Erster Weltkrieg und Dschihad: Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients [1 ed.] 3486755706, 9783486755701

"unsere Consuln [müssen] in Türkei und Indien, Agenten etc. […] die ganze Mohamedan. Welt gegen dieses verhaßte, ve

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Erster Weltkrieg und Dschihad: Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients [1 ed.]
 3486755706, 9783486755701

Table of contents :
„Dschihad made in Germany“?Einleitung
Max Freiherr von Oppenheim und die Revolutionierung der islamischen Weltals anti-imperiale Befreiung von oben
Globaler Krieg: Die Aufstands- und Eroberungspläne des Colmar von der Goltz für den Mittleren Osten und Indien
„Wir standen mit der Zukunft im Bunde“. Rudolf Nadolny, das Auswärtige Amt und die deutsche Persienpolitik im Ersten Weltkrieg
Wilhelm Waßmuß–Ein deutscher Lawrence
„Heiliger Krieg“ – „Scheinheiliger Krieg“: Hauptmann Fritz Klein und seine Expedition in den Irak und nach Persien 1914–1916
Im wilden Kurdistan – Die militärische Expedition in der Osttürkei 1914–1916
Curt Prüfer – Orientalist, Dragoman und Oppenheims „man on the spot“
Der Gegenspieler im Hintergrund: Josef Pomiankowski und die antideutsche Orientpolitik Österreich-Ungarns 1914–1918
Autoren

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Wilfried Loth und Marc Hanisch (Hrsg.) Erster Weltkrieg und Dschihad

Wilfried Loth und Marc Hanisch (Hrsg.)

Erster Weltkrieg und Dschihad Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients

Oldenbourg Verlag München 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

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Inhaltsverzeichnis Wilfried Loth „Dschihad made in Germany“? Einleitung . . . . . . . . . . . . . . .

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Marc Hanisch Max Freiherr von Oppenheim und die Revolutionierung der islamischen Welt als anti-imperiale Befreiung von oben . . . .

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Bernd Lemke Globaler Krieg: Die Aufstands- und Eroberungspläne des Colmar von der Goltz für den Mittleren Osten und Indien . . . . . . . . .

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Michael Jonas / Jan Zinke „Wir standen mit der Zukunft im Bunde“. Rudolf Nadolny, das Auswärtige Amt und die deutsche Persienpolitik im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan M. Kreutzer Wilhelm Waßmuß – Ein deutscher Lawrence . . . . . . . . . . . . . .

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Veit Veltzke „Heiliger Krieg“ – „Scheinheiliger Krieg“: Hauptmann Fritz Klein und seine Expedition in den Irak und nach Persien 1914–1916 . .

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Martin Kröger Im wilden Kurdistan – Die militärische Expedition in der Osttürkei 1914–1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marc Hanisch Curt Prüfer – Orientalist, Dragoman und Oppenheims „man on the spot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alexander Will Der Gegenspieler im Hintergrund: Josef Pomiankowski und die antideutsche Orientpolitik Österreich-Ungarns 1914–1918 . . . .

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Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wilfried Loth

„Dschihad made in Germany“? Einleitung „Im Falle, dass sich ständig Angriffe der Feinde der Religion auf den Islam und die Muslime ereignen [. . . ] und der Befehl des Fürsten der Gläubigen ergeht zum Dschihad und zur Generalmobilmachung, wird der Dschihad zu einer Pflicht für die Gesamtheit derer, die die Einheit Gottes bekennen, entsprechend dem Worte des Erhabenen ,Rückt aus, leicht und schwer, und führt Krieg mit eurem Vermögen und in eigener Person‘, und es wird individuelle Pflicht für die Gesamtheit der Muslime in allen Ländern, herbeizueilen zum Dschihad mit Vermögen und in persona – seien sie alt oder jung, zu Fuß oder beritten“.1

So formulierte es der oberste Mufti von Konstantinopel, der Scheichülislam Hayrî Efendi in einer Fatwa nach den Kriegserklärungen Russlands, Englands und Frankreichs an das Osmanische Reich am 3. bzw. 5. November 1914. Entsprechend rief Sultan und Kalif Mehmed V. Reşâd in einer Proklamation an Heer und Flotte, die im Rahmen einer feierlichen Zeremonie in der Moschee Sultan Mehmeds II. am 11. November verlesen wurde, zum Großen Glaubenskrieg auf. Begründet wurde der Aufruf mit dem Vorwurf an die drei Kriegsgegner, sie unterdrückten „Millionen von Muslimen“ und entfremdeten sie dem Kalifat, dem sie „durch ihre Herzen und ihre Religion verbunden“ verbunden seien.2 Der Aufruf zum Dschihad gegen Kriegsgegner entsprach islamischer und osmanischer Tradition. Er ergab sich aber auch aus der Überzeugung des jungtürkischen Kriegsministers und Hauptarchitekten des Bündnisses mit dem Deutschen Reich und der Habsburgermonarchie, Enver Paşa, dass die religiösen Gefühle der Muslime in den von Russland, Frankreich und Großbritannien beherrschten Gebieten zur Aufwiegelung gegen die Kolonialherren und zur Expansion des türkischen Herrschaftsbereiches genutzt werden konnten. Und er lag auf einer Linie mit der Erwartung wichtiger Teile der deutschen Reichsleitung, darunter Generalstabschef Helmuth von Moltke und Außenamts-Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann, mit der Entfachung von Aufständen im Nahen und Mittleren Osten starke Kräfte des britischen Kriegsgegners binden zu können. Mit Aufständen in der Kaukasusregion ließ sich zudem der russische Kriegsgegner treffen. Vielleicht konnte man das Feuer des islamischen Aufruhrs sogar bis nach Indien tragen, wo es dann die britische Weltmachtstellung in ihrem Kern bedrohen würde. Nachdem die Hoffnungen der Reichsleitung auf eine Neutralität Großbritanniens im Krieg mit Frankreich und Russland getrogen hatten, machte sich das Auswärtige Amt in enger Zusammenarbeit mit Enver Pascha daran, die 1

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Zitiert in Flugblatt Nr. 8, 7 in: Gottfried Hagen, Die Türkei im Ersten Weltkrieg. Flugblätter und Flugschriften in arabischer, persischer und osmanisch-türkischer Sprache aus einer Sammlung der Universitätsbibliothek eingeleitet, übersetzt und kommentiert. Frankfurt/ Main 1990, S. 67–69, hier S. 67. Flugblatt Nr. 8, 4 in: Hagen, S. 55–58, hier S. 56.

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Wilfried Loth

Revolutionierung der islamischen Welt zu befördern. Dazu wurde der Orientexperte Max von Oppenheim reaktiviert, der als Beobachter am deutschen Generalkonsulat in Kairo bis 1909 ausgezeichnete Kontakte zur arabischislamischen Führungsschicht aufgebaut und seit langem auf die Übereinstimmung deutscher und islamischer Interessen hingewiesen hatte. Unter Nutzung seiner Kompetenz und seiner Verbindungen wurde eine Vielzahl von Missionen nach Afghanistan, Arabien, Persien, in den Kaukasus und in den Maghreb auf den Weg gebracht. Sie hatten den Auftrag, bei politischen Oppositionsbewegungen in den von Großbritannien oder Russland kontrollierten Gebieten und bei mehr oder weniger selbständig agierenden Herrschern für ein Bündnis mit dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten zu werben, die Auflehnung gegen die imperialistischen Herrscher zu befördern und nicht zuletzt die Aufstände mit Guerilla-Aktionen in Gang zu bringen. Das deutsche Konzept einer Revolutionierung der islamischen Welt hat in der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg gelegentlich Aufmerksamkeit gefunden. Insbesondere Fritz Fischer sah in den Denkschriften, die Oppenheim in den ersten Monaten des Krieges produzierte, einen zentralen Nachweis für den deutschen Griff nach der Weltmacht und in der Liaison mit dem Dschihad ein Zeugnis für die Rücksichtslosigkeit der wilhelminischen Kriegspolitik.3 Angelsächsische Autoren wie Peter Hopkirk und Donald M. McKale betonten die anti-zivilisatorische Stoßrichtung des Dschihad made in Germany.4 Die deutschen Missionen selbst sind dagegen bislang nur partiell untersucht worden. Ulrich Gehrke hat eine grundlegende Darstellung zur deutschen Persienpolitik während des Ersten Weltkriegs verfasst, Renate Vogel und Hans Ulrich Seidt haben sich mit der Afghanistan-Mission von Oskar von Niedermayer beschäftigt, die auf Betreiben von Enver Pascha zustande kam, Salvador Oberhaus hat die deutsche Propaganda in Ägypten untersucht.5 Ein fundiertes Urteil über die deutsche Aufwieglung zum Aufstand gegen britische und russische imperiale Herrschaft setzt freilich eine umfassende Analyse ihrer Akteure voraus – sowohl der Planer und ihrer zum Teil unterschiedlichen Vorstellungen und Ambitionen als auch der Akteure „vor Ort“,

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Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/1918. Düsseldorf 1961, Nachdruck 1977, S. 110–116. Peter Hopkirk, Östlich von Konstantinopel. Kaiser Wilhelms heiliger Krieg um die Macht im Orient. Hamburg 1996; Donald M. McKale, War by Revolution. Germany and Great Britain in the Middle East in the Era of World War I, Kent/Ohio 1998; eine ähnliche Tendenz bei Tilman Lüdke, Jihad made in Germany. Ottoman and German Propaganda and Intelligence Operations in the First World War. Münster 2005. Ulrich Gehrke, Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkrieges, 2 Bde. Stuttgart 1960; Renate Vogel, Die Persien- und Afghanistanexpedition Oskar Ritter v. Niedermayers 1915/16. Osnabrück 1976; Hans Ulrich Seidt, Berlin, Kabul, Moskau. Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik. München 2002; Salvador Oberhaus, „Zum wilden Aufstande entflammen“. Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg am Beispiel Ägyptens. Saarbrücken 2007.

„Dschihad made in Germany“? Einleitung

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die fernab von Berlin, in ihren Entscheidungen oft auf sich allein gestellt, die Ereignisse auf dem orientalischen Kriegsschauplatz maßgeblich beeinflussten. Wer waren sie? Woher kamen sie? Welche Erfahrungen mit den orientalischen Verhältnissen hatten sie geprägt? Was waren ihre Motive? Teilten sie das Ideal islamischer Selbstbestimmung, das bei Oppenheim durchklingt,6 oder sahen sie sich eher als Vorkämpfer für eine deutsche Weltherrschaft? Was waren ihre Aufträge und wie bemühten sie sich, diese umzusetzen? Wie sehr divergierten idealisierte Konstruktionen vom Orient mit den realen Erfahrungen „vor Ort“? Und welche Facetten der Selbst- und Fremdwahrnehmung offenbaren sich in der praktischen Begegnung mit Türken, Arabern und Persern? Diese Fragen sollen im vorliegenden Buch beantwortet werden. Es wird eingeleitet durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Person Max von Oppenheim und einer kritischen Kontextualisierung seiner nachmals berühmten Denkschrift zur Revolutionierung des islamischen Raumes. Sie zeigt einen Orientalisten, der große Sympathien für die panislamischen Bestrebungen entwickelte und in ihrem Erfolg eine Voraussetzung für die Steigerung deutscher Machtstellung und deutschen Wohlstands sah. Sein Glaube an das revolutionäre Potential der islamischen Welt beruhte jedoch mehr auf Wahrnehmung der zeitgenössischen Diskurse als auf realer Beobachtung der politischen Kräfte, weswegen er sich in der Konfrontation mit der Realität des Krieges als weitgehend illusorisch erweisen sollte. Eine wesentlich stärker auf militärische Gewalt setzende Variante der antibritischen Orientstrategie begegnet uns bei Colmar Freiherr von der Goltz, dem eigenwilligen preußischen General und Militärtheoretiker, der von 1883 bis 1895 maßgeblich an der Reform der Armee des Osmanischen Reiches mitgewirkt hatte und im Dezember 1914 erneut in die Dienste der Hohen Pforte trat. Als Befehlshaber der in Mesopotamien stehenden 6. Osmanischen Armee entwickelte er hochfliegende Pläne für einen Feldzug durch Persien bis zum Hindukusch. Mit einer regulär geführten Armee wollte er dort einen allgemeinen Aufstand der Inder gegen die Briten auslösen und damit das Empire ins Wanken bringen. Langfristig schienen ihm die deutschen Interessen nur gesichert, wenn die Modernisierung des osmanischen Staatswesens gelang und ein euro-vorderasiatisches Imperium unter deutscher Führung errichtet wurde, das mindestens bis Bagdad reichte. Die Notwendigkeit eines Vormarschs der Verbündeten nach Afghanistan und Indien betonte auch Rudolf Nadolny, der als Persien-erfahrener Diplomat Anfang Oktober 1914 zum Leiter der Sektion Politik des Stellvertretenden Generalstabs der deutschen Armee berufen wurde und damit maßgeblich an der Koordinierung der deutschen Revolutionierungsstrategie für die islamische Welt beteiligt war. Nachdem nationalpersische Kräfte Ende 1915 eine Gegenregierung ausgerufen hatten, ließ sich Nadolny im August 1916 zum Ge6

Wie Stefan M. Kreutzer jüngst gezeigt hat: Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914–1918). Graz 2012.

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sandten bei dieser Regierung ernennen und versuchte dann, auf dem Boden der von der Gegenregierung kontrollierten Gebiete ein modernes Staatswesen auf der Grundlage europäischer Nationalstaatsprämissen zu etablieren. Dieses sollte einen dezidiert post-imperialen Charakter aufweisen und damit eine Sogwirkung auf das Regime um den zögernden Schah in Teheran auslösen. Zuvor schon hatte der vormalige Leiter des deutschen Vize-Konsulats in der Hafenstadt Buschehr am Persischen Golf Wilhelm Waßmuß einen Auftrag zur Beteiligung an der von Enver Pascha angeregten Afghanistan-Expedition dazu genutzt, die Mobilisierung südpersischer Khane für die Abschüttelung britischer Oberhoheit einzuleiten. Im Sommer 1915 gelang es ihm mit Hilfe zweier Khane, die Briten in Buschehr einzuschließen. Auf Dauer konnte er sich dort nicht gegen die britischen Truppen halten, doch entwickelte sich aus seiner Aktion im Laufe des Jahres 1916 ein tribaler Volksaufstand, dem sich nahezu alle Stämme Südpersiens anschlossen. Erst nach dem Waffenstillstand zwischen dem Osmanischen Reich und den Ententemächten im Oktober 1918 konnten die Briten die Kontrolle über die südpersische Küstenregion wieder erringen. Ähnlich erfolgreich war der ebenfalls Persien-erfahrene Hauptmann Fritz Klein, der im November 1914 den Plan entwickelte, die Kontrolle über die englischen Ölgebiete am Kaprun allein mit Hilfe persischer Stämme zu erringen. Seiner Expedition gelang es, im Januar 1915 Fatwas auch der höchsten schiitischen Glaubensführer in Kerbela und Nagaf zu erwirken. Der daran anschließende Plan, den Kriegseintritt des Schahs an der Seite der Mittelmächte durch weitere Volksaufstände zu erwirken, kollidierte mit den türkischen Ambitionen auf Sicherung exklusiver Einflussgebiete in Persien. Kleins Verständigung mit den meist schiitischen Araberstämmen im Irak reichte aber aus, die türkische Irakfront zu stabilisieren und erhebliche britische Truppenteile zu binden. Im Frühjahr 1915 waren seine Leute zudem an den Sprengstoffanschlägen auf die englischen Ölleitungen am Kaprun beteiligt, die beträchtlichen finanziellen Schaden anrichteten. Vom September bis Dezember 1915 agierte Klein als deutscher Oberbefehlshaber in Westpersien. Dabei gelang es ihm mit Hilfe persischer Reiter und persischer Gendarmerie, den Durchbruch russischer Truppen nach Mesopotamien und ihre Vereinigung mit den britischen Kontingenten zu verhindern. In den Kaukasus ging im Dezember 1914 eine Expedition unter der Leitung des Erdöl-Managers Paul Schwarz: zunächst mit dem Auftrag, die russischen Erdölleitung zwischen Batum und Baku zu sprengen, dann um die Entfachung eines großen muslimischen Aufstands im Kaukasus bemüht. Nachdem Schwarz bei den Sprengaktionen nur sehr bescheidene Erfolge erzielt hatte, ging die Leitung des Unternehmens auf seinen Stellvertreter Max von Scheubner-Richter über, einen Kriegsfreiwilligen baltischer Herkunft, der wie Schwarz Chemie studiert hatte und den die Aussicht auf Karriere im diplomatischen Dienst lockte. Unter seiner Führung brach ein Trupp türkischer Reiter und Infanteristen im September 1915 nach Nordpersien auf, um die

„Dschihad made in Germany“? Einleitung

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dortigen Stämme zu Anschluss an den Aufstand zu bewegen. Er schlug sich zunächst recht erfolgreich mit russischen Truppen, musste das Unternehmen aber Ende Januar 1916 wegen der Übermacht des Feindes und schlechter Ausrüstung südlich des Urmiasees abbrechen. Danach gelang Scheubner-Richter noch die Rekrutierung einer größeren Gruppe kurdischer Reiter, die bei der Verteidigung gegen russische Angriffe halfen; ein Durchbruch aber war nach der großen türkischen Niederlage bei Sarıkamiş nicht mehr zu erzielen. Einsätze in Ägypten, Palästina und Syrien standen unter der Leitung des Orientalisten und Dragomanen Curt Prüfer, der Oppenheim 1910 als Beobachter in Kairo gefolgt war. Prüfer war als Übersetzer und Verbindungsoffizier von Oberst Kress von Kressenstein bei Djemal Paşa nicht nur in den ersten türkischen Vorstoß auf den Suez-Kanal involviert. Er versuchte auch, innerhalb der arabischen und jüdischen Bevölkerung von Syrien/Palästina Agenten zu rekrutieren und ein Informationsnetzwerk für die Insurrektion in Ägypten aufzubauen. Auch Prüfer hatte sich über das brutale Vorgehen der türkischen Verbündeten zu beklagen; darüber hinaus machte er aber auch vielfache Überheblichkeit der Deutschen und vor allem die Trägheit und Türkenfeindschaft der Araber für die Misserfolge bei der Entfachung des Dschihad verantwortlich. Im Mai 1916 ging Prüfer für einige Zeit zur Flugaufklärung, bis er schließlich erneut in die Fußstapfen Oppenheims trat und erst sein Nachfolger als Chef der „Nachrichtensaal-Organisation“ im Orient und zuletzt auch ihrer Zentrale in Berlin werden sollte. Insgesamt bewegten sich die deutschen Revolutionierungsbestrebungen im Orient in einem breiten Spektrum zwischen Hilfestellung zur Emanzipation von kolonialer Herrschaft und Anbahnung eines eigenen orientalischen Imperiums. Ihre Akteure überschätzten allesamt das revolutionäre Potential, das im vermeintlichen religiösen Fanatismus der islamischen Massen steckte. Ebenso unterschätzten sie die vielfältigen Gegensätze in der islamischen Welt und die Schwierigkeiten bei der Entwicklung moderner Staatswesen, die nicht zuletzt daraus resultierten. Ihre Erfolge blieben daher durchaus begrenzt. Durch die Bindung insbesondere britischer und französischer Streitkräfte wirkten ihre Aktionen letztlich kriegsverlängernd. Gleichzeitig hinterließen sie Wirkungen in der Geschichte der islamischen Völker, die bei deren Erforschung nicht länger unbeachtet bleiben sollten. Insbesondere dürfte es sich lohnen, den Folgen der Solidarisierung mit der einheimischen Bevölkerung nachzugehen, die sich bei Akteuren wie Wilhelm Waßmuß und Fritz Klein beobachten lässt. Sie standen nicht für das deutsche Orient-Engagement im Ganzen und wurden auch nicht als dessen repräsentative Vertreter wahrgenommen. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass die Erfahrung dieser Solidarisierung nicht ohne Einfluss auf die Prozesse der Nationen- und Staatenbildung im Nahen und Mittleren Osten geblieben ist. Für die deutsche Politik führte die Erfahrung mit den Revolutionierungsversuchen zunächst nur, das kann man insbesondere an der Entwicklung von Curt Prüfer festmachen, zu einer Ernüchterung hinsichtlich der Einwirkungsmög-

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lichkeiten in dieser Region. Dass die weltpolitische Verantwortung für deren Entwicklung mit dem Kriegsausgang in erster Linie den Briten und den Franzosen zufiel, wurde bisweilen sogar mit Erleichterung wahrgenommen. Der habsburgische Bündnispartner war an den Aktionen zur Revolutionierung des Orients interessanterweise kaum beteiligt. Lediglich an der ArabienMission des Prälaten Musil und dem Versuch, Persien zum Kriegseintritt auf der Seite der Mittelmächte zu bewegen, wirkte die k.u.k.-Monarchie mit. Der Militärbevollmächtigte Österreich-Ungarns in Konstantinopel Josef Pomiankowski sparte nicht mit Kritik an der Idee des Heiligen Krieges: Der Islam sei ebenso in zahlreiche Sekten gespalten wie das Christentum; zudem mangele es den Menschen in den britisch oder französisch beherrschten Gebieten vollkommen an Waffen und Geld für einen Aufstand. Solange die Mittelmächte keine günstige Entscheidung auf den europäischen Kriegsschauplätzen erreicht hätten, würde man gut daran tun, „an die Proklamierung des Schihad keine übertriebenen Hoffnungen zu knüpfen.“7 Pomiankowskis eigene Aktionen zielten auf die Sicherung des habsburgischen Einflusses gegenüber der deutschen Konkurrenz; und er registrierte auch zutreffend, dass die osmanischen Ambitionen im Hinblick auf den Kaukasus und Persien die deutschen Revolutionierungsbestrebungen konterkarierten. Dass die deutschen Revolutionsagenten nicht nur auf vielfältige Widerstände stießen, sondern in gewisser Weise Grenzgänger waren, zeigt exemplarisch das Titelfoto dieser Aufsatzsammlung: Es ist im Juni 1915 nach einem von Hauptmann Klein angeordneten Anschlag auf die englische Pipeline am Karun entstanden. Das Sprengkommando unter Leutnant Lührs traf nach Erfüllung seines Auftrags Ende Mai in Amara etwa zeitgleich mit den Briten ein und geriet in die Wirren des osmanischen Rückzugs. Die deutschen Kämpfer wurden von irakischen Araberstämmen bis aufs Hemd ausgeplündert und danach von ihren osmanischen Kameraden gepflegt und neu eingekleidet. Die Aufnahme, die anschließend gemacht wurde, zeigt fünf deutsche Kameraden, darunter rechts stehend Leutnant Lührs und links davon sitzend Leutnant Back.8 Triumphgefühle lassen sich aus ihren Gesichtern nicht ablesen, eher Anspannung ob des ungewissen Ausgangs ihres Unternehmens. Für vielfältige Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Bandes danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Duisburg-Essener Lehrstuhls – insbesondere Marc Hanisch, der auch als Mitherausgeber fungiert, und André Postert, der an der Redaktion der Beiträge mitgewirkt hat. Die produktive Atomsphäre, die an diesem Lehrstuhl herrscht, weiß ich sehr zu schätzen. 7 8

Pomiankowski an k.u.k. Chef des Generalstabes, 25. Februar 1915, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1914, Präs 47/1; vgl. den Beitrag von Alexander Will in diesem Band. Die Aufnahme aus dem Nachlass von Fritz Klein wurde uns freundlicherweise von Dr. Veit Veltzke zur Verfügung gestellt, der eine Monographie zur Orientexpedition Kleins vorbereitet.

Marc Hanisch

Max Freiherr von Oppenheim und die Revolutionierung der islamischen Welt als anti-imperiale Befreiung von oben1 Auf dem Höhepunkt der Juli-Krise 1914 erteilte der Kaiser die Anweisung, dass „unsere Consuln in Türkei und Indien, Agenten etc. [. . . ] die ganze Mohamedan. Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen [müssen]; denn wenn wir verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren.“2 Der Chef des Generalstabes Helmuth von Moltke bestätigte den Gedanken des Kaisers umgehend: „Von höchster Wichtigkeit ist [. . . ] die Insurrektion von Indien und Ägypten, auch im Kaukasus. Durch den Vertrag mit der Türkei wird das Auswärtige Amt in der Lage sein, diesen Gedanken zu verwirklichen und den Fanatismus des Islam zu erregen.“3 Eine deutsch-islamische Allianz, versinnbildlicht durch das Bündnis mit dem osmanischen Sultan-Kalifat und einem Aufruf zum „Dschihad“, sollte den vom europäischen Imperialismus beherrschten Völkerschaften des Orients das Signal senden, dass der Moment der Befreiung gekommen sei, um sich nun geschlossen gegen die Ententemächte zu erheben. Zusammen mit dem türkischen Kriegsminister Enver Pascha arbeitete das Auswärtige Amt in den folgenden Wochen und Monaten an der Vorbereitung und Umsetzung einer Revolutionierung der islamischen Gebiete, die sich von Marokko bis Indien erstrecken sollte. Hierzu entsandte man ab Ende August 1914 eine Vielzahl von Missionen nach Afghanistan, Arabien, Persien, Kaukasus und dem Maghreb, die für eine Kriegsallianz der politischen Oppositionsbewegungen in den besetzten Gebieten sowie weitestgehend selbstständig agierenden Herrschern im Orient mit dem Deutschen Reich, seinen Verbündeten und vor allem dem Sultan-Kalifat gegen die Ententemächte werben, Propaganda betreiben und nicht zuletzt durch einen, die regulären Kriegsführung unterstützenden, Guerillakrieg den allgemeinen Aufstand der islamischen Welt befördern sollten. Zum „Mastermind“ der deutschen Insurrektionsanstrengungen wurde in der Retrospektive vor allem ein Mann verklärt, der im Herbst 1914 mit sei1

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Der Aufsatz beruht auf Teil-Ergebnissen einer Dissertation zum Thema „Mensch – Politik – Raum. Die Konstituierung, Institutionalisierung und Reproduktion des außenpolitischen Orient in der deutschen Nahostpolitik“, die voraussichtlich 2014 erscheinen wird. Karl Kautsky, Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914. Hrsg. v. Max Montgelas, Walter Schücking, 5 Bände, Berlin 1919, Bd. 2, Nr. 401, S. 133. Randbemerkung des Kaisers vom 30.7.1914 zu Telegramm Nr. 189, vom 30.7.1904, Deutsche Botschaft Petersburg an Auswärtiges Amt. Ebd., Bd. 4, Nr. 876, vom 5.8.1914, S. 94f.

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ner Denkschrift zur Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde4 scheinbar die Blaupause für alle Unternehmungen geliefert hatte: der zwischen 1896 und 1909 am Generalkonsulat in Kairo kommissarisch tätige Legationsrat und im August 1914 wieder in Dienst gestellte Kölner Bankierssohn und politischer Experte für den Orient Max Freiherr von Oppenheim. Seine 136 Seiten starke Denkschrift war als eine Art „Maßnahmenkatalog“5 zur Entfachung und Umsetzung von indigenen Aufständen gegen diejenigen europäischen Kolonialmächte konzipiert, mit denen sich das Deutsche Reich seit Anfang August 1914 im Krieg befand: Frankreich, Russland und vor allem Großbritannien. Die ihr zugrunde liegende militärstrategische Zielsetzung kombinierte dabei reguläre Truppeneinsätze der türkischen Marine und Armee mit Sabotageaktionen durch paramilitärische Gruppen. Vor allem aber hielt sie allgemeine Leitlinien für Propagandaarbeiten in diesem Großraum bereit und lieferte hierfür auch den organisatorischen Entwurf eines federführenden Nachrichtenbüros, das auf Basis der Proklamation eines Dschihads durch das Sultan-Kalifat in Konstantinopel die muslimische Bevölkerung zum allgemeinen Aufstand gegen die Kolonialmächte ermutigen sollte. Der Türkei respektive dem Osmanischen Reich kam dabei eine Schlüsselstellung zu, da sie nicht nur das Kalifat und damit die höchste islamische Autorität beheimatete, sondern zudem das schlagkräftigste Heer aller islamischen Staaten besaß. Als Verbündeter des Deutschen Reiches war die Hohe Pforte Ausgangspunkt und ihr Mitwirken die „Hauptvorbedingung“6 einer erfolgreichen Umsetzung der Insurrektionsstrategie. Hierzu gehörte auch die Proklamation des Dschihad als dramaturgische Verdichtung eines Appells an das vermeintlich grenzüberschreitenden und tief verwurzelte islamische Solidaritätsempfinden, sowie zentrales Signal für alle Muslime „zur Abschüttelung der Fremdherrschaft“,7 dessen theoretisch verpflichtende Botschaft mit aller Macht und nicht zuletzt mit deutscher Hilfe Verbreitung finden sollte. Entscheidend war jedoch, dass es zu einem schnellen militärischen Auftreten der Türkei am Nil kam. Denn an einen isolierten Aufstand im besetzen Ägypten, allein durch die Ausrufung des Dschihads und auf Basis der englandfeindlichen Stimmung, glaubte Oppenheim nicht. Eine „Gesamterhebung der Egypter“ war „erst bei einem siegreichen Vordringen der türkischen Armee im Nilland zu erwarten“.8 Bis dahin sollten eine ausgedehnte Propagandaarbeit sowie „[m]öglichst viele kleine Putsche, Attentate etc [. . . ] ganz gleichgültig, ob diese gelingen oder nicht“,9 die Si4 5 6 7 8 9

PAAA, R20938, Max von Oppenheim, Denkschrift betreffend der Revolutionierung der islamischen Gebiete unser Feinde. Berlin 1914; im Folgenden: Oppenheim, Denkschrift. Salvador Oberhaus, „Zum wilden Aufstande entflammen“. Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg am Beispiel Ägyptens. Saarbrücken 2007, S. 121. Oppenheim, Denkschrift, S. 1. Ebd., S. 7. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22.

Max Freiherr von Oppenheim und die Revolutionierung der islamischen Welt

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tuation im Lande destabilisieren. Ein ähnliches Szenario aus vorbereitender Propaganda, Sabotage und militärischem Vorrücken der Türkei schwebte ihm auch für den Kaukasus vor. Wo die türkische Armee nicht operieren konnte, wie im Maghreb, Persien, Afghanistan oder Indien, sollten einzelne Missionen, ausgestattet mit Waffen, Geld und Propagandamaterial, entsandt werden. Zum einen, um mit lokalen Herrschern und Stammesfürsten eine Art Guerilla-Krieg zu führen und dadurch möglichst viele englische und französische Truppen zu binden, die dann auf dem europäischen Kriegsschauplatz fehlen würden. Und zum anderen, um bei der Implementierung eines Bündnisses zwischen der Türkei, Persien und Afghanistan zu helfen und damit eine Landbrücke nach Indien zu schaffen bzw. im Idealfall gleich den Einmarsch des afghanischen Emirs Habib Ullah Chan in Indien, analog dem Vordringen der Türken in Ägypten, zu erwirken und so einen Aufstand in Indien zu ermöglichen. Obwohl sich Oppenheims Denkschrift mit allen islamischen Gebieten, von Marokko bis nach Holländisch-Indien und SüdChina, auseinandersetzte, galt das eigentliche Ziel der Revolutionierungsstrategie in erster Linie dem Kolonialbesitz der Engländer. „Das Vorgehen gegen Egypten und Indien ist am wichtigsten“, da sie die „verwundbarste Stelle“ des Britischen Empires darstellten und als „Achilles-Ferse des seegewaltigen britischen Kolosses“ für den Ausgang des Weltkrieges voraussichtlich „von ausschlaggebender Bedeutung“ sein werde.10 Im Gegensatz zu Teilen des Generalstabes, die zu allererst ein Vorgehen der türkischen Armee gegen Russland präferierte, war Oppenheim davon überzeugt, dass Deutschland in der Lage sei, „Frankreich niederzuringen und im Verein mit unseren österreichischen Verbündeten Russland in Schach zu halten.“11 Englands Flottenmacht aber hatte Deutschland nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Daher galten seine ganzen Überlegungen vorrangig den englischen Einflusssphären im Orient, die mit Indien die materielle Basis des Britischen Empires und mit dem Suezkanal die wichtigste politische und ökonomische Verkehrslinie zum Subkontinent beheimate. Ohne die Kronkolonie würde England seine imperiale Vormachtstellung verlieren, so dass eine Revolutionierung derselben, für die wiederum die Befreiung Ägyptens wesentliche Voraussetzung war, London zur Mobilisierung außerordentlicher militärischer Kräfte nötigen und in letzter Konsequenz zu Friedensverhandlungen mit Deutschland zwingen werde. Oppenheims Überlegungen basierten dabei auf einer Art Doppelsieg-Strategie, die für die Türkei, Ägypten, Persien, Afghanistan und Indien politische wie ökonomische Stärkung nach sich ziehen würde, vor allem aber „das längst ersehnte Self-Government“12 bereit hielt. Selbst im Fall des Scheiterns einer vollständigen Befreiung Indiens, so seine Kalkulation, wäre England in diesem Prozess zu weitreichenden Zugeständnissen an die 10 11 12

Ebd., S. 3 & 125. Ebd., S. 2. Ebd., S. 136.

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indische Nationalbewegung verpflichtet, die einen wichtigen Etappensieg auf dem Weg zur Unabhängigkeit darstellen würde. Denn von der Notwendigkeit und geschichtlichen Zwangsläufigkeit der Auflösung kolonialer und imperialer Regime in der islamischen Welt war Oppenheim vollends überzeugt, wie er allerdings seit Jahren einen großen europäischen Krieg hierfür als eine Art Vorbedingung erachtete. Dass von der neuen Selbstständigkeit vor allem Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht profitieren würde und auch sollte, gehörte zu Oppenheims Kalkül. Fritz Fischer hat diese Denkschrift in „Griff nach der Weltmacht“ als die „entscheidende Konkretisierung“ einer expansionistischen deutschen Kriegspolitik im Orient dargestellt und Max von Oppenheim zum einflussreichen Hintergrundakteur aufgebaut, der bereits 1898 den Kaiser zu dessen Damaskus-Rede und dem Versprechen immer währenden Freundschaft mit der islamischen Welt inspiriert haben soll.13 Diese Form der „most singlehanded responsibility“14 wird eigentlich nur dadurch noch übertroffen, dass Oppenheim und seine Revolutionierungsschrift vereinzelt auch als Beweis für die Kontinuität rücksichtsloser Gewaltpolitik des Deutschen Reiches angeführt werden, die in ihrer teleologischen Absurdität schon 1914 auf die Vernichtungslager von Auschwitz und die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 verweisen möchte. Tatsächlich lässt sich Oppenheims politisch-praktischer Einfluss ziemlich leicht relativieren. Ein Blick in die Journale des Auswärtigen Amtes verrät, dass der erwähnte Bericht von 1898, der dem Kaiser als Inspirationsquelle für seine Damaskusrede dienen sollte, nie von zentraler Stelle in Berlin, geschweige denn vom Kaiser persönlich, gelesen wurde. Ähnlich verhält es sich mit der Denkschrift von 1914. Ihre Wirkmächtigkeit ergibt sich – neben den inhaltlichen Ausführungen – vor allem aus ihrer Datierung. Fischer verordnet sie in den „September 1914“,15 während sich im Anschluss an Egmont Zechlin „Oktober 1914“ großenteils durchgesetzt hat. Sie wäre damit vor der Proklamation des Dschihads am 11. bzw. 14. November 1914 verfasst worden. Dies macht den entsprechenden Kausalzusammenhang möglich, der besagt, dass die Denkschrift die Richtung bestimmte, in die das Deutsche Reich zu agieren hatte und deren praktische Folgen dann zeitversetzt sichtbar wurden. In der Tat sind die drei Exemplare im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes mit „Berlin im Oktober 1914“ bzw. „Berlin, Ende Oktober 1914“ überschrieben. Wieso Fischer die Denkschrift auf September datiert hat, bleibt sein Geheimnis. Eine textkritische Lesung der Denkschrift zeigt jedoch noch mehr, nämlich dass diese keinesfalls vor der Proklamati13 14

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Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Düsseldorf 1964, S. 139–146, hier S. 143. Tilman Lüdke, Jihad made in Germany – Ottoman and German Propaganda and Intelligence Operations in the First World War. Münster 2005, S. 68; vgl. hierzu kritisch vor allem: Oberhaus, Zum wilden Aufstande, S. 116. Fischer, Griff, S. 143.

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on des Heiligen Krieges am 14. November 1914 fertig gestellt wurde. Dies wird vor allem in den Bezügen zu historischen Ereignissen deutlich, die sich eindeutig datieren lassen, wie der Eroberung Antwerpens, der Beschießung der russischen Küstenstädte im Schwarzen Meer durch die unter türkischer Flagge fahrenden Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ sowie nicht zuletzt der Proklamation des Dschihads selbst! Auch Stil- und Tempuswechsel zeigen, dass der Denkschrift eine Verschriftlichung seit Mitte Oktober 1914 zugrunde lag, die erst in der zweiten November-Hälfte des Jahres ihren Abschluss fand. Was schließlich auch mit ihrem offiziellen Auftreten im laufenden Geschäftsbericht des Auswärtigen Amtes korrespondiert und hierbei zudem einen ziemlich dilatorischen Umgang mit dem Dokument offenbart. Letzteres gilt umso mehr für zwei Memoranden vom 18. August 1914, in denen Oppenheim quasi unmittelbar nach Kriegsbeginn wesentliche Inhalte seiner späteren Insurrektionsschrift darlegt. Adressiert an den Reichskanzler sehen die meisten Oppenheim-Autoren gerade darin einen zentralen Beleg für die politische Lenkung oder geistige Urheberschaft der Kriegspolitik im Orient durch Oppenheim. Schade nur, dass diese Memoranden kein Einziger gelesen hat. Also weder der Reichskanzler, dessen Adressierung ein rein formaler Akt war, noch irgendein relevanter Beamten der Wilhelmstrasse, sondern beide Memoranden unmittelbar nach ihrer Eingabe mit dem Vermerk zu den Akten archiviert wurden. Für den angeblich so einflussreichen und entscheidenden Strategen Oppenheim eine ziemliche Missachtung, die allerdings wenig überrascht. Denn logischerweise beruhte die Orientpolitik des Deutschen Reiches im Weltkrieg nicht auf den beiden Einlassungen oder der Denkschrift des Legationsrates a.D., sondern auf den Befehlen von Generalstabschef Moltke. Die eingangs zitierten Anweisungen Moltkes sind es dann auch, die sich als Abschrift in den meisten Aktenbände zur deutschen Revolutionspolitik auf den ersten Seiten wieder finden lassen. Daraus nun den Schluss zu ziehen, dass Oppenheim überhaupt gar keine Bedeutung zukomme, wäre allerdings genauso falsch. Was für politische Grundsatzentscheidungen und militärische Zielrichtungen gilt, ist nicht gleichzusetzen mit den anschließenden Bemühungen, die politischen Vorgaben des Generalstabes und Kaisers auch in die Tat umzusetzen. Und hier kommt Oppenheim sehr wohl eine tragende Rolle zu. Abgesehen von der Einrichtung und anfänglichen Leitung einer „Nachrichtenstelle für den Orient“, die sich um die Erarbeitung und Verbreitung der Aufstands-Propaganda kümmern sollte und sicherlich „das zentrale zivile Instrument der deutschen Orientpolitik im Weltkrieg“16 darstellte, war Oppenheim, wie Wilhelm Wassmuss17 es in seinen Erinnerungen ausdrückte, einer derjenigen Orientkenner im Amt, die den Anregungen, wie bspw. Enver Paschas früher Bitte um Beiga16 17

Martin Kröger, Mit Eifer ein Fremder, in: Teichmann, Völger (Hrsg.): Faszination Orient. Köln 2001, S. 107–139, hier S. 128. Zu Waßmuß siehe den Beitrag von Stephan M. Kreutzel in diesem Band.

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be einer gewissen Anzahl von deutschen Offizieren für eine nach Afghanistan zu entsendende türkische Mission, aus der schließlich die „NiedermeyerHentig-Expedition“ hervorgehen sollte, in den ersten Wochen des Krieges „Gewicht verliehen“.18 Neben Oppenheim sind in diesem Zusammenhang u. a. auch Ernst Jäckh, der pro-deutsche Schwede Sven Hedin sowie der bis 1914 als britischer Generalinspekteur für den Sudan tätige Österreicher, Rudolf Slatin Pascha, zu nennen, deren Rat und Urteil in ganz unterschiedlicher Art und Weise in die Vorbereitungsarbeiten des Auswärtigen Amtes mit einbezogen wurden. Darüber hinaus war Oppenheim an der Auswahl deutscher Akteure wie auch ausländischer Exilanten für die einzelnen Expeditionen beteiligt, die sich zu weiteren Vorbereitungsgesprächen nicht selten in Oppenheims Privatwohnung am Savignyplatz in Berlin trafen. Er arbeitete Richtlinien für eine adäquate Behandlung von Kriegsgefangenen islamischen Glaubens der gegnerischen Kolonialtruppen aus und fungierte, dank seiner Bekanntheit im Orient, für politische und intellektuelle Repräsentanten der islamischen Welt, die sich seit Jahren gegen das Ausgreifen des europäischen Imperialismus in ihrer Heimatländern engagierten, als erster Ansprechpartner und Bindeglied zu den deutschen außenpolitischen Stellen. Dass er dies konnte und seine Einschätzungen zu bestimmten Akteuren sowie Möglichkeiten der Implementierung eines anti-kolonialen Aufstandes im Orient gefragt waren, hatte mit seiner vorherigen Karriere im Auswärtigen Dienst zu tun. Denn kein anderer Mitarbeiter der Wilhelmstraße war auch nur annähernd so lange im Orient tätig gewesen wie Oppenheim. Und vor allem verfügte niemand im Amt über ein größeres, in der Regel auf langjährige persönliche Kontakte beruhendes Netzwerk zur arabisch-islamischen Elite des Osmanischen Reiches, dessen integraler Bestandteil Ägypten bis 1914, trotz der faktischen Herrschaft des englischen Okkupationsregime, de jure blieb. Seine Tätigkeit am Generalkonsulat in Kairo hatte Oppenheim, obwohl er in den offiziell 14 Jahren zwischen 1896 und 1910 lediglich kommissarisch beschäftigt war, in bestimmter Hinsicht zum Prototypen eines orientpolitischen Regionalreferenten gemacht, auf dessen Expertise man trotz seiner bereits vier Jahre zurückliegenden Entlassung aus dem Auswärtigen Dienst nicht verzichten konnte. Für Oppenheims Kairoer Zeit gilt allerdings erneut, dass sein direkter politisch-praktischer Einfluss auf die deutsche Orientpolitik ziemlich begrenzt war. Seine herausragende Bedeutung lag vielmehr in seiner Rolle als der eines „Beobachters für die islamischen Welt“, die ihn faktisch zu einem der wichtigsten Diskursrezipienten und -träger für die politische Stimmung im Orient machen sollte. Von daher ist auch die Revolutionsschrift nicht die geniale „grande stratégie“, die der Phantasie einer Einzelperson entsprungen war, sondern ein Dokument, das, basierend auf den Vor-Ort-Erfahrungen zweier Dekaden, die zeitgenössischen ideologischen Vorstellungen, Vorurteile 18

PAAA, NL-Waßmuß, Bd. 16, „Die deutsche Aktion in Persien im Weltkrieg“, S. 2.

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und vor allem Ängste der Kolonialmächte bündelte, systematisierte und einen Wirkungszusammenhang mit den außenpolitischen Realitäten des Deutschen Reiches zu Beginn des Weltkrieges setzte. Dabei war sie weniger das Produkt chauvinistischen Weltmachtstrebens, gepaart mit einer skrupellosen Radikalisierung und Instrumentalisierung der islamischen Religion, sondern vielmehr das eklektische Abbild transnationaler, orientpolitischer Diskurse des imperialen Zeitalters im langen 19. Jahrhunderts. Und darin zum einen in Teilen sehr viel „englischer“ und zum anderen eine gutes Stück „anti-imperialistischer“, als es ein Großteil der bisherigen Forschung wahrzunehmen bereit ist.

Oppenheims Weg ins Amt Max von Oppenheim wurde am 15. Juli 1860 als erstes von insgesamt drei Kindern von Albert und Paula von Oppenheim geboren und entstammte damit väterlicherseits einer jüdischen Bankiersdynastie, die in Deutschland zu den wohlhabendsten Unternehmerfamilien überhaupt zählte. Der damit in vielerlei Hinsicht vorbestimmte Lebens- und Karriereweg im familiären Kölner Bankhaus Sal.Oppenheim reizte Max, dessen Leidenschaften für Naturwissenschaften und Reisen schon früh ausgeprägt waren, jedoch nur wenig. Zwar konnte der Vater seinen Sohn noch zu einem Jura-Studium bewegen, doch spätestens nach dessen ersten beiden längeren Aufenthalten im Orient (1883/84 und1886) war Max von Oppenheim vor allem von dem Wunsch beseelt, Diplomat zu werden. Die für die Aufnahme in den Auswärtigen Dienst notwendigen Voraussetzungen erfüllte er und durch seinen Onkel, den Vortragenden Rat Heinrich von Kusserow, verfügte er auch über verwandtschaftliche Beziehungen ins Amt. Zudem genoss er die intensive Fürsprache des zur damaligen Zeit wohl international angesehensten deutschen Diplomaten, Paul Graf von Hatzfeldt, mit dessen Sohn, Hermann von Hatzfeldt, er zeitlebens eng befreundet war. Seine Herkunft verhinderte jedoch in doppelter Hinsicht eine Aufnahme in den Vorbereitungsdienst. Zum einen pflegte man in der Wilhelmstraße eine Abneigung gegen Mitglieder der diversen deutschen Bankiersdynastien, die mit ihren monetären Möglichkeiten das sorgsam gepflegte Netzwerk aus persönlichen Seilschaften und Abhängigkeiten zu bedrohen schienen. Zum anderen stellte die jüdische Herkunft seines Vaters, der allerdings noch vor seiner Hochzeit mit der aus einem rheinisch-katholischen Patriziergeschlecht entstammenden Paula Engels zum Katholizismus übergetreten war, einen weiteren Ablehnungsgrund dar. Vor allem die „Graue Eminenz“ der Wilhelmstraße, Friedrich von Holstein, hatte eine reguläre Aufnahme Oppenheims, sowohl 1887 als auch 1891, stets auch unter Hinweis auf seine jüdische Abstammung und in antisemitischer Diktion abgewiesen. Oppenheims Wunsch nach Aufnahme in den Auswärtigen Dienst wäre daher wohl nie entsprochen worden, wenn nicht vier Jahre später die außenpoliti-

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sche Führung des Deutschen Reiches durch einen scheinbar substanziellen Wandel der englischen Orientpolitik nachhaltig aufgeschreckt worden wäre. Im Sommer 1895 trat der englische Premierminister Salisbury informell mit einem Teilungsplan für das Osmanische Reich an seinen Freund und deutschen Botschafter in London, Paul Graf von Hatzfeldt, heran, der u. a. vorsah, Russland den lang ersehnten Zugriff auf Konstantinopel bei gleichzeitig weitreichenden Kompensationen für England in den arabischen Gebieten zu ermöglichen. Da die englische Weltmacht seit dem Krim-Krieg (1853–56) als außenpolitischer Garant der territorialen Integrität des Osmanischen Reiches aufgetreten war, um eine russische Expansion auf Kosten desselben und damit wachsende Bedrohung des englischen Kolonialbesitzes vor allem mit Blick auf die Kronkolonie Indien vorzubeugen, widersprach Salisbury’s Plan allen politischen Axiomen, nach denen sich die deutsche Außenpolitik bis dahin ausgerichtet hatte. Gerade in den Konkurrenz- und Konfliktpositionen der sogenannten „orientalischen Frage(n)“, an der das Deutsche Reich als einzige europäische Großmacht kein direktes Interesse besaß, hatte Berlin immer das politische Feld identifiziert, in welchem es durch geschicktes Taktieren eine geschlossene Koalition der anderen europäischen Großmächte gegen das Deutsche Reich verhindern konnte. Dabei galt, dass der geopolitische Gegensatz zwischen Großbritannien und Russland unauflöslich sei. In der Inkubationsphase von der Bismarck’schen Bestandsicherungspolitik, die allein das europäische Mächtekonzert im Blick hatte, hin zu einer Wilhelminischen Weltpolitik, erzeugte Salisbury’s Abkehr von der bisherigen orientpolitischen Kontinuitätslinie bei der außenpolitischen Führung Deutschlands schlagartig Misstrauen und vor allem Unsicherheit. Umso mehr als Salisbury’s Argument von der innenpolitischen Instabilität des Osmanischen Reiches, dessen Zusammenbruch kurz bevor stehe, sich nicht nur auf die damals akute ArmenierFrage bezog, sondern auch die arabischen Provinzen mit einschloss, die sich angeblich in wachsender Segregation und Aufruhr gegen die türkische Despotie Abdulhamids II. befänden. Letzteres konnte die Wilhelmstraße nämlich weder bestätigen noch dementieren, da sie schlichtweg über keine ausreichende außenpolitische Vertretungsstruktur und -dichte sowie Fachkräfte in und für die islamische Welt verfügte, um eigenständig Informationen hierzu einzuholen. Genau jener Mangel an außenpolitischer Expertise eröffnet nun Oppenheim die Chance, mit neunjähriger Verzögerung, doch noch in den Auswärtigen Dienst einzutreten. Oppenheim hatte sich bis dato durch diverse Reisen in der islamischen Welt von Marokko bis Indien, intensives Studium der arabischen Sprache sowie einen siebenmonatigen Aufenthalt in Kairo zu einem zeitgenössischen Spezialisten für die politischen Entwicklungen des Islams entwickelt und dabei die ganze Zeit über den guten Kontakt zu Hatzfeldt gehalten und den Kontakt zu Paul Kayser, dem Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, ausgebaut. Oppenheims besonderes Interesse galt der Bruderschaft der Senussi und den Eroberungszügen des sudanesischen Feldherrn Rabehs,

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wobei ihm seine exzellenten Verbindungen zum militärischen Nachrichtendienst der Engländer in Ägypten äußerst hilfreich waren. Als Salisbury Hatzfeldt im Sommer 1895 seine möglichen Teilungsabsichten offerierte, weilte auch Oppenheim zufällig wieder einmal in London, wo er in der Regel auf der Botschaft zu wohnen pflegte. Oppenheims Wissen um die politischen Entwicklungen – zumindest was den nord- und zentralafrikanischen Raum anging – stand damit zum ersten Mal in einem konkreten Verwertungszusammenhang mit der sogenannten Großen Politik, unterstrich noch einmal das gegenwärtige Informationsdefizit des Auswärtigen Amtes und lieferte zudem auch die inhaltliche Grundlage für die wenige Wochen später erfolgte „Kayser-Hatzfeldt-Initiative“ zur Einrichtung eines Sonderpostens für die Beobachtung der islamischen Welt am Generalkonsulat in Kairo sowie die Entsendung seiner selbst. Oppenheims offizieller Auftrag, nämlich „den Bewegungen des Islam in allen seinen Ausstrahlungen zu folgen“, war so überdimensioniert wie unspezifisch gefasst. Pointierter drückte es da schon Holstein aus, der Oppenheims Aufnahme in den Auswärtigen Dienst und Entsendung in dem politischen Kontext des Jahres 1895/96 zwar nicht mehr verhindern konnte, jedoch eine rein kommissarische Beschäftigung mit lediglich Einjahres-Verträgen durchzusetzen vermochte, und zwei Jahre später Oppenheims Auftrag rückblickend wie folgt benannte: „Er sollte die in der Welt des Islam angeblich herrschenden Gährungen beobachten, um Europa rechtzeitig zu warnen, wenn etwa ein Ausbruch bevorstände. Zu dem Behufe solle er Fühlung mit Eingeborenen nehmen, auch wohl Karawanen-Reisen mitmachen, um sich auf den großen Märkten im Inneren über die in der Welt des Islam herrschende Stimmung zu orientieren. So war die Sache gedacht.“19

Karawanen-Reisen à la Karl May hat Oppenheim in seiner Zeit im Orient nicht mitgemacht. Von der ausdrücklichen Genehmigung, sich auf Informationsreisen zu begeben, machte er in seinen dreizehn Jahren in Kairo allerdings sehr wohl Gebrauch und nutze dieses Privileg wiederholt für Expeditionen und Exkursionen nach Syrien, Mesopotamien und in den Maghreb, aber auch nach Paris und in die USA. Noch deutlich charakteristischer für seine Tätigkeit war allerdings, um in der Diktion von Holstein zu bleiben, die „Fühlungnahme mit Eingeborenen“.

Kairo als Raum politischer Sozialisation Als Oppenheim am 2. Juni 1896 seinen Dienst am Generalkonsulat in Kairo aufnahm, kehrte er nicht nur in eines der bedeutsamsten religiösen Zentren der islamischen Welt zurück, dass durch die al-Azhar-Moschee/Universität 19

John C. G. Röhl (Hrsg.), Philipp Eulenburgs Politische Korrespondenz. Boppard 1983, Bd. 3, Nr. 1382, Holstein an Eulenburg 21.7.1898, S. 1913–17, hier S. 1916.

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und seine Lage als Ausgangspunkt für den Großteil der jährlichen Pilgerreisen nach Mekka tatsächlich eine hohe Anziehungskraft wie umgekehrt auch weitreichenden Einfluss auf die Muslime in aller Welt ausübte. Gleichzeitig siedelte er auch in eine der wichtigsten Kultur- und Medienmetropole der islamischen Welt über, die in einem engen ideengeschichtlichen Austauschverhältnis mit anderen europäischen wie asiatischen Zentren stand und sowohl Magnet als auch Zufluchtsort für viele orientalische Intellektuelle war, die entweder die wachsende Vielfalt der Betätigungsmöglichkeiten nutzen, vor allem aber den rigiden osmanischen Zensoren entfliehen wollten. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich Kairo auf diese Weise zu einem Begegnungsraum für Vertreter ganz unterschiedlicher politischer und religiöser Strömungen wie Weltbilder entwickelt. Hier sammelten sich u. a. christlich-syrische Separatisten, Jungtürken, islamische Reformer, konservative Ulemas, Wahabiten, nationale Säkularisten, religiöse Nationalisten, sowie europäische Imperialisten, Sozialisten und Anarchisten. Sie verwandelten die Stadt zu einem Diskurs- und Kommunikationsraum, der als Katalysator für das Hervorbringen neuer politischer Konzepte wie auch der Erneuerung tradierter Vorstellungen über gesellschaftliche Ordnung, die Bedeutung der Religion und des Staates im Zeitalter des Imperialismus fungierte. Kairo war eines der wichtigsten Zentren für Debatten einer intellektuellen Elite, von denen ein Großteil an den europäischen Bildungseinrichtungen in Ägypten oder in Europa selbst sozialisiert war und nach Antworten auf den zunehmend aggressiver werdenden westlichen Imperialismus in all seinen politischen, ökonomische und kulturellen Facetten suchte. Getragen wurde diese Entwicklung von dem Umstand, dass Ägypten über eine äußerst dynamische Zeitschriften- und Presselandschaft verfügte, die vor allem Kairo zu ein Resonanzraum für die Entwicklungen in der islamischen Welt, das globale politische Geschehen im Allgemeinen sowie nicht zuletzt für die in Europa geführten Diskurse und Debatten mit Blick auf die islamische Welt machte. Wer nun Informationen über diese islamische Welt suchte, war hier, sofern er denn Arabisch sprach und las, richtig. Oppenheim konnte beides. Von Anfang an gehörte daher das Lesen und Auswerten von Zeitungsberichten über die politischen Entwicklungen zu den wesentlichen Charakteristiken seiner praktischen Arbeit: „Sodann besteht in Egypten eine immer mehr an Bedeutung gewinnende „eingeborenen“ Presse, welche in mancher Beziehung weit über das Nilland hinaus in der muhammedanischen Welt geradezu eine öffentliche Meinung schafft, da sie in arabischer Schrift, also in der Sprache des Koran, erscheint und daher von den wirklich gebildeten der ganzen muhammedanischen Welt verstanden wird. Einzelne Blätter erscheinen in Auflagen von vielen tausend Exemplaren täglich und finden tatsächlich bis nach Indien den Malayen und China sowie in ganz Afrika Verbreitung. Von allen diesen Gegenden erhalten die betreffenden Zeitungen gelegentlich Zuschriften, während sie andererseits alle europäischen Ereignisse wiedergeben und mit ihren Reflexionen versehen.“20 20

PAAA, R 14556, „Memorandum betreffend die besondere Beobachtung der Verhältnisse

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Diese „Eingeborenen-Presse“ – d. h. arabisch-sprachige Zeitungen mit einem ägyptischen Herausgeber – waren jedoch nicht nur Informations- und Nachrichtenmedien. Vielmehr stellte sie das wichtigste politisch-ideologische Mobilisierungsinstrument gegen die englische Besatzungsherrschaft dar. Oder, um es mit den Worten eines ihrer herausragenden Akteure zu sagen, war die Presse „the only weapon that the occupier has left in the hands of the nationalists to repel that which is objectionable.“21 Denn nach einer Phase des Schocks und des Schweigens im Anschluss an die gewaltsame Besetzung des Landes durch England im Jahre 1882 und daran anschließende Zerschlagung der Urabi-Bewegung, die für viele ägyptische Journalisten mit Verhaftungen und Deportationen verbunden war, brach gegen Ende der 1880er Jahre eine neue Ära der politischen Berichterstattung an, die auf der Etablierung neuer ägyptischer Zeitungen basierte und maßgeblich zur Ausbildung einer neuen politischen Generation ägyptischer Nationalisten führen sollte. Dabei profitierte man sowohl von der Verbesserung der wirtschaftlichen Gesamtsituation im Zuge englischer Reformanstrengungen, als auch von der vergleichsweise liberalen Grundhaltung des faktischen Herrschers von Ägypten, dem britischen Generalkonsul Lord Cromer, der die Meinungsfreiheit im Land überhaupt erst wieder herstellte. Vorreiterrolle und lange Zeit einflussreichstes Medium dieser „journalistic phase“22 , war die im Dezember 1889 von dem – oben zitierten – aus Oberägypten stammenden al-Azhar-Absolventen, Ali Yusuf (1863– 1913), gegründete Zeitung al-Muayyad; der sogenannten Times of the East. In der Phase der Neu-Konstituierung einer ägyptischen Nationalbewegung bis zur Legalisierung der Gründung von politischen Parteien im Jahre 1907, sollten es vor allem Zeitungen sein, die als parteipolitische Vorläufer-Organisationen fungierten. Und auch wenn sich mit der Zeit immer mehr Fraktionen und Partikularinteressen ausbildeten sowie Konflikte zwischen wichtigen Akteuren auftaten, war es al-Muayyad bzw. das Umfeld, zu dem al-Muayyad zählte, in dem sich in den 1890er Jahren so etwas wie die ideologische und personelle Avantgarde einer sich neu konstituierenden ägyptischen Nationalbewegung sammelte und welches für Oppenheim nicht nur zur Quelle seiner politischen Berichterstattung, sondern auch zum Multiplikator seines personellen Netzwerkes avancieren sollte. Oppenheim hat seine Zeit in Kairo in seinen autobiographischen Aufzeichnungen als „Doppelleben“ innerhalb der europäischen Community und Eingeborenenwelt bezeichnet und damit treffend zum Ausdruck gebracht, was ihn von den meisten anderen Mitgliedern des europäisch-diplomatischen

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und Bewegungen in der muhammedanischen Welt und Berufung eines eigenen Beamten zu diesem Zwecke“, 13.10.1898, S. 5. Yusuf Dasuqi, Muhammed Kamil Dasuqi: Fi al-Sihafa. Cairo 1929, S. 140, zit. n.: Ami Ayalon, The Press in the Arab Middle East. A History. New York, Oxford 1995, S. 58. Charles C. Adams, Islam and Modernism in Egypt. A Study of the Modern Reform Movement inaugurated by Muhammad Abduh. London 1933, S. 220.

