbst zu werden. Nun ist diese »Aufforderung ein Zwang zum Unmöglichen [une contrainte à l’impossible] 47. Niemand ist zum Unmöglichen verpflichtet, außer eben dem Existierenden, der im Hinblick auf das Seiende nur unmöglich sein kann.« Selbst wenn er auf diese ethische Aufforderung zu antworten sucht, kann jedoch der psychotische Mensch, der an einer Defizienz seines Könnens leidet, nicht für verantwortlich gehalten werden, wenn er in diesem Versuch scheitert. Ab wann der Mensch als krank zu betrachten ist, ist aber schwierig zu definieren: Denn die Grenze zwischen dem Pathologischen und dem Gesunden ist sehr schmal, und wir müssen immer vorsichtig sein, wenn wir glauben, dass wir sie klar festlegen können, auch in Bezug auf uns selbst. Es liegt daher an jedem Einzelnen, so weit wie möglich, d. h. so weit es ihm möglich ist, seine eigene Existenz zu untersuchen, um zu sehen, wie er auf diesen »Zwang zum Unmöglichen« antworten könnte.

3.

Zur Bildhaftigkeit des menschlichen Lebens: Körperbild, Weltbild und internes Bild

Um sein Selbst zu werden, soll jeder Einzelne eine gewisse Alterität in sich übernehmen. »Jeder stiftet seine Selbstheit nur, indem er seine Alterität erobert [Chacun ne fonde son ipséité qu’à conquérir son

47

Maldiney, PHF, 90.

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altérité].« 48 Die Alterität, mit der die Kranken konfrontiert werden, ist aber eine andere Form der Alterität, die vor ihnen wie ein unüberwindbares Hindernis steht, eine Alterität, die gerade »das Werk eines anderen ist«, wobei Maldiney schreibt: »Selbst sein heißt, nicht das Werk eines anderen sein [ne pas être le fait d’un autre]« 49. Umgekehrt reicht die Selbigkeit nicht, um die Selbstheit zu stiften: Um zu existieren, muss in Ihnen, in variabler Tiefe, diese opake Leinwand vorhanden sein, die Ihre eigenen Worte, Ihre Haltungen oder Ihr Verhalten … als andere reflektiert, und zwar so, dass Sie, so in sich selbst versetzt [ainsi déplacés en vous-mêmes], einen anderen Ausdruck Ihrer selbst auf diese konkave Leinwand richten, die ihn erneut gegen Sie reflektieren wird. 50

Die Existenz des Selbst verlangt ein ständiges Spiel zwischen dem Selbst und seinen »Ausdrücken«, die ihm aus einer »opaken Leinwand« reflektiert werden. Die Opazität im Ich dient also dazu, das Ich zu erneuern und zu verwandeln. Das Ich ist nichts anderes als dieses ständige Hin und Her zwischen seinen verschiedenen Ausdrücken. Zu existieren bedeutet also, sich versetzen und erschüttern zu lassen, d. h. sich selber ständig im »Außer sich« zu begegnen, da jede Begegnung das Unerwartete voraussetzt. Eine reine Durchlässigkeit, eine reine Transparenz, würde die Existenz zunichtemachen: »Sie würden nicht existieren« 51, schreibt Maldiney, denn vom Selbst würde nichts zurückbleiben, wie im Fall eines Manischen, der in einer Welt ohne Widerstand lebt, in der ihm alles zugänglich ist, da ihm ja alles im Voraus bekannt ist. Diese ständige Versetzung in sich selbst nimmt im Fall der Psychose defiziente Formen an. Man kann an Odette denken, die an Melancholie leidet. Sie erlebt zwar eine Form von Alterität in sich selbst, aber anstatt eine innere Versetzung zu erfahren, die sie verwandelt und ihr erlaubt, ein bewegliches Selbst zu sein, erlebt sie eine Spaltung, die sie zwischen ihren verschiedenen Ichs zerreißt. »Sobald ich etwas tue, denke ich, es ist falsch – und dann beobachte ich mich selbst« 52. Statt eines Spiels und einer Beweglichkeit erfährt Odette eine »Distanz zwischen einem beobachtenden Selbst und einem be48 49 50 51 52

Maldiney, PHF, 54. Maldiney, PHF, 148. Maldiney, PHF, 230. Maldiney, PHF, 230. Maldiney, PHF, 25.

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obachteten Selbst« 53, und es ist diese Distanz, die ihre innere Einheit, das heißt die Existenz eines vereinten Selbst, zum Scheitern bringt. Odettes Dasein erscheint ihr nur in der Form des Seins des Anderen, eines abgeschwächten Anderen, wie auf der anderen Seite eines Spiegels [L’êtrelà d’Odette ne lui apparaît que sous la forme de l’être de l’autre, d’un autre atténué comme de l’autre côté d’un miroir]. »Es ist, als wäre ich tot und würde mich selbst beobachten«, sagt sie erneut. 54

Der Spiegel drückt in diesem Rahmen eine innere Verdoppelung aus, die sich für die kranke Frau als verhängnisvoll auswirkt, da sie schließlich nur noch dieses abgeschwächte Ich, dieser fiktive Ich-Ersatz, ist. Die von Binswanger erforschte »Manieriertheit« in der Schizophrenie zeigt eine andere Defizienzform des inneren Bildes des Ichs. Aufgrund dieser Manieriertheit wird der Schizophrene »zu einem Schauspieler seines eigenen Charakters, der sich mit diesem Schauspieler identifiziert« 55. Das Scheitern kommt hier von der Starrheit der Pose. Der Schizophrene kann diese Bilder von sich selbst nicht transzendieren, er bleibt in dieser grundsätzlichen Ambivalenz stecken. Eine dritte Defizienzform kann hier mit dem Fall von Suzanne Urban erwähnt werden. Nicht der Krebs ihres Ehemanns, sondern der Gesichtsausdruck des Arztes, als er ihr die verhängnisvolle Nachricht mitteilte, »diese ›schreckliche Pantomime‹« 56, wurde der Auslöser ihrer Psychose, genauso wie eine andere Patientin von Kuhn beim Anblick des Gesichtsausdrucks ihres Vaters, als der Schuss ertönte, der den Selbstmord ihres Bruders ankündigte, aus der Fassung geriet 57. Anstatt sich frei zwischen verschiedenen Ausdrücken zu bewegen, neigt der kranke Mensch dazu, sich auf ein einziges Bild zu versteifen, das ihn in seiner Selbstwerdung blockiert: auf eine Pose oder ein abgeschwächtes Doppel von sich (wie bei Odette), oder auf den Ausdruck eines anderen Menschen, der in das Selbst eindringt (wie bei Suzanne). Hier nimmt die unheimliche und unüberwindbare Alterität die Form eines »unintegrierbaren Ausdrucks [expression inintégrable]« 58 an, der die ganze Welt des Kranken verschlingt: »Der

53 54 55 56 57 58

Maldiney, PHF, 25. Maldiney, PHF, 25. Maldiney, PHF, 103. Maldiney, PHF, 231. Maldiney, PHF, 202–203. Maldiney, PHF, 290.

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Ausdruck ist die Welt« 59. Der Kranke wird also von diesen verschiedenen Bildern (Pose, Ausdruck, Pantomime) bewohnt, die nicht seine eigenen sind, die er nicht in seine Existenz integrieren kann und die wie Gespenster einer feindlichen Alterität seine Existenz heimsuchen. Gespalten zwischen seinen verschiedenen Gespenstern leidet der Kranke an der mangelnden Einheit seines eigenen Bildes und an einer Defizienz seines Körperbildes, wie es Gisela Pankow für die Psychose der Schizophrenie zeigt. Maldiney erklärt in diesem Sinne: »Es kann sein, dass ein und derselbe Kranke nicht spürt, wie man einen Teil seines Körpers berührt (so wenig es sein Körper ist), aber tief erschüttert ist, weil man einen Stuhl vor ihm wegnimmt, so sehr die Dinge um ihn herum von seinem Fleisch sind« 60. Das »Körperbild«, ein Begriff, den Gisela Pankow von Paul Schilder 61 wieder aufgenommen hat, ist die innere Empfindung, die ich von meinem Körper habe, und das, wodurch ich weiß, dass ich ein anderer Körper bin als der Mann oder die Frau vor mir. Durch ihre Erfahrung als Psychoanalytikerin weiß Pankow 62, dass der Psychotische im Gegensatz zum Neurotischen an einer Destrukturierung des Körperbildes leidet, so dass der Analytiker zunächst versuchen muss, das Körperbild des Patienten zu rekonstruieren, bevor er eine klassische Psychoanalyse durchführen kann. Der Psychotiker muss die Erfahrung eines einheitlichen, nach außen hin klar abgegrenzten Körpers wiederentdecken und lernen, wirklich in seinem Körper zu leben. Die Verräumlichung des Körpers geht der Verzeitlichung voraus, denn nur ein Körper, der als Ganzes funktionieren kann, kann eine Geschichte haben. Auf der Grundlage von Pankows klinischen und theoretischen Arbeiten kann man also feststellen, dass das Bild des Körpers in die Strukturierung unserer Existenz vor die Sprache eintritt, und dies ist im Rahmen dieser Untersuchung von großer Bedeutung. Die Fragmentierung des Körperbildes geht Hand in Hand mit einer Defizienz des Weltbildes, denn der Psychotiker hat oft große Schwierigkeiten, die Grenzen zwischen seinem eigenen Körper und Maldiney, PHF, 203. Maldiney, PHF, 101. 61 Siehe Paul Schilder, The Image and Appearance of the Human Body: Studies in the Constructive Energies of the Psyche, London, Paul, Trench, Trubner, 1935. 62 Siehe dazu Gisela Pankow, L’homme et sa psychose, Paris, Flammarion, 1993 und Gisela Pankow, L’être-là du schizophrène: contributions à la méthode de structuration dynamique dans les psychoses, Paris, Flammarion, 2006. 59 60

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der Außenwelt zu finden. Er leidet also an einem Raumbegrenzungsproblem: Wo endet mein Körper? Wo beginnt die Welt? »›Sein Körper hat keine Schranken [pas de limites].‹ Er ist entschränkt [délimité].« 63 Die Dissoziation des Körperbildes ist in der Tat gleichzeitig eine Kontamination des eigenen und des fremden Raums. Der Fall Franz Weber veranschaulicht diese Pathologie. In seinem täglichen Leben ist Weber nicht in der Lage, seine persönliche und seine gemeinschaftliche Existenz zu verbinden, nicht weil sie sich in einer unüberbrückbaren Distanz voneinander befinden würden, sondern im Gegenteil, weil sie sich ständig in einer unüberwindlichen Verwirrung vermischen. Sein schizophrenes Delirium dient ihm dazu, dem unerträglichen Gefühl der Kontamination, das er täglich erlebt, entgegenzuwirken. »Der unbegrenzten Kontamination des eigenen und des fremden Raums [contamination illimitée de l’espace propre et de l’espace étranger] setzt er die Hyperabgrenzung einer anderen Welt entgegen.« 64 Weber zeichnet den Plan einer Stadt, in der jede Straße, jedes Haus und jedes Gebäude so eng voneinander abgegrenzt werden, dass sie auch gar nicht mehr miteinander in Kontakt treten. Diese Stadt wird als eine »autarke Stadt, frei von jeglichem Austausch mit der Außenwelt« 65 konzipiert, als eine in sich geschlossene Stadt wie in einem Kreis, in dem sich Anfang und Ende überschneiden. Diese Eingeschlossenheit im Raum entspricht auch einer Eingeschlossenheit in der Zeit: Weber stellt sich eine Prozession vor, die alle sechs Monate um die Stadt herum zieht, als wolle sie die Grenzen der Stadt in Besitz nehmen. Diese Wiederholung des Selben »schließt das Anders-Werden aus« 66 und gibt dem Kranken die Illusion, den mannigfaltigen Brüchen und Klüften seiner Existenz zu entkommen. Während Weber mit diesem architektonischen Projekt eine erstickende Kontinuität erfindet, um das unerträgliche Gefühl der Fragmentierung zu ersetzen, mit dem er jeden Tag zu kämpfen hat, leidet Suzanne Urban dagegen unter der erschreckenden Kompaktheit ihrer Welt. »Sie witterte überall Gefahr, sagten ihre Verwandten. […] Das Wittern ist dem Berühren ähnlich. In einem dichten Nebel (Nebel und Nacht 67) ist alles unmittelbar auf uns, und unser Bezug zur Um-

63 64 65 66 67

Maldiney, PHF, 297. Maldiney, PHF, 101. Maldiney, PHF, 102. Maldiney, PHF, 103. Auf Deutsch im Original.

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gebung ist Kontakt, ohne Kommunikation zu sein, weil es ja keinen Spielraum gibt.« 68 Schon in der Urszene zu Beginn ihrer Schizophrenie fühlte sich Suzanne ganz dem schrecklichen Ausdruck des Arztes ausgeliefert, so dass dieser Schrecken zu ihrer inneren Atmosphäre und zu ihrer »Stimmung« wurde, um es mit Heidegger zu sagen. Nur aus dieser bedrohlichen Stimmung kann sie daher eine Welt entwerfen. Bei ihr wird das Sehen zu einem Riechen und einem Tasten, und hier erweist sich die Synästhesie als pathologisch: Es muss eine Grenze zwischen dem Körper des Kranken und der Welt, sowie zwischen den verschiedenen Sinnen, geben, damit Kommunikation entsteht. Wenn es gar keine Grenzen gibt, so kann auch kein Ereignis eintreten. Für Maldiney ist der Augenblick, in dem der »Kontakt die Kommunikation ersetzt« 69, der Ausgangspunkt der Krankheit. In diesem Sinne vergleicht er den Gesichtsausdruck des Arztes von Suzanne Urban, der sofort in Suzannes Welt eindrang, mit der »absoluten Nähe« eines »Gesichtes, das nachts gegen das Glas gepresst gesehen wird […] – und dessen Ausdruck ohne Distanz auf uns lastet«. 70 Suzanne Urban ist das Opfer eines Bildes, das eine faszinierende und morbide Macht über sie ausübt, so dass sie keine anderen Möglichkeiten entwerfen kann. Sie wird von diesem Bild heimgesucht, das wie ein Geist immer wieder auftaucht: Es ist in der Tat die eindringliche und ständige Rückkehr dieses gespenstischen Bildes, die ihre Psychose kennzeichnet. Die Psychose entsteht also, sobald ein fremdes Bild in das Bild des Körpers eindringt, da, wo die Transpassibilität eingreifen sollte, um die Krise und das Ereignis, über das der kranke Mensch stolpert, in das Selbst aufzunehmen. So ist für den Kranken diese Defizienz eine Defizienz des »internen Bildes«. Dieser Begriff bezeichnet die Kombination des Körperbildes und des Weltbildes, auf der das In-der-Welt-sein beruht. Dazu möchte ich auf den spanischen Philosophen José Ortega y Gasset verweisen, um zu klären, um welche Form von Bild es mir hier geht. In einem Text von 1925 71 erwähnt Ortega den Körper, insofern man ihn gleichzeitig – aber auf unterschiedliche Weise – von innen und von außen kennt. Jedes Individuum »erlebt […] seinen Körper von innen, 68 69 70 71

Maldiney, PHF, 203. Maldiney, PHF, 204. Maldiney, PHF, 204. Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist.

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Die Existenz »zum Unmöglichen«

es besitzt von ihm eine innere Wahrnehmung oder Anschauung« 72. Diese innere Anschauung vom Körper bleibt aber von außen unsichtbar. Das visuelle Bild, das jemand, der meinen Körper von außen betrachtet, von mir haben würde, deckt sich nicht mit der »subjektiven Landschaft« 73, die ich von meinem eigenen Körper habe. Das, was Ortega »Binnenkörper [intracuerpo]« 74 nennt, der »aus den Tastund Bewegungseindrücken der Eingeweide und Muskeln«, aber auch »aus Lust- und Schmerzerlebnissen usw. usw.« 75 besteht, wird als ein »internes Bild« 76 bezeichnet. Der Binnenkörper ist »dieses interne Bild, das wir beständig mit uns herumschleppen, so daß es gewissermaßen der Rahmen ist, in dem uns alles erscheint« 77. Dieses »interne Bild« ist jedoch keine starre Repräsentation, und es ist sogar die Degradierung unseres internen Bildes zu einer Repräsentation, die die Krankheit hervorruft, wenn »das Körperbild, das dynamische Schema des Leibs, dieselbe Thematisierung wie das Weltbild erleidet« 78. So ist die Erfahrung des Spiegels für den Kranken eine ambivalente Erfahrung. Meistens kann er sein Spiegelbild mit dem, was er in seinem Leib, in seinem »Binnenkörper«, empfindet, nicht identifizieren. Einerseits verwirft er dieses Spiegelbild, als sei es ein Fremdbild, andererseits fühlt er sich unwiderstehlich davon angezogen, so dass er sich manchmal sogar in den Spiegel stürzt, um »in den irrealen Raum des Spiegels einzutreten« 79. Auch bei einem gesunden Menschen kann die seltsame Erscheinung, die vor uns im Spiegel erscheint, Unbehagen bewirken. In meinem Spiegelbild – wenn es mir als eine starre Darstellung von mir selbst erscheint – erfahre ich »eine unauthentische Faktizität, die mir nicht eigen ist, weil sie von meinem Seinkönnen abgeschnitten ist« 80. Die »Unheimlichkeit des Unsinns [le malaise du non-sens]« 81 empfinden wir gegenüber diesem Bild, das wie das perverse Doppel unseres internen Bildes ist. Es ist nicht nur die Degradierung unseres internen Bildes, 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, 323. Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, 323. Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, 322–328. Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, 324. Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, 324 (mod. Übers.). Ortega y Gasset, Vitalität, Seele, Geist, 324 (mod. Übers.). Maldiney, PHF, 298. Maldiney, PHF, 299. Maldiney, PHF, 254. Maldiney, PHF, 254.

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sondern auch seine unauthentische Entstellung. Die Erfahrung des Spiegels kann aber auch zu einer authentischen Erfahrung werden, »wenn ich mich selbst im Spiegel betrachte und plötzlich meinen eigenen Blick darin einfange« 82. Indem ich meinen Blick sehe, sehe ich mich plötzlich gleichzeitig sehend und gesehen; so ist es gerade mein internes Bild in seiner eigenen Dynamik, genauso wie ich es von innen her wahrnehme, das mir plötzlich einen Augenblick erscheint. Der psychotische Mensch, der an einer Defizienz seines internen Bildes leidet, beginnt, einen Ersatz desselben zu produzieren, entweder durch Zeichnungen und Gemälde, die er anfertigt, oder unbewusst in seinen Träumen, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen. Dieser Versuch, sein inneres Bild durch ein äußeres Bild darzustellen, zeugt oft zunächst einmal davon, dass es dem Kranken nicht gelingt, in seinem inneren Bild, d. h. auch in seinem eigenen Leib, zu wohnen. Die Zeichnungen der Schizophrenen zum Beispiel zeigen die panische Angst vor der Leere, dieses »Entsetzen vor der Leere« 83, das die Kranken zu erleiden haben. Schizophrene hinterlassen in ihrer Malerei nie ein interstitielles Weiß oder irgendeinen Freiraum, denn aus dieser Leere könnte ein Ereignis entstehen, und gerade dieser Einbruch des Neuen, des Unbekannten, ist es, den der Kranke am meisten fürchtet. Manchmal, so erklärt Maldiney, bedecken die Schizophrenen ihr Bild sogar mit einer undurchsichtigen Schicht, um die Entstehung jedes unvorhergesehenen Ereignisses definitiv zu verhindern 84. Auch Kuhns schon erwähnter Patient Georges ist nicht in die wahre Elfriede verliebt, sondern in Iphigenie, ihr gespenstisches Doppel, d. h. in eine Frau, die er als ein schwarz gekleidetes Skelett sieht. »›Wie Georges selbst ging das Gespenst überall umher und war nirgends zu sehen. Und Georges fühlte sich in seiner Gegenwart vollkommen glücklich. […] Wenn ihr Bild [Elfriedes Bild] da war, verschwand alles andere‹.« 85 Georges, der nur in einer flüchtigen Gegenwart existiert, kann selbst nur der Leere, der gespenstischen Form des Todes, begegnen, die eine Rückkehr ins Nichts bedeutet. Dennoch können Bilder (äußere Bilder) auch als lebendige Darstellungen fungieren, um dem Kranken zu helfen, seinen eigenen Körper wiederzufinden. Diese Methode benutzte zum Beispiel Gisela 82 83 84 85

Maldiney, PHF, 255. Maldiney, PHF, 89. Siehe dazu Maldiney, PHF, 89. Maldiney, PHF, 211.

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Pankow, um besonders schwierige Psychosen zu behandeln. 86 Maldiney gibt uns auch das Beispiel von Sylvain Fusco, der in einem undurchdringlichen Autismus gefangen war und daher bis zu seinem Tod zu sprechen und zu schreiben aufhörte. In zwei Phasen seines Lebens jedoch malte Fusco absolut ununterbrochen und überall, an Wänden, auf doppelseitigem Papier usw. »Wir hatten den Eindruck, dass er dabei war, seinen Autismus zu überwinden, und uns durch diesen grandiosen stillen Monolog von seinen fabelhaften Visionen erzählte […].« 87 Maldiney erklärt, dass es Fusco gelungen ist, sich selbst auf seine Werke zu »entwerfen« und den Anderen, der in seiner Psychose jedoch für ihn nicht existiert, darzustellen, und dies in »einem Kampf gegen die Gefahr der Spaltung des Ichs, d. h. in einem Versuch der Integration« 88. Durch sein Werk ist es Fusco gelungen, der Leere seiner Psychose einen Sinn zu verleihen und sein Nichts der Ohnmacht in ein schöpferisches Nichts zu verwandeln. So wie die Dissoziation des Körperbildes mit einer Dissoziation des Weltbildes einhergeht, so scheitert der Kranke, der nicht sein Körper sein kann, daran, in der Welt zu wohnen. Auf die Frage »Wo sind Sie?« antwortet der Kranke: »Hier, in diesem Zimmer. Aber hier für mich, das hat keinen Sinn« 89. Der Kranke kann nicht mehr da sein. Die Fragmentierung des Körpers bedeutet für den Psychotiker auch »die Massivität eines Körpers ohne Öffnung zur Welt, eines Körpers, der nicht mehr sein eigener ist, weil er nicht mehr in der Welt wohnt, weil er in sich selbst eingeschlossen ist« 90. Und Maldiney erwähnt das tragische Beispiel einer kranken Frau, die ihren Körper als eine Art »weichen Sarg« wahrnahm, »der genau an ihre Haut angepasst war, und in dem sie sich in eine exkrementelle Substanz auflöste« 91. In der Fähigkeit zu wohnen besteht der Unterschied zwischen den Toten und den Lebenden: Der Tote »reduziert sich auf die Oberfläche seiner Haut«, wie diese kranke Frau, die sich selbst als tot sieht, eingeschlossen in einem Sarg, der genau an ihre Größe angepasst ist, während ein lebender Mensch »im Raum jenseits der theoretischen Oberfläche Siehe dazu Robert Pelsser, »Gisela Pankow ou la possible rencontre avec le psychotique«, in: Pratique analytique et psychose, 9 (1), 1984, 80–96, insb. 84–87. 87 Henri Maldiney, »Dialectique du Moi et morphologie du style dans l’art«, in: Art et existence, Paris, Klincksieck, 2017, 59–127, hier 73. 88 Maldiney, »Dialectique du Moi et morphologie du style dans l’art«, 79. 89 Maldiney, PHF, 297. 90 Maldiney, PHF, 159. 91 Maldiney, PHF, 159. 86

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seines Körper-Objekts wohnt« 92. Emanuele Coccia erklärt in seinem Buch La vie sensible, dass ein Bild stattfindet, wenn eine Form über ihre eigenen Grenzen hinausgeht, »außerhalb ihres eigenen Ortes« ist. Darin öffnet das Bild »eine Art Hyperraum« 93. Gerade in diesem Sinne soll der Begriff des Bildes in diesem Aufsatz verstanden werden. Das Bild ist der Modus, in dem das Selbst »außerhalb seiner selbst« in der Welt sein kann. Nur aufgrund der Bildhaftigkeit seines Daseins, seiner Existenz, kann der Mensch in der Welt wohnen: Das Bild ist der Hyperraum, der es ermöglicht, in der Welt außerhalb seiner selbst zu wohnen, ohne sich selbst innerlich spalten zu müssen. Die Unfähigkeit, sein eigener Körper zu sein und in der Welt zu wohnen, bewirkt für den Kranken eine doppelte Schwierigkeit: eine, die das »Mitsein« betrifft – »er kann niemandem begegnen« –, und eine, die sein Verhältnis zu den Dingen angeht – »das Seiende ist für ihn nicht zuhanden« 94. Wie beschreibt also Maldiney unsere Begegnung mit dem anderen Menschen und deren Scheitern im Leben des Kranken? In Penser l’homme et la folie bezieht sich Maldiney mehrmals auf Emmanuel Levinas und auf dessen Konzeption des Gesichts des Anderen 95. Nach Levinas ist der Andere derjenige, den ich in mein Leben nicht integrieren kann, den ich nicht erwarten kann, dessen Ankunft ich nicht voraussehen kann. Der Andere »ist derjenige, dessen Autor ich nicht sein kann. Er transzendiert mich aus der ganzen Alterität, durch die sich seine freie Selbstheit für mich ausdrückt. Das Erscheinen des Anderen, schreibt Levinas, versetzt mich in Nichtkönnen.« 96 Um dieses Nichtkönnen – illusorisch – zu unterdrücken, wollen wir manchmal den Anderen töten, entweder wirklich oder metaphorisch, wenn wir durch unser Verhalten, »anstatt ihn von Angesicht zu Angesicht zu betrachten [au lieu de nous envisager à lui], ihn ent-stellen [nous le dévisageons], indem wir ihm sein Gesicht entziehen [lui ôtant son visage]« 97. So versuchen wir den Anderen in einen fertigen Umriss, der nur eine Karikatur sein kann, einzufangen, indem wir uns das aneignen, was sich niemals aneignen lässt: das Bild des Anderen. Maldiney, PHF, 157. Emanuele Coccia, La vie sensible, Paris, Rivages poche, 2010, 36–37. 94 Maldiney, PHF, 297. 95 Siehe dazu Emmanuel Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, La Haye, Martinus Nijhoff, 1971, insb. 203–224. 96 Maldiney, PHF, 65. 97 Maldiney, PHF, 65–66. 92 93

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So wie ich mein internes Bild bin, ist der Andere selbst auch Bild in dem Sinne, dass er über seine eigene Kontur hinausgeht. »Das, was sein Gesicht ist, wird nicht durch Grenzen, sondern umgekehrt durch die Ausstrahlung des Blickes bestimmt.« 98 Denn der Blick geht nicht nur von den Augen aus, sondern auch von den Wangen, der Stirn, den Augenbrauen, dem ganzen Gesicht. Der Andere ist eine »Person«, nicht aber als persona, im Sinne der Totenmaske, sondern im griechischen Sinne von πρόσωπον, d. h. Gesicht, Angesicht, Anblick. Maldiney hebt hervor, dass Paulus das Wort πρόσωπον im Thessalonikerbrief 99 als »wirkliche und reale Anwesenheit von Angesicht zu Angesicht« 100 versteht. Er betont auch die theologische Dimension des Gesichts in Zusammenhang mit der Verklärung Christi. Das Gesicht drückt etwas vom Geheimnis der Person aus: jemandem von Angesicht zu Angesicht begegnen, heißt ihm wirklich begegnen, etwas von ihm berühren, ohne sich ihn anzueignen, ihn in der Begegnung er selbst sein lassen. So braucht das Gesicht die Begegnung, um zu erscheinen, um sich zu zeigen. Der Andere »erscheint in der Realität seines Gesichts nur im Blick eines Anderen« 101. Ein Blick, der den Anderen entstellt und ihm sein Gesicht entzieht, der »sucht, den Anderen zu überraschen, ohne sich selbst zu engagieren« 102, wird dem Anderen nicht wirklich begegnen. Nur wenn ich mich selber exponiere, wenn ich das Risiko eingehe, vom Anderen angestarrt und entstellt zu werden, kann ich ihm wirklich begegnen, kann er sich mir zeigen. In einer echten Begegnung kann es keine einseitige Enthüllung oder Offenbarung geben: »Die Epiphanie des Gesichts des Anderen ist untrennbar mit der Autophanie desjenigen verbunden, in dessen Blick er erscheint« 103. Ich muss also zuerst ich selbst werden, damit sein Gesicht in meinem Blick erscheint, und dies erklärt auch das Scheitern des kranken Menschen: Wie könnte er dem Anderen begegnen, wenn es ihm nicht gelingt, er selbst zu sein? Maldiney verortet die authentische Begegnung in der Freundschaft und verweist dazu auf Jean-Louis Chrétien 104. Begegnung beMaldiney, PHF, 179. Siehe in der Bibel: 1 Thess 2, 17. 100 Maldiney, PHF, 252. 101 Maldiney, PHF, 258. 102 Maldiney, PHF, 258. 103 Maldiney, PHF, 259. 104 Siehe insb. Jean-Louis Chrétien, »Le regard de l’amitié«, in: Jean-Louis Chrétien, 98 99

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deutet nicht, sich ganz hinzugeben und nichts von sich zu behalten, denn diese Gabe (gift auf Englisch) ist eine »giftige Gabe«, die »den Anderen in eine Schuld verpflichtet und mir somit einen Vorteil verschafft«. 105 »Der Blick der Freundschaft gibt nichts. Er gibt das, was er nicht hat. Er gibt dem Anderen den Anderen [il donne l’autre à l’autre].« 106 Dieser Blick entspricht dem Blick des Bildes, das ja nur Ausstrahlung, Überschuss, Kombination von Transpassibilität und Transpossibilität ist. Der Blick der Freundschaft gibt dem Anderen den Raum einer offenen Anwesenheit, er gibt ihm einen Raum, in dem er ein Selbst werden kann. Der Blick der Freundschaft ist auch der Blick der Vergebung, es ist der Blick Jesu auf Petrus, nachdem dieser ihn während der Passion dreimal verleugnet hat. Es ist ein Blick, der über die Schuld hinaussieht und die Möglichkeit einer neuen Zukunft eröffnet. Dieser Blick gibt nichts, aber dadurch »›gibt er mehr als jede Gabe, und zwar: das Unsichtbare des Möglichen, die Vergebung, die den Anderen dazu aufruft, er selbst zu sein‹« 107. Dieser Blick gibt nichts, weil er nicht etwas gibt, sondern das Sein, die Möglichkeit, seine eigene Existenz zu sein, »das Selbst, das nur aus dem Nichts entstehen kann« 108. Deswegen kann meines Erachtens die Existenzialanalytik von Sein und Zeit und insbesondere die Auffassung des Mitseins nicht ausreichen, um die Begegnung mit dem anderen Menschen zu denken. Das Mitsein des Daseins enthält in sich die Möglichkeit des Anderen vor jeder Begegnung. Das Dasein hat immer schon die mögliche Ankunft des Anderen vorausgesehen. Aber das Erscheinen eines Gesichts, also die Epiphanie des anderen Menschen, ist schlechthin unvorhersehbar. Ich kann also den Anderen in seiner Epiphanie nicht wiedererkennen, ich kann ihm nur den Raum seiner Ankunft öffnen, wenn er mich ruft und mich auffordert, ihm zu antworten. Ein solcher Ruf »eröffnet plötzlich eine neue Welt« 109. Umgekehrt: Wenn wir den Anderen rufen, erwarten wir von ihm das Unerwartete, das Wunder der unvorhersehbaren Antwort. Der Andere zeigt mir ein La voix nue. Phénoménologie de la promesse, Paris, Éditions de Minuit, 1990, 209– 224. 105 Maldiney, PHF, 259. 106 Maldiney, PHF, 259. Maldiney verweist hier auf Jean-Louis Chrétien (»Le regard de l’amitié«, in: La voix nue). 107 Jean-Louis Chrétien, zit. n. Maldiney, PHF, 259. 108 Maldiney, PHF, 261. 109 Maldiney, PHF, 293.

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Bild von mir selbst, das ich vorher nicht kannte, und das nur in der Berührung mit der Opazität und dem Widerstand des Anderen entstehen kann. Die Begegnung kann schließlich als eine Begegnung zwischen zwei Bildern aufgefasst werden, weil sie eine Begegnung von zwei Opazitäten ist, die sich nur ineinander zeigen können.

4.

Abschließende Bemerkungen

So zeugen die Verknüpfung zwischen Transpassibilität und Transpossibilität sowie die Dimension der Bildhaftigkeit von der Unmöglichkeit des menschlichen Lebens. »Unmöglich« ist hier nicht im Sinne einer schlechthinnigen Unmöglichkeit zu verstehen, sondern es heißt zunächst einmal, dass es keiner a priori denkbaren Möglichkeit entspricht. Ein besonderes Verständnis des Bildes zeigt die Schwierigkeit, die darin besteht, man selbst zu sein, den Anderen zu begegnen und in der Welt zu wohnen. Als Körperbild ist das Bild das, wodurch ich in der Welt wohne: Ich bin in der Welt, indem ich immer schon außerhalb meiner selbst bin. Als Weltbild spiegelt das Bild mein Verhalten gegenüber der Welt wider. Das Bild kann sich aber auf einen »unintegrierbaren Ausdruck« versteifen, der meine ganze Welt verschlingt: auf den Gesichtsausdruck eines anderen Menschen, der meine Welt unwiderruflich erstarren lässt, auf eine Pose meiner selbst, wenn ich einen Charakter spiele, auf ein fixes Spiegelbild von mir, das ich unmöglich mit mir selber identifizieren kann. Die verschiedenen Darstellungen des Selbst, die in den Träumen, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen entworfen werden, sind das konkrete Zeichen der Erstarrung des internen Bildes der Kranken. Die Selbstdarstellung in Zeichnungen zum Beispiel kann aber auch als Mittel benutzt werden, damit der Kranke sein internes Bild wieder übernimmt. Das Bild erlaubt ihm, mit der Welt und mit den anderen Menschen zu kommunizieren. In dieser Ambiguität ist also das Bild der Rahmen und der Grund unserer Existenz »zum Unmöglichen«. Diese Unmöglichkeit verweist also zum einen auf die Offenheit der Existenz, die für das Unvorhersehbare bereit sein soll, kennzeichnet zum zweiten die Kombination von Transpassibilität und Transpossibilität, durch die das Leben als eine ›Übermöglichkeit‹ jenseits jedes Systems von vorherbestimmten Möglichkeiten erscheint, und äußert sich zum dritten in der heiklen Herausforderung, das eigene Selbst außerhalb seiner selbst bilden zu müssen. Erst aufgrund dieser Unmöglichkeit 325 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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kann ich dem anderen Menschen, der sich mir auch als »unmöglich« zeigt, wirklich begegnen. Indem Maldiney beschreibt, wie eine gesunde Existenz aussieht, bestimmt er auch, was sie sein soll oder sein sollte. Der Mensch kann und soll sich aufgrund seiner Transpassibilität und Transpossibilität dem Ereignis öffnen und die Verwandlung akzeptieren, die das Eintreten des Ereignisses für seine Existenz mit sich bringt. Die ethische Dimension dieser Konzeption geht also über die Dichotomie zwischen dem Deskriptiven und dem Präskriptiven hinaus. Zwar liegt darin eine Schwierigkeit, aber sie ist damit verbunden, dass unsere Freiheit sich nicht durch a priori festgesetzte Normen fixieren lässt. Maldiney weigert sich, eine statische und rein präskriptive Ethik herzustellen, die für alle und überall gültig wäre. Die Ethik lässt sich nicht abstrakt beschreiben, sie spielt sich auf der individuellen und persönlichen Ebene ab. Jeder muss seine eigene Existenz überprüfen und daraufhin einschätzen, inwieweit er ethisch handeln kann. Der Existierende selbst trifft die Entscheidung, sein Mögliches bzw. sein Transmögliches für eine Ethik einzusetzen, und dabei muss er die Reichweite seiner Möglichkeiten berücksichtigen. Kein Urteil von außen kann anordnen, wie er handeln und denken soll. Und niemand kann darüber urteilen, ob der andere Mensch wahrhaft ethisch handelt oder nicht, denn niemand kann das Ausmaß seiner Transpossibilität kennen.

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Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens: Heidegger und Lévinas Chiara Pasqualin

Abstract: In den 1920er Jahren legt Heidegger das Phänomen der Transzendenz primär dahingehend aus, dass es dem Seinsverständnis gleichkommt, welches das Dasein auszeichnet. Diese Interpretation lässt sich allgemeiner als ein hermeneutisches Verständnismodell von Transzendenz beschreiben, welches zum Gegenstand der Kritik von Emmanuel Lévinas werden wird. Unter Heideggers Texten aus den 1920er Jahren nimmt jedoch die Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 eine Sonderstellung ein: Hier wird die Transzendenz in der Angst verortet und daher in einem vor-hermeneutischen, passiv-befindlichen Geschehen, das uns mit der Befremdlichkeit des Seins konfrontiert. Anhand der Antrittsvorlesung lässt sich somit ein anderes Verständnismodell von Transzendenz konturieren, eines, das als ›pathisch‹ bezeichnet werden kann. Auf dieses Modell kann aufgrund der hier ausgeführten Argumentation auch Lévinas’ Deutung der Transzendenz zurückgeführt werden, bei der es um ein Affiziertsein des Subjekts durch die für das Verstehen unzugängliche Alterität des Anderen geht. Trotz der nicht zu leugnenden Unterschiede scheinen die Auffassungen beider Denker letztlich in dem Grundgedanken zu konvergieren, dass die ›pathische‹ Transzendenz die Grundstruktur des menschlichen Lebens ausmacht. In the 1920s Heidegger mainly interpreted transcendence in a way that made this phenomenon appear to be identical to Dasein’s characteristic understanding of Being. This prevailing interpretation can be classified more generally as a hermeneutic model of understanding transcendence – a model that later becomes the specific object of Emmanuel Lévinas’ critique. Nevertheless, among Heidegger’s writings of the 1920s, the 1929 inaugural lecture What is Metaphysics? occupies a special place: here transcendence is located in anxiety and, therefore, in a pre-hermeneutical and passive-affective event that confronts one with the strangeness of Being. Using the inaugural lecture as a foundation, it is possible to outline a different model of understanding transcendence, one that could be defined as ›pathic‹. According to my argument, Lévinas’ interpretation of transcendence can also be traced back to this model, since this interpretation involves the subject’s being affected by the Other’s incomprehensible alterity. Despite their un-

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deniable differences, these two authors’ conceptions appear to converge in the basic notion that ›pathic‹ transcendence constitutes the fundamental structure of human life.

Einleitung Den Ausdruck »Transzendenz des Lebens« hat Georg Simmel in seinem späten Werk Lebensanschauung dahingehend paradigmatisch eingeführt, dass das Leben, wie es vom Menschen vollzogen wird, die Grenzen seiner selbst ständig überschreitet. 1 Leben ist laut Simmel ein unablässiger Prozess der Formbildung und Durchbrechung der jeweils aufgebauten Form, die zugleich als Halt und Schranke gilt, und gerade in diesem Prozess besteht die von Simmel so genannte »Selbsttranszendenz« des Lebens, welche jede Dimension seiner Bewegung durchdringt und prägt. 2 Dieses Verständnis einer konstitutiven transzendenten Dynamik des Lebens war dem frühen Heidegger nicht fremd, wie vor allem seine Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks von 1920 beweist. 3 Ausdrücklich entwickelt Heidegger sein Verständnis von Transzendenz dann ab 1927. Zwar taucht in Sein und Zeit der Terminus »Transzendenz« nur sporadisch auf; implizit ist hier jedoch bereits die Deutung des dadurch bezeichneten Phänomens enthalten, welche dann in der unmittelbar darauffolgenden Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 entfaltet wird. 4 Die Erhellung des Transzendenz-Phänomens wird Heidegger im Nachhinein sogar als die eigentliche Haupt-

Simmel definiert hier das menschliche Leben als ein »Transzendieren«, d. h. als eine Bewegung des Sich-selbst-Überschreitens (Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Berlin, Duncker und Humblot, 1994, hier 26). 2 Laut Simmel wird zwar in der schöpferischen Formbildung ein Inhalt erzeugt, der ein »Mehr-als-Leben« darstellt, also selbstständig und anders ist; dennoch wird dieser transzendente Inhalt vom Leben letztlich als Gegenstand seines eigenen Willens empfunden (Simmel, Lebensanschauung, 23–25). Simmel beschreibt also eine Transzendenz, welche einerseits als Synonym für den schaffend-schöpferischen Charakter des Lebens steht, andererseits jedoch einer immanenten Transzendenz gleichkommt. 3 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, in: Gesamtausgabe (im Folgenden GA), Bd. 59, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a. M., Klostermann, 1993, 69–70. 4 Vgl. Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA, Bd. 24, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1975, insb. 418–431. 1

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Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens

aufgabe von Sein und Zeit bezeichnen. 5 Im Wintersemester 1928/29 hält er in Freiburg die Vorlesung Einleitung in die Philosophie, in der er sein bisheriges Verständnis des Transzendenz-Phänomens einerseits weiterverfolgt, andererseits jedoch um wesentliche Einsichten ergänzt. 6 Ein Teilnehmer an dieser Vorlesung von 1928/29 war Emmanuel Lévinas, der so bereits früh Heideggers Konzeption von Transzendenz rezipierte, 7 welche er im Laufe seines Denkweges immer wieder zum Gegenstand kritischer Betrachtungen machen wird. Parallel dazu entwickelt Lévinas schrittweise seinen eigenen Begriff von Transzendenz, 8 mit welchem er, wie im Folgenden gezeigt wird, beabsichtigt, sich aus der vermeintlichen Immanenz des heideggerschen Subjekts zu lösen, welches im Wirkungsbereich seines »Verstehens« befangen bleibe. 9 Trotz seiner kritischen Einwände nimmt Lévinas den Grundgedanken Heideggers auf, dass Transzendenz die wesentliche Struktur der Subjektivität ausmacht. Für Heidegger bezeichnet die Transzendenz »das Wesen des Subjekts« bzw. die »Grundstruktur der Subjektivität« 10. Auf ähnliche Weise bildet für Lévinas die Verantwortung für den Anderen die »Struktur der Subjektivität« 11 – Ver5 Vgl. Martin Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken, GA, Bd. 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1976, 123–175, hier 162. 6 Vgl. Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA, Bd. 27, hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel, 1996, insb. 305–343. 7 Siehe den 1932 erschienenen Artikel »Martin Heidegger et l’ontologie« (in: Revue philosophique de la France et de l’étranger, 57 [5–6], 1932, 395–431, insb. 413). Darauf kommen wir später zurück. 8 Dafür, dass Lévinas vor allem als »ein Denker der Transzendenz« angesehen werden kann, argumentiert Bernasconi, der zugleich die verschiedenen Konkretisierungen untersucht, die der Transzendenz-Begriff auf den Etappen des Denkwegs Lévinas’ erfährt. Vgl. Robert Bernasconi, »No Exit: Lévinas’ Aporetic Account of Transcendence«, in: Research in Phenomenology, 35, 2005, 101–117. 9 Die Entwicklungsphasen von Lévinas’ Bearbeitung des Transzendenz-Begriffes werden rekonstruiert in: Bettina Bergo, »Ontology, Transcendence and Immanence in Emmanuel Levinas’ Philosophy«, in: Research in Phenomenology, 35, 2005, 141–177. Zu Lévinas’ Transzendenz-Begriff siehe auch: Fabio Ciaramelli, Transcendance et éthique: essai sur Levinas, Bruxelles, Ousia, 1989; Reinhold Esterbauer, Transzendenz-»Relation«: Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Levinas’, Wien, Passagen Verlag, 1992. 10 Vgl. Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, GA 9, 137–138. 11 Vgl. Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches, übers. von Dorothea Schmidt, Wien, Passagen Verlag, 2008, 71, wo Lévinas in Bezug auf sein Werk Autrement qu’être anmerkt: »[I]n diesem Buch spreche ich von der Verantwortung als der wesentlichen, primären und grundlegenden Struktur der Subjektivität«.

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antwortung, welche nichts anderes als Transzendenz bedeute 12. Anhand dieser Formulierungen lässt sich behaupten, dass Heidegger und Lévinas in der These einer strukturellen »Transzendenz des Lebens« 13 übereinstimmen. Dabei werden wir das Wort »Leben« jedoch in einem breiten Sinne als subjektives bzw. menschliches Leben, 14 und nicht in dem eng-spezifischen Sinn verwenden, mit dem diese Autoren »Leben« als terminus technicus verwenden 15. Was andererseits das Wort »Struktur« betrifft, so sei hier einleitend bemerkt, dass es sich dabei um kein statisches und geschlossenes Gerüst handelt, sondern um die dynamische und offene Wesensverfassung des Subjekts, welches von Grund auf durch eine im Folgenden genauer zu untersuchende Transzendenz-Dynamik – und den Bezug zu einer vom Vgl. Emmanuel Lévinas, »Diachronie und Repräsentation«, in: Emmanuel Lévinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übers. von F. Miething, München/Wien, Hanser Verlag, 1995, 194–217, hier 212: »Die Verantwortung für den anderen Menschen […] gilt einer Andersheit, die nicht mehr ins Ressort der Repräsentation fällt. […] Sie bleibt Beziehung zum Anderen als Anderem und reduziert nicht das Andere auf das Gleiche. Sie ist Transzendenz«. 13 Von einer »Transzendenz des Lebens« in dem besonderen Sinne, in dem wir im Folgenden das Phänomen erläutern werden, spricht auch Lévinas explizit in: »Die Philosophie und das Erwachen«, in: Zwischen uns, 101–116, hier 115. Die Transzendenz bezeichnet hier insb. die »Lebendigkeit des Lebens«, welche als »Überschwang, Exzeß, Aufbrechen des Gehäuses durch das, was es sprengt, Form, die nicht mehr ihrem Inhalt angepaßt ist«, beschrieben ist. 14 Wir verwenden hier das Wort »Leben«, um das Proprium des Menschen zu bezeichnen. Dieses Proprium wird sich im Folgenden mit dem Phänomen der pathischen Transzendenz decken. In diesem Zusammenhang erscheint uns das Wort »Leben« deshalb besonders angemessen, weil damit auf das Moment einer konstitutiven und radikalen Empfänglichkeit des Subjekts – genauer auf eine ursprüngliche Affizierbarkeit und Nicht-Indifferenz gegenüber einer sich den subjektiven Kräften entziehenden Alterität – hingewiesen wird. 15 In Sein und Zeit (Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA, Bd. 2, hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, 1977, 66–67) und dann eindeutiger in der Vorlesung von 1929/30 (vgl. Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA, Bd. 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1983, insb. 308, 384) kommt das Leben als eine von der Existenz unterschiedene Seinsweise vor. In Lévinas’ Totalité et Infini bildet das Leben nur eine Dimension der Subjektivität und zwar die egoistische Dimension des Genusses – des Genusses, mit dem das Leben von (sinnlichen oder ideellen) Inhalten lebt (vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München, Alber Verlag, 1993, 150–266). Zu Lévinas’ Deutung des Lebens und seiner Kritik an Heideggers Daseinsbegriff siehe: Jacques Colléony, »Heidegger et Levinas: la question du Dasein«, in: Les Études philosophiques, 45 (3), 1990, 313–331. 12

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Subjekt unabhängigen Dimension – bestimmt ist. Es wird zudem deutlich, dass diese Struktur nicht vom Subjekt geschaffen ist, sondern eine Prägung meint, welcher das Subjekt aufgrund seines Ausgesetztseins an die Alterität passiv unterworfen ist. Was heißt also Transzendenz bei diesen beiden Autoren? Inwieweit lässt sich der Ausdruck »Transzendenz des Lebens« in einem analogen Sinne verwenden, um die Perspektiven beider zu kennzeichnen? Die offensichtliche Tatsache, dass Lévinas Heideggers Transzendenz-Begriff kritisiert und die Absicht äußert, ein alternatives Verständnis dieses Phänomens zu formulieren, könnte zunächst zu dem Schluss verleiten, dass die beiden Autoren, obwohl sie unter »Transzendenz« die Struktur des Lebens verstehen, dennoch grundverschiedene Ansätze verfolgen. In Heideggers Schriften aus den 1920er Jahren überwiegt ein Verständnismodell von Transzendenz, nach welchem diese mit dem Verstehen des Seins gleichgesetzt wird. Dieses Modell bezeichnen wir – wie aus dem Folgenden hervorgehen wird – als »hermeneutisch«, da das Geschehen der Transzendenz als identisch mit dem Prozess des Verstehens (und des Auslegens) angesehen wird. Das hermeneutische Verständnismodell, welches im ersten Teil des vorliegenden Beitrags beschrieben wird, ist in der Tat nur schwer mit Lévinas’ eigener Deutung der Transzendenz zu vereinbaren. Dennoch lässt Heideggers Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929, wo die Transzendenz nicht mit dem Verstehen, sondern mit dem befindlichen Geschehen der Angst in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht wird, ein anderes Verständnismodell von Transzendenz zu – und zwar ein ›pathisches‹ –, weil in diesem Zusammenhang das Geschehen der Transzendenz in der Dimension eines ursprünglichen Leidens bzw. Affiziertseins des Lebens verortet wird. Auf ein solches Modell lässt sich auch Lévinas’ Konzeption zurückführen. Das Paradigma einer pathischen Transzendenz, das wir im zweiten Teil unserer Ausführungen skizzieren werden, dient also dazu, eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Heideggers und Lévinas’ Perspektiven hervorzuheben. In der Hervorhebung dieser Konvergenz liegt das Spezifikum unseres Interpretationsversuchs, wohingegen in der Sekundärliteratur Heideggers und Lévinas’ Deutungen der Transzendenz vorwiegend kontrastiert werden. 16 Bei dieser KonverSiehe: Philip J. Maloney, »Heidegger, Levinas, and the Secularization of Transcendence«, in: John E. Drabinski/Eric S. Nelson (Hrsg.), Between Levinas and Heidegger,

16

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genz handelt es sich jedoch eher um eine formale als um eine inhaltliche Analogie. Während die Transzendenz-Dynamik sich in ihrem »Wie«-Charakter sowohl in Heideggers Antrittsvorlesung von 1929 als auch bei Lévinas als ein affektives Bewegt-sein von Alterität erweist, bleibt eine Divergenz in der Art und Weise bestehen, wie die Autoren das »Woraufhin« der Transzendenz-Dynamik interpretieren: Unterschieden ist somit das, womit das Subjekt in diesem Bewegt-sein in Kontakt kommt. Die formalen Ähnlichkeiten und inhaltlichen Divergenzen sollen daher abschließend noch verdeutlicht werden.

1.

Lévinas’ Kritik an Heidegger und das hermeneutische Verständnismodell der Transzendenz

1932 gibt Lévinas Heideggers Konzeption wie folgt wieder: »[G]erade den Sprung über das Seiende hinaus in das Sein – welcher die Ontologie als solche bzw. das Verstehen des Seins ist – bezeichnet Heidegger mit dem Wort ›Transzendenz‹« 17. Dabei hat Lévinas jene Deutung der Transzendenz im Blick, die Heidegger an mehreren Stellen in seinen Vorlesungen aus den Sommersemestern 1927 und 1928 und den Wintersemestern 1928/29 und 1929/30 und zusätzlich in Vom Wesen des Grundes zum Ausdruck bringt: Dass nämlich die Transzendenz ein Überstieg über das Seiende zum Sein sei und dass sie nichts anderes bedeute als das dem Dasein eigene Seinsverständnis. Die Transzendenz besteht demnach in der sich ständig vollziehenden Bewegung des Transzendierens als eines Übersteigens des ontischen Bezirks des Seienden in Richtung auf das Sein – ein Übersteigen,

Albany, State University of New York Press, 2014, 31–50, insb. 32, wo der Autor die zwei Perspektiven als »zwei alternative Ansätze zu einer angemessen säkularisierten Transzendenz« beschreibt; Bergo, »Ontology, Transcendence and Immanence«, insb. 152. Auch Elif Çirakman besteht auf Lévinas’ von Heideggers Verständnis der Transzendenz divergierendem Ansatz, wenngleich der Autor eine allgemeine Ähnlichkeit darin erkennt, dass für beide Philosophen das Verstehen der Transzendenz als eines sich dem Verstehen entziehenden Grundes das Spezifikum des menschlichen Lebens ausmache (Elif Çirakman, »Transcendence and the Human Condition: Reflections on Kant, Heidegger and Levinas«, in: Anna-Teresa Tymieniecka [Hrsg.], Phenomenology of Life. Meeting the Challenges of the Present-Day World, Dordrecht, Springer, 2005, 315–337, insb. 328–330). 17 Lévinas, »Martin Heidegger et l’ontologie«, 413.

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welches die Dynamik des ontologischen Entwurfs bzw. des apriorischen Verstehens des Seins gestaltet. 18 Zum komplexen Prozess des Verstehens des Seins bzw. zur Transzendenz des Daseins gehören – so kann man Heideggers diesbezügliche Ausführungen zusammenfassen – drei Momente: 1. das Verstehen des eigenen Seins, d. h. der Selbstentwurf bzw. der Entwurf von Möglichkeiten; 2. das damit einhergehende Weltverstehen 19 als Verstehen eines bedeutsamen Horizontes bzw. einer Gesamtheit von Verweisungen zwischen innerweltlichen Seienden und entworfenen Möglichkeiten des Daseins; 20 3. das Verstehen des Seins bzw. der Seinsweise des jeweils begegnenden Seienden. 21 Dieses dreifache Geschehen verleiht dem menschlichen Leben einen hermeneutischen Charakter, indem das Dasein als ein Seiendes strukturiert ist, welches das, was jeweils in der Welt erscheint, als etwas Bedeutsames in Bezug auf den Selbstentwurf auslegen kann. Hier kommt die Transzendenz der aktiv-schöpferischen, bedeutungsbildenden Tätigkeit des Lebens gleich. Es verwundert daher nicht, dass die Transzendenz letztlich mit der Weltbildung gleichgesetzt wird, 22 welche Heidegger Vgl. dazu: Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 206–207: »Im vorgängigen Entwurf von Sein übersteigen wir zuvor schon immer das Seiende. Nur aufgrund dieser Erhöhung, eines solchen Überstiegs wird Seiendes als Seiendes offenbar. […] Wir bezeichnen dieses vorgängige Übersteigen von Seiendem mit dem Fremdwort transcendere und nennen den Überstieg die Transzendenz. […] Die ontologische Wahrheit im eigentlichen Sinne als vorgängiger Entwurf von Sein [ist] ihrerseits nur möglich auf dem Grunde des Überstiegs, d. h. der Transzendenz des Daseins«. Vgl. auch Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 213: »das Verstehen von Sein […] geschieht im Transzendieren«. 19 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 425: »Transzendenz besagt: sich aus einer Welt verstehen«. 20 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 424–429. Dieser Gedanke, dass das Verstehen der Welt ein Wesensmoment der Transzendenz-Dynamik ist, wird von Heidegger auch folgendermaßen formuliert: »Wohin das Subjekt transzendiert, ist das, was wir Welt nennen« (Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA, Bd. 26, hrsg. von Klaus Held, 1978, 212). 21 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 170. Das Geschehen der Transzendenz wird in »Vom Wesen des Grundes« mit der Freiheit identifiziert, welche wiederum drei Hauptmomente beinhaltet; dies sind: 1. der Weltentwurf als der Entwurf von Möglichkeiten; 2. das Entbergen des das Dasein ständig durchstimmenden Seienden; 3. das Verstehen des Seins des Seienden. Vgl. Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, GA 9, 163–171. 22 Vgl. Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, GA 9, 158: »›Das Dasein transzendiert‹ heißt: es ist im Wesen seines Seins weltbildend«. 18

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in der Vorlesung von 1929/30 ausführlich thematisiert. 23 Aus dem, was Heidegger an den genannten Stellen in den 1920er Jahren ausführt, resultiert ein hermeneutisches Verständnismodell von Transzendenz: Transzendenz ist die Gesamtbezeichnung für die hermeneutische Fähigkeit des Daseins, welche einerseits im vorgängigen bzw. transzendentalen Verstehen des Seins und andererseits in der darin fundierten Auslegung des jeweiligen Seienden besteht. 24 Es ist diese Konzeption von Transzendenz, gegen welche sich Lévinas’ Kritik richtet. Rekonstruiert man den Haupteinwand gegen Heidegger, so lautet dieser, dass eine solche Transzendenz keine eigentliche Transzendenz sein könne. Aus der Perspektive Lévinas’ kommt durch den Sprung bzw. Überstieg zum Sein das Subjekt nicht wirklich aus sich selbst heraus bzw. nicht in Kontakt mit dem, was in einem radikalen Sinne anders bzw. »transzendent« ist, und zwar: mit dem anderen Menschen. Die heideggersche Transzendenz bestehe – so Lévinas – im Verstehen, und dieses Verstehen sei eine Form des »Wissens«, dessen Vorrang eine Konstante der abendländischen Philosophie ausmache. Das Wissen aber sei »eine Beziehung des Selben zum Anderen, in welcher der Andere sich auf das Selbe reduziert und sich seiner Fremdheit entäußert« 25. Gerade eine solche Dynamik des Wissens zeichne auch Heideggers Verstehen und Ontologie und daher auch sein Verständnis von Transzendenz aus: Diese sei somit »keine Beziehung zum Anderen als einem solchen, sondern die Reduktion des Anderen auf das Selbe« 26.

Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, insb. 506–507. Transzendenz als dieser komplexe Verstehensprozess liegt laut Heidegger in der Zeitlichkeit des Daseins begründet (vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 428–429, 436). Die Zeit hat eine Schlüsselstellung nicht nur in Heideggers Bestimmung der Transzendenz, sondern auch in Lévinas’ Verständnis desselben Begriffes (dies ließe sich insbes. anhand von Lévinas’ Die Zeit und der Andere nachweisen, was aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Vgl. dazu: Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, übers. von Ludwig Wenzler, Hamburg, Meiner Verlag, 2003). Zu dem engen Zusammenhang, den Heidegger und Lévinas auf unterschiedliche Weise zwischen Transzendenz und Zeit herstellen, vgl. Branko Klun, »Transcendence and Time: Levinas’s Criticism of Heidegger«, in: Gregorianum, 88 (3), 2007, 587–603. 25 Emmanuel Lévinas, Transcendance et intellegibilité. Suivi d’un entretien, Genf, Labor et Fides, 1984, 12. 26 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 55. 23 24

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Warum dem heideggerschen Verstehen laut Lévinas der Zugang zum Anderen in seiner Fremdheit versperrt sein soll, 27 können wir besser verstehen, wenn wir zwei weitere Einwände Lévinas’ berücksichtigen. Einerseits betrachtet Lévinas das Verstehen des Seins als dasjenige, was die Begegnung mit dem Anderen immer schon vermittelt, sodass der Andere letztlich der Neutralität des Seins subsumiert wird. 28 Andererseits sei das Verstehen bei Heidegger immer durch eine Sorge des Daseins um sich selbst ausgezeichnet. 29 Im Verstehen des Seins gehe es letztlich um das eigene Sein und nicht um den Anderen als solchen. Auch wenn man die drastischen Konsequenzen nicht akzeptiert, die Lévinas aus diesen Einwänden zieht, 30 muss man zugestehen, dass das Verstehen bei Heidegger – und also die Transzendenz – keinen unvermittelten Zugang zur Andersheit des Anderen darstellt. Dies einerseits, weil das Verstehen des Seins eine ontologische Beziehung und nicht eine ontische ist (die letztere ist vielmehr in der ersteren begründet) 31, und andererseits, weil es immer einen Bezugspunkt im eigenen Sein hat, da zum Seinsverständnis wesentlich der Selbstentwurf gehört. Es ist also deutlich, dass das Verstehen bei Heidegger immer einen gewissen Grad von Vermittlung besitzt. Es gründet im Zum Kontext dieser Hauptkritik Lévinas’ an Heideggers Seinsverständnis vgl.: Adrian Peperzak, »Phenomenology – Ontology – Metaphysics: Levinas’ Perspective on Husserl and Heidegger«, in: Man and World, 16, 1983, 113–127. 28 Vgl. dazu Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 49–58. Vgl. auch Emmanuel Lévinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, in: Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München, Alber Verlag, 1999, 185–208, hier insb. 191–192. 29 Vgl. Lévinas, »Martin Heidegger et l’ontologie«, 407, wo Lévinas erklärt, dass sich das Verstehen des Seins in einer »innerlichen Spannung« bzw. in der Sorge des Daseins um seine Existenz vollziehe. Später deutet Lévinas das heideggersche Subjekt als ein »Subjekt, das sich derart als Sorge um sich selbst bestimmt« (Emmanuel Lévinas, »Die Spur des Anderen«, in: Die Spur des Anderen, 209–235, hier 219). 30 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 54–56: Da Heidegger die Priorität des Seinsverständnisses über »die Beziehung zu jemandem« behaupte, sei seine Ontologie eine »Philosophie der Macht«, »eine Philosophie der Ungerechtigkeit«. 31 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA, Bd. 25, hrsg. von Ingtraud Görland, 1995, 315: »Nur weil das Dasein aufgrund der Transzendenz bei sich selbst sein kann, kann es auch mit einem anderen Selbst qua Du in der Welt sein. Die Ich-Du-Beziehung ist nicht selbst schon die Transzendenzbeziehung, sondern sie ist in der Transzendenz des Daseins fundiert«. Demgemäß wäre von Heideggers Standpunkt aus auch die Beziehung zum Anderen im Sinne Lévinas’ in der Transzendenz qua Seinsverständnis begründet. 27

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Entwurf der eigenen Möglichkeiten, dass sich eine Welt als Bedeutungsganzheit herausbildet, und es ist nur mittels dieses vorgängigen Verstehensprozesses möglich, in eine Beziehung mit dem anderen Menschen zu treten. Das Verstehen eröffnet dem Dasein mit anderen Worten einen Horizont von Bedeutsamkeit, und gerade dieser ist das Medium, durch welches das Dasein sich zum anderen Seienden verhält. Dies wiederum hat Konsequenzen für das Verständnis der Transzendenz. Das Transzendieren als das Verstehen von Sein bringt das Dasein immer nur vor ein bedeutsames Etwas (vor ein vom Dasein immer schon ausgelegtes Seiendes) 32 und ist keine unmittelbare Begegnung mit dem »Dass« des Anderen, d. h. mit der einfachen und noch nicht mit Auslegung überladenen Gegebenheit des anderen Seienden.

2.

Das ›pathische‹ Verständnismodell der Transzendenz

Die Kritik Lévinas’ und die problematischen Aspekte, welche diese Kritik in den Vordergrund rückt, beziehen sich auf das oben genannte »hermeneutische« Verständnismodell, mit dem Heideggers vorwiegende Beschreibung der Transzendenz in den 1920er Jahren klassifiziert werden kann. In der Transzendenz-Dynamik hebt Heidegger hauptsächlich das aktive Moment des Entwurfs, d. h. die Bewegung des Verstehens und des Auslegens des Daseins im Hinblick auf seine Möglichkeiten hervor. Diese Perspektive ändert sich mit der Antrittsvorlesung von 1929 Was ist Metaphysik?, in der Heidegger beim Umgrenzen des Transzendenz-Geschehens das Hauptgewicht auf das Moment des passiven Betroffenwerdens des Daseins von der Angst legt. 33 Die Transzendenz des Daseins wird zwar noch immer als ein »Übersteigen des Seienden« beschrieben, aber dieses geschieht nun Heidegger spricht diesbezüglich vom sogenannten »Etwas als Etwas« (vgl. insb. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 201). 33 Bereits in der Vorlesung von 1928/29 wird der Fokus auf das Moment der Geworfenheit verschoben, welche als ein »Grundcharakter der Transzendenz« bestimmt wird (vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 329). Dennoch nimmt die Antrittsvorlesung unter den Schriften Heideggers, die das Thema »Transzendenz« behandeln, eine Sonderstellung ein. Denn hier wird nicht einfach eine erweiterte Definition von Transzendenz mit Blick auf die Geworfenheit gewonnen (wie in der Vorlesung von 1928/29), sondern versucht, die Transzendenz mit einem stimmungsmäßigen Geschehen zu identifizieren – was implizit dazu führt, dass sich die Analyse der Transzendenz von der primären Bezugnahme auf das Verstehen frei32

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dann, wenn das von der Angst betroffene Dasein vor das Nichts/Sein gebracht wird. Da die Angst uns überfällt und als ein nicht-entwerfbares Ereignis das menschliche Sein durchzieht, erweist sich das sich in der Tiefe ängstigende Dasein nicht mehr als das Subjekt eines aktiven Transzendierens. Beim Transzendieren, wie es in der Antrittsvorlesung geschildert wird, wird das Dasein nicht vor dieses oder jenes bedeutsame Seiende gebracht, da in der Angst vielmehr »das Seiende im Ganzen entgleitet« 34. »Das Seiende spricht nicht mehr an« 35, das heißt, es erscheint uns nicht mehr innerhalb einer an den Selbstentwurf des Daseins appellierenden Bedeutsamkeit. Und dennoch verschwindet das Seiende nicht – es kommt vielmehr in seiner »volle[n] Befremdlichkeit« 36 zum Vorschein. Das, was in der Angst erfahren wird, ist nämlich nicht die jeweils bestimmte artikulierte Bedeutung, sondern die erstaunliche Tatsache, dass das Seiende überhaupt ist. Die Transzendenz des Daseins meint hier den Zusammenstoß mit dem puren »Dass« der Gegebenheit des Seienden. Dieser Zugang zum Seinsfaktum des Seienden kann aber nicht durch das Verstehen bewerkstelligt werden, denn das aktive Einsetzen dieses Existenzials würde in der Bildung einer Bedeutsamkeit resultieren, welche uns in der Angst gerade entgleitet. Das Verstehen scheint also in der Angst suspendiert zu sein. Das Verstehen ist jedoch nicht das einzige fundamentale Existenzial des Daseins. In Sein und Zeit sieht Heidegger »in der Befindlichkeit und im Verstehen« die »konstitutiven Weisen, das Da zu sein« 37. Mit anderen Worten erschließt sich dem Dasein das »Da« als das phänomenale Feld aufgrund des Verstehens und der Befindlichkeit. Wenn aber in der Angst keine Spur der aktiven Wirkung des Verstehens zurückbleibt, muss es also das andere fundamentale Existenzial sein – nämlich die Befindlichkeit mit dem ihr eigentümlichen »Erschließungscharakter« 38 –, welches dem Dasein den Zugang zur völligen Fremdheit des Seienden bietet. Obwohl in der Antrittsvorlesung das Existenzial der Befindlichkeit unerwähnt bleibt, lässt es macht und die Aufmerksamkeit eher auf die Rolle des Existenzials der Befindlichkeit lenkt. 34 Martin Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, in: Wegmarken, GA 9, 103–122, 112. 35 Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 111 (Randbemerkung a). 36 Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 121. 37 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 177. 38 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 182.

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sich als diejenige ontologische Struktur des Daseins interpretieren, welche das Geschehen der Angst ermöglicht und das Dasein in das Sein hineinhält. 39 Dem hier geschilderten Kontext der Antrittsvorlesung kann man demnach ein anderes Verständnismodell von Transzendenz entnehmen. Hier geschieht die Transzendenz nicht aufgrund des Verstehens, welches in der Angst gerade suspendiert ist, sondern aufgrund der Befindlichkeit, welche dem Dasein einen einzigartigen Zugang zum Sein gewährt. Dieses Verständnismodell bezeichnen wir als ›pathisch‹, weil die Transzendenz als ursprüngliches »Draußen-sein« 40 des Subjekts in der Befindlichkeit geschieht – wobei »Befindlichkeit« kein bloßes Etikett für das Phänomen der konkreten Gefühle darstellt, sondern auf eine transzendental aufgefasste Affektivität hinweist. Die Befindlichkeit interpretieren wir nämlich nicht als ein Synonym für das ontische Gestimmtsein des Daseins, 41 sondern für die Tatsache, dass das Dasein ein Seiendes ist, welches vom Phänomenalen in seinem »Dass« ursprünglich affiziert wird, also ein Seiendes, dem die pure bzw. vor-bedeutsame Gegebenheit des anderen Seienden nie gleichgültig ist. »Befindlichkeit« besagt mit anderen Worten die vor-hermeneutische Nicht-Indifferenz des Daseins dem Seinsfaktum gegenüber, die Lage des ständigen Affiziertseins des Daseins vom Phänomenalen in dessen bloßem »Dass«. In dem pathischen Verständnismodell ist das, worauf der Mensch transzendiert, nicht mehr die Welt als Horizont von Bedeutungen, welche dem Dasein aufgrund seines Selbstentwurfs vertraut sind, sondern die Befremdlichkeit des »ist« des Seienden. Man kann daher im Text der Antrittsvorlesung eine Abweichung von Heideggers Standardinterpretation der Transzendenz in den 1920er Jahren finden. Zwar wollen wir nicht behaupten, dass Heidegger in der Antrittsvorlesung die bisherige hermeneutische Deutung zu verlassen Vgl. dazu Chiara Pasqualin, »Konturen einer Phänomenologie des Pathischen im Ausgang von Heidegger«, in: Phänomenologische Forschungen, 2020 (2), 109–135. 40 Vgl. dazu Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 138: »Dasein ist […] als solches schon draußen bei …, aus sich herausgetreten, besser heraustretend; […] dieses Heraustreten zu … ist das Dasein selbst, sein Wesen. Es braucht ›sich‹ nicht zu verlassen, weil es als Heraustreten es selbst ist«. 41 Es wäre u. E. einseitig, die Befindlichkeit als allgemeine Bezeichnung für die ständige affektive Disposition des Daseins zu nehmen. Auf diesen ontischen Sinn reduziert auch Lévinas die Bedeutung von Heideggers Befindlichkeit (vgl. Lévinas, »Martin Heidegger et l’ontologie«, 416–417), verfehlt damit jedoch – so unsere Einschätzung – das Potenzial von Heideggers Auffassung der Befindlichkeit. 39

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meinte. Insofern er aber in diesem Zusammenhang die Transzendenz in der Angst verortet und dieses Geschehen im Sinne einer befindlichen Erfahrung des Seins auslegt, zeichnet er einen geänderten Bezugsrahmen für das Verständnis des Transzendenz-Phänomens vor. Heideggers Äußerungen in der Antrittsrede bieten uns nämlich Anhaltspunkte dafür, eine andere Deutung von Transzendenz zu entfalten, eine, die sich von derjenigen, die Heidegger vorwiegend und explizit in den 1920er Jahren entwickelt, unterscheidet. 42 In Bezug auf dieses pathische Verständnismodell verliert Lévinas’ Kritik ihren zentralen Stützpunkt: Transzendenz lässt sich nicht mehr mit dem Prozess des Verstehens identifizieren, und dies hat zur Folge, dass sich ein Zugang zu einer Art von Alterität bahnen lässt, und zwar zu derjenigen des vor-bedeutsamen und völlig befremdlichen »Dass-es-ist« des anderen Seienden. Nicht nur lässt sich Lévinas’ Kritik durch den Verweis auf das pathische Transzendenzmodell, das man zwischen den Zeilen der Antrittsvorlesung lesen kann, relativieren – es entsteht auch die Möglichkeit, eine Konvergenz zwischen Heidegger und Lévinas hervorzuheben. Immer wieder besteht Lévinas in seinen Werken auf den transzendenten Charakter des anderen Menschen, welcher eine Dimension markiere, die das Be-greifen des Subjekts, seine Erwartungen und Intentionen grundsätzlich übersteige. 43 Dass der Andere transzendent ist, bedeutet, dass er nie Objekt der »Sinnbildung« bzw. der konstituierenden Tätigkeit des Subjekts sein kann. 44 In Lévinas’ Werken wird also das Wort »Transzendenz« primär dazu verwendet, die radikale Andersheit des Anderen zu bezeichnen. 45 Neben dieser Verwendung des Terminus findet man aber auch einen zweiten Gebrauch: Transzendenz bezeichnet zudem diejenige paradoxe Beziehung des Subjekts zur Andersheit, 46 in welcher die Transzendenz des Die pathische Deutung der Transzendenz verhält sich aber nicht zwingend alternativ zu der hermeneutischen Deutung, als ginge es darum, die letztere zurückzuweisen. Man kann vielmehr behaupten, dass das Transzendieren des Lebens auf der Ebene des Verstehens in der ursprünglicheren pathischen Transzendenz begründet liegt. 43 Vgl. u. a. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 60–61, 278, 327. 44 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 64–65: »Der Gedanke des Antlitzes […] führt uns zu dem Gedanken eines Sinnes, der meiner Sinngebung vorausgeht und daher von meiner Initiative und meinem Können unabhängig ist«. 45 Mit dem Wort »Transzendenz« bezeichnet Lévinas auch die Dimension Gottes: Diese ist aber nie außerhalb der Beziehung zum Anderen zu spüren. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 105–109. 46 Vgl. z. B. Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, übers. von Astrid Nettling 42

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Anderen bewahrt und nicht nivelliert ist. Es ist in diesem zweiten Gebrauch angelegt, dass die Transzendenz der Struktur der Subjektivität letztlich gleichkommt. Denn Subjekt-sein heißt für Lévinas Sich-selbst-Transzendieren und dieses geschieht als Verantwortung und Stellvertretung, als Nicht-Indifferenz gegenüber der Zerbrechlichkeit des Anderen. Sich transzendieren, aus dem Eigenen weggehen bis dahin, aus sich selbst wegzugehen, heißt zum Stellvertreter des Anderen werden: in meinem Befinden als ich selbst nicht mich wohlbefinden, sondern aufgrund meiner Einzigkeit als einzigartiges Wesen für den Anderen sühnen. Die Offenheit des Raumes als Offenheit des Sich – ohne Welt, ortlos, die U-topie, das Nichteingemauertsein, die Inspiration bis zum Ende, bis zum Aushauchen – genau das ist die Nähe des Anderen, welche wiederum nur möglich ist als Stellvertretung für ihn. 47

Transzendenz versteht Lévinas also als die strukturelle Offenheit des Subjekts, welches sich nicht für eine Welt bzw. eine Bedeutungsganzheit öffnet, sondern für den Anderen, 48 dessen Präsenz sich dem Griff des bedeutungsbildenden Verstehens gerade entzieht und nur passiv erlitten werden kann. Das, worauf das Subjekt »transzendiert«, ist also bei Lévinas nicht die Welt – wie dies im hermeneutischen Verständnismodell der Fall war –, sondern eine Andersheit, welche – ähnlich wie die Befremdlichkeit des in der Angst erfahrenen Seins – eigentlich nichts bedeutet, 49 wenn unter Bedeutung (signification) der durch das Verstehen artikulierte Verweis eines Etwas auf das entwerfende Subjekt und zugleich auf einen breiteren Kontext von zusammenhängenden Bezügen verstanden wird. 50 Dies ist auch der Grund, weshalb Lévinas von einer »Abwesenheit« des Anderen bzw.

und Ulrike Wasel, Wien, Passagen Verlag, 2013, 153: »Es handelt sich hier darum, die Bedeutsamkeit der Transzendenz als Bewegung des Selben zum Anderen zu denken«. 47 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Thomas Wiemer, Freiburg/München, Alber Verlag, 1998, 388. 48 Vgl. Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, 166: »Das ich – oder Ich – als Verantwortung angesprochen, ist entblößt, dem Betroffensein ausgesetzt, offener als alle Offenheit, das heißt nicht auf die Welt hin geöffnet, die stets dem Bewusstsein angemessen ist, sondern auf den Anderen hin geöffnet, den es nicht enthält«. 49 Vgl. Lévinas, »Die Spur des Anderen«, 227: »Wenn bedeuten dasselbe wäre wie bezeichnen (indiquer), dann wäre das Antlitz unbedeutend (insignifiant)«. 50 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 133–134.

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Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens

des Antlitzes aus der Welt 51 spricht – Welt verstanden als System von Bedeutungen. Ein solches Transzendieren des Subjekts auf die Andersheit hin kann also nicht im Prozess des Verstehens stattfinden, weil beim Verstehen das Subjekt sich das Erfasste aneignet, es in eine Welt integriert und zwar, indem es dieses mit einer bestimmten Bedeutung ausstattet. 52 Damit hängt der Gedanke Lévinas’ zusammen, dass das Transzendieren kein Akt des intentional-vorstellenden bzw. konstituierenden Bewusstseins sei. 53 Unter diesem Gesichtspunkt bildet es vielmehr ein vor-intentionales Geschehen. Denn die vorstellende Intentionalität entfaltet sich als Sinnbildung, in welcher das Subjekt ausgehend von seinen Intentionen und Absichten Bedeutungen auf das Reale projiziert. 54 Der Ort des Sich-Transzendierens ist bei Lévinas also nicht das Verstehen, sondern die Affektivität. Dabei denkt Lévinas an eine Affektivität, welche keinem subjektiven Streben gleichkommt, sondern »sich von Anlage und Absicht des Bewußtseins abhebt und aus der Immanenz heraustritt« und letztlich »Transzendenz ist« 55. Diese Affektivität als Ort der Transzendenz-Bewegung setzt Lévinas in Totalité et infini mit dem »metaphysischen Begehren« gleich. 56 Dass das Begehren mit keinem subjektiven Streben identifizierbar ist, ergibt sich dadurch, dass dieses vom Bedürfnis unterschieden wird. Während das Bedürfnis einem Mangel des Subjekts entspringt und nach Erfüllung strebt, ist das Begehren gerade dann spürbar, wenn alle Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 102. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 279. »Verstehen« (compréhension) und »Erkenntnis« (connaissance) werden hier von Lévinas als Synonyme verwendet. Das heideggersche Verstehen wird von Lévinas als eine Form von Erkenntnis gedeutet, selbst wenn es keine »objektivierende Erkenntnis« (connaissance objective) sei. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 90. 53 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 302, wo Lévinas behauptet, dass die »Nähe«, welche ein anderer Name für die Transzendenz-Beziehung des Subjekts zum Anderen sei, gerade keine »Episode der thematisierenden Intentionalität« sein könne. 54 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 171–179. 55 Vgl. Emmanuel Lévinas, »Gott und die Philosophie«, in: Bernhard Caspers (Hrsg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München, Alber Verlag, 81– 123, hier 93 (Hervorh. d. Verf.). 56 Vgl. Emmanuel Lévinas, »Rätsel und Phänomen«, in: Die Spur des Anderen, 236– 260, 239, wo Lévinas schreibt, dass die Transzendenz »ein Zugang zum Jenseits des Denkens« sei und dass dieser Zugang »im Gefühl [geschieht], dessen grundlegende Spannung das Begehren ist; Begehren in dem Sinne, den wir diesem Terminus in Totalité et Infini gegeben haben«. 51 52

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Bedürfnisse erfüllt sind, und zugleich wesentlich unstillbar, weil das, worauf es sich richtet – die absolute Andersheit – vom Subjekt nie assimiliert werden kann. 57 In Autrement que’être radikalisiert Lévinas seine Auffassung: Es gehe hier nicht mehr um ein völlig befriedigtes und bereits individualisiertes Ich, das nach dem Anderen begehrt, sondern um ein Subjekt, das sich gerade dadurch strukturiere, dass es in seinem innersten Kern durch den Anderen affiziert werde. Diese Affektion ist ein Angegangenwerden, welches das Subjekt nie umgehen kann, welches sich vor jeder freien Entscheidung abspielt. Dass diese Affektion vor jeglicher Initiative des Subjekts stattfindet, drückt Lévinas mit dem Gedanken einer »Vorladung durch den Anderen« aus, der das Subjekt immer schon ausgesetzt sei. 58 Diese Affektivität wird weiterhin in Autrement que’être als »Affizierung durch das Un-Phänomen (affection par le non-phénomène)« 59 beschrieben. Dies weist darauf hin, dass das, was das Subjekt affiziert, nicht etwas ist, das von ihm zugleich konstituiert wird. Die Andersheit des Anderen ist kein Phänomen, das zur Dimension des »Erscheinens«, in welcher mir alles in einer bedeutsamen Gestalt begegnet, gehört. 60 Was in der genannten Affizierung erlitten wird, ist vielmehr das nackte »Es gibt« des Anderen – egal, wer er ist und woher er kommt –, welches meine Verantwortung erweckt. 61 Diese Affizierung durch den Anderen, der mich vor seinem weltlichen Erscheinen berührt, 62 wird von Lévinas auch metaphorisch als »Mutterschaft« beschrieben. Denn es handelt sich bei dieser Affizierung um das Tragen eines nicht-antizipierbaren Anderen, der eine gewissermaßen vor-weltliche Dimension bewohnt – ein Tragen, das mich als »Sub-jectum«, welches der Last des Anderen unterworfen ist, 63 konstituiert. Vgl. dazu Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 35–38. Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 318–319. Lévinas spricht auch von einem »vorursprüngliche[n] Empfangen« (susception pré-originaire) des Anderen und des Guten (Lévinas, Jenseits des Seins, 272) – ein Empfangen, das in einer »unvordenklichen Vergangenheit« stattgefunden hat (u. a. Lévinas, Jenseits des Seins, 42). 59 Lévinas, Jenseits des Seins, 170. 60 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 201–208. 61 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 356–357: »Das Es-gibt – ist so die ganze Last, die die ertragene Anderheit wiegt, ertragen durch eine Subjektivität, die nicht Gründerin dieser Anderheit ist«. 62 Vgl. insb. Lévinas, Jenseits des Seins, 193–194: »Der Nächste als Anderer […] erscheint nicht«. 63 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 256. 57 58

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Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens

Dieses Tragen ist ein »reines Ertragen« (pur subir) 64, eine »Passivität diesseits aller Passivität« 65, in welcher das Subjekt ein ursprüngliches Datum empfängt, ohne dieses strukturieren zu können: »Das Subjekt wird affiziert, ohne daß die Quelle der Affektion zum Gegenstand der Vorstellung würde« 66. In diesem Affziertwerden ist also die hermeneutische Bedeutungsbildung noch nicht am Werk. Denn eine solche ursprüngliche Affektion ist nicht durch ein Verständnismoment geprägt (d. h. die Affektivität wird hier nicht unmittelbar in das Verstehen aufgehoben,), wie es dagegen Heideggers Rede von der Gleichursprünglichkeit von Befindlichkeit und Verstehen suggerieren könnte 67. Gerade diese äußerste Affektivität, welche von Lévinas auch als »Passion« (passion) bezeichnet wird, 68 macht den Ort der Transzendenz aus. Auch Lévinas’ Konzeption der Transzendenz lässt sich also dem sogenannten ›pathischen‹ Verständnismodell zuordnen. Worauf bereits Heideggers Überlegungen aus der Antrittsvorlesung angespielt hatten und dann auch Lévinas’ Gedanken expliziter hindeuten, ist die Idee, dass das Leben nicht – oder zumindest nicht im eigentlichen Sinne des Wortes – aufgrund seiner schöpferischen Kräfte transzendent ist, sondern dank seiner Affektivität. Es ist durch diese Affektivität, dass das lebendige Subjekt das Gegebene vor jedem verstehenden Griff als eine Andersheit empfangen kann, die es bestimmt und prägt, bevor es sie bestimmen kann. Pathisch ist diese TranszenLévinas, Jenseits des Seins, 179. Lévinas, Jenseits des Seins, 225. 66 Lévinas, Jenseits des Seins, 223. 67 Heidegger besteht darauf, dass die »Befindlichkeit [hier im Sinne der jeweils konkreten ›Stimmung‹] je ihr Verständnis [hat]« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 190). Dass jede ontische Affektion verstehend ist, will u. E. aber nicht sagen, dass die Befindlichkeit – verstanden in einem transzendentalen Sinne – letzten Endes ein bloßer Modus des Verstehens ist. Die Befindlichkeit bezeichnet nach unserer Lesart nicht einfach die affektive Färbung des Verstehens, denn so wäre sie immer noch ein Phänomen des Verstehens und nicht eine vom Verstehen unterschiedene und prinzipiell auch unabhängige Zugangsart zum Realen. Heideggers These der »Gleichursprünglichkeit« von Verstehen und Befindlichkeit (vgl. u. a. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 177) soll die Verschiedenheit der beiden – der befindlichen und der verstehenden – Erschließungsweisen nicht nivellieren und scheint überdies mit der Behauptung eines Fundiertseins des Verstehens in der Befindlichkeit nicht inkompatibel zu sein (vgl. dazu Chiara Pasqualin, »Der ›pathische‹ Grund des Hermeneutischen. Die ontologische Priorität der Befindlichkeit vor dem Verstehen«, in: Heidegger Studien, 31, 2015, 129–151). 68 Lévinas, Jenseits des Seins, 227 und 250. 64 65

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denz, weil der Mensch ohne seine Initiative über sich hinaus vor etwas gebracht wird, das ihn tief berührt, auch wenn – oder besser gerade wenn – dieses Etwas noch nicht Gegenstand seiner aktiven Entwürfe ist. 69

3.

Abschließender Überblick: Konvergenzen und Divergenzen

Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass sich sowohl anhand der Position von Heidegger als auch der von Lévinas ein pathisches Verständnismodell der Transzendenz skizzieren lässt. Laut diesem Modell bezeichnen die Transzendenz bzw. das Transzendieren nicht den Akt des Verstehens, sondern das passive Geschehen eines ursprünglichen Affiziertseins. Die Transzendenz als das, was das menschliche Leben in seiner tieferen Struktur definiert, hat hier also weder etwas mit der bedeutungsbildenden Fähigkeit des Subjekts zu tun noch mit dem Umstand, dass das Leben durch dieses oder jenes Seiende ständig gestimmt ist. Das Affiziertsein, in dem die Transzendenz besteht, ist nicht primär in einem ontisch-empirischen Sinne, sondern als eine ursprüngliche Situiertheit des Lebens zu deuten, welches vor dieser oder jener Stimmung immer schon – gewissermaßen auf einer transzendentalen Ebene – von etwas Anderem betroffen ist. Denn gemäß dem pathischen Verständnis der Transzendenz ist das, was das Leben affiziert, nicht etwas, das in der Welt erscheint, d. h. etwas, das einer Bedeutungsganzheit zugehörig und also bedeutsam für unseren Selbstentwurf ist, sondern etwas, das sich vor diesem aus der Leistung des Verstehens resultierenden weltlichen Erscheinen ergibt. Dieses vor-weltliche und damit vor-bedeutsame Etwas, welches das Leben affiziert, er-gibt sich un-abhängig vom Subjekt, und dies nicht nur, weil das Subjekt nicht der oder dasjenige ist, der oder das entschieden hat, dass es ein solches ursprüngliches Datum über-

Einen Punkt der Konvergenz zwischen Heidegger und Lévinas bezeichnet Michel Vanni wie folgt: »Heidegger et Lévinas évoluent ainsi tous deux vers une conception de l’appel ou de l’affect (par l’être ou par l’autre) dans laquelle l’initiative du sujet, sa capacité de décision, se trouve quasiment réduite à néant. En ce sens ils contribuent l’un comme l’autre à la liquidation du sujet cartésien ou idéaliste« (Michel Vanni, »Oubli de l’autre et oubli de l’être. Une étrange proximité entre Heidegger et Lévinas«, in: Phänomenologische Forschungen, 4 [2], 1999, 77–92, hier 81).

69

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Die ›pathische‹ Transzendenz des Lebens

haupt gibt, sondern auch, weil das Subjekt dieses Datum noch nicht mit seinen hermeneutischen Kräften erarbeitet hat. Aufgrund seiner Un-abhängigkeit können wir dieses Datum, welches das Leben ursprünglich affiziert, als die Alterität par excellence bezeichnen. Erst im Bezug auf diese Alterität ist eine »Transzendenz« des Lebens im eigentlichen Sinne des Wortes nachzuweisen. Denn die der Transzendenz eigene Dynamik, d. h. der Überschritt, ist nur dann bis ins Extrem getrieben, wenn auch die Grenzen der hermeneutischen Kräfte des Subjekts und damit die Enge des hermeneutischen Zirkels überstiegen werden. Und ein solches Übersteigen findet gerade dort statt, wo das Subjekt unabhängig von seiner Initiative von der Alterität betroffen wird. Zwar kann man noch immer von einer Transzendenz des Lebens in Bezug auf dessen Verstehend-sein sprechen, aber diese Transzendenz vermag sich nie von einem gewissen Grad von Immanenz zu lösen, da sie stets innerhalb des Wirkungsraums des Verstehens statthat – es handelt sich daher um eine immanente Transzendenz. Es ist somit das pathische Verständnismodell und nicht so sehr das hermeneutische 70, welches der Dynamik der Transzendenz und deren extremer Spannung nach einem Außerhalb des Subjekts – wenn auch nicht nach einem Jenseits im Sinne der klassischen Metaphysik – völlig gerecht wird. Das pathische Verständnismodell liefert letztlich die Idee einer Transzendenz, welche dem Verstehenskreis nicht immanent ist, sondern wirklich transzendent bleibt und daher dem eigentlichen Sinn des Wortes entspricht. Es gilt an dieser Stelle zugleich zu betonen, dass die pathische Transzendenz des Lebens auf eine Dynamik hinweist, welche keine Bewegung des Transzendierens im strikten Sinne gestaltet. Denn hier Was den Zusammenhang zwischen der hermeneutischen Ebene und der pathischen (d. h. der hermeneutischen und der pathischen Transzendenz) betrifft, so kann man argumentieren, dass die erste in der zweiten fundiert ist. Dies impliziert, dass das Leben als ein Verstehendes nur deswegen transzendieren kann, weil es durch seine Affektivität mit dem Faktum der Alterität zusammenstößt und dadurch in einem pathischen Sinne immer schon offen ist für ein Draußen. Anhaltspunkte für die These einer Verwurzelung des Hermeneutischen im Pathischen lassen sich sowohl in Heideggers Werken als auch in den Schriften Lévinas’ finden. Vgl. dazu: Pasqualin, »Der ›pathische‹ Grund des Hermeneutischen« und Chiara Pasqualin, »Das Vorprädikative als das ›Pathische‹. Ein Vergleich zwischen der ›großen Stille‹ bei Heidegger und dem ›Sagen‹ bei Lévinas«, in: Chiara Pasqualin, Maria Agustina Sforza (Hrsg.), Das Vorprädikative. Perspektiven im Ausgang von Heidegger, Freiburg/München, Alber Verlag, 2020, 237–264.

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bezeichnet die Transzendenz noch keine hermeneutische Aktivität, sondern die Passivität einer Situiertheit, über die das Leben keine Kontrolle hat. Das Leben »transzendiert« auf der pathischen Ebene eigentlich nicht, sondern befindet sich der Dynamik der Transzendenz immer schon unterworfen. Eine so verstandene Transzendenz besagt somit keine Bewegung, sondern ein Bewegt-sein, welches das Leben vor seiner Initiative wesentlich strukturiert bzw. diesem eine unauslöschliche Prägung verleiht. Nach dem pathischen Verständnismodell wird also die Transzendenz des Lebens in einem formalen Sinne als dessen Affiziertsein durch die Alterität aufgefasst. Diese Alterität ist durch den genannten Unabhängigkeitscharakter gekennzeichnet, was sich sowohl bei Lévinas als auch bei Heidegger zeigen lässt. Die Unabhängigkeit charakterisiert nicht nur die Andersheit des Anderen, 71 sondern auch das Sein, wie dieses in Was ist Metaphysik? konzipiert wird. Das Sein, das in der Angst offenbar wird, ist gerade nicht das Sein als Korrelat des Verstehens, weil gerade in der Angst das Verstehen – so unsere Argumentation – außer Kraft gesetzt ist. Da in der Angst der Prozess des Verstehens suspendiert wird, scheint das sich hier offenbarende Sein das genannte Merkmal der Unabhängigkeit zu erfüllen. Die Affektion durch das Sein ist somit keine Autoaffektion – es geht hier nicht um ein Bekümmertsein des Lebens um sich selbst 72 –, sondern eine wahre Fremdaffektion. Andererseits wird deutlich, dass sich das pathische Verständnismodell der Transzendenz, welches den beiden Denkern gemeinsam ist, nur auf die formale Struktur der Transzendenzdynamik bezieht. 73 Dieses Modell definiert die Transzendenz in ihrem »Wie«-Charakter Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 124: »Der Andere affiziert uns nicht als jemand, den es zu überwinden, einzunehmen, zu beherrschen gilt – sondern als Anderer, der von uns unabhängig ist«. 72 Lévinas wendet sich gegen Heideggers Interpretation der Befindlichkeit, indem er ihm vorwirft, dass nach dieser Theorie alle Emotion letztlich ein Fürchten um sich selbst sei. Aus den vorausgehenden Erörterungen hat sich aber ergeben, dass nach Heidegger Befindlichkeit eine Affektivität ist, welche zu einer wahren Transzendenz befähigt. Vgl. u. a. Emmanuel Lévinas, »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, in: Zwischen uns, 132–153, hier 148–149. 73 Es wurde bereits festgestellt, »dass Levinas und Heidegger strukturell verwandt sind, obwohl sie inhaltlich verschiedene Wege gehen«, und dass »gerade formale Parallelen die eigentliche Entfernung zwischen den beiden hervortreten [lassen]« (Branko Klun, Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, Frankfurt a. M. u. a., Peter Lang, 2000, 315). 71

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als ein Affiziertsein durch Alterität, wobei das konkrete »Woraufhin« der Überstiegsdynamik unbestimmt bleibt. Bezüglich dieses »Woraufhin« besteht noch immer ein Wesensunterschied zwischen den Ansätzen der beiden Autoren. Während sich für Heidegger das Woraufhin dieser Dynamik mit dem Seinsfaktum identifiziert, ist es bei Lévinas der andere Mensch. Lévinas nimmt in dieser Hinsicht einen anderen Weg aufgrund der Überzeugung, dass die Erfahrung des Seinsfaktums immer noch in der Immanenz eingeschlossen bleibt. Diese Beurteilung Lévinas’ hängt jedoch von einer bestimmten Auslegung des Seins ab. Lévinas interpretiert das Sein als das Faktum des Existieren-Müssens – ein Existieren, das sich noch nicht in der Form eines besonderen subjektiven Seinsentwurfes, sondern als anonyme Macht an die Schwelle des Bewusstseins drängt und als Last erlebt wird: Die Erfahrung des Seins beschreibt der frühe Lévinas als das Ekel hervorrufende Erlebnis des Gekettet-Seins an einen solchen unpersönlichen Strom. 74 Heidegger interpretiert das Sein anders – zumindest in der Antrittsvorlesung von 1929. Hier ist das Sein die freie Selbst-Schenkung als Alternative zur »Seinslosigkeit« 75 und dem totalen Nichts 76, und das ist ein Ereignis, das keinen Ekel, sondern Erstaunen hervorruft. 77 Dieses Sein lässt sich nicht auf jenes Sein reduzieren, das das Subjekt ist und zu sein hat, sondern spielt auf das spätere Sein als Ereignis an und also auf einen Seinsbegriff, welcher eine existenzialistische Deu-

Vgl. Emmanuel Lévinas, Ausweg aus dem Sein, übers. von Alexander Chucholowski, Meiner, Hamburg, 2005. Dieses frühere Verständnis des Seins drückt sich im Begriff des »es gibt« (il y a) aus. Vgl. Emmanuel Lévinas, Vom Sein zum Seienden, übers. von Anna Maria Krewani und Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München, Alber Verlag, 1997, insb. 69–72. Zum Begriff des »es gibt« siehe: Philip Lawton, »Levinas’ Notion of the ›There is‹«, in: Tijdschrift voor filosofie, 37 (3), 1975, 477– 489. 75 Vgl. Martin Heidegger, »Nachwort zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Wegmarken, GA 9, 303–312, 306. 76 Vgl. Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 114: »In der hellen Nacht des Nichts der Angst entsteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist – und nicht Nichts«. 77 Vgl. Heidegger, »Nachwort zu ›Was ist Metaphysik?‹«, GA 9, 307: »Die Bereitschaft zur Angst ist das Ja zur Inständigkeit, den höchsten Anspruch zu erfüllen, von dem allein das Wesen des Menschen getroffen ist. Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: daß Seiendes ist«. Vgl. auch Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 121. 74

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tung explizit zurückweist 78 und die Existenz als wesentlich ex-zentrisch qualifiziert 79. Die Erfahrung des Seins in der Angst geht somit mit keiner Fesselung des Subjekts an sich selbst einher, sondern ist – wenn man Was ist Metaphysik? als einen Versuch liest, der bereits in die Richtung des späteren seinsgeschichtlichen Denkens weist 80 – ein »Außersichsein« in der Form einer Entrücktheit in das Ereignis des Seins als solchen 81. Auch abgesehen davon besteht ein entscheidender Unterschied darin, dass das, was nach Lévinas das Leben in Erstaunen versetzt, nicht die Tatsache ist, dass es das Sein überhaupt gibt, sondern vielmehr, dass es einen anderen Menschen außer mir gibt. 82 Dass die Transzendenz des Lebens bei Heidegger eine Exzentrizität besagt, welche primär auf das Sein und nicht auf den anderen Menschen ausgerichtet ist, markiert den Hauptunterschied zu Lévinas. Da sich in der Perspektive Heideggers das pathische Verständnismodell in einem strukturellen Ausgesetztsein des Lebens an das Sein konkretisiert, ist dieses Modell in einem primären Sinne ontologisch gekennzeichnet. Im Unterschied dazu ist das, was wir bei Lévinas im Sinne einer pathischen Transzendenz interpretiert haben, das unumgängliche Ausgesetztsein des Lebens an den Anderen. Dadurch zeichnet sich das Verständnismodell der Transzendenz bei Lévinas durch eine ethische Konnotation aus. Die Transzendenz des Lebens ist bei ihm letztlich die passion/obsession (Passion/»Besessenheit«) 83 eines Lebens, welches das Leben des Anderen in seiner innersten Struktur trägt. Vgl. Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Wegmarken, GA 9, 313–364, 334. 79 Vgl. Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, GA 9, 326: »Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hin-aus-stehen in die Wahrheit des Seins«. 80 Wie Heidegger selbst in der späteren Einleitung zur fünften Auflage der Antrittsvorlesung suggeriert: Martin Heidegger, »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Wegmarken, GA 9, 365–383, hier insb. 374–375. 81 Vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1994, 488–489. 82 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 28, wo die Rede von der »erstaunliche[n] Tatsache« ist, dass die den Anderen empfangende Subjektivität mehr enthalte, als sie zu enthalten vermag. Die Begegnung mit dem Anderen ist insofern Anlass zum Wunder, als dieser eine absolute Exteriorität verkörpert und daher nie Resultat der sinnbildenden Tätigkeit des Subjekts sein kann (zum »Wunder der Exteriorität« vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 50). 83 Die Begrifflichkeit der Passion und der »Besessenheit« (vgl. dazu insbes. Lévinas, Jenseits des Seins, 187–189) verweist auf die extreme Passivität des Lebens, welches der Alterität gegenüber völlig ohnmächtig und selbstlos ist. 78

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Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens im Kontext gegenwärtiger Diskussionen Danka Radjenović

Abstract: In seinem ersten Hauptwerk, dem Tractatus logico-philosophicus, grenzt Wittgenstein Probleme des Lebens von den Fragen der Wissenschaft entschieden ab. In seinem Vortrag über Ethik (1929/30) sieht er die Aufgabe der Ethik darin, den Sinn des Lebens zu erkunden. Der erste Teil meines Beitrags zeichnet – anhand Wittgensteins zahlreicher Bemerkungen, Notizen und Tagebucheinträge zum ›Problem des Lebens‹ – die Entwicklung seiner philosophischen Gedanken zu dieser Thematik nach. Die Ergebnisse des ersten Teils des Beitrags werden im zweiten Teil auf die gegenwärtigen Diskussionen über den Sinn des Lebens (meaning of life, meaning in life) und auf die bestehende und noch ausstehende Rezeption der Philosophie Wittgensteins innerhalb dieser Diskussionen bezogen. In his first major work, the Tractatus Logico-Philosophicus, Wittgenstein draws a strict distinction between the questions of science and the problems of life. In his Lecture on Ethics (1929/30) he maintains that the task of ethics is to inquire into the meaning of life. The first part of my contribution traces the development of Wittgenstein’s philosophical thoughts on the subject of the »problem of life,« based on his numerous remarks, notes, and diary entries concerning this theme. In the second part, I relate the tracings from the first part to contemporary discussions about the meaning of life and meaning in life, indicating both the extant and remaining reception of Wittgenstein’s work in the context of these discussions.

1.

Einleitung

Der Titel meines Beitrags bedarf vorab einer zweifachen Erläuterung. Sie betrifft sowohl den ersten als auch den zweiten Teil des Titels. Wenn hier, erstens, von Wittgensteins Bemerkungen über das Leben gesprochen wird, dann sind damit vor allem seine Gedanken zum ›Sinn des Lebens‹ oder ›Problem des Lebens‹ gemeint. Diese finden sich sowohl in Wittgensteins Tagebüchern als auch im Tractatus 349 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Danka Radjenović

logico-philosophicus und in mehreren Manuskripten aus dem Nachlass. Wenn, zweitens, vom Kontext gegenwärtiger Diskussionen gesprochen wird, dann ist damit die vorwiegend in der angelsächsischen Philosophie geführte Debatte um den Sinn des Lebens (meaning of life 1) gemeint. 2 Im Rahmen dieser Diskussionen wird die Frage nach dem sinnvollen Leben gestellt und aus der Perspektive unterschiedlicher theoretischer Ansätze beantwortet. Dabei wird die Frage nach dem sinnvollen oder sinnerfüllten Leben von der Frage nach dem glücklichen Leben, nach dem ethischen Leben oder auch nach dem guten Leben klar unterschieden. So stellt das Glück für manche Ansätze keine notwendige Bedingung für ein sinnvolles Leben dar. Die Sinnhaftigkeit wird als eigenständige Kategorie etabliert und den traditionellen ethischen Kategorien gegenübergestellt. 3 Mit diesem Beitrag verfolge ich das Ziel, einen Überblick über die Rezeption der Philosophie Wittgensteins im Rahmen dieser Diskussionen um den Sinn des Lebens zu geben sowie auf einige Herausforderungen für diese Rezeption aufmerksam zu machen. Zuletzt möchte ich auch die Möglichkeiten für die weitere Arbeit in dieser Richtung andeuten. Dabei wird von mir bei Weitem nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben – der Überblick muss skizzenhaft bleiben, um dem Umfang eines Aufsatzes gerecht zu werden. Darüber hinaus kann die hier herangezogene Literatur nur einige ausgewählte Arbeiten und Werke berücksichtigen, die Wittgensteins Philosophie und die Frage nach dem Sinn im Leben zum Thema haben. Im Wesentlichen möchte ich die Frage hier nur anreißen, um sie anderswo weitergehender und ausführlicher, vollständiger zu verfolgen. Es ist sowohl die Wendung meaning of life als auch meaning in life anzutreffen. Auf die Unterschiede kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Ins Deutsche wurde die Phrase meaningful life als ›sinnvolles Leben‹ übertragen und diese Übersetzung hat sich – den möglichen Alternativen (sinnerfülltes, sinnhaftes Leben) zum Trotz – allem Anschein nach als Standard durchgesetzt. 2 Einen systematischen Überblick auf Deutsch bieten Markus Rüther/Sebastian Muders, »Die Frage nach dem Sinn des Lebens in der gegenwärtigen Philosophie. Eine Topographie des Problemfeldes«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 68 (1), 2014, 96–123. Ihr Aufsatz baut auf dem Artikel von Thaddeus Metz, »The Meaning of Life«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2013 Edition), hrsg. von Edward N. Zalta, URL = https://plato.stanford.edu/archives/sum2013/entries/lifemeaning/, zuletzt aufgerufen am 29. 07. 2020, auf. 3 Vgl. Rüther/Muders, »Die Frage nach dem Sinn des Lebens in der gegenwärtigen Philosophie«, 97. 1

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Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens

Zunächst werde ich in einem chronologischen Nachvollzug eine Auswahl an repräsentativen Stellen, die in Wittgensteins Werken entweder vom Problem des Lebens handeln oder explizit den Sinn des Lebens thematisieren, einzeln anführen und zum Teil auch kommentieren.

2.

Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens

Tagebücher / Notebooks 1914–16 Als erste und eine der sicherlich am meisten zitierten Quellen, die Wittgensteins Gedanken zu diesem Thema beinhalten, sind die Tagebücher aus den Jahren 1914–1916 zu berücksichtigen. Die Einträge in diesen Tagebüchern, die Wittgenstein während des Ersten Weltkriegs als freiwilliger Soldat der österreichischen Armee an der Ostfront führte, sind eine in vielerlei Hinsicht wertvolle Quelle. Zum einen dokumentieren sie den Entstehungsprozess der Logisch-Philosophischen Abhandlung – bekannter als Tractatus logico-philosophicus –, oder zumindest wichtige Etappen in diesem Prozess, insofern viele der Einträge direkt in den Text des Tractatus einfließen. Zum anderen ist gerade hier – durchsetzt mit Überlegungen zur Logik und zur Natur des metaphysischen Subjekts – eine ganze Reihe von Einträgen zu finden, die im Grunde ethische Fragestellungen aufgreifen. Insbesondere im Sommer 1916 bilden die Notizen, die um die Frage nach dem Sinn des Lebens kreisen, eine – sich unter den anderen abzeichnende – thematische Einheit in den Tagebüchern. Sie beginnen mit einem Eintrag vom Juni 1916: »Was weiß ich über Gott und den Zweck des Lebens? Ich weiß, dass diese Welt ist. (11. 06. 1916)« 4 Auf diese Frage und Antwort folgen zwölf Sätze, die vom Sinn der Welt handeln, der hier mit dem Sinn des Lebens gleichgesetzt wird: »Den Sinn des Lebens, d. i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen.« 5

Ludwig Wittgenstein, Notebooks 1914–1916 (im Folgenden Notebooks), hrsg. von Elizabeth Anscombe/Georg Henrik von Wright, Oxford, Basil Blackwell, 1961, 72. 5 An einer anderen Stelle in den Notebooks heißt es: »An Gott glauben heißt sehen, daß das Leben einen Sinn hat. (8. 7. 16)« (Wittgenstein, Notebooks, 74). 4

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In einem der bald danach verfassten Tagebucheinträge wird Gott mit dem Schicksal und mit der »von unserem Willen unabhängigen« Welt gleichgesetzt. 6 Es handelt sich hier um eine Welt, der das Subjekt machtlos gegenübersteht: »Ich kann die Geschehnisse der Welt nicht nach meinem Willen lenken, sondern bin vollkommen machtlos. Nur so kann ich mich unabhängig von der Welt machen—und sie also doch in gewissem Sinne beherrschen—indem ich auf einen Einfluß auf die Geschehnisse verzichte«, heißt es in dem bereits genannten Eintrag vom 11. Juni 1916. In der späteren Notiz vom 8. Juli wird »das Gefühl, daß wir von einem fremden Willen abhängig sind« 7, evoziert. Auch wenn der Zusammenhang dieser Notizen erst vor dem Hintergrund der letzten beiden Hauptthesen des Tractatus beleuchtet werden kann, sind es dennoch vor allem die Notebooks, in denen – angesichts der Gegenüberstellung des Willens und der Welt – die Idee des glücklichen Lebens entwickelt wird. Mit ihr scheint sich eine Antwort auf eben diese Gegenüberstellung kundzugeben: »Um glücklich zu leben, muß ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja ›glücklich sein‹. Ich bin dann sozusagen in Übereinstimmung mit jenem fremden Willen, von dem ich abhängig erscheine. Das heißt: ›ich tue den Willen Gottes‹. (8. 7. 16)« 8 In den darauffolgenden Notizen wird das glückliche Leben als das einzig richtige 9 mit dem richtigen Leben gleichgesetzt. Mit anderen Worten: Nur das glückliche Leben ist das richtige Leben. Die Unaussprechbarkeit der Ethik verdichtet sich so in dem Ausruf: »Lebe glücklich! (8. 7. 16)« 10 Einen »Gott wäre in diesem Sinne einfach das Schicksal oder, was dasselbe ist: die—von unserem Willen unabhängige—Welt. (8. 7. 16)« (Wittgenstein, Notebooks, 74). In diesem Zusammenhang bemerkt Kristóf Nyíri: »Wittgensteins Gott ist unpersönlich; das bloße Korrelat des absoluten Ausgeliefertseins vom Menschen.« Vgl. János Kristóf Nyíri, »Das unglückliche Leben des Ludwig Wittgenstein«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 26 (4), 1972, 585–608, hier 590. 7 Wittgenstein, Notebooks, 74. 8 Wittgenstein, Notebooks, 75. 9 »Immer wieder komme ich darauf zurück, daß einfach das glückliche Leben gut, das unglückliche schlecht ist. Und wenn ich mich jetzt frage: aber warum soll ich gerade glücklich leben, so erscheint mir das von selbst als eine tautologische Fragestellung; es scheint, daß sich das glückliche Leben von selbst rechtfertigt, daß es das einzig richtige Leben ist. (30. 7. 16)« (Wittgenstein, Notebooks, 78). 10 Wittgenstein, Notebooks, 75. K. Nyíri bezeichnet diesen Ausruf etwas zugespitzt als den »kategorischen Imperativ Wittgensteins«. Vgl. János Kristóf Nyíri, »Das unglückliche Leben des Ludwig Wittgenstein«, 591. 6

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ähnlichen Gedanken findet man auch im folgenden, in den Notebooks vorkommenden Verweis auf Dostojewski, den ich hier bis zum Teil 2. meines Beitrags unkommentiert belassen muss: »Und insofern hat wohl auch Dostojewski recht, wenn er sagt, daß der, welcher glücklich ist, den Zweck des Daseins erfüllt. Oder man könnte auch so sagen, der erfüllt den Zweck des Daseins, der keinen Zweck außer dem Leben mehr braucht. Daß heißt nämlich, der befriedigt ist. (6. 7. 16)« 11 Die Tagebuchnotizen zeichnen ein Bild vom glücklichen Leben, das voller Widersprüche steckt, 12 lassen aber nicht annähernd die Konturen einer ethischen Theorie erkennen. Eine solche wird Wittgenstein auch nie entworfen haben, aus Gründen, die im Tractatus verdeutlicht werden. Doch die Fragen, welche in den Tagebüchern 1914–16 notiert wurden, tauchen im Text des Tractatus wieder auf.