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Corps unterschied. Während letztere häufig in abgeschlossenen Quartieren lebte und den Kontakt zur ägyptischen Bevölkerung mieden, nicht zuletzt auf Basis vulgär stereotyper Ressentiments, die in „dem Muslim“ lediglich einen ausländer- und christenfeindlichen Religionsfanatiker erkennen wollte, pflegte Oppenheim einen für damalige Verhältnisse unkonventionellen und freien Umgang mit der einheimischen Bevölkerung. Schon 1892/93 hatte er sich eine kleines Haus im ägyptischen Viertel Kairos gemietet und zunehmend die „Attitüde des distanzierten Europäers ab[gelegt]“.23 Und auch ab 1896 suchte und pflegte Oppenheim die Gespräche mit den Ägyptern in Kaffeehäusern, auf den Basaren oder bei Besuchen der al-Azhar-Moschee/Universität und erwies sich dabei als respektvoller Zuhörer, der „nicht auf sie herabschaute, wie die Engländer oder die meisten anderen Europäer es taten“.24 So zutreffend dies auf der einen Seite war, so sehr lässt sich dabei der – quasi obligatorische – „romantisierende Blick zurück“ autobiographischer Aufzeichnungen nicht leugnen. Einen völlig „un-standesgemäßen“ oder wirklich klassenübergreifenden Verkehr mit der einheimischen Bevölkerung pflegte er nicht. Allein seine Herkunft hatte ihm schon 1892 die Türen zur politischen Elite Ägyptens wie bspw. dem jungen Khediven Abbas Hilmi II. geöffnet, was sich dann als Mitglied des diplomatischen Corps ab 1896 nur noch verstärkte. Oppenheim führte zudem ein äußerst gastfreies Haus, was ihn in den dreizehn Jahren seiner Tätigkeit – wenig überraschend – mit der gesamten in- und ausländischen politischen wie wissenschaftlichen Elite, die in Kairo beheimatet war oder temporär verweilte, bekannt machte und zum Teil befreundete. Sein Haus und die dort abgehaltenen Dinner waren legendär und hoch frequentiert, wie Oppenheim umgekehrt als steter Gast an allen gesellschaftlich relevanten Banketten und Festivitäten teilnahm. Seine Verbindungen blieben aber nicht auf dieses „eine Leben“ in einer letztlich sehr internationalen wie abgeschotteten Schicht beschränkt, sondern reichten – für damalige Verhältnisse eben untypisch – bis weit in die ägyptische Zivilgesellschaft hinein. Hier war es vor allem die gebildete intellektuelle Mittel- und Oberschicht, zu der Oppenheim intensive Beziehungen knüpfte. Die städtischen Unterschichten und vor allem die Angehörigen der bäuerlichen Klasse, also die Fellachen, die den Großteil der ägyptischen Bevölkerung ausmachte, zählten nicht dazu. Ein Umstand, der sich letztlich für die Revolutionierungspläne und Vorstellungen eines anti-imperialen Volksaufstandes gegen die Besatzungsherrschaft als durchaus nachteilig erweisen sollte. Zwar wusste Oppenheim um das genügsame und unpolitische Wesen einer nahezu vollständig aus Analphabeten bestehenden Gesellschaftsgruppe, die zwar auch unter dem englischen Besatzungsregime ausgebeutet wurde, jedoch durchaus graduelle Verbesserung erfahren hatte. Doch betrachtete er sie gleichzeitig als willfährige Masse, die 23 24

Gabriele Teichmann, Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, in: Teichmann, Völger: Faszination Orient S. 1–105, hier S. 20. Zit. n.: Ebd., S. 35.

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bereitwillig täte, was politisch-religiöse Autoritäten ihr auftragen würden und damit eine nähergehende Auseinandersetzung in diesem Kontext gleichsam überflüssig machte. So sehr Oppenheim an anderer Stelle gerade den Beduinen in Syrien und Mesopotamien mit einem ganzheitlichen Interesse begegnete, blieben seine Verbindungen in Kairo in erster Linie auf die intellektuelle arabisch-islamische Elite beschränkt. Den Zugang zu dieser Elite hatte er aber weniger seiner Herkunft und seinem Status zu verdanken als vielmehr seiner Unvoreingenommenheit und dem Respekt, denen er ihr gewöhnlich entgegen zu bringen pflegte, sowie im Laufe der Zeit auch einer gewachsenen Sympathie und Identifikation mit ihren politischen Zielen. Die Basis hierfür lag aber vor allem in seinen Verbindungen zu al-Muayyad. Oppenheim las nicht nur kontinuierlich al-Muayyad; er war mit dieser Zeitung auch strukturell verbunden. Neben seinen freundschaftlichen Beziehungen zu ihrem Herausgeber Ali Yusuf ist an dieser Stelle besonders der langjährige Chef-Redakteur der Zeitung, Muhammed Massoud Effendi, zu nennen, der Oppenheim in seiner gesamten Zeit am Generalkonsulat zusätzlich als Privatsekretär diente. Er versorgte ihn täglich mit Auszügen aus der arabischen Presse und verhalf Oppenheim durch seine weitreichenden Verbindungen zu den arabisch-islamischen Medien wie Autorenzirkeln früh zu Kontakten, die sich nicht nur auf Kairo bezogen, sondern auch über Ägypten hinaus reichten. An prominenter Stelle sind hier der vielleicht bekannteste politische Aktivist gegen das englische Besatzungsregime und zentrale Führungsfigur der sich neu konstituierenden ägyptischen Nationalbewegung, Mustafa Kamil, sowie der aus dem heutigen Libanon stammende Drusenfürst und politische Autor, Shekib Arslan, der vor allem in der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er zu den einflussreichen anti-imperialen Publizisten der islamischen Welt zählte und den Oppenheim bis zu seinem Lebensende als wichtigsten arabischen Freund betrachtete, zu nennen. Sie gehörten in den 1890er Jahren genauso zum Autorenkreis von al-Muayyad, wie bspw. Muhammed Abduh, Rashid Rida, Mustafa Lufti al-Manfaluti, Qasim Amin, die Brüder Sa‘d und Ahamd Fathi Zaghlul, Muhammed Farid oder auch Ahmad Lufti al-Sayyid, mit denen Oppenheim ebenfalls mal mehr mal weniger bekannt war. Al-Muayyad war hierdurch nicht nur ein Sammelbecken und Sprachrohr für politisch großenteils progressive wie gesellschaftskritische Intellektuelle, sondern für Oppenheim der Nukleus seines Beziehungsnetzwerkes und darüber hinaus vor allem ideengeschichtliche Schule und Bindeglied zu einer Ideologie, die sein Denken zunehmend vereinnahmen und zur Schablone geopolitischer Analysen entwickeln sollte: dem Panislamismus.

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Panislamismus Panislamismus oder auch einfach Panislam zählte zu den schillerndsten politischen Begriffen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dabei war von Anfang an umstritten – und ist es in Teilen noch heute -, ob es sich dabei allein um Ausdruck einer gefühlsmäßigen Verbundenheit und zeitgenössischen Rhetorik handelte, oder mehr um ein politisches Konzept bzw. politische Bewegung. Charakteristisch ist dabei allerdings, dass es quasi zwei zeitversetzt sich entwickelnde populäre Vorstellungen gab, die sich um die Jahrhundertwende diametral gegenüber standen und dabei die Dichotomie der imperialen Herrschaftsverhältnisse idealtypisch abbildeten. Im weitesten Sinne bezeichnet Panislam ein politisches Ideengebäude, das sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf das massive Eindringen des europäischen Imperialismus in die islamisch-dominierten Gebiete Asiens und Afrikas entwickelte und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Erneuerung Ausdruck verlieh. Vor allem in Indien und Ägypten waren die intellektuellen Zentren einer wachsenden islamischen Reformbewegung beheimatet, die nicht zuletzt durch die Präsenz der europäische Kolonialmächte und die mit ihnen aus Europa importierten Ideen von Aufklärung, Liberalismus, Nationalismus etc. wichtige Stimuli erhielten. Hierdurch erfuhren tradierte religiös-spirituelle Vorstellungen von Gleichheit und Zusammengehörigkeit der islamischen Glaubensgemeinschaft eine zunehmend realpolitische Auslegung, die sich in dem Bedürfnis nach einer politischen Einheit des Islams und Befreiung von europäischer Fremdherrschaft ausdrückte. Eine einheitliche Vorstellung davon, wie diese „Muslim Unity“ auszusehen hatte, ob es sich dabei um einen allumfassenden islamischen Staat oder eher eine Konföderation oder auch nur ein Bündnis bzw. eine Liga handeln sollte, existierte wiederum nicht. Vielmehr wurde das Streben nach Einheit zum Synonym sowohl einer Kritik an den inneren Zuständen als auch für eine politischkulturelle Ressource, aus der die Kraft für Erneuerung und Selbstbemächtigung im Angesicht der politischen und ökonomischen Abhängigkeit vom sowie der kulturellen Infragestellung durch den europäischen Imperialismus hervorgehen sollte. „Ittihad-i Islam“ oder auch „al-wahda al-islamiyya“ waren die eigentlichen Begriffe für diese Gedankengebäude, die von europäischen Orientreisenden wie Franz von Werner und Arminius Vambery als Äquivalente zu den Pan-Bewegungen in Europa interpretiert wurden. In ihren Schriften führten sie in den 1870er Jahren den Begriff Panislam ein, der für den von ihnen wahrgenommenen politisch-islamischen Einheitsgedanken stand, ohne diesen jedoch inhaltlich näher zu bestimmen. Vor allem nach den Besetzungen von Tunis (1881) und Ägypten (1882) durch Frankreich und England erfuhr der Begriff Panislam in diesen beiden europäischen Ländern eine breite Popularisierung und befeuerte – u. a. durch den Mahdi-Aufstand

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(1881–1899) im Sudan und den Schock über den Tod des britischen Generalgouverneurs Gordon in Khartum (1885) – die Vorstellung von einer mächtigen, militanten, grenzüberschreitenden, islamisch-anti-europäischen bzw. christenfeindlichen Aufstandsbewegung, deren einziges Ziel in der Mobilisierung und Fanatisierung der muslimischen Massen zum „Heiligen Krieg“ gegen den zivilisatorischen Westen läge. Diese Sichtweise war zwar genauso übertrieben wie undifferenziert und zudem mit Herabwürdigung und Diskreditierung verbunden, die allerdings sehr zielbewusst gepflegt wurden. Denn gerade in Frankreich und vor allem England gab es einflussreiche liberale Strömungen in Politik und Gesellschaft, die dem eigenen imperialen Expansionismus kritisch bis ablehnend gegenüber standen. Und da bspw. die englische Besetzung Ägyptens von 1882 als temporär galt und lediglich als notwendige Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung“ vermittelt wurde, diente das regelmäßige Beschwören eines islamischen Fanatismus genauso zur Legitimierung des eigenen Okkupationsregimes, wie die Betonung einer angeblichen ägyptischen Unfähigkeit zur Selbstregierung wie -verwaltung. Dabei konnten dann schon mal die Schlägereien bei einem Fußballspiel in Port Said zu einem politischen Aufstand umgedeutet werden, und das Erscheinen eines panislamischen Flugblattes oder die Verwendung des Begriffes „Dschihad“ durch einen einzelnen Prediger wurde als Vorbote einer nahenden kontinentalen Erhebung des Islams gewertet. Inwieweit sich hierbei noch eine klare Grenze zwischen kalkulierter Instrumentalisierung und autosuggestiver Imagination ziehen lässt, ist rückblickend schwer zu sagen. Welch – aus heutiger Sicht – simplifizierende bis paranoide Ausformungen dies annehmen konnte, verdeutlich beispielhaft der englische Vizekönig von Indien, Robert Bulwer-Lytten, als er 1876 dem britischen Premierminister Disraeli erklärte: “The simple truth is [. . . ], if 30,000 Russians crossed the frontier tomorrow, and attacked us ... we could rely on all our Muhammadans to rally around us and oppose them. But, if three Turks were to land at Bombay, with a message from the Sultan commanding the faithful in India to proclaim a jehad against the British Government, our whole Muhammedan population would, (however reluctant), obey the mandate.”25

Im zeitgenössischen Kontext musste diese Aussage allerdings als geradezu zwingend logisch empfunden werden. Denn vor allem England hatte nach dem Indischen Aufstand von 1857 in guten Beziehungen zum Sultan-Kalifat in Konstantinopel ein wichtiges Instrument zur Befriedung seiner muslimischen Bevölkerung wie Bestandsicherung der Kronkolonie zu erkennen geglaubt und damit durchaus dazu beigetragen, einem eher ideellen Titel zu einer politisch relevanten Machtressource informeller Art zu verhelfen. Dieser dem Kalifat nun zugeschriebene politische Einfluss, sowie die in der politischen Praxis vermittelte Anerkennung desselben, war dabei selbstredend 25

Lytton an Beaconsfield 18.9.1876, zit. n.: Azmi Özcan, Pan-Islamism. Indian Muslims, the Ottomans and Britain (1877–1924). Leiden u. a. 1997, S. 90.

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in beide Richtung zu interpretieren: denn sollte das Sultan-Kalifat die theoretische Macht besitzen, die 60–80 Mio. Muslime Indiens in loyale Untertanen des Britischen Empires zu verwandeln, so musste es zwangsläufig auch in der Lage sein, diese aufhetzen zu können; wofür es allem Anschein nach nur drei Türken mit einem Schriftstück bedurfte. Dies wusste keiner besser, als Sultan Abdulhamid II. selbst, der sich während seiner Regentschaft, insbesondere nach der Niederlage im russischtürkischen Krieg von 1877–78, verstärkt um die Verbreitung des Kalifatsgedankens als wesentliche Säule panislamischer Denkgebäude bemühte und damit Aufbau und Inbesitznahme eines innen- wie außenpolitischen Instrumentariums bezweckte. Die Selbstinszenierung als spirituelles Oberhaupt und Verteidiger der islamischen Welt bot ihm die Möglichkeit, gegen separatistische Strömungen islamischer Bevölkerungskreise im Osmanischen Reich ideologisch anzukämpfen. Gleichzeitig war der Betonung einer politischen Führerschaft über alle Muslime der Welt auch die Drohung der Insurrektion wie das Menetekel des „Heiligen Krieges“ immanent, die darauf abzielten, politische Rücksichtnahme von Seiten derjenigen Imperialmächte zu generieren, die über große muslimische Bevölkerungsgruppen ihren Kolonie verfügten: „Solange die Einheit des Islam bestehen bleibt, wären England, Frankreich, Russland und Holland in meiner Hand. Denn ein Wort des Kalifs reicht, damit der Djihad in den unter ihrer Abhängigkeit stehenden islamischen Ländern ausbricht [. . . ].“26

So sehr Abdulhamid II. öffentlich zu einer Überhöhung seines Einflusses und der Macht des Dschihads neigte, so sehr soll er privat eingestanden haben, keine wirkliche Macht zu besitzen, um sich gegen den Westen zu Wehr zu setzen. Denn nur der Begriff und die damit verbundenen Vorstellungen, nicht der Dschihad selbst, besaß politische Kraft und machten ihn zu einem kalkulierten Instrumentarium im Kontext der Konflikte mit den europäischen Imperialmächten. In dem politischen Spiel mit der Angst seiner internationalen Widersacher, besser gesagt, der Ausbeutung derselben, war Abdulhamid II. genauso erfolgreich wie in der Verbreitung des Kalifatsgedankens. Denn je weiter das imperiale Ausgreifen der Europäer fortschritt, desto konkreter wurde auf muslimischer Seite im Allgemeinen wie auch bei panislamischen Agitatoren und Vordenkern im Besonderen der politisch-religiöse Einheitsgedanke als islamische Solidar- und Verteidigungsgemeinschaft verstanden, die in dem Zusammengehen aller Muslime unter Führung des Kalifen die einzige Möglichkeit erblickte, sich wirksam gegen den westlichen Expansionismus zu Wehr zu setzen. Der innergesellschaftliche Reformgedanke des Panislam trat hierbei dann insofern zurück, als dass die Befreiung von imperialer 26

Sultan Abdülhamid, Siyasi Hatıralarım. 5. Aufl., Istanbul 1987, S. 178f, zit. n.: Necmettin Alkan, Die deutsche Weltpolitik und die Konkurrenz der Mächte um das osmanischen Erbe. Die deutsch-osmanischen Beziehungen in der deutschen Presse 1890–1909. Freiburg 2003, S. 218.

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Fremdherrschaft als Vorbedingung für alle Erneuerungsbestrebungen angesehen wurde. Besonders deutlich wurde dies bei dem neben Abdulhamid II. vielleicht einflussreichsten Panislamisten seiner Zeit, dem politischen Philosoph und Agitator Djemal-ed-Din al-Afghani (1838–1897). Ursprünglich eher ein Vertreter der Erneuerungsbewegung, der sich um eine Reformierung des Islam als gesellschaftspolitische Kraft für den Weg der Modernisierung und des Fortschritts bemühte, die sich gegen alle autoritären wie korrupten islamische Herrschaftseliten richtete, radikalisierten al-Afghani die konkreten Erfahrungen zwischen 1871 und 1879 mit dem Vordringen des europäischen Imperialismus im ruinösen Ägypten der Ära Ismael Paschas zunehmend und ließen ihn spätestens nach der Okkupation Ägyptens 1882 zu einem Theoretiker und Verkünder eines panislamistischen Widerstandes anti-britischer Fasson werden, der nicht frei von Opportunismus blieb. Denn obwohl alAfghani bspw. das Regime Abdulhamids II. durchaus kritisch sah, waren seine praktischen Bemühungen nun davon geprägt, „den Blick aller Muslime auf das osmanische Reich zu lenken“27 , weil es trotz seiner schwachen Stellung im Konzert der Großmächte, immer noch den weitaus stärksten islamischen Staat repräsentierte und eben mit dem Kalifat eine Art transnationalen politischen Bezugspunkt für Einheit und Führung besaß. Darüber hinaus sah er in der politischen Überwindung theologischer Differenzen im Islam, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten, eine wesentliche Bedingung, um die islamische Welt in einen gemeinsamen Widerstand gegen den westlichen Imperialismus führen zu können. Die geopolitische Quintessenz seines Panislamismus, die er Abdulhamid II. 1892 in einem von den Briten abgefangenen Brief mitteilte, lautete dabei wie folgt: „Wenn wir es schaffen, uns mit den Afghanen zu vereinen, und noch dazu Persien beitreten würde, wird es für uns einfach sein, den Einfluss des Kalifats unter den Muslimen in Indien zu vergrößern und dann wird England vor uns kriechen und Ägypten verlassen müssen.“28

Genau wie Abdulhamid II. erkannte auch al-Afghani im Dschihad vor allem einen Mobilisierungs-Topos propagandistischer Art, der die faktische politische Machtlosigkeit durch Fokussierung der europäischen Ängste ein Stück weit kaschieren konnte und die Befreiung von Fremdherrschaft als eine unbestimmte, aber erreichbare Zukunftsvision zu stilisieren half. Von daher bedeutete politisch-praktische Arbeit auch nicht, den Aufbau von irgendwelchen Untergrund- oder Widerstandsorganisation zu betreiben, sondern in erster Linie den Panislamismus, also vor allem den Einheits- und Kalifatsgedanken, mit Hilfe der Presse zu verbreiten. 27

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Hani Srour, Die Staats- und Gesellschaftstheorie bei Sayyid am¯aladd¯ın „Al Afgh¯ani“ als Beitrag zur Reform der islamischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Freiburg 1977, S. 180. Die französische Übersetzung des Briefes ist abgedruckt und kommentiert in Jacob M Landau, Middle Eastern Themes. Papers in History and Politics. London 1973, S. 1–6; sowie ders.: The Politics of Pan-Islam. Ideology and Organization. Oxford 1990, S. 326f.

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Die Zeitschrift al-Urwat al-Wuthaqa, die al-Afghani zusammen mit seinem Schüler und späteren Großmufti von Ägypten, Muhammed Abduh, 1884 im Pariser Exil publizierte, gilt als eines seiner wichtigsten schriftlichen Zeugnisse sowie eine Art Gründungsdokument des Panislamismus überhaupt, die immer wieder in Neuauflagen nachgedruckt wurde. Gleichzeitig hatte al-Afghani gerade in Ägypten nach 1879 eine Schülerschaft hinterlassen, die in den 1890er Jahre zur einflussreichen akademischen und politisch aktiven Elite des Landes zählte und in vielerlei Hinsicht identisch mit der Autorenschaft von al-Muayyad war. Und auch die jüngere Generation, die al-Afghani in Ägypten nicht mehr persönlich kennengelernt hatten, machte sich nicht nur seine panislamische Vorstellungen zu eigen, sondern auch den Appell ihres Spiritus rector, sich für die Befreiung von imperialer Fremdherrschaft vor allem der Medien als Instrument zu bedienen, so dass gerade Yusufs al-Muayyad, aber auch die von Kamil ab 1900 herausgegebene Zeitung al-Liwa so etwas wie die inoffiziellen Nachfolgeorgane von al-Urwat al-Wuthaqa wurden. Deren „Nationalismus“ stand daher auch nie im Widerspruch zur Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich, sondern wies mehrere politisch-ideologische Loyalitätsbezüge auf, die die von der Urabi-Bewegung übernommene Parole „Ägypten den Ägyptern“ mit dem Einheits- und Kalifatsgedanken des Panislamismus zu verbinden suchte. Ein genuin ägyptischer Nationalismus, der mit den panislamischen Denkgebäuden unvereinbar gewesen wäre, oder aber auch ein politisch wirklich relevanter Pan-Arabismus existierte in dieser Zeit (noch) nicht. Diese beiden populären Vorstellungen zum Panislamismus, d. h. seine ideologische Entwicklung selbst wie auch die auf ihn verweisende europäische pejorative Imagination desselben, verstärkten sich um die Jahrhundertwende mit jedem Konflikt, der die islamische Welt betraf. Besonders deutlich wurde dies während des griechisch-türkischen Krieges von 1897, als eine bis dahin nie gekannte Welle der Solidarität mit dem Osmanischen Reich vor allem in Indien und Ägypten einsetzte und der erste Sieg eines Osmanischen Heeres über eine europäische Armee nach über 150 Jahren als Ausdruck einer Wiederbelebung und des politischen Erwachens der gesamten islamischen Welt gefeiert wurde. Oder auch während des Krisenjahres 1906, als Algeciras-Konferenz, Akaba-Konflikt und der so genannte Denschawei-Zwischenfall in den französischen und englischen Medien zu einer Fülle von teilweise hysterisch anmutenden Artikel über den angeblichen islamischen Fanatismus sowie drohende Aufstandsbewegungen führten. Letztere zeichneten sich zudem erstmals dadurch aus, dass sehr offensiv die Verbindung von panislamischer Bedrohung mit deutscher Gefahr gesucht wurde. Die Selbstinszenierung des Kaisers auf seiner Orientreise 1898 als Freund der islamischen Welt, in Kombination mit den erwarteten Erfolgen wie politischen Auswirkungen des Bagdadbahn-Projektes auf Basis der guten deutsch-türkischen Beziehungen, hatten hierzu die Grundlagen gelegt. Nach dem Abschluss der Entente Cordiale (1904) sowie der Ersten Marokko-Krise (1905) und der sich damit immer

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deutlicher abzeichnenden Konfliktstellung zwischen dem Deutschen Reich und den Ententemächten erweiterte sich deren Bedrohungswahrnehmung im Orient nachhaltig um den deutschen Faktor. Ein Aufhetzen der Muslime gegen die Kolonialmächte durch Einflussnahme Kaiser Wilhelms II. bei seinem Freund Abdulhamid II. in Konstantinopel wurde nun genauso gefürchtet wie beschworen. Auch wenn diesem Szenario bis 1914 keine praktische Entsprechung auf außenpolitischer Ebene zugrunde lag, erfuhr seitdem auch in Deutschland die Vorstellung von einer kriegsrelevanten Allianz zwischen dem Deutschen Reich und der islamischen Welt eine wachsende Popularisierung, etwa durch die fiktionalen Schriften „1906 – Der Zusammenbruch der alten Welt“ (1907) oder „Deutschland und der nächste Krieg“ (1912)“. Die tatsächliche Gefahr allerdings, die von Deutschland in dieser Zeit nicht nur theoretisch ausgehen konnte, sondern bereits ausgegangen war, ist weniger in der Eventualität einer Unterstützung von Aufständen zu suchen, als vielmehr in dem Umstand, dass einer der mächtigsten Staaten der damaligen Welt, dessen Absage an politische Interessen im Orient schon damals als traditionell galt, in der Person ihres Kaisers dem Wunsch der islamischen Welt nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung seine moralische Anerkennung und Unterstützung ausgedrückt und damit den europäischen Imperialismus in dieser Region offen infrage gestellt hatte. Für die Legitimierung, Sicherung und Aufrechterhaltung dieser Herrschaftsverhältnisse waren u. a. zwei Aspekte zentral: zum einen die Proklamierung einer zivilisatorischen Überlegenheit, die der unterworfenen Bevölkerung die Gleichwertigkeit versagte und zum anderen das Bild von einer unbesiegbaren Militärmacht, die jeden Gedanken an einen Befreiungskrieg oder Aufstand als chancenlos erscheinen lassen sollte. Mit der Freundschaftserklärung des Deutschen Reiches stand nun beides auf dem Prüfstand. Einer realpolitischen Logik nach musste Deutschland also ein Interesse an Aufständen haben, was sich ja auch schon 1896 in der berühmten „Krüger-Depesche“ angedeutet hatte. Dabei wurden allerdings in London und Paris die Konsequenzen aus der deutschen Haltung deutlich stringenter und kohärenter zu Ende gedacht, als in Berlin selbst. Mehr als eine moralisch sicherlich anerkennenswerte, mit Blick auf die Beziehungen zu den in der Region engagierten Großmächten allerdings politisch gefährliche wie unbedachte Geste war es nicht. Deutschland verfügte weder über die Mittel noch den unbedingten Willen, den Unabhängigkeitswünschen der islamischen Völker Nachdruck zu verleihen oder sie in einem Aufstand nachhaltig zu unterstützen. Für die daran anschließenden Perzeptionen von Bedrohung auf der einen Seite, wie Attraktivität auf der anderen Seite, spielte dies jedoch keine Rolle mehr.

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Oppenheims Anti-Imperialismus von oben Von einem außergewöhnlichen Stellenwert, den die islamische Welt für das Deutsche Reich einnehmen konnte, war Oppenheim allerdings schon länger überzeugt. Gerade die von ihm in Kairo erlebte Solidarität mit dem SultanKalifen und osmanischen Truppen im griechisch-türkischen Krieg von 1897 hatte seine Aufgeschlossenheit für den Panislamismus seines ägyptischen soziokulturellen Umfeldes nachhaltig gefördert. Dessen Kerngedanken, also praktische Solidarität, politisches Einheitsstreben, Anerkennung des SultanKalifen als höchste Autorität und nicht zuletzt den unumstößlichen Wunsch nach Selbstbestimmung und Befreiung von europäisch-imperialer Herrschaft, adaptierte er zunehmend und machte sie zu verallgemeinerbaren Axiomen seines Orientbildes. Kaum einer – sei es Historiker oder Zeitgenosse – hat dies treffender erfasst und ausgedrückt, als Oppenheims erster Chef am Generalkonsulat, langjähriger Freund und diplomatisches Vorbild, Paul Graf von Wolff-Metternich, als er 1900, bei aller Wertschätzung für Oppenheim, durchaus kritisch anmerkte, dass dieser „mitunter geneigt ist, zu sehr in den Ideen der Eingebornen aufzugehen.“29 Und diese zielten in letzter Konsequenz auf eine allgemeine Dekolonisierung, die Oppenheim – zumindest für die islamische Welt – als äußerst wünschenswert erachtete. Oppenheim übernahm aber nicht nur ihre Denkgebäude und sympathisierte mit ihren politischen Zielen, sondern machte diese auch zur Grundlage seiner Vorstellungen von politischen wie ökonomischen Aufgaben und Möglichkeiten, die dieser Raum für Deutschland bereit hielt und damit wiederum nicht nur über das panislamische Paradigma hinauswies, sondern es auch im Sinne (s)eines nationalen deutschen Interesses subjektivierte. Lange bevor Publizisten wie Paul Rohrbach, Ernst Jäckh oder auch Friedrich Naumann mit seinen Mitteleuropa-Vorstellungen die orientpolitischen Diskurse der Vor- und Kriegszeit in Deutschland dominierten, hatte Oppenheim den Orient zu einem Zukunftsraum konstruiert, der für alle zeitgenössischen politischen wie ökonomischen Herausforderungen des Deutschen Reiches Antworten und Optionen bereitzuhalten schien: als Ressourcenraum, Absatzmarkt, Investitionsfeld und militärischer Verbündeter. Oppenheims Überlegungen beruhten dabei auf der Neuordnung der orientalischen Machtverhältnisse, die die Befreiung vom europäischen Imperialismus und Aufbau von „Self-Government“ genauso einschloss, wie es der deutschen Außenpolitik jede Form von Kolonialismus untersagte. Dann, so war Oppenheim überzeugt, würden große Teile der islamischen Welt eine symbiotische, für beide Seiten gewinnbringende, partnerschaftliche Beziehung mit dem Deutschen Reich eingehen.

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Zit. n. Teichmann, Grenzgänger, S. 36f.

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Was sich bis hierhin – und vor allem durch seine Interessenallianz mit den politischen Zielen des Panislamismus – durchaus als anti- oder nicht-imperialistisch lesen lässt, ist allerdings nicht davor gefeit, sich möglicherweise auch in das Gegenteil verkehren zu können. Denn „Self-Government“ bedeutet bei Oppenheim nicht zwingend Selbstbestimmung im Sinne einer Entscheidungsfreiheit, die im Zweifel auch den politischen Widerspruch zu deutschen Interessen mitdenkt, geschweige denn aushalten und akzeptieren würde. Die Eventualität einer energischen Ablehnung oder Opposition zum deutschen Engagement in der Region kam bei Oppenheim schlichtweg nicht vor. Vor dem Hintergrund der faktischen Kluft zwischen idealisierter Zukunftsprojektion und politischer Realität mag dies vielleicht auch zu weit weg, zu hypothetisch gewesen sein. Außerdem gab es kaum Anreize, um in eine solche Richtung zu denken. Denn gerade sein soziokulturelles Umfeld in Ägypten hatte die Selbstinszenierung des Kaisers als Freund und Beschützer der islamischen Welt durchaus als politisch-praktischen Auftrag (miss)verstanden und ein größeres deutsches Engagement und Unterstützung für ihre Anliegen geradezu gewünscht wie erwartet. Diese deutsch-freundliche Haltung spiegelte sich auch beim Bagdadbahn-Projekt wider, das, so sehr es in der historiographischen Rückschau als ein imperiales Infrastrukturprojekt angesehen wird, in der zeitgenössischen Wahrnehmung panislamischer Akteure in erster Linie als ein – neben der Hedjaz-Bahn – zentrales Projekt der strategischen Herrschaftssicherung des Kalifats verstanden und begrüßt wurde. Dennoch zeigt sich hier, dass Oppenheim in letzter Konsequenz kein politischer Analytiker war, der sich eine gewisse Form der Unabhängigkeit bewahrte, die Fähigkeit zur Abstraktion besaß und auf einer Meta-Ebene über die politischen Verhältnisse und Entwicklungen nachdachte, sondern „nur“ ein Rezipient und Transmitter der vorhandenen politischen Diskurse und ideologischen Vorstellungen, die er in zunehmendem Maße mit wirtschaftspolitischen Möglichkeiten für Deutschland in Verbindung zu bringen suchte. Seine letztlich sehr eindimensionale Vorstellung einer zukünftigen symbiotischen Partnerschaft wurde dabei vor allem von der von ihm erlebten Andersartigkeit des deutschen Ansehens in der islamischen Welt getragen, die die Negation politischer Interessen bei gleichzeitigem Präferieren guter wirtschaftlicher Beziehungen im Zusammenspiel mit den realen imperialen Herrschaftsverhältnissen zur Quelle eines äußerst positiv besetzten Prestiges machten. Dass sich dieses Prestige nicht unwesentlich über die imperiale Präsenz der anderen europäischen Großmächte bei gleichzeitiger – relativ gesehen – politischer Abwesenheit des Deutschen Reiches bestimmte, und die Umkehrung dieser Verhältnisse auch zu einer Umkehrung des Ansehens führen könnte, bedachte Oppenheim nicht. Erst mit der tatsächlichen Anwesenheit einer großen Zahl deutscher Soldaten, politischer Agenten und der wachsenden Abhängigkeit von sowie Einflussnahme durch Deutschland im Weltkrieg sollte sich auch für Oppenheim zeigen, dass seine kohärente Orientvorstellung weniger Substanz besaß, als er es vielleicht erwartet hatte, und dass einem politischen

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Engagement in der Region, das nicht nur beraten sollte, sondern zwangsläufig auch handeln und Einfluss nehmen wollte, sehr schnell – vor allem in Erinnerung der Erfahrungen mit englischer und französischer Politik – von einem wachsenden Misstrauen begleitet wurde, das dem Ideal einer symbiotischen Beziehungsstruktur zu widersprechen begann. Letzten Endes bleibt dies aber insofern spekulativ, als die gemeinsame Niederlage im Weltkrieg die deutsche Orientpolitik davor schützte, von einer anti-imperialen Politik in eine – zumindest theoretisch mögliche – imperiale umzuschlagen. Zudem ist für die Zeit bis 1914, die Ausbildung seiner Zukunftsprojektion und nicht zuletzt die Revolutionsstrategie selbst, ein anderer Faktor viel entscheidender. So wie Oppenheims Netzwerk hauptsächlich aus einer politischen und intellektuellen Führungsschicht bestand, durch die er induktiv zu verallgemeinerbaren Ansichten über die islamische Welt an sich gelangte, basieren letztlich alle seine Überlegungen auf Vorstellungen von der „leichte[n| Lenkbarkeit und de[m] patriarchalische[n] Sinn der orientalischen Bevölkerung, die willig thut, was Höherstehende ihr raten oder auftragen“.30 Sowohl seine wirtschaftspolitischen Überlegungen als auch die Revolutionierungsstrategie waren daher vor allem eines, nämlich ein Eliten-Projekt, das von oben nach unten wirkte und über Autorität, Führung und Lenkung nicht nur implementiert werden sollte, sondern auf dem gleichen Weg auch ihren Erfolg zu garantieren schien. Eine Neuordnung der politischen Verhältnisse im Orient, die über Beendigung von europäischer Fremdherrschaft hinaus ging und auf Reformen im Sinne freiheitlich-demokratischer Grundwerte oder Ähnliches zielte, schwebte Oppenheim nicht vor. Eine wie auch immer geartete Mündigkeit abseits der ihm vertrauten Eliten spielte für ihn genauso wenig eine Rolle, wie es das für diese Eliten selbst tat. Dabei unterschätzte er, dass der Panislamismus zwar über eine Meinungsführerschaft in der politisch aktiven und gebildete Klasse verfügte, in Ermangelung politischer Organisationen und Institutionen jedoch nicht über eine politisch aktive Massenbasis. Dass ein kontinentalübergreifendes islamisches Solidaritätsempfinden existierte, hatte Oppenheim in seiner Zeit im Orient durchweg erfahren. Er musste allerdings auch zur Kenntnis nehmen, dass die Bevölkerung trotz aller Kritik und Ablehnung der britischen Besatzungsherrschaft keinen eigenständigen isolierten Aufstand wagen würde. Dies hatte sich während des Burenkrieges (1898–1902), der Englands Prestige als Weltmacht nicht nur beschädigte, sondern die Briten auch militärisch in Südafrika band, wie auch während des Akaba-Konfliktes (1906) gezeigt. So sehr Oppenheim daher an die Autorität des Sultan-Kalifats und Einfluss der politischen Eliten glaubte, so sehr bezweifelte er, dass ein Aufstand der islamischen Welt gegen ihre Besatzer jederzeit und völlig voraussetzungslos, geschweige denn allein durch die Proklamation eines Dschihad, umgesetzt werden könnte. Spätestens nach

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PAAA, R13476, Politischer Bericht Nr. 170, S. 16.

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dem Akaba-Konflikt war er daher davon überzeugt, dass vor allem ein europäischer Krieg, der einen Großteil der englischen Kräfte binden würde, die Chance für einen solchen Aufstand ermöglichen würde. Und auch dann wäre es unabdingbar, dass das osmanischen Heer in den Sinai einmarschierte, bevor die ägyptische Bevölkerung sich zu einem solchen Schritt durchringen könnte, d. h. die einheimischen Eliten den Mut aufbringen würden, die Bevölkerung aufzurufen und anzuführen. Gerade sein politisches Umfeld hatte eine englische Evakuierung lange Zeit nicht ohne die Kooperation mit und Unterstützung durch eine auswärtige, im Idealfall europäische Großmacht für möglich gehalten, so dass sie ihre Hoffnungen, nachdem vor allem Frankreich als anti-britischer Unterstützer – de facto seit Faschoda 1898, de jure seit dem Abkommen von 1904 – ausgeschieden war, logischerweise auch auf Deutschland projizierten, das sich ja nicht nur im selben Jahr (1898) öffentlichkeitswirksam als Freund der islamischen Welt ausgegeben hatte, sondern vor allem immer stärker in die Rolle des zentralen globalen Gegenspielers des Britischen Empires hineinwuchs. Und dies obwohl gerade Ägypten von dieser Gegnerschaft weitestgehend ausgespart war, da Berlin die sogenannte „Ägyptische Frage“ von jeher mehr als ein Kompensationsmittel kooperativer Beziehungen mit England ansah als ein Feld anti-britischer Tätigkeit. Auch wenn man auf deutscher Seite den politischen Wert der islamischen Gegnerschaft zum Britischen Empire im Falle eines europäischen Krieges nicht völlig negieren wollte, kann bis 1914 von einer wie auch immer gearteten deutsche Insurrektionspolitik „nicht die Rede sein“31 . Dies galt genauso für Oppenheim, dem es in seinen orientpolitisch relevanten Berichten nur darum ging, neben Hinweisen zur Bedeutung des deutschen Ansehens als Basis aller Zukunftsoptionen, eine Mehrung des englischen Einflusses im Orient nach Möglichkeit dort zu verhindern – also davor zu warnen -, wo dies entweder die Herrschaft des Sultan-Kalifats oder aber die freie Meinungsäußerung der ägyptischen Presse und damit das Entfaltungspotenzial der panislamischen Opposition gefährdet hätte. Konkret hieß dies: keine deutsch-englische Kooperation bei der Fertigstellung der Bagdadbahn, die ein Abtreten des südlichen Abschnittes an London vorgesehen hätte und keine Aufgabe der europäischen Sonderrechte – also der Kapitulationen – in Ägypten, die den Fortbestand der einheimischen Zeitungen auch dann noch sicher stellten, als sich der Britische Generalgouverneur und Cromer-Nachfolger Sir Edward Grey mit der Reaktivierung des alten Pressegesetzes von 1881 um Unterdrückung und Zerschlagung derselben bemühte. Sonderlich exklusiv war diese Position aber nicht, sie bildete vielmehr den Mainstream orientpolitischer Positionen von Generalkonsulat und Auswärtigem Amt ab. Alle Überlegungen zu einem anti-imperialen islamischen Aufstand waren am Ende an die Eventualität eines deutsch-englischen Krieges geknüpft und

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Oberhaus, Zum wilden Aufstande, S. 86.

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verbanden damit in idealtypischer Weise das Schicksal der islamischen Welt mit der immer unausweichlicher erscheinenden Konfrontation zwischen dem Deutschen Reich und dem Britischen Empire. Das half gleichzeitig zu kaschieren, dass zum einen die machtpolitische Stellung Deutschlands in der islamischen Welt trotz Bagdadbahn, den guten Beziehungen zur Türkei und ihres allgemein sehr positiven Ansehens nicht mit der Englands zu vergleichen war. Zum anderen wurde auch überdeckt, dass Deutschland keine Politik praktizierte, die die Unabhängigkeitsbestrebungen um ihrer selbst willen unterstützt hätte. Gerade hierin wiederum ist eine Parallelität zur ideologischen Entwicklung des Panislamismus zu erkennen, die auf das verweisen soll, was eingangs mit der Formulierung „sehr viel englischer“ konstatiert wurde: Denn genauso, wie der Panislamismus sich in Ermangelung realer politischer Macht bemühte, die wahrnehmbare englische Angst, die sich vor allem in den Vorstellungen von einem islamischen Fanatismus und Dschihad konzentrierte, zu einem Einflussfaktor zu instrumentalisieren, dem die politische Anerkennung durch England bereits vorausgegangen war, so basierte letzten Endes auch Oppenheims Überzeugung von der Möglichkeit eines islamischen Befreiungskampfes im Verbund mit dem Deutschen Reich viel mehr auf der Perzeption dieser englischen Furcht als auf der Begegnung mit einer organisierten Befreiungsbewegung. Diese gab es nicht, ebenso wenig Aufstände, Attentate oder Untergrundgruppen, die an Vorbereitungen gearbeitet und vielleicht Waffen und Sprengstoff einlagerten hätten. Was es in Oppenheims Kairoer Jahren gab, war ein medial umkämpftes Feld politischer Diskurse, in denen der Wunsch nach Selbstbestimmung und Ende der europäischen Fremdherrschaft genauso zum Ausdruck kamen, wie immer wieder von Seiten der Kolonial- und Imperialmächte in pejorativer Weise die panislamische Gefahr beschworen wurde. Je stärker dabei dann auch noch von einer deutschen Gefahr für den Einfluss von Engländern und Franzosen, nicht zuletzt durch eine grenzüberschreitende Allianz mit dem Panislamismus, gesprochen wurde, desto mehr verfestigte sich auch bei Oppenheim die Vorstellung von einer realpolitischen Option. So sind es diese Diskurse, die die primäre Quelle seiner Beobachtungen darstellten und auf denen letztlich alle Überlegungen zu den politischen Entwicklungen in der islamischen Welt aufbauten. Wie sehr Oppenheim dabei nicht nur der islamischen Presse, sondern auch der englischen Rechnung trug, zeigt sich in zahlreichen Berichten, in denen er bemüht ist, gegen das „Märchen vom islamischen Fanatismus“ und die Meldungen über Unruhen anzuschreiben, die in Europa u. a. durch Reuters, Times und die Jahresberichte der British Residency Verbreitung fanden und für die es in Ägypten keine Entsprechung gab. Und genau da liegt einer der vielleicht wichtigsten von nicht wenigen Widersprüchen, die Oppenheims Berichte und Vorstellungen begleiteten, und der einen politischen Opportunismus offenbart, dessen Grundlage letztlich die Diskrepanz zwischen machtvollen Zukunftsprojektionen und der realen

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politischen Schwäche bildete. Einen Opportunismus, den er mit vielen Panislamisten teilte. Denn am Ende akzeptierten beide – zumindest in Teilen – ein eigentlich von ihnen kritisiertes und abgelehntes Zerrbild und Stereotyp, wenn dieses sich als ein politisches Machtmittel informeller Art interpretieren ließ und dann in dem, dem Islam im Allgemeinen zugeschriebenen, Fanatismus das letzte Mittel für eine Befreiung von Fremdherrschaft erkennen wollte. Ein islamischer Religionskrieg gegen Andersgläubige an sich stand hierbei nicht im Vordergrund. Aber der Glaube an die Mobilisierung und Vereinigung von ca. 200 Millionen Muslime, allein durch das verbindende Element der Religion und getragen von einem unbestimmten Fanatismus, gegen tausende von ausländische Imperialtruppen. Die Kraft, die in dieser Imagination lag, wurde zu einer politischen Vision, die sich jedoch als Chimäre in dem Moment entpuppte, als sie zur Wirklichkeit gebracht werden sollte: im Weltkrieg. Bis dahin allerdings war diese Vorstellung eine äußerst wirkungsmächtige geopolitische Imagination, die in Europa wie in der islamischen Welt ihre diskursive Entsprechung fand und sich nur dadurch unterschied, dass die eine Seite ausnutzen wollte, was die andere Seite fürchtete. Letztlich hatten dabei beide in ihrer jeweiligen Referenzierung – bewusst oder unbewusst – den Bezug zur Wirklichkeit mehr und mehr aufgegeben. Wenn man so will, war der Dschihad von 1914 eine Art Self-Fulfilling Prophecy, die seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil der „orientalischen Frage“ und ihrer Denkgebäude gehörte und der geradezu zwangsläufig – weil allseits erwartet – proklamiert werden musste. „Made in Germany“,32 wie sich der langjährige niederländische Kolonialbeamte in Indonesien und Orientalist, Snouck Hurgronje, 1915 anklagend – und nicht zuletzt in Sorge um den eigenen Überseebestand seines Heimatlandes – an seine deutschen Fachkollegen wandte, war er nicht, sondern das Kind imperialer Herrschaftskonflikte, kultureller Demütigung und dem Wunsch nach Überwindung von beidem. Und darüber hinaus auch insofern trivial, als die Kriegsführung im Orient ganz allgemein über Fatwas erfolgte, die bestimmten wer Freund und Feind war, und daher ebenso auch von Seiten der Entente-Mächte genutzt wurden. Ganz abgesehen davon, dass die Sakralisierung des Krieges in dieser Zeit geradezu inflationäre Ausmaße angenommen hatte und letztlich alle europäischen Staaten ihren jeweiligen „Heiligen Krieg“ oder wahlweise – wie England im Orient – auch „Crusade“ führten bzw. propagandistisch idealisierten. Dass der panislamische Befreiungsaufstand eine Vision war, die in der Realität scheiterte, hat so zahlreiche wie unterschiedliche Gründe. Das Fehlen zentraler, authentischer Repräsentanten, wie beispielsweise Mustafa Kamil oder al-Afghani, die schon länger verstorben waren, vor allem aber Sultan Ab32

Hurgronje C. Snouck, Heilige Oorlog made in Germany, in: De Gids 79, Nr. 1, Amsterdam 1915, S. 1–33; die englische Übersetzung „Holy War made in Germany“, erschien in New York 1915, nachgedruckt in: Verspreide Geschriften. Bd. 3, Leipzig, Bonn 1923, S. 259– 297

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dulhamids II., den die Jungtürkische Revolution 1909 abgesetzt und ins Exil geschickt hatte, zählte sicherlich dazu. Zwar hatten auch die Jungtürken noch an der Institution des Sultan-Kalifats festgehalten, doch propagierte das Komitee für Einheit und Fortschritt, unter Enver Pascha, Djemal Pascha und Talat Bey, seit ihrer Machtübernahme, und in bewusster Abgrenzung zu Abdulhamid II., deutlich stärker einen türkischen Nationalismus und panturanischen Expansionismus. Hierdurch nahm der Gegensatz zu den arabischen Bevölkerungsteilen genauso schnell wieder zu, wie dies auf Seiten der östlichen Nachbarn – also vor allem Persiens – mit wachsendem Misstrauen beobachtet wurde. Die schnelle Abfolge der Niederlagen im Tripoliskrieg und in den Balkankriegen minderten zudem das Prestige und den Glauben an die Stärke des Osmanischen Reiches in der islamischen Welt. Der Einfluss des Panislamismus hatte daher 1914 seinen Höhepunkt schon längst überschritten. Vor allem aber zeigte sich nun, dass das Streben nach Unabhängigkeit mit deutlich mehr Partikularinteressen verbunden war, als der Wunsch nach Beendigung der europäischen Fremdherrschaft zu vereinen und zu überdecken vermochte. Ob sich an Oppenheims Überzeugung von der Wirkungsmächtigkeit des Panislamismus sowie der Möglichkeit einer kriegsentscheidenden Allianz mit der islamischen Welt, bei einer Weiterbeschäftigung zwischen 1909 und 1914, noch etwas verändert hätte, bleibt spekulativ, ist aber mit Blick auf die Person nicht sehr wahrscheinlich. Der Orient war bei Oppenheim am Ende viel mehr ein festes ideologisches Konstrukt als ein flexibler Reflexions- und Beobachtungsgegenstand. In der Extremsituation des aufkommenden Weltkrieges, der von Anfang an als ein existenzielles Ringen um Sein oder Nicht-Sein verstanden wurde und dadurch jedes Mittel zu legitimieren schien, erinnerte man sich, nicht nur auf deutscher sondern vor allem auch auf türkischer Seite – hier insbesondere in der Person Enver Paschas –, sehr schnell wieder an die Vision von einem panislamischen Befreiungsaufstand. Dass Generalstabschef Moltke oder auch Botschafter Wangenheim noch im März bzw. Juli 1914 den Wert einer militärischen Allianz mit der Türkei als völlig nutzlos erachtet hatten, spielte mit dem zu erwartenden Kriegseintritt Englands gegen Deutschland keine Rolle mehr. Eine Art „Schlieffen-Plan“ zur Umsetzung einer Revolutionierungsstrategie existierte dabei weder in Deutschland noch in der Türkei. Dafür aber quasi genau jene Vorstellung, die schon knapp 40 Jahren zuvor der englische Vizekönig geäußert hatte und in unterschiedlichster Art und Weise in den orientpolitischen Diskursen der Vorkriegszeit immer wieder ihre Entsprechung fand: nämlich, dass ein paar Emissäre mit offiziellen Schriftstücken ganze Völkerschaften der islamischen Welt zum Aufstand motivieren könnten. Und so begann ab August 1914 die – in Relation zu den Dimensionen ihres Vorhabens – letztlich mit äußerst geringen Mitteln wie auch mit nur wenigen Agenten und Militärs ausgestattete Revolutionierung der islamischen Welt gegen die europäischen Imperialmächte, deren Abläufe, Erfolge und Misserfolge sich in Porträts einiger zentraler Protagonisten wieder spiegeln lassen.

Bernd Lemke

Globaler Krieg: Die Aufstands- und Eroberungspläne des Colmar von der Goltz für den Mittleren Osten und Indien Einleitung Deutsche Militärgeschichte spielte sich in erster Linie in Europa ab. Andere Schauplätze genossen eher peripheren Status, so gerade auch der Orient, wo der deutsche Arm selbst im Zeitalter der Weltkriege eher kurz blieb. Ein wirkmächtiges Ausgreifen etwa mit substanziellen Großverbänden fand nicht statt. Dennoch gibt es eine Tradition deutschen militärischen Engagements im Nahen und Mittleren Osten. Schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden von Seiten des Deutschen Reiches etliche Versuche unternommen, um zwischen Mittelmeerküste und Hindukusch Fuß zu fassen und insbesondere dem britischen Empire Konkurrenz zu machen bzw. Letzteres zu verdrängen. Auf die Aktionen während des „Großen Krieges“, die in diesem Band behandelt werden, folgten etwa die Versuche deutscher Diplomaten und Politiker vor und während des Zweiten Weltkrieges, einen Massenaufstand gegen das britische Empire zu starten, das kurze Intermezzo der deutschen Luftwaffe im Irak 1941 oder die zahlreichen Kommandounternehmen der Wehrmacht in der Region bis 1944/45.1 Aus heutiger Sicht kann sich auch ein deutscher Betrachter dem Nahen bzw. Mittleren Osten nicht einfach entziehen. Nicht zuletzt wegen der aktuellen Lage in der Region, die unter anderem auch die Stationierung deutscher Truppen an der türkischen Südgrenze im Rahmen der NATO gebracht hat, gilt es, das, was die deutsche Geschichte für diese Region zu bieten hat, in differenzierter und kritischer Weise, letztlich dann auch international-vergleichender Perspektive2 , aufzuarbeiten. Dies auch deshalb, weil auch heute noch die Gefahr besteht, dass von politisch zweifelhafter Seite tendenziöse Behauptungen 1

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Dazu ausführlich Bernd Lemke, Der Irak und Arabien aus der Sicht deutscher Kriegsteilnehmer und Orientreisender 1918 bis 1945, Aufstandsfantasien, Kriegserfahrungen, Zukunftshoffnungen, Enttäuschungen, Distanz. Frankfurt a.M. 2012 und ders., Kulturkontakt im Krieg, Der Luftwaffeneinsatz im Irak 1941 und seine Diskussion nach 1945, in: Eberhard Birk/Heiner Möllers/Wolfgang Schmidt (Hrsg.), Die Luftwaffe in der Moderne (Schriften zur Geschichte der Deutschen Luftwaffe, Bd. 1). Essen 2011. Derlei ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich. Zu den methodischen Grundlagen vgl. Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hrsg.), Comparative and Transnational History, Central European Approaches and New Perspectives. New York Oxford 2009. Zum Stand der Forschung aus Sicht der vergleichenden Imperienforschung vgl. die Literatur in folgenden FN.