Von dem Problem des Lebens im Tractatus logico-philosophicus (1921) 13 Wie eingangs erwähnt, finden sich im Text des Tractatus logico-philosophicus viele textuelle Überschneidungen mit den Kriegstagebüchern. Eine solche Stelle ist der oft kommentierte und dennoch weiterhin rätselhaft bleibende Satz 6.521: »Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?).« 14 Es gibt mehrere Möglichkeiten, diesen Satz zu lesen: Entweder kann man den Satz so verstehen, dass mit ihm bestritten wird, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens selbst sinnvoll ist. Demzufolge kann es auf sie auch keine Antwort geben. Diese Lesart finde ich jedoch problematisch; sie hängt in jedem Fall mit vielen weiteren Schwierigkeiten hinsichtlich der Interpretation des Tractatus zuWittgenstein, Notebooks, 73. Vgl. János Kristóf Nyíri, »Das unglückliche Leben des Ludwig Wittgenstein«, 592. 13 Im Jahr 1921 als Logisch-Philosophische Abhandlung in den »Annalen der Naturphilosophie« zuerst erschienen. Die zweisprachige Ausgabe auf Englisch und Deutsch als Tractatus logico-philosophicus folgte ein Jahr später. 14 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (im Folgenden TLP), Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1963, 114–115. Im Haupttext wird zur Bezeichnung des Werks weiterhin verkürzt Tractatus anstatt der Sigle genutzt. 11 12

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sammen. 15 Angesichts der Notebooks lässt sie sich definitiv nicht unterstützen: Berücksichtigt man beispielsweise den Eintrag vom 8. 7. 16 – »An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. An Gott glauben heißt sehen, daß das Leben einen Sinn hat.« 16 –, kann kaum ein Zweifel darüber aufkommen, dass die Sinnfrage Wittgenstein als verstehbar und damit auch einer Formulierung fähig erschien. Man kann den Satz auch so lesen, dass mit ihm besagt wird, dass es einen Sinn gibt, sich dieser Sinn aber nicht aussprechen lässt. Diese Möglichkeit möchte ich hier weiterverfolgen und den Satz so lesen, dass mit ihm sowohl besagt wird, dass es am Leben etwas gibt, was an ihm problematisch ist und dass dieses Problematische die Form einer Frage annimmt – der Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Menschen, »denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde«, können jedoch das, was ihnen dabei klar wurde, nicht zur Sprache bringen; sie merken schlicht und ergreifend, dass das Problem, das sie zum Zweifeln (hier lese ich: an eben diesem Sinn des Lebens) gebracht hat, verschwunden ist. In 6.521 wird dazu nichts Weiteres gesagt: weder, dass diese Menschen eine bestimmte Erfahrung gemacht haben, noch, dass sie etwas Konkretes erkannt haben, auch wenn ihnen der Sinn des Lebens dem Wortlaut nach »klar wurde«. Denn das ›Klarwerden‹ fällt mit dem Verschwinden des Problems zusammen, sodass man in die ursprüngliche Situation, in der sich das Problem als Problem gestellt hat, nicht mehr hineinfinden kann. SicherAbhängig davon, ob man bereit ist, diese Lesart zu akzeptieren oder nicht, unterscheiden sich auch die Auffassungen darüber, wie die Rede von den »Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde«, zu verstehen ist. Elizabeth Anscombe widerspricht Alfred Ayers Kommentar, wonach Menschen, die zu sagen versuchen, worin der Sinn des Lebens besteht, »have nothing in them but a lot of nonsense«. Sie verwirft dies gerade auf Grund des hier vorkommenden Verweises Wittgensteins auf jene Menschen, denen der Sinn des Lebens klar geworden sei, vgl. Elizabeth Anscombe, An Introduction to Wittgenstein’s Tractatus, New York, Harper & Row, 2001, 170. Caleb Thompson schlägt in seinem Aufsatz über Wittgenstein und Tolstoj, auf den ich unten noch ausführlicher zu sprechen komme, eine dritte Variante vor – nämlich das Bild der »Menschen, denen der Sinn des Lebens […] klar wurde«, als Platzhalter »for the idea of the disappearance of the question and no more than that« zu nehmen. In diesem bestimmten Punkt stimme ich der Lesart Anscombes zu. Zu den hier in der Fußnote sowie den oben angeführten Deutungen vgl. Caleb Thompson, »Wittgenstein, Tolstoy and the Meaning of Life«, in: Philosophical Investigations, 20 (2), 1997, 97–116, hier insb. 115. 16 Wittgenstein, Notebooks, 74. 15

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lich hängt das ›Klarwerden‹ nicht mit dem Wissen, dass dieses oder jenes der Fall ist, zusammen, denn das Tatsachenwissen gehört laut dem Tractatus in den Bereich der Naturwissenschaften. Diese können, umgekehrt, zum Problem des Lebens keinen Beitrag leisten, was aus dem diesem vorausgehenden Satz hervorgeht: »Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. (6.52)« 17 Die Trennung zwischen Wissenschaft und Ethik, die im Tractatus so konsequent vollzogen wird, schlägt sich im Satz 6.52 in aller Schärfe nieder. Auf die Fragen der Wissenschaft können Antworten gefunden werden, da sie Tatsachen betreffen. Solche Antworten können jedoch die Probleme des Lebens nicht betreffen, da diese Probleme außerhalb des Bereichs der Tatsachen liegen. Sie sind mit dem nicht-faktischen, außerweltlichen oder transzendenten 18 Bereich der Werte verbunden. Aus diesem Grund werden die Antworten auf die Fragen der Wissenschaft auch in Zukunft die Lebensprobleme nicht betreffen können – auch dann nicht, wenn alle möglichen, erst noch zu formulierenden wissenschaftlichen Fragen beantwortet werden. Mit dem Satz 6.52 werden zugleich die Grenzen der Wissenschaft und die der Ethik gezogen. Und obwohl im Tractatus keine weitere Erläuterung hinsichtlich des Charakters der Probleme, die als ›Probleme des Lebens‹ bezeichnet werden, zu finden ist, reicht ein Blick in die Notebooks 1914–1916, um zu verstehen, dass dabei immer die ethische Fragestellung im Hintergrund steht. Die Tagebucheinträge belegen, dass den traditionellen Themen der normativen Ethik, wie beispielsweise der Aufstellung allgemeiner ethischer Gesetze, 19 der ethischen Beurteilung einer Handlung oder der Rolle des Gewissens für die Orientierung im Handeln 20 während der Zeit der Entstehung des Tractatus eine große Wichtigkeit für Wittgensteins Denken zukommt. Gleichzeitig belegen sowohl die Notebooks als auch der Wittgenstein, TLP (6.52), 114. Wittgensteins Verwendung der Ausdrücke transzendent und transzendental, um den Bereich des Ethischen abzustecken, bereitet nicht wenige Schwierigkeiten, wenn man die Kantische Unterscheidung im Sinne hat. In den Notebooks heißt es: »Die Ethik ist transcendent. (30. 7. 16)«, Wittgenstein, Notebooks, 79, im Tractatus hingegen: »Die Ethik ist transcendental.«, Wittgenstein, TLP (6.421), 112. 19 Vgl. Wittgenstein, Notebooks, 78. 20 Vgl. Wittgenstein, Notebooks, 75. 17 18

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Tractatus, dass diese Fragen nicht im Sinne der normativen Ethik beantwortet werden – auch nicht fast ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des Tractatus, im »Vortrag über Ethik«.

Vortrag über Ethik / Lecture on Ethics (1929/1930) 21 In dem wahrscheinlich einzigen Vortrag, den Wittgenstein für eine breitere Öffentlichkeit gehalten hat, 22 wird der Ursprung der Ethik in dem Wunsch, »etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen« 23, gesucht. Dieser Wunsch drückt sich, wenn ihm innerhalb der Sprache Ausdruck verliehen wird, in Sätzen aus, die zwar etwas zu vermitteln beanspruchen, daran aber unbedingt scheitern müssen. Im Tractatus wird bekanntlich bestritten, dass es in der Welt Werte gibt 24. In der Welt gibt es nur Tatsachen. Die Sprache handelt nur von den Tatsachen. Etwas Höheres kann in der Sprache nicht ausgedrückt werden. 25 Diese Gedanken werden im »Vortrag über Ethik« im Grunde wiederholt, auch wenn ihnen nun auf eine andere Weise Ausdruck verliehen wird. Da der Gegenstand des Vortrags Ethik ist – nicht Logik, nicht Wissenschaft –, geht es im Vortrag vor allem darum, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir immer wieder versucht sind, über »das absolut Gute, das absolut Wertvolle« etwas zu sagen, was dann aber nur in Unsinn resultieren kann. Um diese Einsichten in aller Prägnanz zu artikulieren, bedient sich Wittgenstein in seinem Vortrag zahlreicher Gleichnisse und Metaphern. Diese weisen als sprachliche Mittel über ihren propositionalen Gehalt hinaus – insofern die Rolle der Gleichnisse und Metaphern nicht darin besteht, etwas zu sagen, sondern auf etwas hinzuweisen. 26 Wittgenstein besinnt sich auf die Der Vortrag wurde auf Englisch gehalten. Vgl. die Vorbemerkung der Herausgeber in Ludwig Wittgenstein, »I: A Lecture on Ethics«, in: The Philosophical Review, 74 (1), 1965, 3–12, hier 3. 23 Ludwig Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«, in: Joachim Schulte (Hrsg. u. Übers.), Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1989, 9– 19, hier 19. 24 TLP, 6.41, 111 25 Wittgenstein, TLP (6.42; 6.421), 112: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.« und: »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transcendental. (Ethik und Aesthetik sind Eins.)« 26 Vgl. David Wiggins, »Wittgenstein on Ethics and the Riddle of Life«, in: Philosophy, 79 (309), 2004, 363–391, hier 385–386, Fußnote 15. 21 22

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Situationen, in denen er selbst geneigt ist, von einem ›absoluten Wert‹ zu sprechen. Diese Situationen verbindet er mit einem bestimmten Erlebnis, wie zum Beispiel dem Erlebnis absoluter Sicherheit: »Damit meine ich den Bewußtseinszustand, in dem man zu sagen neigt ›Ich bin in Sicherheit, nichts kann mir weh tun, egal, was passiert.‹« 27 Dieses Erlebnis wird daraufhin mit dem Erlebnis der Sicherheit verglichen, das man im Alltag haben kann, wenn man sich z. B. in der eigenen Wohnung befindet. Man ist dann vor bestimmten Gefahren geschützt – kann beispielsweise nicht von einem Auto überfahren werden. Oder man ist sicher, wenn man eine Krankheit überstanden hat und nun dagegen immun ist. Solche Sicherheit betrifft immer die Abwesenheit von bestimmten, konkreten Gefahren. Dagegen würde die absolute Sicherheit hinsichtlich jeder möglichen Gefahr bestehen müssen. Gerade das ist nun der Punkt, an dem der Vergleich zusammenbricht, denn von der Sicherheit kann man Wittgensteins Ausführungen zufolge nur in dem ersten, relativen, nicht aber im zweiten, absoluten Sinne sprechen. In seinen Worten: »Sicher sein heißt im wesentlichen, es sei physisch ausgeschlossen, daß mir bestimmte Dinge passieren, und deshalb ist es Unsinn zu behaupten, ich sei sicher, egal, was passiert.« 28 Das Gleichnis gibt etwas zu verstehen, was sich bei dem Versuch, dasjenige zu identifizieren, wofür es ein Gleichnis ist, als Unsinn erweist. Der Vortrag schließt mit der Anerkennung der Tendenz, »etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle« 29 sagen zu wollen: My whole tendency and I believe the tendency of all men who ever tried to write or talk Ethics or Religion was to run against the boundaries of language. The running against the walls of our cage is perfectly, absolutely hopeless. Ethics so far as it springs from the desire to say something about the ultimate meaning of life, the absolute good, the absolute valuable, can be no science. What it says does not add to our knowledge in any sense. But it is a document of a tendency in the human mind which I personally cannot help respecting deeply and I would not for my life ridicule it. 30

Wie steht es in der Zeit, die zwischen den beiden Hauptwerken liegt, mit dieser Tendenz in Wittgensteins Schriften? Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«, 14–15. Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«, 15–16. 29 Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«, 19. 30 Wittgenstein, »I: A Lecture on Ethics«, 11–12. Hier nach dem Original wiedergegeben. 27 28

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1930er Jahre – Vermischte Bemerkungen In der Zeit, in der die Arbeit an den Philosophischen Untersuchungen schon begonnen hatte, finden sich in Wittgensteins Schriften auch weiterhin gelegentliche Bemerkungen, die vom Problem des Lebens und seiner Lösung handeln. Insbesondere in der Auswahl, die unter dem Titel Vermischte Bemerkungen veröffentlicht wurde, ist das der Fall. Hier ist eine solche Stelle: Variante aus den Vermischten Bemerkungen (29. 6. 1930) Wenn Einer die Lösung des Problems des Lebens gefunden zu haben glaubt, und sich sagen wollte, jetzt ist alles ganz leicht, so brauchte er sich zu seiner Widerlegung nur erinnern, daß es eine Zeit gegeben hat, wo diese ›Lösung‹ nicht gefunden war; aber auch zu der Zeit mußte man leben können, und im Hinblick auf sie erscheint die gefundene Lösung wie ein Zufall. Und so geht es uns in der Logik. Wenn es eine ›Lösung‹ der logischen (philosophischen) Probleme gäbe, so müßten wir uns nur vorhalten, daß sie ja einmal nicht gelöst waren (und auch da mußte man leben und denken können). 31

In einigen anderen Varianten dieser Bemerkung 32 tauchen auch die Worte ›Problem des Lebens‹ mit Anführungszeichen auf, als wollte Wittgenstein nahelegen, dass es sich dabei um ein Scheinproblem handelt. Berücksichtigt man darüber hinaus den hier gezogenen Vergleich zwischen dem Problem des Lebens und den philosophischen Problemen, dann scheint nahezuliegen, dass sie die gleiche Form haben. »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus.‹«, heißt es in den Philosophischen Untersuchungen, § 123. 33 Folgt man der Analogie, wäre das Problem des Lebens also in 31 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen (im Folgenden VB), in: Werkausgabe (im Folgenden WA), Bd. 8, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 61994, 455. 32 Neben dieser Variante sind noch sechs weitere Varianten derselben Bemerkung in verschiedenen Manuskripten und Typoskripten, deren Entstehung die Zeitspanne von 1930 bis 1937 umfasst, zu finden. Was bei allen diesen Fassungen auffällt, ist das variierende Auftauchen bzw. Entfallen der Anführungszeichen bei den Worten ›Probleme des Lebens‹ und ›Lösung‹. Alle sieben Varianten können sowohl in der diplomatischen Version (enthält alle Streichungen und Einfügungen) als auch in der linearen Version hier eingesehen werden: http://wittgensteinonline.no 33 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman, Eike von Savigny und Georg Henrik von Wright, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2001, 814; zitiert wird nach der Spätfassung der PU. Die erste Variante des § 123 stammt aus dem Jahr 1937; vgl. dafür Wittgenstein Source, www.wittgensteinsource.org, Ts-238, 81, zuletzt abgerufen am 01. 09. 2020.

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demselben Sinne ein Scheinproblem, wie es Wittgenstein zufolge auch die philosophischen Probleme sind. Somit bestünde seine ›Lösung‹ – wie auch bei den Problemen in der Philosophie – in der Erlangung einer übersichtlichen Darstellung, die »das Problemhafte zum Verschwinden bringt« – wie hier im weiteren Verlauf noch gezeigt werden wird. Eine Bemerkung späteren Datums (27. 8. 1937) greift das Problem des Lebens erneut auf: Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische. Aber haben wir nicht das Gefühl, daß der, welcher nicht darin ein Problem sieht, für etwas Wichtiges, ja das Wichtigste, blind ist? Möchte ich nicht sagen, der lebe so dahin – eben blind, gleichsam wie ein Maulwurf, und wenn er bloß sehen könnte, so sähe er das Problem? 34

Hier wird zum ersten Mal von »einer Art zu leben« gesprochen, die »das Problemhafte zum Verschwinden bringt«. Dies impliziert eine aktive Auseinandersetzung mit dem Problem, das man im Leben sieht, die nur durch eine Veränderung des Lebens vollzogen werden kann. Diese Veränderung kann aber nur dann »das Problemhafte zum Verschwinden« bringen, wenn das eigene Leben am Ende in die »Form des Lebens paßt«. Der Vergleich mit dem zwanzig Jahre früher notierten Eintrag aus den Notebooks vom 8. 7. 16 macht auf diesen scheinbar einschränkenden Aspekt aufmerksam. Zur Erinnerung, Wittgenstein schreibt dort: »Um glücklich zu leben, muß ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja ›glücklich sein‹.« 35 Diese Idee der Übereinstimmung mit der vorgefundenen Welt scheint hier nun zwanzig Jahre später wieder anzuklingen, dieses Mal im Bild des »Passens« in die Form des Lebens. Wie ist diese Rede von der Form des Lebens zu verstehen? Ist die Form etwas Vorgefundenes und auch Vorgegebenes? Bekannt ist jedenfalls, dass der Begriff der Lebensform in Wittgensteins Manuskripten in der Zeit zwischen 1936–1938

34 35

Wittgenstein, VB, WA 8, 487. Wittgenstein, Notebooks, 75.

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zum ersten Mal vorkommt 36 – es handelt sich also um denselben Zeitraum, aus dem die Bemerkung oben stammt. Angenommen, es wäre in der soeben diskutierten Bemerkung gerade das gemeint, was Wittgenstein später mit dem Begriff der Lebensform auszudrücken sucht, so würde es für die weitere Erschließung der Bemerkung wesentlich sein, wie man diesen Begriff konkret auffasst. 37 An dieser Stelle möchte ich jedoch stattdessen die weniger theoretisch vorbelastete Idee von ›einer Art zu leben‹ weiterverfolgen und mit ihrer Hilfe der Frage nachgehen, inwiefern die bisher diskutierte Thematik in der späteren Philosophie Wittgensteins weiterhin Relevanz behält.

Von dem Problem des Lebens in der späteren Philosophie Wittgensteins Spätestens an dieser Stelle ist etwas Vorsicht geboten. Denn bisher wurden von mir lange Zeiträume im Werk Wittgensteins mit Siebenmeilenstiefeln 38 beschritten und es bliebe trotzdem noch viel zu beschreiten. In diesem Abschnitt möchte ich daher anders verfahren und indirekt – vermittelt durch eine Arbeit, die den Einfluss des russischen Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Tolstoj auf Wittgensteins Leben und Werk untersucht – auf die Wittgensteinsche Spätphilosophie und die Frage nach dem sinnvollen Leben zu sprechen kommen. Es handelt sich dabei um einen Aufsatz von Caleb Thompson, der hier früher in der Kommentierung des Satzes 6.52 des Tractatus bereits herangezogen wurde. 39 Thompsons Anliegen in diesem Aufsatz ist es, den Einfluss von Tolstojs Schrift Meine Beichte auf Wittgensteins Tractatus zu untersuchen. Tolstoj, für dessen literarisches Werk die Frage nach dem Sinn im Leben eines der zentralen Themen ist, schildert in seiner Schrift Meine Beichte, wie er selbst von dieser Frage und der daraus resultieVgl. Juliet Floyd, »Wittgenstein on Ethics: Working through Lebensformen«, in: Philosophy and Social Criticism, 46 (2), 2020, 115–130, hier 117. 37 Vgl. hierzu ebenfalls Floyd, »Wittgenstein on Ethics«, 118: »Lebensform is not an object of investigation, but rather a norm of elucidation«, sowie 119: »Lebensformen […] are forms, that is, possibilities of structuring in life (to adapt TLP, 2.033).« 38 Um einen beliebten Ausdruck des Belgrader Philosophen Miloš Arsenijević zu verwenden. 39 Thompson, »Wittgenstein, Tolstoy and the Meaning of Life«. 36

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renden Ratlosigkeit in der Mitte seines Lebens so fundamental ergriffen wurde, dass er nicht mehr wusste, wie er weiterleben soll. Thompsons Schilderung zufolge war für Tolstoj die Beobachtung des Lebens der russischen Bauern, die sich solche Fragen nie gestellt hätten, obwohl sie mit ihrer Tätigkeit für das Leben der Gemeinschaft einen entscheidenden Beitrag leisteten, ausschlaggebend. In dieser Tätigkeit der Bauern habe Tolstoj die Verbindung zwischen ›einer Art zu leben‹ und dem Verschwinden des Problematischen am Leben gesehen. Hier möchte ich drei Textstellen anführen, die Thompsons Schilderungen der Ansichten Tolstojs enthalten: Thus, through his analysis of the question of the meaning of life, Tolstoy comes to see that his problems are not in any sense scientific problems, for in addressing the question he must either relate the finite with the infinite and produce nonsense or fail to approach the question altogether. Resolution of this problem cannot be a matter of discovering that such and such is the case. The question of the meaning of life is resolved, instead, by discovering a way of life in which there is meaning, in which these questions do not arise. Indeed, Tolstoy sees that ›all mankind who sustain life – millions of them – do not doubt the meaning of life.‹ He continues, ›from the most distant times of which I know anything, when life began, these people lived knowing the argument about the vanity of life which has shown to me its senselessness, and yet they lived attributing some meaning to it.‹ Likewise, language has meaning – is a wheel in gear with its pinion – when it is connected to the activities through which life is sustained. 40 Thus, on Tolstoy’s account, meaning in the narrow sense comes together with meaning in the broad sense. Life and language both have meaning when one is engaged in the activities which sustain life. When one is disengaged from those activities, one loses one’s sense that life has meaning and expresses that loss in language that is itself meaningless. 41 […] in his confrontation with science and philosophy, Tolstoy may be seen as attacking the idea that living and speaking meaningfully are matters of knowing something or other in favour of the idea that living and speaking meaningfully are matters of doing. 42

Die Nähe zu den Grundeinsichten der späteren Philosophie Wittgensteins ist geradezu erstaunlich. Jede dieser Stellen kann (fast ohne weiteres) auch als Schilderung dieser Philosophie dienen. 43 Vor allem 40 41 42 43

Thompson, »Wittgenstein, Tolstoy and the Meaning of Life«, 109. Thompson, »Wittgenstein, Tolstoy and the Meaning of Life«, 109. Thompson, »Wittgenstein, Tolstoy and the Meaning of Life«, 110. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Thompson in seiner Lektüre Tolstojs diesen bereits

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die hier so deutlich aufgewiesene Verbindung zwischen der Sprache und den Tätigkeiten des menschlichen Lebens zeugt davon. Man wird an die Formulierung erinnert: »Indem man das Sprachspiel anzeigt, zeigt man die Verbindung der Sprache mit dem Leben.« 44 Fast alle Interpreten, die Wittgensteins Arbeiten im Zusammenhang der Frage nach dem sinnvollen Leben lesen, beziehen sich auf den frühen Wittgenstein. 45 Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass in den früheren Schriften das ›Problem des Lebens‹ und die Frage nach dem Sinn des Lebens explizit thematisiert werden. Hinzu kommt, dass Wittgensteins Äußerungen über Ethik später immer sparsamer werden und in den Philosophischen Untersuchungen explizite Verweise auf das Problem des Lebens geradezu von der Bühne verschwinden. Eine nennenswerte Ausnahme in dieser Literaturlage bildet das Buch Wittgenstein and Meaning in Life. In Search of the Human Voice von Reza Hosseini. 46 Der Autor argumentiert dort überzeugend dafür, gerade die Spätphilosophie als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach dem sinnvollen Leben in Betracht zu nehmen. Hosseini betont vor allem den anti-theoretischen Charakter der späteren Philosophie, ebenso ihre anthropologische Grundausrichtung, die sich in der Hinwendung zur Praxis und zur gewöhnlichen

›durch die Brille‹ des späten Werkes Wittgensteins liest. Er verweist aber nur nebenbei an zwei Stellen darauf, vgl. Thompson, »Wittgenstein, Tolstoy and the Meaning of Life«, 99 sowie 105, Fußnote 23, wo er »kinship not just between Tolstoy and the early Wittgenstein but between Tolstoy and the later Wittgenstein« beobachtet. 44 Wittgenstein Source, www.wittgensteinsource.org, Ms-137, 61b, zuletzt abgerufen am 30. 08. 2020. 45 Vgl. neben Thompson auch Frank Cioffi, »Wittgenstein and the Riddle of Life«, in: Daniele Moyal-Sharrock (Hrsg.), The Third Wittgenstein. The Post-Investigations Works, Farnham, Ashgate, 2004, 193–210 sowie Wiggins, »Wittgenstein on Ethics and the Riddle of Life«, 363–391. 46 Reza Hosseini, Wittgenstein and Meaning in Life. In Search of the Human Voice, London, Palgrave Macmillan, 2015. Neben der Arbeit von Hosseini, der mir bis jetzt einzigen bekannten ausführlichen Studie zum späteren Werk, ist unter diesem Aspekt noch die Arbeit von David Kishik, »Wittgenstein on Meaning and Life«, in: Philosophia, 36 (1), 2008, 111–128 relevant. Noch nicht vertraut bin ich mit den Arbeiten des Religionsphilosophen John Cottingham sowie mit dem Werk Oswald Hanflings, die beide in ihrer philosophischen Arbeit von Wittgenstein beeinflusst worden sind. David Wiggins scheint in seinem bereits erwähnten Essay auch in Richtung der späteren Philosophie hinzudeuten. Zu Wiggins vgl. Fußnote 26 dieses Beitrags.

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Sprache zeige. 47 Die These von der speziellen Relevanz der späteren Philosophie für die Frage nach dem sinnvollen Leben untermauert er, indem er die Bemerkungen zum Sinn des Lebens im früheren Werk Wittgensteins kritisch liest. Dies ist geradezu die Voraussetzung für die Überzeugungskraft seiner Argumente: Er hebt hervor, dass sich eine Philosophie des Lebens der Art, wie sie die Notebooks und der Tractatus entwerfen, nicht leben lässt. 48 Demgegenüber stellt seiner Deutung nach gerade die praktische, anthropologische Ausrichtung der späteren Philosophie die Fundamente dazu bereit, eine Philosophie des Lebens, die sich auch leben lässt, zu entwickeln. Auch wenn ich die Ansichten Hosseinis in dieser Hinsicht teile, wäre es m. E. zu bedenken, ob man nicht auch der früheren Philosophie Einsichten abgewinnen kann, die in der späteren Philosophie nicht mehr präsent und dennoch für die Diskussionen um den Sinn des Lebens – auf die ich gleich eingehen werde – wertvoll sind. Doch für den Moment bestand mein Ziel darin, auf dem Umweg über Tolstojs Werk zu zeigen, dass die Problematik des sinnvollen Lebens in der späteren Philosophie Wittgensteins dem Augenschein entgegen durchaus präsent ist.

3.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens in den gegenwärtigen Diskussionen

Wie gestalten sich die Diskussionen um das sinnvolle Leben in der gegenwärtigen Philosophie? Es lassen sich grob drei Positionen unterscheiden: Supernaturalismus, Naturalismus und Nihilismus. Die Unterteilung erfolgt angesichts des grundsätzlichen Charakters der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Nihilismus zeichnet sich aus als Position, in deren Rahmen entweder bestritten wird, dass es so etwas wie einen Sinn des Lebens geben kann (insofern es semantisch unmöglich sei, einen Begriff zu entwickeln, der dieser Vorstellung entspräche), oder es wird zwar zugebilligt, dass es einen

Vgl. Hosseini, Wittgenstein and Meaning in Life. In Search of the Human Voice, Introduction. 48 Vgl. Hosseini, Wittgenstein and Meaning in Life. In Search of the Human Voice, Introduction, 8. Zum gleichen Schluss kommt auch Wiggins, auf den sich Hosseini ebenfalls bezieht. Vgl. Wiggins, »Wittgenstein on Ethics and the Riddle of Life«, 375. 47

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Sinn des Lebens geben könnte, dieser aber als de facto nicht gegeben verstanden wird. 49 Demgegenüber geben Supernaturalismus und Naturalismus eine bejahende Antwort auf die Frage nach dem Vorhandensein eines solchen Sinns, unterscheiden sich aber in ihren Antworten, wenn es darum geht, diesen Sinn näher zu bestimmen. Dem Supernaturalismus zufolge kann nur eine übernatürliche Entität wie ein göttliches Wesen dem Leben Sinn verleihen. Manche Positionen innerhalb des Supernaturalismus sehen diese sinnverleihende Instanz in der unsterblichen Seele. Aus der Perspektive des Naturalismus reicht hingegen die von den Naturwissenschaften dargebotene Schilderung der Welt und der Natur für ein sinnvolles Leben vollkommen aus. Sowohl innerhalb des Supernaturalismus als auch des Naturalismus lassen sich wiederum subjektivistische und objektivistische Positionen unterscheiden, die im Rahmen meines jetzigen Anliegens allerdings nicht weiter erläutert werden können. Sollte an diesem Punkt nun die Frage in den Raum gestellt werden, ob Wittgenstein – in Anbetracht dieser Positionen – ein Supernaturalist, Naturalist oder Nihilist in Bezug auf den Sinn des Lebens war, was wäre die angemessene Antwort darauf? Denn ich habe zu Beginn dieses Beitrages von einer Rezeption der Arbeiten Wittgensteins im Kontext der aktuellen Diskussionen gesprochen, was nahelegen könnte, dass die Interpreten Wittgensteins Bemerkungen über den Sinn des Lebens innerhalb der verfügbaren Positionen verorten. Nehmen wir diese Nachfrage zunächst entgegen und spielen alle Positionen durch. Hinsichtlich der Position des Nihilismus lässt sich entgegnen, dass von Wittgenstein nicht bestritten wird, dass es etwas gibt, was der Vorstellung vom Sinn des Lebens entspricht. Die Probleme entstehen erst dann, wenn man versucht, inhaltlich über dieses Etwas zu sprechen. Denn dann sind die resultierenden Sätze unsinnig. Im Hin-

In der hier angegebenen Unterteilung folge ich Rüther/Muders, »Die Frage nach dem Sinn des Lebens in der gegenwärtigen Philosophie«. Obwohl die zwei Autoren zuerst die von Metz in »The Meaning of Life« genannte Unterteilung zugrunde legen, verfeinern sie diese zusätzlich, was sich insbesondere in der Schilderung des Nihilismus als durchaus berechtigte Verfeinerung erweist. Siehe hierzu insb. 103/104. Ich schildere im vorliegenden Beitrag allerdings nur die drei oben genannten Hauptpositionen – gebe also nicht die ganze in Rüther/Muders vorzufindende Unterteilung wieder.

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Wittgensteins Bemerkungen über das Problem des Lebens

blick auf die spätere Philosophie lässt sich die Frage, ob Wittgenstein denn ein Nihilist war, vielleicht überhaupt nicht sinnvoll stellen. Schwierig wäre es auch, die Auffassung zu verteidigen, dass er in dieser Hinsicht ein Naturalist sei – vor allem, wenn man den Satz 6.52 des Tractatus und die späteren Ausführungen im »Vortrag über Ethik« im Auge hat. Es bleibt also noch die Position des Supernaturalismus. Diese ist nicht gleich von der Hand zu weisen. Manchmal, wenn man die Notebooks liest, könnte man meinen, dass Wittgenstein ein Supernaturalist par excellence gewesen sei. Liest man außerdem nicht etwa im »Vortrag über Ethik«: »Ethics, if it is anything, is supernatural […]« 50? Diesen Ausführungen widersprechen wiederum andere Äußerungen, wie etwa der bereits angeführte Tagebucheintrag zu Dostojewski, in dem es heißt: »[…] der erfüllt den Zweck des Daseins, der keinen Zweck außer dem Leben mehr braucht. (8. 7. 16)« 51 Hier wird der Zweck des Lebens im Leben selbst gesehen, als dem Leben immanent, nicht aber in einem übernatürlichen Bereich verortet. Doch ist es nicht, ehe man versucht, die oben gestellte Frage zu beantworten, naheliegender, zu sagen, dass alles, was Wittgenstein zum Sinn des Lebens und zum Problem des Lebens zu sagen hat, diese Positionen geradezu unterläuft? Hosseini, der derzeit einzige mir bekannte Autor, der die Ausführungen Wittgensteins explizit auf die genannten Positionen innerhalb der Debatte bezieht, kommt zu dem Schluss, dass dies aus mehreren Gründen nicht der richtige Zugang sein kann. Sein Haupteinwand einem solchen Versuch gegenüber besteht in dem Hinweis auf den Umstand, dass alle diese Positionen innerhalb der Debatte eigentlich theoretische Ansätze sind, die versuchen, allgemeine Prinzipien zu formulieren, von welchen ausgehend Bedingungen und Kriterien für ein sinnvolles Leben identifiziert werden können. Insbesondere im Hinblick auf das spätere Werk Wittgensteins muss, so Hosseini, eingesehen werden, dass die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens mit dem praktischen

Vgl. Wittgenstein, »I: A Lecture on Ethics«, 7: »Our words used as we use them in science, are vessels capable only of containing and conveying meaning and sense, natural meaning and sense. Ethics, if it is anything, is supernatural and our words will only express facts; as a teacup will only hold a teacup full of water and if I were to pour out a gallon over it.« 51 Wittgenstein, Notebooks, 73. 50

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Vollzug des Lebens zusammenfällt und nicht nur im Rahmen der Theorie erfolgen kann. 52 Ich tendiere derzeit dazu, mich dieser Ansicht von Hosseini anzuschließen. Nichtsdestotrotz denke ich, dass es für die Beantwortung der Frage nach der angemessenen philosophischen Einordnung von Wittgensteins Gedanken zum Sinn des Lebens der weiteren Erschließung seiner Philosophie und eines fortgesetzten Engagements, die Ergebnisse dieser Forschung in die aktuellen Diskussionen zur Thematik einzubringen, bedarf.

DANKSAGUNG: Beim Verfassen dieses Beitrags habe ich von der Teilnahme an der Tagung Philosophy and Meaning of Life, University of Birmingham und Waseda University (21.–23. 07. 2020) zusätzlichen Ansporn für die Fertigstellung erhalten. Auf diesem Weg möchte ich den Veranstaltern Prof. Yujin Nagasawa et al. für die Möglichkeit danken, an der Tagung als Besucherin teilzunehmen. Darüber hinaus bin ich Prof. Alois Pichler (Wittgenstein Archives Bergen) für seine Hilfe bei der Recherche im Wittgenstein-Nachlass zu Dank verpflichtet. Nicht zuletzt gilt mein Dank dem Kollegen Herrn Christian Hauck für ein Gespräch über die Thematik dieses Aufsatzes und Frau Sophia Trippe für das Lektorat.

Vgl. Hosseini, Wittgenstein and Meaning in Life. In Search of the Human Voice, Chapter 2.

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Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit Saulius Geniusas

Abstract: Dieser Artikel entwickelt eine phänomenologische Analyse der Versunkenheit (engl. absorption), die als Vertieftsein des Ichs in seine eigenen Vergegenwärtigungen (d. h. Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien, Träume) verstanden werden soll. Dabei wird Versunkenheit als eine spezifische Form der Selbstverschiebung konzipiert, die als eine Übertragung des Ichs über den Horizont der Gegenwart hinaus zu verstehen ist. In meiner Analyse konzentriere ich mich auf den Zusammenhang zwischen Versunkenheit und Affektion, Selbsttäuschung und Gefesseltsein. Dabei werde ich zeigen, dass das psychische Leben zu sehr vereinfacht wird, wenn man sich auf die gängige Ansicht festlegt, dass das Gegenwartsfeld den erschöpfenden Horizont aller möglichen Erfahrung darstellt. Entgegen diesem Standpunkt wird eine phänomenologische Perspektive entwickelt, die zeigt, dass sich das psychische Leben über ein Spektrum von Erfahrungen entfaltet und das Ich sich an verschiedenen Stellen dieses Spektrums befinden kann. Denn das Ich kann in das Feld des Hier und Jetzt eintauchen, in das Feld des Dort und Dann versinken oder aber seine Erfahrungen liegen im Dazwischen: zwischen dem Hier und Dort und dem Jetzt und Dann. The paper develops a phenomenological analysis of absorption, conceived of as the ego’s immersion in its own presentifications (memories, anticipations, phantasies, dreams). I interpret absorption as a specific type of selfdisplacement, which is to be understood as the ego’s transference beyond the horizon of presence. Conceptualizing the relationship between absorption and affectivity, self-deceit, and captivity, the paper shows that psychic life is oversimplified when one commits to the common view that the field of presence constitutes the exhaustive horizon of all possible experience. Resisting this generally accepted standpoint, the paper develops a phenomenological perspective which shows that psychic life unfolds over a spectrum of experience and the ego can find itself at different locations across this spectrum: it can immerse itself in the here and now, absorb itself in the there and then, or live in between: between here and there, between now and then.

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Jedes Erlebnis entfaltet sich in der Gegenwart: So lautet eine etablierte Ansicht innerhalb der Phänomenologie sowie innerhalb anderer philosophischer Traditionen. Es ist nicht schwierig, die zentralen Gründe hinter dieser scheinbar selbstverständlichen Auffassung zu rekonstruieren. Beachten wir die unterschiedlichen Formen der Anschauung: Wahrnehmung, Erinnerung, Antizipation, Phantasie. Nach dieser üblichen Auffassung bietet uns nur die Wahrnehmung den Zugang zu der gegenwärtigen Welt, während das Bewusstsein Erinnerung mit der Vergangenheit, Antizipation mit der Zukunft, und Phantasie mit Unwirklichkeit (Fiktion) verbindet. Allerdings bedeutet das nicht, dass Erinnerung, Antizipation und Phantasie eine Bewusstseinsflucht vor dem Hier und Jetzt ermöglichen: Denn nur jetzt kann ich meine Erinnerungen, Antizipationen oder Phantasien durchleben. Um Vergegenwärtigungen zu erleben, muss ich besondere intentionale Akte durchführen, was ich nur innerhalb des Gegenwartshorizonts schaffen kann. Betrachten wir auch die verschiedenen Gefühle und Emotionen wie Freude und Schmerz, Glück und Verzweiflung, Vitalität und Erschöpfung etc. Wie bei allen Anschauungsformen, so kann ich auch bei allen Gefühlen und Emotionen diese nur hier und jetzt erleben. Zwar kann ich mich an bestimmte Gefühle und Emotionen erinnern, sie antizipieren oder sie phantasieren, aber in diesem Fall würde ich mich jetzt an sie erinnern, sie jetzt antizipieren, sie jetzt phantasieren. Lassen Sie uns auch die verschiedenen Formen des Denkens betrachten. Natürlich sind meine gegenwärtigen Gedanken nicht die einzigen cogitationes, die ich gehabt habe oder haben werde. Aber die vergangenen, zukünftigen oder phantasierten Gedanken können nur im Hier und Jetzt gegeben sein. Nach Überlegungen dieser Art werden wir immer wieder zur gleichen Erkenntnis geführt: Alle Erfahrung kann sich nur im Hier und Jetzt entfalten. Jeder Versuch, eine Ausnahme dieser Regel zu finden, führt zum Scheitern. Die gegenwärtig gegebene Erfahrung bildet die Erfahrungsgrundlage von allem, was erfahren werden kann. Um diese gängige Auffassung zusammenzufassen: Das Hier und Jetzt bildet den erschöpfenden Horizont aller möglichen Erfahrung. Trotz der scheinbaren Selbstverständlichkeit dieser These gibt es gute Gründe, sie kritisch zu hinterfragen und sich von ihr zu distanzieren. Denn das psychische Leben wird zu stark vereinfacht und seine Mehrdimensionalität übersehen, wenn man diesen Standpunkt einnimmt. Mein Ziel ist es daher, im Folgenden zu zeigen, dass die Topographie des Erlebens zu reichhaltig ist, um es auf eine Dimen368 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

sion, nämlich das Hier und Jetzt, zu reduzieren. Das psychische Leben entfaltet sich vielmehr über ein Erfahrungsspektrum und das Ich, das als Subjekt der Erfahrung aufgefasst wird, kann sich an verschiedenen Stellen dieses Spektrums wiederfinden. So finden wir an dem einen Ende dieses Spektrums ein vollständiges Eintauchen in das Hier und Jetzt. An dem anderen Ende hingegen finden wir die vollständige Versunkenheit im Dort und Dann. In der Mitte zwischen diesen beiden Extrempunkten finden wir den Bereich des Dazwischen: zwischen hier und dort, zwischen jetzt und dann. Ich spreche hier nicht von drei voneinander getrennten Arten von Erlebnissen. Ein volles Eintauchen und eine völlige Versunkenheit befinden sich auf der Grenze von dem, was erlebbar ist, da die meisten unserer Erfahrungen sich irgendwo zwischen diesen Extremen entfalten. Das Leben wäre nicht vollständig menschlich, wenn es auf eine einzige dieser Dimensionen beschränkt wäre. Denn ein Leben, das nur im Hier und Jetzt eingeschlossen ist, ist ein Leben, das künstlich von der Vergangenheit, der Zukunft und dem fiktiven Bereich abgetrennt ist. Zu sagen, dass ein solches Leben mit dem Bereich des Nicht-menschlichen zusammenfällt, wäre ein Fehler, denn wie wir wissen, spielen Erinnerung, Antizipation und Phantasie auch im Leben verschiedener Tiere eine wichtige Rolle. Ein völlig im Dort und Dann versunkenes Leben ist hingegen pathologisch: Es hat seine Gegenwart verloren und ist in das Abwesende vertieft. Ein Leben, das sich nicht gleichzeitig im Hier und Dort und im Jetzt und Dann entfaltet, hat weder die Schönheit der Versunkenheit kennengelernt, noch hat es gelernt, was es bedeutet, ›loszulassen‹ und sich an der Gegenwart mit all ihren befreienden Kräften zu erfreuen. Das menschliche Leben ist ein Leben, welches sich darauf versteht, sich innerhalb des Spektrums von einer zeitlichen Lage zu einer anderen zu bewegen, vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann und wieder zurück. In der phänomenologischen Literatur finden wir eine umfangreiche Liste von Studien über das Hier und Jetzt sowie über das Dazwischen; das Gleiche gilt für andere philosophische Traditionen. Doch über das Dort und Dann, also über die Versunkenheit, ist bisher nicht viel geschrieben worden. Meine folgenden Überlegungen werden sich mit dieser weitgehend unberücksichtigten Dimension von Erlebnissen konzentrieren 1. Versunkenheit ist ein wenig untersuchtes Thema in der Phänomenologie und anderen philosophischen Traditionen. Dennoch muss man anmerken, dass Edmund Hus-

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Versunkenheit: Eine phänomenologische Beschreibung

Wenden wir uns nun einer phänomenologischen Beschreibung des zu untersuchenden Phänomens zu. Häufig muss ich interkontinentale Flugreisen unternehmen. Diese sind sehr lang und man muss irgendwie darauf vorbereitet sein, sowohl körperlich als auch geistig. Eine der Möglichkeiten, sich darauf vorzubereiten, ist das ›Loslassen‹ – nicht von der Vergangenheit oder der Zukunft, sondern im Gegenteil, von der Gegenwart. Man erlaubt den Gedanken, die Oberhand zu gewinnen. Zu Beginn der Reise, wenn alle Passagiere bereits ihre Sitzplätze eingenommen haben, das Flugzeug aber noch nicht abgehoben hat, bin ich in der Regel mit meinen Gedanken in den letzten Erlebnissen versunken. Ich durchlebe nochmals meine jüngste Vergangenheit, sei es ein Spaziergang mit meiner Tochter, ein Bad im Meer, ein Abendessen im Restaurant, ein Drink beim Warten auf das Taxi; anschließend kommt die schnelle Fahrt im Taxi, die mir Übelkeit bereitete, das Gespräch mit dem Fahrer, die chinesische Oper, die im Radio lief, und das seltsame Gefühl, das man mit den Worten »Was nun?« ausdrücken könnte, welches mich überkam, als ich durch die Passkontrolle ging und merkte, dass ich noch Zeit bis zum Boarding hatte. Während ich im Flugzeug sitze, durchlebe ich diese Erfahrungen noch einmal – nicht alle, sondern nur die Wichtigsten. Unter diesen Umständen vergesse ich, wo ich bin: Ich versinke voll und ganz in meinen vergangenen Erfahrungen. Meine Lippen bewegen sich, wenn ich dieselben Sätze nachspreche, die ich erst vor Kurzem geäußert habe; und mein ›inneres Ohr‹ hört die Worte, die Andere soeben zu mir gesagt haben, noch einmal. Ich bin mir der Gegenwart nicht mehr bewusst; ich vergesse, dass ich im Flugzeug serl (besonders in Edmund Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie: Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik [Texte aus dem Nachlass 1908–1937], in: Husserliana (im Folgenden Hua), Bd. 42, hrsg. von Rochus Sowa und Thomas Vongehr, Dordrecht, Springer, 2014, Text Nr. 2) und Eugen Fink (Eugen Fink, Vergegenwärtigung und Bild, in: Edmund Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1966) faszinierende Analysen dieses Phänomens durchgeführt haben. Diese klassischen Studien von Versunkenheit sowie Theodor Conrads (Theodor Conrad, Zur Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1968) genauso faszinierende Untersuchungen von »Erlebnissen im Versetztseinszustand« bilden meinen Ausgangspunkt in diesem Beitrag. Allerdings verfolge ich hier nicht das Ziel, eine historisch orientierte Analyse anzubieten, sondern ich versuche demgegenüber eine Untersuchung in einer rein deskriptiven Weise durchzuführen.

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Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

sitze und dass ein langer Flug vor mir liegt. Aber früher oder später erwache ich wieder, entweder weil ich die Worte der Flugbegleiterin »Was möchten Sie trinken?« höre, oder noch früher, weil das Flugzeug abhebt, oder weil der Kapitän zu sprechen beginnt, oder einfach, weil es mich langweilt, die vergangene Erfahrung wieder zu erleben. Diese Art von Erlebnissen als Wiedererleben der Vergangenheit bezeichnen wir im Folgenden, und zusammen mit Theodor Conrad, als Nacherleben. 2 Solche Erlebnisse lassen sich dabei aber gerade nicht als die gegenwärtige Erfahrung von vergangenen Gehalten begreifen. Vielmehr werde ich wieder zu dem vergangenen Ich, das diese Erfahrungen bereits in der Vergangenheit durchlebt hat. Was ich jetzt durchlebe, ist mir aus der Perspektive des vergangenen Ichs gegeben. Je näher das Flugzeug der Landung kommt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch einmal in meine innere Welt versinke: und zwar in Erlebnisse, die sich über die Gegenwart hinaus erstrecken. Ich versinke also diesmal nicht in die Ereignisse der Vergangenheit, sondern in die der Zukunft. Ich erlebe die Ereignisse, die sich nach meiner Landung entfalten werden, vorweg: das Treffen mit meinen Freunden, die Freude über das Wiedersehen, die angenehmen und entspannenden Gespräche, usw. Es ist wichtig zu betonen, dass die Erfahrung, von der ich hier spreche, keine mir selbst bewusste Antizipation ist, (weshalb ich früher im Text auch nicht von einer mir bewussten Erinnerung gesprochen habe). Wenn ich diese Erfahrungen durchlebe, verliere ich das Bewusstsein des Hier und Jetzt, und in diesem Sinne vergesse ich mich selbst: Ich bin ganz dort, in der Gesellschaft meiner Freunde, vertieft in ein fröhliches Gespräch, lache über die Witze, die andere mir erzählen, usw. Wir können solche Erlebnisse unter dem Begriff Vorerleben festhalten. Lassen Sie uns das Flugzeug noch nicht so schnell verlassen, die Reise ist schließlich lang. Denken wir an den Moment, als mich die Flugbegleiterin fragte, was ich gerne trinken möchte und mich damit aus meiner Versunkenheit weckte. Ich bestelle das Getränk meiner Wahl, schaue mir die Filmkanäle an, nur um festzustellen, dass mich nichts interessiert, lese das Buch, das immer noch auf meinem Schoß liegt, und langsam gleite ich in die Welt der Phantasie über. Ich stelle mir vor, dass ich nach Afrika reise, wo ich schon immer einmal hinDen Begriff Nacherleben, sowie Vorerleben, finden wir in Theodor Conrads Zur Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, wo die beiden als besondere Typen von Erinnerungen und Erwartungen konzipiert wurden.

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reisen wollte; ich stelle mir vor, dass ich im Serengeti-Nationalpark bin, umgeben von exotischsten Tieren: Zebras und Krokodilen, Leoparden und Geparden, Elefanten und Impalas, usw. Ich bin völlig in meiner Phantasie versunken, was bedeutet, dass ich sie nicht als Phantasie erlebe. Ich bin ganz dort: Die gegenwärtige Welt wurde ›zerstört‹, d. h. das Bewusstsein hat sich ihr entzogen. Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder aufwache und feststelle, dass ich mich noch im Flugzeug befinde. Sobald ich mir meiner Umgebung wieder bewusst werde, verschwindet die exotische Reise nach Tansania aus meinem Bewusstsein. Diese Art der Phantasie stellt daher eine weitere Form der Versunkenheit dar. Da meine Reise lang ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich einschlafe. Sobald ich in die Traumwelt eintrete, bin ich in einer anderen Form des Dort und Dann versunken, die mich noch stärker als die zuvor genannten Formen der Versunkenheit – Nacherleben, Vorerleben und Phantasie – von meinem Bewusstsein darüber, im Flugzeug zu sein, befreit. Um jede mögliche Verwirrung zu vermeiden, sollte ich hinzufügen, dass ich hier nur von nicht-luziden Träumen spreche, d. h. von solchen Träumen, die der Träumende nicht als Träume erkennt. Es scheint, dass wir es hier mit einem Fall von vollständiger Versunkenheit zu tun haben, die das Bewusstsein von jeglicher Art von Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Welt befreit. Genauer gesagt, alles und jedes, was noch das Bewusstsein berührt, wird zum Traumgehalt transformiert. Wie ist es mit dem traumlosen Schlaf? Sollten wir ihn als eine andere Form der Versunkenheit bezeichnen? Hier stoßen wir auf einen Erlebnistypus, der sich deutlich von den anderen oben dargestellten Typen unterscheidet. Im traumlosen Schlaf bin ich nicht mehr in einer anderen Welt versunken, sei es die vergangene, künftige oder die Phantasiewelt, sondern ich bin im Nichts versunken, das alles wegwischt, was zur Gegenwart gehört. Auf diese Frage werden wir an späterer Stelle noch zurückkommen. Es gibt noch andere Formen der Versunkenheit, die ich hin und wieder während meiner Reise erlebe. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich einen Film nach meinem Geschmack finde, kann er mich in seinen Bann ziehen und ich kann mich in ihm verlieren. So kann ich auch beim Lesen eines Romans in der Geschichte versinken, alles vergessen und was in meiner Umgebung geschieht ausblenden. Obwohl ich dieses Thema in diesem Zusammenhang nicht weiter behandeln werde, möchte ich am Rande erwähnen, dass die Versunken372 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

heit wohl eine notwendige Dimension der ästhetischen Erfahrung im Allgemeinen darstellt. Was ist aber mit dem Denken, sagen wir, dem Nachdenken über ein spezifisches philosophisches Thema, wie etwa Platons dreigliedrige Konzeption der Seele? Stellt dies auch eine Form der Versunkenheit dar? Sicher scheint es so zu sein: Während ich in meine Gedanken vertieft bin, kann ich das Bewusstsein über die Dinge, die um mich herum geschehen, verlieren. Die Welt ›versinkt‹ und ich bin mir ihrer unbewusst geworden. Nicht zuletzt können wir auch im Anderen versinken. Wenn die Liebe zum Anderen sich in der Form von Hingabe und Fürsorge äußert, führt sie zu Selbstvergessenheit und Versunkenheit in den Anderen. Man kann sich sehr wohl fragen, ob diese Form der Hingabe nicht in Wahrheit eine Hingabe an ein bestimmtes, von sich selbst projiziertes Bild des Anderen ist, das das Ich nicht von seiner Innerlichkeit befreit, sondern ganz im Gegenteil seine versteckten Wünsche und Sehnsüchte zum Ausdruck bringt. Im vorliegenden Zusammenhang müssen wir die Frage nach der Andersartigkeit des Anderen, den wir lieben, offen lassen. Alle genannten Versunkenheitsformen erlauben dem Subjekt der Erfahrung das, was Conrad »Erlebnisse im Versetztseinszustand« 3 genannt hat, durchzuführen. In allen Fällen geht es bei der Versunkenheit darum, die Gegenwart aufzugeben: Es geht um eine Selbstversetzung. In manchen Fällen wird man in die Vergangenheit versetzt, in anderen Fällen – in die Zukunft, wieder in anderen Fällen – in den fiktiven Bereich. Dazu können wir noch hinzufügen, dass die für die Versunkenheit charakteristische Selbstverschiebung nicht immer im höchsten Grad vollzogen sein muss. Denn während wir in manchen Fällen ein schwaches Bewusstsein für das Hier und Jetzt behalten, scheint dieses Bewusstsein in anderen Fällen völlig zu fehlen. Erfahrung, so habe ich bereits angedeutet, entfaltet sich in einem Spektrum zwischen zwei Extremen: der vollständigen Versunkenheit im Dort und Dann und dem vollständigen Eintauchen in das Hier und Jetzt. Ich habe weiter angedeutet, dass sich die Erfahrung zum größten Teil irgendwo zwischen diesen beiden Extremen entfaltet. Die verschiedenen Formen der Versunkenheit, die ich gerade beschrieben habe, veranschaulichen diesen Punkt: Versunkenheit lässt Abstufungen zu, was wir so verstehen können, dass das Ich, welches diese Er-

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Conrad, Zur Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, xiii.

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fahrungen durchlebt, sich irgendwo zwischen diesen skizzierten Extrempunkten befindet. Wenn man in seinen Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien oder Gedanken versunken ist, vergisst man die gegenwärtige Welt, diese Vergessenheit muss jedoch nicht ganz vollzogen sein. Man kann einen schwachen Sinn für die gegenwärtige Welt beibehalten, doch insofern man im Dort und Dann versunken ist, hat man die gegenwärtige Welt bereits verlassen, diese Welt erscheint nun aus einem distanzierten Zustand.

2.

Versunkenheit als Selbstverschiebung

Aufbauend auf einer solchen phänomenologischen Beschreibung des Versunkenheitsphänomens können wir Folgendes sagen: Versunken zu sein bedeutet, Abstand von der gegenwärtigen Welt zu nehmen. Hier ist in der Tat die Unterscheidung zwischen Gegenwart und Nicht-Gegenwart entscheidend. Versunken zu sein bedeutet immer, in der Nicht-Gegenwart, oder besser gesagt, im Dort und Dann versunken zu sein, und dieses Dort und Dann kann wiederum eine Vielzahl von Formen annehmen. Ich kann in meiner Vergangenheit, meiner Zukunft oder der imaginären Sphäre versinken; ebenso kann ich in meinen Gedanken versinken; letztendlich kann ich sogar im Nichts versinken (traumloser Schlaf). Um es noch einmal zu wiederholen: Versunkenheit lässt verschiedene Abstufungen zu. Doch im Moment wollen wir uns auf die reine Versunkenheit konzentrieren, d. h. auf jene Art von Versunkenheit, die nicht mit irgendwelchen verbleibenden Elementen des wachen Bewusstseins vermischt ist. Zugegeben, vieles von dem, was wir über die reine Versunkenheit sagen werden, wird später einige Modifikationen erfordern. Aus methodologischer Sicht ist es aber passend, die Analyse mit Überlegungen zur reinen Versunkenheit zu beginnen, bevor man sich mit ihren gemischten und freilich häufigeren Formen beschäftigt. Es soll jetzt auf eine Mehrdeutigkeit hingewiesen werden, die in der phänomenologischen Literatur zur Versunkenheit weitgehend ungelöst bleibt. Versunkenheit wird manchmal negativ, manchmal positiv definiert. Negativ wird die Versunkenheit in Opposition zur Wachheit konzipiert, sie wird dann als Abschwächung des Bewusstseins der aktuellen Welt begriffen. In dieser Hinsicht wird jeder Verlust oder sogar jede Verarmung des Bewusstseins der gegenwärtigen 374 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

Welt als eine Form der Versunkenheit aufgefasst. Positiv wird Versunkenheit als das Vertieftsein in eine andere Welt verstanden, sei es die Welt der Erinnerung, der Antizipation, der Phantasie oder die Welt des Denkens; anders ausgedrückt: Versunken zu sein bedeutet, in die innere Welt vertieft zu sein. Dass diese beiden Auffassungen nicht identisch sind, wird deutlich, wenn wir zu der Frage zurückkehren, die wir bisher unbeantwortet gelassen haben. Sollen wir den traumlosen Schlaf als eine Art von Versunkenheit auffassen? Wenn wir uns auf die negative Konzeption der Versunkenheit stützen, ist die Konsequenz, dass wir den traumlosen Schlaf in die Familie der Erlebnisse von Versunkenheit aufnehmen. Versteht man Versunkenheit hingegen im positiven Sinne, dann wird der traumlose Schlaf von der Klasse der versunkenen Erlebnisse ausgeschlossen. In meinen folgenden Ausführungen werde ich die Versunkenheit im positiven Sinne auslegen und den traumlosen Schlaf außer Acht lassen. Versunken zu sein bedeutet, zumindest bis zu einem gewissen Grad unempfänglich für die Affektionen zu sein, die uns aus der umgebenden Welt erreichen. Es geht darum, Distanz von dem Gegenwartsfeld zu nehmen. Man verlässt die Welt, die man mit anderen teilt, man ist bezaubert von der Abwesenheit, gefesselt von Erinnerungen und Antizipationen oder Phantasien und Gedanken, die uns aus der inneren Welt erreichen. Versunken zu sein, bedeutet, in die eigene innere Welt vertieft zu sein. In diese treten wir ein, indem wir die Welt, die wir mit anderen teilen, d. h. unsere eigentliche Welt, vergessen. Nur wenn wir uns vom Hier und Jetzt distanzieren, können wir die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit bereits durchlebt haben oder in der Zukunft vermeintlich durchleben werden, nacherleben oder vorerleben. In dem Maße, in dem ich in der Welt voll präsent bin, bin ich nicht in der inneren Welt versunken und umgekehrt. In dieser Hinsicht können wir von einem Bruch sprechen, der die tatsächliche Welt von der inneren Welt trennt. Der besagte Bruch ist die Distanz, die das Hier und Jetzt vom Dort und Dann trennt. Insofern ich aber ganz in meinen eigenen Erfahrungen versinke, erlebe ich keine Distanz zu ihnen, sonst wäre ich ja nicht in ihnen versunken. Man sieht also, dass die Struktur der Versunkenheit höchst paradox ist: In der eigenen inneren Welt versunken zu sein, bedeutet, Erfahrungen aus einer Distanz zum Hier und Jetzt zu erleben. Im Falle der reinen Versunkenheit erlebt man vergangene Erfahrungen wieder, ohne sich einer Distanz bewusst zu sein. Bei den gemischten Formen der Versunken375 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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heit bleibt das Bewusstsein einer solchen Distanz bestehen, wenn auch in einer stark verringerten Form. Aufgrund der vorstehenden Analyse ist es gerechtfertigt zu sagen, dass eine völlige Versunkenheit eine Art der Erfahrung im Versetztseinszustand ist, die durch die Abwesenheit irgendeines Bewusstseins über Selbstverschiebung oder Selbstdistanzierung gekennzeichnet ist. Demgegenüber ist eine gemischte Versunkenheit eine Art Erfahrung im Versetztseinszustand, welche noch mit einem beschränkten Bewusstsein von Selbstverschiebung verbunden ist. Durch die Versunkenheit wird man aus dem Hier und Jetzt verdrängt. Doch man ist sich dieser Selbstverschiebung nicht immer bewusst. Man könnte Versunkenheit als eine Art der Selbstverschiebung begreifen, welche als eine Nicht-Verschiebung verkleidet ist. Mit Hilfe von Conrads Beschreibung von Traumerlebnissen könnte man weiterhin sagen, dass alle Erlebnisse der Versunkenheit als »Nicht-Versetztseinserlebnisse getarnte Versetztseins-Erlebnisse« 4 sind. Wenn ich vollständig in meinen Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien oder Gedanken versunken bin, lebe ich dort und dann, als ob sie hier und jetzt wären.