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Bernd Lemke

und Legenden verbreitet werden, dies nicht zuletzt auch mit dem Ziel der Geschichtsklitterung und zumindest unterschwellig auch rassistischen Absichten. Colmar von der Goltz gehört zu den profiliertesten deutschen Protagonisten, die in dieser Region Einfluss gewannen. Dabei ist nicht nur sein persönlicher Werdegang, sondern auch die Verortung im Geflecht der Personen und Strukturen sehr wichtig. Insofern verspricht die Beschäftigung mit ihm tiefergehende Einblicke in entscheidende Aspekte der deutschen Expansionsbemühungen. Insgesamt zählt das Wirken von der Goltzens zur Imperialkriegsgeschichte, dies nicht zuletzt auch, wie noch zu zeigen sein wird, wegen seiner globalen Kriegspläne gegen das Empire. Im Folgenden wird daher nach einer kurzen Einführung in den Lebensweg von der Goltzens (i) sein militärtheoretisches Denken analysiert, (ii) seine Erkenntnisse und seine Haltung zur Aufstandserregung bzw. Aufstandsbekämpfung in Asien und in Afrika beleuchtet und schließlich (iii) sein entsprechendes Handeln im Ersten Weltkrieg und die Diskussion darüber nach seinem Tode dargestellt. Abgesehen von seinen militärtheoretischen Publikationen erlangte Colmar von der Goltz wohl die größte historische Bedeutsamkeit durch seine Tätigkeit im Osmanischen Reich. Sein Denken und auch teils sein Handeln in Diensten des Sultans trugen, wie noch zu zeigen sein wird, regelrecht globale Züge. Sein Leben und Wirken lässt sich daher sehr gut anhand der neuesten Ergebnisse der vergleichenden Imperialforschung bewerten, die sich sehr gut mit den biografischen Forschungsergebnissen zu von der Goltz und seiner Bewertung kombinieren lassen.3 Die vergleichende Imperialforschung hat in den letzten Jahren handfeste Ergebnisse insbesondere zur Machtgestaltung und zum Umgang der metropolitanen Zentrale mit den beherrschten Völkern, Gruppen und Religionen geliefert.4 Das Osmanische Reich nimmt darin einen prominenten Platz ein. Insbesondere die Herrschaftsmechanismen vor dem Hintergrund der vielfältig vorhandenen Unterschiede („politics of difference“) sind pointiert dargestellt worden.5 Mit diesem Instrumentarium lässt sich die transnationale Rolle 3

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Das biografische Standardwerk zu Colmar von der Goltzen ist Carl Alexander Krethlow, Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, Eine Biographie. Paderborn 2012. Zur Bewertung seiner Tätigkeit ex-post nach 1918 und zur Einordnung von der Goltzens in den Diskurs deutscher Kriegsteilnehmer und Orientreisender bis 1945 vgl. Bernd Lemke, Der Irak und Arabien. Im Folgenden werden die zentralen Werke zur Imperialforschung mit Fokus auf die Machtstrukturen und -gestaltung gelegt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den postkolonialen Ansätzen im Gefolge des immer noch wirkmächtigen Werkes von Edward Said, Orientalism. 5. Aufl. London 2003 (erstmals 1978) ist aus Platzgründen leider nicht möglich. Die wichtigsten Werke neueren Datums in enger Auswahl: John Darwin, Der imperiale Traum, Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000. Franfurt a.M./New York 2010 (engl.: After Tamerlane: the global history of empire since 1405. London 2007); Jane

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von der Goltzens vor allem auch vor und während des Ersten Weltkrieges sehr gut darstellen. Das Osmanische Reich war voll von diesen Unterschieden und Gegensätzen. Von der Goltz versuchte insbesondere im Rahmen der Armee integrierend, stabilisierend und machterhaltend zu wirken, gleichzeitig das Empire des Gegners zu destabilisieren und schließlich zum Einsturz zu bringen. Schließlich war von der Goltz Teil der Durchdringung des Osmanischen Reiches von deutscher Seite, dies als Vertreter eines von drei entscheidenden Instrumenten europäischer Machtentfaltung: des staatlichen Apparates.6

Colmar von der Goltz: Leben und Werk Colmar von der Goltz, am 12. August 1843 geboren, entstammte einer alten, aber verarmten ostpreußischen Adelsfamilie. In wirtschaftlich prekären Verhältnissen aufgewachsen, entschloss er sich, eine Karriere beim Militär anzustreben.7 Nach der Ausbildung in den Kadettenanstalten von Kulm und Berlin wurde er im Jahre 1861 zum Offizier ernannt. Sein erster Einsatz erfolgte im Deutsch-Österreichischen Krieg von 1866. Eines der prägendsten Erlebnisse von der Goltzens war die Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 als Generalstabsoffizier beim Oberkommando der 2. Armee. Die Beobachtungen, die er dort machte, prägten in entscheidender Weise seine weitere Entwicklung. Nach dem Krieg mit einer Ausarbeitung der Geschichte des Feldzugs beauftragt und dazu in die Kriegsgeschichtliche Abteilung des

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Burbank/Frederick Cooper, Empires in world history, power and the politics of difference. Princeton Oxford 2010; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009; Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Frankfurt a.M./New York 2008 (engl.: The birth of the modern world 1780–1914, global connections and comparisons. Malden Mass. 2005); Jörn Leonard/ Ulrike von Hirschhausen, Comparing Empires, Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011. Nicht zuletzt auch methodisch wichtig Akira Iriye/ Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Geschichte der Welt 1870–1945, Weltmärkte und Weltkriege. München 2012 sowie Benedikt Stuchtey/Eckhardt Fuchs, Writing World History 1800– 2000. Oxford 2003. Nach wie vor von großem Einfluss Paul Kennedy, The rise and fall of the great powers: economic change and military conflict from 1500–2000. New York 1987 (etliche Neuauflagen); vgl. auch Timothy Parsons, The Rule of Empires, Those who built them, Those who endured them and Why they always fall. Oxford 2010. In Bezug auf Imperialkriegführung vgl. v.a. Tanja Bührer, Christian Stachelbeck und Dierk Walter, Imperialkriege von 1500 bis heute, Strukturen – Akteure – Lernprozesse. Paderborn 2011. Daneben sind v.a. Religion und Wirtschaft zu nennen. Vgl. dazu David B. Abernethy, The Dynamics of Global Dominance, European Overseas Empires, 1415–1980. New Haven London 2000. Als Hintergrund vgl. auch einen der Klassiker der neueren Imperialgeschichte: Michael W. Doyle, Empires. Ithaca London 1986. Die nachstehende Darstellung des Werdegangs von der Goltzens folgt weitgehend den Ergebnissen von Krethlow, Goltz.

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Großen Generalstabes versetzt, publizierte er im Jahre 1877 die bedeutsame und vielfach rezipierte Schrift „Leon Gambetta und seine Armee“.8 Die Wirkung dieses Buches und die nachfolgende Kritik daran waren derart stark, dass von der Goltz von dem älteren Moltke für einige Zeit in die Truppe strafversetzt wurde. Derlei hinderte von der Goltz nicht, im Jahre 1883 ein weiteres Werk zu veröffentlichen: „Das Volk in Waffen“, seine wohl bekannteste und historisch bedeutendste Schrift.9 Unter anderem auf der Basis dieser beiden Bücher beteiligte sich von der Goltz an zahlreichen Diskussion und Kämpfen innerhalb der Apparates und in der Öffentlichkeit. Dies führte indes zu erheblichen Feindschaften, die ihm auch beruflich schadeten. Nach einigen, teils auch unbefriedigenden Verwendungen nahm von der Goltz 1883 die Gelegenheit wahr, als ihm 1883 eine Tätigkeit als Vizedirektor des Militärbildungswesen bei der Hohen Pforte angeboten wurde. In dieser Zeit unternahm er erhebliche Anstrengungen, um die Armee des Osmanischen Reiches, die unter teils großen Schwächen litt, zu reformieren. Gleichzeitig schuf er große Netzwerke und fungierte als Waffen- und Rüstungslobbyist. In verschiedenen Tätigkeiten, hier insbesondere als Unterchef des omanischen Generalstabes, übte er Einfluss auch auf die Generalstabsplanung, insbesondere aber auf Bildung, Erziehung und inneren Aufbau der Armee aus. Nachdem von der Goltz zunehmend in Intrigen auch unter den deutschen Offizieren im Osmanischen Reich verwickelt wurde und auch teils die Gunst des Sultans verlor, nahm er 1895 seinen Abschied und kehrte nach Deutschland zurück. Dort begann sein weiterer Aufstieg. Von der Goltz durchlief mehrere bedeutsame Leitungsverwendungen, so etwa Divisionskommandeur, Generalinspekteur für das Festungswesen und Kommandeur eines Armeekorps. Im Jahre 1911 wurde er von Wilhelm II. kurz vor seinem 50. Dienstjubiläum zum Generalfeldmarschall ernannt und zwischenzeitlich sogar als möglicher Reichskanzler gehandelt. In dieser ganzen Zeit setzte er seine publizistische Tätigkeit fort und mischte sich mit dezidierten Thesen immer wieder in öffentliche Debatten ein. Erneut brachte ihm dies Feindschaft ein, die auch dazu führte, dass von der Goltz das angestrebte Amt des Chefs des Großen Generalstabes nicht erhielt. Am 4. Juli 1913 nahm er daher seinen Abschied. Ein ruhiges Pensionärsdasein sollte ihm indes nicht vergönnt sein, denn er wurde reaktiviert, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Man ernannte ihn im August 1914 zum Militärgouverneur für die besetzten Gebiete in Belgien, was ihm auch Gelegenheit zu einem Eingreifen in das Kriegsgeschehen an der vordersten Front bot. Indes gab es in der Folge erneut Kritik, diesmal unter anderem wegen seiner angeblich zu laxen Verwaltungspraxis in Belgien. 8 9

Colmar Freiherr von der Goltz, Leon Gambetta und seine Armeen. Berlin 1877. Ders., Das Volk in Waffen, Ein Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit. Berlin 1883.

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Von der Goltz entschloss daraufhin ein zweites Mal in diese Dienste des Osmanischen Reiches zu treten und wurde Generaladjutant des Sultans. Dies führte erneut zu Konflikten mit deutschen Stellen, hier vor allem innerhalb der deutschen Militärmission unter Liman von Sanders. Man übertrug ihm schließlich das Kommando über eine Armee. Am Sieg über die Alliierten bei Gallipolli hatte er jedoch eher indirekten Anteil. Als sich weitere Schwierigkeiten ergeben hatten, bot man von der Goltz die übergeordnete Leitung der Kriegführung in Mesopotamien und Persien an. Von der Goltz sagte zu und erhielt das Kommando über die 6. Armee, mit der er die Verteidigung dort aufnehmen sollte. Indes verfolgte er globale Kriegspläne und begann mit einem Vorstoß nach Indien zu liebäugeln. Das Verhältnis zwischen deutschen und türkischen Offizieren verschlechterte sich indes zusehends, auch geriet von der Goltz wegen seiner globalen Ambitionen weiter in die Kritik. Zu weiteren Verwicklungen sollte es indes nicht mehr kommen, da von der Goltz auf seiner Reise nach Bagdad am Fleckfieber erkrankte und daran am 19. April 1916 verstarb. Er wurde erst in Bagdad, dann in Konstantinopel beigesetzt. Sein Tod führte zu weiteren Diskussionen, da bei der Gedenkfeier für von der Goltz in Berlin der ehemalige Generalstabschef Moltke bei seiner Trauerrede einen Herzanfall erhielt und ebenfalls verstarb. Es drängte sich der Eindruck auf, dass hier Einiges nicht aufgearbeitet worden war, etwa bezüglich der Frage, warum man einen derart bekannten und verdienten Mann wie von der Goltz noch mit über 70 Jahren in eine solche Hölle hatte schicken können.10 Die Kontroversen, die von der Goltz Zeit seines Lebens geführt hatte, setzten sich auch nach seinem Tod fort. Für die Einen war er eine Lichtgestalt, die mit ihrem Wirken, unter anderem auch für die Wehrertüchtigung der Jugend, Bedeutendes geleistet hatte und mit seinen Büchern richtungweisend für die Kriegführung der Zukunft gewesen war. Für die Anderen blieb er ein notorischer Querulant, ,vertürkter‘ General und Phantast, der mit seinen hochtrabenden Plänen für eine globale Expansion die Kriegführung im Osmanischen Reich gefährdet hatte.

Grundlagen des militärischen und militärtheoretischen Denkens Um es vorweg zu nehmen: Colmar von der Goltz war kein ausgesprochener Vertreter oder Spezialist für Aufstandserregung oder Aufstandsbekämpfung bzw. das, was heute unter den Termini „Insurgency“ oder „Counter-Insur10

Eine Rolle könnte auch gespielt haben, dass der jüngere Moltke nach der Niederlage an der Westfront als Generalstabschef abgelöst worden war und bei von der Goltz verbittert angefragt hatte, ob er nicht nach Konstantinopel kommen könne. Krethlow, Goltz, S. 473.

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gency“ firmiert. Er war auch kein deutscher „Callwell“.11 Im Zentrum seines Denkens stand der moderne, technisierte Massenkrieg auf Basis der Wehrpflicht unter Kontrolle einer starken, zupackenden Führung. Der Fokus seiner theoretischen Schriften lag eindeutig auf dem europäischen Nationalstaat und seiner Armee als höchstentwickelte Form organisierter Gewaltanwendung, die auch als Vorbild für außereuropäische Machtgebilde, hier insbesondere das Osmanische Reich, dienen sollte. Seine beiden zentralen Schriften, „Leon Gambetta“ und „Das Volk in Waffen“, beschäftigen sich fast ausschließlich mit europäischer Kriegführung. Von der Goltz befand sich hier in einem weitreichenden öffentlichen Diskurs, der nicht nur die Zeit des Kaiserreichs umfasste, sondern auch erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Theorien und Konzepte für den Totalen Krieg nach 1918 hatten. In durchaus beeindruckender Weise zeichnete von der Goltz im „Leon Gambetta“ etwa den Krieg von 1870/71 aus französischer Sicht und zählte dort die wesentlichen Defizite der französischen Kriegführung gegenüber den effizient und diszipliniert vorgehenden deutschen Armeen auf. Aus dieser Perspektive – und für die zeitgenössische Diskussion richtungs- und zukunftsweisend – konnte nur der Staat Kriege erfolgreich bestehen, der sich bereits im Frieden mit einer umfassenden Wehrpflichtorganisation, rücksichtsloser Nutzung der industriellen und technischen Möglichkeiten (Rüstung und Kriegsgerät) sowie entsprechender Leitungsorgane (Generalstab und Kriegskabinett) und klar formulierten Zielen mit einer entsprechenden Strategie versehen hatte. Von dieser Warte aus bewertete und kritisierte von der Goltz alle anderen Staaten, soweit er sich mit ihnen beschäftigte. Das Gegenstück zum „Leon Gambetta“ für das Osmanische Reich und Griechenland bildete die Schrift „Der Thessalische Krieg“, in der er die beiden kriegführenden Parteien in derselben Weise beurteilte wie die Franzosen.12 Negativ fielen ihm insbesondere die teils defizitäre Organisation und vor allem die mangelnde Entschlusskraft der militärischen Führer auf. Hatte er derlei Bewertung schon im Falle Frankreichs im „Leon Gambetta“ extensiv vorgenommen, so rangierten die beiden südosteuropäischen Staaten noch weiter hinten in der Rangliste. Einstweilen betrachtete von der Goltz sie nicht mit den Streitkräften irgendeiner westeuropäischen Macht oder Russlands ebenbürtig. Dies demonstrierte er teils auch recht pointiert, etwa durch einen direkten Vergleich zwischen der deutschen mit der osmanischen Armee.13 11

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Charles Callwell ist einer der bedeutendsten Theoretiker für Kolonialkrieg und Aufstandsbekämpfung der Zeit. U. a. auf der Basis persönlicher Erfahrungen in Afghanistan und in den Burenkriegen schrieb er ein inzwischen zu den „Klassikern“ dieses Genres gehörendes Werk. C.[harles] E. Callwell, Small Wars. Their Principles and Practice. 3. Aufl. London 1906 (Nachdr. Lincoln. NE 1996). Colmar Freiherr von der Goltz, Der Thessalische Krieg und die Türkische Armee, Eine kriegsgeschichtliche Studie. Berlin 1898. Colmar Freiherr von der Goltz, Krieg- und Heerführung. Berlin 1901, S. 289–298.

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Für das Osmanische Reich sah er nach seiner Tätigkeit indes positive Zeichen, da der Großteil vor allem der jüngeren Generalstaboffiziere von ihm ausgebildet und beeinflusst worden waren. Er prognostizierte, das die Armee der Hohen Pforte in Zukunft in die erste Liga aufrücken würde, wenn sie weiterhin nach seinen Plänen fortentwickelt würde. An dieser Haltung hielt der General auch noch fest, als das Osmanische Reich im Vorfeld des Ersten Weltkriegs herbe militärische Rückschläge und Niederlagen erlitt. Mit diesem Ziel korrespondierten auch entsprechende Bestrebungen von der Goltzens, sich als Direktor des osmanischen Militärwesens zu installieren. Damit hätte er die bestimmende informelle Leitungsfunktion übernommen. Diese Bestrebungen weiteten von der Goltzens Perspektive eindeutig in imperiale Bahnen und führten schließlich auch zu einer globalen Sicht im eigentlichen Sinne. Von der Goltz betrachtete die osmanische Armee dabei nicht nur als Mittel zu Machtgestaltung bzw. -expansion, sondern auch als ausgesprochenes Versuchslabor für seine militärtheoretischen Auffassungen. Dabei entwickelte er, wie im Falle europäischer Kriegführung, eine ausgesprochen aggressive Grundhaltung, die im Trend etlicher Militärs und Autoren dieser Zeit lag („Bellizismus“).14 Der General war der Auffassung, dass vor allem Krieg eine Nation jung erhalte und sie vor Trägheit bewahre. Ferner forderte er in vielen Fällen den Präventivkrieg, so etwa auch für den Balkan. Insgesamt bildete von der Goltz damit zumindest im militärischen Bereich die historische Entwicklung der expandierenden europäischen Industriestaaten intellektuell ab. Dies lässt sich durchaus mit entsprechenden Tendenzen etwa in Großbritannien vergleichen.15 Von der Goltz übte einen nachhaltigen Einfluss auf das türkische Offizierskorps aus, dies mit Langzeitwirkung.16 Wie noch darzustellen sein wird, besitzt diese Perspektive auch überaus bedenkliche Seiten, hier etwa in der Armenierfrage. Inwieweit von der Goltz die Entwicklung der türkischen Armee auch nach 1918 prägte, wäre noch näher zu erforschen.17 14 15

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Vgl. dazu Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation, Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914. München 2008, S. 775–784. Vgl. dazu etwa die Diskussionen um die Stärke der britischen Nation vor dem Hintergrund des Burenkrieges. Tony Ballantyne und Antoinette Burton, Imperien und Globalität, in: Emily S. Rosenberg (Hrsg.), 1870–1945, Weltmärkte und Weltkriege, München 2012, S. 397–399. Krethlow, Goltz, S. 122ff., S. 135 und S. 541. Von türkischer Seite aus wurde durchaus ein fundamentaler und langfristig wirkender Einfluss deutschen Wirkens auf die Armee konstatiert. Fritz Fischer, Krieg der Illusionen, Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Düsseldorf 1969, S. 484f. Von der Goltz selbst stellte indes mit einem gewissen Unwillen fest, dass nach der jungtürkischen Rebellionen die Offiziersgeneration, die er selbst mit großgezogen hatte, von der jüngeren Alterskohorte, die von der Goltz gar nicht richtig kannte, de Facto bereits abgelöst worden war; Bericht des Generaloberst Freiherrn von der Goltz über seinen Aufenthalt in der Türkei Juli/August 1909, 28.8.1909, Bl. 4f., in: BA-MA, N 737/5. Nähere Forschungen wären noch betreiben. Im Folgenden werden lediglich zentrale Befunde für die hier zu-

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In Bezug auf Insurrektionen bzw. deren Bekämpfung entwickelte von der Goltz keine ausführlichen systematischen Gedanken wie etwa im „Leon Gambetta“ oder in „Das Volk in Waffen“. Vor der hochentwickelten europäischen Kriegführung nahmen sich etwa auch Kolonialkriege eher wie Formen rückständiger Konfliktaustragung bzw. sogar wie Dekadenzphänomene aus. Im „Leon Gambetta“ führte von der Goltz die Defizite der französischen Armee etwa auf die fehlende Erfahrung durch Krieg gegen eine erstrangige europäische Macht und die vornehmliche Konzentration auf koloniale Auseinandersetzung zurück: „Keiner Armee schadet es, wenn sie einen tüchtigen Feind bekämpft. Ein solcher Kampf spannt alle Kräfte nur an. Gegen die Mittelmäßigkeit zu streiten, entnervt mit der Zeit. Frankreich legte den ersten Grund zu seinen großen Niederlagen dadurch, daß es seit fünfzehn Jahren seine Truppen häufig gegen Gesindel, gegen Kabylen, Chinesen, Siamesen, Garibaldiner, Mexikanische Guerillas u.s.w. hatte fechten lassen, wo auch bei weicher oder gar nachlässiger Führung wohlfeile Siege erfochten wurden.“18 Der General beschäftigte sich im Laufe der Zeit indes dann tatsächlich ausführlicher mit Kolonialkriegen, als sich diese entwickelten.19 Allerdings bewertete er sie gegenüber der europäischen Kriegführung zumindest, was die Effizienz, Wirksamkeit und Durchschlagskraft anging, immer als zweitrangig. Insofern stimmte er mit der Meinung prominenter Vertreter des Militärs anderer westlicher Mächte überein: die Kriegführung der sich entwickelnden europäischen Machtstaaten mit ihren immer stärker expandierenden Ökonomien bildete zumindest theoretisch den allumfassenden Rahmen, von dem sich alle anderen Kriegsformen, bei allen Unterschieden in den Rahmenbedingungen, auf die eine oder andere Weise ableiten ließen.20

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grundeliegende Fragestellung mit Schlüsseldokumenten bzw. -zitaten belegt. Verwiesen sei auf die beiden wichtigsten Quellenbestände: der Nachlass von Colmar von der Goltz im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA) – N 737 – und der Nachlass im Familienarchiv von der Goltz im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem (GStA), VI. HA, FA von der Goltz, insbesondere die Aktennummern 215, 216, 220 und 221. Von der Goltz, Gambetta, S. 58f. Zu den Wechselwirkungen zwischen Kolonialkrieg und Großkrieg in Europa vgl. auch Harald Potempa, Die Perzeption des Kleinen Krieges im Spiegel der deutschen Militärpublizistik (1871–1945) am Beispiel des Militär-Wochenblattes. Potsdam 2008, S. 68 und S. 76f., downloadbar unter: http://www.mgfa.de/html/ einsatzunterstuetzung/downloads/doeperzeption.pdf. Die militärischen Fachkommentatoren erkannten die teils anstrengende und grausame Kriegführung in Kolonialkriegen durchaus und bezeichneten sie als Mittel zur Härtung der Soldaten und zur Schulung militärischer Flexibilität. (Dazu auch Colmar Freiherr von der Goltz, Kriegsgeschichte Deutschlands im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Berlin 1914, S. 619f. sowie ders., Krieg- und Heerführung. Berlin 1901, S. 13–20). Allerdings betrachteten sie diese Kriege ein Stück weit auch als gefährlich für die europäische Kunst der Kriegführung (Metapher vom „Schulfechter“ = Europäer und „Naturfechter“ = etwa indigene Aufständische). Zur Meinung von der Goltzens zu zeitgenössischen Kolonialkriegen, etwa Boxerkrieg, Burenkrieg und deutschen Kolonialkriegen, vgl. Krethlow, Goltz, Kap. VI. Bernd Lemke, Kolonialgeschichte als Vorläufer für modernes "Nation-Building?" Briti-

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Derlei Ableitungen und Anwendungen nahm von der Goltz dann tatsächlich auch vor, dies mit zunehmend globaler Perspektive. Zwar hatte er in seinen wichtigsten Schriften immer wieder betont, dass zunächst die europäische Kriegführung von Interesse sei, weil sie die wichtigste und auch die entscheidende Form der militärischen Auseinandersetzung sei. Andere Kriegsarten, insbesondere auch im globalen Zusammenhang, betrachtete als erst in Zukunft von Bedeutung. Im Laufe der Zeit wurde dann aber klar, dass von der Goltz diese Zukunft zumindest in ihren Anfängen selbst mit zu gestalten gedachte. Dies ergab sich vor dem Hintergrund zunehmender deutsch-britischer Rivalität. Seit Ende des neunzehnten Jahrhundert legte von der Goltz eine zunehmende Abneigung die Briten und ihr Empire an den Tag. Er betrachtete das britische Weltreich als Hauptgegner Deutschlands, das vor allem auch global zu bekämpfen sei. Deutlich machte der General dies etwa am Beispiel des Boxerkrieges. Diesen sah er nämlich nicht als gutes Beispiel für westlich geführte Koalitionskriegsführung, sondern als Vorbote für den kommenden globalen Kampf Deutschlands vor allem gegen England. „Wenn sich der Expedition auch keine Gelegenheit zu größeren Kämpfen geboten hatte, so war sie doch für das Deutsche Reich wertvoll durch die Erfahrungen geworden, die für künftige überseeische Unternehmungen aus diesem glänzend gelungenen Versuch gezogen werden konnten. Er wies unsere Kriegführung auf einen neuen Weg hin, welcher dereinst mit stärkeren Kräften, wichtigeren Zielen und in ernsteren Verwicklungen gegen Deutschlands Widersacher jenseits der Meeres zu betreten sein werden.“21

Von dieser Warte aus entwickelte von der Goltz seine Ansichten und Pläne zur Aufstandserregung im Mittleren Osten.

Aufstandserregung und Aufstandsbekämpfung Was Insurrektionen bzw. Aufstände oder Kolonialkriege angeht, existiert keine herausragende Einzelschrift von der Goltzens, die sich mit dem „Leon Gambetta“ oder „Das Volk in Waffen“ hätte in eine Reihe stellen lassen. Sein Denken in dieser Hinsicht muss im Rahmen seiner Gesamtansichten erforscht und dargestellt werden. Neben den bereits beleuchteten Aspekten sind dabei noch folgende grundsätzliche Punkte zu nennen: von der Goltz war ein ausgesprochener Vertreter dezidierten Freund/Feind-Denkens, d. h. zunächst kam die Festlegung der jeweiligen Seiten, darunter insbesondere die Definition des eigenen Lagers,

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sche Pazifikationsversuche in Kurdistan und der North-West Frontier Province 1918– 1947, in: Tanja Bührer/Christian Stachelback/Dierk Walter, Imperialkriege von 1500 bis heute, Strukturen – Akteure – Lernprozesse. Paderborn 2011, S. 290. Von der Goltz, Kriegsgeschichte Deutschlands im Neunzehnten Jahrhundert, S. 618; vgl. zus. ders., Krieg- und Heerführung. Berlin 1901, S. 3.

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wozu insbesondere das Osmanische Reich zählte. Erst danach stellte sich die Frage der Mittel, insbesondere auch der kriegerischen. Ferner ist von der Goltz insgesamt eindeutig als Vertreter imperialer Herrschaft zu sehen, auch wenn er infolge des Umsturzes von 1908 recht flexibel reagierte und bei der beginnenden Umwandlung des Osmanischen Reiches in den türkischen Nationalstaat sich wohl nicht immer eindeutig über seine Position innerhalb der organisatorischen Strukturen und dem beileibe nicht einfach zu durchschauenden politischen Kampf im Klaren war. Von der Goltzens Handelns drückte sich nicht zuletzt auch darin aus, dass er mit Nachdruck versuchte, sich als bestimmender Lenker des türkischen Militärwesens zu positionieren. Zwar war er sich bewusst, dass sich Derlei immer nur im Hintergrund und informell realisieren lassen konnte.22 Dies hielt ihn aber nicht davon ab, entsprechend vorzugehen. Neben seiner herausragenden, wenn auch keineswegs konfliktfreien Stellung im Herrschaftssystem des osmanischen Reiches, konnte er dabei auf zahlreiche Kontakte zur Politik und zur Wirtschaft des Deutschen Reiches zurückgreifen. Nicht zuletzt fungierte er als ausgesprochener Lobbyist der Rüstungsindustrie.23 Mit diesem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium hätte von der Goltz weitreichenden, vielleicht sogar bestimmenden Einfluss erlangen können, wenn man ihn hätte gewähren lassen. Hier lagen auch eindeutige Parallelen zum Handeln Max Oppenheims. Dieser hatte im Zuge seiner Entwicklungspläne für die Bagdadbahn ähnliche Bestrebungen im ökonomischen Sektor an den Tag gelegt und hatte zumindest zeitweise für sich den Posten eines Wirtschaftsdiktators für die Region der Bagdadbahn und damit letztlich für weite Teile des Osmanischen Reiches vorgesehen.24 Mit von der Goltz und von Oppenheim waren damit zwei wesentliche Bereiche imperialer Machtausübung zumindest auf informellem Wege angesprochen: Staatsorgane (hier: Militär) und Wirtschaft. Der dritte wichtige Bereich, die Religion bzw. Kirche, konnte wegen der übermächtigen Stellung des Islam nicht wirklich durch Vertreter eines westlichen Staates kontrolliert werden. Auch wenn Deutschland zu dieser Zeit erst gerade dabei war, sich ein Kolonialreich zu verschaffen, handelten von der Goltz und von Oppenheim als ausgesprochene Vertreter imperialer Herrschaftsausübung im Osmanischen Reich bereits an der Verwirklichung dieser Ideen. Mit seinen Plänen und Auffassungen stieß von der Goltz dann, ähnlich wie von Oppenheim, sowohl im Diskurs als auch im praktischen Handeln alsbald an Grenzen. Die osmanische Staatsführung, hier nicht zuletzt der Sul22 23 24

Sehr deutlich im Bericht des Generaloberst Freiherrn von der Goltz über seinen Aufenthalt in der Türkei Juli/August 1909, 28.8.1909, S. 12, in: BA-MA, N 737/v. 5. Dazu Krethlow, Goltz, S. 105–162. Bernd Lemke, Der Irak und Arabien, Kap. 2.2., v.a. S. 38; zu Max von Oppenheim vgl. entsprechend auch den Beitrag von Marc Hanisch im vorliegenden Band.

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tan, war keineswegs bereit, von der Goltz weitgehende, wenn auch informelle Leitungsbefugnis zu erteilen. Auch erregten seine militärtheoretischen Thesen erheblichen Widerspruch, dies nicht zuletzt auch im preußisch-deutschen Generalstab. Generell lässt sich sagen, dass von der Goltz und von Oppenheim ernsthafte Versuche unternommen haben, imperiale Ideen prominent umzusetzen, wenn auch auf indirektem Wege. Wenn man so will, schufen beide Ansätze, ein ,altes‘ Imperium informell zu durchdringen, dies auf der Grundlage der Stärke eines jungen Nationalstaates, der sich nun auch anschickte, selbst ein Imperium zu werden. Ihr Werdegang zeigt indes, dass man sie letztlich allerdings nicht hat machen lassen, wie sie wollten.25 Beide sind insgesamt gesehen gescheitert. Das Handeln von der Goltzens war dabei durchaus nicht immer unmittelbar von rein militärischen bzw. militärstrategischen Aspekten dominiert, auch wenn diese immer als zentrales Element im Hintergrund standen. So erkannte der General sehr wohl, dass eines der Hauptprobleme des Osmanischen Reiches auf die amorphe und konfliktreiche Bevölkerungsstruktur zurückging. Daher unternahm er zeitweise ernsthafte Versuche, um Araber und Türken zu einem konstruktiven Zusammenleben unter dem Dach des Panislamismus zu vereinigen, um den Bestand des Reiches nicht zu gefährden. Dies stellt eine der wesentlichen Kernelemente imperialer Herrschaft dar. Auch seine Empfehlung, angesichts der zunehmenden Schwäche der Pforte auf dem Balkan das Gravitationszentrum des Reiches nach Kleinasien und Arabien zu verlegen, ging nicht ausschließlich auf militärstrategische Erwägungen zurück. Wie schon in „Volk in Waffen“ zukunftsträchtig gefordert, strebte von der Goltz eine umfassende strategische und politische Gesamtführung an, bei der auch die zivile Sphäre nicht ausgespart wurde. In gewisser Weise deutete sich hier, wenn auch mit teils unterschiedlichen Themen und unter anderen Rahmenbedingungen, der „Feldherr im Totalen Krieg“ an, wie ihn Ludendorff später in seiner Schrift „Der Totale Krieg“ prominent entwickeln sollte.26 Bei der Lösung der aktuellen Probleme des Osmanischen Reiches fungierte von der Goltz im gegebenen militärtheoretischen Rahmen als Vermittler zwischen Reichsführung, Peripherie und Völkern. Damit war er gewisser25

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Dieser Befund deckt sich im Wesentlichen mit den Ergebnissen, wie sie bereits Fritz Fischer in seinem viel beachteten Werk präsentierte: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918. Düsseldorf 1964 (neueste Ausgabe 2009), Teil I, 4. Kap., insbesondere S. 154. Es ist an dieser Stelle keineswegs beabsichtigt, in die zeitweise überaus intensiv geführte Debatte um die Kriegszielpolitik des Deutschen Reiches insgesamt einzusteigen. Entscheidend bleibt die Unzulänglichkeit der investierten Mittel für eine Revolutionspolitik im Orient, die in keinem Verhältnis zu den teils ausufernden (und auch vergleichsweise aufwandsarm zu erstellenden) Plänen standen. Es wäre künftig wohl lohnender, die entsprechenden Diskurse zu analysieren und dann mit denen etwa in Großbritannien zu vergleichen. Hierzu immer noch bestechend Wilhelm Deist, Militär, Staat und Gesellschaft, Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte. München 1991, insbesondere S. 385–430.

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maßen die deutsche Version der imperialen „politics of difference“ wie von Cooper und Burbank dargestellt. Im aktuellen Zusammenhang war von der Goltz indes kein Erfolg beschieden, da die der osmanische Staat seinem Ende entgegenging und die Regierungen in Istanbul seit 1908 dabei immer stärker nationalstaatliche Ideen verfolgten, hier insbesondere den Pan-Turkismus, der gerade auch Araber exkludierte. Von der Goltz versuchte dennoch, und dies auch nach der Machtübernahme der Jungtürken, den Bestand des osmanischen Reiches durch internes Management zu wahren. Damit näherte sich der General zumindest dem Grundsatz dann auch an die Frage möglicher Insurrektionen an – das, was heute „Counter-Insurgency“ genannt wird. Allen Beteiligten war sehr wohl bewusst, dass insbesondere die Araber bei einer größeren Auseinandersetzung oder gar bei einem Krieg für Aufstände anfällig sein würden.27 Dies zu Recht, wie der Erste Weltkrieg dann zeigen sollte. Hier kam dann das ausgesprägte Freund/Feind-Denken von der Goltzens zum Tragen. Anders, als viele Leitungspersönlichkeiten, lehnte er ein aktives Zugehen auf die Anderen, in diesem Falle die Türken bzw. Bewohner des Osmanischen Reiches, ja sogar Sympathie und Eintreten für deren Sache, keineswegs ab – im Gegenteil. Dies brachte ihm dann auch den Vorwurf der „Vertürktheit“ ein. Selbstverständlich war von der Goltz damit keineswegs ein Anti-Imperialist oder ein Vertreter nationaler Befreiungsbewegungen. Sein Interesse für die fremde Bevölkerung war immer durch seine militärischen und militärpolitischen Ziele konditioniert. Ferner gab es für ihn keine Solidarität bzw. Arrangement zwischen den Imperien. Im Gegenteil – seine latent schon zuvor existierende Abneigung gegen das britische Empire führte dann zu einer manifesten Kampfeshaltung. England und sein Weltreich waren für von der Goltz eindeutig der Feind. Das Denken des Generals richtete sich im Rahmen seiner prinzipiellen militärischen Vorstellungen entsprechend aus. Einfach ausgedrückt bedeutete schließlich: Alles, was dem Empire schadete, nützte der eigenen Seite und umgekehrt. Damit dehnte sich der vornehmlich europäische Fokus, wie er noch in seinen zentralen frühen Schriften vorgeherrscht hatte, auf globales Niveau aus, ohne dass sich an den Grundüberzeugungen Grundlegendes geändert hätte. So war der General nach wie vor der Überzeugung, dass bei einer entsprechenden Gelegenheit nur rasches, durchgreifendes und gründliches Handeln zum Erfolg führen würde. Wenn einzelne Staaten bzw. Imperien der eigenen Seite auch (noch) nicht das Niveau der europäischen Kriegführung erreichen konnte, so musste doch das Möglichste getan werden, um einen hohen Effizienzgrad innerhalb der von der Goltzen definierten Kategorien zu erreichen. So forderte er mehrfach den Präventivkrieg, so etwa 1885 gegen Ägypten, als die Briten ihren Feldzug gegen den gegen den „Mahdi“ im Sudan unternahmen, 27

Bericht des Generaloberst Freiherr von der Goltz über seinen Aufenthalt in der Türkei im Oktober und November 1910, 18.12.1910, S. 12, in: BA-MA, N 737/5.

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oder bei entsprechenden Krisen auf dem Balkan. Besonders öffentlichkeitswirksam agierte er im italienisch-türkischen Krieg in Libyen (1911), in dem er der osmanischen Führung eine regelrechte Aufstandsbewegung gegen die italienische Armee mit ausgedehnter logistischer Organisation riet und öffentlich propagierte, dass die Pforte Libyen und insbesondere Tripolis auf keinen Fall aufgegeben werden dürfe, da das Imperium dann die arabischen Völkerschaften enttäuschen würde.28 Damit versuchte der General ein weiteres zentrales Element imperialer Herrschaft zu instrumentalisieren: eine integrative geistig-politische Idee, hier der Panislamismus. Von der Goltz sollte sich in dieser Frage zwar letztlich irren, erzielte im aktuellen Krieg durchaus Wirkung. Die italienische Armee geriet dadurch in erhebliche Schwierigkeiten und erlitt teils hohe Verluste. Dies führte schließlich auch zu außenpolitischen Verwicklungen in Berlin, da Italien ja Mitglied des Dreibundes war. Der Aufstandserregung kam insgesamt für die Kriegführung eher als flankierende Maßnahmen Bedeutung zu. Deutlich wird dies gerade auch in der persönlichen Bewertung von osmanischen Offizieren. Für den gestandenen Mann, etwa seinen Freund, den türkischen Brigadegeneral Demirhan Pertev (1871–1964), kam als primäre Verwendung nur der Großkrieg europäischer Prägung in Frage. Für ,leichtere‘ Charakter nach von der Goltzens Urteil oder den Nachwuchs, wie etwa den zu dieser Zeit erst 30jährigen Enver Pascha (1881–1922), empfahlen sich entlegenere Krieg mit zumindest teilweisem Guerillacharakter. „Daß Sie, mein lieber Pertev, nicht nach Tripolis gegangen sind, habe ich für sehr richtig gehalten. Ihre besondere Begabung und Ihre Kenntnisse vom Kriege würden dort kein geeignetes Feld der Betätigung gefunden haben. Ihr Fach ist der Krieg der großen Operationen, für den Sie ein volles Verständnis besitzen. Enver Bey mit seinem ritterlichen Charakter, seiner etwas phantastischen Neigung und seinem jugendlichen, noch unbekümmerten Mute ist ganz der rechte Mann für einen Krieg wie der in Tripolis.“29

Wenn Krieg mit Kolonialkriegscharakter oder Aufstandserregung den Gegner ernsthaft gefährdeten und eigenen Nutzen brachten, sollten sie entsprechend eingesetzt werden. Umgekehrt war zu verhindern, dass die Völker im eigenen Bereich rebellierten. Als Leitthema formuliert: den Gegner destabilisieren, die eigene Seite stabilisieren. Dass mit Letzteren keineswegs ausschließlich nur kluges Management gemeint war, sondern ggf. auch brutales Durchgreifen, zeigt die Beschäftigung von der Goltzens mit den zeitgenössischen Kolonialkriegen. Gerade im Falle der deutschen Unternehmungen zeigte er keineswegs Milde gegenüber den Insurgenten, sondern verdammte diese moralisch und rechtfertigte auch die größten Gewaltexzesse.30 Ob Aufständische innerhalb 28

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Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, Die Türkei und der Frieden, in: Neue Freie Presse, 29.6.1912; ders., Tripolis, Ein Wort für die junge Türkei, in: ebd., 8.10.1911; ders., Von Tripolis ins Hinterland, in: ebd., 10.3.1912. Goltz an Pertev, 25.2.1912, in: BA-MA, N 737/11. Damit befand sich von der Goltz durchaus im Mainstream der zeitgenössischen Militärpublizistik, hier etwa dem Militärwochenblatt, für das der General etliche Aufsätze

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des Osmanischen Reiches von ihm ggf. mildere Behandlungen zu erwarten gehabt hätten, bleibt daher recht zweifelhaft. Vollends deutlich wird seine Haltung in derlei Fragen am Schicksal der Armenier. Nicht nur schuf der General mit speziellen kurdischen Kavallerie-Einheiten („Hamidiye-Regimenter“) Instrumente, die später dann auch in teils brutaler Weise gegen die armenische Bevölkerung eingesetzt wurde, er ermutigte auch die osmanische Führung zumindest indirekt zu Massakern.31 Im Ersten Weltkrieg bekam von der Goltz entsprechende Gräuel auch zu Gesicht und war sichtlich erschrocken. Er schritt aber nicht dagegen ein. Es bleib in der Folge dann bei Tatenlosigkeit und Fatalismus. Grundsätzlich vergleichbare Gedanken in Bezug auf die Bekämpfung von Aufständen entwickelte Max von Oppenheim im Rahmen seiner Pläne für sein Entwicklungsprojekt im Gebiet der Bagdadbahn.32 Er setzte ebenfalls auf die kurdischen Hamidiye-Regimenter und hegte eine starke Abneigung gegen die Armenier. Inwieweit hier direkte Parallelen vorliegen, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Jedenfalls blieb dynamisches Handeln für den Machtaufbau, weniger der Minderheitenschutz im Zentrum. Bei der Wahl der Mittel zeigte sich auch von der Goltz grundsätzlich flexibel, doch blieb er stark dem Einsatz professioneller, nach europäischem Vorbild geführter Armeen verhaftet. Den Einsatz irregulärer Verbände oder Aufständischer lehnte er zwar nicht ab, doch sah er in ihnen eher ein lokales bzw. regionales Element, so etwa im Falle der thrakischen Wallachen gegen die Griechen.33 Hier spielte insbesondere die, wie von der Goltz resümierte, mangelnde Kampfstärke und insbesondere die fehlende Disziplin eine große Rolle – auch dies eine Einschätzung, der bis 1945 von entsprechenden Fachleuten immer wieder zugestimmt wurde.34 Diese grundsätzliche Einschätzung wirkte dann auch noch fort, als von der Goltz dann konkrete Pläne für eine globale Kriegführung entwickelte. Als Hauptziel kristallisierte sich im Laufe der Zeit Indien, die Hauptstütze des Empire heraus. Von der Goltz propagierte immer prägnanter einen Feldzug durch Persien bis zum Hindukusch, um dort einen allgemeinen Aufstand der Inder gegen die Briten auszulösen und damit das Empire ins Wanken zu bringen. Die primären Kräfte dazu sah der General zunächst in regulären, diszipliniert geführten Truppen. Dabei war ihm klar, dass kein intensiver,

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schrieb. Vgl. dazu Harald Potempa, Die Perzeption des Kleinen Krieges im Spiegel der deutschen Militärpublizistik (1871–1945) am Beispiel des Militär-Wochenblattes. Potsdam 2008, S. 34–89, insbesondere S. 34–52, downloadbar unter: http://www.mgfa.de/ html/einsatzunterstuetzung/downloads/doeperzeption.pdf. Gerade die deutsche Heeresorganisation und die Kriegführung auch in den Kolonien wurden trotz einiger Kritik und erkannten Problemen als mustergültig betrachtet. Krethlow, Goltz, S. 133–138. Bernd Lemke, Der Irak und Arabien, S. 39f. und S. 44. Dazu von der Goltz, Der Thessalische Krieg, S. 24f. und S. 220f. Bernd Lemke, Der Irak und Arabien, v.a. Kap. 3.1. und 4.2.

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technisiert geführter Krieg wie in Europa möglich sein würde, sondern der Einsatz flexibler Truppen mit großer Reichweite. Als historisches Beispiel schwebte ihm, auch dies mit Potenzial für Kontinuitäten folgender Dekaden, der Zug Alexanders des Großen vor.35 Wenn dies auch megalomanisch klingen mag und nachfolgend auch diesbezüglich kritisiert wurde, so verband von der Goltz – zumindest in dieser Perspektive – doch ernsthafte Pläne und war hier einem Begriff von Strategie verhaftet, wie er auch von den Briten selbst verstanden wurde. Dies unterschied sich von den Vorstellungen der meisten anderen deutschen Militärs, deren entsprechende Begriffe eher unter den Begriff „operatives Denken“ im (mittel)europäischen Rahmen subsumiert werden können.36 Die Forderungen der Generals waren auch Teil der machtpolitischen Vorstellungen und Phantasien bedeutsamer öffentlicher Gestalten und Kreise, zu denen einflussreiche, wenn auch unterschiedliche Persönlichkeiten, wie z. B. Ernst Jaekh oder der General Friedrich von Bernhardi, einer der führenden Militärschriftsteller der Zeit, mit dem von der Goltz umfangreiche Korrespondenz pflegte, gehörten. Gefordert wurde, nicht zuletzt als Gegengewicht zur britischen Globalmacht, die als Hindernis für angeblich berechtigte deutsche Weltgeltung auf gleicher Augenhöhe zu London angesehen wurde, der Aufbau eines euro-vorderasiatischen Imperiums, das mindestens bis Bagdad reichte.37 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich in diesen Kreisen sogar ein regelrechtes „Türkenfieber“, dem auch Wilhelm II. unterlag. Inwieweit die Vorstellungen von der Goltzens in Bezug auf einen Vorstoß nach Indien genuin militärstrategisches Neuland darstellten oder eher als Ausdruck der

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Ebd., S. 82f.; Krethlow, Goltz, S. 488–497. Dazu Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen von Moltke d.Ä. bis Heusinger (Zeitalter der Weltkriege, 9). Paderborn 2012. Von der Goltzens vornehmliche militärtheoretische Blickrichtung blieb ebenfalls indes auf Europa gerichtet. Zur Definition von „Grand Strategy“ im 19. und 20. Jahrhundert, hier auch Defizite und Verengungen im deutschen strategischen Denken siehe Willamson Murray/Richard Hart Sinnreich/James Lacey (Hsrg.), The shaping of grand strategy, Policy, diplomacy, and war. Cambridge 2011; Jeffrey W. Taliaferro/Norrin M. Ripsman/ Steven E. Lobell, The Challenge of Grand Strategy, The Great Powers and the Broken Balance between the World Wars. Cambridge 2012. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass eine ganze Abteilung (6 Bände) des offiziellen britischen Geschichtswerks zum Zweiten Weltkrieg unter dem Titel „Grand Strategy“ firmieren. Fischer, Krieg der Illusionen, 11. u. 12. Kapitel, S. 343–347. Es sei nochmals vermerkt, dass kein Beitrag zur Diskussion um die Ursachen für den Ersten Weltkrieg beabsichtigt ist. In Bezug auf die Geschichte des Orients und die Beziehungen der Europäer zum Nahen und Mittleren Osten kann diese Debatte wohl auch kaum Neues beitragen. Nötig wäre eine vergleichende Analyse etwa des geistigen Austausches (etwa auch Reiseliteratur), dies in epochenübergreifender Perspektive. Zu den literarischen Ausprägungen der Vorstellungen eines deutschen Reiches von Helgoland bis Bagdad vgl. Bernd Lemke, Der Irak und Arabien, Kap. 2.1.

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politisch-geistigen Verortung des Generals zu werten sind, wäre noch näher zu klären.38 Insgesamt zeigen sich im Hinblick auf die politischen und militärischen Realitäten bei von der Goltz letztlich eindeutige Grenzen.39 Zu glauben, man könne mit einer Militärexpedition einen Massenaufstand in Indien provozieren, war gelinde gesagt etwas optimistisch und zeugte nicht gerade von vertiefter Kenntnis der indischen Verhältnisse. Offenbar hatte von der Goltz nur von den zunehmenden Schwierigkeiten der Briten in Indien, hier nicht zuletzt dem Aufstand von 1857 in eher allgemeineren Bahnen erfahren und glaubte jetzt, hier einen Hebel gegen das Empire insgesamt gefunden zu haben.40 Schon vor 1914 kam es zu einiger Kritik und auch Spott an den globalen Plänen von der Goltzens. Dieser ließ sich indes davon nicht von seinem Kurs abbringen und handelte im Ersten Weltkrieg, soweit ihm möglich, entsprechend seiner Prinzipien. Theoretische bzw. publizistische Tätigkeit und aktives militärisches Handeln gingen weiterhin Hand in Hand.

Nagelprobe: Erster Weltkrieg Der Erste Weltkrieg brachte für von der Goltz, zumindest, was seine Einschätzung in Bezug auf die grundlegenden Prinzipien der Kriegführung anlangte, keine wesentliche Änderung. Nach wie vor predigte er die skrupellose Mobilisierung, den Präventivkrieg und den effizienten Einsatz aller Mittel durch eine energische Führung. Auch seine Ambitionen in Bezug auf einen globalen Angriff gegen das Empire blieben bestehen. Von der Goltz zeigte sich bis zum Ende als radikaler Feind der Engländer. Insofern verwundert es nicht, dass er die Ausrufung des Djihad durch den Sultan bzw. den obersten Religionsführer der Pforte, den Scheich-ul-Islam, am 14. November 1914 sehr begrüßte.41 Von 38

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Man wird sicher nicht sagen können, dass von der Goltz die Vorstellungen einer strategischen Machtausdehnung von Berlin nach Bagdad lediglich rezipiert hat. Eher hat er dies aufgrund seiner Erfahrungen im Osmanischen Reich bis 1895 wohl mitinitiiert bzw. beeinflusst. Die Vorstellungen des Generals in Bezug auf den Einsatz der eigenen Armeen blieben eher dem europäischen Kriegsschauplatz verhaftet. Von der Goltz sah auch nicht den Einsatz bedeutsamer deutscher Truppenverbände im Orient vor – zumindest solange nicht, bis die kontinentalen Gegner des Kaiserreiches besiegt worden waren. Die Probleme der Briten in Indien, etwa auch die Aufstände an der Nordwestgrenze zu Afghanistan wurden in deutschen Fachkreisen durchaus registriert und kommentiert. Vgl. dazu Harald Potempa, Die Perzeption des Kleinen Krieges im Spiegel der deutschen Militärpublizistik (1871–1945) am Beispiel des Militär-Wochenblattes. Potsdam 2008, S. 61, downloadbar unter: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ doeperzeption.pdf. Einen guten allgemeinen Überblick zum Ersten Weltkrieg und zum Stand der wesentlichen Forschungsfelder gibt Christian Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine im

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der Goltz erhielt in dieser Zeit die zentrale Denkschrift „Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ von Oppenheim und antworte Letzterem fast schon enthusiastisch am 1. Weihnachtsfeiertag 1914 von Bord des deutschen Schlachtkreuzers SMS Goeben, die seit August als „Yavuz Sultan Selim“ in türkischen Diensten stand: „Die Schrift gibt eine vortreffliche Überschrift über alle Möglichkeiten den Islam als unseren Bundesgenossen zu stärken und für die gemeinsame Sache auszunutzen. Ganz klar ist mir zunächst die Notwendigkeit geworden, die Türkei in enge Verbindung mit Persien und Afghanistan zu bringen, diese 3 Staaten zu einem islamischen Dreibund zusammenzuschweißen. Dieses Ziel werde ich zunächst ins Auge fassen und im Einvernehmen mit Enver Pascha. [...] Leider brauchen alle Einleitungen, um die muhamedanische Welt in Bewegung zu setzen viel Zeit und es wäre zu wünschen gewesen, man hätte sie von langer Hand schon getroffen, damit sie bei Kriegsausbruch schon ihre Wirkung [. . . ] [erzielen] konnten.42

Gleichzeitig aber war sich der General sehr wohl bewusst, dass das Osmanische Reich wie jedes Imperium wegen der unterschiedlichen Völkerschaften unter seiner Herrschaft grundsätzlich in einer latent prekären Lage befand, ja, infolge der Niederlagen und Rückschläge der letzten Dekaden sogar besonders bedroht war. Gerade Deutschland selbst, ein Land voller Ungläubiger, entsprach nicht gerade dem idealen Bündnispartner für den Heiligen Krieg. Die Aufwiegelung verschiedener Völker, ethnischer oder religiöser Gruppen, konnte auch ganz andere Formen annehmen als geplant. Gerade die Araber, die von der Goltz mit einem zunehmenden Misstrauen beäugte, boten dem Gegner vielfältige Ansatzpunkte, die dieser auch nutzte, wie das Wirken von H.T.E. Lawrence dann auch zeigen sollte.43 Demgegenüber hatte sich von der Goltz schon im Vorfeld des Ersten Weltkriegs bemüht, eine Verbrüderung zwischen Türken und Arabern herbeizuführen, dies insbesondere als Basis und Garantie für einen erfolgreichen Einsatz der Armee. „Wenn die [osmanische, B.L.] Armee vernünftig und im Einklang mit den materiellen Mitteln wieder hergestellt wird, so kann sie auch stark genug werden, um jedem weiteren Angriff von Außen her erfolgreich Widerstand zu leisten. Alles wird jetzt darauf ankommen, eine vollkommene Aussöhnung und Einigkeit mit den Arabern herbeizuführen, damit sich auch die offene Wunde in Assyr und Yemen endlich schließt und die Kräfte Arabiens für

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Ersten Weltkrieg. München 2013. Ebenfalls immer noch sehr gut: Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg, Eine neue illustrierte Geschichte. 3. Aufl. München 2009; zum Scheichul-Islam ebd., S. 127. Goltz (an Bord der SMS Goeben) an Oppenheim, 25.12.1914, in: BA-MA, N 737/17. Das Wirken von Lawrence sollte indes nicht überschätzt werden. Weder war der Aufstand der Araber kriegsentscheidend noch wusste man in den deutschen Stäben vor 1918 überhaupt von der Existenz von Lawrence. Der Krieg im Orient wurde an den Hauptfronten u. a. auch unter Einsatz von Giftgas entschieden – auf dem Sinai und in Mesopotamien. Vgl. Peter Thorau, Nur Nadelstiche in der Wüste? T.E. Lawrence und die Arabische Revolte aus osmanischer Sicht, in: Mamoun Fansa/Detlef Hoffmann (Hrsg.), Lawrence von Arabien, Genese eines Mythos, Begleitband zur Sonderausstellung „Lawrence von Arabien“. Mainz 2010, S. 173–184.

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die Verteidigung des gesamten Reiches verfügbar werden. Das sind die großen Ziele, welche von nun ab zu verfolgen sein werden.“44

Indes hatte von der Goltz im Laufe der Zeit zu erkennen, dass der Gegensatz zwischen Türken und Arabern wohl nicht zu überbrücken war. Am 7. November 1914 landete ein britisches Expeditionskorps mit indischen Truppen bei Basra und rückte nach Norden vor. Eher schlecht vorbereitete Feldzüge des Osmanischen Reiches gegen Ägypten und damit auch den strategisch überaus wichtigen Suezkanal sowie gegen den Kaukasus scheiterten schnell und wurde von den Russen und den Briten unter Zuhilfenahme der riesigen Ressourcen Indiens mit Gegenaktionen beantwortet. Der britische Hauptstoß an der Sinaifront begann indes erst 1916/17. Es spricht für die immer noch vorhandene Vitalität der türkischen Kriegführung und nicht zuletzt auch für den Einfluss von der Goltzens, dass die Ententemächte entscheidende Erfolge erst im letzten Kriegsjahr erzielen konnten. An beiden Fronten fand ein zähes Ringen statt, dass auch für die Briten mit erheblichen Rückschlägen und Verlusten gekennzeichnet war. Hierzu zählte nicht zuletzt die Katastrophe von Gallipolli im Jahre 1915, bei dem die Briten versucht hatten, die osmanische Metropole handstreichartig zu erobern und dabei herbe Verluste erlitten hatten. Die Tätigkeit von der Goltzens blieb indes weiterhin von Konflikten gekennzeichnet, dies sogar noch mit höherem Problempotenzial als zuvor. Von der Goltz verstand sich überhaupt nicht mit dem Chef der deutschen Militärmission, Liman von Sanders, und hatte auch teils erhebliche Probleme an der Pforte. Ferner wuchsen die Spannungen zwischen den deutschen und den osmanischen Offizieren – nicht zuletzt deshalb, weil Letztere den Sieg bei Gallipolli voll und ganz für sich in Anspruch nahmen. Es wurden sogar Stimmen laut, die bezweifelten, dass man die Deutschen überhaupt benötigte. Zur Verteidigung Mesopotamien als Kommandeur der 6. Armee traf von der Goltz erst Ende 1915 in Bagdad ein. Bereits im April hatte der osmanische Generalstab dann auch eine Division über die Grenze nach Persien geschickt, die dann beim Kampf gegen die Entente im Reich selbst fehlte. Die Rolle, die von der Goltz hier genau spielte, ist nicht ganz klar. Jedenfalls hatte er im Vorfeld gefordert, Schlüsselgebiete fest zu besetzen. Der General sah dies unter anderem zumindest mittelfristig als Chance, seinen lang gehegten Plan eines Vorstoßes gegen Indien umzusetzen. Auch die Tätigkeit deutscher Insurgenten, die in Persien am Umsturz und der Vertreibung der Briten unter Zuhilfenahme indigener Stämme arbeiteten, hieß von der Goltz nachdrücklich gut. Eine unter der Leitung von Oskar von Niedermeyer und Werner Otto von Hentig nach Afghanistan durchgeführte Expedition, die im September 1915 Kabul erreichte, betrachtete von der Goltz als Vorbote für die große Revolutionierung Indiens. Erneut vergleich er derlei Projekte mit dem historischen Zuge Alexanders des Großen und entwickelte entsprechende Pläne. 44

Goltz an Pertev, 4.1.1913, Bl. 21, in: BA-MA, N 737/11.

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Der General blieb dennoch zumindest in der unmittelbaren Planung an den aktuellen Hauptfronten ein nüchtern denkender Armeeführer. Er lehnte es ab, substanzielle Teile der eigenen Truppen nach Persien zu schicken, solange die Briten in Mesopotamien nicht vollkommen besiegt worden waren. Indes offenbart die Entscheidung zum Vorstoß der Division Halil nach Persien doch eine Zersplitterung der Kräfte. Entsprechende Gefahren bestanden tatsächlich, denn die russische Armee rückte von Norden her in Anatolien ein. Die türkische Armee erzielte bei Kut-el-Amara nach einem längeren Grabenkrieg immerhin einen viel beachteten Sieg über die Truppen des Empire, an dem von der Goltz unter anderem zeitweise wiederum an vorderster Front, auch mit gezogenem Säbel, teilnahm.45 Der Ausgang der Kämpfe war 1915/16 keineswegs sicher abzusehen. Leider aber erwies sich die reale Lage als wenig geeignet, phantastische Pläne durchzuführen. Der Druck der Briten wuchs und machte eigentlich den Einsatz aller Kräfte an der Euphratfront nötig. Erst die Niederlage des Empire bei Kut-al-Amara, an der von der Goltz keinen direkten Anteil hatte, verschaffte dem Osmanischen Reich etwas Luft. Größere Erfolge erzielten die Truppen und Insurgenten der Mittelmächte in Persien dann nicht mehr. Im Gegenteil, das teils unsensible und brutale Vorgehen der türkischen Truppen entfremdete sogar aufstandswillige Gruppen dort. Die Expedition von Hentig und Niedermayer scheiterte schließlich, da der Emir in Kabul sehr wohl um den großen Einfluss der Briten auf dem indischen Subkontinent wusste und die deutschen Kräfte viel zu schwach und zu volatil waren. Von der Goltz störte dies offenkundig nicht. Auch behielt er seine grundsätzlich turkophile Einstellung bei, lobte den aus seiner Sicht tapferen anatolischen Soldaten und kritisierte seine Gegner in Deutschland als verbohrte Provinzialisten. Im Großen Generalstab in Berlin betrachtete man von der Goltz daher teils mit verstärktem Unwillen und tauschte daher seine höchsten Berater, vor allem seinen Generalstabschef, aus, um den General einzuhegen.46 Dieser betrachtete dies als persönlichen Affront und Beschnei45

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Eine gut lesbare Darstellung des Krieges in Mesopotamien aus britischer Sicht: Charles Townshend, When God Made Hell, The British Invasion of Mesopotamia and the Creation of Iraq 1914–1921. London 2010 (Die Namensgleichheit mit dem britischen General, der die Truppen bei Kut-al-Amara kommandierte, ist Zufall). Aus osmanischer Sicht vgl. das – allerdings recht pro-türkische – Monumentalwerk Stanford J. Shaw, The Ottoman Empire in World War I, 3. Bd.: Triumph and Tragedy, November 1914–July 1916. Ankara 2008. Vgl. schließlich Mohammad Gholi Majd, Iraq in World War I, From Ottoman Rule to British Conquest. Lanham 2006. Entsandt wurde der württembergische Offizier Gerold von Gleich, der großangelegten Unternehmungen in Richtung Indien sehr kritisch gegenüberstand; Gerold von Gleich, Militärisch-politische Erinnerungen an den Orient. Berlin 1921, insbesondere S. 72f.; Hans von Kiesling, Mit Feldmarschall von der Goltz Pascha in Mesopotamien und Persien, von seinem letzten Generalstabsoffizier Oberstleutnant Hans von Kiesling. Leipzig 1922, v.a. Kap 6, insbesondere S. 142f; dazu Bernd Lemke, Der Irak und Arabien, Kap. 3.1.2. und Krethlow, Goltz, S. 518f.

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dung seiner Kompetenzen. An seinen globalen Kriegsplänen jedenfalls hielt er jedoch grundsätzlich fest und ließ sich bis zum Schluss davon auch nicht abbringen.

Nachruhm? Schon bald nach dem Tod des Generals begann sich verklärendes Gedenken einzustellen.47 Zahlreiche Verehrer würdigten und feierten von der Goltz als großen Militärtheoretiker, Vordenker und militärischer Erzieher für Deutschland und die Türkei. Gedenk- und Heldenschriften, Reden, Feiern bis hin zu Devotionalien und Nippes wurden produziert. Dabei spielte unter anderem auch seine Tätigkeit des von ihm selbst initiierten Jungdeutschlandbundes, eines Wehrverbandes zur Militarisierung der Jugend, eine Rolle. Die Verklärung führte in den dreißiger Jahren schließlich zu einer Initiative für die Errichtung eines Denkmals, die indes scheiterte. Von der Goltz wurde ferner als Freund der Türken und völkerverbindender Botschafter gerühmt, dies unter anderem mit literarischen Genrebilder mit orientalistischem Anstrich. Schließlich erschienen Memoiren und Briefesammlungen, unter anderem die bis heute bekannte Kompilation, die von einem Sohn von der Goltzens herausgegeben wurde.48 Indes verstummte jedoch auch die Kritik nicht. Nach wie vor hielten sich Vorwürfe, von der Goltz sei „vertürkt“ gewesen und hätte dadurch die eigentlichen Ziele der deutschen Kriegführung konterkariert. Hierbei spielte auch offener Rassismus und Geringschätzung der orientalischen Völker eine wichtige Rolle. Die Fachkritik richtete auch weiterhin gegen die Zersplitterung der Kräfte durch das Vorgehen in Persien und aberwitzigen Pläne des Generals für einen Großangriff gegen Indien. Die Gegensätze konnten nicht überbrückt werden. Von der Goltz blieb umstritten.

Fazit Colmar von der Goltz war wie Max von Oppenheim sicherlich eine Ausnahmepersönlichkeit des Kaiserreichs. Letztlich kann man ihn sicher als Grenzgänger zwischen Orient und Okzident in dieser Zeit bezeichnen und sollte nicht vorschnell negativ über ihn urteilen. 47 48

Zum Folgenden vgl. grundsätzlich Bernd Lemke, Der Irak und Arabien, Kap. 3.1.2. und Krethlow, Goltz, Kap. 4.4. Friedrich Freiherr von der Goltz (Hrsg.), Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, Denkwürdigkeiten. Berlin 1929.

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Indes, und dies überwiegt schließlich bei weitem, bleibt er als historische Folie höchst problematisch. Seine ausgesprochene Gewaltphilosophie verweist ausdrücklich auf die kommende, zerstörerische Zeit mit ihren Massenmobilisierungen, skrupelloser Konfrontation und schließlich dem – durchaus erwünschten – Totalen Krieg. Seine problematische Rolle im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern verstärkt dieses Urteil noch. Inwieweit hier Kontinuitäten zum Nationalsozialismus vorliegen, einem nach wie vor allem in der Forschung zu den deutschen Kolonialkriegen nach wie vor umstrittenen Thema49 , kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es mag die Bemerkung genügen, dass vor allem auch Hitler in seinen Tischgesprächen sich, durchaus kritisch, damit beschäftigte, ob und wie das britische Empire durch einen Aufstand in Indien zu Fall gebracht werden könne.50 In Bezug auf die militärgeschichtlichen Aspekte bleibt von der Goltz Indikator, Lackmustest und Protagonist für die deutsche Kriegführung im Orient, hier insbesondere deren Defizite. Der General versuchte mit den von ihm mitgeschaffenen Instrumenten europäischer Kriegführung – diese radikal zur Spitze treibend – imperiale Expansion zu bewerkstelligen. Dabei spielten das osmanische Reich und seine Bevölkerung, trotz aller Sympathiebekundungen von der Goltzens, in erster Linie die Rolle als Versuchslabor, Vorposten und Mittel zum Zweck. Es blieb Vehikel. Von der Goltz strebte wie von Oppenheim eine Art informale Herrschaft in einem existierenden Imperium zu realisieren. Bei einem Erfolg hätte er sich keineswegs mit der Rolle eines Zuarbeiters begnügt, sondern die informelle Leitung zumindest im Militärwesen für sich beansprucht. Aufstandserregung bzw. -bekämpfung spielten dabei eine sichtbare, wenn auch nicht die entscheidende Rolle. Im Fokus stand vor allem die ,Europäisierung‘ der türkischen Armee, d. h. der Aufbau einer schlagkräftigen Massenarmee für Großkriege. Auch global besaß dies lange Zeit hohe Priorität. Der für von der Goltz unausweichliche Kampf gegen England musste keineswegs ausschließlich auf den anderen Kontinenten erfolgen, sondern konnte mit dem eigenen Heer und einer aufgerüsteten Marine auch direkt gegen Britannien geführt werden.51 Als aber die Zeit gekommen war, scheiterte der Schlieffenplan gleich zu Beginn des Krieges und machte eine Invasion erst einmal unmöglich. Daher rückten andere Möglichkeiten in den Vordergrund, hier vor allem im 49

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Es ist an dieser Stelle unmöglich, auch nur einen allgemeinen Überblick zur Debatte zu geben. Verwiesen sei daher lediglich auf Langbehn, Volker, und Mohammad Salama, German colonialism, race, the Holocaust, and postwar Germany. New York 2011 sowie Sibylle Steinbacher (Hrsg.), Holocaust und Völkermorde, Die Reichweite des Vergleichs. Frankfurt a.M./New York 2012. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. München 2003, v.a. S. 299, S. 333, S. 438. Hier paradigmatisch Colmar Freiherr von der Goltz, Seemacht und Landkrieg, in: Deutsche Rundschau, Separatabdruck, 26.1900, H. 6 (März), hrsg. von Julius Rodenburg.

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Mittleren Osten. So setzte von der Goltz seine bereits vor Kriegsbeginn angestellten Bemühungen fort, das Osmanische Reich als zentralen globalen Arm bis nach Indien und als Basis für eine Revolutionierung des Subkontinents zu instrumentalisieren. „Aber sie [die Zurückhaltung der Pforte gegenüber England, B.L.] wird sich ändern, sobald die türkische Armee schlagfertig ist, das syrische Bahnnetz den schnellen Transport eines starken Heeres nach der ägyptischen Grenze gestattet, und auf der anderen Seite die anatolische Bahn ihre Fortführung bis Bagdad erfahren hat. [...] Dann kann die Türkei England ihre Bedingungen stellen, da ein Feldzug nach Ägypten für sie nicht schwer ist, und selbst ein Angriff auf Britisch-Indien nicht mehr zu den Unmöglichkeiten gehört. Wenn es 1739 Nadir Schah vor Persien gelang, mit einem grossen Heere von den heutigen türkischen Grenzen aus siegreich bis Dehli vorzudringen, so ist nicht abzusehen, warum zwei Jahrhunderte später nicht das Gleiche einem weit besser ausgerüsteten türkischen Heere gelingen sollte; [...] Die Frage, wie die Türkei bei einem allgemeinen kriegerischen Zusammenstosse in Europe in Rechnung zu stellen sei, ist jetzt keine müssige mehr. Gegen Russland kann sie uns nützlich werden, doch bedürfen wir ihrer nach dieser Seite hin nicht unbedingt; denn dort ist uns selbst der Gegner erreichbar. Gegen England aber, das uns unmittelbar nicht erreichbar ist, kann ihre Bundesgenossenschaft für uns von höchstem Werte sein. Sie kann die britische Macht an zwei seiner empfindlichen Stellen erfolgreich treffen.“52

Über die Frage, wie eine umfassende Revolutionierung Indiens auf dem Subkontinent selbst indes praktisch bewerkstelligt werden sollte, konnte von der Goltz indes auch nicht befriedigend beantworten. In diesem Punkt liegen klare Kontinuitäten für Zeit bis 1945 vor. Keiner der deutschen Aufstandspropheten in der ganzen Epoche der Weltkriege hatte realistische Vorstellungen oder gar Konzepte, wie denn das konfliktreiche Völkergemisch in Kleinasien, Nordafrika, Arabien und Persien stabil in einem Imperium regiert werden sollte. Im militärischen Bereich blieb von der Goltz indes einer der wenigen, die wirklich geostrategisch dachten und zumindest ansatzweise hier auch Modelle vorstellten, hier insbesondere gerade die Vorstellungen eines Angriffs gegen Indien. Die deutsche Kriegführung, auch darin bestehen eindeutige Kontinuitäten, blieb im Gegensatz zur britischen Seite bis zum bitteren Ende 1945, bei allen Weltreichsphantasien vor allem Adolf Hitlers, letztlich stets einer – global betrachtet – begrenzten kontinentalen Kriegführung verhaftet. Im Zentrum stand jeweils immer der direkte operative Erfolg gegen den jeweiligen Nachbarn (Polen, Frankreich, Russland) und weniger eine wirkliche weltumspannende Strategie. Von der Goltz hat trotz seiner einflussreichen Schriften, seines hohen Bekanntheitsgrades und seiner Tätigkeit gerade auch im Ersten Weltkrieg im Rahmen des deutschen Vorgehens im Orient selbst daran nie wirklich etwas ändern können. 52

Bericht des Generaloberst Freiherr von der Goltz über seinen Aufenthalt in der Türkei im Oktober und November 1910, 18.12.1910, S. 12f., in: BA-MA, N 737/5. Dieses Dokument enthält eine der deutlichsten Aussagen von der Goltzens über seine globalen Kriegspläne und stellt daher eine Schlüsselquelle dar.

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„Wir standen mit der Zukunft im Bunde“. Rudolf Nadolny, das Auswärtige Amt und die deutsche Persienpolitik im Ersten Weltkrieg Ende der 1920er Jahre saß der Botschaftsrat Wipert von Blücher nach eigenem Empfinden zunehmend perspektivlos an der deutschen Botschaft in Buenos Aires fest. Seinem Mentor und väterlichen Freund Rudolf Nadolny, mit dem er während des Ersten Weltkriegs in diplomatischer Mission in Persien aktiv gewesen war, schrieb er auf dessen vorsichtige Frage nach seiner beruflichen Zufriedenheit, „[dass] eine Frühstückspause in unserer persischen Aktion interessanter [war] als ein ganzes Jahr Arbeit in Argentinien.“1 Auch im autobiographischen Schrifttum beider Männer, das auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht, kommt Persien – wie überhaupt dem gesamten Orient – eine zentrale Rolle zu. Die Region ist dabei fraglos mehr als ein klischeehaft verdichteter Abenteuerspielplatz, auf dem sich die Erwartungen und Phantasien wilhelminischer Diplomaten ausleben ließen – mehr als die Kulisse für jenes „vast system of outdoor relief for the upper classes“, als das John A. Hobson den britischen Imperialismus seiner Zeit empfand.2 Obgleich auch dieses Moment bei Oriententhusiasten wie Blücher und Nadolny, ganz zu schweigen vom sich „legendentauglich selbst inszenierenden“ Max von Oppenheim, ein ums andere Mal zu finden ist, scheint der eigentliche Antrieb doch woanders zu liegen.3 Was Nadolny und Blücher am Vorderen Orient und zumal an Persien in erster Linie faszinierte, war der Handlungs- und Gestaltungsspielraum, der sich vor dem Hintergrund eines zunehmend globalen Krieges geradezu plötzlich ergab. Wann etwa war es kaiserlichen Diplomaten davor möglich gewesen, Revolutionen und Revolten zu lancieren, Kriege, wenn auch auf bescheidenem Niveau, zu unterhalten, Staatswesen zu kreieren und den großen Imperialmächten der Region zumindest temporär den Rang abzulaufen? Mit Rudolf Nadolny (1873–1953) steht dabei einer der wesentlichen Vordenker deutscher Mittelostpolitik im Zentrum der Betrachtung. Als Chef der Sektion Politik des Generalstabes des Feldheeres war Nadolny von 1915 an 1 2 3

Blücher an Nadolny, 3.9.1927, in: PA/AA, NL Rudolf Nadolny, Bd. 102, Briefwechsel Nadolny-Blücher (1917–1929). John A. Hobson, Imperialism: A Study. London 1902, S. 51. Martin Kröger, Max von Oppenheim im Auswärtigen Dienst, Vortrag gehalten vor der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank e.V., 17.6.2011, in: http:// www.bankgeschichte.de/de/docs/Vortrag_Kroeger.pdf, Abruf 25.06.2013.

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bemüht, Einfluss auf die Mittelostpolitik Berlins zu nehmen, bevor er Mitte 1916 auf eigenes Betreiben hin vom Auswärtigen Amt als Geschäftsträger in den von den Mittelmächten kontrollierten Teil Persiens entsandt wurde. Die Etablierung einer Gesandtschaft in Kermanschah im äußersten Westen Persiens war Teil der auch von Nadolny beförderten deutschen Revolutionierungsstrategie im Nahen und Mittleren Osten. Im konkreten Fall Persiens war dieses Vorgehen darauf abgestellt, eine von den Mittelmächten geschaffene, vermeintlich provisorische Gegenregierung zu stützen und Persien sukzessive der Kontrolle Russlands und Großbritanniens zu entziehen. Im Zentrum deutscher Persienpolitik standen weniger expansionistische Erwägungen als das Interesse, die strategisch wichtige Verbindung nach Afghanistan aufrechtzuerhalten und mit Persien als eventuellem Sprungbrett für eine Invasion Indiens zusätzlichen Druck auf Großbritannien auszuüben. Erschien Nadolnys Mission anfänglich von der Kriegsentwicklung begünstigt, so folgte mit der Wende im Kriegsgeschehen im Frühjahr 1917 das abrupte und unspektakuläre Ende einer an sich spektakulären diplomatischen Unternehmung. Sie steht paradigmatisch für die diplomatische Praxis des Krieges vor Ort, der sowohl politische, militärische und administrative Motive inhärent sind und die, wie es Nadolnys engster Mitarbeiter Blücher rückblickend pointiert, als der Versuch angesehen werden kann, ein „kleines Muster-Persien“ aufzubauen.4 Rudolf Nadolny war eine der schillerndsten Personen im deutschen auswärtigen Dienst zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“.5 1873 in Ostpreußen geboren, wurde Nadolny nach seinem Königsberger Jura-Studium 1902 in die konsularische Laufbahn des AA einberufen, in dessen Zuge er zunächst in den Jahren 1903 bis 1907 an das Generalkonsulat in St. Petersburg gelangte. Für Bürgerliche wie Nadolny und den weniger bemittelten Alt- oder Kleinadel bot die konsularische Ebene die Möglichkeit, dem AA beizutreten und dabei die exorbitant hohe finanzielle Eintrittshürde für den eigentlichen diplomatischen Dienst zu umgehen.6 Ambitionierteren und vor allem gut vernetzten Konsularbeamten glückte es dann in der Regel, über Protektion oder die eigene Profilierung in die diplomatische Laufbahn aufzusteigen. Dem ausgesprochen ehrgeizigen Nadolny gelang der Aufstieg zum Diplomaten, indem er sich für die Ausgestaltung der deutschen Persienpolitik in der Frühphase des Ersten Weltkriegs erst unabdingbar machte, um dann die von ihm eigens betriebene Versetzung in den Orient an eine Übernahme in die diplomatische Laufbahn 4 5 6

Wipert v. Blücher, Zeitenwende in Iran: Im Brennpunkt der Weltpolitik: Persien. Biberach a. d. Riss 1949, S. 107. Immer noch maßgebend in seiner Darstellung Nadolnys: Günter Wollstein, Rudolf Nadolny – Außenminister ohne Verwendung, in: VfZ 28, 1980, S. 47–93. Nadolny beziffert die Höhe auf ein Jahreseinkommen von 15.000 RM; vgl. Rudolf Nadolny, Mein Beitrag. Erinnerungen eines Botschafters des Deutschen Reiches (hrsg. v. Günter Wollstein). Köln 1985, S. 44. Diese kritische Edition wird hier der älteren Fassung, an deren Zustandekommen Blücher wesentlichen Anteil hatte, vorgezogen: Mein Beitrag (hrsg. v. Änny Nadolny). Wiesbaden 1955.

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koppeln zu lassen. Profiliert durch sein Vorgehen in Persien wurde er noch im Krieg Russland-Referent des AA, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg Gesandter in Stockholm, Mitte der 1920er Jahre Botschafter in der Türkei, Leiter der deutschen Delegation auf der Genfer Abrüstungskonferenz und schließlich seit Ende 1933 deutscher Botschafter in Moskau, bis Nadolny nach einem scharfen Konflikt mit Hitler über die Ausgestaltung der deutsch-sowjetischen Beziehungen im Juni 1934 aus eigenen Stücken von seinem Moskauer Posten zurücktrat und in den Ruhestand versetzt wurde. Nach der alliierten Okkupation des Ostteils Deutschlands war Nadolny bemüht, einer Teilung des Reichsgebiets und der drohenden Zweistaatlichkeit vorzubeugen. Seit dem Frühjahr 1945 kam ihm die Rolle eines deutschlandpolitischen Mittlers zwischen der sowjetischen Besatzungsverwaltung in Berlin und den Trägern westalliierter und -deutscher Interessen zu. Durch mehrere Denkschriften zur deutschen Frage versuchte er letztlich vergeblich, Einfluss auf die Gestaltung des nachkriegsdeutschen Staates zu gewinnen und die Souveränität eines einheitlichen deutschen Nationalstaats zu bewahren. Auch nach seiner Umsiedlung nach Westdeutschland in den späten 1940er Jahren blieb die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands die zentrale Prämisse im politischen Handeln des vormaligen Botschafters. 1953 verstarb Nadolny im Alter von 79 Jahren in Düsseldorf.7

Rivalisierende Konzeptionen deutscher Orient- und Persienpolitik Mit Persien als wirtschaftlichem wie politischem Faktor der deutschen Außenpolitik kam Nadolny bereits durch seine im Mai 1907 erfolgte Versetzung in das Osteuropa-Referat der handelspolitischen Abteilung in Berührung, in dem neben dem Balkan, der Türkei und Italien auch die persischen Angelegenheiten betreut wurden. 1913 befand sich Nadolny zudem für zweieinhalb Monate in der Region, so u. a. in Nordpersien, um dort in Zusammenarbeit mit den russischen Behörden die Möglichkeiten zur Einrichtung eines Berufskonsulats zu prüfen.8 Den Auftakt des Weltkriegs nutzte Nadolny, um sich in orientpolitischer Hinsicht in das Zentrum der Entscheidungsfindung in Berlin vorzuarbeiten. Mit Kriegsausbruch meldete er sich wie viele seiner Berufsgenossen freiwillig zum Militärdienst und wurde Anfang Oktober 1914 mit der Leitung der Sektion Politik des Stellvertretenden Generalstabs der 7

8

Der biographische Überblick basiert auf: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945. Bd. III, Eintrag Nadolny. Paderborn 2008, S. 342 ff.; Wollstein, Nadolny, S. 47–93; Nadolny, Mein Beitrag, S. 127 ff. Bei einem Berufskonsulat handelte es sich im Gegensatz zu einem Wahlkonsulat um ein von einem von der Zentrale entsandten Berufsbeamten besetztes Konsulat. Vgl. Handbuch, Bd. I, S. XXX f.; ebd., Bd. III, Eintrag Nadolny, S. 342.

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Armee beauftragt. Bis zu seiner Versetzung nach Persien Mitte 1916 versah er diese Tätigkeit, die u. a. die Planung und Umsetzung deutscher Orientpolitik umfasste, mit nur schwach verhohlener Ambition und trug damit dazu bei, dass der Sektion Politik zunehmend größere Bedeutung zukam.9 Durch die Verwendung Nadolnys in militärischer Funktion blieben die konzeptionelle Entwicklung und nicht zuletzt auch ein Teil der praktischen Umsetzung der Revolutionierungsstrategie im Verantwortungsbereich des AA, insbesondere von dessen Politischer Abteilung, der mit Unterstaatssekretär (UStS) Arthur Zimmermann zudem ein enger Vertrauter des Kaisers vorstand.10 Mit Kriegsausbruch hatte Berlin von der „peripheren Strategie“ der Vorkriegsjahre – jener gemeinsam mit London verfolgten Sicherung des Status quo im Orient – Abstand nehmen müssen.11 Noch vor dem Eintritt der Pforte in den Krieg auf Seiten der Mittelmächte verblieb die „Rettung der Türkei“ als einziger Teil der deutsch-englischen Vorkriegsverständigung im Orient auf der Agenda der Reichsleitung. Was ursprünglich konzeptionell weiter gefasst war, reduzierte sich in Anbetracht des „unbewußten Versuchs, mit England um die Weltherrschaft zu ringen“, auf seinen militärstrategischen Gehalt.12 Die Reichsleitung sah sich durch den Konflikt nun erstmals in der Lage, das anti-koloniale und damit implizit pro-deutsche Gefühlsgemenge in den islamischen Gesellschaften gegen die Kolonialmächte gezielt forcieren zu können – ein Gemenge, das nicht unwesentlich von der Orientreise des Kaisers 1898 befeuert worden war.13 Dass Persien in der deutschen Orientpolitik vor dem Krieg eine lediglich sekundäre Rolle zukam, war zu einem nicht unerheblichen Teil auch dem Umstand geschuldet war, dass es sich in den Plänen Berlins nicht als machtpolitische und territoriale Entität behandeln ließ.14 Persien war bereits zu Anfang des Jahrhunderts unter imperialer Einwirkung Russlands und Großbritanniens in eine russische Einflusssphäre im Norden, den britisch kontrollierten Süden und ein vertracktes Konglomerat von tribalen Territo9 10

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Zentral stellte sich dabei auch der Umstand dar, dass Nadolny unmittelbares Vortragsrecht beim Generalstabschef des Feldheeres besaß; vgl. Nadolny, Mein Beitrag, S. 85. Blücher, Iran, S. 18; Nadolny, Mein Beitrag, S. 85 ff.; Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918. Düsseldorf 1961 [TB 1984], S. 110 f. Vgl. u. a. Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871–1914. München 1984, S. 329 ff.; Hew Strachan, The First World War, Bd. 1: To Arms. Oxford u. a. 2001, S. 694. Reichswehrminister (und Weltkriegsgeneral) Wilhelm Groener retrospektiv in einem Vortrag über die Lage im Großen Hauptquartier am 19.5.1919, zit. nach Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Düsseldorf 1969, Einleitungszitat. Jan Stefan Richter, Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898 – Eine Studie zur deutschen Außenpolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert. Hamburg 1997; Klaus Jaschinski/Julius Waldschmidt (Hrsg.), Des Kaisers Reise in den Orient 1898. Berlin 2002. Vgl. Strachan, First World War, S. 772.

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rien und Loyalitäten in der Mitte des Landes zerfallen. Regierung und Schah, ein, so Blücher, „indolenter und korpulenter Jüngling“, waren von London und St. Petersburg 1907 mit dem Abschluss der Tripel-Entente und der ihr zugrundeliegenden Beilegung vorhandener Differenzen in Mittelost eines Großteils ihrer Autorität beraubt worden.15 Die Behauptung eines Rests an effektiver staatlicher Gewalt im mittleren Teil Persiens wurde schließlich durch die in den ersten beiden Kriegsjahren kulminierende innere Polarisierung des Landes untergraben, die sich ihrerseits aus dem Antagonismus von nationalem Parlament und de facto autokratisch regierender Exekutive nährte.16 Im Bewusstsein, selber nur wenig mehr als ein Spielball imperialer Interessen zu sein, bemühte sich die häufig wechselnde persische Regierung darum, Persien jenen Rest an staatlicher Souveränität zu bewahren, der dem Land trotz der Präsenz russischer und englischer, zunehmend auch osmanischer Truppen noch verblieben war. Eine möglichst flexible, notorisch abwartende und die imperialen Vertreter vor Ort bis zur Unerträglichkeit hinhaltende Neutralitätspolitik schien angesichts dessen die einzige Option zu sein. Eine Politik aber, „die bewusst alles offen ließ“, konnte bei den Besatzungsmächten Russland und Großbritannien ebenso wenig Widerhall finden wie unter Türken und Deutschen, deren strategisches Interesse es war, über Konstantinopel und über ein gesichertes Persien eine Landverbindung nach Afghanistan und auf den indischen Subkontinent herzustellen.17 Ab dem Frühjahr 1915 formulierte Nadolny in seiner Funktion als Leiter der Sektion Politik des Generalstabs die Prämissen dieser Strategie und forderte zunehmend ungeduldig deren Umsetzung. Ermutigt durch die allgemeine Kriegslage und die Berichterstattung deutscher Diplomaten vor Ort – vor allem des kommissarischen Leiters der Gesandtschaft in Teheran, Legationssekretär Radolf von Kardorff, und des dortigen außerordentlichen Militärattachés Georg Graf von Kanitz – ging Nadolny davon aus, dass sich den Mittelmächten nunmehr die Gelegenheit böte, um „in Persien energisch vorzugehen“ und solcherart den ins Auge gefassten „Brand vom Kaukasus bis Kalkutta zu entfachen“ – ein Flächenbrand, der Kaukasier, Perser, Afghanen und Inder gleichermaßen umfassen sollte und von Russland und Großbri-

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Blücher, Iran, S. 15. Zum russisch-britischen Imperialismus in Persien vgl. u. a. Firuz Kazimzada, Russia and Britain in Persia, 1864–1914: A Study in Imperialism. New Haven/London 1968; Efraim Karsh/Inari Karsh, Empires of the Sand: The Struggle for Mastery in the Middle East, 1789–1923. Cambridge, MA 1999, S. 105 ff.; zuletzt auch Piotr Szlanta, Die deutsche Persienpolitik und die russisch-britische Rivalität 1906–1914. Hamburg 2006, S. 15 ff. und 45 ff. Ulrich Gehrke, Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkriegs, Bd. I, Stuttgart 1960, S. 98. Der folgende Abschnitt basiert zu großen Teilen auf Gehrkes überzeugenden und quellengesättigten Ausführungen zur deutschen Persienpolitik vor Nadolnys Eintreffen in der Region Mitte 1916.

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tannien nicht mehr zu kontrollieren wäre.18 Ein ums andere Mal bemühte Nadolny sich im Laufe des Jahres, seine Vorgesetzten, vor allem Generalstabschef Erich von Falkenhayn, und das AA von der Notwendigkeit eines raschen militärischen Vorgehens zu überzeugen. An dessen Anfang hatte für ihn die Etablierung einer Landverbindung für den Waffen- und Munitionstransport in das Osmanische Reich und die angrenzenden Gebiete zu stehen. Als sich dies als mit der Kriegslage unvereinbar erwies, bestand er unter Verweis auf die vermeintlich günstige Gesamtsituation nichtsdestoweniger darauf, Persien unverzüglich zum Kriegseintritt auf osmanischer Seite zu veranlassen. Den englisch-russischen Pressionen Persien gegenüber setzte Berlin ab dem Frühjahr 1915 eine dezidiert aktivistische Politik entgegen, mit der das Land und seine politischen Eliten gegen die Ententemächte mobilisiert werden sollten. In Berlin gründete sich ein exilpersisches Komitee, dessen Koordination und finanzielle wie logistische Unterstützung maßgeblich auf Nadolny zurückgingen. Ein Istanbuler Pendant wurde von der deutschen Botschaft vor Ort mit unterhalten.19 Im Zentrum dieser Initiativen stand die deutsche Legation in Persien unter dem Gesandten Prinz Reuß (Heinrich XXXI., j. L.), der sich nach längerer Abwesenheit von Teheran dort wieder eingefunden hatte und nun gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Kardorff und Kanitz propagandistisch im Sinne der Berliner Vorgaben zu wirken versuchte. Angesichts der verfahrenen politischen Situation in Persien und der äußerst schwachen militärischen Ressourcen, über die man im Falle einer Eskalation hätte verfügen können, bemühte sich Reuß, die ursprünglich stark zuversichtliche Erwartung einer bevorstehenden deutsch-türkischen Übernahme Persiens zu relativieren und den zunehmend um sich greifenden Aktivismus auf deutscher, türkischer und auch persischer Seite ansatzweise einzudämmen. Doch bereits im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1915 entglitt dem Gesandten sukzessiv die Kontrolle über die Vorgänge im Land. Während deutsche Expeditionen weite Teile Süd- und West-Persiens unsicher machten und osmanische Truppen von Westen her auf persisches Staatsgebiet vordrangen, verschärfte sich auch die Lage in der Hauptstadt. Nach einem missglückten Coup Mitte November, dessen Ziel die Evakuierung von Schah, Hofstaat und Parlament aus dem unter russischer Kontrolle stehenden Teheran war, wurde Reuß mit seiner eher gemäßigten Lageeinschätzung von den Entwicklungen nahezu überrollt. Der von deutscher Seite im Verbund mit der entsprechenden pro-deutschen Hoffraktion eingefädelte Plan, den Schah aus dem Einflussbereich russischer Truppen zu bringen, scheiterte an einem Ursachenbündel aus mangelnder Vorbereitung, sofortiger britisch-russischer Pression und der Wankelmütigkeit des in seiner Autorität ohnehin stark beschädigten Schahs. Waren die Würfel jedoch einmal gefallen, ließ sich der gewaltsamen Revolutionierung Persiens 18 19

Zit. nach Gehrke, Persien, Bd. I, S. 99. Vgl. ebd., S. 88.

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nur noch sehr bedingt Einhalt gebieten. Vor diesem Hintergrund ging das Heft des Handelns im Herbst des Jahres auf die aktivistischeren Vertreter der Mittelmächte über, allen voran auf den Teheraner Militärattaché Kanitz, der bereits seit Monaten – unterstützt von dem vor Ort befindlichen Oskar Niedermayer – für radikalere Lösungen plädiert und deren Umsetzung in die Wege geleitet hatte. Der moderate Reuß hingegen machte sich in den Augen des AA noch zusätzlich unmöglich durch seine vermeintlich uncouragierte Weigerung, an die Seite des Schahs in das unter Kontrolle der Ententemächte stehende Teheran zurückzukehren.20 Ersetzt wurde er, wenn auch erst nach einem Interim von gut einem halben Jahr, durch den eigentlichen Aktivisten in Persien- und Orientfragen in Berlin, den fünf Jahre jüngeren Nadolny.21

In medias res: Von der Etablierung eines zweiten Persiens Mit dem Ausbruch offener Feindseligkeiten waren russische Truppen umgehend im Zentrum Persiens vorgerückt und hatten Teheran umschlossen, ohne die Hauptstadt des pro forma weiterhin neutralen Landes zu besetzen. Von dort ging man binnen kurzer Zeit erfolgreich gegen die von deutscher und osmanischer Seite gestützten nationalpersischen Kräfte vor. Letztere bildeten im Grunde nicht wesentlich mehr als ein Sammelsurium aus teilweise spontan mobilisierten und nur bedingt zuverlässigen Stammeseinheiten aus dem Westen des Landes, gebildet um eine kleine Zahl deutscher und osmanischer Offiziere sowie eine Reihe desertierter Truppenkontingente, unter denen Teilen der von schwedischen Offizieren seit Jahrhundertbeginn ausgebildeten persischen Gendarmerie die größte Bedeutung zukam. Letztere hatte, geführt von dem pro-deutschen Major Mohammad Taqi-Khan Pesyan, Ende 1915 einige Scharmützel mit russischen Truppen für sich entscheiden können und teilweise beträchtliche Landgewinne erzielt, so dass sich zeitnah in dem von nationalpersischer Seite kontrollierten Terrain eine provisorische Regierung konstituieren konnte. Um die Chimäre aufrechtzuerhalten, die Interessen des handlungsunfähigen Schah zu vertreten und somit den faktisch gegebenen Bruch mit Teheran auch formal herbeizuführen, entschied man sich gegen die explizite Bezeichnung Regierung und wählte stattdessen den unverfänglich 20

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Gehrke, Persien, Bd. II, S. 140 ff. und S. 200, dokumentiert den entsprechenden Passus im Telegramm des UStS Zimmermann, der Reuß daran erinnert, „dass Sie bei Schah akkreditiert und Teheran nur mit diesem oder nach etwaigem Bruch persischer Regierung mit uns zu verlassen haben.“ Gehrkes explizite Parteinahme zugunsten von Reuß – und die damit einhergehende mangelnde Empathie anderen Handelnden gegenüber – überzeugt in diesem Zusammenhang nur bedingt. Reuß‘ unmittelbarer Nachfolger Vassel kann trotz offensichtlicher fachlicher Qualifikation für die Aufgabe als Verlegenheitslösung gelten. Vgl. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 212.

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unbestimmten Begriff eines Komitees, hier des Komitee X. Zentrale Figur dieser ganz offensichtlichen Gegenregierung auf Seiten der Mittelmächte war – in Ermangelung von profilierten Alternativen – Nisam es Saltaneh, der Provinzgouverneur von Lorestan. Die praktische Abhängigkeit der nationalpersischen Gegenregierung von der Protektion der Mittelmächte und vor allem Deutschlands wurde zudem durch ein formales Bündnis ergänzt, das Reuß‘ nur provisorisch installierter Nachfolger vor Ort, Vassel, mit Nisam es Saltaneh schloss und in dem der Regierung umfängliche materielle Unterstützung, vor allem Geld und Waffen, in Aussicht gestellt wurden.22 Gegen das Vorrücken russischer Verbände erwiesen sich diese anfänglich eher symbolpolitischen Gesten und Absichtserklärungen als fruchtlos. Desorganisiert und nicht selten mit dem plötzlichen Abfallen vermeintlicher Bündnispartner konfrontiert, sah sich das alternative Persien unter dem wachsenden russischen Druck gezwungen, das Terrain südlich und unmittelbar westlich von Teheran zu räumen und sich schließlich selbst von Kermanschah in den äußersten Westen – in den unmittelbar vor der Grenze zum osmanischen Machtbereich gelegenen Gebirgsort Kasr-i-Schirin – zurückzuziehen. „Hier installierte Nisam es Saltaneh seine Regierung, Herr Vassel seine Gesandtschaft und Oberst Bopp sein Hauptquartier.“23 Den ursprünglichen Bestrebungen Nadolnys und der Gesandtschaft vor Ort, ein formales Bündnis zwischen den Mittelmächten und der Teheraner Regierung zustande zu bringen, war durch die russische Herbstoffensive ein abruptes Ende bereitet worden. Was blieb, war ein de facto entlang der Scheidegrenzen des großen Kriegs gespaltenes Persien, dessen nationalpersischer, von den Mittelmächten abhängiger Teil in rapider Auflösung begriffen und sich zudem über die eigene Rolle höchst unklar war. In der Rückschau erfasst Wipert von Blücher den zementierten Bruch der politischen Lager in Persien, ausgelöst durch den gescheiterten Putsch, in eingängiger Form: „Die Tragweite dieses Ereignisses für die Weiterentwicklung kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Bisher gab es zwei Persien: das offizielle, das die Regierung mit den zu ihr haltenden Kreisen darstellte und sich neutral verhielt, sowie das inoffizielle, das die nationalen Kräfte umfasste und den Boden der Neutralität mehr und mehr verließ. Aber es bestand die Möglichkeit, dass das offizielle Persien sich eines Tages mit dem inoffiziellen solidarisch erklärte. Jetzt wurden aber die beiden Persien durch den Vormarsch der russischen Truppen, die Teheran zwar nicht besetzten, aber von der Außenwelt abriegelten, von22

23

Grundlage hierfür waren die losen Vereinbarungen, die Kanitz im Rahmen der Mobilisierung mit den nationalpersischen Kräften getroffen hatte, nach denen das Deutsche Reich eine auf Seiten der Mittelmächte agierende persische Gegenregierung mit umfangreichen Waffenlieferungen und Geldmitteln unterstützen würde. Als Knackpunkt erwies sich dabei in erster Linie die Auslieferung der bereits 1912 von Teheran aufgekauften Waffenkontingente (ca. 20 000 Gewehre und 6 Maschinengewehre) an die Regierung Nisam es Saltaneh, die erst Anfang 1916 eintrafen. Blücher, Iran, S. 36.

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einander getrennt, und ein Zusammenschluss lag außerhalb dem Bereich der politischen Möglichkeiten, solange diese militärische Lage bestand.“24 Der Schah und seine Regierung, ob nun durch Zwangsmaßnahmen der Entente zum Verbleib in Bagdad gezwungen oder primär beeindruckt vom Erfolg der russischen Offensive, wurden von den Entwicklungen der folgenden Monate in ihrer realpolitisch motivierten Hinwendung zu den Ententemächten bestärkt. Auch wenn es deutschen Agenten, größtenteils Abspaltungen der beiden Afghanistan-Missionen um Niedermayer und Hentig, in der Zeit vom Sommer 1915 bis hinein ins Frühjahr 1916 gelang, eine nicht unbeträchtliche Anzahl lokaler Brandherde, vor allem in Zentralpersien, zu entfachen, waren diese Unternehmungen ohne eine substantielle militärische Komponente von vornherein zum Scheitern verurteilt: ihre Stärke lag nämlich nicht, wie von einigen Akteuren auf deutscher Seite irrtümlich angenommen, im militärischen Bereich, sondern vielmehr ausschließlich in ihrer psychologischen Außenwirkung. Jenes kurzzeitig wirkmächtige psychologische Kraftfeld, eingefasst in die avisierte Revolutionierung des Orients insgesamt, schwand abrupt, sobald man sich einem militärisch überlegenen und durch den gescheiterten deutschen Coup von Mitte November auf einmal handlungsfähigen Gegner wie der russischen Armee gegenübersah. So hatte sich denn auch die provisorische Regierung Anfang 1916 angesichts des russischen Vorrückens in Westpersien und einer breit angelegten britischen Offensive im Süden Mesopotamiens bis Bagdad zurückgezogen und harrte dort untätig ihrer Rückkehr auf persisches Staatsgebiet. Die Verschlechterung der militärischen Lage und die zunehmende Verdrängung des deutschen Einflusses in Persien nutzte Nadolny zur Mitte des Jahres 1916, um sich vom Generalstabschef in den Orient abkommandieren und mit der Vertretung deutscher Interessen bei der nationalpersischen Regierung betrauen zu lassen. So plädierte er gegenüber Falkenhayn mit ganz unverhohlener Ambition dafür, er werde selber nach Persien gehen und vor Ort sehen, „was gemacht werden kann“.25 Aufgrund dieser Züge einer Selbstermächtigung tragenden Bereitschaft, lokal in die persische Gemengelage einzugreifen, wurde Nadolny zwar kurzerhand zum Rapport zum Unterstaatssekretär des AA bestellt, erhielt aber gleichwohl von diesem die Zusage, dass man ihn als Geschäftsträger nach Persien gehen lasse und die Ernennung zum Gesandten nachsenden werde, vorerst möge er als Geschäftsträger hinuntergehen. Ende Juli 1916 reiste Nadolny dann aus Berlin ab mit Zwischenstopp in Konstantinopel, wo Nadolny auf den auch im weiteren Verlauf der Persien-Aktion um ein vergleichsweise moderates Vorgehen bemühten deutschen Botschafter Paul Graf Wolff-Metternich stieß, der auf den verstorbenen Wangenheim gefolgt war. Auf dessen wenig kaschierte Warnung, Nadolny solle vorsichtig sein im Umgang mit Saltaneh und dessen Regierung, 24 25

Ebd., S. 26. Nadolny, Mein Beitrag, S. 89.

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versicherte dieser, dass es ihm in allererster Linie auf die Verbindung nach Afghanistan und die Bedrohung Indiens ankomme, „ganz Persien für uns zu gewinnen“ sei schließlich nicht seine Intention.26 Auf der Weiterreise nach Bagdad, wo Nadolny Ende August 1916 die Geschäfte der Gesandtschaft übernahm, rekrutierte er das Personal seiner Mission, u. a. den an Dysenterie erkrankten Blücher als künftigen Legationsrat, der sich seit einigen Monaten in der Region befand und als Offizier an den osmanisch-deutschen Operationen unter Oberst Arthur Bopp in Persien teilgenommen hatte. Zum Kernpersonal der künftigen Gesandtschaft gehörte zudem der Archäologe und Orientalist Friedrich Sarre, der durch seine rege Ausgrabungstätigkeit in Kleinasien, Mesopotamien und Persien über eine mehr als fünfzehnjährige Orienterfahrung verfügte und nun die Nachfolge gleich zweier plötzlich verstorbener Militärattachés anzutreten hatte: zum einen des bei den Rückzugsgefechten in Westpersien zu Jahresanfang verschollenen Kanitz, zum anderen des vor Dienstantritt bereits in Bagdad verstorbenen Wichard Graf von Wilamowitz-Moellendorff.27 In Ersetzung des Bonvivant Wilamowitz, dessen plötzlicher Tod offenbar auf einen, so Nadolny, durch eigene Unvorsichtigkeit verschuldeten Herzschlag zurückging, sollte Sarre die Mission Nadolnys mit seiner lokalen Erfahrung, auch im Umgang mit den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Region, bereichern. Gerade in der kulturell vergleichsweise komplexen Interaktion mit Türken und Persern schien einem Großteil der an der deutsch-osmanischen Zusammenarbeit Beteiligten die notwendige Sensibilität abzugehen. Angesichts dessen hatte Wilamowitz in seinem letzten Bericht an Nadolny, einem umfangreichen Privatbrief vom 10. Juli 1916, das deutsche Personal an Militärs und Diplomaten vor Ort einer schonungslosen Generalkritik unterzogen.28 Defizite wiesen vor allem die nach Mesopotamien entsandten und im Jahresverlauf 1915/16 in Persien agierenden deutschen Offiziere und nicht zuletzt deren Kommandeur Bopp auf. Von ihrer Sozialisation her, die sich in erster Linie im kleinstädtischen, universitären, später dann militärischen Milieu erschöpfen würde, seien die zumeist sehr passiven deutschen Militärs vor Ort nur bedingt empfänglich für die ihnen von türkischer Seite erwiesene „Warmherzigkeit“. Es sei daher, so Wilamowitz, zu „einer ganzen Reihe von 26 27

28

Ebd., S. 92 f. Kanitz‘ Tod ist weder zeitnah noch von der Forschung abschließend zu klären gewesen. Es scheint erwiesen, dass Kanitz sich nach dem Scheitern des von ihm maßgeblich losgetretenen Aufstands bei versprengten westpersischen Stammeskriegern aufhielt und sich entweder selber das Leben nahm oder von diesen umgebracht wurde. Seine sterblichen Überreste konnten auch von Nadolny und der neuen Gesandtschaft nicht gesichert werden. Als Kanitz‘ Nachfolger hatte Nadolny ursprünglich den Militär Wichard Graf von Wilamowitz-Moellendorff vorgesehen, der allerdings – wohl an einem Hitzeschlag – Mitte 1916 plötzlich in Bagdad verstorben war. Vgl. ebd., S. 89 ff. Wilamowitz an Nadolny, 10.7.1916, in: PA/AA, R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916).

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Taktlosigkeiten und Ungeschicklichkeiten unsererseits“ gekommen, die das deutsch-türkische Arbeitsverhältnis nachhaltig belaste. Über diesen „dunklen Punkt“ hinaus, wie Wilamowitz die sich bis dato kompliziert gestaltende Zusammenarbeit resümierte, sei er aber für die zukünftige politische Arbeit Nadolnys positiv gestimmt, bestehe doch zwischen Nisam es Saltaneh und den deutschen wie türkischen Repräsentanten „volles Einvernehmen“ über die persische Sache als solche. Untereinander gerieten indes auch die deutschen Akteure, die völlig unterschiedliche Ambitionen, persönliche Ziele und individuelle Herangehensweisen in Einklang zu bringen hatten, in Konflikt. Kritik an einer vermeintlich unnötig offensiven Orientpolitik war in der Regel stark mit der deutschen Botschaft in Konstantinopel und dem bereits erwähnten neuen Missionschef Wolff-Metternich verbunden.29 Dies dürfte zum einen der osmanischen Perspektive geschuldet sein, die sich die deutsche Botschaft an der Hohen Pforte in Rücksichtnahme auf den Bündnispartner zu eigen machte, zum anderen auch dem Naturell Wolff-Metternichs, das außenpolitische Mäßigung und Deeskalation im diplomatischen Verkehr „weltpolitischer“ Rhetorik vorzog. Nadolny hingegen konnte zumindest zeitweise auf die Protektion durch die Zentrale rechnen und fand ebenfalls Unterstützung bei den Militärs, insbesondere beim einflussreichen deutschen Militärbevollmächtigten in Konstantinopel, Generalmajor Otto von Lossow, der „eifersüchtig“ über seine militärpolitische Zuständigkeit für das Osmanische Reich wachte und, wie Nadolny, Anhänger einer offensiveren Orientpolitik war.30 Auch der Militärbevollmächtigte der neu instituierten Irak-Gruppe, Generalleutnant Oskar Gressmann zeigte sich vergleichsweise rezeptiv und bemühte sich um ein gutes Dienstverhältnis zu Nadolny. Obgleich nicht Bestandteil der IrakGruppe, in der sämtliche deutschen Expeditionen der letzten Monate und die in türkischen Verbänden eingebauten deutschen Militärkontingente zusammengefasst waren, war das militärische Vorgehen nach Befehlslage „in enger Fühlung“ mit dem deutschen Gesandten abzustimmen, dem die Funktion des zentralen politischen Vertreters vor Ort zukam.31

29 30 31

Vgl. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 220 f. und 234. Zu Lossow vgl. – neben Gehrkes Hinweisen – Franz Menges, Otto von Lossow, in: NDB, Bd. 15, Berlin 1987, S. 204 f. (Zit.). Chef des Generalstabes des Feldheeres an dt. Irak-Gruppe, 22.9.1916, in: PA/AA, R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916); auch Gehrke, Persien, Bd. II, S. 354 f. (Dok. D-33).

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Nadolnys Mission in Kermanschah – oder: Wie gründet man einen Staat? Die ursprünglich vertrackte Ausgangslage Nadolnys, Persienpolitik ohne effektiven Zugriff auf Persien betreiben zu müssen, verbesserte sich in Anbetracht des Kriegsverlaufs in der ersten Jahreshälfte zunehmend. Nach der auch von Goltz und der deutsch-türkischen Militärführung als Katastrophe wahrgenommenen Aufgabe Westpersiens und der Formierung substantieller britischer Truppenkontingente im Süden Mesopotamiens gelang dem osmanischen Militär unter Goltz’ bereits zeitgenössisch mythisierter Führung der Befreiungsschlag. Bei Kut schlug die 6. Osmanische Armee die von britischer Seite aufgebauten South Persian Rifles Ende April 1916 entscheidend und stieß danach sukzessive in persisches Terrain vor. Im Grunde zeitlich koinzidierend mit Nadolnys Ankunft in der Region übernahmen osmanische Truppen Kermanschah und bewegten sich von dort in Richtung Teheran. Angesichts russischer Gegenwehr stabilisierte sich der Frontverlauf etwas nordöstlich von Hamadan, ca. 350 Kilometer vor Teheran; Westpersien befand sich erneut in deutsch-türkischer Hand.32 Die nationalpersische Regierung unter Nisam es Saltaneh nutzte den entstandenen Handlungsspielraum und verlegte sich, begleitet von Pesayns persischer Gendarmerie, Mitte August nach Kermanschah zurück. Nadolny und seine auf volle Stärke angewachsene Gesandtschaft folgten wenige Wochen später aus Bagdad und bezogen Anfang September eines der repräsentativeren Häuserensembles von Kermanschah als Missionsgebäude.33 Hier begann nun, wie Nadolny seine eigentliche Ambition zur diplomatischen Bewährung eindeutig zu maßvoll kaschiert, die „bescheidene, aber doch notwendige Arbeit für [die] deutsche Sache“ vor Ort in Persien.34 Zur Gesandtschaft gehörten neben dem Geschäftsträger dessen Stellvertreter Blücher, der durch Nadolnys Rekrutierung in Konstantinopel den Rang eines Legationsrats übertragen bekam und somit – wie im übrigen Nadolny selber – effektiv von der konsularischen in die diplomatische Laufbahn gewechselt war, der bereits erwähnte neue Militärattaché Sarre als Senior der Mission und die notwendigen lokalen Fachkräfte, u. a. persische Dolmetscher und die Dienerschaft der Gesandtschaft.35 Nadolnys Gesandtschaftspersonal vergrößerte sich 32 33 34 35

Nadolny an AA, 16.9.1916 (über Botschaft Konstantinopel, 21.9.1916), in: PA/AA, R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916). Ders. an AA, 4.9.1916, in: ebd.; Nadolny, Mein Beitrag, S. 95; Blücher, Iran, S. 65. Ders. an AA, 13.9.1916, in: ebd., R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916–3/1917). Ders. an AA, Oktober 1916 u. 19.10.1916, in: ebd., R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916); vgl. auch Blücher an Nadolny, Oktober 1917 (1. Brief aus Aleppo), in: ebd.: NL Nadolny, Bd. 58, in dem Blücher von dem „guten Vater Sarre“ spricht, den er in seiner Gelehrtenexistenz als gänzlich unorganisiert beschreibt; Blücher, Iran, S. 62 ff.; Nadolny, Mein Beitrag, S. 93 f.

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zudem durch den Umstand, dass sich im Laufe der kommenden Wochen Teile der versprengten Afghanistan-Expedition und der Teheraner Mission in Kermanschah einfanden, unter diesen die Dragomans von Druffel und Seiler, der Expeditionsarzt Hintze, der Expeditionsfunker Fasting und nicht zuletzt auch der ursprünglich in Teheran aktive Kardorff, der aber zeitnah nach Deutschland abberufen wurde.36 Gehrke konstatiert zurecht, dass es sich bei Nadolnys Missionspersonal um eine zwar kleine, aber durchaus „wohl abgestimmte Mannschaft“ handelte. Der einzige wirkliche Misston innerhalb des Gesandtschaftsgefüges ging auf den allgemein als egomanisch empfundenen Niedermayer zurück, der – nach seiner spektakulären Rückkehr aus Afghanistan Anfang September 1916 – bei Nadolny anfänglich unterkam, sich aber von diesem und dessen Persienpolitik distanzierte und in der Folge an die IrakGruppe abgegeben wurde.37 Niedermayers „Frondieren“ gegen den Geschäftsträger und die Gesandtschaft, wie Blücher es zeitnah beschreibt, schien eine Zusammenarbeit ohnehin recht bald unmöglich zu machen.38 In enger Verbindung mit den deutschen Militärstellen vor Ort war man bemüht, ein „kleines Muster-Persien“ zu errichten, wie Blücher das offenbar zeitgenössische Empfinden wiedergibt.39 Nadolnys Vision sah vor, ein modernes Staatswesen auf der Grundlage europäischer Nationalstaatsprämissen zu schaffen, dem durch die explizite Übertragung der Regierungsgewalt auf politisch vermeintlich legitimierte persische Notabeln ein dezidiert post-imperialer Charakter anhaften sollte. Insofern war das alternative Staatsgebilde von Kermanschah auch als Gegenentwurf zu den im Allgemeinen als vormodern und despotisch empfundenen Herrschaftsstrukturen um den Schah in Teheran zu verstehen. Da sich Staat ohne Institutionen nicht machen lässt, stand deren Etablierung im Zentrum der Anstrengungen. Hierzu gehörte auch, einen komplexen Regierungs- und Verwaltungsapparat aufzubauen, der sich in die Abteilungen Finanzen, Post, Inneres, Äußeres, Handel, Justiz, Öffentliche Arbeiten und Krieg gliederte und von einer unter deutscher Führung stehenden Nationalbank komplettiert wurde.40 Nisams Regierung setzte sich dabei aus einer Mischung von Familienmitgliedern, engen Vertrauten und – als Konzession an die Demokraten – Oppositionspolitikern zusammen, wobei

36 37

38 39 40

Detailliert Gehrke, Persien, Bd. I, S. 288 ff. Vgl. Nadolny, Mein Beitrag, S. 96 f.; Oskar v. Niedermayer, Unter der Glutsonne Irans – Kriegserlebnisse der deutschen Expedition nach Persien und Afganistan. Dachau 1925, S. 231; Blücher, Iran, S. 86 ff.; Gehrke, Persien, Bd. I, S. 290 ff.; Renate Vogel, Die Persien- und Afghanistanexpedition Oskar Ritter v. Niedermayers 1915/16. Osnabrück 1976, S. 112 ff. Blücher an Nadolny, 24.9.1917, in: PA/AA, NL Nadolny, Bd. 58. Blücher, Iran, S. 107. Vgl. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 272 f. (auf Grundlage der einschlägigen Berichterstattung Nadolnys).

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zentrale Ministerien wie das Außen- und das Kriegsministerium symptomatischerweise an seinen ältesten Sohn und seinen Schwiegersohn übergingen.41 Mit Priorität wurde zudem der Etablierung eigenständiger Strukturen von Polizei und Militär nachgegangen, die über die eklektisch zusammengesetzten bisherigen Truppen des Regimes hinausgingen. Auf Grundlage vorheriger Vereinbarungen reklamierte die türkische Militärführung die Ausbildung von sowohl Polizei- als auch Militärkontingenten für sich. In der Praxis übernahm die deutsche Seite – und hier zumal das deutsche Offizierskorps der Irak-Gruppe – die Reorganisation der persischen Gendarmerie, des Intendanturwesens und der Offiziersausbildung, während dem osmanischen Bündnispartner formal der eigentliche Aufbau der Armee zufiel. Die eher künstliche Trennung in Gendarmerie und Armee bedeutete eine Art Behelf, um die virulenten Zuständigkeitskonflikte zwischen deutscher und türkischer Militärführung auch und gerade in persienpolitischen Fragen auf vergleichsweise elegante Weise zu umgehen. Zusammengeführt wurde das gemeinsame Interesse am Ausbau des nationalpersischen Militärs in einem persischtürkisch-deutschen Stab unter Nisam als nominellem Oberbefehlshaber und einem von diesem eingesetzten, stark osmanisch orientierten Stabschef. Als Ziel ging man von einer anfänglichen Sollstärke von 7000 Truppen aus, wobei der Kern der Armee sich in den 1500 bis 1800 verbliebenen persischen Gendarmen erschöpfte, die bis zum Jahreswechsel um weitere 2000 bis 4000 Rekruten von zweifelhafter militärischer Qualität ergänzt wurden.42 Die Finanzierung der neuen Staatsbildung, wie auch die eines Großteils der türkischen Militärpräsenz in der Region, wurde von Berlin gewährleistet. In Konstantinopel hatte Nadolny die zu erwartende budgetäre Misere der provisorischen Regierung auf relativ unkomplizierte Weise behoben, in dem er deutsches Papiergeld mit dem Aufdruck des Gegenwerts in Toman, der traditionellen persischen Währung, aus Berlin angefordert hatte und dieses nun über die Nationalbank und weitere örtliche Banken vertreiben ließ, so dass Anfang 1917 ca. 160 000 von Nadolnys improvisierten Toman sich im Umlauf befunden haben dürften.43 Die für die Kriegsführung und den Staatshaushalt benötigten Gold- und Silberressourcen ließ der Geschäftsträger über einen eigens dafür eingerichteten Transportweg über Aleppo und Bagdad her41 42

43

Farbige Beschreibungen des Kabinetts bei Nadolny, Mein Beitrag, S. 95 f. und Blücher, Iran, S. 68 f. (mit Abbildung). Nadolnys Rechenschaftsbericht vom Oktober 1916 ermöglicht hier einen ersten Überblick, vgl. Nadolny an AA, Oktober 1916, sowie Nadolny an AA, 19.10.1916 u. 21.9.1916, in: PA/AA, R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916); Nadolny an AA, 5.11.1916 (zur persischen Armee, inkl. Militärbudget) u. 7.12.1916 (zur Erweiterung des Abkommens), in: ebd., R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916–3/1917); vgl. auch Nadolny, Mein Beitrag, S. 99; Gehrke, Persien, Bd. I, S. 273 und S. 287 f. Die Zahlen in Nadolnys Berichterstattung differieren (ebenso wie bei Gehrke). Nadolny an AA, u. a. 20.1.1917, in: ebd., R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916– 3/1917).