3.

Versunkenheit und Selbsttäuschung

Versunkenheit ist ein Versetztseinserlebnis maskiert als Nicht-Versetztseinserlebnis. Wie soll man eine solche Erlebnisform genauer verstehen? Bedeutet das, dass ich, wenn ich versunken bin, meine Vergegenwärtigungen (Erinnerungen, Antizipationen und Phantasien) so auffasse, als wären sie Wahrnehmungen? Ist die Versunkenheit eine Art der Verwirrung und der Selbsttäuschung? Ein solches Szenario wäre nur im Falle der reinen Versunkenheit denkbar. Man muss deshalb erneut betonen, dass die reine Versunkenheit ein Grenzphänomen ist. Versunkenheit lässt verschiedene Stufen bzw. verschiedene Grade zu. In die eigene innere Welt versunken zu sein, heißt zumeist, mehr oder weniger in die eigenen Erfahrungen versunken zu sein. Wir können das so verstehen, dass der Übergang vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann kaum jemals rein vollzogen wird; nach allem, was wir wissen, könnte es sich bei einer solchen vollstufigen Versunkenheitsform sogar um ein Ideal handeln, von 4

Conrad, Zur Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, 71.

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Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

dem wir weit entfernt sind. In den meisten Fällen finden wir uns irgendwo zwischen den Extremen der völligen Versunkenheit im Dort und Dann und dem völligen Eintauchen ins Hier und Jetzt. Wenn wir in unseren Erfahrungen versunken sind, behalten wir meist ein schwaches Gefühl des Bewusstseins darüber, dass wir noch in der gegenwärtigen Welt leben, ganz gleich wie schwach dieses Bewusstsein auch sein mag. Sollte ich während meines Tagtraums eine Tasse Kaffee in der Hand halten, werde ich sie nicht einfach fallen lassen; sollte ich während meines Spaziergangs in meinen Erinnerungen versinken, werde ich ein hinreichendes Bewusstsein für meine Umgebung behalten und niemanden anrempeln. Ist Versunkenheit also eine Form der Selbsttäuschung? Es scheint nicht so zu sein. Mit Blick auf die vorangegangenen Bemerkungen könnte man Versunkenheit als eine distanzierte Erfahrung bezeichnen, bei der das Bewusstsein dieser Distanz zwar stark geschwächt, aber nicht ausgelöscht ist. Während das Ich ein schwaches Bewusstsein vom Hier und Jetzt aufrechterhält, behält es auch das Bewusstsein davon, dass die präsentierte Welt nicht die gegenwärtige, sondern die vergangene, zukünftige oder fiktive Welt ist. Was ich soeben als distanzierte Erfahrung bezeichnet habe, unterscheidet sich von der sogenannten gegenwärtigen Erfahrung nicht nur dahingehend, dass nur letztere sich im Horizont des Hier und Jetzt entfaltet, während erstere darüber hinausreicht, entweder in die Vergangenheit, die Zukunft oder in den fiktiven Bereich. Gerade weil sie jenseits der Gegenwart liegt, bringt die distanzierte Erfahrung eine Dimension der Spontaneität mit sich, die bei der gegenwärtigen Erfahrung fehlt. Gegenwärtige Erfahrung ist weitgehend passiv und rezeptiv: Nur innerhalb stark eingeschränkter Grenzen kann ich wählen, was ich erleben möchte. Wenn man z. B. diesen Essay nicht mehr lesen möchte, kann man die eigene Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten: man kann anfangen, ein anderes Buch zu lesen, Musik zu hören, oder man steht auf und verlässt den Raum. Man kann jedoch die eigentliche Erfahrung nicht vor- oder zurückspulen. Jede Erfahrung ist singulär und raumzeitlich individualisiert. Im Gegensatz dazu kann man bei der distanzierten Erfahrung von einem zeitlichen Rahmen zu einem anderen springen; man kann die Reihenfolge der zeitlichen Abfolge umkehren; man kann dieselben Erfahrungen mehr als einmal wieder erleben; man kann vergangene Erfahrungen modifizieren, indem man Elemente der Phantasie untermischt. In diesem Sinne bringt die distanzierte Erfahrung eine Di377 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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mension der Spontaneität mit sich und fällt damit in den Bereich der Wahlfreiheit, die im Fall der gegenwärtigen Erfahrung völlig fehl am Platz ist. Selbst wenn das Subjekt der Erfahrung sich mit dem vergangenen, zukünftigen oder imaginären Ich identifiziert (mehr dazu später), behält es die merkwürdige Fähigkeit, sich von seiner eigenen Identität zu befreien und ein anderes Ich zu werden, als es ist. Während wir in der gegenwärtigen Welt von unseren raumzeitlichen Horizonten gefangen genommen werden, sind wir in der inneren Welt in Bezug auf die vergegenwärtigten Horizonte recht frei, selbst wenn wir in ihnen aufgehen: Wir behalten die Freiheit, uns in eine noch weiter entfernte Vergangenheit oder eine noch weiter entfernte Zukunft zu versetzen oder weiter in den fiktiven Bereich überzugehen.

4.

Versunkenheit und Vergegenwärtigungen

Was genau bedeutet es, Versunkenheit als distanzierte Erfahrung zu bestimmen? Sollten wir Erinnerung, Antizipation und Phantasie als Arten der distanzierten Erfahrung betrachten? Mit dieser Frage kehren wir zu den einleitenden Überlegungen zurück. Ich bin von der in der Phänomenologie und anderen philosophischen Traditionen etablierten Auffassung ausgegangen, die besagt, dass das Hier und Jetzt den erschöpfenden Horizont aller möglichen Erfahrung darstellt. Es muss jedoch betont werden, dass die Begriffe des Hier und Jetzt mehrdeutig sind. Einerseits ist nach dieser Ansicht alles, was mir gegeben ist, aufgrund von intentionalen Handlungen gegeben; und diese Handlungen können nur hier und jetzt durchgeführt werden. Andererseits kann ich aufgrund einiger dieser Handlungen, nämlich der Gegenwärtigungen, Phänomene als hier und jetzt existierend intendieren. Im Gegensatz dazu kann ich aufgrund anderer Arten von Handlungen auch Phänomene jenseits vom Hier und Jetzt intendieren – entweder als in der Vergangenheit liegend oder in der Zukunft oder im fiktionalen Bereich. Dies würde darauf hindeuten, dass das Ich in einem Sinne das Gegenwartsfeld verlassen kann, in einem anderen Sinne jedoch nicht. Es kann das Gegenwartsfeld insofern verlassen, als es Phänomene jenseits des Hier und Jetzt konstituiert. Thematisch kann das Ich seine Aufmerksamkeit auf Objekte richten, die jenseits der Gegenwart liegen, und es kann dies anhand der Erinnerung, Antizipation und Phantasie tun. Es kann jedoch 378 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

das Gegenwartsfeld nie verlassen, insofern alle Erfahrungen, die es macht, Erfahrungen sind, die im Hier und Jetzt gemacht werden. Selbst jene Erfahrungen, die uns über die Gegenwart hinausführen, sind im Hier und Jetzt gelebte Erfahrungen. Diese gemeinsame Auffassung von Erinnerung, Antizipation und Phantasie legt nahe, dass es sich dabei keineswegs um Formen der distanzierten Erfahrung handelt. Das Ich, das Akte der Vergegenwärtigung intendiert, erlebt nichts aus einer Distanz, einfach weil es weiterhin im Hier und Jetzt gestrandet ist, und deshalb hat es die Vergangenheit, die Zukunft und das fiktive Feld aus der Perspektive der Gegenwart vor Augen. Doch ist dieses Argument stark genug, um uns davon zu überzeugen, dass das Ich immer und notwendigerweise in der Gegenwart gestrandet ist, ohne jede Möglichkeit, diesen Griff zu lockern und aus dieser Kontrolle auszubrechen? Um diese Frage zu beantworten, ist es von entscheidender Bedeutung, zu erkennen, dass es verschiedene Arten von Erinnerung, Antizipation und Phantasie gibt. Die Unterscheidung, die ich nun einführen möchte, wird in den Analysen von verschiedenen Formen der Vergegenwärtigungen üblicherweise vernachlässigt. Was ich soeben skizziert habe, könnte man als charakteristische Merkmale selbstbewusster Vergegenwärtigungen bezeichnen: Das Ich befindet sich in der gegenwärtigen Welt, ist sich seines In-der-Welt-Seins bewusst und intendiert zugleich jene Inhalte, die außerhalb des Rahmens der gegenwärtigen Welt liegen. Man könnte sagen, dass das Ich, das selbstbewusste Vergegenwärtigungen intendiert, sich im Dazwischen befindet, d. h. zwischen der Gegenwart einerseits und der Vergangenheit, der Zukunft und der fiktiven Sphäre andererseits. Im Gegensatz dazu sind die Erfahrungen der Versunkenheit, die ich zuvor angesprochen habe, keine Fälle des Dazwischen-Seins, sondern des Dort-und-dann-Seins. Das versunkene Ich intendiert nicht nur besondere Phänomene jenseits des Gegenwartsfelds, sondern durchlebt diese Erfahrungen aus einer Distanz zur Gegenwart: Im Falle von versunkenen Erinnerungen durchlebt es erneut seine vergangenen Erfahrungen; im Falle von versunkenen Antizipationen erlebt es die zukünftigen Erfahrungen im Voraus; im Falle von versunkenen Phantasien erlebt es die Phantasieerfahrungen. In all diesen Fällen geht es nicht darum, einen bestimmten Bewusstseinsinhalt auf der Basis von vergegenwärtigenden Akten zu intendieren, sondern darum, eine Erfahrung zu machen, die sich jenseits des Hier und Jetzt entfaltet. Dieses Erlebnis kann nicht in das 379 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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Gegenwartsfeld gestellt werden, da den versunkenen Vergegenwärtigungen das Selbstbewusstsein fehlt: In den eigenen Vergegenwärtigungen versunken zu sein, bedeutet, sich in einer Distanz zur gegenwärtigen Welt zu befinden und seine Erfahrungen in einer solchen Distanz zu durchleben. Wir können diese Distanz nun als ein Erfahrungsmerkmal verstehen, das durch die Selbstvergessenheit ermöglicht wird: Das Ich vergisst das Hier und Jetzt, es hebt das Hier und Jetzt auf und erlangt dadurch die Freiheit, seine eigenen Vergegenwärtigungen in einer Distanz zur Gegenwart zu durchleben. All dies bedeutet, dass wir neben den Vergegenwärtigungen, in denen man sich seiner selbst bewusst ist, noch von einer anderen Klasse, den ›nicht-selbstbewussten‹ Vergegenwärtigungen, sprechen können. Man könnte diesen Unterschied auch als eine Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Vergegenwärtigungen beschreiben. Diese Unterscheidung betrifft jedoch nicht den Erfahrungsinhalt. Wir können denselben Inhalt sowohl in einer versunkenen als auch in einer nicht-versunkenen Weise durchleben. Eher geht es hier um einen Erlebnismodus, d. h. es geht darum, ob das Ich den Inhalt seiner Vergegenwärtigungen in einer ›selbstbewussten‹ oder ›nicht-selbstbewussten‹ Weise erlebt. Letztlich hängt die Unterscheidung davon ab, ob das Ich den Inhalt von Vergegenwärtigungen auf selbstbewusste Weise durchlebt oder nicht. ›Selbstbewusste‹ Vergegenwärtigungen sind diejenigen Vergegenwärtigungen, die das Ich als Vergegenwärtigungen anerkennt. Der Grund dafür liegt darin, dass das Ich sich darüber bewusst ist, dass es weiterhin im Hier und Jetzt ist, auch wenn es Inhalte jenseits dieses Feldes intendiert. Im Gegensatz dazu sind unbewusste Vergegenwärtigungen solche Vergegenwärtigungen, die das Ich nicht als Vergegenwärtigungen erkennt. Der Grund dafür liegt darin, dass das Ich sich nicht darüber bewusst ist, dass es weiterhin im Hier und Jetzt ist, während es seine vergangenen, zukünftigen oder imaginären Erfahrungen durchlebt. Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass Versunkenheit verschiedene Grade zulässt und dass reine Versunkenheit ein Grenzphänomen darstellt. Das bedeutet, dass der Mangel an Selbstbewusstsein, der für versunkene Erfahrungen charakteristisch ist, ein Mangel ist, der ebenfalls verschiedene Stufen zulässt. Was die häufigeren Formen der Versunkenheit betrifft, so wird ihre Erfahrung nicht durch völlige Selbstvergessenheit ermöglicht, sondern durch das stark abgeschwächte Selbstbewusstsein, das die Erfahrungen an die gegenwärtige Welt bindet. 380 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

5.

Versunkenheit und Ichspaltung

Alle Vergegenwärtigungen, sowohl bewusste als auch unbewusste, haben ein gemeinsames strukturelles Merkmal. Sie sind alle möglich, wenn, und nur wenn das Ich, als Subjekt der Erfahrung gedacht, zur Selbstduplizierung fähig ist. In der phänomenologischen Literatur wird dieses Strukturmerkmal als Ichspaltung bezeichnet 5. Meines Wissens ist diese strukturelle Eigenschaft jedoch nie als ein notwendiges Moment aller Vergegenwärtigungen konzeptualisiert worden. Wenn wir uns an etwas erinnern, erinnern wir uns gleichzeitig auch daran, dass wir die Erfahrung gemacht haben, an die wir uns jetzt erinnern. Um auf mein früheres Beispiel zurückzukommen: Wenn ich mich daran erinnere, dass auf dem Weg zum Flughafen im Taxi eine chinesische Oper gespielt wurde, erinnere ich mich daran, dass ich sie gehört habe. Ich, genau dieses Subjekt, das jetzt im Flugzeug sitzt, ist dasselbe Ich, das vorher im Taxi saß. Modifizieren Sie dieses Beispiel einer Erinnerung mit jedem anderen, das Ihnen in den Sinn kommt, und Sie werden zu dem Schluss kommen, dass sich bei jeder Art von Erinnerung das Subjekt der Erfahrung notwendigerweise in zwei Teile spaltet: in das erinnernde und das erinnerte Ich. Natürlich muss mein vergangenes Ich nicht notwendigerweise in der Erinnerung thematisch erscheinen. Ich kann mich an den Sonnenaufgang über dem südchinesischen Meer, welcher die Berge in der Ferne beleuchtet hat, erinnern, ohne mich thematisch daran zu erinnern,

Siehe insbesondere Husserls klassische Analyse dieses Phänomens in Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: Hua, Bd. 6, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1954. Jan Broeckman hat dieses Phänomen im Rahmen der Phänomenologie Husserls eingehend erläutert (Jan Broekman, Phänomenologie und Egologie: faktisches und transzendentales Ego bei Edmund Husserl, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1963). Für neuere Untersuchungen der Ichspaltung in Husserls Phänomenologie und innerhalb anderer theoretischer Rahmen siehe insbesondere Sebastian Luft, »Die Konkretion des Ich und das Problem der Ichspaltung in Husserls phänomenologischer Reduktion«, in: Rolf Kühn/Michael Staudigl (Hrsg.), Epoche und Reduktion: Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, 31–49, Michele Averchi, »The Disinterested Spectator: Geiger’s and Husserl’s Place in the Debate on the Splitting of the Ego«, in: Studia Phaenomenologica, 15, 2015, 227–246, und Marco Cavallaro, »The Phenomenon of Ego-Splitting in Husserl’s Phenomenology of Pure Phantasy«, in: Journal of the British Society for Phenomenology, 48(2), 2016, 162–177.

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dass ich mich an dem Panoramablick erfreute. Die Vergegenwärtigung der Berge und des Meeres ist alles, was in meiner Erinnerung gegeben ist, und ich selbst bin nicht Thema dieser Erinnerung. Und dennoch, insofern diese Erfahrung eine Erinnerung ist, beinhaltet sie die Verdoppelung meines eigenen Ichs: Ich, eben dieses Ich, das jetzt diese Erinnerung durchlebt, bin derjenige, der zuvor den fraglichen Sonnenaufgang gesehen hat. Diese subjektive Dimension, die zuvor als Aufspaltung des Ichs identifiziert wurde, kann nicht aus der Erinnerung wegreduziert werden. Mutatis mutandis können wir das Gleiche über andere Formen der Vergegenwärtigung sagen, nämlich über die Antizipationen und die Phantasie. Wenn ich, noch im Flugzeug, ein angenehmes Gespräch mit meinen Freunden voraussehe, so sehe ich mich selbst als einen Gesprächsteilnehmer. Ich, der jetzt im Flugzeug sitze, bin es, der vermutlich nach der Landung ein Gespräch mit seinen Freunden führen wird. Das gilt für alle intuitiven Antizipationen: Sie alle setzen eine Spaltung zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Ich voraus. Das Gleiche gilt für die Phantasie: Wenn ich mir den Serengeti-Nationalpark mit all seinen Zebras und Krokodilen, Leoparden und Geparden, Elefanten und Impalas vorstelle, versetze ich mich in diese Vorstellungswelt, zumindest als Betrachter derselben. Auch wenn ich selbst nicht zum thematischen Inhalt meiner Phantasie gehöre, so erscheinen mir die wilden Tiere doch eher aus dieser als aus jener Perspektive, links oder rechts von mir, sie nähern sich mir oder entfernen sich von mir, usw. In all diesen Fällen spalte ich mich in das phantasierende Ich und das Ich, das zur Phantasiewelt gehört. Ich konstituiere einen phantasierten Nullpunkt der Orientierung, von welchem ausgehend mir das phantasierte Schauspiel erscheint. Eine solche Form der Selbstduplizierung oder Selbstspaltung ist ein wesentliches Merkmal allen Phantasierens. In den genannten Fällen spaltet sich das Ich, ohne seine numerische Identität zu verlieren. Wie ist das möglich? Um dies genauer zu verstehen, müssen wir erkennen, dass der Begriff des Ichs mehrdeutig ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist es besonders wichtig, zwei Bedeutungen dieses Begriffs zu erkennen. Zum einen bezieht sich der Begriff des Ichs auf den Mittelpunkt aller Erfahrung. Alles Leben, als egoisches Leben, hat ein Zentrum, das man mit Edmund Husserl als einen Nullpunkt der Orientierung bezeichnen kann. Das Ich ist das Zentrum aller Gefühle und Affekte, aller Gegenwärtigungen und Vergegenwärtigungen, allen Denkens und Handelns. Inso382 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

fern verweist der Begriff des Ichs auf ein notwendiges Strukturmerkmal aller Erfahrung: So, wie es keinen Blick aus dem Nirgendwo geben kann, so kann es auch keine Erfahrung ohne Zentrum geben. Insofern wir uns auf diese Konzeption des Ichs beschränken, haben wir das Recht, von einer Vielfalt des Ichs zu sprechen. Mit einer solchen Konzeption im Hinterkopf können wir daher sagen, dass jede Erfahrung ein eigenes ausgeprägtes Ich hat, das als der Mittelpunkt der Erfahrung konzipiert ist. Andererseits bezieht sich der Begriff des Ichs auch auf unser eigenes persönliches Selbst. Als persönliches Selbst ist das Ich eine Synthese: Es dehnt sich über die Zeit aus, verwandelt seine früheren Erfahrungen in einzigartige Wahrnehmungsmodi, die seine nachfolgenden Erfahrungen beeinflussen. Es hat eine einzigartige Geschichte, die nicht nur in seiner Vergangenheit liegt, sondern die auch seine Gegenwart und Zukunft formt. In dieser Hinsicht hat ein jeder von uns das volle Recht, von einem singulären Ich zu sprechen, das unsere Existenz als Ganzes umfasst. Mit diesen beiden Auffassungen des Ichs können wir verstehen, wie es sich, ohne seine Identität zu verlieren, spalten kann. Insofern wir von einer Vielzahl von Ichs sprechen, haben wir das erste hier erwähnte Konzept des Ichs vor Augen, nämlich das Ich, das als der Mittelpunkt der Erfahrung konzipiert ist. Im Falle einer Wiedererinnerung hat die vergangene Erfahrung eindeutig einen anderen Mittelpunkt als die gegenwärtige Erfahrung. Dasselbe können wir über andere Formen der Vergegenwärtigung sagen. Diese Selbstaufspaltung findet jedoch innerhalb der Einheit des Ichs statt, insofern das Ich im zweiten Sinne des Begriffs, nämlich als persönliches Ich, gedacht wird. Dadurch wird verständlich, wie aus ein und demselben Ich eine Vielheit werden kann. An diesem Punkt sind wir in der Lage, den zentralen Unterschied zwischen selbstbewussten und versunkenen Vergegenwärtigungen zu erkennen. Würde das Ich die Erinnerung an das Hören der Musik im Taxi auf eine selbstbewusste Weise erleben, würde es sich mit dem eigentlichen, erinnernden Ich identifizieren, also mit demjenigen, das im Flugzeug und nicht im Taxi sitzt. Das Hören der Musik wäre dann in einer Distanz zum eigentlichen Ich gegeben, obwohl sich das erinnernde Ich gleichzeitig als genau denjenigen wiedererkennen würde, der die Musik bereits gehört hat. Dasselbe lässt sich über selbstbewusste Antizipationen und selbstbewusste Phantasien sagen. Kurz gesagt, eine selbstbewusste Vergegenwärtigung zu haben bedeutet, eine Vergegenwärtigung als Vergegenwärtigung zu erkennen, d. h. 383 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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eine Erinnerung als Erinnerung, eine Antizipation als Antizipation, eine Phantasie als Phantasie. Im Gegensatz dazu bedeutet vollständig versunken in eigenen Vergegenwärtigungen zu sein, die ehemaligen Erfahrungen nachzuerleben, die künftigen Erfahrungen vorzuerleben, und die Phantasien in einer Quasi-Form zu erleben, ohne sich darüber bewusst zu werden, dass diese Erfahrungen Vergegenwärtigungen sind. Unser anfängliches Beispiel diente als gute Veranschaulichung einer solchen Erfahrung: Wenn das Flugzeug noch nicht abgehoben ist und ich meine jüngsten Erlebnisse noch einmal durchlebe, verliere ich jeden Sinn für meine tatsächliche Umgebung, ich bin vollständig in meinen Erinnerungen versunken. In einem solchen Szenario erkennt sich das Ich, das eine solche Erinnerung hat, nicht als eigentliches Ich; es identifiziert sich nicht mit dem erinnernden Ich, sondern mit dem erinnerten Ich. Es ist genau diese Art von ›distanzierter Selbstidentifikation‹, die es dem Ich ermöglicht, eine Erfahrung der Selbstverdrängung und Selbst-Übertragung zu machen: Indem es das Hier und Jetzt vergisst, identifiziert sich das Ich mit seinem eigenen Doppelgänger im Dort und Dann; kraft solcher Selbstvergessenheit und Selbstidentifikation wird das Ich zu seinem eigenen Doppelgänger. Mutatis mutandis können wir dasselbe über Antizipation und Phantasie sagen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass das, was ich gerade beschrieben habe, die reine Versunkenheit betrifft und dass die gemischten Formen häufiger vorkommen. Weniger vollständig in den eigenen Vergegenwärtigungen versunken zu sein, bedeutet, sie mit einem stark geschwächten Bewusstsein darüber zu erleben, dass die eigene Vergegenwärtigung eine Vergegenwärtigung ist. Unter solchen Umständen identifiziert sich das Subjekt der Erfahrung immer noch mit dem vergegenwärtigten Ich, obwohl es gleichzeitig nicht das Bewusstsein seiner tatsächlichen Umgebung verliert. Paradoxerweise ist es die eigene tatsächliche Existenz in der aktuellen Welt, die aus der Perspektive der versunkenen Erfahrung in Distanz erscheint. Wenn man gemischte Formen der Versunkenheit in Betracht zieht, kann man mit Recht feststellen, dass eine trennscharfe Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Vergegenwärtigungen nicht gerechtfertigt wäre. Ganz gleich, wo man die Unterscheidung zwischen ihnen ziehen würde, müsste man zugeben, dass die Aufspaltung des Ichs ein wesentliches Merkmal sowohl der versunkenen als auch der nicht-versunkenen Vergegenwärtigungen 384 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

ist. Man könnte den Unterschied folgendermaßen andeuten: Bei selbstbewussten Vergegenwärtigungen steht das Ich mit einem Fuß in der Gegenwart und mit dem anderen außerhalb dieses Bereichs, wobei es mehr Gewicht auf den Fuß, der im Hier und Jetzt steht, legt. Im Gegensatz dazu legt das Ich bei versunkenen Vergegenwärtigungen ein größeres Gewicht auf den anderen Fuß und befindet sich dann sowohl in der Gegenwart als auch außerhalb dieser.

6.

Versunkenheit und Zuneigung

Zu einem großen Teil verstehen wir philosophische Begriffe aufgrund anderer, ihnen entgegengesetzter Begriffe. In dieser Hinsicht muss man, um die Bedeutung der Versunkenheit besser zu verstehen, auch die Bedeutung des entgegengesetzten Begriffs verstehen, nämlich des Begriffs der Wachheit. Als phänomenologischer Begriff drückt Wachheit das allgemeine Interesse des Ichs an der aktuellen Welt aus. Wachsein heißt, wach für die Welt zu sein, d. h. ein Ohr für alles zu haben, was sich in der gegenwärtigen Welt entfaltet. Wach zu sein heißt auch, Affektionen zu erleben, die uns aus der uns umgebenden Welt erreichen. Sofern diese Affektionen nicht aus uns selbst stammen, können wir sie Hetero-Affektionen nennen. Diese Affektionen wecken unser Interesse, wir wenden uns ihnen zu und reagieren auf sie. Wachheit, Interesse, Affektionen: Wir sind wach für die Welt, wenn unser Erleben von Interessen geleitet wird, die ihrerseits aus bestimmten Affektionen (nämlich Hetero-Affektionen) entstehen. Doch unser Interesse am Hier und Jetzt kann nachlassen, und wenn das geschieht, finden wir uns in einer merkwürdigen Situation wieder: Die Affektionen (d. h. Hetero-Affektionen) sind noch da, wir erleben sie weiterhin. Diese Affektionen sind jedoch in dem Sinne ohne Kraft, als dass sie unser Interesse nicht wecken. Die Versunkenheit hebt die Kraft der Affektionen auf und trennt damit das natürliche Band, das die Affektionen mit Interesse und Wachheit verbindet. Wie sollen wir eine solche Wendung von der öffentlichen zur inneren Welt verstehen? Es genügt nicht, auf die Aufhebung der affektiven Kraft hinzuweisen, die die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Welt hervorruft. Eine solche Annullierung muss selbst-motiviert sein. Wir müssen also fragen: Was könnte das Ich motivieren, sich von seiner Umgebung zu distanzieren? Offen385 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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sichtlich muss die Motivation in einer anderen Art von Affektionen liegen, die ihrerseits die Hetero-Affektionen überwältigen. Wir könnten diese andere Gruppe von Affektionen Auto-Affektionen nennen. Während Hetero-Affektionen uns von außen erreichen, erreichen uns Auto-Affektionen von innen: Gedanken, Wünsche oder Sehnsüchte können beharrlich und aufdringlich sein; ebenso können Erinnerungen, Erwartungen oder Phantasien unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist hierbei wichtig zu betonen, dass sowohl Hetero-Affektionen als auch Auto-Affektionen unterschiedliche Grade zulassen; sie können dem Ich mehr oder weniger nahe kommen. Manchmal können Auto-Affektionen mit Hetero-Affektionen in Konflikt geraten, wodurch das Ich ratlos zurückbleibt und gezwungen ist, zu wählen, welchen Affektionen es Beachtung schenken soll. Andere Male, wenn Auto-Affektionen intensiver sind, können sie die Hetero-Affektionen überwältigen, wenn auch nicht durch Beseitigung, sondern vielmehr durch Beraubung ihrer Motivationskraft, das Interesse und die Aufmerksamkeit des Ichs zu wecken. In noch anderen Fällen können Auto-Affektionen eine solche Intensität erreichen, dass sie die Interessen vollständig übernehmen; in diesen Fällen bleibt das Ich von Hetero-Affektionen unberührt. So wie wir gegenüber den Hetero-Affektionen passiv sind, so sind wir paradoxerweise auch gegenüber den Auto-Affektionen passiv: Sie kommen, wann sie und nicht, wann wir wollen. Freilich kommen sie von innen, d. h. das Ich selbst ist die Quelle von Auto-Affektionen; dennoch entspringen sie aus eigener Kraft, sie missachten den Willen des Ichs. Während die Hetero-Affektionen aus einem Jenseits kommen, das außerhalb von uns liegt, kommen die Auto-Affektionen aus einem Jenseits, das in uns liegt: Sie erreichen uns aus unserer Vergangenheit oder Zukunft, sie drücken unsere Wünsche oder Ängste, Hoffnungen oder Verzweiflungen, Begierden oder Abneigungen, Freuden oder Schmerzen, Gefühle oder Gedanken aus. Sie kommen aus dem Ich selbst, aber gerade weil das Ich ihnen gegenüber passiv ist, wirken sie wie eine fremde Kraft, die ihre seltsame Alterität behält. In Anlehnung an Husserl 6 können wir folgende Elemente unterscheiden, die die zeitliche Struktur des affektiven Bewusstseins ausmachen: a) »das Eindringen auf das Ich«, den Drang, den die AffekEdmund Husserl, Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg, Meiner Verlag, 71999, § 17.

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tionen auf das Ich ausüben; b) »vom Ich aus die Tendenz zur Hingabe, das Gezogensein«; c) »die Zuwendung als Folgeleisten der Tendenz […] das Ich ist nun dem Objekt zugewendet.« 7 Erst bei der dritten Stufe kann man nach Husserl vom Wach-Sein des Ichs sprechen. Wir können das so verstehen, dass die ersten beiden Schritte den Prozess des Erwachens ausmachen. Diese zeitliche Struktur, die vom Erwachen zum Wachsein führt, charakterisiert das Verhältnis des Ichs sowohl zu den Hetero-Affektionen als auch zu den Auto-Affektionen. Erinnern wir uns aber an die frühere Beobachtung, dass AutoAffektionen uns aus dem Jenseits erreichen, das dennoch in unserem Inneren liegt. Das macht es notwendig, dass wir, wenn wir von AutoAffektionen sprechen, die erste These ergänzen und nicht nur von der Aufdringlichkeit der Affektion sprechen, sondern auch davon, dass die Auto-Affektion aus dem Subjekt der Erfahrung selbst entspringt. Wie bereits erwähnt, ist der Begriff des Ichs bekanntermaßen mehrdeutig. Das Ich ist der Mittelpunkt aller Erfahrung; dennoch ist es auch ein persönliches Ich, mit einer persönlichen Geschichte. Diese Zweideutigkeit erlaubt es uns, die Alterität im Inneren, die den Ursprung der Auto-Affektionen ausmacht, genauer zu verstehen. Insofern das Ich ein persönliches Ich ist, sind die fraglichen Affektionen in der Tat Auto-Affektionen: Sie kommen von innen. Insofern jedoch das Ich der Mittelpunkt der Erfahrung ist, kommen die Auto-Affektionen von jenseits: Ich bin von Erfahrungen betroffen, die nicht das gegenwärtige aktuelle Ich als ihren Mittelpunkt haben. Welchen Sinn sollen wir dann dieser Alterität im Innern geben, die die Möglichkeitsbedingungen von Auto-Affekten konstituiert? Sollten wir diese Alterität als das Anderssein des ›Alter Ego‹ qualifizieren, dem wir noch innerhalb der Grenzen unserer eigenen Erfahrung begegnen? Eine solche Schlussfolgerung wäre unberechtigt: Wir haben einfach keine ausreichenden phänomenologischen Beweise, um sie zu stützen. Vielmehr stolpern wir hier über eine merkwürdige Distanz, die das gegenwärtige Ich von seinem Erfahrungsfluss trennt, wenn man es in seiner Zeitlichkeit betrachtet. Erinnern wir uns an die früher gemachte Unterscheidung zwischen dem Ich, das als zentrierender Punkt der Erfahrung gedacht ist, und dem Ich, das als persönliches Selbst gedacht ist. In diesem Zusammenhang könnte man sagen, dass viele unserer Erfahrungen in dem Sinne dezentriert sind, dass sie uns zwar immer noch gegeben sind, aber in einer Dis7

Husserl, Erfahrung und Urteil, 82.

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tanz zum gegenwärtigen Ich, welches als der Mittelpunkt des Bewusstseins konzipiert ist, auftauchen. Wenn sich die Auto-Affektionen dem Ich aufdrängen, wenn das Ich nachgibt und sich ihnen aktiv zuwendet, erhalten diese primären Affektionen mehr Bestimmtheit und werden als vergangene, zukünftige oder imaginäre Erfahrungen erkannt. Doch per definitionem kann das gegenwärtige Ich nicht der Mittelpunkt der vergangenen oder zukünftigen Erfahrung sein; so kann es auch nicht der Mittelpunkt der Phantasieerfahrung sein. Wie wir gesehen haben, haben alle vergegenwärtigten Erfahrungen ein anderes Ich in ihrem Zentrum. Nur indem sich das aktuelle Ich mit diesen verschiedenen Ichs (dem vergangenen, dem zukünftigen oder dem imaginären Ich) identifiziert, kann es sich jene Erfahrungen aneignen, die nicht zu ihm gehören, d. h. die entweder nicht mehr zu ihm gehören (Erinnerung) oder noch nicht zu ihm gehören (Antizipation) oder prinzipiell nicht zu ihm gehören können (Phantasie).

7.

Versunkenheit und Gefangenschaft

In manchen Fällen kann es sehr schwierig sein, sich der Versunkenheit zu entziehen. Das heißt, man könnte zwar erkennen, dass man in der inneren Welt versunken ist, und dennoch könnte man zur eigenen Bestürzung es als unmöglich empfinden, sich aus dem Griff dieser Versunkenheit zu befreien. Das ist die Erfahrung des Gefesseltseins. Man weiß, dass man nicht das vergegenwärtigte Ich ist, man weiß, dass die vergegenwärtigte Erfahrung außerhalb des Gegenwartsfelds liegt, und doch sieht man sich innerlich gezwungen, solche Erfahrungen immer wieder zu erleben. Man kann in seinen Erinnerungen, Antizipationen und Phantasien gefesselt sein; ebenso kann man von seinen Ängsten, Sehnsüchten, Wünschen und Gedanken gefesselt werden. In Anbetracht dessen müssen wir die Ansicht zurückweisen, dass man nur so lange im Dort und Dann versunken sein kann, wie dieses Erleben durch einen Mangel des Bewusstseins seiner Selbst gekennzeichnet ist, also entweder so lange man seine Verwurzelung in der Gegenwart nicht erkennt, oder so lange man weiterhin glaubt, dass das Dort und Dann in Wirklichkeit das Hier und Jetzt sei. Man kann sehr wohl wissen, dass man versunken ist, und trotzdem kann es einem unmöglich sein, dieser Versunkenheit zu entkommen. Man kann die Überflutung von Bildern und Gedanken, begleitet von einer 388 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit

Vielfalt an Gefühlen, erleben, ganz gleich, wie stark der Wunsch wäre, vor ihnen zu fliehen, kann man trotzdem völlig unfähig sein, sich ihnen zu entziehen. Man könnte sich fragen: Wie genau sollen wir diese Eigenschaft versunkener Erfahrungen mit meiner früheren Behauptung in Einklang bringen, dass die distanzierte Erfahrung eine Dimension der Spontaneität mit sich bringt, die im Fall der aktuellen Erfahrung fehlt? Haben wir es hier nicht mit zwei unvereinbaren Merkmalen zu tun, und sollten wir nicht sagen, dass, insofern unsere Erfahrung durch Spontaneität gekennzeichnet ist, sie nicht auch durch Gefesseltsein gekennzeichnet sein kann und umgekehrt? Doch das Gefesseltsein, mit dem wir hier konfrontiert sind, ist höchst paradox: Wir können von unseren eigenen Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien oder Gedanken gefesselt werden. In manchen Fällen ist es uns unmöglich, dem Griff unserer eigenen Spontaneität zu entkommen. Das bedeutet, dass es, um aus der Versunkenheit zu erwachen, nicht ausreicht, das Bewusstsein seiner Selbst wiederzuerlangen. Das stillschweigende Bewusstsein darüber, dass man in der gegenwärtigen Welt lebt, kann diese Art von Versunkenheitserfahrungen sehr wohl begleiten. Man ist wach für die Welt, und dennoch überwiegt die Anziehungskraft der Auto-Affektionen bei weitem die Anziehungskraft der Hetero-Affektionen. Auto-Affektionen beanspruchen weiterhin die eigene Aufmerksamkeit, trotz des Willens, sich von ihnen abzuwenden. Das bedeutet, dass wir nur dann aus der Versunkenheit erwachen können, wenn die Hetero-Affektionen die Auto-Affektionen in den Schatten stellen, indem sie das Ich dazu verleiten, seine Interessen auf sie zu richten.

8.

Schlussbemerkungen

Die vorstehende Analyse der Versunkenheit ist nicht vollständig. Man kann sie als eine Skizze betrachten, die einige grundlegende Strukturen des versunkenen Erlebens aufzeigen soll. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Phänomen der Versunkenheit in der Phänomenologie wie auch in anderen philosophischen Traditionen so wenig erforscht ist, hat die hier vorliegende und durchgeführte Untersuchung ihren Wert. In meinen abschließenden Bemerkungen möchte ich auf den Standpunkt zurückkommen, den ich in den einführenden Bemerkun389 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Saulius Geniusas

gen dargelegt habe. Wir behaupten oft, dass wir nur in der gegenwärtigen Welt existieren können, was bedeutet, dass alles, was wir erleben, uns nur aus der Perspektive der gegenwärtigen Welt gegeben sein kann. Ich hoffe, die vorangegangene Analyse hat gezeigt, wie problematisch diese Sichtweise ist, auch wenn sie so häufig als selbstverständlich akzeptiert wird. Einige unserer Erfahrungen sind uns aus anderen Perspektiven als der der gegenwärtigen Welt gegeben; auf Gedeih und Verderb sind wir nicht so sehr in der Gegenwart eingeschlossen, wie wir oft glauben, dass wir es wären. Versunkenheit, verstanden als eine Art Selbstverschiebung, bietet dem Subjekt der Erfahrung die Möglichkeit, sein Erfahrungsfeld zu erweitern, indem es das Hier und Jetzt zumindest teilweise und vorübergehend verlässt.

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IV. WELT UND PRAXIS

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»Ent-fremdung« – Dialektik in Finks Ontologie des Sozialen Annette Hilt

Abstract: Mein Beitrag zeichnet Eugen Finks Ausarbeitung des Phänomenbegriffs an drei Leitfäden nach: einem ontologischen, existenziellen und kosmologischen; diese Leitfäden entwickelt Fink methodologisch als eine »Phänomenologische Dialektik« und formuliert sie mit der Frage, was, wem und wo etwas erscheint. Diese Dialektik zielt darauf ab, Erscheinen als in der und durch die Welt ermöglicht zu erfahren: Es ist dies eine Welt, in einem pluralen Phänomenalisierungskonzept, die wir miteinander in Grundphänomenen, gemeinsamen Praktiken und bestimmten Erfahrungsmodi teilen. Phänomenologische Dialektik – von Fink als eine »Ontologie des Sozialen« entworfen – öffnet so die phänomenologische Konstitutionsthematik auf Erfahrungen der Transzendenz in Feldern der Coexistenz, die mit Emmanuel Levinas als die »Idee des Unendlichen« gekennzeichnet werden kann. My contribution retraces Eugen Fink’s conception of phenomena which he develops along three lines: one ontological, another existential, and the third cosmological. Fink captures this methodologically as »Phenomenological dialectics,« along with the questions of what appears, to whom, and where. These dialectics aim at a concept of the world within and through which appearing is enabled. It is a world characterized by a plural concept of phenomenalization, a world we share with each other in basic phenomena, mutual practices, and particular modes of experiencing. Phenomenological dialectics – which Fink conceptualizes as an »ontology of the social« – thus open the phenomenological theme of constitution towards experiences of transcendence in the realm of social relations, which Levinas captured in his ethics with the »idea of infinity.«

1.

Lebendigkeit phänomenologischen Fragens

Was heißt es für eine ›Wissenschaft‹, eine ›Theorie‹, eine ›Methode‹, eine Weise, sich über das eigene Verstehen Rechenschaft zu geben, lebendig zu sein? Heißt dies nicht auch, sich die ihr eigenen Formen 393 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

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und Fragen bewusst zu machen, die sie auszeichnen? Sich eben der Grenzen zu vergewissern, die diese Formen und Fragen umschreiben, die aber als Grenzen immer auch auf ein ›Jenseits‹ ihrer selbst, eine Transzendenz verweisen und damit auch die Form und Fragen bestimmen? »Eine eigenartige Grenze der phänomenologischen Methode bildet nun das Problem der Welt«, bemerkte Eugen Fink in einer seiner ersten Vorlesungen der Nachkriegszeit Welt und Endlichkeit. 1 Finks Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Weltbegriff begann mit ihrer gemeinsamen Arbeit an einer VI. Cartesianischen Meditation, die Husserls Projekt einer transzendentalphänomenologischen Methodenlehre neu überdenken sollte, dafür Welt als Boden und Horizont für Erfahrung und ihre phänomenologische Kritik zum Leitfaden rekonstruieren wollte. 2 Fink wird diese Problematik in Richtung der Welt als eine eigene, eigentümliche Instantiierung des Seins weiterführen, den Blick darauf wenden, um Grenzen der phänomenologischen Methodik herauszuarbeiten und so den Phänomenbegriff selbst zu befragen: im Sinne einer erneuernden Bearbeitung des Feldes und des Bodens der Phänomenologie als einer kritischen und vor allem sich existenziell verstehenden Philosophie; ebenso als einer phänomenologischen Anthropologie, in der die Bewegtheit, die Lebendigkeit menschlicher Bezüge im Rahmen einer Verständigung über den Seinsbezug zum Tragen kommt. 3 Im Vollzug dieses Philosophierens haben wir Teil an dem phänomenalen Feld, und zwar erlebend und beschreibend, die epoché vollziehend, und zwar insofern die natürliche Einstellung ver- und ent-fremdet wird und dadurch in ein dialektisches Spiel von Distanzierung und Annäherung, Ent- und Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1990, 147. 2 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, in: Husserliana – Dokumente, Bd. II/1, hrsg. von Hans Ebeling/Jann Holl/Guy van Kerckhoven; VI. Cartesianische Meditation. Teil 2: Ergänzungsband, Husserliana – Dokumente, Bd. II/2, hrsg. von Guy van Kerckhoven, Dordrecht, Kluwer, 1988. 3 Ich werde hier den Aspekt der Finkschen Meontik aus Platzgründen aussparen; ebenso die Frage nach einer transzendentalen Monadengemeinschaft, die Fink in den Entwürfen zu einer VI. Cartesianischen Meditation stellt (vgl. Fink. VI. Cartesianische Mediation, Teil 2, 244–275; ebenso: Giovanni Jan Giubilato, Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologischen Meontik bei Eugen Fink 1927–1946, Nordhausen, Bautz, 2017). Vielmehr werde ich mich Finks Nachkriegsphilosophie und der sozialphilosophischen Ausdeklinierung dieser Konzeptionen widmen. 1

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zweiter Verweltlichung, Transzendenz und Konstitution gelangt: eben in eine phänomenologische Dialektik. In dem Bemühen Husserls, Welt innerhalb seines phänomenologischen Programms systematisch so zu situieren, dass sie auch nach der Reduktion lebensweltlicher Strukturen in einer zweiten Verweltlichung grundlegend im Sinne einer reflektierten und nicht nur naiven Bedeutung sei, zeigen sich Grenzen: dann nämlich, wenn wir die Vorgegebenheit der Welt unserer alltäglichen Erfahrungen einerseits und apriorischen Strukturen der Lebenswelt andererseits 4 auf dem Weg einer transzendentalen Reduktion in den Blick zu bekommen suchen. Husserl betont diese Unterscheidung in seiner Krisis-Schrift. Welt als einheitlicher Sinnhorizont ist Produkt der transzendentalen Subjektivität bzw. eines transzendentalen »universal leistende[n] Leben[s]« 5, d. h. nicht nur eines Bewusstseins, sondern einer geschichtlichen Lebensgemeinschaft: Auf diese Lebensgemeinschaft habe Phänomenologie als eine universale Wissenschaft zurückzugehen unter Einklammerung desjenigen Geltungszusammenhanges, der unseren ersten und umfassenden Weltbezug ausmache: die alltägliche Einstellung in und zu der Lebenswelt. So heißt es in einer Beilage zum § 36 der Krisis-Schrift aus dem Jahr 1936: »Die universale Epoché und die Umstellung auf das Thema ›Welt‹ verwandeln alle im natürlichen Leben jemals wirklichen und möglichen Erfahrungen in Komponenten der universalen, der Welterfahrung« 6. Was Fink mit seiner Phänomenologischen Dialektik anzielt, ist nun gerade dies: die Mehrdeutigkeit des Husserlschen Welt-Konzeptes festzuhalten, dabei jedoch operative Tendenzen in Husserls Philosophie selbst wieder phänomenologisch thematisch zu heben. Fink führt dies zu einer onto-kosmologischen Deutung der Lebenswelt in ihren unterschiedlichen – pluralen – Erscheinungsformen: in ihrer Lebendigkeit und der dieser eigenen Dialektik der Ent-fremdung: der die Fremde auslotenden Bewegung, wie ich sie in Anlehnung an

Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: eine Einleitung in die Phänomenologische Philosophie, in: Husserliana (im Folgenden Hua), Bd. VI, hrsg. von Walter Biemel, Dordrecht u. a., Kluwer, 1954, 143–148. 5 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Hua VI, 148. 6 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937, in: Hua, Bd. XXIX, hrsg. von Reinhold N. Smid, The Hague, Kluwer, 1992, 218–219. 4

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Martin Heideggers Ent-fernen, das die Räumlichkeit des In-derWelt-seins charakterisiert, bezeichnen möchte. 7 Anders als Heidegger wird Fink indes »Ent-fremdung« nicht im Existenzial aufgipfeln lassen, sondern es als Grundzug für das dialektische Spiel der Welt herausarbeiten, wie es einen Erscheinungsraum für unsere Coexistenz, unser gemeinsames Verstehen wie auch Handeln, dafür, unsere Welt miteinander zu teilen, bietet. Dieses Projekt lässt sich an Leitfäden für das phänomenologische Fragen nach den Sinnstrukturen weiterverfolgen, die nicht nur Welt erschließen, sondern auch Weisen, in der Welt zu leben und sie miteinander zu teilen – und zwar in gemeinsamen Praktiken: An diesen Leitfäden gelangt Fink zu einer Dialektik des Erscheinens, die zum Ausgangspunkt für die bereits genannte Phänomenologische Dialektik und eben auch für seine Phänomenologie der Welt – für seine Kosmologie – wird: Der Begriff des Erscheinens schillert doppeldeutig: Einmal meint er das Hervor- und Zusammenkommen von Dingen aller Art in einer gemeinsamen Gegenwart, zweitens faßt er das Erscheinen als Vorgestelltwerden durch ein Subjekt. Diese Doppeldeutigkeit des Erscheinungsbegriffs läßt sich in drei Fragen formulieren: Was erscheint, wem erscheint, wo und warum erscheint? Das klingt formal und nichtssagend, und dennoch sind es fundamentale Fragen der Philosophie. Was erscheint, ist das Seiende; wem es erscheint, ist der Mensch; wann und wo es erscheint, ist der Zeitraum der Welt. 8

Diese von Fink konstatierte »schillernde Doppeldeutigkeit« möchte ich über drei Probleme formulieren, die sich für Finks Fragen in »Phänomenologie und Dialektik« als Aufgaben stellen: in einem Vortrag, den er 1962 an der Universität Wien hielt und der dann posthum

»Unter Entfernung als einer Seinsart des Daseins hinsichtlich seines In-der-Weltseins verstehen wir nicht so etwas wie Entferntheit (Nähe) oder gar Abstand. Wir gebrauchen den Ausdruck Entfernung in einer aktiven und transitiven Bedeutung. Sie meint eine Seinsverfassung des Daseins, hinsichtlich derer das Entfernen von etwas, als Wegstellen nur ein bestimmter, faktischer Modus ist. Entfernen besagt ein Verschwindenmachen der Ferne, das heißt der Entferntheit von etwas, Näherung. Dasein ist wesenhaft ent-fernend, es läßt als das Seiende, das es ist, je Seiendes in der Nähe begegnen.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 171993, 105). 8 Eugen Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, in: Eugen Fink, Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München, Verlag Karl Alber, 1976, 228–249. 7

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in dem Band Nähe und Distanz veröffentlich wurde. Aus diesen Problemen lassen sich drei Leitfäden – ontologisch, existenziell, kosmologisch – entwickeln, die für Finks Auffassung von einer (phänomenologischen) Dialektik maßgeblich sind: 1. Das erste Problem stellt die Frage: Was ist ein Phänomen bzw. weiterführend: Was sind Grundphänomene, die Phänomenalisierungsstrukturen exemplarisch aufzeigen und zugänglich machen für unseren Weltbezug? Daran schließt sich die Frage an, welche Erfahrungen, Situationen und Praktiken selbst Grundphänomencharakter erhalten können? Von der Frage: »Was erscheint?«, die auf eine Seinsdialektik abzielt, werden wir zum zweiten Problem geführt. 2. Dieses Problem greift den reflexiven Charakter der Grundphänomene als derjenigen Phänomene auf, die insbesondere für unsere (menschliche) Erfahrung existentielle Verständnisbahnen darstellen; Fink entwickelt hier einen Feldcharakter von explizit sozialen, d. h. co-existenziellen Phänomenen, mit dem er die Transzendentalphilosophie mit anthropologischen und kosmologischen Fragen verknüpft: Wem also erscheinen Grundphänomene – und wie ist das »Subjekt« – ein Ich, ein Wir – zu fassen? Für wen bilden die Grundphänomene Verständnisbahnen? Fassen wir diese existenzielle Dimension über den Feldcharakter der Grundphänomene als eine grundlegend plurale auf, so stellt sich die Frage nach der Dialektik nun auf eine neue Weise: 3. Das dritte Problem ließe sich als Fragen nach einer Dialektik pluraler Erscheinungsformen formulieren, die ins Unendliche führt. Mit Emmanuel Levinas gesprochen: zur Idee des Unendlichen in sozialen Beziehungen: Wie geben Grundphänomene Raum und lassen Zeit für miteinander geteilte Welten im Plural? Dies ist für Fink der Ausgangspunkt zu seiner kosmologischen Dialektik: Wo und warum erscheint? Husserls Exponierung des Weltbegriffs stellt bereits für den Fink der frühen 30er Jahre einen wesentlichen phänomenologischen Anstoß für die methodische Ausdeklinierung der phänomenologischen epoché dar: Ent- und Verweltlichung des Vollzugs der Einklammerung jeglicher natürlichen Einstellung – oder anders formuliert: die Frage, wie sich Welt als Boden des Phänomenologisierens in Vollzügen der epoché zwischen Konstitution des transzendentalen Ego und der Transzendenz auf einen Raum hin, der die natürliche Einstellung er-

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schüttert und Welt gibt, 9 der Welt wandelt. 10 »Natürliche Erkenntnis hebt an mit der Erfahrung und verbleibt in der Erfahrung« 11, so setzt Husserl in seinen Ideen I an mit der für die Lebenswelt grundlegenden Konstitutionsdimension. Diese natürliche Einstellung ist situiert in dem »Gesamthorizont möglicher Forschungen« – der Welt. 12 Welt als Horizont ist »der Gesamtinbegriff von Gegenständen möglicher Erfahrung und Erfahrungserkenntnis, von Gegenständen, die auf Grund aktueller Erfahrungen in richtigem theoretischen Denken erkennbar sind« 13 – so Husserl. Ich möchte darauf aufbauen und von hier eine Akzentverschiebung Finks vom Erkennen zum Erfahren vollziehen. Zunächst möchte ich jedoch kurz Finks Kritik an Husserls Phänomenbegriff ein wenig schärfen; diese zielt auf die operative Begrifflichkeit der Gegenstandsorientierung beim Erscheinen eines Phänomens: Dass da etwas erscheint in einem individuellen Sein, ist rein zufällig in seinem ›So‹, nicht aber in seinem ›Wie‹ ; es ist korrelativ auf eine Notwendigkeit bezogen, die nicht den bloßen faktischen Bestand einer geltenden Regel der Zusammenordnung räumlich-zeitlicher Tatsachen besagt, sondern den Charakter der Wesens-Notwendigkeit und damit Beziehung auf Wesens-Allgemeinheit hat. […] Ein individueller Gegenstand ist nicht bloß überhaupt ein 9 Vgl. dazu Giovanni Jan Giubilato, Eugen Fink’s »katastrophales Denken«. On the Essence of Philosophy. Erscheint voraussichtlich 2022 in: Iulian Apostolescu (Hrsg.), Phenomenology, Metaphysics, Ontology. Essays on Eugen Fink, Berlin, De Gruyter. 10 Vgl. hierzu die Nachzeichnung von Ronald Bruzina: »The world had been posed in terms that had their home where people were on this side of the epoché, rather than past it. The theme of the world, therefore, had yet to be investigated in terms proper to the standpoint that resulted from the rigorously applied epoché and reduction. In other words, the propaedeutic and preliminary cast of the presentation of the problem of the world meant that the phenomenology of the world was yet to be really carried out.« (Ronald Bruzina, Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and ends in phenomenology. 1928–1938, New Haven/London, Yale University Press, 2004, 176– 177). Siehe hierzu auch die Edition des Nachlasses von Eugen Fink in den Bänden 3/ 1 und 3/2 der Eugen Fink-Gesamtausgabe: Eugen Fink, Phänomenologische Werkstatt, in: Eugen Fink Gesamtausgabe, Bd. 3/1 und 3/2, hrsg. von Ronald Bruzina, Freiburg/München, Verlag Karl Alber, 2006. 11 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie 1, in: Hua, Bd. III.1, herausgegeben von Karl Schuhmann, The Hague, Martinus Nijhoff, 1977, 10. 12 Husserl, Ideen I, Hua III.1, 10. 13 Husserl, Ideen I, Hua III.1, 11.