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beischaffen. Die monatlichen Gesamtkosten des deutsch-türkisch-persischen Projekts einer alternativen Staatsbildung beliefen sich nach Nadolnys ersten, noch vergleichsweise konservativen Schätzungen von Ende September 1916 auf 200 000 Reichsmark (RM). Mit zunehmender Expansion des Staats- und vor allem Militärapparats ging der Geschäftsträger von einem „flotten Anwachsen“ auf ca. eine halbe Million RM aus.44 Die tatsächlichen Kosten des Projekts dürften, wie ein desillusionierter Nadolny in der Retrospektive nahelegt, weit oberhalb dieser ersten Schätzwerte gelegen haben.45 Als Verwaltungs- und damit Regierungschef wurde Nisam es Saltaneh eingesetzt, der seine Stellung innerhalb der persischen Innenpolitik insbesondere durch den osmanischen Vormarsch zu konsolidieren vermocht hatte und der deutschen Persienpolitik auch weiterhin als zentraler, übergangsweise sogar alternativloser Bündnis- und Verhandlungspartner außerhalb des geräumten Teheran erschien. Nadolny stand der Option Nisam zwar zweifelsohne mit einigen Vorbehalten gegenüber und hätte es bereits in seiner Zeit in der Sektion Politik des Stellvertretenden Generalstabs vorgezogen, direkt mit der Teheraner Führung zu verhandeln, war aber angesichts der Ausgangslage gezwungen, mit Nisam und dessen Regime Vorlieb zu nehmen.46 Sämtlichen auf deutscher Seite Beteiligten musste dabei bewusst sein, dass das Provisorium dem fragilen Gefüge der persischen Innenpolitik nur unzureichend Rechnung trug. Dies scheint insbesondere für Nadolny gegolten zu haben, der als Chargé d’affaires ein ums andere Mal andere Optionen in Erwägung zog, im Grunde aber den etablierten Mechanismen der vorhergegangenen Monate zu folgen hatte und sein Vorgehen stark an Nisam und dessen Proto-Staat in Kermanschah band. Weiteren Fraktionen des vergleichsweise breiten politischen Spektrums, von denen sich einige im Umfeld der Ersatzregierung in Kermanschah befanden, andere in der Hauptstadt verblieben waren, blieb der Zugang zur Macht im neuen Staat verwehrt. Besonders die Demokraten und Nationalisten des Teheraner Parteienspektrums, die durchweg die eigentliche politische Opposition gegen den Schah gebildet hatten und über das Persische Komitee in Berlin repräsentiert waren, sahen sich durch diese Form des Ausschlusses von der politischen Partizipation desavouiert und begegneten der deutschen wie der osmanischen Seite mit ausgeprägter Skepsis.47 Dieser Zustand ließ sich auch für Nadolny nur so lange aufrechterhalten, wie Nisam der Interessenlage der deutschen Persienpolitik gemäß handelte 44 45 46

47

Ders. an AA, 21.9.1916, in: ebd., R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916); Nadolny, Mein Beitrag, S. 92 ff.; Gehrke, Persien, Bd. I, S. 289. Nadolny, Mein Beitrag, S. 99: „Ich musste dauernd zahlen, eine Karawane nach der andern, mit Gold und Silber beladen, ging so drauf [. . . ]“ Vgl. – neben Gehrke, Persien, Bd. I, S. 99 ff. – Mansoureh Ettehadiyyeh, The Iranian Provisional Government, in: Touraj Atabaki (Hrsg.), Iran and the First World War: Battleground of the Great Powers. London 2006, S. 9–28, hier S. 23. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 95 ff., S. 138 ff., S. 230 ff. und S. 271 f. entwickelt die komplexe Ausgangslage der persischen Innenpolitik im Detail.

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und das Verhältnis beider eine Zusammenarbeit – teilweise auch gegen den osmanischen Bündnispartner – ermöglichte. Der vielversprechende Eindruck, den Nadolny anfänglich vom Chef der provisorischen Regierung gewann, hielt allerdings nicht lange vor. Konnte er zu Anfang der Mission noch nach Berlin berichten, man werde deutscherseits auf der Grundlage „ruhiger systematischer Arbeit“ vorgehen, um mit Nisam, der in den Augen Nadolnys „durchaus würdig und entgegenkommend“ agierte, in politischer Hinsicht zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen, so verschlechterte sich das beiderseitige Verhältnis zusehends.48 Angesichts des Legitimitätsdrucks, unter dem Nisam sich in seinen Beziehungen zu Teheran befand, sah er sich dazu veranlasst, mit dem Schah und dessen Hof intensiv Tuchfühlung zu halten. Dies erforderte eine bündnispolitische Flexibilität im Umgang mit Teheran, über deren Auswüchse Nadolny nur sehr bedingt orientiert wurde. Ähnliches galt für Nisams Weigerung, sich vor dem Hintergrund schwelender osmanisch-deutscher Konflikte entschieden auf Nadolny und die deutsche Persienpolitik festzulegen. Unter dem vermeintlich toxischen Einfluss des türkischen Militärattachés vor Ort, Major Ömer Fevzi Bey, einem engen Vertrauten des Kriegsministers Enver Pascha, geriet Nisam in Nadolnys Sicht beinahe unwiederbringlich in osmanisches Fahrwasser.49 Der Regierungschef des Provisoriums schien dabei den privilegierten Zugang zu Fevzi und damit auch zur Führung in Konstantinopel zu nutzen, um ein bündnispolitisches Gegengewicht zur deutschen Persienpolitik vor Ort zu schaffen und sich solcherart aus der Abhängigkeit von Berlin und nicht zuletzt Nadolnys zu begeben. Bereits Ende Oktober 1916 telegrafierte Nadolny daher in die Wilhelmstraße, dass er ernste Zweifel an der Glaubwürdigkeit Nisams habe.50 Entgegen Nadolnys Empfehlung besetzte Nisam u. a. sämtliche Posten der provisorischen Regierung umgehend mit eigenen „Kreaturen“.51 In seinem Regierungs- und Verwaltungsapparat brachte er dabei in erster Linie enge Verwandte – an entscheidender Stelle vor allem die eigenen Söhne – und eine Reihe politischer Vertrauter unter. Dies beförderte ein System endemischer Korruption, in dessen Zentrum Nisam die Umverteilung deutscher Ressourcen zur Konsolidierung der eigenen Stellung und nicht zuletzt zur eigenen Bereicherung betrieb. Nach Charakter und Sozialisationshintergrund fiel dem Geschäftsträger die Gewöhnung, ja im Grunde das Mittragen dieser 48 49

50 51

Nadolny an AA in seinem ersten Lagebericht, 16.9.1916, in: PA/AA, R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1016). Zu Fevzi Bey vgl. neben Ettehadiyyeh, Iranian Provisional Government, S. 9 ff., auch Touraj Atabaki, Going East: The Ottomans’ Secret Service Activities in Iran, in: ders., Iran and the First World War, S. 29–42, hier S. 35 ff. Vgl. Nadolny an AA, 23.10.1916, in: PA/AA, R 19185: Die deutsche Gruppe (8/1916– 10/1016). Ders. an AA, u. a. 20.1.1917 (Zit.), in: ebd., R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916– 3/1917); vgl. auch ders. an AA, 21.9.1916, in: ebd., R 19185: Die deutsche Irak-Gruppe (8/1916–10/1916).

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Praktiken schwer. Der aus Afghanistan zurückgekehrte Druffel bemängelte an Nadolnys Verhalten dabei vor allem dessen gefühlskalte disziplinierte Unnahbarkeit, die „auf die Orientalen wenig Eindruck“ zu machen schien und sich damit negativ von der offenbar kompatibleren Natur seines Amtsvorgängers, des Gesandten – und Orientalisten – Vassel, abhob. Auch gelang es dem Geschäftsträger augenscheinlich nicht, sich in die kulturell-sozialen Gegebenheiten seines Einsatzorts einzufühlen. Um den örtlichen Notabeln zu imponieren, fehlte Nadolny, so Druffels Eindruck, zum einen die Befähigung zur spontanen „herzlichen, persönlichen Sympathie“, zum anderen die nötige Robustheit und habituelle Durchsetzungskraft, die sich ab und an in „kräftige[n], konsequent durchgeführte[n] große[n] Gesten“ Bahn brechen möge.52

Verhandlungen vor Ort: Die Persienfrage im deutschtürkischen Beziehungsgeflecht Über Nisams taktisches Kalkül hinaus erschwerten der osmanisch-deutsche Antagonismus im Allgemeinen und die ab und an groteske Rivalität zwischen Nadolny und Fevzi im Besonderen die Arbeit des deutschen Geschäftsträgers. Während Nadolny in den Kategorien moderner, vor allem am deutschen Modell geschulter Nationalstaatsbildung operierte und nach Kräften bemüht war, die Etablierung eines idealerweise unabhängigen persischen Nationalstaats zu befördern, handelte es sich bei Fevzi um einen Anhänger panturanischer und panislamischer Ideen, denen der von Nadolny betriebene strategische Ansatz fundamental entgegenstand. Fevzi war damit Vertreter einer maßgeblich auf Enver Pascha zurückgehenden Neuorientierung der türkischen Persienpolitik, die – unter Rekurs auf ideologisch-politische Traditionen – über die Mobilisierung der religiösen Affinitäten in der Region zur Schaffung eines effektiven islamischen Dreibundes zwischen der Türkei, Persien und Afghanistan beitragen wollte. Persien bildete hier einen ersten, vorsichtig ausgeloteten Expansionsraum, in den Konstantinopel vor dem Hintergrund einer veränderten Nachkriegsordnung vorzustoßen gedachte.53 Angesichts dessen wurde Fevzi bereits im Herbst 1916 zum eigentlichen Widersacher Nadolnys, gegen den dieser auch wegen seines „krankhaft rastlos angefeuerten, phantastischen Panislamismus und seines grenzenlosen 52 53

Gehrke, Persien, Bd. I, S. 275 (auf Grundlage von Druffels unveröffentlichtem Bericht aus dem Jahr 1919). Nadolny, Mein Beitrag, S. 97; vgl. die differenzierte Diskussion bei Gehrke, Persien, Bd. I, S. 284 ff.; zum problematischen Verhältnis von persischem Nationalismus und PanIslamismus und -Turanismus vgl. Touraj Atabaki, Pan-Turkism and Iranian Nationalism, in: ders., Iran and the First World War, S. 121–136; Pezhman Dailami, The Populists of Rasht: Pan-Islamism and the Role of the Central Powers, in: ebd., S. 137–162.

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unüberwindlichen Misstrauens gegen Deutsche“ kompromisslos anzugehen begann.54 Nach Nadolnys Eindruck intervenierten Fevzi und die türkische Persienpolitik, wo immer sich die Gelegenheit zu bieten schien, um das deutsche Engagement bloßzustellen. Den „Nizamschen naiven Größenwahn“, dessen „Renitenz und Unmäßigkeit“ nährte Fevzi dabei so konsequent, dass dieser dazu überging, Nadolny ein ums andere Mal mit augenscheinlich gänzlich unrealistischen Forderungen zu konfrontieren, die sich in der Regel auf das von deutscher Seite bereitgestellte Budget des staatlichen Provisoriums bezogen.55 Obgleich er in der Retrospektive für sich in Anspruch nimmt, den toxischen Einfluss Fevzis geschickt eingehegt zu haben, erschien das Verhältnis zum osmanischen Militärattaché bald so zerrüttet, dass ein zutiefst frustrierter Nadolny begann, an der diplomatischen Elimination seines Gegenübers zu arbeiten.56 Ende Oktober bemühte er sich daher erstmals um die Ablösung Fevzis, sekundiert vom eigenen Militärattaché Sarre, der die Beurteilung der Persönlichkeit Fevzis voll zu teilen schien. In die Wilhelmstraße telegrafierte Nadolny, Fevzis Aktivitäten seien maßgeblich davon bestimmt, Intrigen gegen ihn zu lancieren, während seine politische Arbeit selbst unter einem gravierenden Dilettantismus leide, der es schwierig mache, den geeigneten modus vivendi in der deutsch-türkischen Zusammenarbeit zu finden.57 Aus Rücksichtnahme auf etwaige türkische Sensibilitäten insbesondere im militärischen Bereich entschied Berlin jedoch, Nadolny zur Fortsetzung der durchweg fruchtlosen, häufig kontraproduktiven Zusammenarbeit mit Fevzi zu verpflichten. Die sich inzwischen halbwegs einspielenden deutsch-türkischen Militärbeziehungen sollten nicht zugunsten der in der Gesamtschau nachrangigen Persienpolitik Berlins aufs Spiel gesetzt werden.58 Individuelle Disposition, ein fortwährend schwelender und Berufliches wie Persönliches einschließender Konflikt mit dem türkischen Militärattaché, nicht zuletzt die sich sukzessiv schwieriger ausnehmende Verbindung zu Nisam erschwerten als ganz heterogene Faktoren Nadolnys eigentliche diplomatische Arbeit. Die Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen zwischen dem staatlichen Provisorium in Kermanschah und der Reichsregierung glich damit bereits von Beginn an einem politischen Drahtseilakt, was zu einem großen Teil auch dem Umstand geschuldet war, dass sich konzeptionelle und 54 55 56 57 58

Nadolny an AA, 31.10.1916 (Zit.), in: PA/AA, R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916–3/1917); auch bei Gehrke, Persien, Bd. I, S. 284. Ders. an AA, 3.12.1916 (Zit.), in: ebd.; auch bei Gehrke, Persien, Bd. I, S. 284 bzw. Bd. II, S. 285. Nadolny, Mein Beitrag, S. 96, der reklamiert, Fevzi als „Organ Enver Pascha[s]“ am Zügel gehalten zu haben, indem er ihn an drei Tagen in der Woche zum Frühstück einlud. Nadolny an AA, 25.11.1916, in: PA/AA, R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916– 3/1917). Gehrke, Persien, Bd. I, S. 286 f.; auch ebd., Bd. II, Dok. D-31/32: Vereinbarungen zwischen der deutschen und der osmanischen Regierung über das gemeinsame Vorgehen in Persien, 19.8.1916.

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allgemein ausgerichtete Überlegungen zur deutschen Persienpolitik kaum in Einklang bringen ließen mit der politischen Dynamik vor Ort. Die Berliner Prämisse, jede weitere Verpflichtung der nationalpersischen Regierung gegenüber um jeden Preis zu verhindern, reduzierte Nadolnys Manövrierspielraum auf ein Minimum. Hinzukam, dass Berlin sich von den bereits informell eingegangenen Verpflichtungen, einem 1915 zwischen Kanitz und Nisam geschlossenen Bündnisvertrag und einer Reihe von Garantieerklärungen Vassels, zu distanzieren gedachte.59 Nadolny sah sich angesichts dessen gezwungen, Nisam von der völkerrechtlichen Unverbindlichkeit der bestehenden Vereinbarungen zu überzeugen, ohne seinem Gegenüber kompensatorisch andere vertragliche Sicherheiten anbieten zu können. Die eingangs von Nadolny abgegebene Erklärung, Deutschland unterhalte weder im Hinblick auf Persien noch auf dessen östliche Anrainer territoriale oder politische Ziele, stellte ausschließlich Naheliegendes fest und war zweifelsohne nicht dazu angetan, Nisams Bedürfnis nach einer vertraglichen Konsolidierung der bilateralen Beziehungen zu befriedigen.60 Während Fevzi und die osmanische Persienpolitik zunehmend in diese Lücke vordrangen, blieb Nadolny nicht wesentlich mehr, als hinhaltend auf Nisam und die persische Führung einzuwirken. Entsprechend nüchtern fiel Nadolnys Berichterstattung aus. Hieß es im November 1916 noch, die Aushandlung eines Vertragsentwurfs „auf eine diskutable Form“ gehe mit Fortschritten voran, so skizzierte Nadolny nach der Jahreswende ernüchtert, dass „unter äußerlicher Wahrung guter Beziehungen“ das Vertrauensverhältnis zu Nisam de facto erschöpft sei.61 Nadolnys Weigerung, sich auf Verbindlichkeiten mit dem von ihm unterhaltenen persischen Provisorium und nicht zuletzt mit dem zunehmend suspekt wirkenden Nisam einzulassen, spiegelte dabei in erster Linie die persienpolitischen Prämissen der Wilhelmstraße. Nach Kittung der bündnispolitischen Verwerfungen mit der Türkei war man in Berlin nicht bereit, den mühsam wiederhergestellten modus vivendi mit der Hohen Pforte zugunsten des eigenen, vergleichsweise nachrangig erscheinenden und vor allem strategisch noch völlig im Unklaren begriffenen persienpolitischen Engagements in Gefahr zu bringen.62 Eigeninitiativ an Nadolnys Verhalten stellte sich nur der Umstand dar, dass er trotz seines im Grunde minimalen Handlungsspielraums zumindest Verhandlungen mit Nisam aufnahm. Dieser Schritt diente offensichtlich hauptsächlich dazu, einer Desavouierung seines Gegenübers vorzubeugen und dessen Stellung in der komplexen persischen Innenpolitik zu konsolidieren. Nisam indes wurde sich der dilatorischen 59 60 61 62

Diese sind dokumentiert bei ebd., Bd. II, S. 309 ff. Nadolny, Mein Beitrag, S. 97; Blücher, Iran, S. 72. Nadolny an AA, 25.11.1916 u. 17.1.1916, in: PA/AA, R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916–3/1917). Vgl. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 287 ff.

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Taktik Nadolnys recht bald bewusst und bemühte sich, unter Umgehung des Geschäftsträgers einen direkten Zugang zur Zentrale in Berlin aufzutun. Zu diesem Zweck hatte er bereits um die Jahresmitte 1916 einen der ihm vertrauten Vertreter der Demokraten, Wahid al-Mulk, erst nach Konstantinopel, dann nach Berlin entsandt, der ab Ende September mit Unterstaatssekretär Zimmermann und der Spitze des AA über das deutsch-persische Verhältnis verhandelte und dabei die zentralen Forderungen Nisams wiedergab, vor allem die „bedingungslose Garantie der politischen Unabhängigkeit und territorialen Integrität Persiens“ sowie dessen Beteiligung an einer künftigen Friedenskonferenz.63 Auch die persische Forderung nach einer Entsendung deutscher Truppen in die Region erschien angesichts türkischer Sensibilitäten völlig illusorisch. Die evasive Antwort Zimmermanns, die Nadolny an Nisam weitergab, entsprach ganz dem bisherigen Vorgehen des Geschäftsträgers. Entgegen der Aufforderung des AA, die ihrerseits auf Nadolnys Insistieren zurückging, beließ Nisam seinen Emissär in Berlin, obgleich einem gesonderten diplomatischen Vertretungsanspruch Nisams rein völkerrechtlich offensichtlich nicht Rechnung getragen werden konnte, solange dieser als provisorischer Regierungschef des handlungsunfähigen Schahs in Teheran fungierte. Machtpolitisch trug Nisams Entscheidung, sich Wahid de facto als Gesandten in Berlin zu unterhalten, zielgerichtet dazu bei, die Position des inzwischen missliebig gewordenen deutschen Geschäftsträgers in Kermanschah zu untergraben.64 Nichtsdestoweniger war Nadolny bemüht, den Verhandlungsprozess nicht abbrechen zu lassen, auch um Nisam taktisch an sich zu binden und von Fevzi bzw. der türkischen Seite insgesamt fernzuhalten. Bedingt durch die, so Nadolnys Eindruck, „naive Mentalität und Laienhaftigkeit der persischen Unterhändler“ zogen sich etwaige Vertragsverhandlungen in die Länge, so dass erst im Dezember 1916 eine Art Vertragsentwurf zwischen deutscher Mission und der provisorischen Regierung Nisams vorlag, den Nadolny zur Ratifizierung an die Zentrale weiterleiten konnte. Dieser Entwurf einer deutschen Verpflichtungserklärung sah in vier Punkten u. a. ein bedingungsloses deutsches Engagement zugunsten Persiens vor, bei künftigen Friedensverhandlungen auf die völkerrechtliche Anerkennung und die Garantie der politischen und territorialen „Unzerstörbarkeit“ des Landes hinzuwirken. 63

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Gehrke, Persien, Bd. I, S. 279, auch Exposé in Anlage zu Schreiben Wahid al-Mulk 26.9.1916 an Unterstaatssekretär Zimmermann, Dok. D-38 im Anhang, Bd. II, S. 358 ff. Zimmermann wurde mit dem 22.11.1916 zum Nachfolger Jagows als Staatssekretär des AA. Auch das in Berlin ansässige Persische Komitee, eine in Opposition zum Schah und nicht zuletzt zur osmanischen Persienpolitik gegründete Vereinigung exilpersischer Nationalisten mit Sitz in Berlin, solidarisierte sich mit Wahid. Vgl. lse Itscherenska, Heydar Han, das Berliner Persische Komitee und die Deutschen. Interkulturelle Begegnungen im Ersten Weltkrieg, in: Gerhard Höpp/Brigitte Reinwald (Hrsg.), Fremdeinsätze. Afrikaner und Asiaten in europäischen Kriegen 1914–1945. Berlin 2000, S. 57–78.

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Dieser Inpflichtnahme wurde persischerseits entsprochen, indem sich Nisam mit seinem Provisorium verpflichtete, „schon während des Krieges mit deutscher materieller und personeller Unterstützung persische Streitkräfte aufzustellen und den englischen und russischen Einfluss möglichst zurückzudrängen.“65 Im Grunde wurde hier nichts anderes skizziert als der Status quo im deutschen Verhältnis zum persischen Provisorium. Aus diesem Grund sah sich auch Staatssekretär Zimmermann in der Zentrale durchaus in der Lage, den von Nadolny eingeschlagenen Kurs mitzutragen, und autorisierte Nadolny entsprechend Anfang Februar.66 Die bei der Beantwortung von Nadolnys dringlicher Anfrage entstandene Verzögerung erklärt sich, so hat bereits Gehrke nachgewiesen, aus „Übermittlungsschwierigkeiten“, so dass das zeitweise verstümmelte Telegramm Nadolnys in vollständiger Form erst am 22. Januar in Berlin einging.67

Der Anfang vom Ende: Die Eskalation im deutschtürkisch-persischen Verhältnis In der Zwischenzeit hatten die Entwicklungen in den letzten Wochen des Jahres 1916 zu einer im Grunde irreparablen Entfremdung zwischen Geschäftsträger und Regierungschef geführt. Ein negativer Kulminationspunkt schien um den Jahreswechsel erreicht, als sich die Situation unter dem Einfluss Fevzis und der türkischen Politik gravierend verschärfte. Desillusioniert vom strukturell korrupten Regime Nisams und von dessen „Despotismus und unmoralische[r] (Verwaltungs-)Praxis“ zog Nadolny in Betracht, sich andere Optionen zu suchen und seine Gesandtschaft von Kermanschah in das ebenfalls von türkischen Truppen besetze Hamadan zu verlegen. In erster Linie sollte mit diesen Maßnahmen Nisam offensichtlich demonstriert werden, wie nachhaltig seine politische Existenz an den guten Willen Berlins und nicht zuletzt den des deutschen Missionschefs gekoppelt war.68 Obgleich Nadolnys Ankündigung eines Ortswechsels durchaus ausreichte, um Nisam zu konsternieren, gelang es ihm nicht, den provisorischen Regierungschef in jene Art von Kotau zu zwingen, die es ihm und der deutschen Politik erlaubt hätte, die Kontrolle über das von ihm zu verantwortende Staatsgebilde zurückzugewinnen. Ein eigens zu diesem Zweck aufgesetzter Bedingungskatalog, mit dem Nadolny Nisam zeitnah konfrontierte, sah u. a. die grundlegende Umbildung 65

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Nadolny an AA, u. a. 29.12.1916, in: PA/AA, R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916–3/1917); Gehrke, Persien, Bd. I, S. 294 f., der in Bd. II, Dok. D-41, S. 362 f., den Entwurf Nadolnys dokumentiert. StS an Nadolny, 2.2.1917, in: PA/AA, ebd. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 295. Nadolny an AA, u. a. 17., 18., 20. und 21.1.1917, in: PA/AA, R 19186: Die deutsche IrakGruppe (11/1916–3/1917); zum Kontext vgl. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 297 ff.

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von Regierung und Verwaltungsapparat vor und kam einer vollständigen Entmachtung Nisams gleich.69 Dieser lehnte die von Nadolny erhobenen Bedingungen für eine weitere politische Zusammenarbeit aus naheliegenden Gründen ab. Was Nadolnys Position vor Ort besonders schwächte, war der Umstand, dass auch die vom ihm bemühte Deputiertenkammer in Kermanschah, jenes Quasi-Parlament, das sich aus Demokraten und Nationalisten zusammensetzte und Nisam nicht grundsätzlich wohlgesinnt war, von ihm absetzte und mit dem provisorischen Regierungschef solidarisierte.70 Von hier ab befand sich Nadolny mit seiner Mission, ja im Grunde die gesamte deutsche Persienpolitik, die er seit seinem Aktionsplan vom Frühjahr 1915 verfolgt hatte, in der dauerhaften Defensive. Angesichts der ihm nun völlig entgleitenden Entwicklungen radikalisierte sich auch Nadolnys eigenes Verhalten insbesondere Nisam und Fevzi gegenüber. Gegen letzteren drohte er „fortan ohne jede Rücksicht und nach dem Grundsatz à corsaire et demi vorzugehen“ und dabei auch jedwede Sensibilität dem osmanischen Bündnispartner gegenüber fahren zu lassen.71 Der Schlagabtausch zwischen dem deutschen Geschäftsträger und dem türkischen Militärattaché kulminierte in zahlreichen Konflikten, die fortan jegliche Zusammenarbeit zerrütteten, ja gleichsam unmöglich machten und die Nadolny zu einer regelrechten Kette von Telegrammen veranlassten. Die „gemeinsame Politik und Verständigung über Persien“, echauffierte er sich, sei mit Fevzi nicht mehr möglich, wodurch „eine Demarche wegen seiner Abberufung“ unbedingt angeraten sei.72 In seinem Telegramm vom 22. Januar 1917 erläuterte Nadolny nicht weniger als fünf Fallbeispiele, die seine diplomatische Praxis nahezu vollständig unterlaufen hätten.73 In Anbetracht dessen erschien Nadolny die Abziehung Fevzis der einzig gangbare Weg, anderenfalls gehe man von deutscher Seite das Risiko ein, „unsere ganze Arbeit von zweieinhalb Jahren“ zu opfern.74 Vollständig spitzte sich die ohnehin verfahrene Lage dann zu, als Nadolny sich jegliche weiteren Schritte vorbehielt, bevor nicht eine Entscheidung über den Verbleib Fevzis getroffen sei.75 Das AA bemühte sich schließlich, die Eskalation einzuhegen und informierte sowohl Nadolny als auch die osmanische Seite, dass der Geschäftsträger Anweisung habe, von einem Konflikt mit Nisam und Fevzi unter allen Umständen Abstand zu nehmen. Nadolny weiter desavouierend wies Zimmer69 70 71

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Vgl. ders. an AA, 23. und 27.1.1917, in: PA/AA, ebd. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 299 f.; noch kritischer Nadolnys Verhalten gegenüber: Ettehadiyyeh, Iranian Provisional Government, S. 9 ff. Nadolny an AA, 27.1.1917, in: PA/AA, R 19186: Die deutsche Irak-Gruppe (11/1916– 3/1917); Gehrke, Persien, Bd. II, S. 296 (Anm. 417), weist zu Recht darauf hin, dass es „à corsaire, corsaire et demi“ (auf einen Schurken anderthalb) heißen muss. Nadolny an AA, 22.1.1917, in: PA/AA, ebd. Ebd. Ders. an AA, 10.2.1917, in: ebd. Vgl. ders. an AA, 18.2.1917, in: ebd.

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mann die Hohe Pforte zudem darauf hin, dass man mit der Disziplinierung des eigenen Emissärs im Bündnisinteresse gewirkt habe und man nun von der türkischen Seite Ähnliches im Hinblick auf Fevzi erwarte.76 Mit Fevzi auf einer Stufe als vermeintlich unsicherer Kantonist der Orientpolitik zu firmieren, dürfte für einen der zentralen Gestalter eben dieser Politik ein schwer erträglicher Zustand gewesen sein. So erklärt sich auch, weshalb Nadolny die Anweisungen Zimmermanns größtenteils ignorierte und sich – über Fevzi hinaus – auch von Nisam kategorisch zu distanzieren begann. Letzterer hatte sich angesichts der fortschreitenden Entfremdung von Nadolny und unter dem wachsenden Einfluss Fevzis entschieden, seine Frustration über das Verhalten des deutschen Geschäftsträgers auch an Enver Pascha heranzutragen – ein Umstand, den Nadolny als zutiefst ehrverletzend empfand und entsprechend zu bestrafen gedachte. Enver, so hatte Nadolny bereits in einem ersten Telegramm von Anfang Februar der Zentrale gegenüber angekündigt, solle sich von nun an darauf einstellen, dass es „hier binnen kurzem drunter und drüber“ gehe.77 Mit Nisam, insistierte der Geschäftsträger am 22. Februar, sei eine weitere Zusammenarbeit durch dessen Verhalten unmöglich geworden. Die Beschwerde an eine fremde Regierung sei eine „unerhörte Beleidigung“, die für Nadolny zu der unumgänglichen Konsequenz führe, die Beziehungen zu Nisam und dessen Regierung abzubrechen, Deputierte zu veranlassen, die Arbeit mit diesem zu beenden, schließlich sämtliche Zahlungen des Deutschen Reichs „an ihn persönlich und sein Gefolge einzustellen“.78 Zwischen den Zeilen implizierte Nadolny, dass Nisam bereits ganz durch die türkische Seite vereinnahmt und für den deutschen Zugriff mittlerweile unerreichbar sei. Denn nur durch derlei scharfe Maßnahmen, so Nadolnys Hoffnung, werde sowohl die Stellung Nisams als auch diejenige Fevzsis unhaltbar, so dass Enver Pascha schließlich die „Beseitigung seiner beiden Figuren“ werde vornehmen müssen.79 Im folgenden Passus des Telegramms versuchte Nadolny, eine programmatische Alternative zur bisherigen persienpolitischen Lage zu entwickeln. Mit dem inzwischen eingetroffenen neuen türkischen Militärattaché Cemil Bey im Verbund, der ihm im Allgemeinen vertrauenswürdiger erschien als Fevzi, erhoffte er sich die fortgesetzte „militärische Schädigung unserer Feinde, [die] Freihaltung Persiens und Afghanistans von russischer und englischer Herrschaft und [die] Begründung defensiver islamistischer Interessen-Gemeinschaft Türkei, Persiens und Afghanistans.“ Für den von Nadolny inzwischen verhassten Nisam schien kein geeigneter lokaler Ersatz zur Verfügung zu stehen, so dass er anregte, von auswärts – ggf. aus Teher-

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StS an Nadolny, 22.2.1917 (mit Zusatz für Kühlmann, Botschaft Konstantinopel), in: ebd. Nadolny an AA, 2.2.1917, in: ebd. Nadolny an AA, 22.2.1917, in: ebd. Ebd.

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an oder Konstantinopel – eine Alternative zu importieren. Den Übergang beabsichtigte Nadolny in Form eines „Interimistikums“ selber zu gestalten.80 Obgleich die Zentrale ein solches Ansinnen kategorisch ablehnte, wurde der Geschäftsträger damit auch seinem Selbstverständnis nach im innenpolitischen Kontext Persiens unwiderruflich zur aktiven Partei.81 Im Grunde besaß der Nadolny stets stützende Staatssekretär Zimmermann nach diesem Eklat keine andere Option als die Abberufung des vollständig desavouierten Geschäftsträgers. Zeitnah ausgesprochen wurde dies, nicht gänzlich unegoistisch, vom deutschen Botschafter an der Hohen Pforte, Kühlmann, der – wie sein Amtsvorgänger Metternich – Nadolnys Aktivismus skeptisch beäugt hatte. Nadolny scheine seine Stellung und Aufgabe in Persien vollkommen zu verkennen, so Kühlmanns Umschreibung der Situation des Geschäftsträgers, wenn er nicht nur auf die Abberufung Fevzis, sondern auch auf diejenige Nisams poche. „In hiesigen Kreisen herrscht der Eindruck vor“, wie Kühlmann mit sachlicher Schärfe weiter schreibt, „dass Nadolny eine zu tätige und ausgesprochene Persönlichkeit für seinen Posten ist.“ Man wäre deshalb gut beraten, Nadolny, „der sich wohl zu sehr festgefahren hat, um noch mit guten Manieren politischen Rückzug antreten zu können“, abzuberufen, möglichst in Verbindung mit der parallelen Zurückziehung Fevzis durch die türkische Seite. Anderenfalls sei die zukünftige Arbeit sowohl gegenüber der türkischen wie der persischen Seite „politisch außerordentlich bedenklich“, mithin – so Kühlmanns implizit dargebotene Konsequenz gegenüber dem Staatssekretär – die gesamte deutsche Persienpolitik in Schieflage.82

Vom Scheitern einer Mission: die Auflösung der deutschen Gesandtschaft Unter anderen Bedingungen hätte diese Intervention Kühlmanns, die von dem ansonsten eher zögerlichen Zimmermann zudem inhaltlich mitgetragen wurde, Nadolnys umgehende Abberufung zur Folge gehabt. Die sich rapide verändernde militärische Lage verhinderte die demütigende Zurückziehung des noch aufstrebenden Diplomaten. Mit Jahresbeginn 1917 brach vor dem Hintergrund einer breit angelegten britischen Offensive in Mesopotamien die osmanische Verteidigungslinie südlich von Bagdad nahezu vollständig zusammen. Im Zuge der Entsatzvorgänge wurde auch das in Persien agierende türkische Korps mit seinen assoziierten deutschen Formationen 80

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Ebd.; vgl. Gehrke, Persien, Bd. I, S. 302 f. Nadolnys und Blüchers Memoiren schweigen sich über die Auflösungserscheinungen des Kermanschaher Provisoriums symptomatischerweise aus. StS an Nadolny, 26.2.1917, in: PA/AA, ebd. Kühlmann an Zimmermann (privat), 26.2.1917, in: ebd; auch Gehrke, Persien, Bd. I, S. 303.

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abgezogen. Der damit unvermeidlich gewordene Kollaps des persisch-osmanisch-deutschen Provisoriums in Kermanshah machte dabei auch den Abzug der deutschen Gesandtschaft in das weiterhin von osmanischen Truppen gehaltene nördliche Mesopotamien erforderlich.83 Bagdad, das ursprünglich vorgesehene Refugium, war bereits Anfang März von der türkischen VI. Armee nordwärts evakuiert worden.84 Eine Wiedereinrichtung der Regierung Nisams auf mesopotamischem Boden etwa in Kerkuk oder Mossul wurde durch die anschließende Kriegsentwicklung verhindert. Nisam es Saltaneh sah sich angesichts dessen veranlasst, sich mit Teilen seines Regierungsapparats in Konstantinopel zu installieren. Eine Minderheit der am nachhaltigsten pro-deutsch orientierten Regierungsverantwortlichen zog das Berliner dem türkischen Exil vor. Vor diesem Hintergrund fand Nadolnys Mission ihr abruptes Ende. Wie Nadolny rückblickend darlegt, seien mit der militärisch aussichtslosen Lage schließlich „auch die persischen Pläne zu Ende“ gewesen.85 Den mit seiner Intervention gegen Nisam bereits faktisch vollzogenen Bruch mit dem Leiter des Provisoriums umschifft Nadolny in der Retrospektive gänzlich. Es sei jedoch, so räumt er ein, aufgrund finanzieller Streitigkeiten während der fluchtartigen Rückreise vor den Truppen der Entente beim Zwischenstopp in Kerkuk zum Streit mit Nisam gekommen. „Das mußte einmal aufhören“, skizziert Nadolny den seiner Meinung nach geradezu sinnlosen Geldfluss des Deutschen Reichs, „ungeheure Summen“ an Nisam zu zahlen.86 Beinahe sinnbildlich für das Zerwürfnis reiste der Regierungschef dann mit seinen Ministern nach Konstantinopel ab, um der Einladung der türkischen Regierung zu folgen, ohne aber Nadolny von der Abreise in Kenntnis zu setzen.87 Ohnehin sei die persische Mission in erster Linie davon geprägt gewesen, erhebliche Geldmengen zu leisten, wie der einstige Geschäftsträger in Persien retrospektiv geradezu missbilligend festhält: „Sie waren nur auf Geld aus“, so Nadolny mit Blick auf Nisam und sein Gefolge, „und die Deutschen hatten ihnen solches in großen Mengen versprochen.“ Aus Kerkuk selbst schrieb Nadolny im März 1917 an das Auswärtige Amt das folgende Resümee, in dem seine gleichermaßen berufliche wie persönliche Enttäuschung, ja im Grunde das Scheitern seiner persischen Ambitionen 83 84

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Zur Evakuierung vgl. u. a. Nadolny an AA, u. a. 19. u. 26.3.1917, sowie Kühlmann an AA, 6.3.1917, in: ebd.; Gehrke, Persien, Bd. I, S. 305 ff. Zum Kriegsschauplatz Mesopotamien vgl. Richard Holmes (Hrsg.), The Oxford Companion to Military History. Oxford/New York 2003 [TB], S. 577–580; Arthur J. Barker, The Neglected War: Mesopotamia 1914–1918. London 1967. Nadolny, Mein Beitrag, S. 101. Ebd., S. 103. Vgl. Nadolny an AA, 17.4.1917, in: PA/AA, R 19187: Die deutsche Irak-Gruppe (4/1917– 12/1917). Nisam sei „aus Anlaß der ihm nicht passenden Regelung unserer Subsidien plötzlich mit Fewsy ohne Abschied von mir [Unterstreichung im Original, J.Z.] nach Mossul abgereist.“

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insgesamt in bitterem Ton anklingt: „Nizam hat weder Armee, noch Organisation, sondern nur seine eingebildete Souveränität. Man hat eben nach Fewsys Dikat nur gegen die Deutschen und ihre angeblichen Feinde gearbeitet. Hoffentlich kommt nun die Erkenntnis.“88 Nichtsdestoweniger plädiert Nadolny wiederholt für die Fortführung der persischen Aktion, die zwar nunmehr ihres militärischen Gehalts beraubt sei, nicht jedoch ihrer ungebrochen zentralen politischen Dimension. Eine einseitige Aufgabe der einmal für den persischen Raum übernommenen politischen Verantwortung würde, so Nadolny in pathetischer Diktion, „unser Prestige für immer zugrunde richten.“89 Persien blieb für Nadolny auch im Angesicht des von ihm nur bedingt zu verantwortenden Zusammenbruchs Kernbestandteil deutscher Orientpolitik, „ein nicht unwichtiger Stein [. . . ] in dem Gebäude unserer politischen Sicherung“, wie er es selbst erfasste.90 Während sich die Zentrale in Berlin gegenüber Nadolnys Konzeption für ein weiteres Vorgehen wenig geneigt zeigte, torpedierte die Botschaft in Konstantinopel – und hier allen voran Botschafter Kühlmann – Nadolnys Pläne zur Fortsetzung des Engagements und forderte seinerseits, „daß persisches Unternehmen politisch vollkommen [. . . ] abgebaut werden sollte.“91 Anzuraten sei einzig, so Kühlmann weiter, den in Konstantinopel erwarteten Nisam und seine Regierung „freundschaftlich zu behandeln und ihrem Geldbedürfnis in verständigen Grenzen Rechnung zu tragen.“92 Für die Zeit nach dem Krieg werde ohnehin jedes politische Engagement „wieder den Weg über die legitime Regierung in Teheran nehmen müssen“; je weniger man sich daher auf Nisams Provisorium einlasse, „desto leichter wird die Rückgewinnung des verlorenen Geländes in Teheran.“93 Gegen den Willen des intellektuell zunehmend unbeweglicheren Nadolny wurde die Gesandtschaft schließlich seitens des AA mit dem 25. April 1917 offiziell aufgelöst und der Geschäftsträger selber nach Konstantinopel zurückbeordert.94 Beim dortigen Zusammentreffen in der deutschen Botschaft habe Kühlmann, so der sichtlich echauffierte Nadolny in der Retrospektive, süffisant zu eruieren versucht, in welcher Funktion sich Nadolny nach Auflösung der Gesandtschaft überhaupt in Konstantinopel befinde und eine entsprechende Anfrage in die Wilhelmstraße geschickt – eine durchaus penible „Viecherei“, wie General Lossow, der als deutscher Militärattaché zugegen war, es Nadolny gegenüber bezeichnet haben soll. Obgleich Nadolny in der Wilhelmstraße darauf drängte, in Konstantinopel in einer Art Wartestellung

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Ders. an AA, 26.3.1917, in: ebd. Ders. an AA, 13.4.1917, in: ebd. Ders. an AA, 14.4.1917, in: ebd. Kühlmann an AA, 20.4.1917, in: ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Zimmermann an Sektion Politik Berlin des Generalstabes, 25.4.1917, in: ebd.

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belassen zu werden, auch um im Falle eines russischen Truppenabzugs das weitere politische Vorgehen vor Ort lenken zu können, entschied sich die Zentrale, den in ihrer Sicht inzwischen funktionslosen Missionschef nach Berlin zurückzubeordern.95 Die Auflösung der Gesandtschaft war in der Wilhelmstraße zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache. Kühlmann hatte somit seinen Kompetenzkonflikt mit Nadolny klar zu seinen Gunsten entschieden.

Schlussbemerkungen „Als Geheimrat Nadolny und ich von einander Abschied nahmen“, resümiert Blücher in seinen Memoiren über Nadolnys Abreise in die Zentrale, „waren wir des festen Glaubens, daß dies nicht das Ende der Aktion in Persien sein würde. Das Regime Nisam es Saltaneh war nur ein Teilausschnitt aus einem großen geschichtlichen Prozeß, der sich über ganz Asien entwickelte und ein Volk nach dem anderen ergriff, mochte es sich um Perser, Afg[h]anen oder Inder handeln. Dieser Prozeß konnte hier und da zeitweise angehalten werden, aber dessenungeachtet musste er fortrollen mit der elementaren Kraft, die in der Natur die Lawine und in der Geschichte der Fortschritt besitzen. Deutschland stand in diesem Prozeß auf der Seite der asiatischen Völker, die den Fortschritt suchten. Mochte auch die Gegenwart sich gegen uns entscheiden. Wir standen mit der Zukunft im Bunde.“96 Blüchers hellsichtige Prognose reicht weit über den Horizont eines Zeitalters in eine unabgeschlossene Zukunft hinaus. 1949, also zu Beginn der Epoche der Entkolonialisierung formuliert, mag sie nicht mehr als eine „artistische Form der futurischen Vorwegnahme des später Gewesenen“ sein.97 In ihren Memoiren übergehen Nadolny und Blücher, dass ihr ambitioniertes Persien-Projekt in vielfältiger Hinsicht misslang, vergleichbar mit dem einige Jahre früher von Nevile Henderson auf seine Botschaftertätigkeit in Berlin bezogenen „Scheitern einer Mission“.98 Bei differenzierter Betrachtung der Persienpolitik Nadolnys kann nur von einem Scheitern im doppelten Sinne gesprochen werden. Ursächlich erklärt sich der teilweise gravierende Misserfolg von Nadolnys Mission – wie der deutschen Orientpolitik insgesamt – zweifelsohne auch aus den externen Bedingungen, die in der Regel weit außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen. Die allgemeine Entwicklung 95 96 97

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Nadolny, Mein Beitrag, S. 105; vgl. auch Nadolny an AA, 26.4., 27.4. u. 5.5.1917, in: PA/ AA, ebd. Blücher, Iran, S. 112 f. Reinhard Wittram, Die Zukunft in den Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen der Geschichtswissenschaft und Theologie. Göttingen 1966, S. 5–29, Zit. S. 9. Nevile Henderson, Failure of a Mission: Berlin 1937–1939. London 1941.

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auf dem vorderasiatischen Kriegsschauplatz verlief angesichts der dortigen Hegemonie der Entente alles andere als günstig, um die Orientpolitik Berlins erfolgreich durchsetzen zu können, innerhalb derer Nadolnys kurzlebiges persisches Engagement nur eine orientpolitische Episode von vergleichsweise vielen blieb, so u. a. der Persien- und Afghanistanexpeditionen Niedermayers und Hentigs.99 Obgleich es sich bei Nadolnys Mission um keine militärische Operation im engeren Sinne handelte, auf die sich die bereits bei Clausewitz angelegten Komponenten Zweck – Ziel – Mittel anwenden ließen, lässt sie sich zweifelsohne auch als Beispiel für die im Weltkrieg häufiger anzutreffende hybride Erscheinungsform der „militarisierten Diplomatie“ verstehen.100 Nadolnys strategische Konzeptionen um 1915 zeichnen sich durch ungewöhnliche Klarheit und Präzision aus, auch und gerade im Hinblick auf Zweck und Ziele deutscher Persien- und Orientpolitik. Erst im Kontext ihrer praktischen Umsetzung 1916/17 erscheinen diese programmatischen Vorgaben weit weniger eindeutig. Zwischen der operativ vergleichsweise isolierbaren Sicherung einer strategischen Verbindung in den vorderasiatischen Raum hinein – vor allem nach Afghanistan und in den indischen Subkontinent – und des Bemühens um die Etablierung eines ambitionierten Staatswesens in einer militärisch kaum gesicherten, höchst volatilen Region liegen strategisch ganz offensichtlich Welten. In der Kollision mit den praktischen Gegebenheiten vor Ort geriet Nadolnys Persienpolitik zunehmend in Schieflage. In der sich zuspitzenden Konfrontation mit Nisam und mit dem türkischen Bündnispartner, in die sich zunehmend auch persönliche Motive mischten, fand sich nur noch wenig vom ursprünglichen Charakter der Programmatik aus den Jahren 1915/16 und von Nadolnys optimistischer Berichterstattung aus der Frühphase des Kermanschaher Experiments. Obgleich die deutsche Orientpolitik in erster Linie funktionalen imperialpolitischen Motiven folgte, die sich aus dem weiteren Zusammenhang der Kriegsanstrengungen der Mittelmächte ergaben, wohnt seinem großmachtpolitischen Vorstellungshorizont auch immer ein dezidiert anti-imperiales, auf Russland und Großbritannien ausgerichtetes Moment inne.101 Seiner frühen, an den Prämissen der bisherigen Persienpolitik orientierten Erklärung, dass Deutschland Persien und seinen Anrainern gegenüber keine territorialen Ambitionen oder vergleichbare politischen Ziele verfolge, haftete dabei durchaus mehr an als ausschließlich machiavellistisches Imperialkalkül. In vielem scheint sich hier bereits Nadolnys späteres Betätigungsfeld in der Randstaatenpolitik der Jahre bis Kriegsende anzukündigen. 99 100 101

Zum Scheitern derselben vgl. die komplexen Bemerkungen bei Vogel, Persien- und Afghanistanexpedition, S. 135 ff. Carl von Clausewitz, Vom Kriege (hrsg. von Werner Hahlweg). Bonn 1952 [16. Aufl.], S. 89 ff. und S. 112 ff. Vgl. auch die bei Gehrke, Persien, Bd. II, S. 345 ff., Dok. D-29, veröffentlichte umfängliche Denkschrift Nadolnys, 7.6.1916.

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Noch schärfer tritt dies in den nachträglichen Rationalisierungen hervor, wie sie Nadolny und Blücher in der Nachkriegszeit hinterlassen haben. Im Allgemeinen habe sich die Gesandtschaft, so hält Blücher in seinen Erinnerungen ausdrücklich fest, mit Interventionen in die Regierungsgeschäfte ihres Satellitenregimes zurückgehalten. Nadolny „vertrat den Standpunkt, daß der europäische Imperialismus vor den Toren der alten Staatswesen des islamischen Orients Halt zu machen habe, daß deren Souveränität und Integrität in keiner Beziehung angetastet werden dürfe. [. . . ] Wenn es für Persien von fundamentaler Bedeutung war, seine Selbständigkeit zu bewahren, so hatte auch Deutschland ein nicht geringes Interesse daran, daß in Vorderasien sich ein Gürtel unabhängiger Staaten zwischen dem Russischen und dem Englischen Imperium allen Bedrohungen zum Trotz erhielt und damit eine territoriale Berührung der beiden Kolosse in diesem Teil der Welt verhinderte.“102 Während die Memoiren der beiden Beteiligten über die Defizite der Mission in Kermanschah hinweggehen und die großpolitischen Entwicklungen des Kriegsverlaufs für das eigene Scheitern verantwortlich machen, erweist sich der Briefwechsel nach Nadolnys Abziehung als wesentlich aufschlussreicher im Hinblick auf das zeitgenössische Motivgemenge deutscher Persienpolitik. Noch Monate später ist Blücher, der zur Abwicklung noch ausstehender Gesandtschaftsangelegenheiten und zur Koordination des in Persien belassenen Agenten- und Informantennetzwerks bis ins Frühjahr 1918 in Mesopotamien verblieb, in seinen Briefen an den vormaligen Vorgesetzten in Berlin die traumatische Empörung und Verbitterung anzumerken – eine Bitterkeit im Persönlichen, die er offenbar mit Nadolny teilte, ja für diesen gar bis zu einem gewissen Teil mitempfand. Innerlich waren sowohl Blücher als auch Nadolny geneigt, ihre persische Episode gleichsam zu historisieren. Letzterer hatte in der Wilhelmstraße inzwischen auch die Zuständigkeit für die persischen Angelegenheiten übernommen und wurde bis in den Januar 1918 von Blücher regelmäßig mit persienpolitischen Berichten im privat-dienstlichen Schriftwechsel versorgt. Im Rückblick auf das Weihnachtsfest 1917, das Blücher gemeinsam mit dem ebenfalls aus Persien evakuierten Konsul Kurt Wustrow beging, berichtete er seinem alten Vorgesetzten, dass man „den ganzen Abend in alten Erinnerungen an Kermanschah und unsern Zug herauf und herunter gekramt [habe] und zuletzt sind wir wieder wie jedes Mal bei Kombinationen für die Zukunft angelangt.“103 Auf dem „Schiff Persien“, so wusste Blücher Nadolny tröstend zu vermitteln, könne sich ohnehin niemand länger als eine gewisse Zeit halten, dies sei offenbar ein Naturgesetz.104

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Blücher, Iran, S. 71 f. Blücher an Nadolny, 19.1.1918, in: PA/AA, NL Nadolny: Bd. 5. Ders. an Nadolny, 24.10.1917, in: ebd.: Bd. 58.

Stefan M. Kreutzer

Wilhelm Waßmuß – Ein deutscher Lawrence Kurz vor Weihnachten 1930 fand sich in der überregionalen Weser Zeitung eine außergewöhnlich betitelte Geschichte. Unter der Überschrift „Der Mann, der gleich nach Gott kommt“ berichtete die Zeitung von einem Deutschen, „dessen Namen jedes Kind [...] in Persien“ kenne:1 Wilhelm Waßmuß. Der junge Autor Giselher Mumm war auf einer Reise an den Persischen Golf auf einen Landsmann gestoßen, der sich bei sengender Hitze abmühte, eine kleine Farm zu bewirtschaften. Als Mumm am selben Abend dem britischen Generalkonsul in Buschehr von seiner kuriosen Begegnung berichtete, musste er sich belehren lassen, welcher Legende er gegenüber gestanden hatte: dem Anführer des einzigen erfolgreichen Aufstandes gegen die britische Besatzung in Persien während des Weltkrieges. 40.000 Soldaten hätte das Empire aufbieten müssen, um den von ihm orchestrierten Guerillakrieg südpersischer Stämme Einhalt zu gebieten. „Haben Sie denn in Deutschland nichts von ihm gehört?“2 In der Tat kannte dort nahezu niemand die Geschichte des scheinbar so sagenhaften Mannes. Elektrisiert von den Worten seines englischen Gesprächspartners machte sich Mumm daran, dies zu ändern und veröffentlichte zahlreiche Berichte über den „Almani Marschallah von Faristan“ – meist im Stile Karl Mays in romantisch-abenteuerlicher Prosa und mit imposanten Bildern stolzer Wüstenkrieger illustriert.3 Sein Engagement schlug sanfte Wellen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren Geschichten über außergewöhnliche Deutsche en vogue. Immer wieder berichteten in den 1930er Jahren Zeitungen mit kleinen, zum Teil haarsträubend an der Wirklichkeit vorbeigehenden Beiträgen von dem „Mann, der England schon im Weltkrieg im Schach hielt“.4 1935 war er sogar dem Brockhaus einen kurzen Beitrag wert. Der Protagonist selbst bekam von alledem nichts mit. Ende November 1931 war Waßmuß in Berlin in aller Stille gestorben. Sein Andenken blieb weiterhin vor allem in Land der einstigen Kriegsgegner lebendig. Christopher Sykes, Sohn des britischen Diplomaten und »Staatenschöpfers« Mark Sykes, war 1931 wie Mumm bei einer Orientreise auf den Deutschen aufmerksam geworden und veröffent1 2 3

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Giselher Mumm, „Der Mann, der gleich nach Gott kommt“, in: Weser Zeitung, 22.12.1930. Ebd. Ders., „Der Almani Marschallah von Faristan. Ein Deutscher, der Vorderasien in Schrecken versetzte (Konsul Waßmuß der Engländerschreck...)“, in: Westermanns Monatshefte, 7/1, 1982, S. 153–156. Pastor Haccius, „Ein Mann, der England schon im Weltkrieg im Schach hielt“, in: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 17.01.1941.

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lichte 1936 das Buch „Wassmuss – The German Lawrence“. Es stellte Waßmuß auf eine Stufe mit T. E. Lawrence, den im Jahr zuvor verstorbenen britischen Helden des arabischen Aufstandes, der in ähnlicher Weise in Arabien gegen die Türken gewirkt hatte wie Waßmuß in Persien gegen die Briten. Die Vortragsreihe des US-Journalisten Lowell Thomas „With Allenby in Palestine and Lawrence in Arabia“ machte ihn zu einer weltweiten Berühmtheit und Thomas zu einem wohlhabenden Mann. Einsame Helden im exotischen Orient waren Kassenmagnete. Auch Sykes’ Buch über Waßmuß wurde ein Publikumserfolg und zeitgleich in England, den USA und Kanada veröffentlicht. Anfragen amerikanischer Medien veranlassten die deutsche Botschaft in Washington, in Berlin „einen kurzen Lebensabriß [sic]“ des einstigen Mitarbeiters anzufordern, von dem man selbst nichts wusste.5 In Paris erschien noch im selben Jahr eine französische Übersetzung. Die Deutsche Gesandtschaft in Brüssel berichtete verblüfft von der positiven Resonanz des Buches in der belgischen Presse. 1937 erschien schließlich eine deutsche Version. Unter dem sperrigen Titel „Waßmuß – der deutsche Lawrence – Auf Grund der Tagebücher und Aufzeichnungen des verstorbenen Konsuls, deutscher und englischer Quellen und des unter gleichem Titel erschienenen Buches von Christopher Sykes“ verpasste Dagobert von Mikusch dem Buch eine dem Zeitgeist entsprechend zwar nicht nationalsozialistische, aber doch hurrapatriotische Polemik – was wohl mit dazu beitrug, dass das kommerziell erfolgreiche Buch in der Bundesrepublik keine Neuauflage erfuhr. Während der »echte« Lawrence spätestens 1963 mit David Leans Film „Lawrence of Arabia“ zum festen Bestandteil des westlichen Allgemeinbildungskanons wurde, verblasste die Erinnerung an seinen deutschen Konterpart in dessen Heimat – abgesehen von einigen regionalgeschichtlichen Betrachtungen und zweifelhaften Aufrissen rechtskonservativer Kreise. In den Ländern seiner Kriegsgegner und an alter Wirkungsstätte wurde Waßmuß währenddessen zu einer geradezu mythischen Gestalt: CIA-Gründer Alan Dulles erklärte ihn zu einem der Urväter moderner Spionagetätigkeit und Erfinder von covert action. Der englische Bestsellerautor Robert Ryan machte Waßmuß in seinem Roman „Empire of Sand“ zum findigen Gentleman-Gegenspieler von Lawrence. Im Iran ist das Interesse an seiner Person bis heute ungebrochen. Jüngst nannte der iranische Botschafter in Deutschland, Alireza Scheikh Attar, Waßmuß in einer Rede einen historischen Eckpfeiler der iranisch-deutschen Beziehungen und Parteigänger im Freiheitskampf Persiens. Der Großteil seiner deutschen Zuhörer vernahm den Namen zum ersten Mal. Wer also war dieser berühmte Unbekannte? Was machte ihn bei Gegnern und Verbündeten zu einer derartigen Sagengestalt? Wer war Wilhelm Waßmuß?

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PA-AA, 16.173, 261 – Deutsche Botschaft Washington an das Auswärtige Amt, 29.09.1936.

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Karriere im Auslandsdienst Der Mann, der das Empire einmal in Persien in Atem halten sollte, wurde am 14. Februar 1880 in Ohlendorf im nördlichen Harzvorland geboren. Seine Eltern besaßen in der kleinen Ortschaft einen mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieb. Der Familie Waßmuß ging es gut in diesen Tagen. Das alteingesessenen „Freibauerngeschlecht“ war mit Rüben- und Kartoffelanbau zu gediegenem Wohlstand gekommen, insbesondere seit nach der Annexion durch Preußen die Zollschranken des einstigen Königreichs Hannover gefallen waren. Das neue Reich versprach Aufbruch: Wachstum, Wohlstand und die Möglichkeit zu gesellschaftlichem Aufstieg. Den sollte der junge Wilhelm erfahren. Als erster männlicher Nachkommen durfte er ab 1893 das Ratsgymnasium im nahegelegenen Goslar besuchen. Er war ein fleißiger Pennäler mit vielfachen außerschulischen Interessen, wissbegierig und belesen, hilfsbereit und aufgeschlossen, sportlich und abenteuerlustig. Andere Länder, Kulturen und Sprachen übten auf ihn sicherlich eine Faszination aus. Er war sprachbegabt, lernte Latein, Griechisch, Hebräisch und konnte sich in Italienisch, Französisch und Englisch verständigen – eine Vielsprachigkeit, die damals nicht alltäglich war. Aber nichts deutete auf eine besondere Sehnsucht nach der Ferne. Mehr aus Verlegenheit und elterlichen Druck denn wahren Berufsplänen begann Waßmuß nach seinem im Frühjahr 1900 bestandenem Abitur in Marburg Rechtswissenschaften zu studieren. Doch schon im selben Jahr wechselte er nach Berlin. Waßmuß wollte etwas aus seinem Leben machen: eine gesellschaftlich angesehene Position erreichen. Zu dieser Zeit bot das Auswärtige Amt dem Sohn eines Landwirtes wie wenige andere Behörden des wilhelminischen Deutschlands die Möglichkeit eines geradezu kometenhaften sozialen Aufstiegs. Auf den ersten Blick spielte im traditionell aus preußischen Uradel und Offizierskorps bestallten Reichsamt die Herkunft noch immer eine bedeutende Rolle. Aber dies beschränkte sich auf die oberen Etagen. Das am stärksten wachsende Ministerium des außenpolitisch und -wirtschaftlich immer engagierter auftretenden Deutschlands hatte ein dringendes Nachwuchsproblem, vor allem im Dolmetscherdienst. Ab der Jahrhundertwende hatte das Amt begonnen, Anwärter in breiteren Gesellschaftskreisen anzusprechen. Ausführlich berichtete die Presse über Reformen im Personalwesen der Behörde. Besonders auf die „recht günstig[en] (...) Avancements-Verhältnisse [sic] im Dragomanat“ wurde hingewiesen.6 Dolmetscher konnten, wenn auch eher selten, sogar Konsuln werden. Auffällig zielgerichtet wirkt Waßmuß’ Weg ab dem Weggang aus Marburg. Kaum angekommen in Berlin schrieb er sich am Seminar für Orientalische Sprachen ein und studierte fortan parallel zum Jurastudium Arabisch-Marokkanisch. Das 1887 gegründete Orientalische Se6

PA-AA, R 140.261, 17.02.1911.

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minar war salopp ausgedrückt die Kaderschmiede der Reichsregierung für den Dienst im Ausland. Zum Wintersemester 1902/03 wechselte Waßmuß von Berlin nach Göttingen, um in heimatnaher Abgeschiedenheit Jura abzuschließen. Nach erfolgreicher Erster Staatsprüfung am Oberlandesgericht Celle im Januar 1904 und Anstellung als Rechtsreferendar am Königlichen Amtsgericht in Zellerfeld im Landkreis Goslar ließ er sich im selben Jahr noch nach Berlin versetzen, um sein Studium am Orientalischen Seminar zu beenden. Am 23. August bestand er seine Diplomprüfung in Arabisch-Marokkanisch. Alles lief nach Plan. Im Oktober 1904 trat Waßmuß seinen Einjährig-Freiwilligen Dienst bei der III. Matrosen-Artillerie-Abteilung in Lehe an der Weser an. Sie zählte zu den Marineteilen an Land und diente als Überseetruppe.7 Viele von Waßmuß’ Kameraden in dem Bremerhavener Stützpunkt hatten in den Kolonien Dienst getan. Noch während seiner Marinezeit erkundigte er sich im Juli 1905 beim Auswärtigen Amt über dessen Dolmetscherdienst und bat selbstbewusst um einen Gesprächstermin, um „über die Anstellungsbedingungen unterrichtet“ zu werden.8 Waßmuß fuhr nach Berlin und machte Eindruck auf die Beamten. Schon während des Personalgespräches bot man ihm eine Anstellung am Konsulat auf Sansibar an. Mit Verzögerung nahm Waßmuß an. Learning by doing sollte er seine Ausbildung auf Sansibar erhalten. Mit seiner Einschiffung am 8. Januar 1906 auf den Dampfer »Gouverneur« der Deutschen Ost-Afrika Linie wurde er in Dienst genommen. Wahrscheinlich hätte Waßmuß keinen besseren Eintrittsort finden können. Sansibar, die Perle des indischen Ozeans. Hier trafen faszinierende Exotik und globaler Handel auf eiländische Ruhe und überschaubare dienstliche Aufgaben. Das Konsulat Sansibar hatte bei Waßmuß’ Ankunft im Februar 1906 seine aufregendsten Tage hinter sich. Aber die Insel war immer noch der Sehnsuchtsort der Deutschen und Symbol für ihren Aufbruch in die Welt. Einst Ausgangshafen für Carl Peters Einfall in Ostafrika hatte die wachsende deutsch-britische Rivalität in der Region 1890 zu einem Vernunftabkommen zwischen den Ländern geführt: Deutschland erhielt Helgoland, Sansibar wurde britisches Protektorat. In Ostafrika übte man sich fortan in anglogermanischer Schützenhilfe bei „Araberaufständen“ und gegen Sklaverei. Die Deutschen auf Sansibar unterstellten sich – nicht ohne gelegentliche Frotzeleien – dem englischen Reglement und schätzten die Vorteile, die die faktische Herrschaft der Krone mit sich brachte: funktionierende Administration und Rechtssicherheit. Aber sie nahmen zur Kenntnis, wie sich die entmachtete Araberelite zunehmend von den Briten ab- und ihnen zuwandte. Mit der gewaltsamen Entfernung des Thronprätendenten Sayyid Khalid durch britische Marinetruppen im August 1896 und dessen Flucht nach 7 8

Vgl. Georg Neudeck, Das kleine Buch von der Marine – Ein Handbuch alles Wissenswerten über die deutsche Flotte. Kiel und Leipzig 1902, S. 43. PA-AA, 16.172, 004f.

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Daressalam auf einem deutschen Kriegsschiff begann auf Sansibar die Transformation des Deutschen Reiches zur „Hoffnungsmacht“ für die von England gegängelten Muslime. Für Waßmuß bedeutete der Posten, die Welt kennenzulernen. Sansibar war ein Handelsplatz von interkontinentaler Relevanz und ein Schmelztiegel der Kulturen. Europäer, Araber, Perser, Inder, Afrikaner, Hindus, Parsen, Muslime, Christen, Juden: die Welt auf einer Insel. Die ideale Schule. Die Landessprache Swahili eignete er sich schnell an. Begeistert berichtete er nach Hause von „äußerst gutartigen [...] schwarzen Männlein und Weiblein [...] und [...] ihrer schönen Sprache“.9 Die Vorgesetzten im Konsulat waren mit dem Neuen zufrieden. Mit der Erschließung Ostafrikas durch Briten und Deutsche und dem Ausbau der dortigen Häfen lag der Schwerpunkt der konsularischen Arbeit bald in dem Sansibar unterstellten Vize-Konsulat in Mombasa. Waßmuß war begeistert von Afrika. „Man gewinnt das Land [...] lieb, sobald man es kennen lernt“, schrieb er seinem Onkel. Wann immer möglich bereiste er den Kontinent, wo es „viel Schönes und Gewaltiges [...] zu sehen gab“, berichtete von dem „mächtig aufgeblüht[en] [...] Daressalam“ und schickte Fotos des malerischen Hafens von Tanga an die Familie.10 Ab dem 31. Oktober 1910 leitete Waßmuß das Vize-Konsulat in der wichtigen britisch-ostafrikanischen Hafenstadt. Mit den dortigen Engländern kam er gut aus. Seine Berichte nach Berlin über die Vorgänge in Ostafrika lesen sich auffallend gut informiert, waren detailreich und voller Ideen für Deutschlands Handel und Wirtschaft. Auffällig dabei: sie waren frei des antibritischen Untertons, der im Fahrwasser des wachsenden deutsch-englischen Gegensatz dieser Tage in so vielen anderen Gesandtschaftsmeldungen zu finden war. Nach fast sechs Jahren in Afrika übernahm Waßmuß am 18. Mai 1913 die kommissarische Leitung des Vize-Konsulats im persischen Buschehr. Schon einmal hatte er den dortigen Konsul Helmuth Listemann von April 1909 an für ein gutes Jahr vertreten. Anders als auf Sansibar und in Afrika hielt sich seine Begeisterung für den „trostlosen Wüstenplatz“ in Grenzen.11 Die „furchtbare Hitze“ und der Staub setzten ihm „körperlich“ zu.12 Erst allmählich gewöhnte er sich an das harte Klima am Golf. Auch mit der politischen Atmosphäre in der Region musste Waßmuß sich erst einmal anfreunden. Afrika hatte er friedlich erlebt, den kürzesten Krieg der Weltgeschichte auf Sansibar und die Chaostage in Ostafrika verpasst. Persien, das alte „Weltreich des Geistes“, befand sich bei seiner Ankunft hingegen in Aufruhr und Umbruch.13 „Unsicherheit und Rechtlosigkeit“ prägten die Zustände im Land.14 Die Dy9 10 11 12 13 14

Wilhelm Waßmuß, Brief v. 17.05.1906, in: Privatsammlung Fam. Waßmuß. Briefe v. 02.11.1911, 27.08.1911 und 17.10.1908, in: ebd. PA-AA, Referat 117 Konsulat Buschir, Bd. 1, C. Nr. 8, 16.01.1914. Wilhelm Waßmuß, 05.12.1909, in: Privatsammlung Fam. Waßmuß Vgl. Michael Axworthy, Iran – Weltreich des Geistes. Berlin 2011. PA-AA, Referat 117 Konsulat Buschir, Bd. 1, C. Nr. 12, 16.01.1909.

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nastie der Kadscharen hatte es nie geschafft, ihre Herrschaft konsequent und landesweit zu festigen und Strukturen moderner Staatlichkeit zu schaffen. Sie regierten in den wenigen urbanen Zentren des Landes und tolerierten, dass außerhalb des eigenen Machtradius im Land herrschte, wer sich durch Gewalt, Geldmittel und Arrangement mit Teheran selbst zum staatlichen Agenten erklären konnte. Die Situation in zwei Worten: „arbitrary rule“.15 Die Lage verschärfte sich, als Russland und England Persien für sich entdeckten. Naser ad-Din Schah, der letzte bedeutende Kadschare, scheiterte am eigenen Reformwillen und brachte das Land mit halbherzigen Modernisierungsvorhaben, aufwendigem Hofleben und inflationären Konzessionsvergaben in deren finanzielle und politische Abhängigkeit. Die urbane Mittelschicht unterstützt von tribaler Bevölkerung aus den Provinzen rebellierte 1906 gegen die Herrschaftspraxis der Kadscharen und zwang Nasers Sohn Muzaffar ad-Din zur Einrichtung einer konstitutionellen Monarchie und Nationalversammlung. Doch die parlamentarische Revolution scheiterte im „Great Game“. England und Russland vergaßen ihre alte Rivalität und teilten das geschwächte Land 1907 in eine englische und russische Interessenzone. Lediglich in der Mitte verblieb ein vermeintlich souveräner persischer Staat, regiert in Abhängigkeit der beiden und geprägt von Revolutionswirren und allgemeiner Unsicherheit. An der Peripherie artete sie in anarchische Zustände aus. Die Briten begegneten ihnen, indem sie über ihre Einflusssphäre hinaus auch am Persischen Golf die Polizeigewalt ausübten – für den indischen Vizekönig George Curzon zählte er ohnehin „zum militärischen Sicherheitsvorfeld Indiens“, und spätestens mit der Gründung der Anglo-Persian Oil Company im Jahre 1909 war er das auch für London.16 Nur widerwillig stimmte die britische Regierung 1910 der Einrichtung einer neutralen Polizeitruppe unter Führung schwedischer Offiziere in Mittelpersien zu. Kriegsschiffe in den wichtigen Hafenstädten oder Einflussnahme auf die neue Gendarmerie zeigten allerdings, dass England nicht gewillt war, die privilegierte Stellung aufzugeben, die ihr aus der selbstauferlegten ordnungspolitischen Mission am Golf zugefallen war. In Buschehr bestimmte der britische Kreuzer „Perseus“, wer unter den lokalen, verbittert miteinander verfeindeten Machtgruppen „sich der Gewalt [in der Stadt][...] bemächtigen“ durfte, wie Konsul Helmuth Listemann nach Berlin berichtete.17 Eifersüchtig verteidigten die Engländer politische wie wirtschaftliche Vorteile. Das bekamen auch die deutschen Unternehmer zu spüren, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hatten das angloindische Handels- und Verkehrsmonopol in Frage zu stellen. Symbolcharakter 15 16

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Homa Katouzian, State and Society in Iran, The Eclipse of the Qajars and the Emergence of the Pahlavis, London u. New York 2006 (ND), S. 1. Olaf Brodacki, „Hamburg und der Persische Golf. Ein Kapitel wilhelminisch-deutscher Wirtschaftsgeschichte“, in Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 77, Hamburg 1991, S. 37–76. PA-AA, Referat 117 Konsulat Buschir, Bd. 8, 24.01.1909

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erlangten 1907 die Streitigkeiten um die kleine Insel Abu Musa. Die Hamburger Firma Wönckhaus hatte vom Scheich von Schardscha das Recht erworben, die auf dem Eiland gewonnenen Erze abzutransportieren. Die englische Konkurrenz war gezwungen, anderenorts und zu ungünstigeren Bedingungen Eisenerze einzukaufen. Die britischen Behörden lösten das Problem auf ihre Weise: der Vertrag zwischen Wönckhaus und dem Scheich wurde für nichtig erklärt, die persischen Arbeiter der Firma mit Hilfe eines englischen Kanonenbootes von der Insel vertrieben. Wönckhaus protestierte und erhob Schadenersatzansprüche. Die deutsche Heimatpresse tobte. Aus Sorge sich in Europa noch mehr zu isolieren, vermied die Reichsregierung in Berlin, sich politisch in die handelsrechtliche Angelegenheit einzumischen und aus der Affäre ein „zweites Marokko“ zu machen. Über die Unrechtmäßigkeit der Tat bestand jedoch kein Zweifel. Whitehall gab den Regressforderungen Wönckhaus’ bereits im Juni 1908 Recht. Die Abwicklung der Entschädigung zog sich allerdings hin, und so beschäftigte die Angelegenheit auch noch Waßmuß. Während seines ersten und zweiten Persienaufenthaltes durfte er sich immer wieder mit Abu Musa und anderen Widrigkeiten der britischindischen Behörden gegen deutsche Kaufleute auseinandersetzen. Für den aus Afrika an kollegialeres Verhalten gewohnten Waßmuß eine einschneidende Erfahrung. Der von ihm vertretene Listemann beklagte zwar auch ständig die britischen Eigenmächtigkeiten, schien sie aber letztlich hinzunehmen. Schließlich sorgten die Engländer als Einzige verlässlich für die Sicherheit der europäischen Kolonie, die immer wieder von räuberischen Briganten gefährdet war. Waßmuß hingegen protestierte gegen die willkürlichen Aktionen der Briten: verweigerte Auszahlungen der Imperial Bank ohne Freigabe durch den britischen Generalkonsul, plötzlich variierende Zoll- und Ausfuhrbestimmungen oder Beschlagnahmung von Waren und Besetzung der Räumlichkeiten deutscher Handelsfirmen durch englische Matrosen. Meist betraf es die Firma Wönckhaus, die rund um den Golf Handelshäuser besaß und ob ihres Erfolges im Perlmutthandel den englischen Händlern ein ernster Dorn im Auge war. Die britischen Behörden behaupteten, das Unternehmen würde „Reichssubsidien“ erhalten, so erfolgreich erwiesen sich die deutschen Kaufleute, und als eine Art Vorposten für strategische Interessen des Kaiserreichs in der Region agieren. Die Hysterie basierte auf dem Lobbyismus der Londoner Konkurrenz. Aber in der Tat zählten die Mitarbeiter Wönckhaus’ mit ihren Nachrichten von den Geschehnissen rund um ihre Niederlassungen zu den wichtigsten Informationszuträgern des Vize-Konsulats. Mit vielen von Wönckhaus’ Leuten verband Waßmuß eine freundschaftliche Beziehung. Für ihn daher eine Ehrensache, gegen repressive Willkürakte der angloindischen Administration Protest einzulegen, auch wenn er mit den Engländern „ganz umgänglich“ auskam:18 Mit vielen englischen Offizieren war er

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Waßmuß, Brief v. 05.08.1909, in: Privatsammlung Fam. Waßmuß.

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befreundet, ritt mit ihnen aus oder besuchte sie als Ehrenmitglied in ihrem Kasino. Lautstark beschwerte er sich bei seinem britischen Kollegen, „far more aggressive than Listemann“, meldete „englische Gegenmaßnahmen“ und die Drangsalierung deutscher Händler nach Berlin und forderte schon mal die Entsendung eines Kriegsschiffes in die Golfgewässer, um der deutschen Position auch für persische Augen sichtbar Nachdruck zu verleihen.19 Die kaum ernst gemeinte Forderung zeigt seine Frustration ob der Machtlosigkeit gegenüber den Behörden der Krone und ob der Untätigkeit der vermeintlich souveränen lokalen Amtsgewalten, die dem britischen Regenten am Golf aufs Wort „gehorch[t]en“.20 Für sie zählten nur die britischen Kanonenboote. Waßmuß teilte die Frustration mit einem Großteil der Einheimischen: „Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dieser unbeschränkten Herrschaft der Engländer fängt an [...] stärker zu werden.“21 Enttäuschte demokratische Revolutionäre, frisch erwachte Nationalisten, entmachtete Eliten und von Strafexpeditionen getroffene Stammesführer suchten in Deutschland einen Verbündeten. Vor allem im Hinterland Buschehrs entlang der Wegstrecke nach Schiraz, fern der Reichweite der britischen Schiffskanonen, keimte unter den nomadischen Stämmen offene Feindschaft gegen die Briten. Waßmuß lernte die wichtigsten Khane der Gegend kennen, als er im Sommer 1913 des kühleren Klimas wegen ein paar Monate in der alten Reichshauptstadt verbrachte: „Die Stimmung unter den Stämmen der Provinz Fars ist [...] sehr anti-englisch.“22 Immer wieder kam es zu „Erhebungen gegen die Engländer“ und wurden sie oder ihre einheimischen Diener Ziel von Anschlägen.23 Die englischen Truppen in Buschehr befanden sich fast „im Belagerungszustand.“24 Anders als die britischen Behörden ihm bald unterstellten und spätere Schilderungen rezitierten, suchte Waßmuß nicht nach Kontakt zu oppositionellen Kräften. Mühselige Reisen Waßmuß’ durch die Küsten und Gebirgsketten des Hinterlandes waren seiner persönlichen Jagdleidenschaft und Wanderlust geschuldet. Er musste lachen, als er erfuhr, dass man ihn deswegen der Spionage und Aufwiegelung der Stämme verdächtigte. Waßmuß war ein „Agent wider Willen“. Die außenpolitische Position Deutschlands bestand darin, jegliche Einflussnahme in die politischen Angelegenheiten in Persien zu vermeiden und auf keinen Fall den Eindruck von Rivalität mit England zu erwecken. Daran hielt sich auch Waßmuß. Doch das britische Vorgehen gegen deutsche Handelsaktivitäten war unter der persischen Bevölkerung nicht unbeachtet geblieben. Dass auch die Deutschen unter den

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C. J. Edmonds, East and West of Zagros. Travel, War and Politics in Persia and Iraq, 1913– 1921. Leiden 2009, S. 41, und PA-AA, Referat 117 Konsulat Buschir, Bd. 1, 16.01.1909. PA-AA, ebd., Bd. 4, 02.05.1909. Ebd. Ebd., Bd. 9, 16.03.1912. Ebd., 7.01.1912. Ebd., Bd. 10, 31.03.1913.

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Briten zu leiden hatten, machte sie für viele Perser zu heimlichen Verbündeten. Marodierende Stämme schonten deutsche Kaufleute vor Überfällen mit der Erklärung, „wenn [sie] (...) Engländer wäre[n], würde man [sie] nicht durchlassen.“25 Waßmuß berichtete nach Berlin und identifizierte die Kräfte in Persien, die den Eigenmächtigkeiten der Engländer am Golf ein Ende bereiten und im Falle einer Auseinandersetzung zwischen dem Kaiserreich und dem Empire auf deutscher Seite stehen würden. Im Juni 1914 wurde Waßmuß befördert und ihm „die etatsmäßige Stelle des Dragomans beim dem Kaiserlichen Konsulat in Cairo verliehen.“26 Die Stelle sollte er jedoch nie antreten.

Afghanistan-Auftrag und Persien-Mission Kurz nach seiner Einschiffung in Basra erfuhr er von der Kriegserklärung Englands an Deutschland. Über Kairo und Alexandria gelangte er nach Europa. Am 31. August 1914 kam er im Auswärtigen Amt in Berlin an, um sich zum Kriegsdienst bei seiner Marineeinheit abzumelden. Doch dort war man unter der Federführung Max von Oppenheims bereits mitten in der Planung der „Revolutionierung der islamischen Gebiete [der deutschen] Feinde“ und hatte einen ehrgeizigen Maßnahmenkatalog zur Entfachung von Aufständen gegen die Ententemächte im islamischen Orient entworfen.27 Waßmuß wurde vom Fleck weg einer Expedition nach Afghanistan zugeteilt, die den Emir überzeugen sollte, mit einem Einfall in den Punjab einen Aufstand gegen die Briten in Indien zu provozieren. Der türkische Kriegsminister Enver Pascha hatte dies angeregt. Waßmuß gefiel die Idee der Revolutionierung des islamischen Orients. Er hatte die antienglische Stimmung selbst erlebt. Ehrgeizig verfasste er eine eigene kurze Denkschrift zur Durchführbarkeit der geplanten Mission und der Lage in Persien. Darin verwies er auf die unruhige Situation in Südpersien und stellte die Revolutionierung der lokalen Stammesbevölkerung in Aussicht, sofern man diese mit Waffen und Geld beliefern würde. Am 6. September 1914 reiste Waßmuß mit 22 weiteren Expeditionsteilnehmern in die türkische Hauptstadt. Schnell erfassten ihn Zweifel an den Erfolgsaussichten. Weniger aufgrund der hochgesteckten Ziele als wegen der fehlenden Ernsthaftigkeit seiner Mitteilnehmer, die sich in Konstantinopel in Freudenhäusern vergnügten, öffentlich ihrer Geheimmission brüsteten und untereinander in peinliche Kompetenzgerangel traten. Vor allem mit dem egozentrischen Kaufmann Hermann Consten geriet Waßmuß aneinander. Consten bestand darauf, eines der für den Emir von Afghanistan 25 26 27

Ebd., Bd. 9, 16.03.1912. PA-AA, 16.173 Personalakte Waßmuß, 15. Juni 1914. PA-AA, R 20.937.

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bestimmten Geschenke, ein kostbares Schwert, ihm persönlich überreichen zu dürfen und beschwerte sich beleidigt nach Berlin über „die Intrigen von Konsul Wassmuss“, als dieser ihn ermahnte, sich der Aufgabe und Gruppe unterzuordnen.28 Der deutsche Botschafter an der Pforte, Hans Freiherr von Wangenheim, äußerte sich besorgt über die Qualität der deutschen Emissäre und verlangte Waßmuß zum „verantwortlichen Leiter“ zu bestellen.29 Berlin reagierte. Neue Kandidaten wurden rekrutiert, die über mehr Orienterfahrung und charakterliche Reife verfügten. Bald folgten der ersten eine zweite und dritte Gruppe, darunter Oskar von Niedermayer und Werner Otto von Hentig. Die schlimmsten Fehlgriffe mussten die Heimreise antreten. Am 19. September wurde Waßmuß zum Führer des verbliebenen Teils der deutschen Expeditionstruppe ernannt. Für die Dauer der Mission durfte er offiziell den Konsultitel führen. Zwei Tage später verließ Waßmuß Konstantinopel und reiste mit dem Rest der ersten Gruppe nach Aleppo, das sie Anfang Oktober 1914 erreichten. Doch die peinlichen Streitigkeiten unter den Deutschen wollten nicht enden. Das Auswärtige Amt hatte die Leitung der deutschen Truppe in Berlin ursprünglich einem Fünf-Männer-Konsortium übertragen. Die vier degradierten stellten Waßmuß’ neue Führungsposition offen in Frage. Waßmuß, der „nicht den geringsten Ehrgeiz, Führer der Afghanistanexpedition zu werden“ hatte, besaß nicht die Durchsetzungskraft, den Streitereien ein Ende zu setzen.30 Nur durch Vermittlung des deutschen Konsuls in Aleppo, Walter Rößler, konnten die Differenzen zumindest oberflächlich behoben werden. Waßmuß verzichtete am 28. Oktober auf die alleinige Führung und stimmte der Bildung eines neuen Drei-Männer-Kollegium zu, bestehend aus ihm, dem streitsüchtigen Consten und dem noch in Konstantinopel weilenden Niedermayer. Die türkischen Militärs konnten über all das nur den Kopf schütteln. Ihnen fiel es schwer, in der Truppe die preußische Disziplin wiederzuerkennen, für die die Deutschen bekannt waren, geschweige denn sie als gleichwertige Partner zu respektieren. Geheime Informationen konnte man nach dieser Vorstellung keinesfalls mit den Almanlar teilen. Schon das anstößige Benehmen der Deutschen in der Hauptstadt war ein ernsthaftes Ärgernis für die türkische Regierung gewesen, insbesondere da die Türkei sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Krieg mit der Entente befand. Die Allianz mit Deutschland war unter den Jungtürken nicht unumstritten, obgleich Enver energisch für das Bündnis warb. Ein einziges Mal hatte er Waßmuß empfangen, kurz und kühl. Seine Untergebenen, mit denen Waßmuß die Expedition planen sollte, hielten sich zu dessen offen zu Tage getragenen Ärger mit Informationen zurück. 28 29 30

PA-AA, R 21.031–1, 000021. Ebd., 000030. Dagobert von Mikusch, Waßmuß – der deutsche Lawrence – Auf Grund der Tagebücher und Aufzeichnungen des verstorbenen Konsuls, deutscher und englischer Quellen und des unter gleichem Titel erschienenen Buches von Christopher Sykes. Leipzig 1937, S. 59.

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Für die Osmanen bestand gar nicht die Notwendigkeit, die Deutschen einzuweihen, nachdem die Expeditionen ohnehin unter ihrer Leitung erfolgen sollte und die deutschen Emissäre lediglich „als Vertreter des im ganzen Osten geachteten Deutschlands innerhalb einer türk. Expedition“ zu erscheinen hatten.31 Deutsche Waffen und Ausrüstungen versprachen nur sehr beschränktes Mitwissen, noch weniger Mitsprache und schon gar keine Befehlsgewalt. Schon in Konstantinopel hatte Waßmuß während der Besprechungen mit Envers Beauftragten für das Afghanistan-Unternehmen, Major Ömer Fevzi Bey, den Eindruck, die osmanischen Behörden würden ihn bewusst im Unklaren lassen. In Aleppo konnte er schon froh sein, wenn ihn dessen Untergebener und Leiter der türkischen Expeditionsgruppe, Rauf Bey, an Lagebesprechungen überhaupt Teil haben ließ. Über den geplanten Ablauf des Unternehmens wurde er zu keinem Zeitpunkt informiert. Selbst als Berlin die Finanzierung der Expedition lieferte und Waßmuß die Summe auf Befehl der deutschen Botschaft in Konstantinopel nahezu vollständig an die türkische Leitung übergab, bekam er lediglich den Termin der Weiterreise nach Bagdad mitgeteilt. Für Waßmuß war das ein unhaltbarer Zustand. So beschloss er, auf eigene Initiative umzusetzen, was er in seiner Denkschrift vorgeschlagen hatte: Aus Bagdad, wohin er mit Niedermayer und dessen vervollständigter Expeditionstruppe weitergereist war, meldete er am 9. Januar 1915 nach Konstantinopel, „baldmöglichst (...) nach Fars, wo Arbeiten mit Generalgouverneur und Stämmen möglich erscheint“, zu gehen und den Weg nach Indien vorzubereiten.32 Ohne auf Zustimmung aus Berlin zu warten, drahtete Wangenheim sein Einverständnis. Am 28. Januar brach Waßmuß gemeinsam mit dem Arzt Theodor Lenders, dem Wönckhaus-Vertreter Erik Bohnstorff, drei indischen Revolutionären, „zurückkehrenden Kaschgai-Khans (...)“ sowie einigen persischen Nationalisten auf und überquerte am 1. Februar die Grenze nach Persien.33 Waßmuß hatte sich vom persischen Generalkonsul in Bagdad einen Pass „als nach Schiras reisender deutschen Konsul ausstellen lassen“.34 Völkerrechtlich versprach ihm dieser im neutralen Persien diplomatische Immunität, doch war es fraglich, ob die Briten sie respektieren würden. Auf der Weiterreise über Schuschtar erfuhr Waßmuß von der Internierung der deutschen Kaufleute Holst und Helmich durch britische Soldaten und, dass die persische Regierung „die Sicherheit der Deutschen in Südpersien nicht [...] garantieren könne.“35 Die begeisterte Aufnahme Waßmuß’ durch die lokale Bevölkerung bestärkte ihn jedoch in seinem Vorhaben. Stammesführer der Region boten 31 32 33 34 35

Oskar von Niedermayer, Unter der Glutsonne Irans – Kriegserlebnisse der deutschen Expedition nach Persien und Afganistan. Dachau 1925, S. 17. PA-AA, 16.173, 9.01.1915. Ebd., Kriegsbericht Waßmuß, S. 3. Ebd. Ebd., S. 5.

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Waßmuß ihre Hilfe an. „Serdar i Djeng, der Befehlshaber [...] der Bachtiaren“ sandte Reiter, andere versprachen freies Geleit durch ihre Weidegebiete.36 Zuversichtlich hielt Waßmuß fest: „Ich glaube [...] nicht, daß angesichts der Stimmung der Bevölkerung ein persischer Machthaber es wagen würde, uns an die Engländer zu verraten“; noch weniger, dass die englische Regierung „gegen die persische Neutralität [...] verstoßen und sich damit ins Unrecht setzen“ würde.37 Waßmuß täuschte sich. Tatsächlich hatten die Briten bereits Anfang Februar der Regierung des Schah mitgeteilt, nach dem türkischen Einfall in Arabistan und den erfolgreichen Bemühungen der Expedition Klein, die schiitischen Würdenträger in Karbala und Nadschaf für Fatwas gegen die Engländer zu gewinnen, jegliche völkerrechtliche Rücksichtnahme in ihrer Interessensphäre fallen zu lassen. Sie wussten längst von Waßmuß’ Plänen für Südpersien. Der politische Resident am Golf, Sir Percy Cox, der ehemalige Amtskollege von Waßmuß in Buschehr, rief zur Jagd auf den deutschen agent provocateur auf und setzte eine Belohnung aus für seine Ergreifung – „dead or alive“.38 Am 5. März überfielen Anhänger des in britischen Sold stehenden Haider Khans Waßmuß und dessen Karawane auf dem Weg nach Buschehr, wo er sich mit dem dortigen Konsul Listemann treffen wollte. Nur mit knapper Not konnte Waßmuß entkommen und zu Fuß in den Schutz der persischen Gendarmerie im fast 100 Kilometer entfernten Borazjan fliehen. Sein Begleiter Lenders hatte weniger Glück: er wurde an die Briten übergeben und nach Indien verschleppt. Wenigstens ein Teil der Ausrüstung konnte gerettet werden. Die wichtigsten Dokumente hatte Waßmuß bei sich, den Großteil der Expeditionskasse konnte sein persischer Diener sichern. Doch unter den beschlagnahmten Gegenständen befanden sich Waffen, Propagandaschriften und Dokumente, die die Revolutionierungsvorhaben der Deutschen in Persien zweifelsfrei belegten und die Namen aller an der Afghanistanmission beteiligten Personen verrieten. Die Briten fühlten sich nun berechtigt, uneingeschränkt gegen die Deutschen im Lande vorzugehen. In den frühen Morgenstunden des 9. März drangen britische Soldaten unter dem Kommando des englischen Vizekonsuls Noel in das deutsche Konsulat in Buschehr ein und verhafteten Listemann. Dabei gelangten sie in den Besitz des Chiffres, mit dem deutsche Botschaftsangehörige ihre Kommunikees codierten, und waren fortan in der Lage, die diplomatische Post der Deutschen mitzulesen. Um den beachtlichen geheimdienstlichen Erfolg nicht durch die völkerrechtswidrige Aneignung zu schmälern, setzte der britische Geheimdienst die Legende in die Welt, man habe den Chiffre bei Waßmuß kurzzeitiger Festnahme sicher stellen können. 36 37 38

Ebd., S. 7. Ebd. A. J. Barker, The First Iraq War – 1914–1918 – Britain’s Mesopotamien Campaign. New York 2009, S. 131.

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Waßmuß zeigte sich empört ob des offensichtlichen Rechtsbruches der Briten. Die persische Regierung, allen voran der Generalgouverneur von Fars, Muchber es Saltane, teilte seine Entrüstung und forderte die sofortige Freilassung von Listemann und Lenders. Vergebens. Waßmuß sah sich dadurch motiviert, seine Ambitionen zu steigern: „Hatte ich vorher den Gedanken erwogen, daß es [. . . ] nützlich sei, wenn Persien neutral bliebe und nur als Brücke nach Afghanistan und der indischen Grenze diene, so gaben die Engländer jetzt durch ihr Verhalten die beste Handhabe, mit Fug und Recht gegen sie in Persien vorzugehen.“39 Nachdem seine Bemühungen, auf diplomatischem Wege „den Gefangenen zu Hilfe zu kommen“ gescheitert waren, beschloss er, „durch Gefangennahme der englischen Kolonie in Schiras oder durch einen Angriff auf Buschir die Scharte auszuwetzen.“40 Der Überfall auf die Deutschen hatte noch eine andere unbequeme Folge für die Engländer. Die persische Bevölkerung und vor allem die Stämme Südpersiens betrachteten das britische Vorgehen als skandalöse Neutralitätsverletzung. In der ohnehin seit Jahren antienglisch aufgeheizten Stimmung ebnete die öffentliche Erregung den Weg zur Revolutionierung Südpersiens. Zahlreiche Stammesführer boten Waßmuß nun unumwunden ihre Unterstützung an, darunter der „Häuptling“ der Tangistani „Rais Ali von Delwar, dessen Name [...] durch seine Kämpfe mit den Engländern im Jahre 1913 bekannt war, [...] das Kaschgaioberhaupt Soulet ed Doule und der als besonders englandfeindlich bekannte Muhammed Ali Kaschguli.“41 Unter dem Schutz persischer Gendarmerie reiste Waßmuß von Borazjan nach Schiraz, wo „die Bevölkerung [...] bei [s]einer Ankunft in Scharen vor die Stadt gezogen“ war.42 Waßmuß „bestürmte den Generalgouverneur, suchte die Führer der Geistlichkeit auf, trat mit den Demokraten in Verbindung und machte selbst dem englandfreundlichen Kawam ul Mulk einen Besuch, damit er gegen die Eingriffe Stellung nehme.“43 Überall zeigte sich die Stimmung für die Deutschen „in hohem Grade [...] günstig.“44 Der ebenfalls in Schiraz residierende englische Konsul Frederick O’Connor bemühte sich nach Kräften, Waßmuß durch eigene Aktionen entgegenzuwirken. Die Provinz Fars gehörte traditionell zu den Provinzen, in denen die Teheraner Regierung über fast keinen Einfluss verfügte. Die beiden mächtigen Stämme der Kaschgai und Hamsa bildeten die eigentlichen Machtfaktoren der Region, erhoben Zölle oder bestritten ihren Lebensunterhalt mit Plünderungen der durch ihre Gebiete führenden Karawanen. Insbesondere der englische Handel war davon betroffen. Die Oberhäupter der Kaschgai und der Hamsa 39 40 41 42 43 44

PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 12. Ebd., S. 19. Ebd., S. 12. Ebd., S. 17. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17.

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waren traditionell verfeindet. Die von Teheran bestellten Generalgouverneure von Fars pflegten ihre Macht daher auf eine der beiden Seiten zu stützen, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Muchber es Saltane war nach langer Zeit der erste Generalgouverneur, dem es gelang, mittels der persischen Gendarmerie halbwegs für Ruhe in der Provinz zu sorgen und sich dabei tribaler wie ausländischer, namentlich britischer, Einflussnahme zu entziehen. Damit machte er sich sowohl die Stämme als auch die Briten zu Feinden. O’ Connor nutzte diesen Umstand und lies sowohl Soulet ed Doule als auch Kawam ul Mulk erhebliche Geldbeträge zufließen, um mit ihrem gemeinsamen Einfluss die Absetzung Muchbers zu bewirken. Für Waßmuß blieb es unsicher, ob er tatsächlich auf die Hilfe der Khane zählen konnte und intertribale wie politische Feindschaften ein wirksames Vorgehen verhinderten. Während die Briten die Divergenz der innerpersischen Kräfte förderten und isoliert an sich zu binden bemühten, bestand die Herausforderung für Waßmuß, die Stimmung innerhalb der rebellischen Stämme im „national-persischen Sinne“ zu formen, Feindschaften zu beheben und sie auf ein gemeinsames Vorgehen mit der persischen Gendarmerie einzuschwören, dem „einzigen militaerischen Faktor Persiens.“45 Dem deutschen Geschäftsträger in Teheran, von Kardorff, war es im Januar 1915 gelungen mit einem der Befehlshaber, Major Edwall, einen Geheimvertrag abzuschließen, in dem er versicherte, „diese für ein etwaiges kriegerisches Eingreifen vorzubereiten.“46 Um dies zu ermöglich, musste die Teheraner Zentralregierung ihre neutrale Haltung aufgeben, worum sich Berlin mittlerweile und entgegen vorangegangener Pläne eifrig bemühte. Der Kommandant der Gendarmerie in Schiraz, Major Pravitz, bekannte Waßmuß offen seine Sympathie für die deutsche Sache, fühlte seine Hände aber durch sein „Dienst- und Treueverhältnis zum persischen Staat“ gebunden.47 Gewissermaßen als Vertrauensvorschuss wies Waßmuß die Vertreter der Firma Wönckhaus an, alle ihnen zugänglichen Geldbeträge der Gendarmerie zur Verfügung zu stellen, um Soldzahlungen zu ermöglichen und zumindest deren ordnungspolitische Aufgabe zu erhalten – schließlich sorgten die Gendarmen, Waßmuß’ „gute Freunde“, auch für seine Sicherheit vor englischen Häschern.48 Aus Teheran erhielt die ständig in prekärer Finanznot befindliche Gendarmerie schon lange kein Geld mehr. Zu Waßmuß’ Verdruss machten jedoch nicht nur die schwedischen Offiziere ihr Handeln von der Haltung Teherans abhängig. Hatte von Kardorff ihm im Rahmen seiner Revolutionierungsbemühungen noch Handlungsfreiheit zugebilligt und Waffen für die Stämme in Aussicht gestellt, wies ihn der neue 45 46 47 48

PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 51. Zitiert in Ulrich Gehrke, Persien in der Deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkrieges, Zwei Bände. Stuttgart 1960, hier Bd. I, S. 59. Ebd., S. 126. PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 43.

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deutsche Geschäftsträger in Teheran, Prinz Reuß, im April 1915 an, einen von deutschen Stellen orchestrierten Angriff auf die Briten in Buschehr oder Schiraz zu unterlassen, um die delikaten Verhandlungen mit der persischen Regierung nicht zu gefährden. Davon war Waßmuß zu diesem Zeitpunkt ohnehin weit entfernt. Die Kriegseuphorien der Khane hatten sich als Wortblasen herausgestellt. Soulet ed Doule zeigte sich als „zaudernden, zu keinem Entschluss fähigen Mann“ und war plötzlich nicht mehr bereit, sich an Kämpfen gegen die Engländer zu beteiligen.49 Der kriegslüsterne Muhammed Ali Kaschguli erwies sich als „Trinker und Opiumraucher“.50 Resigniert stellte Waßmuß fest: „Mit Freundschaftsbezeichnungen überschüttet, aber ohne feste Aussicht auf wirkliche Hilfe [...].“51 Waren seine Verhandlungen mit den großen Stammesführern auch zum Erliegen gekommen, zeichneten sich an anderer Stelle Erfolge seiner Propagandaarbeit ab. Gleich nach seiner Ankunft in Schiraz war auf Waßmuß’ Antrieb „eine Hektografenpresse in lebhafte Tätigkeit“ getreten und Flugblätter mit Informationen zum Kriegsverlauf sowie Berichten über britische Verletzungen der persischen Neutralität in Umlauf gebracht worden.52 Waßmuß „erhielt Briefe von Scheich Hußein Khan Tschahkutchi und Sajer Kheser Khan Tengistani, zwei örtlichen Machthabern im [...] Hinterlande von Buschir“, in denen sie ihre Hilfe gegen die Briten anboten.53 Ende Mai 1915 traf sich Waßmuß mit ihnen in Ahram, einer kleinen Festung an der Wegstrecke Buschehr – Schiraz. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnte: Sie wurden seine wichtigsten Verbündeten in Persien. Vordergründig fühlten sich die Beiden durch die Briten in ihrer tribalen Autonomie bedroht. Die Unterbindung des lukrativen Waffenschmuggels hatte ihren Ärger, Strafexpeditionen ihren Hass geschürt. Angriffe auf die Engländer versprachen Beute, die Allianz mit dem Kaiserreich im ganzen Orient geschätzte deutsche Waffen. Doch in diesem Punkt musste Waßmuß sie enttäuschen. Wahrheitsgemäß klärte er sie über die schwierige Versorgungslage und seine bescheidenen Mittel auf. Lediglich mit Patronen, die Waßmuß in Schiraz aufzukaufen begonnen hatte, konnte er dienen. Geld und Waffen würden sie erhalten, sobald sich die Gelegenheit böte. Selbst die Forderung der beiden Stammesführer, einen Schutzbrief der deutschen Gesandtschaft zu erhalten, sollte die persische Regierung sie zu Briganten erklären, konnte er nicht erfüllen.

49 50 51 52 53

Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 43. Ebd., S. 30.

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Das Bündnis mit den Khanen Prinz Reuß zeigte sich telegrafisch zwar erfreut über Waßmuß’ Anwerbungen und stellte Munition und Geldmittel in Aussicht, lehnte das Schutzgesuch jedoch ab. Waßmuß solle zudem nur losschlagen, wenn eine „große gemeinsame Aktion der vereinigten Stämme“ zu erwarten wäre.54 Kurz darauf revidierte er seine Aussage und befahl Waßmuß nach Schiraz zurückzukehren und sich ruhig zu verhalten. Die Teheraner Regierung hatte sich besorgt über seine Agitation in Fars geäußert. Irritiert von den widersprüchlichen Anordnungen, handelte Waßmuß nach eigenem Ermessen. Die beiden Khane hatten bereits Vorbereitungen für einen Überfall auf Buschehr getroffen und ließen sich von den schlechten Nachrichten nicht entmutigen. Für sie war der Krieg gegen die Engländer beschlossene Sache. Als Waßmuß trotz Reuß’ Order immer noch nicht nach Schiraz zurückging, stellte er ihn am 15. Juni 1915 vor die Wahl, dorthin entweder sofort „als Konsul [...] zurückzukehren oder ohne Konsulcharakter im Süden weiterzuarbeiten.“55 Waßmuß verzichtete auf den schützenden Titel und machte sich daran seinen Kleinkrieg gegen die Briten zu planen. Entscheidend für seinen Entschluss war die Überzeugung, dass „das persische Volk in seiner [...] Schwäche bei allem guten Willen der vaterländisch denkenden Kreise ohne Anstoß von außen nie den Weg von Worten zu [...] Taten finden werde.“56 Nur militärische Erfolge gegen die Engländer – und seien es nur symbolische Siege – könnte die Regierung aus ihrem Lethargie befreien und die allgemeine Bevölkerung in einen Aufstand gegen die Briten treiben. Seine eigene Aufgabe sah Waßmuß darin, „neue Kräfte, welcher Art sie auch sein möchten, zum tatsächlichen Kampf gegen die Engländer“ zu bringen und damit an der „Erreichung des deutschen Kriegszieles: Niederzwingen unserer Feinde, mitzuarbeiten“.57 Er schlug sein „Hauptquartier“ in Tangistan auf, stellte sich eine Eskorte bewaffneter Reiter zusammen und warb in alle Richtungen persönlich und durch Boten, um weitere Verbündete. Anfang Juli hatte Waßmuß vor Buschehr rund 300 von Hußeins und Sajer Khesers Stammesreitern versammelt und mit den geringen Geldmitteln, über die er noch verfügte, und beeindruckendem Organisationstalent ein regelrechtes Heerlager errichtet. Die Khane richteten ein Ultimatum an die britische Garnison, die gefangenen Deutschen freizusetzen und die Stadt zu verlassen. Den Briten waren die Kriegsvorbereitungen der Stämme und Waßmuß Aktivitäten nicht entgangen. Etwa 500 Mann indische Truppen, Wachmannschaften und englische Offiziere hielten die Stadt. Eifrig hatten sie Verteidigungsstellungen um die Stadt errichtet. „Um ein Vorgehen der Khane 54 55 56 57

Reuß zitiert in Gehrke, Persien Bd. 1, S. 129. Ebd., S. 30. PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 42. Ebd.

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gegen Buschir hinzuhalten, suchten die Engländer sie in Kämpfe mit den Khanen von Daschtistan zu verwickeln“, denen sie Geld, Waffen und sogar ein Geschütz lieferten und anregten, die Heimatdörfer der „Tengistani“ zu überfallen.58 Zu Waßmuß’ Glück, mehr noch dem seiner Mitstreiter, ging der Plan nicht auf. So kriegslüstern sich die tribale Bevölkerung gern gab, so zurückhaltend zeigte sie sich oft, wenn es tatsächlich zum Kampf kommen sollte. Das mussten Engländer wie Waßmuß gleichermaßen lernen. Nachdem das Ultimatum verstrichen war, konnte Waßmuß seine Krieger nur unter Drohungen der eigenen Abreise dazu bringen, in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli als erste Maßnahme den außerhalb der Stadt gelegenen Sommersitz des englischen Generalkonsuls anzugreifen. Als beim Vorrücken einer der Männer unglücklich stürzte und sich selbst erschoss, brachen sie den Angriff entmutig ab: „Es sei ein Unding, die [mächtigen] Engländer anzugreifen.“59 Nur durch Zufall kam es überhaupt zu Kampfhandlungen, als der verspätet eingetroffene Rais Ali eine Reiterpatrouille der Briten überraschte und mit ihr in ein Scharmützel geriet. Kein einziger seiner Krieger fiel, dafür töten sie zwei britische Offiziere und eine Handvoll ihrer indischen Mannschaften. Die Überlebenden retteten sich in die Stadt, von wo aus die Garnison den Rest des Tages mit „heftigem Geschützfeuer“ antwortete.60 „Die Panik muß [...] nicht gering gewesen sein.“61 Für die Stammeskrieger war es ein phänomenaler Sieg. Auch die mutlosen Reiter Scheich Hußeins und Sajer Khesers fühlten sich wieder tapfer. Die Khane richteten einen Belagerungsring um Buschehr, während Waßmuß nach Schiraz zurückkehrte, um neue Munition zu beschaffen und von dem Erfolg nach Teheran zu drahten. Er traf am 22. Juli fast zeitgleich mit dem an seine Stelle getretenen neuen Konsul Wustrow ein. „Wäre Wustrow nicht nach Schiras gekommen, so hätte ich meine Arbeit unter den Tengistani kaum fortsetzen können.“62 Dieser übernahm nun die aufwendige Aufgabe, in Schiraz Flagge zu zeigen, Munition zu beschaffen und mit den restlichen Deutschen im Land Kontakt zu halten, so dass Waßmuß sich seiner Aufgabe in Tangistan widmen konnte. Dies war auch bitter nötig. Die Ereignisse am Golf hatten eine neue Qualität erreicht. Die Briten hatten 200 Mann „weiße“ Marineinfanteristen nach Buschehr verlegt, die Regierungsgewalt über die Stadt übernommen und sie am 8. August formell besetzt.63 Über dem vermeintlich neutralen Golfhafen wehte nun der Union Jack. Die Aktion war als Drohung an die persische Regierung gedacht, nicht unterstützend in den Aufstand im Süden einzugreifen, denn „nach Angaben des engl. Gesandten waren die engl. und die ind. Regie58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 49. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Ebd. Ebd., S. 50. Ebd., S. 52.

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rung [zu mehr] nicht in der Lage.“64 Zusätzlich sollten von See aus gesteuerte Strafaktionen die aufständischen Stämme demoralisieren. Am 13. August bombardierten die Briten mit vier Kriegsschiffen das Dorf Delwar, die Heimat Rais Alis, und landeten Truppen, die mit aufgepflanztem Bajonett gegen die überlebenden Einwohner vorrückten. Der irrtümliche Beschuss der gelandeten Infanteristen durch die eigene Schiffsartillerie und heftige Gegenwehr der Dorfbewohner zwangen sie zum Rückzug. Zuvor hatten sie jedoch nicht versäumt, „durch Abhacken der Palmenhaine die Bevölkerung von Dilwar auf Jahre um ihre Erwerbsmöglichkeiten zu bringen.“65 Die Stimmung unter den Belagerern Buschehrs wurde schlechter. Solange die Stammeskrieger vor der Stadt lagen, konnten sie ihre Heimatdörfer und Familien nicht vor Angriffen schützen. Nicht wenige dachten daran, aufzugeben, und konnten nur durch energisches Auftreten Waßmuß’ zurückgehalten werden. Das rücksichtlose Vorgehen der Briten bewies ihre Nervosität, die Situation vor Buschehr könnte Nachahmer im Rest Persiens finden. In Isfahan war es nach der Ankunft des Vorauskommandos der Afghanistanexpedition zu Überfällen auf Russen und Engländer gekommen. Immer wieder griff die britische Garnison in den nächsten Tagen und Wochen daher die vor der Stadt campierenden Stämme an, um deren Widerstandswillen zu brechen. Den blutigen Höhepunkt der Kämpfe bildete ein Gefecht am 9. September, als eine Schwadron indischer Reiter unterstützt von Schiffsgeschützen und Maschinengewehrfeuer „die Leute unter Scheich Hußein“ attackierte.66 Etliche seiner Reiter fielen, darunter sein Sohn. Obgleich sie selbst viele Tote und Verwundete zu beklagen hatten, „schrieben sich die Engländer einen großen Sieg über die Tengistani zu, und in der Tat waren die Verluste auf unserer Seite so schwer, daß man auf lange Zeit nicht an neue Kämpfe dachte.“67 Nur durch sein „persönliches Verhalten gegenüber den Zurückflutenden, besonders den Verwundeten“ gelang es Waßmuß, dass „sich der Zorn der Geschlagenen nicht gegen [ihn] richtete.“68 An eine Einnahme Buschehrs war jedoch nicht mehr zu denken. Auch wenn die Briten in der Hafenstadt eingeschlossen waren und die Kontrolle über das Umland verloren hatten, garantierte die Versorgung über See und die Überlegenheit ihrer Schiffskanonen die Sicherheit ihres Brückenkopfes am Golf. Waßmuß konstatierte „die Festhaltung englischer Streitkräfte in Buschir, Materialaufwendungen und zugefügte Verluste sind das einzige militärische Ergebnis dieser Kämpfe [...]. Ihre Bedeutung liegt aber mehr auf einem anderen Gebiet. Mit Staunen sehen die übrigen Perser, wie hier ein kleiner Bezirk gegen das mächtige England die Waffen erhob, [...] für die Unabhängigkeit des Landes eintrat und wie die Engländer [...] nichts dagegen vermochten.“69 64 65 66 67 68 69

Gehrke, Persien, Bd. II, S. 154. Ebd. Bd. I, S. 157. PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 55. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd., S. 54

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Aus Sorge, dass die Bachtiaren, in deren Gebiet sich die Ölfelder bei Ahwaz befanden und mit deren Führern sie eigentlich verbündet waren, sich von der Kriegslust in Tangistan anstecken ließen, hatten sie bereits Truppen am Karun gelandet. Im Angesicht der Niederlage bei Gallipoli und den erheblichen Problemen des britisch-indischen Expeditionskorps in Mesopotamien, bekam die Situation in Südpersien eine ungeahnte Brisanz. Die Briten mussten fürchten ihre imperiale Macht im Orient zu verlieren. In Schiraz hatte Konsul Wustrow unterdessen mit Hilfe der Gendarmerie, deren persische Offiziere nun offen Partei für die Deutschen ergriffen, und lokaler Demokraten mehr und mehr Unterstützer um sich scharen können, die zum Teil bereits eigeninitiativ gegen die Briten vorgingen. Mit Billigung der Gesandtschaft in Teheran ließ Wustrow im Verbund mit einem „Nationalkomitee zum Schutz der Unabhängigkeit Persiens“ am 10. November 1915 das britische Konsulat besetzen und die englische Kolonie – inklusive O‘Connor sieben Männer und vier Frauen – verhaften. Waßmuß konnte ihm aufgrund der Situation in Tangistan nicht zu Hilfe kommen, was sich am Ende zwar als nicht notwendig herausstellte, Wustrow ihm jedoch aus Sorge um seine Sicherheit während der Aktion bitterlich vorhielt. Die Gefangenen wurden nach Ahram gebracht, wo Waßmuß die Männer als Faustpfand zur Freilassung der gefangen genommenen Deutschen im Gewahrsam Sajer Khesers überließ. Die Frauen wurden unter dem Schutz von Gendarmen und in Begleitung von Waßmuß nach Buschehr überführt und der britischen Garnison übergeben. Für kurze Zeit waren das Nationalkomitee und Wustrow nun die Herren der Stadt, nachdem die Gendarmerie auch noch den englandfreundlichen Gouverneur vertrieben hatte. Die Revolutionierungspläne waren damit im Süden Persiens aufgegangen. Buschehr war isoliert, Schiraz hatten die Briten verloren. Der weitere Erfolg hing nun von der Entwicklung im restlichen Persien ab. Im Nordwesten des Landes hatte die russische Kaukasusarmee unterdessen die Türken aus Aserbaidschan vertrieben, Täbris und Urmia besetzt und war Richtung Zentralpersien vorgerückt. Kosakeneinheiten standen wenige Kilometer vor Teheran. Aus Angst vor russischer Rache verwarf der Schah seinen Plan eines Defensivbündnisses mit Deutschland, dem er am 10. November 1915 gegenüber Prinz Reuß noch zugestimmt hatte. In Erwartung einer russischen Besetzung der Stadt flohen die Angehörigen der Mittelmächte am 15. des Monats gemeinsam mit den persischen Demokraten und nationalistischen Parlamentariern nach Kermanshah, um dort eine letzte Verteidigungslinie und im Sinne eines Coup d’état eine Exilregierung einzurichten. Waßmuß, der nach Schiraz gereist war, um sich mit Wustrow auszusprechen, erlebte ihn sichtlich nervös, aufgrund der Entwicklung im restlichen Land in Feindeshand zu geraten. Immer noch verärgert über ihn, verweigerte sich Wustrow jeglicher Pläne eigenständiger Arbeit in Südpersien, bezeichnete dessen Erfolge in Tangistan als reine „Handlangerdienste“ und warf ihm vor, „mit

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den Tengistani wie cochon et frère“ zu hausen.70 Trotz der Bitten Waßmuß’, seine „hervorragende“ Arbeit in Schiraz fortzusetzen, verließ Wustrow am 14. Januar 1916 die Stadt, um sich in Kermanshah Prinz Reuß anzuschließen.71 Waßmuß übergab die konsularische Gewalt dem Wönckhaus-Vertreter Roever und kehrte nach Tangistan zurück, um an der Seite der Khane den Aufstand fortzusetzen. England und Russland hatten sich im März 1915 im „Contantinople Agreement“ geeinigt, ihre 1907 festgelegten Einflusssphären auszuweiten und aufgrund der Bemühungen der freiheitlichen und anti-kolonialen Kräfte Persiens, sich den Mittelmächten anzuschließen, das Land vollends zu besetzen. Während russische Truppen im Frühjahr 1916 in Westpersien einrückten, machten sich die Briten daran, den neutralen Mittelteil unter ihre Kontrolle zu bringen. Unter britischem Druck stimmte die persische Regierung der Abberufung des Chefinstrukteurs der Gendarmerie General Hjalmarson und der Nominierung eines englandfreundlicheren Offiziers zu sowie der Aufstellung einer 11.000 Mann starken persischen Truppe unter englischen Offizieren. Der neue Gendarmeriechef Oberst Nyström ließ umgehend alle Gendarmen, die für das Nationalkomitee oder die deutsche Seite Partei ergriffen hatten, zu Deserteuren erklären. Nach Wustrows Abreise aus Schiraz gelang es ihm so, die Unzufriedenheit einiger Unteroffiziere über ausgebliebene Soldzahlungen auszunutzen und ihre deutsch-freundlichen Offiziere überwältigen und am 6. April 1916 gemeinsam mit Roever und den übrigen in Schiraz verbliebenen Deutschen in Ketten legen zu lassen. Damit war Waßmuß in Südpersien auf sich alleine gestellt. Er konnte nun zusehen, wie die „Konterrevolution“ Tag für Tag an Fahrt gewann. Unter dem Kommando des außergewöhnlich landesversierten Brigadier-General Sir Percy Sykes war seit März 1916 mit der Aushebung der anglopersischen Truppe begonnen worden. Unter der Namen „South Persian Rifles“ sollten sie die Stämme im Süden zur Raison bringen und Recht und Ordnung wiederherstellen – anders als zuvor die schwedisch-persische Gendarmerie allerdings im Sinne Großbritanniens. Am 17. Mai begann ihre „Befriedungsmission“, und Sykes gelangte – unter teilweise heftigen Widerstand – nach halbjährigem Marsch über Kerman, Yazd und Isfahan am 11. November 1916 nach Schiraz. Dort übernahm er die Reste der Gendarmerie, ließ weitere Truppen nachrücken und verfügte bis zum Ende des Jahres über fast 3000 Mann, ausgerüstet mit modernen Lee-Enfield Repetierbüchsen, Maschinengewehren und Geschützen. Abgesehen von der Provinz Kermanshah war nun ganz Persien von russischen und britischen Truppen respektive von ihren „Eingeborenentruppen“ besetzt. Nur die Straße zwischen Buschehr und Schiraz und die tribalen Gebiete, durch die sie führte, waren von Waßmuß und seinen Stammesverbündeten noch gesperrt. 70 71

PA-AA, NL Waßmuß 790, Kriegstagebuch 1916–1918, S. 6 u. 9. Ebd., S. 8.