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individueller, […] er hat als ›in sich selbst‹ so und so beschaffener seine Eigenart, seinen Bestand an wesentlichen Prädikabilien, die ihm zukommen müssen […], damit ihm andere, sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können. 14

Nehmen wir nun auch diese Hinsicht auf ›Welt‹ als ›Horizont‹, so stellt sich für Husserl ebenfalls die Frage nach der Eigenart und Wesens-Allgemeinheit, wie Welt sei: Dabei sind wir nicht auf ein starres Konzept der ›Welt‹ bezogen; vielmehr artikuliert sich unsere Einstellung zur Welt auf ganz unterschiedliche Weise, in regional gegliederten Kontexten: Welten und deren unterschiedlichen Erfahrungsweisen auf dem Boden der Weltgewissheit: der Notwendigkeit eines Welthorizontes. Daher gilt es allererst herauszustellen, was ›Welt‹ als ›Welt‹ auszeichnet und wie sie als Einstellung thematisch werden kann. Indem das Weltproblem über die Frage nach unserer Erfassung von Welt immer wieder zu den Artikulationsformen intentionaler Subjektivität führt, stellt das Problem, Welt zu fassen, Ansprüche, diese ›Welteinstellungen‹ zu hinterfragen. Husserl geht es nicht um »das eine Weltproblem«, sondern um die »Ansprüche, die indirekt mit ›Welt‹ gegeben oder vorgegeben sind« 15. Schwierigkeiten ›der Welt‹ werden vermittels der ›Welteinstellungen‹ präsentiert. Zufall und Notwendigkeit sind verklammert im Erscheinen, und sie sind es auch im Erscheinungsraum der Grundphänomene zusammen. Mit der Frage, wie Welt erscheint bzw. konstitutiv erscheinen kann, ist damit bereits eine Vorentscheidung über ihren ontologischen Status getroffen 16 bzw. muss dieser Status als ontologischer eigens in den Blick genommen werden. Es soll weder dem Sein ein Leben unterschoben noch das Sein durch die Subjektivität ausgetauscht werden. Wäre eine Ontologie – wie das Sein dem Sosein vorausgehen kann – überhaupt in einer Phänomenologie zu thematisieren? In einer Ergänzung zur Krisis-Schrift verneint Husserl dies, vielmehr sei »alle Ontologie überhaupt in einer universalen Phänomenologie der Subjektivität impliziert« 17. So scheint mit dem Weltproblem ein Prüfstein für die Reichweite der phänomenologischen

Husserl, Ideen I, Hua III.1, 12–13. Vgl. Christian Bermes, ›Welt‹ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen und natürlichen Weltbegriff, Meiner, Hamburg, 2004, 165. 16 Vgl. Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt. Vorfragen zum Problem des Phänomenbegriffs, The Hague, Nijhoff, 1958, 88. 17 Fink, Sein, Wahrheit, Welt, 133. 14 15

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Methode Husserls erreicht, soll sie nicht nur als Platzhalter für andere Instanzen, so z. B. das »universal leistende, das transzendentale Leben« dienen, zu dem sie ein Korrelat bildet. 18 Gerade hier setzt Fink an mit seiner Frage, inwiefern Grundphänomene Welt in einer eminenten Weise sowohl zum Vorschein bringen als auch methodologisch für die Reflexion Anhaltspunkte bieten können. Anders als in Husserls operativer Begrifflichkeit 19 sollen sie einen expliziten Modellcharakter tragen; als Bahnen für unser Weltverständnis, insofern wir an ihnen unser Verhältnis zur Welt in dem Erscheinungsraum, den sie bietet, erfahren und diese Erfahrung selbst thematisch werden kann. Solche Grundphänomene verweisen uns auf ontologische Grundstrukturen des Erscheinungsraumes.

2.

Ontologische Grundstrukturen des Erscheinens

Ausgangsfrage in dem programmatischen Text »Phänomenologie und Dialektik« sind für Fink die Methoden philosophischer Reflexion und die Frage nach dem Grundort der Phänomenologie in der Geschichte des Denkens und seiner »Philosopheme«. 20 Fink arbeitet sich an dem Feld der Erscheinung ab, das die Phänomenologie beschreibend in den Blick nimmt: in seiner Struktur nach Nähen und Fernen, kinästhetischen Bezugspunkten und entlang des Leitmodells des »feste[n], verharrende[n] Körperdings, das in meinem Wahrnehmungsbereich liegt und um das ich wahrnehmend mich herumbewegen kann.« 21 Fink will zu anderen Leitmodellen führen: den Grundphänomenen. Ein operativer Umgang mit Ding- und Welt-Modellen aus den Sphären von Arbeit, Kampf oder von Liebe und Tod oder gar des Spiels könnte an Grenzen des bisherigen, eingefahrenen, begrifflich reich-strukturierten Seinsverständnisses führen. Denkt der Mensch […] nicht nur mit Begriffen, auch mit Symbolen und welthaltigen Bildern? […] Solche Grundphänomene sind nicht bloß Themen von hoher anthropologischer Relevanz, sie sind ursprünglicher Vollzugsweisen und Bahnen des Verstehens. Das wird meist Vgl. Husserl, Krisis, Hua VI, 148. Vgl. dazu Eugen Fink, »Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie«, in: Nähe und Distanz, 180–204. 20 Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, 228. 21 Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, 232. 18 19

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verdeckt durch die beherrschende Rolle der Sprache, welche je schon die Welt ausgelegt hat, das Seiende angesprochen, die Dinge genannt, in Namen verwahrt und festgemacht hat. 22

Eine Erfahrung der Differenz ist sprachlich niemals adäquat zu fassen; sie bleibt eine Differenz zwischen Erfahrung und der Sprache, in der sie zum Ausdruck kommen will. Bei Fink gibt es streng genommen keinen Welt-Begriff, da für ihn alles Begriffliche mit dem, was von Seiendem sagbar ist, korreliert ist, Welt indes kein Seiendes ist. Wird Welt ausgesagt, so ist sie immer schon binnenweltlich bzw. auf etwas hin verstanden: als Idee mit dem Korrelat der reinen Vernunft, als Horizont oder als ein Existenzial, damit ist bereits eine ontologische Vorentscheidung hinsichtlich der Welt getroffen. Ihr Status als Nicht-Binnenweltliches zeigt sich indes allein im »Sichentziehen«, 23 so Fink in dem ursprünglich 1966 gehaltenen Vortrag »Welt und Endlichkeit«: Er zeigt sich an im ›Nicht-sein-als…‹ bzw. ›Nicht-sein-wie…‹ : So ist es nicht von ungefähr, »daß sie vom Begriff vergessen wird. Zwar kennen wir alle immer schon Welt und wissen um sie, aber dieses Wissen um Welt ist gerade der Art, daß es kein Wissen von Welt ist […]. Unsere Weltoffenheit ist zugleich eine Art von Weltvergessenheit. Welt hat die Weise des Entzugs«. 24 Der Entzug ist kein Erscheinen, jedoch zeigt er sich uns an in der Endlichkeit unseres Erfahrenkönnens, unseres Wissens. Viel mehr aber noch: Endlichkeit ist auch die Grundweise, wie Sein als Welt Raum und Zeit für Seiendes jeweils gibt: die Unendlichkeit der Welt verendlicht sich im Hervorbringen der Phänomene, des Erscheinungsraums, der Situation; die Endlichkeit wird selbst durchzogen von Unendlichkeit. Fink konzipiert sein Weltdenken über die Raum-Zeit, die sich in unserer Endlichkeit eröffnet, in dem Zwischen und Auseinander: Der Raum und die Zeit kommen darin überein, daß sie je in verschiedener Weise ein Außereinander darstellen […], es ist immer schon ›zerstreut‹ […]; nur indem sie ein ›Inzwischen‹– und dieser Begriff ist m. E. wesentlich, denn er verweist auf die Endlichkeit: das Zerstreute ist nicht grenzenlos, sondern in einem In-zwischen, das allerdings erst Begrenzung aus sich hervorbringt, Raum gibt für Begrenzungen – schaffen, können

22 23 24

Eugen Fink, »Weltbezug und Seinsverständnis«, in: Nähe und Distanz, 272–273. Fink, Welt und Endlichkeit, 195. Fink, Welt und Endlichkeit, 196.

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Dinge in ihnen sich ansiedeln, sich ausbreiten nach Gestalt und Weile. Das Zwischen ist ein Grundzug. 25

Diese diastatische Bewegung, um hier einen Begriff von Bernhard Waldenfels aufzunehmen, 26 des Auseinandertretens, das verbindet durch den Zwischenraum, der hier entsteht – einen Zwischenraum für das Erscheinen – entwickelt Fink weiter am Leitfaden seiner Grundphänomene des menschlichen Daseins, seiner Anthropologie einer Vielfalt, einer Pluralität von Lebensformen, die indes immer in Gegensätzen zueinander stehen: Unser Wesen als Menschen lässt sich nicht einheitlich fassen, weil es gebrochen ist in den Dual der Generationen 27, in Anfang und Ende des Lebens, die beide nicht immanent eingeholt werden können – und dies entspricht der kosmologischen Dialektik von Sein und Nichts, dem Werden. Darin zeigt sich eine dialektische Homologie von Mensch und Welt: »Das Menschenleben ist eingestellt in den Spannungsbogen ursprünglicher Gegensätze, weil das Universum selbst ein Spiel von Gegensätzen ist.« 28 Es sind dies die Grundphänomene, die unrückführbar sind auf eine gemeinsame einheitliche Wurzel, es sind dies polare Gegensätze von Vereinzelung und Gemeinschaft in einem stets schon intersubjektiv bewohnten Feld: Liebe und Tod, Friede und Krieg, Familie und Staat, Freundschaft und Feindschaft, Arbeit und Muße, Heimat und Fremde, Herrschaft und Knechtschaft, Religion, Kunst und Philosophie, Ehre und Freiheit, Würde und Pietät, Totenkult, Erziehung, Sprache und Technik. 29 Dies sind Verstehensbahnen, die jeweils Weltentwürfe sind. – Und die zu kritisieren ist die der Philosophie eigentümliche Negativität, so stellt Fink dies in »Weltbezug und Seinsverständnis« dar. 30 Über die Verstehensbahnen vollzieht sich die Einrichtung in der Welt (diakosmesis): »Die Einrichtung der menschlichen Existenz in Fink, Sein, Wahrheit, Welt, 198. Vgl. dazu Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie. Psychoanalyse. Phänomenotechnik, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 2002, 173–175. 27 Und bei Fink ebenso in dem Dual der Geschlechter, den ich indes als eine anthropologische Grundannahme für problematisch halte und deshalb hier gerne von einer Pluralität der Lebensformen und -erfahrungen sprechen möchte, die nicht den dialektischen Grundgedanken aufheben, ihn indes von einer polaren zu einer multipolaren Bewegung weiterführen. 28 Eugen Fink, Existenz und Coexistenz, in: Eugen Fink Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. von Annette Hilt, Freiburg/München, Verlag Karl Alber, 2018, 214. 29 Vgl. Fink, Existenz und Coexistenz, 216. 30 Fink, »Weltbezug und Seinsverständnis«, 276–277. 25 26

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der Welt vollzieht sich in vielen Dimensionen, sie kann an Phänomenen erscheinen von verschiedenartiger Struktur.« 31 Und doch kann [d]er Weltbezug des Menschentums […] nie wahrhaft ›eindeutig‹ und ›widerspruchslos‹ bestimmt werden. Denn das Zweideutige und Widersprüchliche liegt ja nicht bloß in uns, ist kein Zeichen unserer geistigen Gebrechlichkeit; der Widerspruch ist das ur-sprüngliche, durch den Ur-Sprung und Ur-Riß bestimmte Wesen der Wirklichkeit. Weil die Welt das gegenwendige Spiel von Allheit und Vereinzelung, von Wesen und Erscheinung […] ist, ist der weltbewohnende Mensch hineingerissen in den Streit der kosmischen Mächte. 32

Welt ist selbst ein Widerspruch, ein Riss, nicht nur binnenweltlich, nicht nur im Menschen: Er zeigt sich in der existenziellen Dialektik, die ›formell‹ angezeigt ist in den Gegenbegriffen ›Heimat‹ und ›Fremde‹, wie Fink dies für das Auseinandertreten von Vertrautheits- und Fremdheitszonen ausführt. 33

3.

Was uns erscheint – und wie wir uns darin erkennen: Das Reflexionsfeld der Grundphänomene und Finks Weg zur Kosmologie

Der Mensch entspricht dem Weltall in seinem Wohnen, das wir Sitte nennen. Von dort her müssen letztlich die Grundphänomene verstanden und zuvor schon aufgesucht werden. Diese Grundphänomene lassen sich nicht schlechthin in einem einfachen ›Katalog‹ aufzählen; denn alle gebrauchten Namen sind ja schon wieder ›gebräuchlich‹, sofern sie einem bestimmten Brauchtum einer bestimmten Kultur (und hier eben unserer eigenen) zugehörig sind […]. Mit diesem Vorbehalt nennen wir einige Phänomene, die unzurückführbar scheinen auf eine gemeinsame einheitliche Wurzel. 34

Und Fink nennt hier immer wieder neue Grundphänomene, wie die eben bereits angeführten, die ebensowenig einen Katalog darstellen wie die dann in »Grundphänomene der menschlichen Existenz« 35 ausgeführte Fünfzahl. Alle Situationen können Grundphänomencharakter erhalten. Dem Sichzeigen des Seienden korrespondiert ein Fink, »Weltbezug und Seinsverständnis«, 278. Fink, Existenz und Coexistenz, 277–278. 33 Vgl. dazu Fink, Existenz und Coexistenz, Kap. 26. 34 Fink, Existenz und Coexistenz, 265–266. 35 Eugen Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg/München, Verlag Karl Alber, 21995. 31 32

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subjektives Erleben. Beides findet sich im Erscheinungsfeld bzw. in den Erscheinungsfeldern, die Raum geben und Zeit lassen, als Wo und Wann den Bezug von Mensch und Dingen konstituieren. 36 Existenzielle Dialektik gründet in der Weltdialektik, die Grundphänomene in ihren Bezügen spiegeln bereits die Weltdialektik wider. »[D]er Mensch ist wesenhaft ein Plural, und nicht deswegen, weil es faktisch zweieinhalb Milliarden gibt.« 37 Fink dagegen expliziert die soziale Beziehung über das Miteinandersein, das er auf das schärfste von dem Füreinandersein transzendental unter dem Primat des Vorstellens konstituierter Subjektivität unterscheidet. 38 Er tut dies im Rahmen einer Befragung der ontologischen Denkmotive der Philosophie, insbesondere diejenigen der Erscheinungsfelder und der Welt als Medium der erscheinenden Dinge. Fink zielt hier auf einen kosmologischen Phänomenbegriff, den eine Differenz zwischen Welt und binnenweltlichem Seienden charakterisiert, die sich in der Dialektik unterschiedlicher Erscheinungsfelder unserer gemeinsam gelebten Existenz wiederholt. Die co-existenten Subjekte sind einander fremd: Fremdheit erst ermöglicht Nähe, Nähe wird von Fremdheit herausgefordert. 39 Miteinandersein wird von Fink als eigene Seinsform, ursprünglicher als das Füreinandersein, 40 herausgearbeitet. Miteinandersein geht dem cogito sum, aber auch dem Dasein, dem es in seiner Existenz um diese Existenz selber geht, ontologisch voraus; es hat nicht die Struktur eines singulären – eigentlichen – Entwurfes und ist nicht bereits intentional auf einen Horizont von Verfügbarkeiten ausgerichtet, sondern muss seine Strukturen, Ausrichtungen, Verpflichtungen und Ordnungen erst in Formen des Zusammenlebens und deren Bezeugung bilden. Coexistenziell ist das Miteinandersein grundlos, ist bestimmt durch den Entzug seines Grundes: Es geht nicht von einem vor-verfassten Gegebenen aus, ist nicht ›Eines‹ oder ein ›Alles‹, sondern konstituiert sich aus vielen, bestimmt sich in seiVgl. Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, 242–243. Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, 261. 38 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 7 und 8 von Fink, Existenz und Coexistenz. 39 So heißt es in Fink, Existenz und Coexistenz, 276: »Das menschliche InderWeltsein […] ist in sich eigentümlich bewegt durch einen unruhigen Gegensatz […] von Heimat und Fremde. Alle unsere Lebensverhältnisse sind in das Medium dieses Widerspiels eingetaucht, alle haben von daher einen beirrenden zweideutigen Charakter, eine aenigmatische Tönung.« 40 Vgl. Fink, Existenz und Coexistenz, 84–85. 36 37

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nem status nascendi. Dies manifestiert sich für Fink in der Erfahrung der existenziellen Not, Welt miteinander zu teilen jenseits eines Eigenen und Formen des Sprechens und Handelns dafür zu finden. Die ontologische Klärung des Sozialen, der sozialen Voraussetzungen der Ontologie zeichnet aus ihr Umgang mit dem Nichts, denn jede Konstitution, im Fink’schen Sinne: jede Produktion von objektivierten Strukturen des Sinns, bedeutet einen Umgang mit dem Nichts. Produktion in diesem Sinne ist ein führendes Organ der Wirklichkeitserfassung und -bewältigung. Um dies zu verstehen, brauchen wir ein Verständnis davon, in welchem Sinn von Sein wir uns bewegen. Sinnbildung entsteht aus einem »unterirdische[n], geheime[n] Sinn, den die deutende Rede ausspart, den sie nur umgrenzt; das Unausgesprochene bildet die Sinnmitte allen offenbaren Sinnes, den Wurzelboden, aus dem jener aufwächst.« 41 Diesen noch nicht eigens zum Ausdruck gekommenen ›wilden Sinn‹, der uns das Vertrauteste ist, muss eine philosophische Auseinandersetzung zur Sprache bringen – und zwar für Fink in den existenziellen Verstehensbahnen der Grundphänomene. Unser (Fremd-)Verstehen legt sich in geteilten Praktiken aus: wie wir Welt teilen im praktischen Umgang mit bedeutsamen Dingen, wie dem Haus, dem Tisch, dem Bett oder auch anderen technischen Gegenständen, um deren Gebrauch sich Mitteilung, und eben auch Streit, um einen gemeinsamen Sinn entfaltet. Auch darin spiegelt sich die Offenheit, der nie zu Ende kommende Wandel des Kosmos, der Dinge in der Welt in ihrer Gestalt hervorbringt, wider: nämlich als Weltoffenheit der Menschen. Dieses Verhältnis zu dem bzw. den Anderen müssen wir immer wieder neu erfahren und auslegen: und zwar über die Erfahrung des Neubedeutsamwerdens, einer Situation durch bedeutsame Dinge. Diese bedeutsamen Dinge sind Symbola – Teile, die das zu verstehen geben, wovon sie Teil sind –, die auf das, was nicht erscheint bzw. nicht in einem uns sich zeigenden Sinn aufgeht, verweisen und uns dadurch einen Anspruch und eine Aufgabe stellen; darin verweisen sie auf den Zeit-Spielraum der Welt, in dem wir uns Form geben müssen. Was Welt für uns teilbar sein lässt, ihr den Charakter einer Polis gibt, in der wir uns über das gute gemeinsame Leben – die Form, die wir uns geben müssen – verständigen, ist die Bedeutsamkeit dieser Dinge. Bedeutsamkeit ist »ein Weltcharakter […], der zumeist in allem endlich-Seienden verhüllt 41

Fink, Existenz und Coexistenz, 16.

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ist, der aber aufbrechen und aufblitzen kann als die un-endliche Tiefe alles Endlichen«. 42 Die Dinge sind welttief, sie sind nicht nur Zeichen für anderes, sondern zeigen das Verhältnis von uns zur Welt und ihrer Offenheit auf. Bedeutsam werden diese Dinge in ihrem gemeinsamen Gebrauch, wo wir ihre unendlichen, sich wandeln könnenden Bedeutungen erfahren, wo sie für uns einen Aufgabe-Charakter erhalten: Wir erfahren an ihnen unsere Lebensbedürfnisse, daher sind die Umgangsdinge für Fink Symbola einer leibnahen Existenz: Der Tisch, die Nahrungsmittel, Grab und Mahnmal der Erinnerung, Symbola, an denen wir den Wandel der Generationen erfahren. In ihrer Bedeutsamkeit, die in ihrem notwendenden Charakter, unserer Endlichkeit eine Form zu geben, liegt, teilen sie Welt, indem sie die einzelnen leiblichen Subjekte dezentrieren: 43 nicht indem sie Welt auf- und zuteilen, nicht, insofern sie Konventionen der Sinnstiftung gegen andere auszeichnen oder als Ausdruck unserer subjektiven Vorstellungen fungieren, sondern indem sie versammeln, indem sie zwischen uns sind, wir mit ihnen gemeinsam die Aufgabe der Sinnbildung bewältigen müssen. Dabei werden wir Teil eines Ganzen, das selbst wiederum in größeren (unendlichen: ich komme darauf zurück) Bezügen steht, also nie abgeschlossen ist: der Tischgemeinschaft, einer Generation, einer Kultur; Symbola bilden nicht allein unsere vertraute Umwelt, sondern führen, wenn sie Menschen um sich versammeln, immer auch zu einer Verwandlung unseres alltäglichen Weltverständnisses, sie gehen nicht auf in dem Sinn, den wir ihnen beilegen, sie haben ihre eigene Macht, eine Situation zu gestalten aus einer Abwesenheit von gesetztem Sinn, was wiederum auf einen das Sein transzendierenden Fink, Existenz und Coexistenz, 127. Wir alle haben auf je eigene Weise mit ihnen zu tun, dies aber gemeinsam. Der jeweilige Einzelbezug zum Ding steht zugleich zu unseren Beziehungen mit anderen Menschen. Maurice Merleau-Ponty fasst dies in seinem späten Aufsatz »Die Wahrnehmung des Anderen und der Dialog« über die intercorporalité: »Der Leib des Anderen ist vor mir – aber was ihn selbst betrifft, so führt er ein einzigartiges Dasein: zwischen mir, der denkt, und jenem Leib oder eher neben mir, an meiner Seite, taucht er auf wie eine Nachbildung meiner selbst, ein umherirrendes Doppel, er treibt sich eher in meiner Umgebung herum, als daß er in ihr erschiene« (Maurice MerleauPonty, »Die Wahrnehmung des Anderen und der Dialog«, in: Maurice Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, hrsg. von Claude Lefort, übers. von Regula Giuliani, München, Wilhelm Fink Verlag, 1993, 147–162, hier 149). Wobei Fink selbst jegliche Implikation einer Verdoppelung oder Paarung verwirft.

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Entzug, einen Bruch mit dem Sein, verweist: eben wiederum auf eine Ent-fremdung. Menschen, die Gemeinschaft bilden und sie teilen, nehmen sich in ihr Gebilde, in dessen Lebensordnung mit hinein. Diese Ordnung ist keine geschlossene Region, alles kann bedeutsam werden, es ist die Sphäre der Erfahrung von Welt und der Symbola, an denen sich gerade das in einer negativen Weise mit zeigt, was noch in statu nascendi ist: nämlich eine verborgene Dimension, aus der her Dinge bedeutsam werden: eben Welt in der Differenz zum Binnenweltlichen. Die sittliche Welt, und d. h. immer auch die Gemeinschaftswelt des Menschen kann nie auf ein einziges Elementarphänomen reduziert werden; sie ist immer eine Dimension der Spannungen, der Gegensätze, der Widersprüche; aber diese Gegensätze bestehen nicht einfach und sind bewegungslos beisammen, – sie gehen vielmehr in einer schwierig zu charakterisierenden Art gegenwendig ineinander über; sie fordern einander heraus, durchdringen, stören und hemmen einander. 44

Fink spricht anderen Orts von Verfremdung, 45 um die Differenz im sozialen Feld nicht mit der historischen ›Hypothek‹ des Entfremdungsbegriffs zu belasten; doch: ist ›Ent-fremdung‹ ähnlich belastet? Zeigt sich hier – in der Differenz – nicht auch eine Bewegung? Eine Bewegung, in der ›Fremde‹ als eine Erfahrung erscheint, die nicht ein Gegensatz, ein Gegenüber ist, sondern in Bewegung, die auch zur Nähe werden kann. Hier zeigt sich ein Zeitspielraum der kosmologischen Dialektik an. Sie bringt uns in die Ent-fremdung der Grundphänomene, unsere Verständigungsbahnen, die eigens zu bedenken sind darüber, wie wir sie erfahren: »Die Dialektik sollte nicht als eine fremde, andersartige Methode der phänomenologischen Denkweise gegenübergestellt werden, es kam darauf an, aus den phänomenologischen Gedanken selbst die dialektische Unruhe des Denkens hervorbrechen zu lassen.« 46 Fink will gerade der Gegensatzbildung, die im Entfremdungsbegriff mitschwingt – Natur-Kultur/Natur-GeFink, Existenz und Coexistenz, 263. Hegel löst den Dual im Zuge des Übergangs von der Substanz zum Subjekt wieder auf; der Dual ist bei ihm nicht auf einen Dualismus der Weltmomente zurückgedacht, sondern auf den Unterschied von Sein und Nichts (vgl. Fink, Existenz und Coexistenz, 264). Jedoch verklammert Hegel antike und neuzeitliche Dialektik, insofern er die Wissbarkeit des Seienden mit der Selbstentfaltung der Dinge verklammert (vgl. Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, 238). 45 Vgl. Eugen Fink, »Phänomenologische Probleme der Verfremdung«, in: Nähe und Distanz, 250–267, hier 250. 46 Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, 245. 44

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schichte sind in diesem Gegensatz Konstrukte – vorbeugen. In der Existenz- und dann der Weltdialektik setzt er gerade an dem Gegensatz Mensch-Welt zuallererst an: Der Mensch ist in der Welt, ist Teil von ihr und trägt sie in sich als in der Welt Erscheinender, und gerade hier kommt nun der kosmische Weltbegriff in seiner kosmologischen Differenz zum Binnenweltlichen in unsere Erfahrung und führt zur Frage: »was ›Fremde‹ überhaupt und ursprünglich« 47 sei. Ent-fremdung über die Symbola wird so selbst zu einer dialektischen Bewegung. Durch die kosmologische Dimension von Welt wird unser Erfahren auf die Differenz von binnenweltlichem Erscheinen und dem Erscheinungsfeld, das als Unendliches nicht phänomenal gefasst werden kann, gelenkt. Diese Differenz ersetzt den Horizontbegriff, der bei Husserl als Leerhorizont noch athematisch zu fassen gesucht wurde, den Fink jedoch nun aus dem intentionalen Zugriff zu lösen sucht: Der Horizont darf nicht mit der Welt gleichgesetzt werden, Welt ist kein Gegenstand. Dafür gilt es, eine Sprache zu finden, und dies betrifft insbesondere auch die Alterität, die Fremdheit des anderen Menschen in seiner Mitgegenwart. Aus einem Feldbegriff der Existenz, in dem Sein, Mensch und Welt (und damit auch das, was erscheint: nämlich das Phänomen in seiner Wirklichkeit und der ZeitRaum des Erscheinens) miteinander verklammert sind, lässt sich ein Weg von der Ontologie zur Kosmologie einschlagen. Das Miteinander ist eine Spannung: Nicht im Sinne des Füreinander, Gegenstand der Vorstellung zu sein, sondern darin, aufeinander verwiesen zu sein, füreinander einzustehen. Dies kann sich gleichwohl auch als ein Gegeneinander auslegen: »Von der Widersprüchlichkeit der Welt selber her hat das Dasein des Menschen seine existentielle Dialektik, die wir formell anzeigten mit den Gegenbegriffen ›Heimat‹ und ›Fremde‹. Wir wohnen heimatlich und fremd zugleich im Ganzen. Und dies nicht in einer fix unterscheidbaren Weise, sondern in seltsamen Übergängen.« 48 Das Sinnfeld des menschlichen Daseins gründet in der Weltoffenheit – und somit alle zwischenmenschliche Gesellung in der Urgesellung von Kosmos und Mensch. Aber nun drängte die Frage sich immer stärker auf, wie denn der Kosmos zu denken sei: als eine ungeheure Sphäre gemeinsamen An-

47 48

Fink, Existenz und Coexistenz, 269. Fink, Existenz und Coexistenz, 278.

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wesens der Dinge, endlos ausgebreitet in Raum und Zeit, also ein Feld der durchgängigen Vereinzelung und Versammlung […]? 49

Und es drängt sich die Frage auf, wie Welt als dieser Raum zu verstehen sei. Husserls methodologische Herangehensweise gründet in der Autonomie: in der Freiheit zu zweifeln: »Der universelle Zweifelsversuch gehört in das Reich unserer vollkommenen Freiheit: Alles und jedes, wir mögen noch so fest davon überzeugt, ja seiner in adäquater Evidenz versichert sein, können wir zu bezweifeln versuchen« 50. Ich möchte hier nun zu einer etwas anderen Kategorie und dem abschließenden Schritt – der Weltdialektik – kommen: mit der dritten Frage, wann und wo Phänomene erscheinen, wie dieser Zeitraum zu verstehen sei. Finks ›diastatisches Denken‹ von Welt (vgl. oben S. 402, in der sich Endliches und Unendliches nicht entgegenstehen, sondern sich immer wieder neu und anders gegeneinander abheben, lässt sich womöglich in ein Gespräch mit Levinas bringen, der auf die »Idee des Unendlichen«, Descartes’ Einsicht, wie sich das Ich, das denkt, zum Ganzen, zum Umgreifenden bezieht, rekurriert, um die Stellung der Alterität als Grundproblem der sozialen Beziehung zu schärfen: Diese Beziehung [von Ich zum Ganzen, A. H.] ist nicht die Beziehung zwischen dem Enthaltenden und dem Inhalt – denn das Ich kann das Unendliche nicht enthalten – noch die Beziehung, die den Inhalt an das Enthaltende bindet – denn das Ich ist vom Unendlichen getrennt. Diese also negativ beschriebene Relation ist die Idee des Unendlichen in uns. […] Das Unendliche geht nicht ein in die Idee des Unendlichen, wird nicht begriffen; diese Idee ist kein Begriff. Das Unendliche ist das radikal, das absolut Andere. Die Transzendenz des Unendlichen mir gegenüber, der ich davon getrennt bin und es denke, stellt das erste Zeichen seiner Unendlichkeit dar. 51

Wie lässt sich Levinas’ Sprechen von der Transzendenz des Unendlichen mit Finks ›Außereinander‹ von Endlichkeit und Unendlichkeit in Beziehung bringen? Bei Levinas verweist die Transzendenz des Unendlichen auf ein radikales Außen; Fink spricht von der Spannung Fink, Existenz und Coexistenz, 268. Husserl, Ideen I, Hua III.1, 62. 51 Emmanuel Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, in: Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München, Alber, 2012, 185–208, hier 196–197. 49 50

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von Gegensätzen, in der sich Transzendenz für unsere Erfahrung öffnet, Transzendenz in der Welt selbst aufbricht: Welt, erfahren entlang der Verstehensbahnen der Grundphänomene und Symbola, führt zu einer besonderen Erfahrung einer Transzendenz, eines Zeitraumes, der Welt in ihrer Dialektik von Sein und Nichts, dem Erscheinenden und was erscheint, geöffnet durch einen Bruch des Horizontes unserer Wahrnehmung und der Vorstellung; erfahrbar als eine Differenz zu der Welt. Bernhard Waldenfels nennt dies eine »Intrige« in der Nähe, die das außer-ordentliche Ereignis von Sagen und Gesagtem knüpft: Nähe, die zur Annäherung und zur Verstrickung zwischen dem, der spricht, und demjenigen, an den das Sagen adressiert ist, führt. 52 Anders formuliert: Die Verstrickung zwischen dem Erfahrenen in unserer gemeinsamen Existenz und dem Erfahrungszeitraum; die Erfahrung, dass Sein und unser Dasein nicht aufgehen im Phänomensein, und eben auch nicht in einem subjektiven Idealismus, der seine Verständigungsbahnen in der Welt frei-spielend entwirft.

4.

Weltdialektik und die Idee des Unendlichen

Die Erfahrung, die Idee des Unendlichen bewährt sich im Rahmen der Beziehung zum Anderen. Die Idee des Unendlichen ist die soziale Beziehung. Diese Beziehung besteht in der Annäherung an ein absolut äußeres Wesen. Das Unendliche dieses Wesens, das man eben darum nicht enthalten kann, gewährleistet und konstituiert dieses Außerhalb.53

Grundphänomene und die in ihren Verstehensbahnen um die Symbola gebildeten Praktiken können das Ausgeschlossene versammeln: in ihrer Ent-fremdung der Situation, die diese eigens zum Thema unseres Miteinanderteilens und -handelns macht. Am Tisch, der versammelt, erfahren wir, dass wir aufeinander bezogen sind, etwas teilen und dass wir dies in seiner Bedeutsamkeit mitteilen können und müssen. In den Symbola werden Sinnbezüge, in denen wir leben, zum Vorschein gebracht und werden im Umgang mit den Dingen gestaltbar. Das Phänomenale ist das, was sich zeigt und sichtbar ist; sofern es aber nicht darin aufgeht, sichtbar zu sein, ist es Symbolon Vgl. Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 2005, 90. 53 Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, 198. 52

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und erhält eine spekulative Struktur, die über das vorstellende Denken hinausgeht: Philosophisch stellt sich am Symbolon die Frage nach dem, was niemals in der Wirklichkeit erscheint und das gleichzeitig als Lücke in der Wirklichkeit angezeigt wird, indem einzelne Dinge, Teilausschnitte der Wirklichkeit, eine Ahnung an das Ganze spiegeln: Nicht spiegeln in einem von uns unabhängigen Sinne, sondern darin, wie wir diese Dinge miteinander teilen, sie mit-teilen, über sie auseinandersetzen: Sie beziehen uns auf Welt. »Welt-teilen ist allein das echte und wahre Mit-Teilen. […] das, worein man sich teilt, ist nicht eine Sache, die zerrissen oder auseinandergenommen wird, noch ein vorstellungsmäßiges Dabeisein bei einer Sache.« 54 Grundphänomene ermöglichen ein Pathos der Distanz: ein Pathos als Angegangensein, das uns aus unseren alltäglichen Bezügen ver-rückt, aus ihnen entsteht Aufmerksamkeit, die feststehenden Begrifflichkeiten misstraut und auf operative Begrifflichkeiten aufmerkt. Das Unendliche bei Fink zeigt sich in der Weltdialektik: »Völlig anderer Struktur sind die dialektischen Verhältnisse, in denen unausweichlich das Weltganze für unser Vorstellen zu groß und für unsere Begriffe unfaßlich, für unser Sagen unsäglich wird« 55, und die uns über unsere Endlichkeit und die des Binnenweltlichen hinaustreiben, uns für die Erfahrung von Transzendenz öffnen: So endet er seinen Aufsatz zu »Phänomenologie und Dialektik«. Mit Levinas könnte diese Aufmerksamkeit für die Strukturen der coexistenziell verfassten Welt als Nicht-Indifferenz, als ein dialektisches Geschehen zwischen Menschen verstanden werden: »Aufmerksam-Werden [éveil, Erwachen] des Ich durch den Andern, des Ich durch den Fremden, des Ich durch den Heimatlosen, das heißt durch den Nächsten … Aufmerksamkeit, die weder Reflexion über sich selbst noch Universalisierung ist; Aufmerksamkeit, die eine Verantwortung bedeutet für den Andern […] ohne die Möglichkeit, mich zu entziehen.« 56 Bei Fink hat eine solche Aufmerksamkeit, geboren aus der Erfahrung des Nichts, der Not und der Freiheit, Not zu wenden in der Immanenz des Mit-einander-Seins selbst. So ist nicht alles, was geschieht, in Beliebigkeit nivelliert, sondern erhält in den Grundphänomenen, den Lebensformen des menschlichen Daseins als SymFink, Existenz und Coexistenz, 131. Fink, »Philosophie und Dialektik«, 249. 56 Emmanuel Levinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übers. von Frank Miething, München, Hanser, 1995, 85–86. 54 55

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bol des Zwischens von Sein, Mensch und Welt Intensität und notwendende Macht. Aufmerksamkeit im Umgang mit den Grundphänomenen, ihrer Macht, will geübt sein an dem Zwischen, wo wir Sein, Mensch und Welt erfahren, indem wir die unendliche Dialektik des Seienden und der Existenz zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit erfahren. Und dieses Einüben ist eine Kunst, an die uns nicht zuletzt die Phänomenologie und ihre Formen der Ent-fremdung erinneren und die sie uns lehren, die uns immer nur wieder verweisen auf Welt, die nicht zu fassen ist, weil sie Freiraum bleibt des Erscheinens von Differenzen. In dieser Aufgabe liegt die Lebendigkeit der Phänomenologie und auch ihr Potenzial, die Welt aus einem uns nur allzu bekannten Alltag durch eine neu zu gewinnende Aufmerksamkeit auf Unscheinbares unterhalb der Phänomenschwellen des uns Vertrauten, das wir in seiner Virulenz für uns entdecken müssen, für unser Denken und Handeln wiederzugewinnen: das Problem, das wir uns selbst sind als diejenigen, die Lebenswelt gestalten (müssen), könnte sich als eine lebendige Frage, als Form der Phänomenologie erweisen, worauf diese immer wieder verwiesen und woran sie selbst sich ihre Lebendigkeit zu denken bewahrt hat. 57

Vgl. dazu: Annette Hilt, »Welt als Spielraum des Politischen«, in: Cathrin Nielsen/ Hans Reiner Sepp (Hrsg.), Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München, Verlag Karl Alber, 2011, 267–292.

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Wahrheit im Leben Die grundlegende Pluralität der Seinsarten in Sein und Zeit versus pragmatistische Deutungsansätze Anne Kirstine Rønhede

Abstract: In dem vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, inwiefern Martin Heidegger mit seiner in Sein und Zeit entworfenen Wahrheitskonzeption die Wahrheit im Leben verortet. Dafür werden zwei unterschiedliche Interpretationen dieser Verortung einander gegenübergestellt. Es handelt sich einerseits um eine Auslegung der Wahrheitskonzeption, die als Seinsweisen-Auslegung benannt werden soll, und andererseits um die unterschiedlichen pragmatistischen Auslegungen Hubert Dreyfus’ und Mark Wrathalls. Mit Ausgangspunkt in der Seinsweisen-Auslegung wird dafür argumentiert, Heidegger nicht als Pragmatisten auszulegen. This contribution aims to show how Martin Heidegger’s concept of truth, as developed in Being and Time, locates truth as belonging to life as lived. In order to explicate this, I will compare two different lines of interpreting Heidegger’s positioning of truth within the lived life: on one hand an interpretation that I will call the »ways-of-being« interpretation and, on the other hand, Hubert Dreyfus’ and Mark Wrathall’s various pragmatist interpretations. Based on the ways-of-being-interpretation, I will argue against a pragmatist reading of Heidegger.

1.

Einleitung

Mit dem Pragmatismus, der von Charles Sanders Peirce und William James Ende des neunzehnten Jahrhunderts begründet wurde, wird die Wahrheit im Leben, wie es vom Menschen vollzogen wird, verortet: »Das einzige Kriterium für potenzielle Wahrheiten, das der Pragmatismus gelten lässt, ist die Frage, was uns am zuverlässigsten anleitet, was zu jedem Teil des Lebens am besten passt und sich mit der Gesamtheit der Forderungen aus der Erfahrung verbindet und nichts

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davon auslässt.« 1 Die pragmatistischen Auffassungen 2 der Wahrheit richten sich so gegen die klassische Konzeption der Wahrheit als Korrespondenz zwischen dem Denken und einer absoluten Realität. Einer der Anreize der pragmatistischen Wahrheitsauffassung besteht somit darin, die Wahrheit nicht als abstraktes Gebilde zu behandeln, sondern sie mit der menschlichen Erfahrung in Verbindung zu bringen: »›Wahrheit‹ bedeutet […] nichts anderes, als dass Vorstellungen (welche selbst nur Teile unserer Erfahrungen sind) genau insofern wahr werden, wie sie uns dazu verhelfen, in befriedigende Beziehung zu anderen Teilen unserer Erfahrung zu treten« 3. Auch die Wahrheitskonzeption Martin Heideggers, wie sie in Sein und Zeit (SuZ) entfaltet wird, 4 richtet sich gegen die klassische Korrespondenztheorie der Wahrheit und verbindet die Wahrheit mit menschlicher Erfahrung. 5 Manche Interpreten haben SuZ sogar insgesamt als pragmatistisches Projekt ausgelegt. 6 Im vorliegenden Beitrag wird jedoch dafür argumentiert, Heidegger nicht als Pragmatisten einzustufen, auch wenn er die Wahrheit im Leben, wie es von uns 1 William James, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, übers. und hrsg. von Klaus Schubert/Axel Spree, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 2016, 51. 2 Schon bei den klassischen Autoren des Pragmatismus finden sich Unterschiede in den Darstellungen eines pragmatistischen Wahrheitsbegriffs. John Capps hat die Unterschiede zwischen den Darstellungen bei Peirce, James und später John Dewey folgendermaßen zusammengefasst: »Peirce is associated with the idea that true beliefs are those that will withstand future scrutiny; James with the idea that true beliefs are dependable and useful; Dewey with the idea that truth is a property of well-verified claims (or ›judgments‹)«. Capps, John, »The Pragmatic Theory of Truth«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2019 Edition), Edward N. Zalta (Hrsg.), URL = https://plato.stanford.edu/archives/sum2019/entries/truth-pragmatic/. Im vorliegenden Zusammenhang werden diese Unterschiede nicht im Zentrum stehen. 3 James, Pragmatismus, 38. 4 Mit ›Heideggers Wahrheitskonzeption‹ ist hier durchgehend die Konzeption gemeint, deren Basis sich in Sein und Zeit (SuZ) findet und um die sich die Debatte in der Forschungsliteratur vorwiegend dreht. 5 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (im Folgenden SuZ), Tübingen, Max Niemeyer, 1967, § 44. Es wird im Falle von SuZ nicht aus der Gesamtausgabe zitiert. 6 Für eine sehr ausführliche Argumentation siehe Mark Okrent, Heidegger’s Pragmatism. Understanding, Being, and the Critique of Metaphysics, Ithaca, London, Cornell University Press, 1988. Im deutschsprachigen Raum plädiert Carl Friedrich Gethmann dafür, Heidegger der pragmatistischen Strömung zuzuordnen: »Die Philosophie von Sein und Zeit ist die im deutschsprachigen Bereich früheste Konzeption eines konsequenten Pragmatismus« (Carl Friedrich Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin/New York, de Gruyter, 1993, 285). Weitere Auslegungen werden im Folgenden behandelt.

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Wahrheit im Leben

vollzogen wird, 7 verortet. Als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der pragmatistischen Auslegungsrichtung soll eine Auslegung der Wahrheitskonzeption Heideggers vorgestellt werden, die diese Konzeption mit seinen Beschreibungen unterschiedlicher Seinsarten in Verbindung bringt. Dabei wird im vorliegenden Zusammenhang nicht auf die Frage eingegangen, inwiefern es sich um eine gelungene Konzeption handelt bzw. wie sie als Wahrheitskonzeption ›fungieren‹ kann. 8 Die grundlegende Frage ist hier erstmal, in Bezug worauf solche Fragen überhaupt zu stellen sind, d. h. um welche Art von Konzeption es sich überhaupt handelt. Damit ergibt sich für den Beitrag folgende Gliederung: Zunächst soll der Zusammenhang zwischen Heideggers Wahrheitskonzeption und seinen Beschreibungen der unterschiedlichen Seinsarten dargelegt werden (3). Davor muss kurz darauf eingegangen werden, was überhaupt unter ›Seinsart‹ zu verstehen ist (2). Darauf folgt eine Gegenüberstellung von Annahmen der vorliegenden Auslegung von Heideggers Konzeption mit zentralen Elementen aus pragmatistischen Deutungen (4). Abschließend soll zusammengefasst werden, inwiefern Heidegger mit seiner Konzeption die Wahrheit im Leben verortet (5). Im Folgenden bezeichnet ›Leben‹ durchgehend das Leben, wie es vom Menschen vollzogen wird. Dabei muss im Blick behalten werden, dass Heidegger hierfür die Bezeichnungen ›Dasein‹, ›Existenz‹ und ›Sorge‹ bevorzugt und die Bezeichnung ›Leben‹ häufig – jedoch nicht ausschließlich – für die Seinsart der Tiere und Pflanzen verwendet (vgl. Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, in: Gesamtausgabe [im Folgenden GA], Bd. 27, hrsg. von Otto Saame/Ina Saame-Speidel, Frankfurt a. M., Klostermann, 22001, 71; Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: GA, Bd. 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 32004, 266, 277). 8 Es soll dennoch bemerkt werden, dass sowohl in Bezug auf Heideggers Wahrheitskonzeption als auch bezüglich des Wahrheitsbegriffs im klassischen Pragmatismus infrage gestellt wird, ob diese überhaupt als taugliche Wahrheitskonzeptionen bzw. als Wahrheitstheorien im engeren Sinne gelten können. Taylor Carman z. B. verneint dies (sowie die gleiche Frage in Bezug auf Husserls Theorie und die Kohärenztheorie der Wahrheit): »Is Husserl’s theory a substantive theory of truth? Not exactly. It is, after all, part of a phenomenology of conscious experience. It is therefore doomed as a theory of truth for the same reason pragmatist and coherence theories are doomed. Why? Because, at the end of the day, everything they say about what constitutes truth is consistent in principle with the belief or proposition in question in fact being false. […] Heidegger’s account of truth, it seems to me, is descriptive, hence nontheoretical, in the same way.« Taylor Carman, »Heidegger on Unconcealment and Correctness«, in: Sebastian Gardner/Matthew Grist (Hrsg.), The Transcendental Turn, Oxford, Oxford University Press, 2015, 264–277, hier 272. 7

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Anne Kirstine Rønhede

2.

Seinsarten

Bevor für den Zusammenhang zwischen Wahrheitsformen und Seinsarten in SuZ plädiert wird, soll kurz erörtert werden, wie die Zuordnung des Seienden zu Seinsarten (die übrigens an manchen Stellen von Heidegger auch als ›Seinsweisen‹ bezeichnet werden) 9 überhaupt zu verstehen ist. Was heißt es, dass Seiendes in unterschiedlichen Arten sein kann? 10 Im Blick darauf, wie wir leben, wird deutlich, so Heidegger, dass das Seiende, das uns begegnet, als etwas begegnet. Ein Seiendes kann als Teil der Natur, als lebendiges Wesen, als Gebrauchsgegenstand, als Objekt, das näher untersucht werden kann, als abstrakte Entität wie eine Zahl, als Kunst usw. begegnen. Damit uns das Seiende so begegnet, müssen wir es nicht zuerst analysieren, sondern indem wir leben, ist uns Seiendes schon in unterschiedlichen Weisen gegeben: Dieses Als-Was, von dem her ich verstehe, und das ich im vorhinein schon habe, aber unthematisch, ist dabei in diesem »Im vorhinein haben« nicht etwa thematisch erfaßt, ich lebe im Verständnis von Schreiben, Beleuchten, Aus- und Eingehen und dergleichen. Genauer: ich bin – qua Dasein: sprechend – gehend – verstehend – verstehender Umgang. Mein Sein in der Welt ist nichts anderes als dieses schon verstehende Sichbewegen in diesen Weisen des Seins. 11

9 Vgl. Heidegger, SuZ, 241 oder Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 107; an diesen Stellen nutzt Heidegger die Bezeichnungen ›Seinsart‹ und ›Seinsweise‹ synonym; siehe in diesem Zusammenhang auch die nachfolgende Fußnote. Es lässt sich aber dafür argumentieren, dass Heidegger an anderen Stellen ›Seinsweise‹ eher in Bezug auf die Weisen, in denen ein Seiendes innerhalb einer Seinsart ist, verwendet, wie z. B. im Folgenden: »Die Selbstständigkeit [d. h. die Ständigkeit des Selbst] ist eine Seinsweise des Daseins« (Heidegger, SuZ, 375). 10 Heidegger stellt diese Frage selbst etwas ausführlicher: »Jedes Seiende hat eine Weise-zu-sein. Die Frage ist, ob diese Weise-zu-sein in allem Seienden denselben Charakter hat – wie die antike Ontologie meinte und im Grunde auch die Folgezeit noch bis heute behaupten muß – oder ob einzelne Seinsweisen unter sich unterschieden sind. Welches sind die Grundweisen des Seins? Gibt es eine Mannigfaltigkeit? Wie ist die Vielfältigkeit der Seinsweisen möglich und aus dem Sinn des Seins überhaupt verständlich? Wie kann trotz der Vielfältigkeit der Seinsweisen von einem einheitlichen Begriff des Seins überhaupt gesprochen werden?« (Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, in: GA, Bd. 24, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1975, 24). 11 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, in: GA, Bd. 21, hrsg. von Walter Biemel, 1976, 146.

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Wahrheit im Leben

Was hier in Bezug auf unterschiedliche Weisen des Daseins zu sein ausgesagt wird, nämlich, dass sie schon gegeben sind (ohne thematisch erfasst zu sein), indem wir leben, lässt sich auch bezüglich der Seinsarten, die gleich umrissen werden, feststellen. 12 Dadurch wird zwar nicht klar, wodurch es die Seinsarten gibt, es wird aber betont, dass sie zum In-der-Welt-sein ›dazugehören‹. Heidegger hebt in der späteren Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik hervor, dass wir im Verhalten mit großer Sicherheit und Selbstverständlichkeit zwischen unterschiedlichen Seinsarten unterscheiden, jedoch unsicher oder sogar indifferent diesen Unterschieden gegenüber sind, wenn es darum geht, sie begrifflich zu fassen: 13 [S]o indifferent die jeweilige Seinsart eines Seienden gegen die andere für uns zunächst sein mag (Mensch, Vorgang), insbesondere hinsichtlich der begrifflichen Artikulation, unser faktisches Verhalten zum Seienden ist doch je entsprechend anders, also different. Der eigentümlichen Indifferenz des Wissens und Verstehens entspricht eine ganz sichere Differenz des Verhaltens, des Eingespieltseins auf das betreffende Seiende. 14

An dieser Stelle soll in Bezug auf die Frage, wie ›Seinsart‹ zu verstehen ist, festgehalten werden, dass wir im Leben sicher zwischen unterschiedlichen Arten zu sein unterscheiden. Wir gehen mit einem Seienden in der Seinsart eines Kunstwerks anders um als mit einem Seienden in der Seinsart eines Gebrauchsgegenstands – auch wenn beide sich ähneln können. Die drei Seinsarten, die in SuZ eingehend thematisiert werden, nennt Heidegger Vorhandenheit, Zuhandenheit und Dasein. Sie können hier nicht ausführlich beschrieben, aber wenigstens durch einige Stichworte gekennzeichnet werden. Heidegger benennt in den Vorlesungen aus der Zeit um das Jahr 1927 (in dem SuZ erschien) auch andere Seinsarten, wie etwa Bestand bzw. Beständigkeit, 15 um nur ein Beispiel zu nennen. Dass hier nur die drei Seinsarten, die SuZ ausDas heißt nicht, dass alle Seinsarten gleichzeitig gegeben sind, sondern nur, dass wir, indem wir Seiendes entdecken (egal welches), dieses innerhalb einer Seinsart entdecken. 13 Später wird er daher zwischen Wesenskenntnis und Wesenserkenntnis unterscheiden: »Die Wesenskenntnis bleibt uns ebensosehr geläufig und notwendig, wie die Wesenserkenntnis und das Wesenswissen uns rätselhaft und willkürlich erscheint« (Martin Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, in: GA, Bd. 45, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1984, 81). 14 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 515. 15 Vgl. z. B. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 14. 12

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führlich behandelt, vorgestellt werden, soll demnach nicht so verstanden werden, dass Heidegger ausschließlich drei Seinsarten vor Augen hatte. Formelhaft gefasst kann gesagt werden, dass ein Seiendes vorhanden ist, wenn es als Objekt in der Welt, also als Seiendes, das mit sich selbst identisch ist und gewisse Eigenschaften hat, entdeckt wird. 16 Wenn man an das, was man normalerweise ›Dinge‹ nennt, denkt, denkt man in Heideggers Terminologie an ›vorhandenes Seiendes‹. Zuhanden ist ein Seiendes dagegen im Gebrauch, wenn es für einen Zweck eingesetzt wird und dabei selbst eher unauffällig 17 ist. Weil sich das Seiende in dieser Seinsart ›zurückzieht‹, so dass die Aufmerksamkeit nicht direkt darauf gerichtet ist – sondern auf das, was zu tun ist –, wurde diese Seinsart in der Geschichte der Philosophie laut Heidegger »übersprungen« 18. Die Seinsart des Daseins – also das Sein des Menschen – in nur einem Satz zusammenzufassen, ist ein Unterfangen, das lieber Heidegger selbst überlassen werden soll: »Als der Sinn des Seins des Seienden, das wir Dasein nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen.« 19 Das lässt sich auch so formulieren, dass wir als diejenigen sind, die zu sein haben – oder wieder in Heideggers Terminologie: Wir sind als »geworfener Entwurf« 20. Auch diese Seinsart wurde außer Acht gelassen, da sie uns so »nah« sei, dass wir sie nicht sehen, so Heidegger. 21 Es gilt jetzt zu zeigen, dass die Pluralität der Wahrheitskonzeption in SuZ dem Anvisieren dieser unterschiedlichen Seinsarten entspringt.

Die Vorhandenheit wird in SuZ oft negativ als die Seinsart, in der die Menschen (oder das Zeug) nicht sind, thematisiert. Das ist auch der Fall an den Stellen, an denen die oben genannten Stichworte verwendet werden. Vgl. Heidegger, SuZ, 158, 179, 192. 17 »Die privativen Ausdrücke wie Unauffälligkeit, Unaufdringlichkeit, Unaufsässigkeit meinen einen positiven phänomenalen Charakter des Seins des zunächst Zuhandenen« (Heidegger, SuZ, 75). 18 Vgl. Heidegger, SuZ, 95. 19 Heidegger, SuZ, 17. 20 Heidegger, SuZ, 285. 21 Vgl. Heidegger, SuZ, 16. 16

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3.