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Mit dem Rückzug der Deutschen nach Kermanschah und der Verhaftung Roevers in Schiraz im April 1916 hatte Waßmuß – abgesehen von wenigen durch Boten überbrachte Nachrichten – alle Verbindungen zu vorgesetzten Stellen verloren. So aussichtslos sein Position dadurch wurde, hoffte er, den Aufstand mit den ihm loyalen Khanen und ihren Stammeskriegern, „die auf Gedeih und Verderb mit ihnen verbunden waren“, aufrecht zu erhalten, bis eine Verbesserung der Gesamtlage eintreten würde.72 Rastlos reiste er mit seiner Reitereskorte durch das Buschehrer Hinterland und ließ entlang der Straße nach Schiraz Schützengräben und Befestigungsanlagen errichten, um gegen mögliche Angriffe der Briten gerüstet zu sein. Im Notfall konnten dadurch im schwerzugänglichen Bergland wenige Schützen größere Verbände abwehren. Als Ende April 1916 ein starkes angloindisches Detachment mit „2 Geschützen und eine[r] Reihe von Maschinengewehren“ von Buschehr aus vorrückte, um die Gefangenen auf Ahram zu befreien, wurden es in der Nähe des Dorfes Tschagodek in so heftige Abwehrkämpfe verwickelt, dass sich die Truppe „ebenso schnell wie sie gekommen war wieder zurück[ziehen]“ musste.73 Das Dorf selbst wurde im Verlauf der Kämpfe allerdings dem Erdboden gleich gemacht. Mit geliehenem Geld und „Matten zum Decken der Hütten“ bemühte sich Waßmuß, die schlimmste Not zu lindern. So gern gesehen Waßmuß’ Hilfe, seine militärischen Expertisen, sein organisatorisches Talent und seine medizinische Fürsorge bei den Aufständischen auch waren, eines stand außer Frage: der Krieg in Südpersien war längst ein Krieg der Khane geworden. Die Rückschläge der Deutschen in Persien waren ihnen nicht entgangen. Schon bald – im Mai 1917 – würden sie das Land geräumt haben. Waßmuß war mehr oder minder mittellos, seine Expeditionskasse lange verbraucht. Die bescheidenen Geldmittel, die die Firma Wönckhaus kontribuiert hatte oder Waßmuß von der Imperial Bank requirieren ließ, waren aufgezehrt. Um handlungsfähig zu bleiben, musste er bei seinen Verbündeten Schulden aufnehmen. Die Khane finanzierten den Krieg. Und sie zahlten den Blutzoll. Den Kämpfen gegen die Engländer waren zahlreiche ihrer Stammesleute zum Opfer gefallen. Krieg, ungewöhnlich starke Missernten und die Unterbrechung des Handelsverkehrs zwischen Buschehr und Schiraz hatten in der Region zu einer schweren wirtschaftlichen Not, Hunger und Elend gesorgt. „Dadurch gerieten die Khane [...] in eine Zwangslage. Ein großer Teil der Dorfbewohner drohte fortzugehen, kleinere Ortshäupter wurden unwillig und drohten mit den Engländern in Verbindung zu treten. So kam es, daß die Khane [...] eine Verständigung mit den Engländern anstrebten.“74

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PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 72. Ebd., S. 75, Waßmuß schreibt „am 25. oder 26. April”, O’ Connor nennt den „27th April“; vgl. Frederick O’Connor, On the Frontier and beyond. London 1931, S. 243. Ebd.

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Waßmuß musste seinen Plan aufgeben, mit den auf Ahram festgehaltenen Briten „die Freilassung der deutschen Gefangenen durchzusetzen.“75 Die Khane benötigten die Geiseln für eigene Forderungen. Zu Protesten fühlte sich Waßmuß nicht in der Lage. Kurzzeitig fürchtete er, „möglicherweise [...] selbst an die Engländer verkauft“ zu werden.76 Am 10. August 1916 wurden O’Connor und die restlichen in Ahram Festgehaltenen von Scheich Hußein und Sajer Kheser freigelassen. Im Gegenzug entließen die Briten dreizehn internierte Stammesnotabeln, gaben beschlagnahmte Waren und Gelder der Khane frei und vereinbarten einen Waffenstillstand, der die Wiederaufnahme des zivilen Handels zwischen Buschehr, Schiraz und den Dörfern der Khane ermöglichte. „So kam Wustrows Arbeit in Schiraz wenigstens unseren Freunden, den Tengistani, zugute“, konstatierte Waßmuß.77 Für ihn war nun allerdings klar, dass er selbst nichts mehr ausrichten konnte. Im Gegenteil: Hilfe aus Deutschland war kaum zu erwarten und durch seine Anwesenheit verkomplizierte er Friedensverhandlungen seiner Khane mit den Briten, sollten sie einmal kriegsmüde werden. Mit Sykes erfolgreichen Vormarsch auf Schiraz und der „Vertreibung der Deutschen aus [...] Persien“ war für ihn ein Ende des Aufstandes in Südpersien nur eine Frage der Zeit. Waßmuß beschloss, sich „nach Bagdad durchzuschlagen.“78 Ohne seine Verbündeten unterrichtet zu haben, brach er am 11. September 1916 zu Fuß Richtung Mesopotamien auf, gekleidet in einheimischer Tracht, um wegen des immer noch auf ihn ausgesetzten Kopfgeldes nicht erkannt und gefangen genommen zu werden.79 Die Verkleidung wurde ihm zum Verhängnis: „Räuberische Angehörige des Stammes der Farsimeden (Kaschgai), von denen ich sonst nichts zu befürchten gehabt hätte, überfielen mich und meine beiden Begleiter [...]. Durch Dolchstiche in den Oberschenkel, den Arm, usw. [wurde ich] schwer verwundet.“80

Als die Räuber ihren Irrtum bemerkten, ließen sie von Waßmuß ab und verständigten die Khane. Auf halsbrecherischem Wege wurde der Verletzte zurück nach Ahram geschafft und medizinisch versorgt. An ein Durchschlagen nach Mesopotamien war für ihn nun nicht mehr zu denken. In der Obhut Sajer Khesers kurierte Waßmuß in den nächsten Monaten seine Verletzungen aus. Seine Tätigkeit beschränkte sich auf das Verfassen von Flugblättern, „Entgegnungen auf englische Veröffentlichungen“ und Motivationsschreiben an die umliegenden Stammesführer.81 Mittellos und sprichwörtlich ans Bett gefesselt war er vom Wohlwollen seiner Gastgeber abhängig. Die Khane 75 76 77 78 79 80 81

Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 2. Reinhard Försterling, „Ein berühmter Ohlendorfer: Konsul Wilhelm Waßmuß“, in: Rudolf Krüger (Hrsg.), Ohlendorf – Streifzüge durch die Geschichte, Salzgitter 2004, S. 333– 349, hier S. 340.

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hatten sich bereits einmal mit den Briten verständigt – und das ohne Waßmuß. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn auszuliefern und damit alle Differenzen zu klären. Die Kämpfe um Buschehr waren eingeschlafen, der Union Jack wehte immer noch über der Stadt. In Schiraz war Sykes einmarschiert. Darüber warum sie es nicht taten, kann man nur spekulieren. Unzweifelhaft ist, dass Waßmuß es als ungewöhnlich wahrnahm und es ihnen hoch anrechnete. Trotz der antienglischen Stimmung unter den Stämmen, die durch Sykes’ brutalen Vormarsch einen neuen Höhepunkt erfuhr und selbst das anfangs noch so zögerliche Kaschgaioberhaupt Soulet ed Doule in den offenen Widerstand trieb, musste Waßmuß immer den Verrat fürchten. Zu verlockend war das Kopfgeld der Briten. „Innere Zwistigkeiten in Tengistan“, die zerfahrenen, intertribalen Verhältnisse „machten damals größere Vorsicht notwendig.“82 Seine Gastgeber hingegen hielten ihm gegenüber Wort. Der Waffenstillstand hatte zwar die Straße von Buschehr nach Schiraz für den zivilen Handel wieder geöffnet. Für Militär, South Persia Rifles oder Kriegsmaterial blieb er gesperrt. Karawanen wurden von den Stammeskriegern peinlichst genau nach Waffen und Munition durchsucht. Ein Durchbrechungsversuch der South Persia Rifles im Dezember 1916 musste nach schweren Verlusten abgebrochen werden. Waßmuß erlebte die Kämpfe nur noch als Zaungast. Wirklichen Anteil an den Ereignissen in Fars nahm er nicht mehr. Soulet ed Doule untersagte ihm sogar ausdrücklich, „in sein Hauptquartier zu kommen, damit seine Feinde nicht sagen könnten, er handle nur auf Betreiben der Deutschen.“83 Waßmuß hatte zu Beginn des Krieges die Revolutionierung Südpersiens propagandistisch und agitatorisch initiiert, um dem deutschen Kriegsgegner England zu schaden und für die Übergriffe auf ihn Vergeltung zu üben. Jetzt konnte er beobachten, wie seine Revolte zu einem tribalen Volksaufstand gewachsen war. Aufgrund Sykes’ gebieterischen Befriedungsexpedition hatten sich nahezu alle Stämme Südpersiens dem Aufstand angeschlossen und attackierten Briten und deren einheimische Polizeitruppe, wann und wo immer möglich. Aus dem Stellvertreterkrieg war ein nationaler Befreiungskampf geworden. Selbst die Teheraner Regierung wagte es nun offen, die South Persia Rifles als fremde Truppe zu bezeichnen, „die die pers. Unabhängigkeit und Integrität bedrohe“ und forderte ihre Auflösung.84

Niederlage und Gefangennahme Fast wäre die Erhebung erfolgreich verlaufen. Nur um Haaresbreite entkam Sykes seiner Gefangennahme, als er im Mai 1918 von einem gewaltigen Stam82 83 84

PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 88. Ebd., S. 93. Sykes zitiert in Gehrke, Persien, Bd. II, S. 274.

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mesheer unter Soulet ed Doule in Schiraz eingeschlossen wurde. Doch den Stämmen fehlte es weiterhin an Einigkeit. Ohne vermittelnden Einfluss, wie ihn etwas Waßmuß vor Buschehr unter seinen „kleinen Khanen“ ausgeübt hatte, fehlte es den Aktionen gegen die Briten an Entschlossenheit.85 Sykes nutze diesen Umstand und konnte seine Stellung durch umsichtiges Taktieren behaupten und die brüchige Allianz zerschlagen. Als der Waffenstillstand von Mudros am 30. Oktober 1918 alle Feindseligkeiten zwischen dem Osmanischen Reich und den Ententemächten beendete, hatten die Briten die nötige Rückenfreiheit, endlich die Straße zwischen Buschehr und Schiraz freizukämpfen und Südpersien ein für alle mal zu befrieden. Sie landeten frische Truppen aus Indien und ließen von der Küste Schienen ins Landesinnere verlegen, um schnellen und zuverlässigen Nachschub zu ermöglichen. Ohne nennenswerten Widerstand rückte die „Bushire Force“, das angloindische Expeditionskorps landeinwärts vor und vereinigte sich am 27. Januar 1919 auf Höhe von Kazerun mit Sykes’ South Persia Rifles. Nach fast vier Jahren war die Straße wieder frei. Der Aufstand kam zum Erliegen, insbesondere als der Ausbruch der von indischen Soldaten eingeschleppten und in ganz Persien heftig grassierenden Spanischen Grippe die ohnehin vom Krieg geschwächte Bevölkerung der letzten Widerstandskraft beraubte. Gegen die geballte britische Militärmacht hatten die uneinigen Stämme keine Chance. „Der größte Teil der Tengistani“ zog es vor, „sich mit den Engländern gut zu stellen.“86 Waßmuß engste Verbündete, Sajer Kheser und Scheich Hußein, mussten für ihre Loyalität ihm gegenüber teuer bezahlen. Angloindische Truppen vertrieben sie aus ihren Dörfern, beschlagnahmten den Besitz, setzten ihre Häuser in Brand und sprengten die Burg Ahram. An ihrer statt wurden neue Khane ernannt. Entsetzt bezeichnete Waßmuß „die Unternehmungen der Engländer im Gebiete des Scheich Hußein und Sajer Kheser [als] reine Raubzüge“.87 Von der deutschen Kriegsniederlage erfuhr Waßmuß am 29. November 1918 durch ein Schreiben des britischen Oberkommandierenden in Buschehr. Darin wurde er aufgefordert, „binnen 7 Tagen nach Buschir oder dem nächsten englischen Posten zu kommen“, um unter freiem Geleit und unter Mitführung aller persönlichen Gegenstände nach Deutschland überführt zu werden.88 Sollte er allerdings mit der Waffe in der Hand ergriffen werden, drohte Erschießung. Das Angebot war sicherlich aufrichtig gemeint und nicht ohne eine gewisse Portion Anerkennung seiner englischen Gegner in Persien. Der britische Außenminister Curzon hätte Waßmuß lieber als Kriegsverbrecher in Buschehr vor Gericht stellen lassen. Sir Percy Cox, Waßmuß’ früherer Amtskollege, der auch das Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte und mittlerweile 85 86 87 88

PA-AA, 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 96. PA-AA, NL 790, Nr. 5, Waßmuß Kriegstagebuch 1918–1919, S. 48. Ebd., 16.173, Kriegsbericht Waßmuß, S. 100f. Ebd., NL 790, Nr. 5, Waßmuß Kriegstagebuch 1918–1919, S. 48.

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als Gesandter in Teheran der erste Mann der Briten im Land war, wies das Ansinnen zurück. Doch in Erinnerung der demütigenden Behandlung deutscher Gefangener durch Sykes und von seinem „Rechtsfanatismus“ gehindert, beschloss Waßmuß, sich nach Teheran in den Schutz der eigenen Gesandtschaft durchzuschlagen.89 Seiner Meinung nach hatten die Briten gar nicht das Recht, ihn des nominell immer noch neutralen Landes zu verweisen. Für ihn waren die Engländer Despoten in einem besetzten Land. Für ihn hatte die Gerechtigkeit verloren. Er war nach Persien gekommen, um die antienglische Stimmung im Land auszunutzen und mit der Revolutionierung des Südens zum deutschen Kriegsglück beizutragen. Mit dem Auftrag im Orient hatte er nie das romantische Bild eines Freiheitskampfes von Wüstenkriegern verbunden, wie es etwa Lawrence tat. Im Gegenteil: das Land war ihm zu heiß und zu staubig. Und so dankbar er für ihre Unterstützung war, sah er anfangs in den Khanen nicht viel mehr als Räuberhäuptlinge, die sich ihm für deutsche Waffen und Soldgelder angeschlossen hatten. Aber seine Einstellung änderte sich. Der Krieg zerstörte ihre Häuser, beraubte sie ihres Hab und Gutes und forderte ihr Leben oder das ihrer Angehörigen. „Ohne mein Kommen [wäre] hier kein Krieg mit den Engländer ausgebrochen“.90 Die Khane hielten ihr Wort ihm gegenüber, selbst als absehbar war, dass ihm zu helfen, Unheil nach sich ziehen würde. Die Aufrichtigkeit ihres Unabhängigkeitskampfes forderte ihm Bewunderung ab und er empfand am Ende echte Freundschaft zu Sajer Kheser und Scheich Hußein. Er schämte sich, dass die Kriegsniederlage auch bedeutete, „dass das Deutsche Reich sie [...] im Stich lassen würde.“91 Sie verteidigten ihre Heimat, während britische Offiziere mit indischen Mannschaften in einem fremden Land für die Vormacht des Empires kämpften. Über die Überfälle auf ihn und die Festnahme Lenders und Listemanns war er empört gewesen und fühlte sich dadurch zu seiner Agitation berechtigt. Die schonungslose Art und Weise der britischen Antwort, die Völkerrechtsbruch und zivile Opfer billigend in Kauf nahm, entsetzte ihn. Trotz des Kriegsendes bekämpften die Engländer immer noch seine Freunde. Er konnte sich ihnen nicht stellen. Waßmuß’ Durchschlagsversuch endete in Ghom nahe Teheran. Persische Gendarmerie griff ihn am 26. März 1919 auf und übergab ihn an die Briten. Seine widerspenstige Haltung und die Unbeholfenheit seiner englischen Bewacher sorgten im Anschluss für unwürdige Szenen und eine unnötige Verzögerung seiner Rückkehr. Der bürokratische Wirrwarr an Zuständigkeiten nach dem Krieg tat das Übrige. Erst fast ein Jahr nach Kriegsende fand er endlich am 20. September 1919 nach Ohlendorf in den Schoß seiner Familie.

89 90 91

Gehrke, Persien, Bd. II, S. 275. PA-AA, NL 790, Nr. 5, Waßmuß Kriegstagebuch 1918–1919, S. 31. Ebd.

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Nach dem Krieg Die Geschichte seines Kampfes in und für Persien hätte hier zu Ende sein können: Rückmeldung beim Auswärtigen Amt am 30. September. Wiedereinstellung nach bestandener Konsulprüfung und Dienstantritt in der „Abteilung IV“ am 26. Oktober 1920.92 Zwischenzeitlich Hochzeit „am 5. Juli 1920 mit Fräulein Irma Luiken, Tochter des Kaufmanns Herrn Andreas Luiken [...].“93 Er hätte Karriere machen, eine Familie gründen können. Vor allem nach Jahren der Tortur endlich in Frieden leben. Aber er fühlte eine moralische Verpflichtung seinen alten Verbündeten gegenüber. Das Mindeste was Deutschland nach der Niederlage tun konnte, war die Khane für ihre während des Krieges geleisteten Dienste materiell zu entlohnen. Die Bedeutung ihrer Hilfe für Waßmuß’ anerkennungswürdigen Kriegseinsatz in Persien stand im Amt außer Frage. „Unter seiner Leitung haben dieselben [...] die für den Handel und Militärnachschub äußerst wichtige Straße Schiras – Buschir gesperrt, wodurch den Engländern die Schaffung des als Grundlage für ihr Protektorat dienenden Gendarmeriekorps South Persian Rifles erheblich erschwert [...] wurde, ferner wurden in Buschir und Umgebung zahlreiche für Kut el Amara bestimmte Ersatztruppen gebunden.94 Waßmuß erreichte eine einmalige Abfindung in Höhe von 300 englischen Pfund und fasste den aberwitzigen Plan, die Schuldigkeit gegenüber den Khanen in persönlicher Münze zurückzuzahlen. Sajer Kheser war während der Nachkriegswirren ermordet worden und Scheich Hußein in der Vertreibung gestorben. Waßmuß schlug ihren Erben vor, mit dem Geld aus der Abfindung eine landwirtschaftliche Versuchsfarm zu errichten, ihre Ansprüche aus der Rendite zu bedienen und dabei für sie eine dauerhafte Einnahmequelle zu schaffen. Er wollte für sie den Betrieb aufbauen und betreiben. Und sie und ihre Stammesleute darin schulen. Nur einen kleinen Teil des Geldes sollten sie gleich in bar erhalten. Die Nachkommen der Khane erteilten ihre Zustimmung. Im Herbst 1924 siedelte Waßmuß mit „Sack und Pack“ nach Tschagodek über und wurde zum Entwicklungspionier. Er sah es fortan als seine Lebensaufgabe, den Khanen friedliche Erwerbsmöglichkeit beizubringen, sesshaft zu werden und ihr nomadisches Leben umzustellen. Er wollte dabei helfen, die Region zum Blühen zu bringen. Aber er vermochte nicht einmal seine Felder dazu zu bringen. Trotz mühselig nach Persien transportierter moderner Gerätschaften und unsäglicher Anstrengungen waren seine landwirtschaftlichen Erfolge überschaubar. Den Erben der Khane fehlte die Geduld. Als sie nicht die versprochene Rendite abwarf, wollten sie die Farm lieber verkaufen. Waßmuß wollte nicht aufge92 93 94

PA-AA, 16.173, 168. Ebd., 167. Ebd., 152.

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ben. Gerichtsverfahren folgten. Angebliche Sabotageakte der Khane gegen den Erfolg der Versuchsfarm. Verbitterung. Für Waßmuß waren die Erben undankbar und uneinsichtig. Für sie war Waßmuß ein Schuldner, der sie in ihrer Lebensweise belehren wollte und der letztlich „an dem Unglück schuld“ war, das die Familien der Khane im und nach dem Krieg erlitten hatte.95 Wahrscheinlich hatte er recht mit seinem Hilfsangebot bei der Umstellung ihrer Lebensform. Die Briten hatte ihre Protektoratsidee aufgegeben. Reza Khans Machtergreifung in Persien ab 1921 und seine anschließende antitribale Politik machte sie dringend notwendig. Aber die Erben waren nach Landesjustiz im Recht mit ihrer Forderung. Waßmuß verlor vor Gericht. Er musste ihnen die Farm übereignen, mit samt den Traktoren und landwirtschaftlichen Gerätschaften, persönlichen Gegenständen, Möbeln und Teppichen. Waßmuß verlor sein Lebenswerk. Er war nun zweimal in Persien gescheitert. Der erfolgreichste Orientstreiter der Deutschen im Weltkrieg, der Primus unter den Revolutionären Max von Oppenheims, blieb auch im Frieden ohne Sieg. Am 1. April 1931 kehrte er nach Deutschland zurück. Gezeichnet von der langjährigen harten Arbeit auf der Versuchsfarm, bei Hitze, Staub und ohne Lohn, verbittert ob der Ungerechtigkeit des Lebens erlag Wilhelm Waßmuß nur kurze Zeit später am 29. November 1931 in Berlin einem Herzinfarkt und starb als „Lawrence ohne Glanz“.

95

Ebd., Kriegsbericht Waßmuß, S. 102.

Veit Veltzke

„Heiliger Krieg“ – „Scheinheiliger Krieg“: Hauptmann Fritz Klein und seine Expedition in den Irak und nach Persien 1914–1916 Am 20. Oktober 1914 trugen Robert Wönckhaus, der Chef der Hamburger Firma Robert Wönckhaus u.Co, die mehrere Handelshäuser am Persischen Golf und in Bagdad betrieb, und der Generaldirektor der Hapag Albert Ballin den Vertretern des Auswärtigen Amtes Baron Oppenheim und Baron Langwerth von Simmern sowie Vertretern von Generalstab und Admiralstab einen Plan vor, das englische Ölgebiet am Karun am Persischen Golf durch ein Kommando-Unternehmen in deutschen Besitz zu bringen. Etwa 500 Mann, so Wönckhaus, würden ausreichen, um mit türkischer Unterstützung „Deutschland die Hand auf dieses Ölgebiet legen“ zu lassen. Namentlich von Nordindien aus könnten dann unter dem Eindruck von Kämpfen am Persischen Golf „gefährliche Aufstandsbewegungen in Britisch-Indien“ hervorgerufen werden. Die Vertreter des Auswärtigen Amtes und der militärischen Führung stimmten dem offensichtlich grundsätzlich zu. Allerdings sprach man sich dafür aus, wohl unter Einfluss der beteiligten Stabsoffiziere, erst eine Vorexpedition eines Generalstabsoffiziers und wenn möglich eines bei der Hapag beschäftigten Marine-Reserveoffiziers sowie Oberleutnants Niedermayer an den Golf zu entsenden, um die Lage zu sondieren.1 Auch Oberleutnant Oskar von Niedermayer, der sich mit seiner Afghanistanexpedition in Konstantinopel befand, hatte bereits erklärt, einen Teil seiner Kräfte für das Karununternehmen abzustellen.2 Für die Leitung der Vorexpedition benannte General von Manteuffel, der Chef des in Berlin verbliebenen Stellvertretenden Generalstabs, den damals 37jährigen Hauptmann Fritz Klein, Spross einer der bedeutendsten Unternehmerfamilien des Siegerlandes, der seine Offizierslaufbahn wiederholt unterbrochen hatte, um Auslandserfahrungen zu sammeln: zunächst auf einer einjährigen Weltreise, dann von 1910 bis 1913 bei diplomatischen Vertretungen ohne Gehalt: an der Gesandtschaft in Rio de Janeiro, am General-Konsulat in Kairo und an der Gesandtschaft in Teheran. Hauptmann Klein hatte nach der Zerschlagung seines in Forbach stationierten Regiments in der „Schlacht um Lothringen“ just am Tag vor der entscheidenden Besprechung im Kriegspresseamt um eine Verwendung im Orient nachgesucht und erschien nun den Vertretern des Generalstabs aufgrund seiner persischen Erfahrung und 1 2

G.A., Berlin, den 20.10.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 60–63. Kaiserlicher Botschafter an AA, Therapia, 17.10.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 57.

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Veit Veltzke

Sprachkenntnisse für die Aufgabe prädestiniert. Am 22. Oktober durfte er sich bei General von Manteuffel vorstellen. Drei Tage später teilte der Chef des Stellvertretenden Generalstabs dem Auswärtigen Amt seine Wahl mit; Anfang November wurde sie vom Generalstabschef bestätigt.3 Der türkische Kriegseintritt und die Anlandung britischer Streitkräfte am 6. November in Abadan stellten das Expeditionsunternehmen dann allerdings grundlegend in Frage. Türkische Einheiten wurden in Richtung Basra abgedrängt, während noch Generalstabschef Falkenhayn am 7. November die Zerstörung der englischen Anlagen bei Abadan durch die Garnison in Basra anmahnte.4 Der deutsche Botschafter drahtete zwei Tage später an das Auswärtige Amt, nur noch eine größere militärische Unternehmung gegen das Ölgebiet am Karun verspreche Erfolg. Die in Mesopotamien stehende türkische Division „schlechter Soldaten“ sei hierfür zu schwach, die Absendung der deutschen Herren erscheine zwecklos, bevor nicht energische türkische Operationen bevorstünden.5

1. Hauptmann Kleins Mission Damit schien das Unternehmen Klein vor dem „Aus“ zu stehen, bevor es noch begonnen hatte. Mit der ihm eigenen Energie griff der Hauptmann nun in die Dinge ein und gab dem Karunplan eine neue Richtung. Eine wirksame türkische Hilfe sei nicht gewiss, eine Vorexpedition nicht nötig, ja schädlich, weil sie den Gegner warnen würde. Dagegen nahm er eine Kontaktaufnahme zu persischen Stämmen in den Blick. Zur geplanten Mitnahme des WönckhausTeilhabers Thomas Brown bezog Klein wegen dessen geschäftlicher Privatinteressen eine entschieden ablehnende Position.6 So gab der Stellvertretende Generalstab das Telegramm des deutschen Botschafters in Konstantinopel vom 9. November mit dem Bemerken an das Große Hauptquartier weiter, Hauptmann Klein halte den Anschlag auf das Karun-Ölgebiet dennoch für durchführbar und wolle sich der Hilfe der Bachtiaren und einflussreicher einheimischer Scheichs bei Basra bedienen. 3

4

5 6

Hauptmann Fritz Klein, Dahlbruch, Feldzugs-Erinnerungen, hektografiert, etwa 1917 bis Frühjahr 1919, Privatbesitz, S. 41, Chef des St. Gen.stabs d.Armee an AA, Berlin, den 25.10.1914, gez.v. Zimmermann, PAAA, Berlin, R 21066, 68, 69, Telegramm v.Jagows an AA, Gr. Hauptquartier, den 04.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 95. – Zur Biographie von Fritz Klein und zum Verlauf seiner Expedition in den Irak und nach Persien vgl. demnächst ausführlicher Veit Veltzkes Monographie zur Expedition Klein (Frühjahr 2014). Donald McKale, War by Revolution. Germany and Great Britain in the Middle East in the Era of World War I, Kent/Ohio 1998, S. 84, Chef des St. Gen.stabes der Armee an AA, Nadolny, Berlin, den 07.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 122. Kaiserlicher Botschafter an AA, Therapia, den 09.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 146. GA, 9/11, Paraphe „W“, wohl Wesendonk, PAAA, Berlin, R 21066, 147–150.

„Heiliger Krieg“ – „Scheinheiliger Krieg“

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Wegen eines fehlenden Transportweges durch das offiziell neutrale Rumänien hatte das Stellvertretende Kriegsministerium die Aufstellung eines Expeditionskorps inzwischen abgelehnt.7 Kleins Plan einer Allianz mit persischen Stämmen schien nun die einzige Möglichkeit, die Sache weiter in Fluss zu halten. Die Auflage des Auswärtigen Amtes, die an der Konferenz vom 20. Oktober beteiligten Instanzen von Stellvertretendem Generalstab, Admiralstab und Hapag für seine Kursänderung zu gewinnen, erfüllte Hauptmann Klein umgehend. Der Anschlag auf das persische Ölgebiet sollte nun „ohne grössere deutsche militärische Kräfte“ mit Hilfe der Stämme der Bachtiaren, Kasehgais und Sejid Taleb erfolgen. Hapag-Direktor von Holtzendorff trug auch Kleins Entschluss mit, von einer Mitnahme Browns abzusehen.8 Das Auswärtige Amt teilte der Botschaft in Konstantinopel am 11. November die neue Sachlage und die sofortige Abreise Kleins in die osmanische Hauptstadt mit.9 Die Zustimmung des Generalstabschefs im Großen Hauptquartier zur neuen Orientierung des Karununternehmens lief im Auswärtigen Amt am 25. November 1914 ein.10 Die Zielformulierung eines „Anschlages“ vermied eine eindeutige Festlegung auf „Besetzung“ oder „Zerstörung“, und auch Klein beschrieb in seinen Kriegserinnerungen die doppelte Möglichkeit, seinem Auftrag gerecht zu werden, machte aber deutlich, dass der Generalstab eher an eine Zerstörung dachte: „Der Generalstab glaubte durch die Zerstörung einen Schlag ins Herz der britischen Admiralität führen zu können, und durch ihre evtl. Besetzung ein wichtiges Objekt in die Hand zu bekommen.“11 Auch schon die Formulierung „Anschlag“ wies weniger in Richtung einer Besetzung, auch wenn man sich diese Möglichkeit noch offen hielt. So hatte militärischer Pragmatismus angesichts der eigenen sehr beschränkten Ressourcen über wirtschaftliche Ausbeutungsinteressen gesiegt. Es scheint kein Zufall, dass gerade die Firma Wönckhaus, die den Anstoß für die Besetzungsvariante gegeben und sich selbst für die Führung der Expedition ins Spiel gebracht hatte12 , jetzt aus der weiteren Planung der Karunexpedition ausschied. Hauptmann Klein hatte dem Unternehmen nun seinen eigenen Stempel aufgedrückt, den Schlag gegen die englische Ölversorgung am Persischen Golf ohne größere deutsche Truppen und ohne türkische Kräfte, gestützt auf einheimische Stämme, für durchführbar erklärt. Dies war ein signifikanter Wandel gegenüber der bisherigen stark auf türkische Hilfe setzenden und

7 8 9 10 11 12

AA , pr. 10.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 151, 152. GA, AS 2547, pr. 10.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 153, 154. AA an Botschaft Therapia, Berlin, den 11.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 170, 171. St. Großer Gen.stab, Sektion III B, an AA, Nadolny, Berlin, den 25.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 42. S. Schreiben Ballins vom 13.10.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 52, 53.

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das türkische Primat anerkennenden deutschen Kriegspolitik, wie sie auch die Überlegungen Oppenheims bestimmte. Unterstützung fand Klein beim Generalstab, der mit seiner Zustimmung die Kleinsche Mission ermöglichte. Hier liegt der Anfang einer selbständigen deutschen Persienpolitik, die allerdings nicht der Position der deutschen Botschaft in Konstantinopel entsprach. Damit waren zukünftige Reibungen vorprogrammiert. Das Unterstellungsverhältnis des Hauptmanns war alles andere als eindeutig. Vom Generalstab eingesetzt und protegiert, wurde seine Angelegenheit in der Politischen Abteilung unter Hauptmann Rudolf Nadolny bearbeitet. Allerdings war die Ausführung seiner Mission an das Auswärtige Amt überwiesen worden: „Demgemäss war das auswärtige Amt meine Behörde, mit der ich meine dienstlichen Geschäfte regelte.“ Hier fiel die Expedition Klein in das Ressort von Legationsrat von Langwerth-Simmern mit Legationsrat von Wesendonk als zuständigem Mitarbeiter: „also von vorneherein ein verwickeltes Unterstellungsverhältnis.“13 – Tatsächlich handelte es sich um eine unglückliche Kompromisslösung, die Kleins Expedition umso stärker in das Spannungsfeld zwischen Generalstab und Auswärtigem Amt beziehungsweise der deutschen Botschaft im Osmanischen Reich rückte. Das erste Personaltableau der Expedition Klein zur Zeit der Abreise ihres Leiters am 9. November 1914 in die osmanische Hauptstadt14 umfasste 18 Personen, von der Profession meist zivile Fachleute, deren Kompetenz er im Rahmen seines Auftrages nutzen konnte. Adjutant Kleins wurde der Kriegsfreiwillige cand. phil. Edgar Paul Stern, Abkömmling einer Frankfurter Industriellenfamilie mit jüdischen Wurzeln, der sich später als liberaler Journalist und Berater von Gustav Stresemann einen Namen machen sollte.15 Drei Grabungsexperten aus Assur, Hans Lührs, Conrad Preusser und Walter Bachmann, stärkten die kulturelle Kompetenz der Gruppe für das vorgesehene Einsatzgebiet. Der Kommandeur erreichte Konstantinopel am Abend des 14. November und logierte dort ab dem 21. November 1914 mit den zwischen dem 7. und 18. November eingetroffenen Mitgliedern der Expedition auf dem Dampfer „General“ der Ostafrikalinie.16 In Konstantinopel erfolgte der Eintritt der Expedition in ein türkisches Militärverhältnis, d. h. sämtliche Mitglieder erhielten vom türkischen Kriegsministerium einen um eine Stufe höheren Rang in der „kaiserlich ottomanischen Armee“ verliehen. Klein nahm hier seinen Diener Mohammed in Dienst: seinen „Nubier“, der sich in „einige(n) 10 Sprachen“ verständigen konnte. Weiter trat ein aus Albanien

13 14 15 16

Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 42. AS 2560, pr. 11.11.1914, PAAA, Berlin, R 21066, Neue vervollständigte Liste der Teilnehmer an der Expedition nach dem Ölgebiet am Karun, PAAA, Berlin, R 21067. Vgl. Edgar Stern-Rubarth,...Aus zuverlässiger Quelle verlautet...Ein Leben für Presse und Politik, Stuttgart 1964. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 45, 47, Kriegstagebuch der Karun-Expedition von Major Klein 1914/1915, PAAA Berlin, R 21068, 194 f.

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stammendes türkisches Begleitkommando unter Leutnant Ismael Hakki Bey in Stärke von 10 Mann zur Expedition.17 Am nächsten Sammelpunkt Aleppo verweilte die Expedition vom 11. bis 31. Dezember 1914, kaufte Pferde und Maultiere, verproviantierte sich und schloss letzte Lücken in der Ausrüstung. Einige Diener und Dragomänner stießen hinzu, ebenso weitere deutsche Teilnehmer. Bis zu ihrem Ende sollten der Expedition Klein 69, mit den kurzzeitigen Abkommandierungen 82 Mitglieder angehören, zuzüglich der in Persien hinzukommenden Verstärkungen (12 Chargen der persischen Gendarmerie und 306 aus russischer Gefangenschaft entflohene österreichischungarische Soldaten), also insgesamt 400 Expeditionsteilnehmer.18

2. Die Fatwa von Kerbela Nach einer 21 Tage dauernden Flussfahrt auf dem Euphrat, von Djerablus bis Feludja bzw. Musayib, setzte sich das Gros der Expedition am 22. Januar 1915 in Richtung Bagdad in Marsch. Der Hauptmann selbst, sein Adjutant Stern, der Expeditionsarzt Dr. Eddy Schacht, der Jurist Dr. Heinrich Uth und der welterfahrene Abenteurer Fritz Michael Bauer brachen nun mit ihrem persischen Dragoman Ahmed und einigen Dienern zu einer Sondermission auf, die zu den rätselhaftesten des „Unternehmens Klein“ zählen sollte: dem geheimen Treffen mit den höchsten religiösen schiitischen Führern im Wallfahrtsort Kerbela.19 Kerbela ist mit den beiden Grabmoscheen der Söhne von Imam und Kalif Ali: Hussein und Abbas, bis heute einer der religiösen Mittelpunkte der schiitischen Welt, auch wenn diese heiligen Stätten damals zum osmanischen Reich und damit zum Hoheitsbereich des sunnitischen Sultan und Kalifen zählten. Für die gängige Fachliteratur ist bis heute die Behauptung verbindlich, Klein habe mit seiner Exkursion nach Kerbela nur eine Order ausgeführt.20 Tatsächlich begründete Klein diese Mission schon in seinen weitgehend noch 17 18

19

20

Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 47, Fritz Klein, Kriegstagebuch der Karun-Expedition von Major Klein 1914/1915, PAAA, Berlin, R 21068, 194, Liste der Teilnehmer, 191,192. Klein, Kriegstagebuch: Liste der Teilnehmer, 192, Rangliste der europäischen Offiziere...der Expedition „Klein“, in: Fritz Klein, Der Verlust des eigenen Schattens (masch.schriftl), undat. ca. 1930er Jahre, Privatbesitz., Biographie V.5, S. 261–268, Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 162–165. Klein, Kriegstagebuch, Eintrag unter dem 22. und 24.01.1915, Mitgliederverzeichnis der Expedition Klein, Anlage zum Schreiben Wangenheims an Bethmann-Hollweg, Pera 30.04.1915, PAAA, Berlin, R 21068, 168–173. So bei Ulrich Gehrke, Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkrieges, 2 Bde., Stuttgart 1960, Bd. 1, S. 56, Sean Mc. Meekin, The Berlin-Baghdad Espress. The Ottoman Empire and Germany’s Bid for World Power, Cambridge Massachusetts 2010, S. 97, vgl. Hans Werner Neulen, Adler und Halbmond. Das deutsch-türkische Bündnis 1914–1918, FaM, Berlin, 1994, S. 201.

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im Ersten Weltkrieg entstandenen „Feldzugs-Erinnerungen“ nur mit einer inneren Notwendigkeit; von einem förmlichen Auftrag ist nicht die Rede: „Da meine Expedition einen kriegerischen Auftrag im neutralen Auslande erfüllen sollte, in einer Gegend, wo mit starkem Fanatismus der Stämme zu rechnen war, andererseits, da es in großem politischen Interesse lag, den heiligen Krieg auch nach Persien hineinzutragen, nachdem er schon in Constantinopel durch feierliche Fetwa verkündet wurde, so war es notwendig, die persische Geistlichkeit [...] in Kerbela erst für meinen Auftrag zu gewinnen, und die Fetwa für den Dschihad in Persien zu erhalten.“21

Auch die Formulierungen Kleins in einem Schreiben an Hauptmann Nadolny, der in der Politischen Abteilung des Generalstabs für die Expedition Klein zuständig war, verraten den Alleingang des Kommandeurs. Seiner militärischen Mission, so Klein, musste die politische vorausgehen, zumal diese im Einklang mit den in Konstantinopel erhaltenen großen Richtlinien gestanden hätte, die auf den Kriegseintritt Persiens bei gleichzeitiger Garantie der persischen Integrität abzielten. Auch hier ist also nicht von einer Abstimmung mit der deutschen Botschaft in Konstantinopel die Rede, schon gar nicht von einer Weisung oder Anordnung.22 Explizit benennt der gleichfalls in Kerbela anwesende Oberleutnant Uth den „einsamen“ Entschluss seines Kommandeurs, aber auch die Anregung für die Zusammenkunft mit den schiitischen Führern durch den persischen Dolmetscher der Expedition Ahmed Nicrawan Täbrizi. Täbrizi, Teppichhändler und Mitglied der persischen demokratischen Partei23 , war der Expedition Klein laut Stern vom persischen Botschafter in Konstantinopel, Mirza Mahmud Han, zugeteilt worden, so dass die Vermutung naheliegt, dass der Abstecher nach Kerbela nicht ohne Wissen, vielleicht auch auf Initiative des persischen Diplomaten erfolgte.24 Der frühere Gesandte in Berlin und persische Parlamentspräsident war mit einer Deutschen verheiratet und häufig Ansprechpartner Kleins in Konstantinopel gewesen. Uth stellt die Entstehung der Kerbela-Mission folgendermaßen dar: “Der Entschluss des Majors Klein, zum Besuch der schiitischen Heiligtümer, den er auf eigene Verantwortung ohne vorherige Anfrage bei der Botschaft in Konstantinopel fasste, war angeregt worden von unserem persischen Dolmetscher Achmed (in seinem Zivilberuf Teppichhändler in Konstantinopel). Er stellte uns vor, dass wir in Persien, wohin unsere Bestimmung lautete, auf die Unterstützung der einflussreichen Geistlichkeit der beiden heiligen Orte angewiesen seien, und dass wir auch der allgemeinen Sache nützen würden, wenn wir dem dortigen Klerus einen Höflichkeitsbesuch machten und dabei die ersten politischen Fäden knüpften [...[ Er behauptete, an den heiligen Orten gute Verbindungen zu haben und uns eine offizielle Unterstützung in unseren Absichten verschaffen zu können.“25

21 22 23 24 25

Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 56. Klein an Nadolny, Vor Basra, den 22.03.1915, PAAA, Berlin, R 21069, 157–166. Klein, Der Verlust des eigenen Schattens, S. 74. Edgar Stern-Rubarth, A Dying Empire or The Last Days of The Sultans or Playing “Lawrence” on the other side, BA Koblenz, 1541/32, S. 44. Heinrich Uth, An den heiligen Stätten des Islam, in Klein, Der Verlust des eigenen Schattens, S. 78.

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Hauptmann Klein folgte dem Gesetz, nach dem er angetreten war. Schon in der Konzeptionsphase der Expedition hatte er den Gedanken einer eigenständig agierenden deutschen Kerntruppe entwickelt, die – gestützt auf persische Stämme und Gendarmerie – auf die Unterstützung des türkischen Allianzpartners nicht mehr angewiesen sei. Während die deutsche Botschaft darum bemüht war, möglichst die Interessen des verbündeten Osmanischen Reiches zu wahren, versuchte der Hauptmann die schiitische Karte zu spielen und eine deutsch-persische Achse aufzubauen. Als Kenner der persischen Verhältnisse betrachtete er eine enge Bindung an türkische Interessen, die den Wünschen nach einem souveränen Persien entgegenstanden, für seine Mission als abträglich. So war sein Gang nach Kerbela durchaus folgerichtig. Die Autorität der höchsten geistlichen Führer der Schia sollte dem beabsichtigten Bündnis mit persischen Stämmen die Qualität eines verbindlichen Dschihad verleihen. Zwar hatte der osmanische Sultan Mehmed V. Reşâd am 11. November 1914 als Kalif den „Heiligen Krieg“ für alle Muslime verkündet, aber damit weder den Gegensatz zur Schia überbrücken, noch starke emotionale Eruptionen außerhalb des osmanischen Herrschaftsgebietes hervorrufen können. Schon zu Anfang des Besuches in Kerbela trat die unterstützende Rolle persischer Amtsträger hervor: So des Botschafters in Konstantinopel, der den Dolmetscher Ahmed für die Expedition abordnete, welcher dann die Visite in Kerbela vorbereitete und dort zunächst auch die Verhandlungen für die deutsche Gruppe führte, wie Uth vermerkt.26 Am zweiten Tag in Kerbela, am 26. Januar, stand schließlich für die deutschen Gäste ein Besuch beim persischen Generalkonsul auf dem Programm27 , und nicht zuletzt diente ihnen das Gästehaus der persischen Regierung als Quartier, wie wir von Uth erfahren.28 Trotz der offiziellen Position der persischen Regierung, die am 1. November 1914 zwar die Neutralität Persiens verkündet hatte, sich faktisch aber der Willkür und Besetzung durch Russland und England ausgesetzt sah, trotz der Zurechtweisung der Mujtahids in Kerbela und Nagaf für ihre Heilige-KriegsAgitation durch den persischen Außenminister29 , gab es nicht unerhebliche politische Kräfte, die mit einer auch für Schiiten verpflichtenden Dschihad-Erklärung eine persische Erhebung gegen die russisch-englische Herrschaft erstrebten. Insofern bewegte sich die Expedition Klein tatsächlich auf einem sehr sensiblen hochpolitischen Boden und musste mit ihrem Alleingang geradezu zwangsläufig Verstimmung und Ärger sowohl bei der deutschen Botschaft in Konstantinopel als auch beim osmanischen Bundesgenossen auslösen. In den Berichten Kleins, Sterns und Uths wird ein eindrucksvolles Bild Scheich Ali’s und seines älteren Bruders Hussein vermittelt, der die führende 26 27 28 29

Heinrich Uth, An den heiligen Stätten des Islam, in Klein, Der Verlust des eigenen Schattens, S. 84. Kriegstagebuch, s. unter dem 26.01.1915. Uth, An den heiligen Stätten des Islam, S. 79. Gehrke, Bd. 1, S. 32, Bd. 2, S. 22.

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Stellung im Kollegium der schiitischen Mullahs einnahm. Besonders Ali hatte es der Gruppe angetan. So wurde Ali von den deutschen Gästen Intelligenz, Souveränität und große rhetorische Talente attestiert. Er erschien als charismatische Persönlichkeit, wohl geeignet, für den „Heiligen Krieg“ unter seinen Glaubensgenossen, auch in Persien, zu werben. Klein verglich ihn in „seiner agitatorischen Wirksamkeit“ mit Mohammed und teilte mit, jener habe sich entschlossen, den „Siegeszug nach Teheran“ anzutreten.30 Nun war aber Scheich Ali nicht die erste Autorität im Kreise der schiitischen Führer, sondern sein älterer Bruder Hussein, den die deutsche Delegation ebenfalls aufsuchte. Klein erwähnt diesen Besuch in seinem Kriegstagebuch, wie es Uth und auch Stern tun.31 Damit hatte die Expedition das geistliche Oberhaupt der Schiiten in Kerbela, den Groß-Mujtahid, bzw. den marja’ altaqlid, Muhammed Husain Mazandarani in ihr Vorhaben eingebunden. Einer bislang noch im Raum stehenden These, die deutsche Delegation sei einer Täuschung der geschickten Mullahs aufgesessen, die sich in dieser delikaten Angelegenheit nicht mit ihrem obersten geistlichen Führer exponieren wollten, ist damit der Boden entzogen.32 Zu den demonstrativen Abschlussgesten des Besuches am 26. Januar gehörte eine „sehr warm gehaltene Glückwunschdepesche“ der Mujtahids „für S.M. den Kaiser zum morgigen Tage“, also zu Kaisers Geburtstag, die Klein der deutschen Botschaft in Konstantinopel übermitteln sollte, so der Eintrag im Kriegstagebuch.33 Am gleichen Tage hatten die deutschen Gäste noch Gelegenheit an „einer eigens veranstalteten, sehr hübschen militärischen Feier in der offenbar gut organisierten persischen Schule“ teilzunehmen, „wobei eine schwungvolle, durch einen Schüler vorgetragene Ansprache uns als Adresse für S. Majestät, den ,Erretter des Islam‘“ überreicht wurde.34 Noch am Abend des 26. Januar kehrten Preusser und Bachmann mit ihrer Truppe vom Ritt nach Babylon zurück. Kaum aus dem Sattel, empfing Preusser die Order Kleins, sich zusammen mit Uth und Dragoman Ahmed auf den Weg nach Nagaf zu machen. Das Ziel war auch hier, die schiitische Geistlichkeit, die das Grab Alis hütete, für die Verkündung des Heiligen Krieges zu gewinnen.35 Die schiitischen Gläubigen erkennen nur Ali und dessen Nachkommen als rechtmäßige Nachfolger des Propheten an. So ist die 30 31 32

33 34 35

Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 57. Klein, Kriegstagebuch, S. 19, Uth, An den heiligen Stätten des Islam, S. 83, Stern, Versinkendes Reich, masch.schriftl., BA Koblenz 1541/33, S. 34. Werner Ende, Iraq in World War I. The Turks, The Germans and the Shi’ite Mujtahids’ Call for Jihad, in: Proceedings of the ninth Congress of the Union Europeenne des Arabisants et Islamisats, Amsterdam, 1–7th septembre 1978, Leiden 1981, S. 57–71, S. 62f., 68. Klein, Kriegstagebuch, Eintrag unter dem 26.01.1915. Ebenda; s.a. Schreiben Kleins an die Kaiserliche Gesandtschaft Teheran, Bagdad, den 02.02.1915, PAAA, Berlin, R 21068, 65f. Klein, Kriegstagebuch, s. unter dem 26.01.1915.

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Grabmoschee von Kalif und Imam Ali in Nagaf neben Kerbela ebenfalls das Ziel der schiitischen Pilger. Auffallend ist allerdings, dass Hauptmann Klein die Reise nach Nagaf nicht selbst unternahm. Alarmierende Nachrichten des deutschen Konsuls in Bagdad hatten seine vorzeitige Abreise in die irakische Zentrale veranlasst: Der vorläufige Kommandeur des dortigen Armeekorps habe die Werbetätigkeit der Expedition in Kerbela „äußerst übel“ aufgenommen, und Klein sprach von der „Eifersucht der Türken“ auf den Erfolg der Expedition bei der schiitischen Geistlichkeit.36 Die schlechten Nachrichten aus Bagdad hatten Klein sogar bewogen, die Ausfertigung der Fatwa nicht erst abzuwarten. Allerdings dürfte der Kommandeur Kerbela in dem Bewusstsein verlassen haben, gut vorgearbeitet zu haben: „Die Stimmung der gesamten Priesterschaft war dem Krieg der Zentralmächte durchaus günstig. Man empfand instinktiv, dass mit der Bedrohung des türkischen Reiches auch der Bestand der gesamten islamischen Welt in Frage gestellt sei, und die Verhandlungen, sowohl für die Durchführung unseres Spezialauftrages, als auch für eine Erhebung der gesamten Schiiten für die Sache des heiligen Krieges nahmen einen verhältnismässig raschen und glücklichen Verlauf.“

Die Fatwa der Mujtahids war die eine Sache, die andere die Ausfertigung eines Schreibens an den Schah. So heißt es von Scheich Ali: „Er trug sich mit dem Gedanken, dem Schah in Teheran ein Ultimatum zu stellen, um ihn von Seiten der Geistlichkeit zum sofortigen Eintritt in den heiligen Krieg gegen Russen und Engländer zu bewegen. Ein Meisterwerk diplomatischer Kunst war das Schriftstück, das er zu diesem Zweck verfasst hatte.“37

Gleichzeitig hatte Scheich Ali sich bereit erklärt, nach Teheran zu reisen, um für den Kriegseintritt Persiens zu wirken. Diese drei Dinge: Fatwa, Aufruf an den Schah und die Agitationsreise Alis, waren freilich nicht ohne den Einsatz gewisser Geldmittel zu bewerkstelligen. Für die ersten sechs Monate des Unternehmens Klein hatte die deutsche Botschaft in Konstantinopel 300.000 Mark zur Verfügung: Eine Summe, die Hauptmann Klein nun zu einem Sechstel ausschöpfte, um den Geschäftssinn der schiitischen Führer in Kerbela zufriedenzustellen.38 Die Fatwa, die Stern nach nochmaliger Vorsprache bei den Mujtahids am 1. Februar mitbrachte, richtete sich an die (schiitischen) Muslime Persiens, der Türkei und Indiens. Ausplünderung und Unterdrückung aller Muslime durch Russland, England und Frankreich wurden betont und allen Gläubigen die Verteidigung, sei es als Soldaten oder sei es mit ihrem Besitz und ihren Gütern, zur Pflicht gemacht. Unter allen geistlichen Führern „ihrer Religion“ herrsche vollkommene Einigkeit in dieser Frage. Überall hätten sie den Heiligen Krieg verkündet. Unbedingt notwendig sei es, sich mit allen Feinden der Triple En36 37 38

Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 58f., 61. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 57. Zimmermann an deutsche Botschaft Therapia, Berlin 10.12.1914, PAAA, Berlin, R 21066, 67f.

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tente zu vereinigen, um die islamischen Gebiete zu schützen. Es gelte, die Mitbrüder zu befreien, die sich unter der Sklaverei der Triple Entente befänden. Dies traf in etwa den Ton der Erklärung des „Heiligen Krieges“ durch den osmanischen Sultan und der Verkündung der fünf Fatwas des Scheichül-Islam, des höchsten sunnitischen Rechtsgelehrten, in Konstantinopel im November 1914.39 Neu im Vergleich einer schiitischen Fatwa für den Dschihad aus dem gleichen Zeitraum 40 war allerdings jetzt die politische Konkretisierung: die Benennung der Ententemächte als Feinde und deren Gegner als Bündnispartner der schiitischen Muslime. Kein Wort fiel über das Osmanische Reich, gewissermaßen als herausgehobener Allianzpartner, und schon gar nicht zum osmanischen Kalifatsanspruch gegenüber der gesamten islamischen Welt. Stattdessen wurden nur die Mittelmächte allgemein als Bündnispartner betrachtet. Auch setzen die Mujtahids mit dem abschließenden Hinweis auf die so seltene und so günstige Gelegenheit, die Sklaverei der Entente abzuschütteln, nämlich im Bund mit ihren Feinden, einen weiteren neuen Akzent. Die Fatwa lag so auf der Linie Kleins, direkt mit den schiitischen Geistlichen zu kooperieren, ohne den Türken hier eine Sonderrolle einzuräumen. Die von Klein an die deutsche Botschaft in Konstantinopel weitergeleitete französische Fassung des Fatwatextes weist als Unterzeichner drei der vier Mujtahids in Kerbela aus: Mohamed Hussein Mazenderoni, Cheikularakein Ali und Ismail Sadr.41 Die Unterschrift des vierten Scheich Mujtahids fehlte, da dieser sich, so Klein, damals in Chorassan befunden habe.42 Die Namen der beiden ersten stehen für den obersten Mujtahid und dessen jüngeren Bruder Ali, von dem sich die deutsche Gruppe ja so beeindruckt zeigte. Ismail Sadr, bzw. Ismail-as-Sadr, gehörte einer der traditionsreichsten islamischen Gelehrtenfamilien an.43 Noch eindringlicher klang es in dem Schreiben, das Scheich Ali an den Schah richtete. Es ginge gegen die Schlächter der persischen Unabhängigkeit seit mehr als tausend Jahren, die nun aber mit ihren eigenen Feinden beschäftigt seien und deren Kraft fast vernichtet sei. Die meisten Stämme, ja fast das ganze persische Volk und die geistlichen Häupter und Mujtahids hätten sich dem heiligen Kriege angeschlossen. Sollte die persische Regierung ihre Neutralitätspolitik nicht aufgeben, so werde sie gegen Ende des Krieges nicht zur Friedenskonferenz zugelassen und müsse sich wegen der Kriegsbeteiligung 39

40 41 42 43

Text der Erklärungen in: Gottfried Hagen, Die Türkei im Ersten Weltkrieg. Flugblätter und Flugschriften in arabischer, persischer und osmanisch-türkischer Sprache..., FaM 1990, S. 55ff., 67ff. Abgedruckt in: Welt des Islam, Bd. III, 1915, S. 131ff. Fethwa: Au nom de Dieu. Oh! Les musulmans; Persan, Turque, Indien!, PAAA, Berlin, R 21068, 79. Klein an die Kaiserliche Gesandtschaft Teheran, Bagdad, 02.02.1915, PAAA, Berlin, R 21068, 65–69. Vgl. Ende, Iraq, S. 64.