Seinsarten und Wahrheitsformen

Seitdem versucht wird, eine Antwort auf Ernst Tugendhats Kritik an Heideggers Wahrheitskonzeption zu liefern, 22 ist immer wieder die Ansicht vertreten worden, bei Heideggers Wahrheitsbegriff handle es sich um einen äquivoken Begriff. 23 Dabei hat Christoph Martel den Begriff ›alethischer Pluralismus‹ in Bezug auf Heideggers Konzeption ins Spiel gebracht. 24 Auch die vorliegende Auslegung von Heideggers Konzeption ließe sich als ›alethischer Pluralismus‹ bezeichnen, obwohl sie sich von der Auslegung Martels unterscheidet: Während Martels Ausgangspunkt in der Annahme besteht, Heidegger würde nicht nur die Aussagewahrheit, sondern auch »jene Fundamente […], die seine Analyse herausstellt« 25 – nämlich »Selbstverhalten und Existenz« 26 – als Wahrheit bezeichnen, 27 geht die vorliegende Auslegung einen Schritt weiter. Es wird hier angenommen, dass die Tatsache, dass Heidegger die Fundamente der Aussagewahrheit als Wahrheit auslegt, vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zu unterschiedlichen Seinsarten gesehen werden muss. 28 Die grundlegende Annahme ist also, dass die Pluralität im Wahrheitsbegriff Heideggers nicht ausschließlich mit der Fragestellung nach der Bedingung der Möglichkeit von Aussagewahrheit zu verbinden Vgl. Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin, de Gruyter, 1970. 23 Vgl. Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln, 123; Mark A. Wrathall, Heidegger and Unconcealment. Truth, Language, and History, Cambridge, Cambridge University Press, 2011, 11–39. 24 Christoph Martel, Heideggers Wahrheiten. Wahrheit, Referenz und Personalität in Sein und Zeit, Berlin/New York, de Gruyter, 2008, 251–255. 25 Martel, Heideggers Wahrheiten, 2. 26 Martel, Heideggers Wahrheiten, 3. 27 Die Pluralität in Heideggers Wahrheitsbegriff wird von Martel durch den Hinweis auf Heideggers Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der Aussagewahrheit erklärt. Vor Martel findet sich diese Auslegung bereits bei Hubert Dreyfus, mit dem Martel im Austausch war (und in der deutschen Literatur bei Carl Friedrich Gethmann). Vgl. Hubert Dreyfus, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge (Mass.)/London, The MIT Press, 1991, 270–273; Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln, 121–128. 28 Überraschenderweise wurde diese Verbindung zwischen Heideggers Wahrheitskonzeption und seinen ausführlichen Untersuchungen zu unterschiedlichen Arten und Weisen zu sein meines Wissens bisher nur von László Tengelyi explizit aufgegriffen. Vgl. László Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, Freiburg/München, Karl Alber, 2015, z. B. 245. 22

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ist, 29 sondern – und zwar vorrangig – mit Heideggers Versuch, der Vorherrschaft der Seinsart der Vorhandenheit im westlichen Denken ein Ende zu setzen. 30 Es lässt sich in SuZ deutlich erkennen, dass sowohl der Ausgangspunkt als auch die Zielbewegung dieses Werkes die Seinsfrage ist. 31 Der Anspruch, die Frage nach dem Sein zu stellen, führt wiederum zunächst zu einer Entfaltung der unterschiedlichen Seinsarten, die oben stichwortartig charakterisiert wurden. Schon in der Einleitung von SuZ stellt Heidegger die Notwendigkeit einer Untersuchung der Seinsart des Fragenden, d. h. des Daseins, für die Behandlung der Seinsfrage dar. 32 Diese Analytik des Daseins nimmt den Großteil dieses Werkes ein. Zusätzlich wird die Seinsart der Zuhandenheit, in der uns Seiendes (das nicht in der Weise des Daseins ist) laut Heidegger »zunächst und zumeist« 33 begegnet, eingehend beschrieben. Mit der Herausarbeitung der Seinsarten des Daseins und der Zuhandenheit macht Heidegger performativ deutlich, dass der Fokus auf Vorhandenheit in der Geschichte der Philosophie zu Unrecht die Thematisierung anderer Seinsarten verdrängt hat. 34 Im Folgenden soll nun ansatzweise gezeigt werden, dass die verschiedenen Seinsarten, die in SuZ beschrieben werden, mit unterschiedlichen Wahrheitsformen zusammengehen. Diese Verbindung zwischen der Wahrheitskonzeption Heideggers und seiner Untersuchung der unterschiedlichen Seinsarten, die in SuZ implizit gegeben ist, wird in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1928/29 explizit thematisiert: »Nun ist aber die Offenbarkeit (Wahrheit) des uns alltäglich zugänglichen Seienden in seiner Mannigfaltigkeit keine unterschiedslos gleichmäßige, sondern verschieden je nach der Seinsart des bekundenden Seienden.« 35 Und noch deutlicher

Es soll selbstredend nicht geleugnet werden, dass die Erschlossenheit des Daseins für Heidegger die Bedingung der Möglichkeit der Aussagewahrheit ausmacht. 30 Diese Leitidee Heideggers kommt an vielen Stellen in SuZ zum Vorschein. Besonders deutlich lässt sie sich etwa in § 43 erkennen. 31 Vgl. Heidegger, SuZ, § 1. 32 Vgl. Heidegger, SuZ, z. B. 16. 33 Heidegger, SuZ, 85. 34 In den Vorlesungen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre werden auch zusätzliche Seinsarten genannt wie z. B. Leben und Bestand (vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 71–72) oder Natur und Gott (vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 13–14). 35 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 83. 29

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wird der Zusammenhang zwischen Seinsarten und Wahrheitsformen am Anfang des nächsten Abschnitts derselben Vorlesung dargestellt: Wir können die Verschiedenheit der Wahrheit des in ihr offenbaren Seienden nur so verdeutlichen, daß wir die verschiedenen Seinsarten des Seienden näher kennzeichnen und nachweisen, wie durch diese je ein eigener Modus der Wahrheit gefordert wird. Aber hierzu wäre nicht nur eine Interpretation der verschiedenen Seinsarten (Vorhandenheit, Leben, Existenz, Bestand) notwendig, sondern zugleich ein hinreichend weitgeführtes Verständnis des Wesens der Wahrheit, um zu sehen, wie diese durch jene Arten des Seins sich modifiziert. 36

Obwohl diese Verbindung zwischen Seinsarten und Wahrheitsformen als solche in SuZ nicht ausdrücklich behandelt wird, lässt sie sich auch dort aufweisen. Das soll hier verkürzt gezeigt werden. Einige Annahmen dieser Deutung, die für den Vergleich mit den pragmatistischen Auslegungen relevant sind, werden erst im nachfolgenden Abschnitt (4) dargestellt. In dem Wahrheitsabschnitt (§ 44) in SuZ schreibt Heidegger: »Das umsichtige oder auch das verweilend hinsehende Besorgen entdeckt innerweltliches Seiendes. Dieses wird das Entdeckte. Es ist ›wahr‹ in einem zweiten Sinne. Primär ›wahr‹, das heißt entdeckend ist das Dasein.« 37 Wenn hier das »umsichtige oder auch das verweilend hinsehende Besorgen« als zwei Weisen, das Zuhandene zu entdecken, verstanden wird, 38 lässt sich demnach sagen, dass das Dasein primär – und das entdeckte Zuhandene nur in einem zweiten Sinne ›wahr‹ ist. Mit Rücksicht auf Heideggers Vorhaben, die Aussagewahr-

Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 83. Vgl. auch das ganze dritte Kapitel »Wahrheit und Sein. Vom ursprünglichen Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit«, 58–122. 37 Heidegger, SuZ, 220. 38 Folgende Textstelle untermauert diese Lesart: »Allein das Aussetzen einer spezifischen Hantierung im besorgenden Umgang läßt die sie leitende Umsicht nicht einfach als einen Rest zurück. Das Besorgen verlegt sich dann vielmehr eigens in ein Nur-sich-umsehen. Damit ist aber noch keineswegs die ›theoretische‹ Haltung der Wissenschaft erreicht. Im Gegenteil, das mit der Hantierung aussetzende Verweilen kann den Charakter einer verschärften Umsicht annehmen als ›Nachsehen‹, Überprüfen des Erreichten, als Überschau über den gerade ›still liegenden Betrieb‹. Sich enthalten vom Zeuggebrauch ist so wenig schon ›Theorie‹, daß die verweilende, ›betrachtende‹ Umsicht ganz dem besorgten, zuhandenen Zeug verhaftet bleibt.« (Heidegger, SuZ, 357–358). 36

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heit als »abkünftiges« Phänomen darzustellen, 39 scheint es legitim bzw. in Heideggers Sinne zu sein, hier hinzuzufügen: In einem dritten Sinne ist die Aussage wahr (hier können die Anführungszeichen um ›wahr‹ weggelassen werden, da es sich um den Sinn handelt, der traditionell mit dieser Bezeichnung verbunden wird). Sieht man für einen Augenblick davon ab, dass damit die Rangordnung vom »ursprünglichen« bis zum »abkünftigen« Wahrheitsbegriff benannt wird, wird deutlich, dass jede dieser Wahrheitsformen mit einer der drei in SuZ thematisierten Seinsarten zusammengeht. Die Erschlossenheit des Daseins, die Heidegger als das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit bezeichnet, 40 geht ganz offensichtlich mit der Seinsart des Daseins zusammen. ›Umsicht‹ ist die Bezeichnung, die Heidegger für die »Sicht«, in der das Zuhandene als solches entdeckt wird, verwendet. 41 In dem umsichtigen Besorgen wird das Seiende demnach als Zeug entdeckt, das »daraufhin entdeckt [ist], daß es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen ist. Es hat mit ihm bei etwas sein Bewenden« 42. Kurz gesagt, die Wahrheitsform des umsichtigen Entdeckens geht mit der Seinsart der Zuhandenheit zusammen. Es bleibt zu zeigen, dass die Aussagewahrheit mit der Seinsart der Vorhandenheit zusammengeht. In § 33 in SuZ stellt Heidegger die Aussage als abkünftigen Modus der Auslegung dar. Hier beschreibt er, wie die theoretische Aussage, anstatt das Seiende als Zeug zu entdecken, ein vorhandenes Seiendes entdeckt: Das in der Vorhabe gehaltene Seiende, der Hammer zum Beispiel, ist zunächst zuhanden als Zeug. Wird dieses Seiende »Gegenstand« einer Aussage, dann vollzieht sich mit dem Aussageansatz im vorhinein ein Umschlag in der Vorhabe. Das zuhandene Womit des Zutunhabens, der Verrichtung, wird zum »Worüber« der aufzeigenden Aussage. Die Vorsicht 39 Vgl. Heidegger, SuZ, § 44 b) »Das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und die Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes«, 219–226. 40 Siehe Heidegger, SuZ, 220–221. Im zweiten Teil von SuZ wird Heidegger jedoch nur die eigentliche Erschlossenheit, d. h. die Entschlossenheit als ursprünglichstes Phänomen der Wahrheit angeben. 41 »Das schärfste Nur-noch-hinsehen auf das so und so beschaffene ›Aussehen‹ von Dingen vermag Zuhandenes nicht zu entdecken. Der nur ›theoretisch‹ hinsehende Blick auf Dinge entbehrt des Verstehens von Zuhandenheit. Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht. Der Umgang mit Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit des ›Um-zu‹. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht.« (Heidegger, SuZ, 69). 42 Heidegger, SuZ, 84.

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zielt auf ein Vorhandenes am Zuhandenen. Durch die Hin-sicht und für sie wird das Zuhandene als Zuhandenes verhüllt. Innerhalb dieses die Zuhandenheit verdeckenden Entdeckens der Vorhandenheit wird das begegnende Vorhandene in seinem So-und-so-vorhandensein bestimmt. 43

Heidegger bezeichnet sogar diese Möglichkeit der Aussage, das Vorhandene zu entdecken –indem, wie er sagt, die Struktur des umsichtigen Umgangs nivelliert wird –, als »Vorzug der Aussage«: »Diese Nivellierung des ursprünglichen ›Als‹ der umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung ist der Vorzug der Aussage. Nur so gewinnt sie die Möglichkeit puren hinsehenden Aufweisens.« 44 Damit soll nicht behauptet werden, dass wir eine Aussage machen müssen, um Vorhandenes als solches zu entdecken, wir müssen nur imstande sein, eine solche Aussage zu machen, d. h., wir müssen die Subjekt-Prädikat-Struktur beherrschen, um Vorhandenes zu entdecken. 45 Wenn es demnach so ist, dass der besorgende Umgang das Zuhandene entdeckt und die theoretische Aussage das Vorhandene, könnte man fragen – in Anlehnung an Heideggers Bemerkung, wonach es »mannigfache Zwischenstufen« zwischen »der im besorgenden Verstehen noch ganz eingehüllten Auslegung und dem extremen Gegenfall einer theoretischen Aussage über Vorhandenes« gibt 46 –, ob es nicht noch mehr Wahrheitsformen als die drei hier erwähnten geben muss. Die These der vorliegenden Auslegung ist in der Tat, dass die drei Seinsarten, die in SuZ dargestellt werden, und ihre zugehörigen Wahrheitsformen, eine Basis bilden, die nicht nur erweitert werden kann, sondern die es auch zu erweitern gilt. In dem oben wiedergegebenen Zitat aus der Vorlesung Einleitung in die Philosophie wird deutlich, dass Heidegger selbst eine solche Erweiterung vor Augen hatte. Heidegger, SuZ, 157–158. Heidegger, SuZ, 158. 45 In diesem Punkt stimmt diese Auslegung mit einer Überlegung Mark Okrents überein: »To believe that x is y, however, is actually to take x as y: that is, to assert that x is y. Now, of course, we ascribe many beliefs to people in regard to extant [d. h. vorhandene] entities even in the absence of their making assertions about those entities. To accommodate these cases, it is best to think of belief itself in terms of a possibility, by way of counterfactual conditionals: to understand that x is y, where x is extant, is to be such that one would assert or assent to ›x is y‹ were one queried on the subject.« (Okrent, Heidegger’s Pragmatism, 82–83). 46 Heidegger, SuZ, 158. 43 44

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Wenn gesehen wird, dass die Pluralität in Heideggers Wahrheitsbegriff nicht nur der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Aussagewahrheit geschuldet ist, sondern mit seiner Entfaltung der unterschiedlichen Seinsarten verflochten ist, eröffnet sich die Möglichkeit, ausgehend von Heideggers Denken über Wahrheit in Bezug auf jede mögliche Seinsart, wie etwa die der Musik (als solche), 47 zu reflektieren. Das ist in meinen Augen einer der größten Anreize an Heideggers Wahrheitskonzeption. 48

4.

Die Seinsarten-Auslegung versus pragmatistische Auslegungen

In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass grundlegende Annahmen der Seinsarten-Auslegung – die im vorherigen Abschnitt (3) skizziert wurde, ohne dass diese Annahmen genannt wurden – gegen eine pragmatistische Auslegung sprechen. Dadurch wird gleichzeitig indirekt Heideggers Verortung der Wahrheit im Leben erörtert, wie im letzten Abschnitt (5) zusammenfassend gezeigt werden soll. Mit ›pragmatistisch‹ sind Lesarten gemeint, in denen Heidegger als Vertreter der These der Priorität der Praxis dargestellt ist. 49 Es sollen jetzt zwei konkrete Beispiele für eine solche Lesart angeschaut werden. Dafür muss allerdings gezeigt werden, dass es sinnvoll ist, im Ausgang von Heideggers Denken die Weise, in der die Musik als solche ist, als eigenständige Seinsart zu behandeln. Das wird das Thema zukünftiger Untersuchungen sein. 48 Es kann hier nicht erläutert werden, inwiefern es sich bei den Wahrheitsformen um Wahrheit handelt. Für eine Behandlung dieser Frage in Bezug auf das Entdecken des Zuhandenen siehe Anne Kirstine Rønhede, »Vorprädikative Wahrheit? – Zwischen Sein und Schein«, in: Chiara Pasqualin/Agustina Sforza (Hrsg.), Das Vorprädikative. Perspektiven im Ausgang von Heidegger, Freiburg/München, Karl Alber, 2020, 141– 160. 49 Wie Barbara Merker es formuliert: »Eine Überzeugung, die alle Pragmatisten zu verbinden scheint, ist die Überzeugung, daß Praxis eine gewisse Priorität oder einen Primat vor der Theorie hat.« (Barbara Merker, »Phänomenologie und Pragmatismus«, in: Martin Hartmann/Jasper Liptow/Marcus Willaschek [Hrsg.], Die Gegenwart des Pragmatismus, Berlin, Suhrkamp, 2013, 81–96, hier 92). Dabei gibt es selbstverständlich auch innerhalb der pragmatistischen Strömung Unterschiede in der Auslegung dieser Vorgängigkeit bei Heidegger. Die Priorität wird bspw. so ausgelegt, dass »the category of the present-at-hand consists of ready-to-hand things which are appropriately responded to by a certain kind of performance« (Robert Brandom, »Heidegger’s Categories in Being and Time«, in: Hubert Dreyfus/Mark A. Wrathall [Hrsg.], A Companion to Heidegger, Oxford, Blackwell, 214–232, hier 223). Oder in 47

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Eine der einflussreichsten pragmatistischen Heidegger-Auslegungen ist gewiss die Interpretation von Hubert Dreyfus, der als Mentor für eine ganze Generation der Heidegger-Forschung in den USA gedient hat. 50 Dreyfus vertritt die These, dass im praktischen Umgang mit dem Seienden eine basale Form des Verstehens (»know-how«) auszumachen sei, 51 von der Heidegger zwei weitere Weisen des Verstehens ableite, nämlich die Auslegung und das (theoretische) Aussagen (»knowing-that« 52): The derivation implicitly follows the […] steps from the available, to the unavailable, to the occurrent. Briefly: Understanding, i. e., unreflective, everyday, projective activity such as hammering, becomes explicit in the practical deliberation necessitated when a skill fails to suffice, and what thus becomes thematic can be expressed in speech acts such as »This hammer is too heavy.« That which is laid out as the unavailable, in what Heidegger calls »interpretation« (Auslegung), can then be privatively (selectively) thematized as occurrent by means of assertions stating propositions assigning predicates to subjects, such as »This hammer weighs one pound.« 53

Diese These kann in Bezug auf Heideggers Wahrheitskonzeption so formuliert werden, dass die Aussagewahrheit vom Entdecken des Zuhandenen im Umgang abgeleitet werden kann. Mark Wrathall bezeichnet in seinem Aufsatz »Heidegger on Human Understanding« die Auslegungen, in denen diese These, die wir die Ableitungsthese nennen können, propagiert wird – und darunter in erster Linie die Auslegung von Hubert Dreyfus – als »orthodox pragmatistisch« 54. Bezug auf Wahrheit so, dass das umsichtige Entdecken eine notwendige Bedingung der Aussagewahrheit sei und nicht umgekehrt: »Heidegger holds that only because and insofar as things are revealed practically can they be revealed linguistically. Practical truth is a necessary condition for semantic truth, but not vice versa.« (Okrent, Heidegger’s Pragmatism, 100). Dabei soll auch erwähnt werden, dass es möglich ist, eine These der Priorität der Praxis in Bezug auf Heidegger zu vertreten, die nicht pragmatistisch ist, wie bei Franco Volpi, der Praxis als die ontologische Struktur des Daseins versteht. Vgl. Franco Volpi, »Dasein as Praxis: The Heideggerian Assimilation and the Radicalisation of the Practical Philosophy of Aristotle«, in: Christopher Macann (Hrsg.), Critical Heidegger, London/New York, Routledge, 1996, 27–66. 50 Wie z. B. William Blattner, Taylor Carman, John Haugeland, Iain Thomson und Mark Wrathall. 51 Dreyfus, Being-in-the-World, 185. 52 Z. B. Dreyfus, Being-in-the-World, 67. 53 Dreyfus, Being-in-the-World, 195. 54 Mark A. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, in: Mark A. Wrathall (Hrsg.), The Cambridge Companion to Heidegger’s ›Being and Time‹, Cambridge,

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Ich werde diese Bezeichnung übernehmen und die orthodox-pragmatistische Auslegungsrichtung der Deutung Wrathalls gegenüberstellen, die hier als Beispiel für eine nicht-orthodox-pragmatistische Auslegung dienen soll. Die orthodoxe Lesart, laut der der Umgang eine basale Weise des Verstehens sein soll, von der die anderen Weisen abgeleitet werden können, nennt Wrathall »vertikal« 55. Dagegen vertritt er eine Auslegung des Verstehens, die »horizontal« ist, d. h., dass »each type of understanding-comportment is a concretization of a common structure. It is horizontal in the sense that different types of understanding need not be derived from each other.« 56 Indem Wrathall das Verstehen bei Heidegger formal als Struktur (»projection onto possibilities«) auslegt, die die Funktion der Welterschließung dadurch ausübe, dass sie die Welt als »setting for meaningful action« erschließe, 57 zeigt er, inwiefern Heideggers Darstellung alle Formen des Verstehens betrifft – wie das Verstehen von Theorien, von Sprache, davon, wie mit Werkzeugen umzugehen ist, von sozialen Normen, von uns selbst usw. –, ohne diese jeweils voneinander abzuleiten. Obwohl Wrathall demnach die Ableitungsthese verwirft, sieht er sich dennoch als dem pragmatistischen Lager zugehörig. 58 Wie er es formuliert: »The pragmatist reading is built on giving pride of place to Heidegger’s insight that human engagement with the world is distorted by treating all of it as involving cognition. This insight is something I want to hold on to.« 59 Das heißt, obwohl Wrathall die These, dass alle Weisen des Verstehens vom praktischen Umgang abgeleitet werden können, nicht vertritt, stimmt er den pragmatistischen Auslegungen insofern zu, als hierin betont wird, dass nicht jede Weise des Verstehens ›Erkennen‹ (auf Englisch cognition bzw. knowing-that) involviert. Die Priorität der Praxis verbindet er mit den laut ihm verschiedenen Rollen der unterschiedlichen Weisen des Verstehens in Bezug auf das Erschließen von Welt: »What makes one type of understanding more ›primordial‹ than another, on a horizontal Cambridge University Press, 2013, 177–200, hier 185. Damit bezieht er sich zusätzlich zur Interpretation Dreyfus’ auf die Auslegung von William Blattner und auf Teile von Taylor Carmans Deutungsansatz, vgl. 183–187 im gleichen Aufsatz. 55 Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 178. 56 Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 178. 57 Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 179. 58 Vgl. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 187–188. 59 Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 188.

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view, is a matter of its centrality to the primary ontological function of world disclosure.« 60 Mit anderen Worten, der primäre Grund dafür, dass wir Welt erschließen, sei, dass wir ›verstehen‹, was wir in ihr tun können – und nicht, dass wir bestimmte Erkenntnisse haben. Dass die Weisen des Verstehens, die kein Erkennen involvieren, Wrathall zufolge einen Vorrang beim Erschließen der Welt haben, zeigt sich auch in seiner These, dass unsere körperlichen Fähigkeiten für das In-derWelt-sein grundlegend sind: »Bodily skills […] present our most basic forms of insertion into a world.« 61 Eine entscheidende Differenz zwischen Dreyfus’ und Wrathalls Auslegungen besteht nach dem Gesagten darin, dass Dreyfus Heidegger ein vertikales Modell des Verstehens (in dem das Entdecken des Vorhandenen vom Entdecken des Zuhandenen abgeleitet wird) zuschreibt, welches Wrathall nicht in Heideggers Darstellungen wiederfindet: Heidegger »is not claiming that one particular type of comportment – skillful action – is foundational for the rest. The claim is instead that all comportments, including the cognitive forms that philosophers tend to treat as foundational, are instances of projecting onto possibilities.« 62 Wie steht die Seinsarten-Auslegung nun zu den zwei geschilderten Ansätzen? Laut der orthodoxen Auslegung ließe sich das Entdecken des Vorhandenen durch die theoretische Aussage von dem Entdecken des Zuhandenen im Umgang ableiten. 63 Dieser Auslegung wird hier nicht beigepflichtet, da angenommen wird, dass das Vorhandene nicht ohne ein Seinsverständnis der Vorhandenheit entdeckt und dass dieses Seinsverständnis nicht auf die Praxis reduziert werden kann. Demnach wird die Ableitungsthese abgelehnt (darin stimmt die vorliegende Auslegung mit der horizontalen Auslegung des Verstehens überein, wobei die Begründungen dieser Ablehnung voneinander abweichen). In der nicht-orthodoxen Auslegung begrenzt sich die These der Priorität der Praxis auf den Standpunkt, wonach 1. nicht jede Weise des Verstehens ein Erkennen (cognition) involviere, 64 und 2. die Formen des konkreten Verstehens, 65 die kein Erkennen involvieren, 60 61 62 63 64 65

Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 178. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 197–198. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 193. Siehe Zitat von Dreyfus oben. Vgl. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 198. Wrathall nennt das konkrete Verstehen ›Auslegung‹, indem er sich auf Heideggers

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einen Vorrang in Bezug auf die Welterschließung haben. 66 Aus der Perspektive der Seinsarten-Auslegung wird 1. zugestimmt. Es wird jedoch verneint, dass dies eine Priorität der Praxis in Bezug auf die Welterschließung bedeutet (2.). Die hier genannten Behauptungen und Annahmen sollen jetzt entfaltet werden. Ich beginne mit der orthodoxen Auslegung. Eine Stelle, an der Heidegger deutlich äußert, dass die unterschiedlichen Seinsarten erschlossen sein müssen, 67 damit wir uns zum Seienden verhalten können, findet sich z. B. in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie: Wir müssen Wirklichkeit, Realität, Lebendigkeit, Existenzialität, Beständigkeit verstehen, um uns positiv zu bestimmtem Wirklichen, Realen, Lebendigen, Existierenden, Bestehenden verhalten zu können. Wir müssen Sein verstehen, damit wir an eine seiende Welt ausgeliefert sein können, um in ihr zu existieren und unser eigenes seiendes Dasein selbst sein zu können. Wir müssen Wirklichkeit verstehen können vor aller Erfahrung von Wirklichem. Dieses Verstehen von Wirklichkeit bzw. Sein im weitesten Sinne gegenüber der Erfahrung von Seiendem ist in einem bestimmten Sinne früher als das letztgenannte. Das vorgängige Verstehen von Sein vor aller faktischen Erfahrung von Seiendem besagt freilich nicht, daß wir zuvor einen expliziten Begriff vom Sein haben müßten, um Seiendes theoretisch oder praktisch, zu erfahren. 68

Wenn die Erschlossenheit der Vorhandenheit demnach laut Heidegger eine notwendige Bedingung des Entdeckens des Vorhandenen ist, dann kann das Entdecken des Vorhandenen nicht vom Entdecken im Umgang alleine abgeleitet werden – außer, das Seinsverständnis der Vorhandenheit wäre selbst eine Weise des Umgangs. In der Tat scheint dies die These Dreyfus’ zu sein, indem er das SeinsverständBeschreibung der Auslegung bezieht, vgl. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 179. 66 Vgl. Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 178. 67 Heidegger hebt in unterschiedlichen Zusammenhängen hervor, dass diese Erschlossenheit zwar nicht unbedingt thematisch, jedoch wenigstens als ein ›vages Seinsverständnis‹ (vgl. Heidegger, SuZ, 5) gegeben ist. So spricht er in der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik davon, dass wir – obwohl nicht bewusst – grundsätzlich den verschiedenen Seinsarten jeweils anders gegenüberstehen: »[I]m Seienden gibt es gewisse grundverschiedene ›Arten‹ von Seiendem, die Zusammenhänge vorzeichnen, zu denen wir von Grund aus verschiedene Stellung haben, wenngleich uns diese Verschiedenheit nicht ohne weiteres zum Bewußtsein kommt.« (Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 390–391). 68 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 14.

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nis als »background coping« 69 auslegt, das heißt, wie ich ihn verstehe, als die Summe unserer Erfahrungen mit dem Seienden im Umgang. Das widerspricht jedoch den Ausführungen Heideggers, wonach wir durch vermehrten Umgang mit dem Seienden nur weiteres Zuhandenes entdecken: »Bloße Erweiterung des Erfahrungsbezirks führt stets nur zu Gebrauchsdingen« 70. Um etwas anderes zu entdecken als Zuhandenes, müssen wir bereits eine andere Seinsart erschlossen haben: »Noch so viele Gebrauchsdinge vergleichend kämen wir nie auf ›Natur‹, es sei denn, daß wir die Dinge im vorhinein schon so nehmen« 71. Die Frage, deren Antwort demnach aussteht, ist, wie ›Seinsverständnis‹ 72 konkret zu verstehen ist, wenn nicht als Summe der Erfahrungen mit dem Seienden im Umgang. Laut Heidegger sind alle grundlegenden Strukturen des menschlichen Seins – Heidegger teilt sie auf in die ›Momente‹ der Befindlichkeit, des Verstehens, die Rede und das Verfallen 73 – für das Seinsverständnis, d. h. für die Erschlossenheit, maßgebend. Wie zeigen sich diese Strukturen der Seinserschlossenheit konkret? Bei unseren konkreten ›Vermögen‹ wie der Fähigkeit, Aussagen zu machen oder Werkzeuge zu nutzen, sind jeweils mehrere der konstitutiven Momente der Erschlossenheit erkennbar, weswegen Heidegger immer wieder die Gleichursprünglichkeit dieser Momente hervorhebt. 74 Mein Vorschlag ist, den konkreten Ausdruck der Erschlossenheit in den unterschiedlichen Vermögen zu sehen, die durch diese Momente ›strukturiert‹ sind. Hierdurch begegnen wir dem Seienden so, wie wir es tun, nämlich als in unterschiedlichen Arten und Weisen seiend. Dass Heidegger den Umgang mit dem Seienden so stark betont, wird entsprechend als Intention

Vgl. Dreyfus, Being-in-the-World, 107. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 185. 71 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 185. In SuZ schreibt Heidegger: »Damit die Thematisierung des Vorhandenen, der wissenschaftliche Entwurf der Natur, möglich wird, muß das Dasein das thematisierte Seiende transzendieren.« (Heidegger, SuZ, 363). 72 Ausgehend von der Gleichursprünglichkeit von Verstehen, Befindlichkeit und Rede würde es sich anbieten, die Bezeichnung ›Seinsverständnis‹ zu vermeiden und durch ›Seinserschlossenheit‹ zu ersetzen. 73 Vgl. Heidegger, SuZ, 335. 74 So schreibt er in SuZ: »Die beiden gleichursprünglichen konstitutiven Weisen, das Da zu sein, sehen wir in der Befindlichkeit und im Verstehen; […] Befindlichkeit und Verstehen sind gleichursprünglich bestimmt durch die Rede.« (Heidegger, SuZ, 133). 69 70

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verstanden, die Wichtigkeit des Umgangs gegen eine Denktradition zu behaupten, in der das Erkennen die zentrale Rolle gespielt hat. 75 Wie steht die Seinsarten-Auslegung dann zu der nicht-orthodox-pragmatistischen Auslegung? Wie schon dargestellt, begrenzt sich die These der Priorität der Praxis in der nicht-orthodoxen Lesart auf die Ansicht, dass die Formen des Verstehens, die keine Erkenntnis involvieren, Vorrang bei der Welterschließung haben (wobei alle konkreten Formen des Verstehens Ausdruck einer allgemeinen Struktur seien). Heidegger gibt in der Tat an, das Erkennen dringe »erst über das im Besorgen Zuhandene zur Freilegung des nur noch Vorhandenen vor« 76. Grundlegend setzt aber sowohl das Entdecken des Vorhandenen als auch das Entdecken des Zuhandenen die Struktur der Erschlossenheit (die grundlegende Struktur des Verstehens) voraus. 77 Wie Heidegger es in der zweiten Hälfte von SuZ formuliert: »Wenn aber die Thematisierung des innerweltlich Vorhandenen ein Umschlag des umsichtig entdeckenden Besorgens ist, dann muß Warum betont Heidegger dann in SuZ wiederholt die »Vorgängigkeit« (z. B. Heidegger, SuZ, 85) des Entdeckens des Zuhandenen im Umgang in Bezug auf das »abkünftige« (vgl. Heidegger, SuZ, § 33) Entdecken des Vorhandenen in der theoretischen Aussage? Um es kurz zu fassen, sehe ich in dieser Betonung eine Ablehnung der Versuche der traditionellen Metaphysik, eine Ontologie mit ›Bausteinen‹ des Vorhandenen zu etablieren. Heidegger zeigt durch die Betonung der Vorgängigkeit des Entdeckens des Zuhandenen, dass eine Ontologie, in der versucht wird, die Struktur der Zuhandenheit aus Vorhandenem ›zusammenzusetzen‹ und verständlich zu machen, scheitern muss. Darin stimme ich Dreyfus zu (vgl. Dreyfus, Being-in-theWorld, 121–127). Daraus folgt jedoch nicht, dass das Entdecken des Vorhandenen aus dem Entdecken des Zuhandenen abgeleitet werden kann. 76 Heidegger, SuZ, 71. 77 Das ist auch der Grund dafür, dass Heidegger den Tieren das Entdecken des Zuhandenen abspricht: »Das Zeug (Fahrzeug, Werkzeug und dergleichen und erst recht die Maschine) – dergleichen ist nur, was es ist und wie es ist, als Erzeugnis von Menschen. Darin liegt: Solches Erzeugen von Zeug ist nur möglich, wo das zugrunde liegt, was wir Weltbildung nennen.« (Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 313). Laut Heidegger haben Tiere zwar Zugang zu ihrer Umgebung (es wäre auch seltsam, das Gegenteil zu behaupten), jedoch nicht zu ihr als Seiendes: »Obwohl das Tier keine Welt haben kann, hat es einen Zugang zu … im Sinne des triebhaften Benehmens.« (Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 398). Ausführlicher gesagt: »Man ist versucht zu sagen: Was wir da als Felsplatte und Sonne antreffen, das sind für die Eidechse eben Eidechsendinge. Wenn wir sagen, die Eidechse liegt auf der Felsplatte, so müßten wir das Wort ›Felsplatte‹ durchstreichen, um anzudeuten, daß das, worauf sie liegt, ihr zwar irgendwie gegeben, gleichwohl nicht als Felsplatte bekannt ist. Die Durchstreichung besagt nicht nur: etwas anderes und als etwas anderes genommen, sondern: überhaupt nicht als Seiendes zugänglich.« (Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 291–292). 75

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Wahrheit im Leben

schon dem ›praktischen‹ Sein beim Zuhandenen eine Transzendenz des Daseins zugrundeliegen« 78. Das lässt sich auch so formulieren, dass die Beschaffenheit unserer Konstitution, deren Seinsstrukturen Heidegger als ›Erschlossenheit‹ zusammenfasst, dafür notwendig ist, dass wir – im Gegensatz zu den Tieren – überhaupt Sein(sarten) erschließen. 79 Meine Behauptung ist nun, dass diese Konstitution schon in sich die Möglichkeit birgt, auch Vorhandenes zu entdecken, und dass der Übergang vom Entdecken des Zuhandenen zum Entdecken des Vorhandenen somit ›vorprogrammiert‹ ist. Dementsprechend gibt Heidegger in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie an, auch das Vorhandene werde »immer schon« mit der Existenz des Daseins entdeckt: »Dasein als solches ent-deckt Vorhandenes, d. h. nicht, es macht gelegentlich die Entdeckung, daß es auch Vorhandenes gibt, sondern als Dasein hat es Vorhandenes immer schon ent-deckt, d. h. der Verdeckung entnommen.« 80 Damit soll nicht bestritten werden, dass Heidegger in SuZ das Entdecken des Vorhandenen als einen defizienten Modus des Entdeckens des Zuhandenen darstellt. 81 Der Punkt ist ein anderer, nämlich, dass wir als Dasein durch die Erschlossenheit, die das Dasein ist, 82 die Möglichkeit haben, Seiendes innerhalb von unterschiedlichen Seinsarten – und darunter innerhalb der Vorhandenheit – zu entdecken, dass wir also konkret sowohl für den Umgang als auch für das Erkennen durch unsere Konstitution ›bestimmt‹ sind. Wir sind so beschaffen, dass wir, wenn etwas unbrauchbar ist, dieses nicht einfach mit Gleichgültigkeit behandeln und übergehen, sondern es »als Zeugding, das so und so aussieht und in seiner Zuhandenheit als so aussehendes ständig auch vorhanden war« 83, entdecken. Die Behauptung ist mit anderen Worten, dass es für das Erschließen von Welt nicht nur essentiell ist, dass wir zunächst mit dem Seienden umgehen, sondern auch, dass wir, wenn z. B. etwas fehlt, ratlos vor dem Seienden dastehen (können). 84

Heidegger, SuZ, 363. Vgl. Fußnote 77. 80 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 121. 81 Vgl. z. B. Heidegger, SuZ, 61. 82 Vgl. Heidegger, SuZ, 133. 83 Heidegger, SuZ, 73. 84 »Das ratlose Davorstehen entdeckt als defizienter Modus eines Besorgens das Nurnoch-vorhandensein eines Zuhandenen.« (Heidegger, SuZ, 73). 78 79

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Der Unterschied der Lesarten besteht demnach darin, dass die Möglichkeit, die durch die Erschlossenheit (konkret: unsere unterschiedlichen Vermögen) besteht, überhaupt Seiendes (innerhalb von unterschiedlichen Seinsarten) zu entdecken, und damit die Möglichkeit, den Übergang zwischen Zuhandenem und Vorhandenem zu vollziehen, in der Seinsarten-Auslegung als grundlegender als das konkrete Entdecken des Zuhandenen aufgefasst wird. Der Grund für die Ablehnung einer pragmatistischen Lesart, die auf der Betonung der Priorität des Umgangs für das Erschließen von Welt basiert, besteht also nicht darin, dass die Wichtigkeit des Umgangs geleugnet wird, sondern darin, dass die Möglichkeit des Umkippens dieses Umgangs in ein Betrachten beim erschließenden Dasein als grundlegend hervorgehoben wird. 85 In Bezug auf beide pragmatistischen Auslegungen kann zustimmend gesagt werden, dass wir immer schon in der Welt sind und mit Seiendem hantieren (und uns nicht zunächst als erkennende Subjekte vorfinden). Daraus ergibt sich jedoch nicht die entgegengesetzte Position, wonach das Hantieren mit dem Seienden bei Heidegger als die Basis gesehen werden müsse. Aus Sicht der vorliegenden Auslegung muss betont werden, dass wir als diejenigen, die Sein erschließen und dadurch Seiendes innerhalb unterschiedlicher Seinsarten entdecken (können), in der Welt sind. Mein Vorschlag ist dementsprechend in Bezug auf Heidegger, die These der Priorität der Praxis durch die These der Priorität der Erschlossenheit des Daseins – und damit der

Zusätzlich kann in Bezug auf die nicht-orthodoxe Auslegung auf Folgendes hingewiesen werden: Wird dem Umgang mit dem Zuhandenen ein Vorrang bei der Welterschließung zugesprochen und damit der Fokus auf das Erschließen der Welt als »setting for meaningful action« (Wrathall, »Heidegger on Human Understanding«, 178) gelegt, besteht die Gefahr, die Weisen der Erschlossenheit, die nicht zum Handeln führen, wenn nicht zu übersehen, so doch zu vernachlässigen. Heidegger beschreibt solche ›passiven‹ Weisen zu erschließen in unterschiedlichen Zusammenhängen. So ist es in seinem Denken beispielsweise von zentraler Bedeutung, dass der Mensch die »Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen« (Heidegger, SuZ, 187) in der Befindlichkeit der Angst oder die Welt als das »im Ganzen versagende Seiende« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 216) in der Langeweile erschließt – sich also auch gerade derart in der Welt vorfindet, dass sich keine Optionen zu handeln anbieten. Ein zusätzliches Beispiel dafür kann in der Weise zu erschließen gesehen werden, in der der Mensch sich in einer offenen Frage aufhält: »Denn dieses ist es, was der gemeine Verstand und die sogenannte Praxis des Lebens und aller Programmatismus nie versteht und verstehen kann, daß eine Frage Halt zu geben vermag.« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 241).

85

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Wahrheit im Leben

Möglichkeit, Seiendes innerhalb der unterschiedlichen Seinsarten zu entdecken – zu ersetzen. 86

5.

Zusammenfassung – Wie wird die Wahrheit bei Heidegger im Leben verortet?

Im vorangehenden Abschnitt (4) wurde die vorliegende Auslegung von Heideggers Wahrheitskonzeption (die in den Abschnitten 2 und 3 skizziert wurde) mit zwei pragmatistischen Ansätzen verglichen. Obwohl in beiden Deutungsrichtungen die Verortung der Wahrheit im Leben durch Heideggers Konzeption klar zutage tritt, wurde deutlich, dass diese Verortung jeweils in einer anderen Weise verstanden wird. Den pragmatistischen Auslegungen folgend könnte man sagen, die Wahrheit werde von Heidegger dadurch im Leben verortet, dass er zeige, inwiefern die Praxis einen Vorrang vor dem Erkennen hat. Oder, wenn man es ausgehend von den besprochenen Deutungsansätzen genauer sagen möchte: Heidegger zeige, inwiefern das Entdecken des Vorhandenen in der theoretischen Aussage vom Umgang mit dem zuhandenen Seienden abgeleitet werden könne (Dreyfus) bzw. wie der Mensch unterschiedliche Auslegungen des Seienden, die nicht notwendig ein Erkennen involvieren, wahre, 87 und dass dabei das nicht-erkennende Verstehen einen Vorrang bei der Welterschließung habe (Wrathall). Die hier angestrebte Seinsarten-Auslegung betont dagegen, dass Heidegger die Wahrheit vor allem dadurch im Leben verortet, dass er Wahrheit nicht einheitlich konzipiert, sondern unterschiedliche Arten zu sein – und sein zu lassen – in seiner Konzeption berücksichtigt. Hier wird die Priorität der in vielen Hinsichten pluralistischen Erschlossenheit des In-der-Welt-seins an die Stelle der Priorität der Praxis gesetzt. Damit wird in der Seinsarten-Auslegung die Möglichkeit,

Dieser Vorschlag hat gewisse Affinitäten zu der Aufforderung Merkers, die Priorität der Praxis durch die Priorität der Lebenswelt zu ersetzen: »Mein Vorschlag ist einfach, die vage Priorität der Praxisthese durch die These der Priorität der Lebenswelt zu ersetzen. Auf diese Weise würden wir eine unnötige und problematische Reduktion oder ein Ranking der Pluralität unserer menschlichen Kapazitäten vermeiden.« (Merker, »Phänomenologie und Pragmatismus«, 96). 87 Hierin stimmt die Seinsarten-Auslegung mit Wrathalls Darlegung überein. Vgl. auch Wrathall, Heidegger and Unconcealment, 39. 86

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die mit der menschlichen Konstitution verbunden ist, unterschiedlichste Perspektiven auf das Sein und damit auf Seiendes einzunehmen, als grundlegend betrachtet. 88

Ich möchte mich herzlichst bei Mark Wrathall für seine kritischen Kommentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes bedanken, die mich in der vorliegenden Fassung vor einigen vorschnellen Schlüssen bewahrt haben.

88

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Zwischen Erlebnis und Ausdruck – Grundzüge einer phänomenologischen Psychopathologie der Alzheimer-Demenz im Rückgang auf die Lebenswelt Erik Norman Dzwiza-Ohlsen Abstract: Trotz der zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz demenzieller Erkrankungen ist deren Erforschung von zahlreichen Einseitigkeiten geprägt. So gerät durch Naturalismus, Cerebrozentrismus und Mnemozentrismus die subjektrelative Perspektive der lebensweltlichen Person zunehmend aus dem Blick (1). Zwar wird die Idee eines Rückgangs auf die Lebenswelt seit langem innerhalb der phänomenologischen Psychopathologie produktiv eingesetzt (2), jedoch wird dieser Begriff weder ausreichend definiert noch umfassend auf demenzielle Erkrankungen angewendet. Deswegen wird die Theorie der Lebenswelt zunächst formal als ›Allgemeine Theorie der subjektrelativen Erfahrung‹ definiert, deren dreidimensionale Orientierungsstruktur mit Hilfe okkasioneller Ausdrücke (OA) veranschaulicht (3) und diese Erkenntnisse auf Alzheimer-Demenz (AD) angewendet. Zunächst wird die symptomatische Störung der dynamischen Beziehung von Orientierung, Sprache und Gedächtnis analysiert (4). Abschließend wird das therapeutische Potenzial sog. Habitūs erörtert (5) und hervorgehoben, dass es sich bei AD nicht nur um eine neurodegenerative, sondern auch um eine psycho- und soziodegenerative Erkrankung handelt, für dessen würdevollen Umgang wir alle Verantwortung tragen (6). Despite the increasing societal relevance of dementia diseases, research on them is characterised by numerous limitations. By way of naturalism, cerebrocentrism and mnemocentrism, the subject-relative perspective of a person’s lifeworld draws further out of view (1). Although the idea of a return to the lifeworld has long been productively applied within phenomenological psychopathology (2), the term itself has neither been sufficiently defined nor thoroughly applied to dementia. Therefore, the theory of the lifeworld is first formally defined as a »general theory of subject-relative experience,« whose three-dimensional orientation structure is illustrated with the help of »occasional expressions« (OA) (3) and then applied to Alzheimer’s Dementia (AD). Then, I analyze the symptomatic disturbance of the dynamic relationship between orientation, language and memory (4). Finally, I discuss the therapeutic potential of so-called Habitūs (5) and emphasize that AD is not only a neurodegenerative but also a psycho- and socio-degenerative disease, for the dignified treatment of which we are all responsible (6).

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1.

Einleitung. Demenz in Wissenschaft und Gesellschaft

Immer mehr Menschen in älter werdenden Gesellschaften leiden an Formen der Demenz – so sind es weltweit ca. 50 000 000 und in Deutschland zwischen 1 200 000 und 1 400 000. 1 Dabei machen aber nicht nur die Betroffenen selbst Erfahrungen mit dieser vielschichtigen und vielgestaltigen Erkrankung, sondern auch ihre Familien, Freund*innen, Pflegende und Ärzt*innen. Demenzielle Erkrankungen können dementsprechend als eine der zentralen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft aufgefasst werden, da sie nicht nur quantitativ die ganze Gesellschaft betreffen, sondern auch qualitativ, indem sie unser Selbstverständnis als autonome Wesen in Frage stellen und unsere Fähigkeiten, zu interagieren und zu kommunizieren, an ihre Grenzen bringen. Diese Ausgangslage macht verständlich, warum das Thema ›Demenz‹ in Wissenschaft, Politik und Medien zunehmend präsent ist. Doch besteht aktuell ein massives Ungleichgewicht zwischen der zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz auf der einen und einem einseitigen wissenschaftlichen Verständnis auf der anderen Seite. Dabei wies Michel Foucault bereits Anfang der 1970er darauf hin, dass sich eine erste Einseitigkeit schon im 17. und 18. Jahrhundert auszuprägen begann. Hier führte eine rein negative Bestimmung dazu – die schon in der lateinischen Bezeichnung ›De-mens‹ steckt –, dass Demenz von allen Geisteskrankheiten diejenige [war], die dem Wesen des Wahnsinns am nächsten bleibt, aber des Wahnsinns im allgemeinen, des in allem, was er an Negativem haben kann, verspürten Wahnsinns: Unordnung, Dekomposition des Denkens, Irrtum, Illusion, Nicht-Vernunft und Nicht-Wahrheit. 2

Zwar wurde diese symptomatische Unschärfe inzwischen durch eine differenziertere Diagnostik und Therapie behoben; jedoch besteht die negative Auffassung weiter fort, die nicht nur stärker die Defizite als die Ressourcen betont, sondern aus der heraus sich auch weitere Einseitigkeiten entwickelten: So führte sie die Mediziner jener Zeit zu psychophysischen Spekulationen über die Ursachen der Demenz, die 1 Vgl. WHO, Towards a Dementia Plan: A WHO Guide, France, 2018; Deutscher Ethikrat, Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme, Berlin, 2012. 2 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 232018, 256.

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auf dualistischen Annahmen über das Verhältnis von Körper und Geist beruhten und sich verstärkt auf das Organ des Gehirns fixierten. 3 Damit liegt hier auch der historische Ursprung des naturalistischen Cerebrozentrismus, der zweitens das bis heute dominierende Forschungsparadigma in der Demenzforschung ist. Dazu passend definiert das weltweit verbreitetste Klassifikationssystem für Erkrankungen, die von der WHO herausgegebene ICD-10, Demenz als »syndrome due to disease of the brain«. 4 Besonders aufschlussreich ist auch die neue Sprachregelung in der aktuellsten Version des DSMV, das maßgeblich für die Klassifikation psychischer Erkrankungen ist: Hier werden Demenzen, um den Aspekt der Negativität zu vermeiden, als ›neurodegenerative Erkrankungen‹ bezeichnet – und damit die erste Einseitigkeit durch die zweite ›behoben‹. 5 Auch wenn nun die Wichtigkeit der Erforschung der organischen Ursachen demenzieller Erkrankungen nicht in Zweifel gezogen werden soll, muss diese zweite Einseitigkeit dann kritisiert werden, wenn es zu einer Schieflage kommt und durch sie die Lebenswelt der Menschen aus dem Blick gerät – schließlich ist ›das Gehirn‹ ein Objekt der Wissenschaften, zu dem wir keinen subjektiven Zugang haben. 6 Passend zu dieser kritischen Perspektive auf die gegenwärtige Demenzforschung betont Steven Sabat, dass »zwei sehr wichtige Faktoren einfach ausgeblendet wurden: die Innenwelt der Betroffenen und die soziale Situation, in der sie leben«. 7 Zwar gibt es in den einschlägigen Disziplinen intensive Bemühungen darum, diese Schieflage zu korrigieren und die lebensweltliche Erfahrung einer leiblich und soziokulturell verfassten Person zu stärken; 8 was dennoch fehlt, Foucault, Wahnsinn, 256–267. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th Revision, Version 2019, https://icd.who.int/browse10/2019/en#/F00-F09, zuletzt abgerufen am 18. 6. 2020. 5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Version, 2013. 6 Ricoeur nach Jean-Luc Petit, »Pathological Experience: A Challenge for Transcendental Constitution Theory«, in: Giuseppina D’Oro/Søren Overgaard (Hrsg.), The Cambridge Companion to Philosophical Methodology, Cambridge, Cambridge University Press, 2017, 398–417, hier 409. 7 Steven Sabat in Lisa Snyder, Wie sich Alzheimer anfühlt, Bern, Hans Huber, 2011, 17. 8 Einen Überblick über einschlägige Arbeiten aus Medizin, Psychologie, Ethnologie und Philosophie gibt Jens Brockmeier, »Memory, Dementia, and the Postautobiographical Perspective«, in: Lars C. Hydén/Hilde Lindemann/Jens Brockmeier (Hrsg.), Beyond Loss: Dementia, Identity, Personhood, Oxford, Oxford University Press, 3 4

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ist eine allgemeine Theorie der lebensweltlichen Erfahrung von Demenz, die all diese Ansätze zu integrieren vermag. Dabei fehlt ein solcher Beitrag nicht nur innerhalb der Demenzforschung im Allgemeinen, sondern auch innerhalb der Tradition der phänomenologischen Psychopathologie im Speziellen, auf die wir gleich näher eingehen. Erschwerend kommt schließlich drittens hinzu, dass in der Philosophie und den Kognitionswissenschaften selbst ein einseitiges Bild demenzieller Erkrankungen rezipiert wird, das als Mnemozentrismus bezeichnet werden könnte. Laut ICD-10 ist nämlich ein »memory impairment […] the principal feature« der verbreitetsten Form der Alzheimer-Demenz (AD), welches nur allzu oft als physiologisch klar lokalisierbar gedacht und in computationaler Metaphorik als Modul oder in informatistischer als Archiv oder Speicher konzeptualisiert wird. 9 Diese reduktionistische Sichtweise wird in philosophischen Debatten aufgegriffen, indem AD vor allem als Defekt des Gedächtnisses verstanden wird, wie es selbst innerhalb der phänomenologischen Psychopathologie der Fall ist. 10 Dieser einseitigen Auffassung der Erkrankung kann nur begegnet werden, wenn erstens demenzielle Erkrankungen nicht primär als neurodegenerative Erkrankung des Gehirns, sondern auch als psycho- und soziodegenerative Erkrankung von Personen verstanden werden und also die lebensweltliche Erfahrung von Personen den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bildet; zweitens die paradigmatische Bedeutung des Mnemozentrismus in philosophischen Darstellungen und Interpretationen korrigiert wird; und drittens Defizite und Ressourcen gleichermaßen in den Blick genommen werden, damit auch letztlich Diagnostik und Therapeutik enger zusammenrücken. Die vorliegende Untersuchung versteht sich

2014, 73–74; ein interdisziplinär orientiertes Angebot liefert Andreas Kruse (Hrsg.), Lebensqualität bei Demenz. Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg, Akademische Verlagsgesellschaft, 2010. 9 Für einschlägige Positionen, Argumente und Metaphern in der mnemozentrischen Demenzforschung vgl. Brockmeier, »Memory«. 10 Demenzielle Erkrankungen werden im jüngst erschienenen und über 1000 Seiten starken Handbook of Phenomenological Psychopathology nur auf wenigen Seiten und unter der Überschrift »Disorders of Memory« erörtert (vgl. Julian C. Hughes, »Attention, Concentration, Memory, and their Impairments«, in: Giovanni Stanghellini u. a. [Hrsg.], The Oxford Handbook of Phenomenological Psychopathology, Oxford, Oxford University Press, 2019, hier 442–449).

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Zwischen Erlebnis und Ausdruck

als Beitrag zu einem solchen Perspektivenwechsel, der sich gegenwärtig im Vollzug befindet. 11

2.

Zur Möglichkeit einer phänomenologischen Psychopathologie im Ausgang von der Lebenswelt

Vor über 100 Jahren legte Karl Jaspers mit seiner Allgemeinen Psychopathologie (1913) den Grundstein für die Tradition der phänomenologischen Psychopathologie. 12 Trotz des dezidierten Methodenpluralismus dieses Werkes 13 war Jaspers der Erste, der die Funktion und Bedeutung der Phänomenologie für die Psychopathologie systematisch entfaltete. Seitdem bietet die phänomenologische Psychopathologie – abseits von evolutionären, behavioristischen, genetischen oder neurologischen Ansätzen – einen alternativen Blick auf die Psyche des Menschen und prägte derart maßgeblich das Verhältnis von Philosophie, Psychologie und Psychiatrie. 14 Doch wie groß kann die Reichweite einer phänomenologischen Psychopathologie sein, die ihren systematischen Ausgang von der Lebensweltkonzeption Edmund Husserls nimmt – einem Konzept also, das Jaspers damals noch nicht kannte und dessen systematische Anwendung auf demenzielle Erkrankungen bis heute ein Desiderat darstellt? 15 Und welche Aspekte psychischer Erkrankungen vermag dieses Paradigma gegenüber dem naturalistischen zu erfassen? Einen ersten Anhalt gibt ein Blick auf die Rezeption dieses Konzeptes in der phänomenologischen Psychopathologie: So verknüpft Maurice Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung Neben den Beiträgen, die nicht bereits erwähnt wurden oder im Folgenden diskutiert werden, vgl. bspw. Steven R. Sabat, Alzheimer’s Disease & Dementia. What Everyone Needs to Know, Oxford, Oxford University Press, 2018; Dawn Brooker, Person-zentriert pflegen. Das VIPS-Modell zur Pflege und Betreuung von Menschen mit einer Demenz, Bern, Hans Huber, 2008; Tom Kitwood, Dementia Reconsidered: The Person Comes First, Philadelphia, Open University Press, 1997. 12 Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Berlin/Heidelberg/New York, Springer, 81965. 13 Vgl. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, insbes. Vorworte und Einführung. 14 Vgl. Thiemo Breyer, »Phänomenologische Psychologie«, in: Sebastian Luft/Maren Wehrle (Hrsg.), Husserl-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, Stuttgart, Metzler, 2017, 157–165; Thomas Fuchs, »Psychologie und Psychiatrie«, in: Luft/Werle (Hrsg.), Husserl-Handbuch, 341–347. 15 Vgl. Fuchs, »Psychologie und Psychiatrie«, 343. 11

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Erik Norman Dzwiza-Ohlsen

philosophische mit psychologischen Einsichten im Ausgang von der natürlichen Einstellung der Lebenswelt und untersucht die Verschränkung von Leiblichkeit, Räumlichkeit und Sprache an Pathologien wie Apraxie oder Aphasie; 16 wenig später kritisiert Erwin Straus im Ausgang von der lebensweltlichen Erfahrung die theoretische Dissoziation von Bewusstsein, Körper und Sozialität und liefert damit neue Impulse für die Philosophischen Grundlagen der Psychiatrie; 17 und auch Wolfgang Blankenburg setzt in seinem Hauptwerk beim Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit der Lebenswelt an, um das symptomatische Spektrum der Schizophrenie auszuloten. 18 Diese und weitere Arbeiten bilden die Grundlage für gegenwärtige Ansätze, wie wir sie bei Thomas Fuchs, Michela Summa und Christian Tewes entfaltet finden, die zudem wichtige Vorarbeiten zur phänomenologischen Psychopathologie der Demenz liefern. 19 Warum der Ansatz bei der Lebenswelt so attraktiv ist, lässt sich durch einen Brief Husserls an den Psychologen und Linguisten Karl Bühler von 1927 nachvollziehen; es gehe, so Husserl, darum, das zu beachten, »was doch aller theoretischen Arbeit voranliegt: die universale vorwissenschaftliche Erfahrung, in der die Erfahrungswelt des Lebens konkret-lebendig gegeben ist«. 20 Genau dieses Credo wurde

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, De Gruyter, 1974. 17 Vgl. Erwin Straus, »Philosophische Grundlagen der Psychiatrie: Psychiatrie und Philosophie«, in: Psychiatrie der Gegenwart. Forschung und Praxis, Bd. I/2, in: Hans W. Gruhle u. a. (Hrsg.), Grundlagen und Methoden der klinischen Psychiatrie, Berlin, Springer, 1963, 926–994. 18 Wolfgang Blankenburg, Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien, Stuttgart, Enke, 1971. 19 Thomas Fuchs, »Leiblichkeit und personale Identität in der Demenz«, in: Deutsche Zeitung für Philosophie, 66 (1), 2018, 48–61; Thomas Fuchs, »Das Leibgedächtnis in der Demenz«, in: Lebensqualität bei Demenz, 231–242; Michela Summa, »The Disoriented Self: Layers and Dynamics of Self-Experience in Dementia and Schizophrenia«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences, 13, 2014, 477–496; Michela Summa, »Zwischen Erinnern und Vergessen. Implizites Leibgedächtnis und das Selbst am Beispiel der Demenz-Erkrankungen«, in: Phänomenologische Forschungen, 2011(1), 155–174; Christian Tewes, »Embodied Selfhood and Personal Identity in Dementia«, in: Christian Tewes/Giovanni Stanghellini (Hrsg.), Time and Body: Phenomenological and Psychopathological Approaches, Cambridge, Cambridge University Press, 2020. 20 Edmund Husserl, Briefwechsel. Bd. VII: Wissenschaftlerkorrespondenz, in: Husserliana Dokumente, Bd. III.7, hrsg. von Elisabeth Schuhmann in Verbindung mit Karl Schuhmann, Den Haag, Kluwer, 1994, 47–48. 16 6

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von Husserl gezielt verfolgt, indem er umfassende Beschreibungen der lebensweltlichen Erfahrung lieferte und diese zum Ausgangspunkt eines wissenschaftstheoretischen Begründungsprogramms machte. 21 Zwar gilt die Lebensweltphänomenologie als entscheidende Entwicklung in Husserls Spätphase, jedoch lässt sich mit Sommer diese späte Lebensweltkonzeption, die Husserl zwischen 1934–1937 ausarbeitete, von einer frühen unterscheiden, die er zwischen 1912– 1918 entwickelte, auf die wir zum Ende des Beitrags zurückkommen werden. 22 Dabei ist auch ohne die Kenntnis derartiger Differenzierungen ersichtlich, dass sich die Begründungsidee der Wissenschaften durch die Lebenswelt prinzipiell auch auf die Lebenswissenschaften anwenden lässt: Schließlich bleiben alle Wissenschaften konstitutiv an die lebensweltliche Erfahrung von Personen gebunden. Verlieren sie diesen Bezug, so diagnostiziert Husserl in seinem späten KrisisWerk, droht Sinn und Zweck der jeweiligen Wissenschaft im Prozess von Quantifizierung, Formalisierung und Technisierung in Vergessenheit zu geraten, wodurch nicht nur die Disziplin selbst, sondern auch, im Sinne einer symptomatischen Wechselwirkung, die sie umgreifende Gesellschaft in die Krise gerät. 23 Vergegenwärtigt man sich aktuelle Debatten um die ›Stellung des Menschen‹ in der Medizin, Psychiatrie oder Pflege, wird die Aktualität der Husserl’schen Diagnose augenscheinlich, die hier in verschärfter Form auftritt: Schließlich wird nicht nur die Erfahrung der lebensweltlichen Person durch die Wissenschaften marginalisiert, die als normative Grundlage allen Therapierens unverzichtbar ist; sondern auch die Autonomie, Würde Im Folgenden werden die Gesammelten Werke Edmund Husserls, die Husserliana (im Folgenden Hua), Den Haag/Dordrecht, Martinus Nijhoff/Kluwer bzw. Springer zugrunde gelegt. Vgl. bspw. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Hua, Bd. IV, hrsg. von Marly Biemel, 1991; Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: Hua, Bd. VI, hrsg. von Walter Biemel, 1976; Edmund Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), in: Hua, Bd. XXXIX, hrsg. von Rochus Sowa, 2008. 22 Vgl. Erik Norman Dzwiza-Ohlsen, Die Horizonte der Lebenswelt. Sprachphilosophische Studien zu Husserls ›erster Phänomenologie der Lebenswelt‹, Paderborn, Fink, 2019; Manfred Sommer, »Husserls Göttinger Lebenswelt«, in: Manfred Sommer (Hrsg.), Edmund Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, Hamburg, Meiner, 1984, IX–XLIV. 23 Vgl. Husserl, Krisis, Hua VI, § 9. 21

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und Identität der Person durch die Krankheit selbst, sowie die Reaktion der Mitmenschen auf diese, massiv in Frage gestellt. 24 Nun steht ein solches Vorhaben einer phänomenologischen Psychopathologie der Demenz vor zahlreichen Herausforderungen: Einerseits muss diese für die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften offen bleiben, ohne gegenüber den drei oben skizzierten Einseitigkeiten blind zu werden; andererseits muss sie es leisten, für die individuell und kulturell variierenden pathologischen Auswirkungen demenzieller Erkrankungen sensibel zu bleiben, ohne dass dabei die Erkenntnis der wesentlichen Strukturen verunmöglicht wird. Doch bietet die Phänomenologie Husserls ein reichhaltiges Repertoire an methodologischen Differenzierungen, das uns dabei hilft, diesen Anforderungen in Ansätzen gerecht zu werden. Zunächst können wir uns diesen Herausforderungen, gemäß der berühmten Worte Husserls, im »Zick-Zack« annähern. 25 Denn diese Wortwahl bringt ein erkenntnistheoretisches Dilemma zum Ausdruck, das auch für unsere Untersuchung gilt: Schließlich müssen wir diejenigen Begriffe, deren Bedeutung wir allererst durch phänomenologische Untersuchungen aufklären wollen, gemäß des wissenschaftlichen Verstehensprozesses bereits voraussetzen. Doch lässt sich dieses Dilemma produktiv wenden: So können wir in einem ersten Schritt von der Definition des demenziellen Syndroms der ICD10 ausgehen, die von einer »disturbance of multiple higher cortical functions, including memory, thinking, orientation, comprehension, calculation, learning capacity, language, and judgement« spricht. 26 In einem zweiten Schritt müssen wir dann versuchen, die lebensweltlichen Erfahrungsgrundlagen dieser bloß summativen Definition zumindest teilweise einzuholen, was im Folgenden anhand der Verknüpfung von Orientierung, Sprache und Gedächtnis in der mit ca.

Zur normativen Dimension der Psychopathologie vgl. Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Berlin, August Verlag, 2017; Petit, »Pathological Experience«, 338–442 und, mit dem Fokus auf AD, Erik Norman Dzwiza-Ohlsen, »Verloren-Sein? – Der Verlust der lebensweltlichen Orientierung in der AlzheimerDemenz aus phänomenologisch-psychopathologischer Sicht«, in: InterCultural Philosophy, Journal for Philosophy in its Cultural Context, Special Issue »Angst–Hass– Vertrauen«, Heidelberg, vrs. 2021, § 5. 25 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, in: Hua XIX.1, hrsg. von Ursula Panzer, 1984, A 18. 26 ICD-10, Version 2019. 24

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50–60 % häufigsten Form der Demenz, der AD, versucht werden soll. 27 Näher betrachtet bedeutet dies, dass wir drei Bereiche – inklusive ihrer Begriffe, Kategorien, Konzepte, Evidenzen usw. – in Bezug setzen müssen: die einschlägigen Lebenswissenschaften (1), die lebensweltliche Erfahrung der Betroffenen (2) und die phänomenologische Theorie der Lebenswelt (3). Damit dies gelingen kann, hat Husserl zentrale erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen erarbeitet, allen voran die Einsicht in die Abhängigkeit von Einstellung und Welt. Wie Husserl in den Ideen I und seinen Untersuchungen der drei Regionen von Materie, Seele und Geist der Ideen II ausführt, 28 korrespondiert erstens der lebensweltlichen Perspektive die ›natürliche‹ oder auch ›personalistische Einstellung‹, die das Denken, Fühlen und Handeln von Personen in der soziokulturell verfassten, geistigen Welt erörtert. 29 Zweitens korrespondiert der naturwissenschaftlichen Perspektive die ›naturalistische Einstellung‹, die von dem, was wir als Mensch ansprechen, nur die »Schicht der an räumlich-zeitliche ›Leiber‹ gebundenen seelischen ›Natur‹« übrig lässt, was zudem immer wieder mit der Tendenz einhergeht, diese auf die »Schicht der räumlich-zeitlichen Materialität« zu reduzieren – wie dies beim naturalistischen Cerebro- und Mnemozentrismus der Fall ist. 30 Und schließlich korrespondiert drittens der phänomenologischen Perspektive die ›transzendentale Einstellung‹, die mittels der ›transzendentalen Reduktion‹ alle lebensweltlichen und wissenschaftlichen Vorannahmen einklammert, um die konstitutive Abhängigkeit von Bewusstsein, Sprache, Einstellung und Welt gezielt zu erforschen. 31 In der transzendentalen Zur allgemeinen Symptomatik vgl. Rainer Tölle/Klaus Windgassen, Psychiatrie – einschließlich Psychotherapie, Heidelberg, Springer Medizin, 162012, 302–306. 28 Für das Folgende vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in zwei Bänden. 1. Halbband: Text der 1.–3. Auflage, in: Hua, Bd. III.1, hrsg. von Karl Schuhmann, 1976, §§ 27–34; Husserl, Ideen II, Hua, Bd. IV, § 34. 29 Zum Verhältnis von natürlicher und personalistischer Einstellung vgl. DzwizaOhlsen, Horizonte der Lebenswelt, 5–7. 30 Husserl, Ideen II, Hua IV, 28. 31 Hier muss zweierlei offen bleiben: erstens der Status naturwissenschaftlicher Untersuchungen in Psychologie, Soziologie oder Linguistik, die mittels Statistik signifikante Aspekte lebensweltlicher Erfahrung erfassen und denen nicht ohne weiteres die oben beschriebenen Einseitigkeiten unterstellt werden können; genau deswegen werden solche Beiträge integriert und interpretiert; zweitens der Status der transzenden27

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Perspektive laufen aber alle Fäden zusammen: Einerseits können wir von hier aus die anschaulichen Grundlagen von Begriffen, Kategorien, ja ganzer Regionen einholen, die den Lebenswelten und Wissenschaften zugrunde liegen: Jeder Region und Kategorie prätendierter Gegenstände entspricht phänomenologisch nicht nur eine Grundart von Sinnen, bzw. Sätzen, sondern auch eine Grundart von originär gebendem Bewußtsein solcher Sinne und ihr zugehörig ein Grundtypus originärer Evidenz, die wesensmäßig durch so geartete originäre Gegebenheit motiviert ist. 32

Andererseits ist das Ziel der transzendentalen Phänomenologie der Lebenswelt, im Ausgang von den Lebenswelten (im Plural) die Struktur der Lebenswelt (im Singular) zu erfassen. Wollen wir also gemäß einer phänomenologischen Psychopathologie der AD die wesentlichen Modifikationen der lebensweltlichen Erfahrung durch diese Erkrankung erfassen, dann müssen wir die zahlreichen Ausdrucksformen berücksichtigen, die darüber Aufschluss geben, wie es ist, an AD erkrankt zu sein – also verbale wie non-verbale, aktuelle wie habituelle oder individuelle und kollektive. Genau dies – also die Leistung, Erlebnis und Ausdruck lebensweltlicher Personen theoretisch zu integrieren und in den Prozess der wissenschaftlichen Erforschung von AD einzubringen – scheint dabei das zentrale Alleinstellungsmerkmal eines phänomenologischen gegenüber dem naturalistischen Paradigma zu sein.

3.

Die drei Dimensionen lebensweltlicher Orientierung, oder: der Zusammenhang von Orientierung, Sprache und Gedächtnis

Trotz der für das 20. Jahrhundert so bedeutsamen wissenschaftstheoretischen Weichenstellung, die mit dem Begriff der Lebenswelt einhergeht, bleibt ein grundsätzliches Problem bestehen: Da Husserl an keiner Stelle eine systematisch befriedigende Definition des Lebensweltkonzeptes liefert, findet auch seine Rezeption in einer tendenziell einseitigen Weise statt. Genau hier setzen die folgenden Erörteruntalen Phänomenologie Husserls. Einen guten Überblick über Grundbegriffe und -probleme seiner Phänomenologie geben Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Husserl-Lexikon, Darmstadt, WBG, 2010; Luft/ Wehrle (Hrsg.), Husserl-Handbuch. 32 Husserl, Ideen I, Hua III.1, 321.

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gen an, indem sie Husserls Phänomenologie der Lebenswelt in einem sehr formalen Sinne als ›Allgemeine Theorie der subjektrelativen Erfahrung‹ definieren. Diese lässt sich mit Hilfe des Begriffs der Orientierung spezifizieren: Der Begriff erfasst einerseits die prinzipielle Einheit von räumlicher, zeitlicher und intersubjektiver Orientierung, in der sich all unser personales Denken, Fühlen, Wollen und Handeln vollzieht; andererseits erfasst er auch die Differenz von ›Fern- und Nahfeld‹, in der sich diese dreifache Orientierung spiegelt. 33 Genau hier, beim leiblichen Nahfeld, setzen wir jetzt an, um die drei Dimensionen der lebensweltlichen Orientiertheit mit Hilfe von okkasionellen Ausdrücken (OA) anzuzeigen. Dabei wird die enge Verbindung von Orientierung, Sprache und Gedächtnis deutlich werden. Besinnen wir uns darauf, wie wir jetzt gerade in der Lebenswelt orientiert sind, dann können wir das bemerken, was Bühler in seiner Sprachtheorie als »Origo« bezeichnete. 34 Dieses ›Origo‹ ist nichts anderes als das »hier-jetzt-ich-System der subjektiven Orientierung«. 35 Wie diese Formulierung anzeigt, lassen sich die drei Dimensionen dieser Orientiertheit ideal durch OA hervorheben, die in unserer lebensweltlichen Kommunikation unerlässlich sind: Personale OA (wie »ich«, »du«) personalisieren, temporale OA (wie »jetzt«, »bald«) temporalisieren und räumliche OA (wie »hier«, »dort«) lokalisieren. Sie zeigen uns also, wann und wo jemand etwas sagt und fungieren demgemäß als »Ortsmarke«, »Zeitmarke« und als »Individualmarke«. 36 Wir können also mittels der Sprache gezielt in die dreidimensionale Orientierungsstruktur der Lebenswelt vordringen. Genau dieses Verfahren soll uns nun dabei helfen, die minimale situative Orientiertheit zu skizzieren, die auch im Verlauf von AD erhalten bleibt. Beginnen wir uns erstens zu fragen, wie wir die räumliche Dimension lebensweltlicher Orientiertheit erfahren, so antwortet Husserl: Eine ausgezeichnete Stellung eignet uns in dieser Welt: Wir finden uns vor als ein Beziehungszentrum zu der übrigen Welt als unserer Umgebung. Die

Zur Orientierung in Heimwelt, Heimat, Fern- und Nahfeld vgl. Dzwiza-Ohlsen, »Verloren-Sein«, § 5. 34 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart/New York, Fischer, 1982, 102. 35 Bühler, Sprachtheorie, 149. 36 Bühler, Sprachtheorie, 107. 33

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Umgebungsobjekte […] haben zu uns eine Stellung, zunächst eine räumlich-zeitliche, dann auch eine ›geistige‹ […]. Wir nehmen eine nähere Umgebung um uns unmittelbar wahr; sie ist zusammen, gleichzeitig mit uns und steht mit uns in der Beziehung des Gesehen-, Getastet-, Gehörtwerdens usw. 37

Wir können zunächst festhalten, dass für jede anschauliche Situation die Zentralstellung des Leibes in seiner perzeptiven Orientierung grundlegend ist, und diese sich ideal mittels räumlicher OA ausweisen lässt: Ich finde mich im räumlichen ›Hier‹ als zentralem Fixpunkt, vom dem aus die Peripherie erscheint. Alle Dinge, Personen und Ereignisse außer mir befinden sich im ›Da‹ und ›Dort‹. Sie erscheinen ›links und rechts‹, ›vor und hinter‹, ›über und unter mir‹ und sind mal ›nah‹ und mal ›fern‹. 38 Bringen wir nun Bewegung ins Spiel, 39 dann wird auch die praktische Relevanz unseres Leibkörpers anschaulich: Schließlich spannt sich zwischen Nah- und Fernsphäre ein »Horizont möglicher Orientierungen als meiner praktischen Möglichkeiten einer Zugangspraxis« auf. 40 So lerne ich durch Bewegung, dass jede anschauliche Situation über sich hinausweist, was mir natürlich auch durch den zeitlichen Verlauf meiner bisherigen Erfahrungen noch gegenwärtig ist oder durch die Erinnerung vergegenwärtigt werden kann. Wie wir sehen, kommen wir mittels der Beschreibung des visuellen, räumlichen Horizonts zum zeitlichen Horizont, der zweitens all unsere intentionalen Bezugnahmen im Sinne einer fundamentalen zeitlichen Orientiertheit durchdringt. Dazu Husserl: Wir haben auch eine zeitliche Umgebung, eine nähere und eine fernere; eben gewesener Dinge und Vorgänge erinnern wir uns unmittelbar; sie waren nicht nur, sondern stehen jetzt in der Beziehung des Erinnertwerdens zu uns; worin auch beschlossen ist das Soeben-wahrgenommenwordenSein. […] Die Zukunft der Welt tritt zu uns in Beziehung durch die vorausblickende Erwartung. 41

Edmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, in: Hua, Bd. XVI, hrsg. von Ulrich Claesges, 1973, 4–5. 38 Vgl. Husserl, Ding und Raum, Hua XVI, 80. 39 Zur konstitutiven und normierenden Funktion sog. Kinästhesen am Beispiel von Parkinson vgl. Petit, »Pathological Experience«. 40 Husserl, Die Lebenswelt, Hua XXXIX, 145. 41 Husserl, Ding und Raum, Hua XVI, 5. 37

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Unsere gegenwärtige Situation reicht in mehrfacher Hinsicht über sich hinaus: So erscheinen die konkreten Dinge nicht nur in einer näheren räumlichen Umgebung, sondern auch in einer zeitlichen. Wäre dies nicht der Fall, dann hätten wir überhaupt keine Dingwahrnehmung: Weil unser Körper in jedem ›Jetzt‹ stets nur eine Position hat, erscheint jedes Ding notwendig in Aspekten. Damit wir dieses als Ganzes erfahren, muss unser Bewusstsein ständig die Struktur zeitlicher Orientierung aufrechterhalten, die Husserl später als Horizontintentionalität bezeichnen wird. Wollen wir einen bestimmten Gegenstand als einen identischen erkennen (bspw. meine Lieblingstasse), dann müssen nicht nur die Aspekte meiner Erfahrung in der gegenwärtigen Situation verschmolzen werden – also (in Husserls Worten) die Impression im ›Jetzt‹ mit der Retention des ›Noch‹ und der Protention des ›Gleich‹ –, sondern auch die Erfahrung von ›Früher‹ (bspw. die Gelegenheit, an der ich die Tasse erwarb). Horizontintentionalität bildet damit den impliziten Hintergrund all unserer Vollzüge. Es ist das Vermögen unseres Bewusstseins, welches die dynamische Wechselwirkung zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erfahrungen hinsichtlich unserer Bezugnahmen verständlich macht und sowohl explizite und deklarative als auch implizite und prozedurale Gedächtnisstrukturen umfasst. 42 Dies zu verstehen, ist nicht nur für die Analyse der pathologischen Modifikation von Orientierung, Sprache und Gedächtnis im folgenden Abschnitt wichtig, sondern auch für die anschließende Kritik eines verengten Begriffs des Gedächtnisses. Zunächst kommen wir aber noch abschließend auf die dritte Dimension lebensweltlicher Orientiertheit zu sprechen, die personale, auf die das Beispiel meiner Lieblingstasse bereits verwies. Husserl schreibt: In dieser selben Welt finden wir auch andere Ich, die wie wir ihre Umgebung in dieser selben Welt haben […] und die sich als fühlende und wollende Wesen ähnlich verhalten wie wir. […] Nicht alle Dinge gelten als IchGrundlegende phänomenologische Beschreibungen des Erinnerns, Vergessens und Gedächtnisses – die in dieser Studie nur sporadisch integriert werden können – erarbeitete bereits Husserl (vgl. Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass [1898–1925], in: Hua, Bd. XXIII, hrsg. von Eduard Marbach, 1980) und wurden von Autoren wie Edward Casey gezielt weiterentwickelt (vgl. Edward S. Casey, Remembering: a Phenomenological Study, Bloomington, Indiana University Press, 2000).

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Dinge, als Menschen, Tiere; die Welt zerfällt uns in physische und geistige Dinge […]. Die geistigen Dinge haben Erlebnisse […], mittels deren sie sich auf Dinge und Ereignisse geistig beziehen. 43

Husserl beschreibt hier, wenn auch sehr abstrakt, wie wir unser Gegenüber in der Lebenswelt als ›Meinesgleichen‹ kategorisieren, das über perzeptive, emotive und voluntative Fähigkeiten verfügt. Wie viel allerdings in diesen kurzen Ausführungen steckt, lässt sich durch drei Hinweise verdeutlichen: Erstens impliziert die Kategorie ›Meinesgleichen‹ eine »Normalidee ›wir und unsere Umwelt‹«, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmt und die, so Husserl, von der »anomalen Erfahrungswelt« zu scheiden ist – eine Annahme, die von offensichtlicher Relevanz für eine phänomenologische Psychopathologie ist. 44 Zweitens ist festzuhalten, dass die drei okkasionellen Dimensionen von Räumlichkeit, Personalität und Zeitlichkeit sich in unserer Lebenswelt permanent und dynamisch durchdringen. Die personal geteilte Welt bestimmt sich nicht nur räumlich (wie wir gerade lesen konnten), sondern auch zeitlich: Denn »jedes Ich«, so Husserl, ist in der natürlichen Einstellung, »dessen gewiss, dass […] das aktuell erinnerte Zeitstück des Daseins nur ein Stück der endlosen Daseinskette ist, die sich in die unendliche Vergangenheit zurückerstreckt wie sie andererseits in eine endlose Zukunft hineinreicht«. 45 Drittens lohnt es sich schließlich, die Implikationen der scheinbar lapidaren Bezeichnung ›geistiges Ding‹ zu entfalten: So unterscheidet Husserl ab 1910 genauer zwischen dem wissenschaftlichen Subjekt auf der einen Seite, das in der ›naturalistischen‹ Einstellung die Welt am Leitfaden des naturalistischen Paradigmas kausal auffasst, und dem lebensweltlichen Subjekt auf der anderen, das in der ›personalistischen‹ Einstellung lebt und die soziokulturell geprägten Sinnbestände der sog. ›geistigen Welt‹ motivational auffasst. 46 Dabei ist die personalistische Einstellung diejenige, »in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im

Husserl, Ding und Raum, Hua XVI, 5–6. Husserl, Die Lebenswelt, Hua XXXIX, 149. Dieser normative Grundcharakter der Lebenswelt wurde an anderer Stelle vor dem Hintergrund von AD diskutiert (vgl. Dzwiza-Ohlsen, »Verloren-Sein«, §§ 5–6). 45 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920, in: Hua, Bd. XIII, hrsg. von Iso Kern, 1973, 113. 46 Vgl. Husserl, Intersubjektivität I, Hua XIII, 90–97. 43 44

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Gruße die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind«. 47 Genau diese Einsichten wird Husserl im dritten Abschnitt der Ideen II, den Untersuchungen zur Konstitution der geistigen Welt, zum ersten Mal systematisch ausführen, weswegen sie sich als Husserls »erste Phänomenologie der Lebenswelt« lesen lassen. 48 Deswegen werden wir auch auf diese konkrete Variante der Lebensweltphänomenologie im Rahmen der Kritik des Mnemozentrismus zum Ende des Beitrags zurückkommen. Zunächst können wir jedoch hier Grundsätzliches für unsere Fragestellung festhalten: Da wir unsere Lebenswelt stets personal erfahren, wird diese personenzentrierte Perspektive auch für die Analyse von AD angewendet. Selbst wenn Betroffene ihre personale Identität und im Zuge dessen auch ihren Personen-Status im Verlauf der AD verlieren sollten (was gegenwärtig intensiv diskutiert wird, s. u.), bildet die personale Perspektive stets den Ausgangspunkt. Wenn wir beachten, dass es der transzendentalen Phänomenologie der Lebenswelt darum geht, universale Strukturen von Erlebnis und Ausdruck zu durchdringen, dann ist anzunehmen, dass auch Personen mit AD die Lebenswelt als ihre natürliche Welt erleben, deren minimale situative Orientiertheit relativ lange erhalten bleibt: also eine räumliche Orientiertheit aus der zentralen Position eines sensiblen, beweglichen und expressiven Leibkörpers, die durch die Gesetze des inneren Zeitbewusstseins strukturiert und im Rahmen einer soziokulturellen Welt artikuliert wird. Ob derartige Vorannahmen gerechtfertigt sind, kann nur der Blick auf die Erfahrungen mit AD zeigen.

4.

Analysen der gestörten Orientierung, Sprache und Gedächtnis bei AD

Eines der zentralen Symptome der AD ist ein Orientierungsverlust. Dieser hat massive Auswirkungen darauf, wie Betroffene ihre Welt erfahren. Schließlich finden diese sich nicht mehr in ihren eigentlich gut bekannten Umgebungen zurecht und dies gilt in räumlicher, zeit-

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Husserl, Ideen II, Hua IV, 183. Sommer, »Husserls Göttinger Lebenswelt«, IX.

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licher und personaler Hinsicht: 49 Betroffene wissen dann nicht mehr, wo sie sind und können nicht mehr Auskunft darüber geben, wo sie wohnen, welches Jahr wir haben oder wie ihre Kinder heißen. Derartige Orientierungsverluste werden ganz unterschiedlich erfahren: So berichten Betroffene einerseits von plötzlich auftretenden Blackouts, die im Folgenden als Orientierungsverluste bezeichnet werden; andererseits nehmen sie aber auch durchaus ihre sich allmählich verschlechternde Orientierungsfähigkeit wahr, was im Folgenden als Orientiertheitsverlust bezeichnet wird. 50 Betroffene fühlen sich in Situationen des Orientierungsverlustes haltlos und verloren, sind unruhig, ratlos, ängstlich oder panisch und empfinden das tiefe Bedürfnis nach Orientierung, Geborgenheit und Sicherheit. 51 Damit wird deutlich, dass bei der AD die Art und Weise, wie Personen sich selbst, Andere und die Lebenswelt insgesamt erfahren können, grundlegend modifiziert wird. Diese erste ›Bestandsaufnahme‹ lässt sich mit Hilfe von OA präzisieren, die in der AD-Forschung seit geraumer Zeit als »Defizitindikator« fungieren. 52 So geht mit dem Orientierungsverlust bei AD auch ein Sprachverlust einher, der insbesondere solche Ausdrücke betrifft, durch die wir uns und unser Gegenüber im Gespräch orientieren. Wir können OA also nicht nur nutzen, um die dreidimensionale Orientierungsstruktur der Lebenswelt anzuzeigen, sondern auch um den Orientierungs-, Sprach- und Gedächtnisverlust bei AD besser zu verstehen. Wir setzen OA im lebendigen Gespräch ständig im Sinne der »anaphorischen« Deixis ein: 53 Denn immer dann, wenn wir Relativpronomen nutzen, ›zeigen‹ wir auf das Gesagte und Gedachte in verkürzter Form. Betrachtet man sowohl Sprachverständnis und SprachVgl. Brockmeier, »Memory«, 71. Für eine ausführliche Analyse der Reflexivität bei Demenz sowie deren Relevanz für Theorien des Selbst vgl. Summa, »Disoriented Self«. 51 Zur affektiven Dimension der AD vgl. Dzwiza-Ohlsen, »Verloren-Sein«. Die denkbar einfachste Strategie, um sich zu reorientieren und die emotional oft äußerst belastende Situation zu verlassen, ist die Flucht. Dies führt dazu, dass circa »60 % der Menschen mit der Diagnose Alzheimer-Krankheit irgendwann weglaufen oder sich verirren« (Snyder, Alzheimer, 80). 52 Britta Wendelstein/Ekkehard Felder, »Sprache als Orientierungsrahmen und als Defizitindikator: Sprachliche Auffälligkeiten und Alzheimer-Risiko«, in: Johannes Schröder/Markus Pohlmann (Hrsg.), Gesund altern – individuelle und gesellschaftliche Herausforderungen, Heidelberg, Universitätsverlag Winter, 2012. 53 Bühler, Sprachtheorie, 80. 49 50

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produktion, so ergibt sich die Beobachtung, dass Personen mit AD einerseits trotz einer vergleichbaren Gesamtzahl an nominalen Referenzen Pronomina (also OA) in einem signifikant höheren Maße als gesunde Altersgenoss*innen einsetzen und diese jedoch andererseits deutlich schlechter verstehen. Daher profitieren sie in der Konversation (anders als gesunde Altergenoss*innen) davon, wenn (informationsärmere) Pronomina durch (informationsreichere) Nomina ersetzt werden. 54 – Welche Schlussfolgerungen können wir aus diesem scheinbar paradoxen Sachverhalt ziehen, die uns helfen, die Modifikation der subjektiven Erfahrung bei AD zu verstehen? Um diese Fragen zu beantworten, können wir uns der hilfreichen Begrifflichkeiten bedienen, die Bühlers Sprachtheorie liefert: Gemäß Bühler sind »Situation und Kontext […] die zwei Quellen, aus denen in jedem Fall die präzise Interpretation sprachlicher Äußerungen gespeist wird«. 55 Befinden wir uns in einem alltäglichen Gespräch, dann ist klar, dass beide Aspekte sich gegenseitig durchdringen: So stellt der Kontext mit seinem »Symbolfeld« eine sprachlich verfasste Wissensressource dar, die im Fortgang unserer Erfahrungen die Situation mit ihrem »Zeigfeld« informiert; diese wiederum bildet eine sinnlich verfasste Wissensressource, die uns im fundamentalen Sinne des Origo orientiert. 56 So bleibt zwar im Verlauf von AD eine minimale situative Orientiertheit durch das Origo und das »situative Gedächtnis« unseres Leibes relativ lange erhalten, jedoch fällt es Personen mit AD immer schwerer, ihre aktuelle Situation mental zu überschreiten und kontextuelle Informationen wie Adressen, Daten, Wochentage oder Namen zu integrieren. 57 »Die Störung basiert demzufolge«, so Summa, »auf der Unverfügbarkeit eines expliziten und reflektierten Wissens bezüglich der jeweiligen raum-zeitlichen und sozialen Inhalte einer Situation«. 58 Beachtet man, dass meist das episodische Gedächtnis als Speicher derartiger Kontextinformationen aufgefasst wird, die durch das semantische Gedächtnis sprachlich expliziert werden können, 59 verwundert es auch nicht, dass die Testung dieser Vgl. Amit Almor u. a., »Why Do Alzheimer Patients Have Difficulty with Pronouns? Working Memory, Semantics, and Reference in Comprehension and Production in Alzheimer’s Disease«, in: Brain and Language, 67 (13), 1999, 202–227. 55 Bühler, Sprachtheorie, 149. 56 Bühler, Sprachtheorie, 149. 57 Vgl. Fuchs, »Personale Identität«, 53–57; Summa, »Disoriented Self«, 481–483. 58 Summa, »Zwischen Erinnern und Vergessen«, 164. 59 Hughes, »Disorders of Memory«, 445. 54

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Gedächtnisformen in der Diagnostik dominiert. 60 Genau solche Kontextstörungen zu erheben ist unter anderem das Ziel der weit verbreiteten »Mini-Mental-State-Examination« und des »Clock-DrawingTests«. 61 Blickt man noch einmal auf den scheinbar paradoxalen Befund bezüglich von Produktion und Verständnis von Pronomina, kann angenommen werden, dass die Leistung des Arbeitsgedächtnisses, das kontextuelle Informationen während Konversationen verfügbar hält, bei Personen mit AD deutlich eingeschränkt ist. 62 Angesichts all dieser Erkenntnisse kann es nicht überraschen, dass Personen mit AD große Schwierigkeiten haben, OA zu verstehen: Schließlich kann ein »Hier« ganz prinzipiell den Ort bezeichnen, an dem die Person steht, gleichzeitig aber auch je nach Kontext einen Raum, eine Stadt oder eine bestimmte Region; analog kann ein »Jetzt« sich auf die unmittelbare Gegenwart beziehen, aber auch das laufende Jahr oder gar eine Epoche meinen; und schließlich kann ein »Wir« entweder nur mich und mein Gegenüber bezeichnen, aber auch eine größere Gruppe, wie die Fans eines Sportclubs oder die Bürger*innen einer Nation. So betont auch Husserl, dass die OA zu den »wesentlich subjektiven […] Ausdrücken« gehören, die sich vor allem dadurch auszeichnen, ihre »jeweils aktuelle Bedeutung nach der Gelegenheit, nach der redenden Person und ihrer Lage zu orientieren«. 63 Diese eigentümliche Relativität der jeweiligen Bedeutungen macht diese Ausdrücke einerseits praktisch, da wir nicht ständig alles bereits Gesagte wiederholen müssen; andererseits sind sie für Personen mit AD problematisch: »A real difficulty in speaking is words like ›we‹, ›they‹, ›I‹, ›you‹, ›he‹ – when I have to work out who is doing that to whom«. 64 Passend dazu stellten Lars Hydén und Elin Nilsson hinsichtlich des Pronomens ›wir‹ fest, dass es Paaren, in denen einer der Partner*innen von AD betroffen war, deutlich schlechter gelingt, auf die zeitlich dauerhafte Einheit ihrer Partnerschaft zu referieren, als Paaren, in denen keiner der Partner*innen an AD erkrankt war. 65 OA haben also die wichtige Funktion, uns und unsere Vgl. Brockmeier, »Memory«, 71. Vgl. Tölle/Windgassen, Psychiatrie, 305–306. 62 Almor u. a., »Why Do Alzheimer Patients Have Difficulty with Pronouns?«. 63 Husserl, Logische Untersuchungen, Hua XIX/1, A 80–81. 64 Christine Brydon, Dancing with Dementia. My Story of Living Positively with Dementia, London, Kingsley, 2005, 118–119. 65 Lars C. Hydén/Elin Nilsson, »Couples with dementia: Positioning the ›we‹«, in: Dementia, 14 (6), 2015, 716–733. 60 61

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Gesprächspartner*innen in kommunikativer Hinsicht zu orientieren und in sozialer Hinsicht zu positionieren. 66 Wenn man in prinzipieller Hinsicht erstens bedenkt, dass wir uns vermittels unserer Sprache ständig innerhalb unserer Lebenswelt orientieren und positionieren, man zweitens beachtet, dass kontextuelle Informationen sich gegenseitig ergänzen, ich also durch räumliche, zeitliche und personale Informationen weiß, wer mein Gegenüber ist und umgekehrt, und sich schließlich drittens deutlich macht, dass kontextuelle Informationen über das in der gegenwärtigen Situation nicht intuitiv Gegebene unser gesamtes Leben bestimmen, so werden die radikalen Auswirkungen der AD in Ansätzen verständlich. Dadurch fällt auch neues Licht auf häufig beobachtete Phänomene: So lassen sich das abnehmende Defizitbewusstsein Betroffener gegenüber sich selbst wie auch deren Unachtsamkeit gegenüber der Perspektive des Gegenübers als Positionierungsdefizite hinsichtlich personaler Kontexte auffassen 67; und auch die typischen Verwechslungen von (lebenden und bereits verstorbenen) Personen, die meist mit Sprüngen in Raum und Zeit einhergehen, lassen sich als Orientierungsversuche verständlich machen, die trotz des mangelhaften Kontextwissens eine konsistente, vertraute und damit auch beruhigende Situation herstellen sollen. Weniger lautet die Frage also »how we autobiographically localize ourselves ›in time‹ [conceptualized in a preexistant, naturalistic way], als vielmehr »how we localize ourselves in meaningful contexts by […] using temporal assumptions«. 68 AD führt uns damit anschaulich vor Augen, was als Grundeinsicht der Phänomenologie angesehen werden darf, nämlich die korrelative Abhängigkeit von Bewusstsein und Welt, die jedem naiven NaDiesem Umstand verleiht die ›Positioning-Theory‹ Ausdruck: »Positioning […] is the discursive process whereby selves are located in conversations as observably and subjectively coherent participants in jointly produced story lines« (Browyn Davies/ Rom Harré, »Positioning: The Discursive Production of Selves«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 20 [1], 1990, 43–63, hier 48). 67 Vgl. Daniel Kempler, »Language Changes in Dementia of the Alzheimer Type«, in: Rosemary Lubinski (Hrsg.), Dementia and Communication, Philadelphia, B. C. Decker, 1991, 98–114, hier 104; Summa, »Zwischen Erinnern und Vergessen«, 165. 68 Brockmeier, »Memory«, 82. Dass die Differenzerfahrung zwischen Wahrnehmung des Gegenwärtigen, Erinnerung an das Vergangene und Imagination des Kommenden eher auf einer interpretativen und konstruktiven Leistung unseres personalen Bewusstseins beruht und weniger auf einer subpersonalen, repräsentativen Tätigkeit des Gehirns, legen aktuelle neurologische Befunde nahe (vgl. Brockmeier, »Memory«, 81–82). 66

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turalismus den Boden entzieht. Kommt es zu pathologischen Modifikationen unseres horizontintentionalen Bewusstseins – ist der kontextuelle Strom an Informationen in der gegenwärtigen Situation gestört, wodurch Betroffene sich schlechter orientieren und positionieren können – verändert sich auch notwendigerweise die Erfahrung der Lebenswelt.

5.

Therapeutische Möglichkeiten bei AD: Habitus als kontextspezifische Ressource

Was aber lässt sich in therapeutischer Hinsicht tun, wenn sich Desorientiertheit, Sprachlosigkeit und Vergessen zu einem Grundzug des Daseins verfestigen? Wie ist es möglich, trotz dessen die Lebensqualität von Personen mit AD zu verbessern? Auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse lassen sich mehrere allgemeine Strategien vorschlagen, wobei im Folgenden nur die kontextspezifische Strategie erörtert werden soll. Diese prüft, ob Habitūs die Störung kontextuellen Wissens abfedern können, indem diese als Sinnressource erschlossen werden, die das Hier und Jetzt informiert und damit orientiert. Wir werden sehen, dass derartige Habitūs gezielt für die individuelle Kommunikation und Interaktion mit Betroffenen sowie für die Gestaltung des Lebensumfeldes erschlossen werden können. 69 Einleitend werden der bereits mehrfach erwähnte Mnemozentrismus und dessen Folgen kurz dargestellt, um anschließend das verengte Verständnis von Gedächtnis und Erinnerung mittels Habitūs gezielt erweitern zu können. Vor allem in westlichen Kulturen begreift sowohl die lebensweltliche δόξα als auch die wissenschaftliche ἐπιστήμη den Verlust des Gedächtnisses als das zentrale Merkmal von demenziellen Erkrankungen, insbesondere AD. 70 Zudem wird das Gedächtnis in einem verengten Sinne aufgefasst, was an der philosophischen Diskussion zu demenziellen Erkrankungen schlechthin deutlich wird: der Diskussion über personale Identität. 71 Hier dominiert eine AufEine weitere, komplementäre Strategie ist die situationsspezifische. Diese prüft, welche Kommunikationsressourcen in der Face-to-Face-Situation bei Personen mit AD im Hier und Jetzt erhalten sind (vgl. Dzwiza-Ohlsen, »Verloren-Sein«, § 7). 70 Brockmeier, »Memory«, 69–70. 71 Einen guten Überblick über die Diskussion geben Fuchs, »Personale Identität«; Tewes, »Embodied Selfhood«; Brockmeier, »Memory«, 73–76. 69

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fassung des Gedächtnisses, die sich stark auf die reflexive Zugänglichkeit der eigenen Vergangenheit konzentriert. Durch diesen Fokus auf das deklarative Gedächtnis eines Subjektes – und dessen Ausdifferenzierung in das episodische Gedächtnis für die zeitlich gegliederte Kette von Ereignissen, das semantische Gedächtnis für sprachlich kodierte Wissensinhalte und das autobiographische Gedächtnis – wird Personen mit AD im Verlauf ihrer Erkrankung nur allzu voreilig die personale Identität abgesprochen: The etiological scenario follows a familiar script: the focus on dementia as a memory disorder, and on AD as an eventually fatal memory degeneration, implies that in losing their capability of autobiographical remembering, people also lose, in due and natural course, their sense of their being in time, that is, their sense of autobiographical time. Ultimately, therefore, they lose their sense of self and identity, if not their right to full personhood. 72

Die Husserl’sche Habitūs-Theorie der Ideen II ist nun aufs engste mit den Fragen danach verbunden, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen und ihre Lebensgeschichte verstehen können und die individuellen Züge einer Person derart erfassen, durch die wir diese als eine identische auffassen. Das entscheidende Eingangstor zu einer Antwort bildet der sinnhafte und verstehbare Ausdruck, denn es gilt: ohne Ausdruck keine Kommunikation, ohne Kommunikation keine Sozialität und ohne Sozialität keine Lebenswelt. 73 Damit wird deutlich, dass sich in dieser lebensweltlichen Perspektive die intra- und intersubjektive Perspektive dynamisch durchdringen, wodurch die ganze Palette der Ausdrucksformen in den Blick kommt: Ausdruck kann sowohl mit oder ohne Absicht zur Kommunikation sein, und heißt dementsprechend »kommunikativ« (1) oder »nicht kommunikativ« (2); er kann sowohl »sprachlich« (3) als auch »nicht sprachlich« (4) verfasst sein; und er kann auf unterschiedlichste Weise »habituell« (5) werden. 74 Besonders diese fünfte, habituell gewordene Ausdrucksform soll uns in ihrer Relevanz für AD abschließend beschäftigen. Brockmeyer, »Memory«, 70. Vgl. Husserl, Ideen II, Hua IV, 186–196. 74 Husserl, Intersubjektivität I, Hua XIII, 63. Eine solche Theorie ist damit prinzipiell offen gegenüber den vielfältigen Ausdrucksformen des Menschen, die hier nicht weiter erörtert werden können (wie Musik, Literatur, Theater, Kunst oder Film), jedoch sowohl in der Therapie eingesetzt werden als auch bei Autoren wie Foucault eine wichtige Rolle spielen, um der »Erfahrungsstruktur des Wahnsinns« jenseits des ›Logozentrismus‹ näher zu kommen (Foucault, Wahnsinn, 13). 72 73

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Habitualisierung ist schon ganz allgemein betrachtet von ausgezeichnetem Interesse für die philosophische Auseinandersetzung mit Demenz: Habitūs (im Plural) lassen sich als sedimentierte Geschichte unseres Lebens verstehen, die als selbstverständlich gewordene Basis unsere personalen Vollzüge tragen. Sie orientieren unser Leben in einem umfassenden Sinne und machen verständlich, warum wir so fühlen, denken und handeln, wie wir es tun. 75 Wie Fuchs jüngst betont hat, lassen sich Habitualisierungen als eine Art implizites Gedächtnis betrachten, welches sich in prozeduraler, situativer und zwischenleiblicher Weise differenzieren und auf spezifische Weise reaktivieren lässt, um autobiographische Aspekte zugänglich zu machen, die nicht oder nicht mehr für das explizite Gedächtnis erreichbar sind. 76 Blickt man vor diesem Hintergrund auf unser alltägliches Handeln, so wird bspw. die Rede von einem situativen Leibgedächtnis verständlich: Schließlich lerne ich von Kindheitsbeinen an meinen Leibkörper als das mir vertrauteste »Willensorgan« einzusetzen, das ein meist implizit bleibendes Wissen um die praktischen Möglichkeiten enthält, die mir auf der Basis meiner individuell erlernten Fertigkeiten je nach Situation zur Verfügung stehen. 77 Das therapeutische Potenzial eines derart inkorporierten Wissens – das oft auch als ›Knowing-how‹ im Rahmen des prozeduralen Gedächtnisses konzeptualisiert wird 78 – ist offensichtlich: Wo reflexive Zugänge zu kontextuellem Wissen nicht mehr gelingen, erscheint die Aktivierung präreflexiver Vollzüge geboten – ein Ansatz,

Vgl. Casey, Remembering, 149. Vgl. Fuchs, »Personale Identität«, 53–56. 77 Husserl, Ideen II, Hua IV, 153. Tewes betont, wie wichtig es für einen Dialog zwischen Phänomenologie und Neurowissenschaften ist, die subjektive Erfahrungsperspektive zu erfassen, die insbes. bei adaptiver Habitualisierung auf personaler Ebene zugänglich ist (Christian Tewes, »The Phenomenology of Habits: Integrating FirstPerson and Neuropsychological Studies of Memory«, in: Frontiers in Psychology, 9, 2018, 1–6). Vgl. auch das berühmte »Ich-kann« Husserls (Husserl, Ideen II, Hua IV, 253). 78 Vgl. Fabrice Teroni, »The Phenomenology of Memory«, in: Sven Bernecker/Kourken Michaelian (Hrsg.), Routledge Handbook of Philosophy of Memory, London/ New York, Routledge, 12017, 21–33. Vor dem Hintergrund klassischer phänomenologischer Ansätze ist es besonders problematisch, wenn sich der Autor auf explizite Formen der Erinnerung beschränkt und damit nicht nur die verengte Sichtweise auf Erinnerung reproduziert, sondern auch eine solche der Phänomenologie produziert. 75 76

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der gut zur oft beobachteten »Bedeutung körperlich-affektiver Interaktion« bei fortgeschrittener Demenz passt. 79 Blickt man nun genauer auf das therapeutische Potenzial von Ausdruckshabitualisierung, dann lässt sich diese als Ressource betrachten, die die individuelle Person trotz (attentionaler, mnestischer, sprachlicher usw.) Defizite ansprechbar macht, ohne diese künstlich zu konservieren. So kann ich in der Lebenswelt ständig beobachten, dass der Ausdruck meiner Mitmenschen individualtypisch ist und einen je eigenen Motivationsstil anzeigt – schließlich verweist uns die Art einer Person, »so und so zu gehen, so und so zu tanzen, so und so zu sprechen« auf einen »individuellen Habitus«, der diese Person einzigartig macht. 80 So inhaltsleer Witze, Phrasen oder Sprichwörter den Interaktionspartner*innen erscheinen mögen, so sind sie dennoch Formen habitualisierten Ausdrucks, die die Individualität einer Person anzeigen. Genau dies bringen die von uns alltäglich genutzten Ausdrücke wie ›Charakter‹ oder ›Stil‹ auf den Punkt: Sie bezeichnen die individualtypische Art und Weise von Personen, in der, gleich einem Amalgam, unsere vielfältigen affektiven, praktischen und intellektuellen Vollzüge im Verlauf unserer Geschichte verschmolzen wurden. Wenn auch Husserl von »Stil« spricht, dann muss man dabei nicht nur an den Lebens- oder Verhaltens-, sondern auch ganz konkret an den Kleidungs-, Frisuren- oder Kosmetikstil denken, der Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Gegenübers zulässt. 81 Auf diese Weise lässt sich verstehen, warum auch schwer Demente ihre Liebsten erkennen und mit Freude mit ihnen interagieren, auch wenn sie kontextuelle Informationen wie Name, Beruf oder Alter nicht mehr abrufen können. Die robuste Textur dieses oft übersehenen sozialen Bandes wird umso greifbarer, wenn wir beachten, dass sich Ausdruckshabitualisierung nicht nur individuell, sondern immer auch auf plurale Weise vollzieht. So bilden sich durch gemeinsame Interessen intersubjektive Praktiken heraus (wie bspw. Tanz oder Fußball), die sich in gemeingeistigen Strukturen verfestigen, wie es bei Freundschaft, Partner-

Vgl. Christian Meyer, »Menschen mit Demenz als Interaktionspartner: Eine Auswertung empirischer Studien vor dem Hintergrund eines dimensionalisierten Interaktionsbegriffs«, in: Zeitschrift für Soziologie, 4 (2), 2014, 95–122, hier 108. Zur affektiven Relevanz dieses Ansatzes vgl. Dzwiza-Ohlsen, »Verloren-Sein«, § 6. 80 Husserl, Ideen II, Hua IV, 240, 295. 81 Husserl, Ideen II, Hua IV, 270. 79

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schaft oder Mitgliedschaften der Fall ist. 82 Von hier aus rücken auch das historische und kulturelle Gedächtnis in den Blick einer Phänomenologie der Ausdruckshabitualisierung, indem diese (oral, schriftlich und/oder institutionalisiert) an ihre Nachfahren überliefert werden (bspw. in Vereinsstatuten). 83 Plurale Ausdruckshabitualisierungen prägen derart unser Denken, Fühlen und Handeln und führen zur intersubjektiven Synchronisation von Abläufen – womit nicht nur feste Termine für Aktivitäten, sondern, noch allgemeiner, auch Schlaf-, Arbeits- und Essrhythmen gemeint sein können. In therapeutischer Hinsicht wäre es von großer Bedeutung, derartige personale und plurale Habitūs gezielter als bisher zu beachten. Es spräche außerdem dafür, Personen mit AD so lange wie möglich in einem gewohnten Lebensumfeld zu belassen und so die pluralen Ausdruckshabitūs zu festigen und zu reaktivieren. Sobald jedoch eine Veränderung der Wohnsituation unumgänglich wird, lassen sich aus dieser Lebenspraxis heraus Kriterien für den Übergang in Pflegeeinrichtungen artikulieren, schließlich habitualisiert sich Ausdruck auch in den Gebrauchsgegenständen und der Inneneinrichtung in einer personen- und kulturspezifischen Weise im Sinne eines materialen Gedächtnisses. Wie eng dabei die soziale mit der praktischen und affektiven Dimension verflochten sind, zeigt unter anderem die sprachliche Nähe von ›inhabitant‹, ›habit‹, und ›to inhabit‹ (im Englischen) bzw. ›Wohnen‹ und ›Gewohnheit‹ (im Deutschen) an. 84 Die persönlich gestaltete Inneneinrichtung kann derart eine vertraute Atmosphäre in einem irritierenden Lebensumfeld schaffen, in dem die Betroffenen – ganz unabhängig von der Erkrankung – ständig mit Neuem konfrontiert werden. Vertraute Gebrauchsgegenstände fungieren als Fenster in die Vergangenheit, mit denen sich leiblich verVgl. Husserl, Ideen II, Hua IV, 200. Beachtet man, dass die lebensweltliche Erfahrung die theoretische Grundlage für alle Wissenschaften ist und letztere als habituelle Leistungen einer soziokulturellen Gemeinschaft selbst Gegenstand der Phänomenologie werden können (vgl. Husserl, Ideen II, Hua IV, 288, Anm. 1), dann erweist sich die hier gewählte Methode prinzipiell gegenüber den vielfältigen Bedeutungsverschiebungen sensibel, die zentrale Kategorien unseres lebensweltlichen und wissenschaftlichen Selbstverständnisses durchlaufen. Damit kann sie vorschnellen Substantialisierungen vorbeugen, wie sie u. a. in Positionen zu Gedächtnis, Identität und Personalität zu finden sind (vgl. Brockmeier, »Memory«, 76–79). 83 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München, C. H. Beck, 2018. 84 Vgl. Thomas Fuchs, »Vertrautheit und Vertrauen als Grundlagen der Lebenswelt«, in: Phänomenologische Forschungen, 21, 2016, 101–117, hier 105. 82

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mittelte, präreflexive Affekte und Praktiken reaktivieren lassen: Das Ding, so sagt Husserl plastisch, »klopft an die Pforte des Bewußtseins«, es »zieht praktisch an, es will gleichsam ergriffen sein, es ladet zum Genusse ein usw«. 85 Die Pointe eines solches Ansatzes zeigt sich, wenn wir beachten, dass sich in der kulturellen Vertrautheit mit solchen Dingen auch komplexe Regelsysteme habitualisieren, wie sie sich bspw. im Tanz oder Ballsport finden. Denn mit der Affordanz kann eine kulturelle Prägnanz mitgegeben sein, die es Betroffenen erlaubt, abstrakte Wissensgehalte via Habitualisierung in das Hier und Jetzt einzubeziehen – eine Leistung, die typischerweise nur dem deklarativen Gedächtnis zugeschrieben wird und dem »standard view of memory, identity, and autobiographical time« verborgen bleiben muss. 86

6.

Fazit

Wenn es in der Praxis gelänge, Interaktions- und Kommunikationsressourcen noch gezielter als bisher zu reaktivieren, ließe sich die oft misslingende Interaktion mit Betroffenen minimieren und deren oft niedrige Lebensqualität maximieren. Um dieses Ziel jedoch zu erreichen, ist der eingangs beschriebene Perspektivenwechsel von großer Bedeutung – denn AD bedeutet nicht, dass das Erinnerungsmodul eines Gehirns defekt ist, sondern dass lebensweltliche Personen mit den massiven Folgen einer Erkrankung kämpfen müssen. Eine phänomenologische Psychopathologie im Ausgang von der Lebenswelt ist für genau diesen Umstand sensibel, indem sie den ontologischen Primat der personalistisch erfahrenen, geistigen Welt betont und die Interaktion einer leiblich orientierten Person mit ihrer soziokulturellen Umwelt erfasst. 87 Die Pointe eines solchen Ansatzes ist auch, dass Husserl, Ideen II, Hua IV, 220. Dieser Grundgedanke findet sich in kognitionswissenschaftlichem Theoriedesign in der sog. ›Affordance-Theory‹ wieder (vgl. James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston, Houghton Mifflin, 1979). 86 Brockmeier, »Memory«, 74. 87 Hier kann nur darauf hingewiesen werden, dass dieser Ansatz auch mit anderen einschlägigen Theorien kompatibel ist: Bspw. ist die lebensweltliche Person der Sache nach ›4-E‹, da diese immer schon ›embodied‹, ›embedded‹, ›extended‹ und ›enacted‹ ist (vgl. Albert Newen/Leon De Bruin/Shaun Gallagher [Hrsg.], The Oxford Handbook of 4E Cognition, Oxford, Oxford University Press, 2018). 85

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diagnostische und therapeutische Perspektive wieder näher zusammenrücken. Indem sie die komplexe Wechselwirkung von Orientierung, Sprache und Gedächtnis erfasst, anstatt die AD auf eines dieser Konzepte reduzieren zu wollen, gelingt es ihr, sowohl empirische Erkenntnisse als auch lebensweltliche Erfahrungen zu integrieren und derart die verengte Sichtweise auf die Herausforderungen, denen Betroffene alltäglich begegnen, zu überwinden. Schließlich leiden diese weniger an Fragen der personalen Identität oder der cerebralen Lokalisierbarkeit von AD als an den sozialen Folgen dieser Erkrankung. 88 Dies würdigend, wurde abschließend eine kontextspezifische Forschungsstrategie vorgestellt, um nicht nur den Mnemozentrismus zu überwinden, sondern auch konkrete therapeutische Ziele zu formulieren. So können Habitūs als reichhaltige Kommunikations- und Interaktionsressource angesehen werden, deren Bedeutung dann besonders groß wird, wenn sprachlich und reflexiv verfasstes Wissen zu schwinden beginnt. Gelingt es nicht, derartige Ressourcen zu aktivieren, besteht die akute Gefahr, dass Demente dehumanisiert oder depersonalisiert werden und also nicht als Personen anerkannt werden – sei es indirekt durch Wissenschaft und Gesellschaft oder direkt durch Pflegende, Ärzte oder gar engste Freunde und Angehörige. 89 Dabei erlaubt uns der Ansatz bei der Lebenswelt, Demenz nicht nur als irreversible und neurodegenerative Krankheit zu erfassen, der Betroffene schicksalhaft ausgeliefert sind, sondern als psycho- und soziodegenerative Krankheit zu verstehen, für deren Umgang wir als Gesellschaft Verantwortung tragen. Eine Gesellschaft, die das kollektive Ziel verfolgt, immer älter zu werden, muss auch – auf der Grundlage eines gemeinsamen Grundgesetzes – dafür Sorge tragen, dass dies in Würde geschehen kann. Genau dies ist der ethische Fluchtpunkt einer phänomenologischen Psychopathologie von Demenzerkrankungen, für die die lebensweltliche Erfahrung von Personen mit Demenz im Mittelpunkt steht.

Vgl. David Clegg nach Brockmeier, »Memory«, 85–86; Dzwiza-Ohlsen, »VerlorenSein«, § 6. 89 Vgl. Janelle S. Taylor, »On Recognition, Caring, and Dementia«, in: Annemarie Mol/Ingunn Moser/Jeanette Pols (Hrsg.), Care in Practice. On Tinkering in Clinics, Homes, and Farms, Bielefeld, Transcript, 2010, 27–56. 88

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Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule: Leben im Spannungsfeld der Praxis Anne Lepper

Abstract: In dem vorliegenden Aufsatz wird gezeigt, dass das Ziel schulisch vermittelter Bildung, obgleich es durch die Bildungspläne der Länder eingefordert wird, mit Blick auf die Diversität in deutschen Klassenzimmern äußerst problematisch und fragil ist. Bildung als Grundlage menschlichen Lebens wird dort verhindert, wo schulische Bildung noch immer in der Tradition einer individuelle Besonderheiten nivellierenden Erziehung steht, die sowohl mit Blick auf den Beginn der institutionalisierten schulischen Bildungsbiografie als auch auf ihr Ende hin die Fähigkeiten und Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern allein nach einheitlichen Maßstäben bemisst. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Kapital als auch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund erleben dadurch häufig Bildungsungerechtigkeit. Es soll die Frage beantwortet werden, wie in der schulischen Praxis die Bildung des Einzelnen dennoch möglich werden kann. The purpose of this paper is to show that the objective of school education, although stipulated in the curricula of the individual states of Germany, is extremely problematic and fragile in terms of the diversity of its classrooms. Education is blocked from being the basis of human life where it remains permeated by a traditional approach that levels out individualities and measures pupils’ knowledge and competencies solely according to uniform standards, both at the beginning and at the end of their institutionalized educational trajectories. Children and youth from families of low socio-economic status and those with migrant backgrounds thus experience educational injustice especially frequently. This article addresses the question of how education of the individual can nevertheless take place in everyday classroom education.

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1.

Einführung

Seit der Antike wird Vernunft als ein Merkmal menschlichen Lebens bestimmt. Besonders deutlich tritt dies etwa in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zutage, in welcher er den Menschen als das vernunftbegabte Lebewesen 1 bestimmt. Immanuel Kant modifiziert diese Ansicht später. Er ist Vertreter einer sich im 18. Jahrhundert entwickelnden Subjektphilosophie, der gemäß der Mensch durch die Fähigkeit zu Vernunft, Freiheit und Autonomie bestimmt ist. 2 Anders als Aristoteles geht er jedoch davon aus, dass der Mensch nicht schon von Natur aus vernünftig ist. Als animal rationabile ist er ein vernunftfähiges Wesen. 3 Als solches ist Vernunft keine Tatsache, sondern eine Forderung, die der Mensch in seinem praktischen Handeln erfüllen soll. Wilhelm von Humboldt hat später in seinen Schriften und in seinen Schulplänen, speziell in seiner Konzeption des Gymnasiums, diesem Ideal wie kein anderer Ausdruck verliehen. Er geht davon aus, dass sich das Potenzial des Menschen zu vernunftgeleitetem praktischem Handeln, zu Emanzipation und Mündigkeit durch Bildung entfaltet. Humboldt entwickelt seinen Bildungsbegriff ausgehend von der Frage nach der Bestimmung des Menschen. Bezugspunkt seines Bildungsverständnisses ist die potenzielle Befähigung des Menschen zu vernünftigem Handeln: »Der wahre Zweck des Menschen […] welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste (sic!) Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«. 4 Die freie Entfaltung aller dem einzelnen Menschen innewohnenden Fähigkeiten, Talente und Anlagen im Sinne umfassendster individueller Persönlichkeitsentfaltung bewirkt die Herausbildung einer sittlich-reifen, aufgeklärt-emanzipierten Persönlichkeit und umschreibt somit das Vermögen, sich seiner selbst gewahr zu werden, sich selbst zu erkennen, selbständig, d. h. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. von Rainer Nickel, Düsseldorf, Artemis & Winkler, 1102a24–28. 2 Vgl. dazu Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg, Meiner, 2007, hier u. a. 15–16. 3 Vgl. dazu Hendrik Klinge, Die moralische Stufenleiter: Kant über Teufel, Menschen, Engel und Gott, Berlin/Boston, De Gruyter, 2018, hier 52. 4 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Gesammelte Schriften, 17 Bde., 1903–1936; photomomechanischer Nachdruck, Berlin, De Gruyter, 1967/68, Bd. 1: 1785–1795, hrsg. von Albert Leitzmann, 99–254, hier 106. 1

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Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule

autonom, sich seines kritischen Verstandes zu bedienen, um solcherart denk- und handlungsfähig zu werden. Auch in der Gegenwart findet sich in den Bildungsplänen deutscher Schulen als oberstes Ziel noch immer die humanistische Absicht, dass sich die Schüler am Ende der Schullaufbahn zu eigenverantwortlich, selbstständig und vernünftig handelnden Menschen gebildet haben sollen. 5 Wird menschliches Leben in einem engen Zusammenhang mit Vernunft gedacht, ist es jedoch nicht allein von der einzelnen Person her zu begreifen. Bildung vollzieht sich nicht allein im einzelnen Menschen als innerer Prozess des Sich-Bildens, sondern ist stets auch ein intersubjektiver Prozess. Das Werden des Menschen zu einem vernünftig handelnden und selbstbewussten Wesen beruht auch auf seiner Anerkennung als eines autonomie- und vernunftfähigen Wesens. 6 Den Begriff der Anerkennung hat in der Philosophie unter anderem Fichte geprägt und dabei die entscheidende begriffliche Grundlegungsarbeit für die Erziehungswissenschaften geleistet. 7 Er formulierte die Idee, dass Anerkennungsrelationen grundlegend für das Menschwerden und das Menschsein sind. Nach Fichte kann der Mensch seine Vernunft nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen entwickeln. 8 Die folgende Argumentation beruht auf dieser durch Fichte formulierten Idee, dass der Mensch als Vernunftwesen immer die Anerkennung eines anderen Vernunftwesens voraussetzt. Weil die Entfaltung des Menschen als Vernunftwesen immer die Anerkennung eines anderen Vernunftwesens voraussetzt, bildet sich menschliches Leben immer wechselweise zwischen einem Ich und einem anerkennenden Anderen. Erfahren wir im Handeln des Anderen eine Anerkennung unserer selbst als vernünftig, können wir uns selbst als vernünftig betrachten. Aufgrund der Abhängigkeit von der Anerkennung durch ein anderes Vernunftwesen ist Bildung als Verwirklichung des vernünftigen Po5 Vgl. dazu z. B. Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.): Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre. Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen, Erfurt, 2015, 9. 6 Vgl. zum Topos der Individualgenese als Bereich des philosophischen Anerkennungsdiskurses Bärbel Frischmann, »Zum Begriff der Anerkennung. Philosophische Grundlegung und pädagogische Relevanz«, in: Soziale Passagen. Journal für Theorie und Empirie der Sozialen Arbeit, 1(2), 2009, 145–161, hier 150. 7 Vgl. Frischmann, »Zum Begriff der Anerkennung«, 150. 8 Vgl. Frischmann, »Zum Begriff der Anerkennung«, 151.

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tenzials äußerst fragil. Es stellt sich die Frage, ob und wie an Schulen als den zentralen Bildungsinstitutionen die Bildung des Individuums unter dem Aspekt der wechselseitigen Anerkennung als Grundlage der Entfaltung des Menschen als vernünftig handelndes Wesen gelingt. Ein erster Befund vor dem Hintergrund bisheriger Ergebnisse im Rahmen der PISA-Studie zeigt, dass die Entfaltung eines jeden Menschen zu einem vernünftigen Wesen an Schulen nicht unproblematisch ist. So haben Schüler mit Migrationshintergrund oder geringen sozioökonomischen Ressourcen in Deutschland wesentlich schlechtere Möglichkeiten sich zu bilden und damit weniger Aussicht auf Bildungserfolg als Kinder ohne Migrationshintergrund. Wird die sozio-/kulturelle Diversität an den Schulen in den Blick genommen, zeigt sich, dass sich die institutionalisierte Umsetzung der Bildung an den deutschen Bildungseinrichtungen insbesondere im Elementar-, Primar- und Sekundarbereich als äußerst defizitär erweist, insofern die für den Prozess des Sichbildens (im Sinne der Verwirklichung und Entfaltung des eigenen vernünftigen Potenzials) vorausgesetzte Anerkennung durch einen Anderen fehlt. 9 In der nachfolgenden Auseinandersetzung soll Bildung im Kontext von sozio-/kultureller Diversität an Schulen gedacht werden. Dabei gilt es zu klären, wie sich das menschliche Potenzial zu vernünftigem Handeln – und, damit verbunden, Bildung vor dem Hintergrund wachsender sozio-/kultureller Diversität an unseren Schulen – verwirklichen kann. Nach einer einführenden Überlegung zum Begriff der Bildung gilt es zunächst zu zeigen, dass der Bildungsprozess nicht nur als ein auf die einzelne Person bezogener Prozess verstanden werden kann, in welchem sich das Individuum reflexiv mit sich und der Welt auseinandersetzt. Bildung soll als ein reziproker Prozess beschrieben werden, der die Anerkennung durch ein Gegenüber voraussetzt. In einem weiteren Schritt gilt es zu zeigen, dass dieser reziproke Prozess dort entfällt, wo schulische Bildung noch immer in der Tradition einer »organisierten Massenerziehung« steht, Dies gilt auch für Kinder mit geringem sozio-/ökonomischen Kapital. Meistens sind Kinder mit Migrationshintergrund daher doppelt benachteiligt, da sie häufig neben dem Migrationshintergrund ein geringes sozio-/ökonomisches Kapital aufweisen. Vgl. hierzu z. B. Gundel Schümer, Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterpriviligierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen, in: Gunden Schümer/ Klaus-Jürgen Tillmann/Manfred Weiss (Hrsg.), Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Vertiefende Analysen der PISA-2000-Daten zum Kontext von Schülerleistungen, Wiesbaden, Springer VS, 2004, 73–116.

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Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule

bei welcher die Schule versucht, homogene Klassen »nach Alter, der bestehenden Leistung und des Leistungsvermögens, d. h. mit gleichen Ausgangsbedingungen herzustellen«. 10 Bevor in einem letzten Schritt ein Fazit gezogen werden soll, wird geklärt werden, wie in der Praxis die Bildung des Einzelnen und damit die Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit und die Herausbildung einer sittlich-reifen, aufgeklärt-emanzipierten Persönlichkeit möglich wird.

1.

Zum Begriff der Bildung

Der Bildungsbegriff hat eine lange Tradition und ist seit Beginn der Pädagogik als eigenständiger Wissenschaft einer ihrer zentralen Begriffe. Aufgrund dieser langen Tradition findet sich der Begriff der Bildung neben dem wissenschaftlichen auch in einem alltagssprachlichen Register. So stellte Tenorth Anfang der 90er Jahre zutreffend fest, dass der Begriff der Bildung im öffentlichen Kontext oder im Kontext der Wissenschaft benutzt wird, wobei sich die unterschiedlichen Verwendungsweisen jeweils in die Kategorien untheoretischer und theoretischer Gebrauch gliedern lassen. In der untheoretischen Gebrauchsweise findet sich die Verwendung des Begriffs der Bildung u. a. in der fiskalpolitischen, der bildungspolitischen oder staatstheoretischen Debatte. 11 Untheoretisch meint in diesem Kontext vor allem die semantische Entgrenzung des Begriffs durch unterschiedliche Bedeutungszuweisungen in den verschiedenen Disziplinen. Die Bedeutungsvielfalt führt dabei zu einem Verlust der Klarheit der Bedeutung. Doch auch im erziehungswissenschaftlichen Kontext oder im Bereich der empirischen Bildungsforschung wird der Bildungsbegriff in den letzten Jahrzehnten zunehmend untheoretisiert bzw., wie Tenorth formuliert, unproblematisch benutzt und befindet sich damit auf einem »unterentwickelten Analysestand« 12. Laut Brezinka hängt der Simone Pilz: Schulentwicklung als Antwort auf Heterogenität und Ungleichheit, Wiesbaden, Springer VS, 2018, hier 38. 11 Vgl. Heinz-Elmar Tenorth, »Bildung – Thematisierungsformen und Bedeutung in der Erziehungswissenschaft«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 6 (43), 1997, 969–984, hier 971. 12 Krassimir Stojanov, »Gerechtigkeit im Bildungswesen«, in: Gabriele Weiß/Jörg Zipras (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Wiesbaden, Springer VS, 2019, 203–214, hier 205. 10

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Bedeutungsverlust des Bildungsbegriffs in den Erziehungswissenschaften dabei in erster Linie mit der in den 60er und 70er Jahren vollzogenen Entwicklung der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft zusammen. 13 Die Erziehungswissenschaft als eine Erfahrungswissenschaft bediene sich allein der empirischen Methode. Wird die Erziehungswissenschaft in diesem Sinn als Erfahrungswissenschaft verstanden, dann ist es ihr Ziel, Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, welche der Praxis das technologische und prognostische Wissen liefern. Als solche ist sie rein deskriptiv, rational, sachlich und absolut wertfrei. Sie befasst sich somit ausschließlich mit Seins- und nicht, wie es die geisteswissenschaftliche Pädagogik vor ihr tat, mit Sollensfragen. Der Begriff der Bildung wird in diesem Sinn auf quantifizierbare Indikatoren wie z. B. höchster Bildungsabschluss, Noten, Fremdsprachenkenntnisse, Kenntnisse mathematischer Formeln etc. verkürzt, nicht aber inhaltlich systematisch bestimmt. Mit diesem Perspektivwechsel und mit der Weiterentwicklung der Erziehungs- und der ebenfalls hauptsächlich empirisch arbeitenden Bildungswissenschaft ging die Tatsache einher, dass grundlegende Begriffe der Erziehungs- und Bildungswissenschaften, wie etwa der der Bildung, nur noch selten systematisch in ihren Bedeutungen analysiert und expliziert wurden. Zwar blieb die allgemeine Pädagogik als Erbe der geisteswissenschaftlichen Tradition immer Teil des erziehungswissenschaftlichen Curriculums, jedoch wird diese, nicht zuletzt auch durch die PISA-Studien, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr an den Rand gedrängt. 14 Dies hatte zur Folge, dass Werte und Ziele pädagogischen Handelns zunehmend aus dem Blick geraten sind. Eine Erziehungswissenschaft, deren Forschung nicht auf der Analyse ihrer Grundbegriffe aufbaut, kann nur unzulänglich eine Antwort etwa auf die Festlegung von Kanon, Schulstruktur, Übergangsregeln oder einer angemessenen Mittelverteilung geben. 15 Mit zunehmender Individualisierung der Gesellschaft, wie sie seit den 1960er Jahren an Dynamik gewonnen hat, ist die Klärung dieser Fragen wesentlich notwendig, soll Bildung auch vor dem HinterWolfgang Brezinka, »Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Vorschläge zur Abgrenzung«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 14, 1968, 435–454. 14 Vgl. dazu etwa Dorothee Buchhaas-Birkholz, »Die empirische Wende in der Bildungspolitik und in der Bildungsforschung: Zum Paradigmenwechsel des BMBF im Bereich der Forschungsförderung«, in: Erziehungswissenschaft, 20, 2009, 27–33. 15 Johannes Drerup: »Bildungsforschung: Beiträge der Erziehungs- und Bildungsphilosophie«, in: Erziehungswissenschaft, 29 (56), 2018, 27–34, 32. 13

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Sozio-/Kulturelle Diversität und Schule

grund einer neuen sozio-/kulturell diversen Gesellschaft möglich sein. Hierfür liefert neuerdings die Bildungsphilosophie Begriffsanalysen. Anders als in den Empirischen Bildungswissenschaften bestehen die zentralen Aufgaben der Bildungsphilosophie in der Reflexion und Bearbeitung von Fragen der theoretischen Konzeptualisierung sowie der Ermöglichung und der Legitimation von Erziehung und Bildung. 16 Dabei wird in der erstarkenden Bildungsphilosophie erneut die klassische Ansicht vertreten, dass Bildung den Prozess des Erwerbs vernunftbasierter Autonomie sowie die Fähigkeit zu dieser beschreibt, womit der Begriff der Bildung immer auch die Begriffe »Emanzipation« und »Mündigkeit« einbezieht. 17 So beschreibt etwa Langewand Bildung als »subjektive Aneignung des objektiven Gehalts von Kultur«, in der »auf der einen Seite allgemeine oder gar universale Bestimmungen des Selbst- und Weltverhältnisses wie Vernunft, Rationalität, Humanität, Sittlichkeit verschränkt sind oder sein sollten mit den auf der anderen Seite besonderen Bestimmungen konkreter Individualität von Personen« 18. Oder mit anderen Worten: Ziel von Bildung ist es, dass Kinder und Jugendliche dazu befähigt werden, sich zu sich selbst und zu der sie umgebenden Welt in Beziehung zu setzen, dabei von spezifischen Persönlichkeitszügen abstrahieren, die eigenen Handlungsmaximen in einen universellen Kontext stellen und somit autonom handeln können. Doch nicht nur in pädagogischer oder bildungsphilosophischer Perspektive hat die damit verbundene Idee der Autonomie als menschliches Wesensmerkmal und damit universalistisches Moment trotz kulturrelativistischer Gegenargumentation noch Gültigkeit. Insbesondere im Bereich der Gerechtigkeitstheorien ist die Idee der Autonomie nach wie vor von zentraler Bedeutung. So beschreibt sie u. a. John Rawls in seiner klassisch gewordenen Theorie der Gerech-

16

Drerup, »Bildungsforschung: Beiträge der Erziehungs- und Bildungsphilosophie«,

7. Vgl dazu Stojanovs Versuch, das Prinzip der individuellen Autonomie gegen »postmoderne« Angriffe zu schützen (Krassimir Stojanov: »Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung. Kritische Anmerkungen zum Gebrauch der Gerechtigkeitskategorie in der empirischen Bildungsforschung«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 54 [4], 2008, 516–531, hier 525). 18 Alfred Langewand: »Bildung«, in: Dieter Lenzen (Hrsg.), Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1994, 69–98, hier 69. Vgl. dazu auch Stojanov, »Gerechtigkeit im Bildungssystem«, 210; Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg, Edition Körber-Stiftung, 2013, 60. 17

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tigkeit als Hauptmerkmal sozialer Verhältnisse. 19 Auch zeitgenössische Philosophen konzentrieren ihre Arbeit auf die Idee der Autonomie. So geht u. a. Martha C. Nussbaum in ihrer Theorie über das gute und menschliche Leben davon aus, dass der Wille und die Möglichkeit, die eigenen Gedanken verwirklichen, frei wählen, urteilen und handeln zu können, eine das menschliche Leben in seiner Grundstruktur ausmachende Fähigkeit ist. 20

2.

Anerkennung und Universalisierung als Grundlage von Bildung

Nachdem im vergangenen Abschnitt die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff erörtert wurde, soll im Folgenden auf die Bedingung von Bildung näher eingegangen werden. Die Fähigkeit autonomen Handelns als Ziel von Bildungsprozessen wird dabei nicht allein als das Ergebnis eines selbstbezogenen und subjektiven Vorgangs, sondern als Ergebnis intersubjektiver Beziehungen bestimmt. Bildung im klassischen Sinn als freie Entfaltung aller dem einzelnen Menschen innewohnenden Fähigkeiten, Talenten und Anlagen verstanden und damit im Sinne umfassendster individueller Persönlichkeitsentfaltung beschreibt Fichte als ein Konzept sozialer Beziehungen und somit als intersubjektiv. In seiner Grundlage des Naturrechts schreibt er, dass die zweite Bedingung individueller Autonomie und der Erfahrung der eigenen Freiheit die Anerkennung der Freiheit anderer Individuen sei. So gilt nach Fichte: »Der Mensch (so alle endlichen Wesen) überhaupt wird nur unter Menschen ein Mensch.« 21 Dies beinhaltet zweierlei. Zum einen macht Fichte an dieser Stelle deutlich, dass der Mensch nicht von Beginn an seine Bestimmung erfülle. Er wird erst Mensch bzw. müsse sich zu diesem bilden. Jedes Individuum der Gattung Mensch besäße dazu das Potenzial und die Fähigkeit, das eigene menschliche Wesen zu entfalten. Zweitens weist Fichte darauf hin, dass der Mensch, will er das eigene menschliche Leben entfalten, Hilfe von außen benötigt. Er könne sich

John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1979. Vgl. dazu Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1999, 49–59. 21 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Jena/Leipzig, Christian Ernst Gabler, 1796, hier § 3, 31. 19 20

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nicht allein und in der Beschäftigung mit sich selbst zum Menschen bilden. Seiner eigenen Selbsttätigkeit wird er nur dann bewusst, wenn er dieser etwas entgegensetze. Dies kann nach Fichte zum einen in dem Erleben der Objekte der raumzeitlichen Außenwelt sein, oder aber zum anderen in der Entgegensetzung der ebenfalls autonom handelnden vernünftigen Subjekte. 22 Indem der sich bildende Mensch eine andere Person in ihrer Selbständigkeit anerkennt, schreibt er dieser eine Freiheitssphäre zu. Diese Freiheitssphäre ist seiner eigenen Freiheitssphäre entgegengesetzt, schränkt sie ein und macht sie dadurch für ihn erst bewusst. Mit der Selbstzuschreibung von Freiheit geht zugleich der Ausschluss des Anderen aus der eigenen Freiheitssphäre vor. Selbst- und Fremdzuschreibung von Freiheit sind damit wechselweise miteinander verbunden und hängen voneinander ab. 23 Laut Fichte kann kein Subjekt ein anderes Subjekt als autonom anerkennen, »wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln« 24. Freiheit ist damit grundlegend intersubjektiv und bedingt durch wechselseitige Anerkennung. Der Entdeckung der eigenen Autonomie und der eigenen Freiheitssphäre geht dabei die Überschreitung der Begrenzung der eigenen Individualität durch Kultur, Erfahrung und Neigungen voraus. Johann Friedrich Herbart, der bei Fichte studierte, betont, dass die Pädagogik, welche die Bildsamkeit des Menschen zum Gegenstand hat, davon ausgehen muss, dass »die Unbestimmtheit des Kindes […] beschränkt [ist] durch dessen Individualität«, die selbst bedingt ist durch die »Umstände der Lage und der Zeit« 25. Um sich zu einem vernünftig handelnden Subjekt zu bilden, wird die Fähigkeit des Universalisierens der eigenen Werte und Normen vorausgesetzt. Bildung im Sinne der Fähigkeit autonomer Lebensführung und damit Persönlichkeitsentfaltung heißt, über die Bedingtheit durch »Lage und Zeit« in der Auseinandersetzung mit alternativen Lebensentwürfen, Gegenständen etc. die eigenen Interessen und Neigungen zu reflektieren

Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, § 3, 30. 23 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, § 4, 51. 24 Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, § 3, 31. 25 Johann Friedrich Herbart, Umriss pädagogischer Vorlesung, Göttingen, Dieterichsche Buchhandlung, 1841, hier § 4, 3. 22

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und damit über die eigene Herkunft, kulturelle und soziale Prägung sowie Vorlieben und Neigungen hinauszuwachsen.

3.

Bildung und Diversität im schulischen Kontext

Wenn davon ausgegangen wird, dass Anerkennung und Ausbildung der Fähigkeit zur Universalisierung die Grundlagen von Bildung als freier Entfaltung aller dem einzelnen Menschen innewohnenden Fähigkeiten, Talente und Anlagen im Sinne umfassendster individueller Persönlichkeitsentfaltung sind, so begründet sich Bildung im schulischen Kontext nicht nur auf der Wissensvermittlung und der Reflexion dieses Wissens. Zum einen soll gezeigt werden, dass Bildung auch von bestimmten Strukturen des Schulsystems selbst abhängt. Das wird beispielsweise daran deutlich, dass der reziproke Prozess der Anerkennung, der – wie hier angenommen wird – dem der Bildung zugrunde liegt, dort entfällt, wo schulische Bildung noch immer auf der Annahme beruht, dass sich Schüler in Gruppen einteilen lassen, wobei den Angehörigen einer Gruppe jeweils bestimmte kognitive Eigenschaften zugeschrieben werden können und wo das Ziel schulischer Bildung eine Vereinheitlichung der Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler einer Altersstufe ist. Zum anderen soll gezeigt werden, dass Bildung, die von autonomiestiftenden Sozialbeziehungen abhängt, auf einer bestimmten Form der Lehrer-Schüler-Beziehung basiert. Daran anschließend wird geklärt werden, wie in der schulischen Praxis die Bildung des Einzelnen und damit die Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit und die Herausbildung einer sittlich-reifen, aufgeklärtemanzipierten Persönlichkeit möglich wird. Den Bildungsplänen der Länder kann entnommen werden, dass im schulischen Kontext – zumindest theoretisch – davon ausgegangen wird, dass Kinder und Jugendliche noch keine autonomen Individuen sind, die eigenverantwortlich handeln können. Das Vermögen besitzen sie zwar qua ihres Menschseins, die Fähigkeit dazu entwickelt sich jedoch erst. Dabei ist laut Stojanov die »Ermöglichung dieser Entwicklung die übergreifende Aufgabe der Schule selbst« 26. Die Anerkennung der »unabschließbaren Bildsamkeit des Einzelnen, d. h. die Anerkennung seines Potenzials, bei entsprechenden sozialen Erfahrungen immer neue Fähigkeiten hervorzubringen und seine Kom26

Vgl. auch dazu Stojanov, »Gerechtigkeit im Bildungswesen«, 209.

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petenzen stets zu erweitern« 27, ist die Voraussetzung für die Anerkennung der potenziellen Freiheitssphäre des anderen. Zwar liegt in den Bildungsplänen der Fokus theoretisch auf der Entfaltung des noch nicht verwirklichten Potenzials von Autonomie, in der Praxis wird jedoch deutlich, dass Bildung bereits durch die Struktur des deutschen Schulsystems erschwert wird: Das dreigliedrige deutsche Schulsystem basiert auf der Annahme, bzgl. der kognitiven Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen im Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe eine Einteilung vornehmen zu können. Ziel ist es, homogene Klassen zu bilden, damit die Kinder und Jugendlichen ihren zugeschriebenen Potenzialen bzw. nicht vorhandenen Potenzialen nach gebildet werden können. Genau diese Betrachtungsweise, welche die Annahme impliziert, dass das Bildungsentwicklungspotenzial der Kinder und Jugendlichen bereits vor dem Eintritt in die Schule festgelegt ist, widerspricht der Idee von Anerkennung als autonomiestiftender Sozialbeziehung und als Grundbedingung von Bildung. Nach der hier vertretenen Ansicht gelingt Bildung am ehesten dann, wenn die Fähigkeit zur Universalisierung durch eine pädagogische Bezugsperson anerkannt wird. Dies bedeutet, dass Anerkennung als Grundlage einer autonomiestiftenden Sozialbeziehung in »Schulbildungskontexten dann nicht gegeben [ist], wenn Kinder und Jugendliche als determiniert durch ihre Herkunft bzw. als Produkte einer als kulturell abweichend postulierten Familiensozialisation betrachtet und behandelt werden« 28 und ihnen damit das Potenzial zur Entwicklung abgesprochen wird. In den vergangenen Jahren haben nationale wie internationale Vergleichsstudien gezeigt, dass die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern deutscher Schulen zum einen stark von ihrer sozioökonomischen Herkunft abhängen, zum anderen zumeist eng damit verbunden sind, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Dabei ist die Tatsache entscheidend, dass Familien mit Migrationsgeschichte in Deutschland überproportional häufig von Leistungen nach dem SGB II oder SGB III abhängig und/oder von Armut bedroht sind sowie häufig mit Sprachdefiziten zu kämpfen haben. Rund 40 % der Kinder und Jugendlichen, welche in deutschen Haushalten leben, hatten 2018 einen Migrationshintergrund. 29 Obgleich Stojanov: »Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung?«, 528. Stojanov, »Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung?«, 526. 29 Siehe dazu die Angaben auf den Seiten des Statistischen Bundesamtes, https:// www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Inte 27 28

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sie beinahe die Hälfte aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen ausmachen, besuchen sie seltener ein Gymnasium und schließen die Schule seltener mit dem Abitur ab als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Migrationshintergrund. 30 Laut bundesdeutschem Bildungsbericht aus dem Jahr 2016 »bestehen weiterhin durchgängig Disparitäten zuungunsten der Migranten. Sie verlassen mehr als doppelt so häufig ohne Hauptschulabschluss die Schule und erreichen 3 Mal seltener die allgemeine Hochschulreife« 31. Welche Auswirkungen die seit den 60er und 70er Jahren diskutierte und nun durch die Befunde aus PISA und IGLU, aber auch durch die Ergebnisse der bundesweiten Vergleichsarbeiten in Klasse 3 und 8 wieder in den Mittelpunkt gerückte fehlende Bildungsgerechtigkeit für Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund für ihre weitere Bildungsbiografie hat, ist ebenfalls belegt. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben im weiteren Verlauf ihrer Bildungsbiografie erheblich schlechtere Bedingungen, einen qualifizierten Berufsabschluss zu erwerben. Sie werden während ihrer Erwerbsbiografie häufiger von Sozialleistungen abhängen und häufiger weniger gut verdienen als Kinder und Jugendliche ohne Migrations- und mit gutem sozioökonomischen Hintergrund. Die Folgen von Bildungsungerechtigkeit haben dabei jedoch nicht nur eine ökonomische Dimension, sondern auch eine konkret anthropologische, insofern sie konkrete Auswirkung auf das Leben der sich bildenden Person an sich haben. Es wurde bislang dafür argumentiert, dass der Effekt, den Bildungsungerechtigkeit auf das Leben der sich bildenden Person hat, unmittelbar mit dem Begriff der Bildung selbst zusammenhängt. Bildungsungerechtigkeit führt dazu, dass Bildung, die den Prozess des Erwerbs vernunftbasierter Autonomie sowie die Fähigkeit zu dieser beschreibt, nicht stattfinden kann und damit Vernunft als ein wesentgration/Tabellen/migrationshintergrund-alter.html, zuletzt abgerufen am 16. 06. 2020. 30 Vgl. dazu Cornelia Gresch/Jürgen Baumert/Kai Maaz, »Empfehlungsstatus, Übergangsempfehlung und der Wechsel in die Sekundarstufe I: Bildungsentscheidungen und soziale Ungleichheit«, in: Kai Maaz u. a. (Hrsg.), Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. Leistungsgerechtigkeit und regionale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten, Berlin: o. V., 2010, 201–228. 31 Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.), Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld, Bertelsmann Verlag, 2016, hier 175.

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liches Attribut menschlichen Lebens sich nicht erfüllt. Die Bildungsungerechtigkeit wird nicht nur durch familiäre Aspekte bedingt oder durch Faktoren der schulischen Organisation. Bildung wird auch durch Vorurteile und mangelnde Anerkennung der Lehrer und Lehrerinnen verhindert. 32 Dabei gilt es beispielsweise als gesichert, dass Lehrkräfte Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer sozialen Herkunft unterschiedlich beurteilen. 33 Darüber hinaus konnte nachgezeichnet werden, dass die Kompetenzentwicklung der Kinder und Jugendlichen durch ein stereotype- und einstellungsgeleitetes Handeln der Lehrkräfte beeinflusst wird. 34 Die Möglichkeit, die eigene Fähigkeit vernünftig und selbstständig handhaben zu können, zu entdecken, indem sich, wie beschrieben, im schulischen Kontext reflexiv mit verschiedenen Theorien und Lebensentwürfen auseinandergesetzt wird, bedarf vor allem der Anerkennung durch die pädagogischen Bezugspersonen. Die Anerkennung besteht darin, dass die Kinder in ihren Bemühungen gesehen und wertgeschätzt werden sowie in der Bestätigung ihres Potenzials, zu autonomem Handeln fähig zu sein. Wenn diese Anerkennung fehlt, erbringen die Schüler schlechtere Leistungen. Dies wird u. a. durch die Studie »Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistung fördern können« 35 des Berliner Instituts für

Dies belegt u. a. die Studie Visible Learning John Hatties. Dieser konnte zeigen, dass Schulstrukturen, Klassengröße oder bestimmte didaktische Methoden nur geringe Auswirkungen auf die Leistungen der Schüler haben. Individuelles Feedback und ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler hingegen konnte er als wichtigste Erfolgsfaktoren für guten Unterricht herausarbeiten (John Hattie, Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses relating to Achievement, London, Routledge, 2009). 33 Vgl. dazu Hanna Dumon u. a., »Soziale Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. Theorie, Forschungsstand, Interventions- und Fördermöglichkeiten«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17 (2), 2014, 141– 165; Tobias Stubbe/Wilfried Bos, »Schullaufbahnempfehlungen von Lehrkräften und Schullaufbahnentscheidungen von Eltern am Ende der vierten Jahrgangsstufe«, in: Empirische Pädagogik, 22 (1), 2008, 49–63. 34 Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hrsg.), Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistungen fördern können, Berlin, o. V., 2017. 35 Vgl. hierzu u. a. auch Markus Appel/Silvana Weber/Nicole Kronberger, »The Influence of Stereotype Threat on Immigrants: Review and Meta-Analysis«, in: Frontiers in Psychology, 900 (6), 2015, 1–15; Elisha Babad, »Teachers’ Differential Behavior«, in: Educational Psychology Review, 5 (4), 1993, 347–376; Claudia Diehl/ Patrick Fick, »Ethnische Diskriminierung im deutschen Bildungssystem«, in: Claudia Diehl/Christian Hunkler/Cornelia Kristen (Hrsg.), Ethnische Ungleichheiten im Bil32

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empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) bestätigt. So fanden die Forscherinnen und Forscher heraus, dass Schülerinnen und Schüler tatsächlich schlechtere Leistungen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler erbringen, wenn sie zu einer negativ stereo-typisierten Gruppe gehören. Heringer schlug ein Modell des Stereotypisierungsprozesses vor, das auf einer Abfolge von vier Schritten basiert. 36 Der erste Schritt ist eine Auswahl von Informationen, die sich auf die herausragenden Eigenschaften einer Person oder Gruppe konzentrieren. In einem zweiten Schritt werden die wahrgenommenen Merkmale verallgemeinert. Der dritte Schritt beinhaltet einen Prozess der Kategorisierung und Kennzeichnung. Im vierten und letzten Schritt werden die angelegten Kategorien verfestigt, d. h. sie werden aufrechterhalten und gegen abweichende Eindrücke verteidigt. Am Ende ist das Stereotyp (z. B. türkische Jungen sind schlecht in der Schule) ein relativ stabiles Denkmuster und steuert Emotionen und Handlungen (z. B. türkische Jungen werden im Unterricht weniger aufgerufen). Dem Stereotypisierungsprozess, in welchem es zu einer Verallgemeinerung individueller Eigenschaften und deren Übertragung auf eine ganze Gruppe kommt, ist mangelnde Anerkennung inhärent, insofern den Kindern und Jugendlichen ihr individuelles Potenzial zu autonomem Handeln aberkannt wird, indem sie durch ihre Herkunft als bestimmt gedacht werden. Dies hat Folgen für den Bildungserfolg allgemein. Erwartet die Lehrkraft von einem Kind, welches sie negativ stereotypisiert und es somit nicht anerkennt, dass es geringe schulische Erfolge haben wird, fördert sie den Schüler weniger bzw. unterfordert ihn oder sie. Es liegen negative Erwartungseffekte vor. So zeigen Forschungsarbeiten, dass Lehrkräfte von Kindern mit Migrationshintergrund und/oder geringerem sozioökonomischen Hintergrund weniger ausgebildete schulische Kompetenzen erwarten. 37 Die Forscher stellten fest, dass unzutreffende Leistungsstereotype in Bezug auf bestimmte ethnische Herkunftsgruppen in die Erwartung für die konkreten Kinder und Jugendlichen einfließen können und insbesondere in der LehrerSchüler-Interaktion zu Verzerrungen nach deren ethnischer Herdungsverlauf. Mechanismen, Befunde, Debatten, Wiesbaden, Springer VS, 2016, 243–286. 36 Hans Jürgen Heringer, Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, UTB, 2012. 37 Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hrsg.), Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistungen fördern können, 26.

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kunft führen. 38 So zeige es sich, »dass Lehrkräfte im Unterricht mit einem Kind umso länger interagieren, je wahrscheinlicher sie es finden, dass dieses Kind später ein Gymnasium besuchen wird« 39. Dies wiederum hat auch entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Reflexionsfähigkeit der Kinder, die für den Bildungsprozess ebenfalls entscheidend ist. So werden Kinder, denen gegenüber die Lehrkraft keine Gymnasialerwartung hat, weniger häufig im Unterricht an Klassengesprächen beteiligt, in denen sie beispielsweise üben können, ihr Wissen und ihre Gedanken in Worte zu fassen, argumentativ zu entfalten und zu vermitteln. Die aufgrund von Vorurteilen und negativen stereotypen Urteilen mangelhafte Anerkennung der Kinder und Jugendlichen führt dazu, dass diese im schulischen Kontext, der vor allem der Bildung der Kinder und Jugendlichen dienen sollte, keine für die Auseinandersetzung mit sich und der Welt notwendigen Fähigkeiten erlernen können. Die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen vor dem Hintergrund fremder Werte und Normen, das Vermögen zur Universalisierung sowie die Fähigkeit, anderen Individuen eine eigene Freiheitssphäre zuzuschreiben, bleiben durch mangelnde Anerkennung und damit einhergehende fehlende Interaktion zwischen pädagogischer Bezugsperson und Schüler unterentwickelt bzw. werden gar nicht ausgebildet. Bildung im Sinne der Entwicklung zu autonomem Handeln und ein menschenwürdiges Leben der Kinder und Jugendlichen wird eingeschränkt und zum Teil erschwert.

4.

Bildung ermöglichende autonomiestiftende Sozialbeziehungen im Unterricht

Insofern gezeigt werden konnte, wie sich die dreigliedrige Schulstruktur sowie eine vorurteilsbehaftete Haltung Lehrender gegenüber Kindern und Jugendlichen mit niedrigem sozioökonomischen Kapital sowie mit Migrationshintergrund negativ auf Bildungschancen auswirkt, wird im Folgenden darauf eingegangen, wie Bildung vor dem Hintergrund einer immer diverser werdenden Schülerschaft Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hrsg.), Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistungen fördern können, 26–29. 39 Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hrsg.), Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistungen fördern können, 32. 38

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an den Schulen möglich ist. Der für Bildung grundlegende Erwerb der Universalisierungsfähigkeit ist dabei durch zweierlei bedingt: zum einen durch eine autonomiestiftende Vermittlung von Wissensinhalten, zum anderen durch eine autonomiestiftende Interaktion zwischen pädagogischer Bezugsperson und Schülern. Es ist festzuhalten, dass, obgleich Bildung bedingt wird durch eine autonomiestiftende Vermittlung von Wissensinhalten, Bildung nicht identisch ist mit Wissen, wenn an der sogenannten Nürnberger-Trichter-Didaktik festgehalten wird. Wissen wird hier im Sinne von Inhalten verstanden, welche in kurzer Zeit gelernt werden können. Die gelernten Inhalte stehen jedoch mit dem Lernenden in keiner Beziehung. Sie sind lediglich abrufbar und unreflektiert wiedergebbar. Autonomiestiftend ist Wissensvermittlung erst dann, wenn sie die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen aufnimmt und mit dem neu erworbenen Wissen in Beziehung setzt. Wissenserwerb sollte das Ziel haben, Selbst und Welt in ein Verhältnis setzen zu können. Beispielhaft sei hier der Umgang mit Lerninhalten der naturwissenschaftlichen Fächer oder der Mathematik genannt. In diesen Fächern können die Schülerinnen und Schüler etwa durch Experimente rationale und vernunftgeleitete Vorgehensweisen, die zur Reflexion des sinnlich Erlebten anregen, kennenlernen und werden bei der reflexiven Auseinandersetzung mit Alltagsannahmen gestärkt. Bei der Auseinandersetzung mit den in der Schule vermittelten Inhalten geht es somit nicht nur um das Lernen von Wissensinhalten, sondern auch um die Stärkung der Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, die eigenen Ansichten zu hinterfragen und auf ihre Universalisierbarkeit hin zu überprüfen. 40 Neben einer autonomiestiftenden Form der Wissensvermittlung identifiziert Stojanov zudem autonomiestiftende Interaktionsmuster. Dies gelingt ihm, indem er den originär sozialphilosophischen Begriff Dass sich diese Fähigkeit ausbilden kann, setzt wiederum die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit, d. i. das Gefühl der Selbstwirksamkeit voraus. Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist spätestens seit den späten 70er Jahren mit Albert Banduras Studie im pädagogischen Kontext angekommen. Bandura geht davon aus, dass der Glaube an die eigene Wirksamkeit eine wichtige Rolle in allen Phasen eines Handlungsprozesses spielt (vgl. dazu Albert Bandura: »Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change«, in: Psychological Review, 84, 1977, 191–215). Er definiert Selbstwirksamkeit als »Glaube an die eigenen Fähigkeiten, den Verlauf und die Ausführung der eigenen Handlung so zu steuern, dass ein bestimmtes Ergebnis erzielt wird« (zitiert nach Anita Woolfolk, Pädagogische Psychologie, München u. a., Pearson Studium, 2008, hier 404).

40

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der Anerkennung pädagogisch wiederbelebt. Damit steht Stojanov in einer Reihe mit anderen Pädagogen, die den Begriff der Anerkennung für eine sich neuerdings wieder stärker aufstellende philosophische Pädagogik nutzbar machen und ihn als grundlegend für eine sich neu orientierende Pädagogik bestimmen. 41 Anerkennung ist für sie kein »weiteres Themenfeld der ohnehin zahlreichen und vielfältigen Diskurse«, sondern »eine zentrale Dimension pädagogischer Theorie und Praxis« 42. Soziale Anerkennung wird originär als eine konstitutive Voraussetzung von Gesellschaft beschrieben, wobei sich aus ihr auch Voraussetzungen für pädagogisches Handeln unter einem kulturtheoretischen Paradigma erschließen lassen. 43 Stojanov untersucht, wie Sozialbeziehungen beschaffen sein müssen, damit sie autonomiestiftend sind. Er arbeitet in diesem Zusammenhang drei Anerkennungsformen aus: Empathie, moralischer Respekt und soziale Wertschätzung. Empathie zählt Stojanov als grundlegende Anerkennungsform. Indem die Bezugsperson sich in die Schülerin oder den Schüler hineinversetzt, die Wahrnehmungs- und Gefühlswelt der Anderen oder des Anderen nachvollzieht und dieselben der Schülerin oder dem Schüler spiegelt, ist vor allem die Voraussetzung dafür geschaffen, dass das werdende Individuum überhaupt einen Zugang zu seinen Bedürfnissen und Wünschen als Grundzügen seiner Persönlichkeit finden kann. 44 Autonomiestiftend auf der Grundlage sozialer Wertschätzung ist die Interaktion zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und deren Schülerinnen und Schüler dann, wenn die Lehrkraft das Potenzial des einzelnen Edukanden zu eigenem selbsttätigen Handeln und zur Selbstverwirklichung anerkennt und ihn damit nicht als durch seine Herkunft und Familiensituation determiniert betrachtet. Moralischer Respekt hingegen trägt dazu bei, dass die Schülerin oder der Schüler Vgl. dazu die Bestandsaufnahme zum Begriff der Anerkennung unter dem programmatischen Titel Pädagogik der Anerkennung (Benno Hafeneger/Peter Henkenborg/Albert Scherr [Hrsg.], Pädagogik der Anerkennung: Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder, Frankfurt a. M., Debus Pädagogik Verlag, 2013. Ebenso Krassimir Stojanov, Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzung von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden, Springer VS, 2006. 42 Benno Hafeneger/Peter Henkenborg/Albert Scherr (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung: Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder, 8. 43 Ortfried Schäffter, »Die Theorie der Anerkennung – ihre Bedeutung für pädagogische Professionalität«, in: Annette Mörchen/Markus Tolksdorf (Hrsg.), Lernort Gemeinde. Ein neues Format der Erwachsenenbildung, Bielefeld, Bertelsmann, 2009, 171–182, hier 172. 44 Vgl. Stojanov, »Gerechtigkeit im Bildungswesen«, 209–211. 41

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durch die Lehrkraft als ausgestattet mit Würde, d. h. mit den Fähigkeiten zur Selbstbeziehung und zum autonomen Handeln betrachtet wird. Mit den zusammenfassenden Worten Stojanovs hängt »Bildung bzw. kognitive Entwicklung entscheidend von der Gewährleistung einer kontinuierlichen Erfahrung mit den Intersubjektivitätsformen des moralischen Respekts und der sozialen Wertschätzung« 45 ab.

5.

Schlussbemerkungen

In dem vorliegenden Aufsatz wurde dafür argumentiert, dass die klassische Bestimmung von Bildung auch in aktuellen Diskursen noch immer auf die Kategorien der Freiheit, des autonomen Handelns sowie eines reflektierten Selbst- und Weltverhältnisses abzielt. Bildung wird dabei als eines der grundlegend bestimmenden Momente für die Entwicklung des Einzelnen und dessen Leben betrachtet. Dabei wurde die These vertreten, dass Bildung von der Wechselwirkung der Fremd- und Selbstzuschreibung von Freiheit abhängt und damit stets intersubjektiven Charakter hat. Im schulischen Kontext wird Bildung in diesem Sinn durch die Bildungspläne eingefordert, die als Ziel die Entwicklung der Schülerin oder des Schülers zu einem selbsttätigen Menschen haben. Mit Blick auf die Diversität an deutschen Schulen wurde jedoch deutlich, dass Bildung und die Entfaltung menschlichen Lebens äußerst problematisch und fragil sind. So erhalten nicht alle Kinder in gleichem Maße Bildung. Insbesondere Kinder aus Familien mit geringem sozioökonomischen Kapital oder Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund erfahren Bildungsungerechtigkeit entsteht auf Ebene der Organisationsstruktur sowie durch mangelndes Anerkennung durch die pädagogische Bezugsperson. Durch die Organisationsstruktur des dreigliedrigen Schulsystems wird dabei die Annahme nahegelegt und gestützt, dass Kinder und Jugendliche von Natur aus bestimmte Kompetenzen mitbringen oder nicht. Diese Annahme bedingt, dass die für Bildung grundlegende Bedingung der Anerkennung – die Bestätigung des Potenzials zu autonomem Handeln – von vornherein entfällt. Es besteht in diesem Zusammenhang daher die Notwendigkeit der Entwicklung und Umsetzung eines autonomiestiftenden Interaktionsmusters zwischen pädagogischer Bezugsperson und Schülerinnen und Schüler. 45

Stojanov, »Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung?«, 526.

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Die Autoren

Camilla Croce studierte Philosophie in Rom. 2011 promovierte sie an der Universität del Salento und der Universität Paris IV La Sorbonne mit einer Arbeit zu Martin Heidegger. Sie arbeitete als Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin und als Post-Doc-Stipendiatin an der Universität Koblenz-Landau. Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich mit der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Derzeit ist sie Mitglied des Psychoanalytischen Kollegs und der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin; sie lebt und arbeitet in Berlin. Diego D’Angelo studierte Philosophie in Mailand. 2015 promovierte er an der Universität Freiburg im Breisgau mit der Arbeit »Zeichenhorizonte. Semiotische Strukturen in Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung« (Springer 2020). Nach Stipendien und Mitarbeiterstellen an den Husserl Archives der Universität Leuven (Belgien) und an der Universität Koblenz-Landau ist er derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg. Seine Schwerpunkte liegen in der Phänomenologie, Hermeneutik und Rekonstruktion. Erik Norman Dzwiza-Ohlsen studierte Philosophie, Psychologie und Theologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Von 2013 bis 2018 promovierte er an der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg und ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Thiemo Breyer im Research Lab der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, Psychopathologie und Philosophische Anthropologie. Derzeit arbeitet er an einer ›Philosophie der Demenz‹. Markus Enders studierte Philosophie, katholische Theologie, Religionswissenschaft und Germanistik (Mediävistik) an den Universitäten Freiburg im Breisgau und München; dort promovierte er 1991 in Philosophie mit einer Arbeit über das mystische Wissen bei Heinrich 479 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Die Autoren

Seuse, habilitierte sich 1997 in Philosophie mit einer Arbeit über die Wahrheitstheorie Anselms von Canterbury im Gesamtzusammenhang seines Denkens und unter besonderer Berücksichtigung seiner antiken Quellen (Aristoteles, Cicero, Augustinus, Boethius). 1999 promovierte er ebenfalls in München in kathol. Theologie mit einer Arbeit über das daseinshermeneutische Transzendenz- und WeltVerständnis Martin Heideggers vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Geschichte des Transzendenzbegriffs. Seit 2001 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie an der Universität Freiburg im Breisgau. Sonja Feger studierte Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, mit Auslandsaufenthalten an der Sorbonne Université Paris, der Universität Basel und an der DePaul University Chicago. Seit 2019 ist sie am Institut für Philosophie der Universität KoblenzLandau als Redakteurin der Zeitschrift für Kulturphilosophie tätig und arbeitet an einer Promotion zum Wirklichkeitsverständnis bei Hans Blumenberg. Ihre Forschungsinteressen sind Phänomenologie, Hermeneutik, Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie. Saulius Geniusas ist Associate Professor in Philosophie an der Chinese University of Hong Kong und Humboldt-Fellow am HusserlArchiv der Universität zu Köln. Er ist Autor von The Origins of the Horizon in Husserl’s Phenomenology (Springer, 2012) und The Phenomenology of Pain (Ohio University Press, 2020). Außerdem hat er mehr als 50 Aufsätze in verschiedenen philosophischen Fachzeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht. Er hat eine Reihe an Büchern in den Bereichen der Phänomenologie, der Hermeneutik, der vergleichenden Philosophie (comparative philosophy) und der Philosophie der Imagination (philosophy of the imagination) herausgegeben. Außerdem ist er einer der Herausgeber der Social Imaginaries series, die bei Rowman & Littlefield erscheint. Sylvaine Gourdain Castaing ist agrégée und ehemalige Studentin der Ecole Normale Supérieure von Lyon. Sie hat in Philosophie und Germanistik an der Université Paris-Sorbonne und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg promoviert. Sie ist derzeit Post-Doc-Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung am Institut für Transzendentalphilosophie und Phänomenologie der Bergischen Universität Wuppertal. Sie hat u. a. L’Ethos de l’im-possible. Dans le sil480 https://doi.org/10.5771/9783495825419 .

Die Autoren

lage de Heidegger et Schelling (Paris 2017) und Sortir du transcendantal. Heidegger et sa lecture de Schelling (Brüssel 2018) veröffentlicht. Annette Hilt wurde nach dem Studium der Philosophie, Literaturund vergleichenden Literaturwissenschaft mit einer Arbeit zu Aristoteles’ Philosophie des Lebendigen in Freiburg im Breisgau promoviert. Nach Stationen in Freiburg, Heidelberg und Mainz ist sie seit 2020 Professorin für Philosophie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Praktischen Philosophie und der Philosophischen Anthropologie, der Phänomenologie und der Existenzphilosophie sowie auf Fragen der Erfahrungsbildung. Karl Kraatz studierte Philosophie und Sinologie in Berlin und Marburg. Er promovierte 2019 an der Technischen Universität Dresden mit einer Arbeit zu Heideggers Methodologie. Derzeit arbeitet er als PostDoc an der Yuelu Akademie der Hunan Universität (China). Anne Lepper studierte Philosophie und Soziologie an der FriedrichSchiller-Universität Jena. 2015 promovierte sie an der Universität Koblenz-Landau. Sie arbeitete zunächst als Forschungsreferentin an der Hochschule Heilbronn. Zuletzt war sie im Bundesprojekt Kommunale Koordinierung der Bildungsangebote für Neuzugewanderte im Schul-, Kultur- und Sportamt der Stadt Heilbronn tätig, wo sie heute als Bildungsreferentin beschäftigt ist. Franziska Neufeld studierte Philosophie und Religion im Kontext an der Universität Rostock. Nach ihrem Studium war sie Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie an der Universität Rostock. Seit 2019 ist sie Doktorandin an der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau) und war dort von 2019–2020 Promotionsstipendiatin an der Graduiertenschule »Herausforderung Leben – Dynamiken der Pluralisierung und Normalisierung«. Sie arbeitet derzeit an ihrer Dissertation über die Philosophie als Urwissenschaft in den frühen Freiburger Vorlesungen Martin Heideggers und ist Mitglied an der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik an der Universität Koblenz-Landau.

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Die Autoren

Chiara Pasqualin studierte Philosophie in Padua und an der Scuola Galileiana di Studi Superiori. 2013 wurde sie an den Universitäten Padua und Innsbruck mit einer Dissertation zum Thema Affektivität, Denken und Sprache im Werk Martin Heideggers promoviert. Anschließend arbeitete sie als PostDoc am Philosophischen Institut der Universidade de São Paulo in Brasilien. Von 2016 bis 2020 war sie Habilitationsstipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, und dort am Institut für Philosophie als Lehrbeauftragte tätig. Sie ist Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik (Universität Koblenz-Landau) und des Instituts Praxis. Centro de Filosofia, Política e Cultura (Universidade de Beira Interior und Universidade de Évora). Seit November 2020 ist sie Mitherausgeberin der internationalen Zeitschrift Heidegger Studien. Danka Radjenović hat an der Universität Belgrad und an der TU Darmstadt Philosophie studiert. Im Anschluss arbeitete sie am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Seit 2016 ist sie Doktorandin an der Universität Koblenz-Landau und war zunächst als Stipendiatin, dann als Koordinatorin an der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« tätig. Aktuell schließt sie ihre Dissertation mit dem Titel »Wittgensteins spätere Philosophie als Grammatik des Lebens« in Landau ab. Zu ihren neueren Projekten gehört u. a. die Mitorganisation der digitalen Vortragsreihe »Wittgenstein’s Philosophy in Times of Crisis« (Mai–September 2020). Anne Kirstine Rønhede erhielt ihren Bachelor an der königlichen dänischen Musikhochschule in Kopenhagen mit Hauptfach Violine. Sie hat ihr Masterstudium in Philosophie an der Universität in Tel Aviv abgeschlossen. Von Februar 2018 bis Oktober 2020 war sie Stipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, und anschließend dort bis Februar 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie tätig. Aktuell ist sie Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik in Landau und arbeitet an ihrer Dissertation über Wahrheit als Phänomen im Ausgang von Heideggers Wahrheitskonzeption.

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Die Autoren

Mingyu Wang begann 2015, Philosophie an der Sun-Yat-sen-Universität in Guangzhou zu studieren. 2018 schloss er das Masterstudium mit einer Arbeit über die Beziehung zwischen eidetischer Intuition und Psychologismuskritik bei Husserl ab. Seitdem promoviert er an der Universität zu Köln mit Unterstützung von China Scholarship Council. Seit 2019 nimmt er am Integrated Track der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne als Kollegiat teil. Er beschäftigt sich vor allem mit der eidetischen Methode in der Phänomenologie. Sihan Wu studierte Mathematik in Guangzhou an der Sen Yat-sen Universität. 2015 hat sie ihr Masterstudium in Philosophie zum Thema »Husserls Philosophie der Mathematik« absolviert. Von April 2018 bis Dezember 2020 war sie Stipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben: Dynamiken der Pluralisierung und Normalisierung« an der Universität Koblenz-Landau. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation über die Sympathiefrage im Denken Max Schelers in Bezug auf die Freundschaftsfrage und ist Mitglied der Forschungsstelle für Phänomenologie und Hermeneutik an der Universität Koblenz-Landau.

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