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der persischen Stämme und des persischen Volkes auf eine Bestrafung durch die Entente gefasst machen. Deshalb sei jetzt eine klare Entscheidung für ein Bündnis mit der Türkei, Deutschland und Österreich erforderlich.44 Ja, die Mujtahids, so Klein gegenüber der deutschen Gesandtschaft in Teheran45 , seien bei offener Ablehnung oder Widerstand der persischen Regierung sogar bereit, ihren Einfluß gegen Schah und Regierung aufzubieten. Die Ideen der Mujtahids über ein gemeinsames Vorgehen von schiitischer Geistlichkeit und deutscher Regierung habe sein Dragoman Ahmed festgehalten. An die deutsche Gesandtschaft in Teheran gerichtet, wurde hier ein Stufenplan entworfen, der allerdings (vielleicht nur vorerst) auf eine Allianz mit dem persischen Monarchen setzte: 1. So seien Vertrauensleute des Schahs zu gewinnen, die seine Einstellung zu den Kriegsplänen ausfindig machen sollen. 2. Falle dies günstig aus, so seien ihm die drei Grundbedingungen für den sofortigen Kriegseintritt Persiens zu präsentieren: Geld, Kriegsmaterial und Offiziere, die, so darf man hinzusetzen, von Deutschland zu erfüllen wären. Gleichzeitig solle dem Schah vermittelt werden, dass sein Volk und die Stämme ihren religiösen Führern, die im Irak allesamt den heiligen Krieg erklärt hätten, absolut gehorsam und treu ergeben seien. Eine Gruppe von Mujtahids sei bereit, nach Persien zu reisen und die Stämme und die Bevölkerung für den heiligen Krieg zu begeistern. 3. Deutsche Offiziere stünden der persischen Regierung bereits jetzt schon mit der ersten Geldtranche in Bagdad für den Einsatz zur Verfügung. (Hier sind Klein und seine Herren gemeint.) 4. Sei der Schah und ein Teil seines Kabinetts gewonnen, müsse folgender Weg zur Bildung eines Kriegskabinetts beschritten werden: a) Mit Erlaubnis des russischen und englischen Botschafters seien die unzuverlässigen Kabinettsmitglieder in die Nord- und Südprovinzen zu versetzen, offiziell, um hier die sich bereits im Krieg gegen Russland und England befindliche Bevölkerung wieder zu befrieden. (Das bedeutet, dass der Kriegseinsatz auch der Geistlichen bereits begonnen haben soll.) b) Hiernach müssten der türkische und deutsche Gesandte ihre Unzufriedenheit gegenüber der persischen Regierung erklären.46 Dieser mit erheblichem Verschwörungspotential versehene Generalplan baute auf die Beeinflussung des Schah und die Auslösung eines Volksaufstan44 45 46

An die gesegnete Gegenwart Seiner Majestät des Schahinschah, den Schutz der Religion, möge Gott sein Reich ewig dauern machen..., PAAA, Berlin, R 21068, 77. Klein an die kaiserliche Gesandtschaft in Teheran, Bagdad, 02.02.1915, PAAA, Berlin, R 21068, 65–69. Instruction à remettre à l’ambassade allemande à Téréran, Kerbela, 1.II.15, signé Ahmed, PAAA, Berlin, R 21068, 80f.

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des in den unter russischer und englischer Kontrolle stehenden Nord- und Südprovinzen Persiens. Diese Erhebung von Volk und Stämmen, bei der den schiitischen Geistlichen und wohl auch der Gruppe Klein eine erhebliche Bedeutung zukam, sollte dann eine Entwicklung einleiten, die auf den offiziellen Kriegseintritt Persiens abzielte. Die Mujtahids, so Klein an die Gesandtschaft in Teheran, rieten jedoch, vor Übergabe des Schreibens von Scheich Ali Kontakt zu Vertrauenspersonen aufzunehmen.47 Vergleicht man die Resultate der Expedition Klein in Kerbela mit den früheren Dschihadaktivitäten der Mujtahids, so lag jetzt nicht nur eine stärker politische Fatwa vor, die darauf verzichtete, die Türkei herauszuheben, sondern eben auch ein Handlungskonzept. Den schiitischen Geistlichen fiel hier die Rolle von „Feldpredigern“ im Volksaufstand zu. Diese Eruption sollte wohl schon von deutscher Unterstützung (Klein) mitgetragen und bereits vor dem offiziellen Kriegseintritt Persiens ausgelöst werden. Neu war auch die Tatsache einer direkten deutsch-schiitischen Verständigung, die den türkischen Bundesgenossen nicht mehr als Akteur mit einschloss. Dies entsprach nicht den Prämissen des Auswärtigen Amtes, das, der Revolutionierungsstrategie Oppenheims folgend, dem Osmanischen Reich im Dschihad eindeutig das Primat einräumte. Hauptmann Klein verfolgte also durchaus selbständig eine Art Geheimdiplomatie, die nicht nur auf die Erledigung seines Auftrags am Karun, sondern auf die große Lösung zielte: den Kriegseintritt Persiens. Als Kenner der persischen Verhältnisse schien es ihm erfolgversprechender, mehr auf direkte deutsch-persische Kontakte zu setzen als auf die Beteiligung des Osmanischen Reiches, das eigene imperiale Ziele gegenüber Persien im Auge hatte. Eine besonders brisante Neuerung lag in einem speziellen Zusatz zur Fatwa, von dem Klein gerade noch der deutschen Gesandtschaft in Teheran Mitteilung machen konnte, bevor sein Schreiben vom 2. Februar mit den von Stern beigebrachten Dokumenten Bagdad verließ. Hatte er gerade noch hier vermerkt, dass einer seiner nächsten Kuriere diesen Zusatz zur Fatwa übermitteln werde, der im Gegensatz zu „deren religiösem, traditionellem Wortlaut einen explosiven politischen Inhalt“ habe und zur Zeit zur Unterschrift bei den Mujtahids zirkuliere, so konnte er jetzt noch schnell die neue erfolgreich verhandelte Textpassage beifügen. Mit unverhohlenem Stolz fügt er als Postscriptum hinzu: „Mein letzter Trumpf ist jetzt durch meinen Vertrauensmann in Kerbela ausgespielt: ,Was kann aber Deutschland tun, wenn nach dem Kriege, an dem Ihr nicht beteiligt seid, die Türken aus Aserbeidschan oder Mohammera nicht wieder herausgehen? Der einzige sichere Schutz dagegen würde nur in einer sofortigen Kriegserklärung und Eingehung eines Bündnisses mit Deutschland liegen.‘“48 47 48

Klein an die kaiserliche Gesandtschaft in Teheran, Bagdad, 02.02.1915, PAAA, Berlin, R 21068, 65–69. „Notiz“ zum Schreiben Kleins an die kaiserliche Gesandtschaft in Teheran, Bagdad, 02.02.1915, PAAA, Berlin, R 21068, 68.

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Türkische Freischärler und kurdische Stammesreiter waren im Dezember und Januar nach Aserbeidschan vorgestoßen, hatten sich aber inzwischen wieder vor russischen Armeeeinheiten zurückgezogen. Ebenfalls im Januar waren türkische Truppen, unterstützt von Arabereinheiten, nach Arabistan einmarschiert.49 Hier wird nun wohl zum ersten Mal in enger Verbindung mit einer Fatwa, sei es als Teil oder als eine Art Kommentar, die deutsch-persische Achse beschworen und den persischen Landsleuten ganz unverhohlen als Schutz gegen imperiale Bestrebungen der Türkei empfohlen. Dies mochte in Persien zwar auf besonders fruchtbaren Boden fallen, musste aber das Verhältnis zum Osmanischen Reich noch weiter komplizieren. Hauptmann Uth, der für die Verhandlungen in Nagaf zuständig war, konstatierte dagegen, dass die dort abgeschlossene Fatwa nicht so weit ging, wie die der geistlichen Nachbarn in Kerbela.50 Das Schreiben Scheich Alis an den Schah erreichte wohl seinen Adressaten nie. Hauptmann Klein sandte es zwar im Original mit Abschriften der Fatwa an die Gesandtschaft nach Teheran51 , aber sowohl die von den Mujtahids für ratsam befundene diplomatische „Abfederung“ der Aktion wie die mit der Übergabe verbundene Exponierung der deutschen Außenpolitik dürften den Plan vereitelt haben. Dagegen trat Scheich Ali seine Reise nach Persien tatsächlich an, die allerdings nicht, wie ursprünglich gehofft, den Charakter eines „Siegeszuges nach Teheran“ annahm. Mehrmals berichtete der Kommandeur in seinem Kriegstagebuch von Abstimmungsbesuchen Alis in Bagdad, von der finanziellen Unterstützung seiner Reiseunternehmung (2100 türk.Pfund) und von Alis Ankunft in Kirs-Schirin im März 1915.52 Dem deutschen Konsul Schünemann teilte der Scheich in Kermanshah mit, dass seine Mission verfrüht sei, solange die (deutsche) Unterstützung des heiligen Krieges mit Geld, Waffen, Munition und Offizieren nicht gewährleistet sei und die Türkei, die dieser Idee „unendlich schade“, ihre Haltung gegenüber Persien nicht ändere.53 Hauptmann Uth wusste sogar mitzuteilen, dass der deutsche Gesandte in Teheran, Heinrich XXXI. Prinz Reuss, sich geweigert habe, Scheich Ali überhaupt zu empfangen.54 Immerhin fand die Fatwa ihren Weg in die schiitische Welt und stärkten – auch in der Hoffnung auf deutschen Beistand – den Widerstand gegen die russischen und britischen Besatzungsarmeen. Adjutant Stern erwähnt so in seiner Biographie, dass die Fatwa „in unzähligen Exemplaren [...] bis tief nach Indien“ 49 50 51 52 53 54

Gehrke, Bd. 1, S. 43–48, 73. Uth, An den heiligen Stätten des Islam, S. 88. Klein, Kriegstagebuch, s.unter dem 02.02.1915. Klein, Kriegstagebuch, s. unter dem 16.02., 20.02., 02.03., 09.03.1915. Gehrke, Bd. 1, S. 73f., Bd. 2, S. 59. Uth, Von den heiligen Stätten des Islam, S. 90.

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verbreitet wurde. Zwar schätzte er in der 1964 publizierten Schrift den Effekt dieser Proklamation gering ein, kam aber in seinen noch im Zweiten Weltkrieg oder kurz zuvor entstandenen Orienterinnerungen in englischer Sprache zu einem anderen Urteil: „Und obwohl der sogenannte ,Heilige Krieg‘ sich in vielerlei Hinsicht als unheilige und gewinnsüchtige Tätigkeit erwies, wie die meisten orientalischen Kriege zuvor, kamen uns diese Dokumente oft zugute, um die klapprige Militärmaschine auf diesen weit entfernten Kriegstheatern in Gang zu halten.“55

Den Part, den Klein der eigenen Expedition bei der Mobilisierung der persischen Stämme zugedacht hatte, konnte sie allerdings nicht wahrnehmen. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel ging auf seinen Plan, den Anschlag nur mit Unterstützung persischer und arabischer Stämme auszuführen, nicht ein. Kaum war er in Bagdad eingetroffen, untersagte der Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte im Irak, Süleyman Askeri Bey, dem Hauptmann den Vorstoß in das Ölgebiet am Persischen Golf. Dies sei, so Askeri Bey, durch türkische Kräfte zu bewerkstelligen.56 Kleins Plan, den Anschlag auf das persische Ölgebiet nun ganz ohne türkische Hilfe, nur mit Unterstützung arabischer und persischer Stämme auszuführen, fand bei der deutschen Vertretung in Konstantinopel keine Gegenliebe. Mit Zustimmung der Botschaft musste Klein als kaiserlich ottomanischer Major samt seiner Expedition nun Anfang März 1915 in türkische Dienste wechseln. In seiner neuen Funktion als „Mensil Mufetisch“: als Generaletappenchef der türkischen Truppen im Irak57 sollte es Klein, Seite an Seite mit seinem Adjutanten Stern, mit viel Improvisationstalent und unter zum Teil abenteuerlichen Umständen gelingen, soweit irgend möglich den Nachschub der Armee zu sichern. Die von ihm logistisch unterstützte, aber gegen seinen Rat unternommene Offensive Süleyman Askeris entlang des Euphrat auf Basra scheiterte.58 Als nachhaltig für weitere osmanische Militäroperationen im Irak sollte sich die von Klein initiierte Entdeckung eines Kohlevorkommens durch seinen Bergingenieur Blumenau nördlich von Bagdad und dessen anschließende Ausbeutung erweisen.59

55 56 57 58

59

Stern, Aus zuverlässiger Quelle verlautet, S. 73, ders., A Dying Empire, S. 55, in deutscher Übertragung zitiert. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 62f. Klein, Kriegstagebuch, s. unter dem 02., 04., 05. und 06.03.1915. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 77ff., E.J. Barker, The First Iraq War 1914–1918. Britains Mesopotamian Campaign, New York 2009 (1967), S. 48, 50, Brig.Gen. Moberly, The Campaign in Mesopotamia 1914.1918, Volume 1, London 1923, S. 215f. Klein, Bericht betreffend Kohlemine Salahije (Mesopotamien), Bagdad, den 17.07.1915, PAAA, Berlin, R 21069, 82–88.

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3. Der Öl-Coup am Karun In der Anfangsphase des Krieges versuchte die Türkei in Persien Fuß zu fassen und unternahm drei Vorstöße auf persisches Territorium, die alle unter der Fahne des „Heiligen Krieges“ geführt wurden. Im Dezember 1914 drangen kurdische Stammesreiter unter türkischer Führung in Aserbeidschan ein und marschierten am 8. Januar in Tabriz ein. Sie propagierten den panislamischen Befreiungskampf zur Befreiung der schiitischen Glaubensbrüder aus den Fesseln der russischen Fremdherrschaft. Wie der deutsche Konsul Litten in Tabriz berichtete, gelang es den türkischen Kommandeuren hier, mit seiner Unterstützung ihre kurdischen Truppen gegenüber der Zivilbevölkerung in Zaum zu halten, trotzdem verliefen die Anwerbungen für den Dschihad wenig erfolgreich. Ende Januar erlitt die Militärexpedition eine Niederlage gegen russische Einheiten und wandte sich in kopfloser Flucht wieder zurück zur türkischen Grenze. Der völlig ungeordnete Rückzug war nun von den üblichen Plünderungen begleitet.60 Ein zweiter Vorstoß zielte auf Arabistan und hier besonders auf die Ölquellen am Golf und die englischen Ölleitungen. Es handelte sich also um ein direktes Konkurrenzunternehmen zu Hauptmann Kleins Mission. Im Januar 1915 war der Scheich der Bani Lam, Gazban, mit seinen Stammeskriegern und zwei türkischen Regimentern in Arabistan eingerückt und warb in Begleitung mehrerer Mullas erfolgreich für den Heiligen Krieg. Weitere Araberstämme wie die Banf Turuf und Hauiwiza schlossen sich an. Am 5. Februar 1915 gelang es den für den Dschihad gewonnenen arabischen Stammeskriegern, die Ölleitungen der Anglo-Persian Oil Company zwischen Nasirf und Masgidi-Sulaiman mehrmals zu unterbrechen und in Brand zu setzen. Die Ölfelder selbst waren dadurch nicht gefährdet. Hier hielten die von der APOC gut bezahlten Bachtiaren ihre schützende Hand über die Rohstoffquellen. Die Briten reagierten auf diesen türkisch-arabischen Vorstoß mit der Verlagerung von Sicherungstruppen zu den Raffinerien in Abadan und in das nördlich gelegene Ahwaz.61 In Arabistan hatte die Propagierung des Dschihad also greifbare Resultate erzielt. Die Gründe lagen sicher in der Tatsache, dass ein anerkannter arabischer Stammesfürst sich mit seinen Kriegern an die Spitze der Bewegung gestellt hatte, dass dieser Stamm, die Bani Lam, seine Wohnsitze sowohl auf osmanischer Seite wie auch in Persien besaß und sowohl Schiiten (mehrheitlich) wie auch Sunniten umfasste.62 So kam der Dschihad hier viel weniger in den Geruch, einseitig für türkische Interessen instrumentalisiert zu werden. Der dritte Vorstoß fand etwa in der Mitte der langen persisch-türkischen Grenze statt, entlang der alten Passstraße Haniquin-Oasr-i-Sirin. Das Ziel, 60 61 62

Gehrke, Bd. 1, S. 43–48. Ebenda, Bd. 1, S. 91ff. Ebenda, Bd. 2, S. 73, Anm. 447.

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die persische Provinz Kermanshah (Kirmansah), war überwiegend von Kurden besiedelt, die aber, anders als ihre Stammesgenossen im Norden, wenig Neigung zeigten, mit den Türken zu kooperieren. Das gleiche galt von den weiter südlich ansässigen Lurenstämmen. Hier versuchte nun Rauf Bey, der ursprünglich zum Kopf der gemeinsamen türkisch-deutschen AfghanistanExpedition ausersehen gewesen war, den Funken des „Heiligen Krieges“ zu zünden und eine panislamische Umwälzung im großen Stil in Gang zu setzen, die Persien, Indien und Afghanistan zusammenschließen und befreien sollte.63 Rauf Bey hatte sich in den Balkankriegen mit seinen verwegenen Kreuzerfahrten im Ägäischen und Adriatischen Meere, als Kommandant der „Hamidije“, einen großen Namen gemacht. Seine Truppe umfasste anfangs tausend, später dreitausend Mann, die mit deutschen Geldern für die ursprünglich geplante türkisch-deutsche Afghanistan-Expedition aufgestellt wurde. Erst sollte die religiöse Erregung für den Dschihad sich entfalten, dann sollte der Einmarsch kommen. Da aber die Begeisterung für einen gemeinsamen türkisch-persischen Glaubenskampf partout nicht kommen wollte, drehte Rauf Bey die Reihenfolge kurzerhand um und setzte den Einmarsch an die erste Stelle.64 Klein berichtet in seinen Erinnerungen, dass der an der Grenze siedelnde Stamm der Sangabi den Vormarsch Raufs blockiert habe. Verhandlungen seien fruchtlos verlaufen, und Rauf habe daraufhin seine Truppe angreifen lassen. Bei den ersten Kämpfen sei sein Generalstabsoffizier gefallen. Rauf, aufs äußerste erbittert, führte nun einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen die Sangabis, brannte ihre Dörfer und Ernten nieder und stieß bis auf die Stadt Kirind vor, die er in Asche legte.65 Trotz der schweren Niederlage einer türkischen Abteilung gegen die Stämme der Sangabi (Sendjabi) und Dawilu bei Mandalf in der ersten Märzhälfte setzte Rauf seine Einfälle nach Kermanshah weiter fort. Scheich Ali al-Iraqain, der ja auf Initiative Hauptmann Kleins in Persien für den „Heiligen Krieg“ an der Seite Deutschlands wirken sollte, suchte den deutschen Konsul Schünemann in Kermanshah auf und teilte ihm mit, dass seine Mission „verfrüht“ sei, wenn nicht sofort die vier Grundbedingungen (Geld, Waffen, Munition, Offiziere) erfüllt würden und die Türkei ihr Verhalten ändere. Die Art des türkischen Vorgehens schade der panislamischen Idee „unendlich“.66 Auch Hauptmann Klein wertete die Einfälle Raufs nach Persien als Katastrophe für den panislamischen Glaubenskampf und sah sich als Etappenchef im Irak in der verzweifelten Lage, Rauf Bey und seine Scharen mit Proviant und Munition versorgen zu müssen. In einem langen Schreiben an Nadolny 63 64 65 66

Ebenda, Bd. 1, S. 73. Ebenda, Bd. 1, S. 72–75. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 116. Gehrke, Bd. 1, S. 73–75, Bd. 2, S. 59, Anm. 320.

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nahm der Hauptmann kein Blatt vor den Mund: Es sei bisher nicht möglich gewesen, die Türken „von ihren geradezu blödsinnigen Eroberungsgelüsten auf Persien abzubringen. So sehr ich und andere einsichtige Leute auf eine Beseitigung des offenbar größenwahnsinnig gewordenen türkischen Nationalhelden Reuf Bey mit seinem Expeditionskorps aus Persien gedrungen haben – er schaltet unentwegt weiter zwischen der Grenze und Kermanschah, sperrt den Verkehr zwischen Teheran und der Türkei ab, und seine Horden sengen, rauben, morden und vergewaltigen nach Herzenslust. Dabei wird er von der Zentralregierung, die vielleicht auch seinen Einfluss fürchtet, mit Geld, Waffen und Mannschaft kräftig unterstützt, und das ganze Bild: der Raubzug in Aserbeidschan, bei dem die türkischen ,Befreier‘ eine ganz klägliche Rolle spielten, das Unternehmen Reufs und die offensichtliche und eingestandene Behinderung aller Deutschen, die nach Persien bestimmt waren, lassen leider keinen Zweifel darüber zu, dass die Türkei Eroberungspläne in Persien verfolgt, die den deutschen Absichten und den Interessen einer panislamitischen Politik direkt zuwiderlaufen.“67

Kleins Fernziel war immer noch, vorbereitet von den Mullahs aus Kerbela und gerufen von der persischen Regierung, nach Persien zu gehen, um dort militärische Aufbauhilfe zu leisten, den Kampf gegen Russen und Engländer zu führen und auftragsgemäß den Anschlag auf das Ölgebiet auszuführen. So entschied er sich, den auf das Karungebiet vorrückenden Truppen Mohammed Fazil Paschas ein Kommando unter Leutnant Lührs mitzugeben, das den Geheimbefehl erhielt, die Sprengung der englischen Ölleitungen im großen Stil vorzunehmen. Würden die Türken ihn daran hindern, den Karun zu erreichen, sollte er das Zerstörungswerk durch die arabische Bevölkerung durchführen lassen.68 Das Kriegstagebuch des Hauptmanns kaschierte den Auftrag an Lührs mit der Übertragung einer von vier Inspektionen im Etappendienst der türkischen Irakarmee für den Bereich „Aman-Hanize (evtl. Mohammurah)“, wobei sich Mohammurah (Muhammara) bereits auf persischem Territorium und in unmittelbarer Nähe der Ölraffinerien befand. Offiziell schloss sich Lührs mit seinen Leuten den abmarschierenden Einheiten Mohammed Fazil Paschas nur an, um seinen neuen Wirkungskreis im Etappendienst wahrzunehmen. Zum feierlichen Abschied der Gruppe Lührs am 11. März notierte Klein im Kriegstagebuch: „Da gleichzeitig ein Bataillon mit Mohammed Fazil Pascha an der Spitze an die Front abgeht, große Demonstration der Bevölkerung, Musik (die uns zu Ehren ,Heil Dir im Siegerkranz‘ einstudiert hat) und alle Behörden am Schiff.“69

Inzwischen hatten die Engländer den Schutz des Ölgebietes nicht mehr nur den Bachtiaren anvertraut, sondern eigene Truppen bei den Raffinerien von Abadan und beim strategisch bedeutsamen Ahwas angelandet.70 Die etwa 350 km lange Ölleitung verlief von den Quellen bei Schuster am oberen Karun 67 68 69 70

Klein an Nadolny, Bagdad, den 28.07.1915, PAAA, Berlin, R 21069, 105, 106. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 68f., vgl. Bericht Klein, Bagdad, den 18.07.1915, PAAA, Berlin, R 21069, 76–79. Klein, Kriegstagebuch, s. unter dem 06. und 11.03.1915. Gehrke, Bd. 1, S. 92.

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bis zu den Raffinerien bei Abadan am Schatt-el-Arab und zu weiten Teilen in unmittelbarer Nähe des Flusses. Lührs Kommandoeinheit bestand im Kern aus acht Mann: zwei weiteren deutschen Landsleuten: Leutnant Back und Unteroffizier Nielsen71 , dem Tscherkessen Ali72 , den Klein bereits in Aleppo angeworben hatte, zwei Sapiehs aus der Schwadron Ismail Hakkis, Hamed und Abdullah: „furchtlose und brave Kameraden“, Lührs Diener Hadschi Mahmud, der einer arabischen Familie in Bombay entstammte, und Backs Bursche Schakir: ein Anatolier im Rang eines türkischen Sergeanten. Hinzu kam ein Begleitkommando von zehn Albanern, die schon in Konstantinopel zur Expedition gestoßen waren, von denen sich Lührs aber später wieder trennte, da sie sich mit ihrem besonderen türkischen Dialekt nur schlecht verständigen konnten und immer wieder Konflikte mit den Arabern drohten.73 Mohammed Fazil und einige seiner Stabsoffiziere waren bereits zu Beginn der Sondermission über das deutsche Kommandounternehmen informiert worden, wenn man dem Zeugnis Lührs’ Glauben schenken kann. Allerdings spricht auch die Tatsache, dass Lührs bei seiner Operation vielfach auf die Unterstützung Mohammed Fazils angewiesen war, für die Stichhaltigkeit dieser Angabe. Klein hatte dem türkischen General jedoch die geheime Mission der Gruppe Lührs verschwiegen. Seine Erinnerungen wissen nichts von einer derartigen Übereinkunft zu berichten, und Nadolny teilte er später mit, die Aktion sei ohne Wissen der Türken erfolgt.74 Der Pascha hatte die Gruppe Lührs bei seinem Vormarsch bis Amara bei sich aufgenommen und war dann nach Persisch-Arabistan aufgebrochen, um sich dort mit den bereits mobilisierten Araberstämmen zu vereinen. Lührs folgte ihm von Amara mit Verzögerung, um den Schein seiner Tätigkeit als Etappeninspekteur zu wahren, und stieß erst später zum vereinigten Feldlager des Paschas.75 Die Streitmacht, die Mohammed Fazil hier gesammelt hatte, umfasste zwei Schwadronen türkischer Gendarmerie, zwei ältere 7,5 cm Krupp-Feldgeschütze mit einer nur ungenügend ausgebildeten Bedienungsmannschaft und Munition, die nur für wenige 100 Schuss reichte. Kein einziges Maschinengewehr stand zur Verfügung. Hinzu kam das in der Nähe lagernde arabische Kontingent von ungefähr 5000 Kriegern, darunter etwa 3000 Bani Lam unter Scheich 71 72 73 74 75

Liste der Teilnehmer, in: Klein, Kriegstagebuch, Hans Lührs, Gegenspieler des Obersten Lawrence. Berlin 1936, S. 104. Einer von zwei Tscherkessen der Expedition, der andere hieß Osman, ebenda. Lührs, Gegenspieler, S. 41f., 53–55, 62–64. Klein an Nadolny, Bagdad, den 28.07.1915, PAAA, Berlin, R 21069, 101f. Lührs, Gegenspieler, S. 41, 45, 51, 87f., Gehrke, Bd. 1, S. 93f. Die Daten, die Lührs für den Marsch, Eintreffen im Lager des Pascha und Aufbruch erwähnt, sind allerdings zweifelhaft. Er will so am 5. März in Amara eingetroffen sein, während Kleins Kriegstagebuch als Datum des Abmarsches aus Bagdad erst den 11.03.1915 festhält, Klein, Kriegstagebuch, s. unter dem 11.03.1915.

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Gazban. Der Rest dürfte den Beni Troff, Albu Mohammed, Hauiseh und Anifidjah-Arabern zuzurechnen gewesen sein.76 Nachdem die Aufklärungsabteilung Mohammed Fazils am 22. März Ahwas planmäßig erreicht hatte, brach das Sprengkommando in Richtung Karun auf: Lührs, Nielsen, Hadschi Mahmud, Ali und vier Hauiseh-Araber. Der Fluss wurde 30 km unterhalb von Ahwas überquert. Wenig später war der „dicke Wurm“ der Ölleitung in Sicht, Leutnant Lührs brachte mit Assistenz Nielsens die Sprengladung an und zündete. Eine gewaltige Flamme machte die Nacht zum Tag. Das Sprengkommando trat nun eilig den Rückmarsch an, traf am Karun auf den wartenden Leutnant Back und erreichte am nächsten Morgen wieder wohlbehalten das Feldlager Mohammed Fazils. Nach diesem ersten Einsatz versuchte Lührs die Sprengungen weiter fortzusetzen, was ihm nur noch einmal im April gelang, während die gleichzeitig angesetzten Arabertrupps der Beni Troff und Bani Lam mit deutlich größeren Erfolgen aufwarten konnten. Später griff die im Lager grassierende Ruhr auch auf die Leutnante Lührs und Back und die meisten Mitglieder ihres Kommandos über, so dass sie ihr Werk nicht mehr fortsetzen konnten. Auch die ausgeschickten Arabereinheiten scheiterten nun an ihrer Aufgabe. Die Engländer hatten inzwischen Truppenstützpunkte entlang der Pipeline errichtet, griffen die Araber auf oder trieben sie zurück. Lührs und seine Leute antworteten darauf mit einer Art Einsickerungstaktik, ließen die Araber nicht mehr in Trupps, sondern einzeln unter allerlei Vorwänden in den Operationsraum vordringen. Nur unmittelbar zur Aktion, des Nachts, vereinte man sich und schlug erfolgreich zu. Allerdings ließ der Eifer Scheich Gazbans, der Lührs hier anfangs eine große Hilfe war, später entschieden nach. Lührs vermutete, dass hier englische Versprechungen im Spiel waren.77 Die durch diese wiederholten Sprengungen verursachten Schäden für die britische Seite waren beträchtlich. Der Generalstab teilte Kommandeur Klein unter dem 21. Januar 1916 das Verlustergebnis nach dem Jahresbericht des Präsidenten der Anglo-Persian Oil Company mit: „Die Unterbrechung der Leitung ist durch Zerstörung einer Anzahl von Sektionen auf einer Länge von 12 englischen Meilen erfolgt und hat von Anfang Februar bis Mitte Juni gedauert. Infolge der dadurch erzwungenen Einschränkung des Betriebes ist gegen das Vorjahr statt der nach früheren Jahren zu erwartenden Steigerung ein Produktionsverlust von ungefähr 34 Millionen Gallonen eingetreten. Außerdem mussten weitere 36 Millionen Gallonen verbrannt werden, weil infolge fehlender Ableitungsmittel Mangel an Lagerraum eintrat. Der Gesamtschaden beträgt demnach mindestens 70 Millionen Gallonen oder 320 Millionen Liter.“78

Das Auswärtige Amt bezifferte wenig später aufgrund von Angaben der Deutschen Bank den finanziellen Verlust für die Briten mit mindestens 12 Millionen Mark und setzte hinzu: „Das ist mehr, als die persischen Un76 77 78

Lührs, Gegenspieler, S. 73ff. Lührs, Gegenspieler, S. 90–93, 95f. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 80f.

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ternehmungen uns bislang gekostet haben.“79 Allerdings entfiel auf das Unternehmen Klein nur ein Bruchteil: 400.000 Mark bis Juli 1915. Hiervon setzte der Hauptmann noch 30.000 Mark für eigentlich expeditionsfremde Zwecke im Rahmen seiner Aufgaben als Etappenchef der türkischen Irakarmee ein.80 Der finanzielle Einsatz für das Unternehmen Klein hatte sich also für die deutsche Seite allein schon durch die Sprengungen am Karun mehr als gelohnt, von seinen sonstigen Aktivitäten für die türkische Irakarmee und den diplomatischen Erfolgen bei Araberstämmen und schiitischer Geistlichkeit einmal abgesehen. Mitte Mai leitete Mohammed Fazil mit seinen erschöpften Kräften den Rückzug auf Amara ein. Wassermangel, Krankheiten und die Nachricht von Süleymans Niederlage bei Zubair hatten ein Übriges getan. Es gelang dem türkischen Befehlshaber, Amara zu erreichen, bevor die neu herangezogenen bedeutenden Verstärkungen der britischen Truppen unter General Gorringe dies verhindern konnten. Dafür hielt sich die englische Streitmacht an die auf türkischer Seite beteiligten Araberstämme und verhängte ein Strafgericht: „Diese mehrtägigen, nach Kolonialmanier durchgeführten Bestrafungsaktionen forderten nicht nur erhebliche Verluste an Toten, sondern zielten auf nachhaltige wirtschaftliche Vernichtung.“81 Auch Lührs und seine Gruppe erreichten das rettende Amara, er selbst und Leutnant Back noch stark geschwächt von der überstandenen Ruhr. In Amara erhielt die Gruppe Nachricht vom Fall Kurnas, der auch das deutsche Minenkommando der Expedition hart treffen sollte. Leutnant Müller gelang es, sich auf dem Motorboot des türkischen Befehlshabers Halim Bey in Sicherheit zu bringen. Dagegen fielen Leutnant Gramberg, Wachtmeister Reul, Wachtmeister Sonderegger und Unteroffizier Graeff, der frühere Schiffsjunge der „Ekbatana“, auf dem Rückzug plündernden Arabern in die Hände, wurden hier zum Teil schwer verwundet und gerieten – bis auf Graeff – in englische Gefangenschaft.

4. Araberpolitik und der Zug nach Persien Jetzt, wo die britischen Streitkräfte im Begriff standen, das osmanische Mesopotamien aufzurollen, bekamen die politischen Aktivitäten der Expe79 80

81

Notiz als Anlage zum Schreiben an Abtlg P, vom 21.01.1916, 03.02.1916, PAAA, Berlin, R 21969, 153ff. Wangenheim an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, Pera, den 06.07.1915, Hohenlohe an AA, Pera 20.07.1915, Entwurf eines Schreibens des AA an die Botschaft in Konstantinopel, Berlin, den 22.07.1915, Entwurf eines Schreibens des AA an den Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Berlin, den... August 1915 (cessiert), PAAA, Berlin, R 21069, 23f., 28f., 64f. Gehrke, Bd. 1, S. 95, s.auch S. 94.

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dition neues Gewicht. Verhandlungen mit den Araberstämmen sollten nach dem Zeugnis Sterns nun die türkischen Verluste ausgleichen. Hier kam der Stammesgruppe der Schammar, mit über 200.000 Kriegern der mächtigste Beduinenverband auf der arabischen Halbinsel, eine große Bedeutung zu. Tatsächlich sollten die Beni Schammar bis zum Kriegsende für das osmanische Reich kämpfen.82 Die Verhandlungen, die von der Expedition mit dem höchsten Scheich der Schammarstämme in Mesopotamien, Homedi Bey, im Sommer 1915 geführt wurden, dienten bereits der Absicherung der Nachschublinien für den künftigen Persieneinsatz.83 Bei den Gesprächen repräsentierten Klein und seine Leute als einzige deutsche Militärgruppe im Irak gewissermaßen den deutschen Bündnispartner84 und trugen dazu bei, das Vertrauen in den deutschen Sieg zu kräftigen. Im Sommer 1915 war nun mit dem Eintreffen neuer osmanischer Truppen aus Mossul und Damaskus und einer stärkeren türkischen Militärpräsenz in Kerbela und Nagaf eine deutliche Stabilisierung der militärischen Lage im Irak zu verzeichnen. Zwei neu formierte Divisionen (Nr. 51 u. 52) wurden aus Armenien hierher in Marsch gesetzt, und in Bagdad befand sich eine weitere in Aufstellung (Nr. 45). Fast alle Araberstämme, die bei dem osmanischen Rückzug in Mesopotamien vom Sultan abgefallen waren, unterwarfen sich nun wieder der osmanischen Herrschaft, darunter auch die Beni Lam unter Scheich Gazban.85 Der überstürzte Vorstoß britischer Truppen unter General Townshend auf Bagdad, der im November 1915 in der Niederlage von Ktesiphon und später in der Einschließung und Kapitulation der britischen Kräfte bei Kut-el-Amara am 29. April 1916 endete, war auch von dem Interesse geleitet, Persien und seine Hinterländer von den Basen der deutsch-türkischen Agitation im Irak abzuschirmen. In Persien gärte es dank dieser Propaganda86 , zu der die Expedition Klein mit ihrem Kerbela-Einsatz und der Aktivierung der dortigen Geistlichkeit beigetragen hatte. Gerade in den türkisch-persischen Grenzgebieten, in den breiten Volksschichten und bei den Stämmen im Süden des

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Peter Thorau, Nur Nadelstiche aus der Wüste? T.E.Lawrence und die Arabische Revolte aus osmanischer Sicht, in: Lawrence von Arabien. Genese eines Mythos. Begleitband zur Sonderausstellung „Lawrence von Arabien“, Landesmuseum für Natur und Mensch Oldenburg, Mainz 2010, S. 173–183, S. 182. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 118, Stern-Rubarth, A Dying Empire, S. 104f. Edgar Stern, Ein arabisches Gastmahl, in: Vossische Zeitung, 21.01.1916. Klein, Bericht, Bagdad, den 18.07.1915, von kaiserlicher Botschaft in Konstantinopel an Reichskanzler von Bethmann Hollweg am 12.08.1915 weitergeleitet, PAAA, Berlin, R 21069, 75–79, Joseph Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches. Erinnerungen an die Türkei aus der Zeit des Weltkrieges, Wien 1928, S. 149. Gehrke, Bd. 1, S. 193f.

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Landes war die Idee des „Heiligen Krieges“ durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen.87 Der Hauptmann wird so in seinem Abschlussbericht über seinen Irakeinsatz zu folgendem Urteil gelangen: „Als einen Sondererfolg ganz eigener Art nehme ich für meine Expedition die Gewinnung und dauernde Erhaltung der Freundschaft und des völligen Vertrauens der schiitischen Mudjtehids in Anspruch. Wäre uns dies nicht im Januar gelungen, so glaube ich behaupten zu dürfen, dass sowohl die persisch-türkische Frage, wie die schiitisch- sunnitische Frage und die Araberfrage dank einer entgegengesetzten Beeinflussung durch die Geistlichkeit für die Türken ein katastrophales Ende jetzt schon genommen haben würden.“88

Die Aktivitäten Hauptmann Kleins waren freilich ebenso wenig feldzugsentscheidend wie die mythisch überhöhten Partisanenanschläge von Lawrence und seinen Araberscharen auf die Hedschasbahn und die Einnahme von Akaba. Das Spiel von Klein und Lawrence war eben doch nur ein kleiner Teil eines noch größeren blutigen und eisernen Spiels, das mit regulären Truppen und moderner Kriegstechnik in ganz anderen Dimensionen entschieden wurde. Jedoch erbrachte die kleine deutsche Gruppe Hauptmann Kleins für die Stabilisierung der türkischen Irakfront, das Verbleiben der irakischen Araber im deutsch-osmanischen Bündnis, die Bindung größerer britischer Truppenteile, die dann auf dem europäischen Kontinent fehlten, und mit den erheblichen finanziellen Schäden für die britische Seite durch Sprengung der Pipeline am Karun einen militärischen Nutzen für die Mittelmächte, der die Einsatzkosten der Expedition um ein Vielfaches überstieg. Mitte des Jahres 1915 trat in der offiziellen deutschen Persienpolitik ein Wechsel ein. In Teheran entfaltete der deutsche Militärattaché Graf Kanitz eine rege und erfolgreiche propagandistische Wirksamkeit mit dem Ziel, eine allgemeine persische Erhebung gegen Engländer und Russen in Gang zu setzen. Die deutsche Außenpolitik zielte auf den Kriegseintritt Persiens, um in Mittelpersien einen breiten Nachschubkorridor zu sichern, der nach Afghanistan und Indien führen sollte. Zusammen mit Stämmen, persischer Gendarmerie und einigen deutschen Offizieren glaubte man diese Aufgabe lösen zu können.89 Die Expedition Niedermayer und von Hentig hatte bereits unter der Kanitzschen Leitung in Persien eine Linie von Etappenstützpunkten angelegt.90 Auch die Türkei schwenkte nun stärker auf die deutsche Position ein, zog die in Westpersien eingefallenen Scharen Rauf Beys wieder zurück und bekundete wie die deutsche Regierung ihren Willen, bei einem Friedensschluss für die persische Integrität und Unabhängigkeit einzutreten.91 Zu einer entsprechenden verbindlichen Erklärung gegenüber Persien konnte sich die türkische 87 88 89 90 91

Gehrke, Bd. 1, S. 113f. Klein, Bericht, Bagdad, den 18.07.1915. Gehrke, Bd. 1, S. 170, 173f., 177, Bd. 2, S. 169f. Carl Mühlmann, Das türkisch-deutsche Waffenbündnis im Weltkriege, Leipzig 1940, S. 69, Gehrke, Bd. 1, S. 123–133, 142–146. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 117, Gehrke, Bd. 1, S. 177, 182, Bd. 2, S. 177.

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Regierung freilich erst verstehen, als es viel zu spät war: im Frieden von BrestLitowsk am 3. März 1918. Hauptmann Klein wechselte nun mit dem Großteil seiner Expedition, die aus dem türkischen Militärverhältnis ausschied, in den militärischen Dienst der Teheraner Gesandtschaft und wurde dem „Verbindungsoffizier für Persien“, Major Friedrich Sarre, mit Sitz in Kermanshah zugeteilt. Kleins Aufgaben, der Anfang September 1915 hier eintraf, lagen in der Ausbildung, Rekrutierung und dem Einsatz persischer Truppen, die schon jetzt gegen das russische Militär ins Feld geführt werden sollten. Dies sollte durch die Heranziehung der Stämme, der von schwedischen Offizieren geführten persischen Gendarmerie und dem Ausbau des persischen Milizsystems geschehen.92 Bis Ende 1915 vermochte der Hauptmann eine positive Bilanz seines Einsatzes zu ziehen. Sinneh, Bidjar und Hamadan konnten eingenommen werden.93 Die Hauptstütze der Kleinschen Militärpolitik bildeten die national ausgerichteten persischen Demokraten, denen der Dschihad als überlebtes Relikt vergangener Zeiten erschien. Dschihadpropaganda betrieb die Expedition nicht. Allerdings war das Dschihadmotiv bei der einfachen Landbevölkerung und den Kurdenstämmen neben dem des tribalen oder nationalen Unabhängigkeitskampfes sicher noch wirksam.94 Jedoch verfehlte die deutsche Diplomatie, wenn auch nur knapp, das Ziel, den Schah zum Bündnisabschluss zu gewinnen. Unter dem Druck des russischen Vormarsches auf Teheran, das am 18. November 1915 besetzt wurde, stellte er sich auf die Seite der Entente.95 Der neue Schulterschluss mit dem osmanischen Bündnispartner hatte seinen Ausdruck in der im Oktober 1915 erfolgten, von Enver Pascha angeregten Ernennung des preußischen Generalfeldmarschalls und türkischen Marschalls von der Goltz Pascha zum Führer der VI. osmanischen Armee im Irak und Westpersien gefunden. Auch von der Goltz sah Persien in einer Art Brückenfunktion für den Vorstoß nach Afghanistan und Indien.96 Ab 1. Januar 1916 trat die Expedition Klein nun unter den Oberbefehl von der Goltz Paschas, und der Hauptmann hatte sein Oberkommando an den Chef der deutsch-persischen Militärmission, Oberst Bopp, abzugeben. Seine Ernennung zum Kommandanten von Kermanschah bedeutete eine Einschränkung seiner bisherigen Kommandofunktion, die der Hauptmann wohl mit einem Antrag auf Versetzung an europäische Fronten quittierte.97 92

Ebenda, S. 122f., Hans von Kiesling, Mit dem Feldmarschall von der Goltz-Pascha in Mesopotamien und Persien, Leipzig 1922, S. 77, 137. 93 Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 125f. 94 Ebenda, S. 123, Gehrke, Bd. 1, S. 113ff., s.a. Hugo Erdmann, Im Heiligen Krieg nach Persien, Berlin Wien 1918, S. 130, 132. 95 Carl Alexander Krethlow, Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz Pascha. Eine Biographie. Paderborn 2012, S. 508f., Gehrke, Bd. 1, S. 201–206. 96 Gehrke, Bd. 1, S. 184–187, Krethlow, S. 484–497, Kiesling, S. 16, 18–20. Vgl. auch den Beitrag von Bernd Lemke in diesem Band. 97 Bericht des Hauptmanns u. Btls. Kommandeurs im IR 329 Hoffmann an Generalfeld-

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Die Stammesreiterpolitik von Graf Kanitz erwies sich jetzt als völliges Fiasko. Klein und auch Sarre hielten dagegen eine verdeckt wirkende ruhige Ausbildung regulärer Truppen für angebrachter und die durch die Kanitzsche Werbepolitik jetzt schon bewirkte Eskalation der Konflikte für verfrüht. Tausende von geworbenen Stammeskriegern verließen schon bei ersten Feindberührungen die Kampfzonen. Die Kräfte der deutsch-persischen Militärmission schrumpften von etwa 12.000 Mann im Januar 1916 (allerdings nur ca. 3500 Mann regulärer Truppen) auf etwa 8150 Mann im Februar mit einem verlässlichen Kern von 850 türkischen Soldaten und einigermaßen brauchbaren 1000 persischen Gendarmen. Vor überlegenen russischen Kräften musste Oberst Bopp, und Hauptmann Klein mit ihm, noch im Februar 1916 Kermanschah aufgeben und den Rückzug zur persisch-türkischen Grenze antreten.98

Bilanzen Im März 1916 konnte Klein seinem Heimaturlaub entgegenreisen und wurde am 13. September der für die Westfront bestimmten, neuaufgestellten 215. Division als I. Adjutant zugeteilt. Für den Rest des Krieges wird der Hauptmann nun in wechselnden Funktionen in West und Ost dienen, so seit September 1917 als Kommandeur eines Landwehrbataillons, und von November 1917 bis September 1918 als Kommandeur eines Sturmbataillons.99 Seinen Abschied erhielt Klein schließlich mit dem Charakter eines Majors.100 Auffallend ist, dass Fritz Klein keine weitere Beförderung zuteil wurde. Seine Troupiermentalität, die auch vor eigenmächtigen Handlungen nicht zurückscheute und nicht in das Korsett des militärischen Aufstiegs passte, mochte dem entgegengestanden haben. In der Rückschau sah Fritz Klein den militärischen Erfolg seiner Expedition neben der Sprengung der Ölleitung am Persischen Golf in der starken Kräftebindung des britischen und russischen Gegners, die das Kontingent seiner Expedition etwa um das Zwanzigfache übertroffen habe. Dem ist zuzustimmen, wenn man die Konzentration russischer Truppen in Westpersien in Stärke von einer Infanterie- und zwei Kavalleriedivisionen (ca. 15–20.000 Mann) in Betracht zieht. Dies gilt auch für die britische Seite.101 Kleins Streitmacht

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marschall von Hindenburg, im Felde, den 15.11.1917, in: Klein, Der Verlust des eigenen Schattens, V.5, S. 275–307, S. 298, s.a. S. 212. Bericht von Hauptmann Hoffmann, S. 294f., Gehrke, Bd. 1, S. 220, Kiesling, S. 152f., Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 142. Auszug aus der Kriegs-Rangliste des Hauptmanns Friedrich Klein (Privatbesitz), Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 187ff., 191f. Bereits ab 08.10.1918, Fritz Klein, Marschroute und militärische Notizen, masch.schriftl. S. 156 (Privatbesitz). Bericht von Hauptmann Hoffmann, S. 294ff., Krethlow, S. 534, Klein, Der Verlust des eigenen Schattens, V.3, S. 245.

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in Westpersien verhinderte überdies einen russischen Durchbruch nach Mesopotamien und damit die Vereinigung britischer und russischer Kräfte. Die Siege osmanischer Truppen über ihre britischen Gegner bei Ktesiphon und Kut-al-Amara wurden hierdurch mit ermöglicht.102 Das Fazit des Hauptmanns, der „Heilige Krieg“ sei nur ein „scheinheiliger Krieg“ gewesen103 , war Ausdruck seiner Erfahrung, dass der Anschluss der sogenannten Glaubenskämpfer an die Sache der Mittelmächte in erster Linie als Geschäftsbeziehung aufgefasst wurde. Den durchschlagenden islamischen Dschihad an der Seite Deutschlands hatte es nie gegeben. Das Dschihadmotiv hatte wohl nur als Untertönung in Verbindung mit vorherrschenden tribalen Loyalitäten, frühen nationalen Beweggründen und merkantilen Gesichtspunkten eine gewisse Rolle gespielt. Fernab vom orientalischen Kriegsschauplatz, aber stark beeinflusst von den hier gewonnenen Erfahrungen, entwickelte Fritz Klein noch zwischen 1916 (oder 1917) und 1918 in der Erstfassung seiner Kriegserinnerungen Gedankengänge, die einen radikalen Bruch zu den Denkgewohnheiten seines sozialen Umfeldes als Industriellensohn und aktiver preußischer Offizier markieren. Die deutsche Orientpolitik sah er von imperialistischen Interessen fehlgesteuert, im osmanischen Reich sei Deutschland, auch nicht als dominanter Wirtschaftspartner, im Gegensatz zu anderen Mächten nicht „heimatberechtigt“. Seinen Landsleuten bescheinigte er mit ihrer militärischen Schroffheit und Besserwisserei trotz all ihrer fachlichen Qualitäten wenig Talent, um eine Aufgabe als Entwicklungshelfer im Orient zu erfüllen. Bei aller Leistungsfähigkeit schienen dem Hauptmann doch Erziehung und Bildung in Deutschland zu wenig Spielraum für Originalität und Ideenreichtum zu lassen und Ehrgeiz wie militärische Sozialformen der beabsichtigten Weltläufigkeit entgegenzustehen.104 Im letzten Teil von Kleins Weltkriegserinnerungen, die nach der Einberufung der Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar 1919 und vor der Übergabe der Versailler Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 entstanden sein müssen, erweiterte sich Kleins Ansatz zu einer Generalkritik des Imperialismus und des „kapitalistischen Systems“, denen er die Hauptschuld am gerade überstandenen Weltkrieg zuschrieb. Es gehört zu dem ganz ungewöhnlichen geistigen Profil dieses Offiziers, dass er sich für die Friedensresolution des Deutschen Reichstages 1917 aussprach und sowohl den Verzicht auf eine rechtzeitige Parlamentarisierung der Reichsregierung wie auch die Nichteinführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes in Preußen als Fehler brandmarkte.105

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Vgl. hierzu: Kiesling, S. 96. „Was ist das Morgenland? – Ein Übermorgenland – Und der heilige Krieg? – Ein scheinheiliger Krieg.“, Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 162. Klein, Feldzugs-Erinnerungen, S. 176, 179f. Ebenda, S. 245–253.

Martin Kröger

Im wilden Kurdistan – Die militärische Expedition in der Osttürkei 1914–1916 „Eine ganz hübsche Aufgabe wäre es, jetz[t] ein bis[s]chen im Kaukasus und in Turkestan zu wühlen. Ueber Kleinasien könnte man schon hingelangen.“1

Der völlig unbedeutende deutsche Diplomat, der seinem Staatssekretär diese Zeilen schrieb, hatte seine beruflichen Erfahrungen in Brasilien und Mexiko gemacht. Adolph von Flöckher wusste also nicht, wovon er da schrieb. Staatssekretär Gottlieb von Jagow wusste es auch nicht, er war in seiner Karriere nie weiter als bis nach Rom gekommen. Die weitaus meisten Politiker, Diplomaten und Soldaten in Deutschland wussten es nicht. Einige ahnten vielleicht, dass nicht alles „ganz hübsch“ werden würde. Doch alle, von denen hier die Rede sein wird, waren davon überzeugt, dass ein bisschen „Wühlen“, die „Aufwiegelung gegen unsere Feinde“, wie der zugehörige Aktentitel im Auswärtigen Amt lautete, dass eine asymmetrische Kriegsführung selbstverständlicher Teil der Strategie sei. Es war ihnen vor Augen, dass es sich um eine herkömmliche Kriegstaktik handelte, wenn man im Rücken des Gegners agierte, nach Verbündeten suchte, die feindlichen Kräfte band.

1. Die Sprengmission des Paul Schwarz Von diesen Voraussetzungen ging auch Matthias Erzberger aus. Der Zentrumsabgeordnete war ein Vertrauter des Reichskanzlers, ein „nützlicher Gehilfe“ bei kriegsbedingten Aufgaben, dessen Einfallsreichtum Bethmann Hollweg schätzte.2 Und im September 1914 hatte Erzberger einen Einfall „von höchster militärpolitischer Bedeutung“. Er führte dem Auswärtigen Amt einen jungen Mann zu, der versprach, die russische Rohölversorgung zu unterbinden. „Wenn dieser Plan gelingt“, schrieb Erzberger, „dann können wir überzeugt sein, dass die russischen Eisenbahnen in zwei bis drei Monaten vollständig lahmgelegt sind“.3 Der geeignete Mann hierfür sei Dr. Paul Schwarz. Schwarz, 1882 als Sohn eines Lehrers in Mährisch-Ostrau geboren, hatte Chemie studiert und war seit Jahren in der Erdölindustrie beschäftigt. Als 1

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Alle hier zitierten Aktenstücke befinden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. Das Eingangszitat in R 21008, S. 134, nach dem Journaleintrag zu A 25117/14 handelt es sich um ein Schreiben Flöckhers an Jagow, die eingeklebte Visitenkarte Flöckhers trägt das Datum 24.9.1914, Jagow gab das Stück am 3.10. zu den Akten. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Berlin/ Frankfurt a. M. 1962, S. 117f. Erzberger an Zimmermann, 24.9.1914, in: PA AA R 21008, S. 67.

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Sachverständiger hatte der Österreicher seit 1904 die halbe Welt bereist, auch die Erdölgebiete im Osten des Osmanischen Reichs. In den ersten Kriegswochen beschaffte er im Auftrag des Reichsmarineamts Heizöl.4 Wie er mit Erzberger in Kontakt getreten war, erschließen die überlieferten Unterlagen nicht, dafür aber den schönen Satz: „Für meine Person lehne ich jede Vergütung ab [. . . ]“ Das hat man im Auswärtigen Amt sicher gerne gelesen, denn eines war klar: Insurrektionen würden ihren Preis haben, Aufstände und Sabotageakte waren nicht für lau zu bekommen. Die 9000 Mark, die Schwarz zu seiner Disposition erhielt, waren nur ein ganz kleiner Anfang.5 Kaum vier Wochen später stiegen die Summen auf ein Vielfaches dieses Betrags. Schwarz hatte sich inzwischen über die Lage in der Osttürkei kundig gemacht. In einer Aufzeichnung schrieb er schwammig von einer ihm gestellten Aufgabe, „die mit militärischen Massnahmen zusammenhängt und die es mir zweckmäßig erscheinen lässt, mein Arbeitsgebiet für einige Zeit in das Gebiet von Erzerum6 zu verlegen. Details hierüber sind wohl überflüssig.“7 Erzberger übergab das Schriftstück im Auswärtigen Amt am 26. Oktober, Schwarz forderte jetzt 250.000 bis 300.000 Mark zu seiner Disposition, jemand notierte „Eilt!“, Staatssekretär Jagow schrieb kurz „Einverstanden“, und das Abenteuer konnte beginnen.8 Ein Zufall wollte es, dass dem Auswärtigen Amt der Konsul in Erzurum, Edgar Anders, kriegsbedingt abhandengekommen war. Anders hatte eine kurze Reise nach Tiflis unternehmen wollen, wurde aber in Russland vom Kriegsausbruch überrascht. Mehr als drei Jahre musste er in russischer Gefangenschaft zubringen.9 Leicht ließen sich also Paul Schwarz’ streng geheime Aktionen tarnen, indem man ihm die kommissarische Leitung des Konsulats in Erzurum anvertraute.10

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Personalbogen Paul Schwarz, in: ebd., Personalakte 14663; Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1914, Bd. 4, Paderborn 2012, S. 214f. Jagow an Gesandtschaft Bukarest, 26.9.1914, in: PA AA R 21008, S. 74. Die in diesem Beitrag genannten Orte hießen zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich, manchmal handelt es sich um winzige Weiler, deren Namen man heute nur schwer verifizieren kann. In den Akten sind meist eingedeutschte Formen alter Namen zu finden, die keineswegs immer eine Entsprechung in zeitgenössischen Kartenwerken haben. Die Entscheidungsträger in Berlin wussten oftmals nur bei größeren Orten, was genau gemeint war. Heute tragen die Orte aserbaijanische, türkische und iranische Namen, die auch im Beitrag bevorzugt werden. Eine Ausnahme stellen Zitate dar. Die in den Akten benutzten Namen stehen, soweit das sinnvoll erschien, in Klammern. Undatierte Aufzeichnung von Schwarz (Berlin) über „Die gegenwärtige Situation in Türkisch-Armenien“, in: ebd., S. 210. Ebd., S. 209 u. 221. Wangenheim an AA, 18.8., Schlimme an Botschaft Konstantinopel, 28.8., Matthieu an Schuchardt, 2.10.1914, in: R 141538; Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1914, Bd. 1, Paderborn 2000, S. 32–34. Jagow an Wangenheim, 30.10.1914, in: R 21008, S. 233f.; Jagow an Schwarz, 31.10.1914, in: R 141538.

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Derweil Schwarz in die Türkei reiste – am 8. November traf er in Konstantinopel ein –, besorgte ihm das Auswärtige Amt bei einer Hamburger Mineralölfirma Stadtpläne von Batum aus den Jahren 1893, 1901 und 1903, erkundigte sich bei der Deutschen Erdoel-Actiengesellschaft (DEA) nach den geographischen Koordinaten eines Ölfeldes (im Golf von Suez !!) und rekrutierte mit Max von Scheubner-Richter weiteres Personal für die Aufgaben in Kleinasien.11 Einen Eindruck von der strikten Geheimhaltung des ganzen Projekts mag die mysteriöse Bestellung von Schuppensalbe geben, die sich bei den einstmals sekretiert gewesenen Akten befindet. Schwarz bestellte „noch 2 Pakete“ bei der DEA, deren Prokurist und Chefchemiker sie persönlich in der Wilhelmstraße anlieferte. Nur Botschafter Wangenheim in Konstantinopel und der Orientreferent im Auswärtigen Amt Otto von Wesendonk waren eingeweiht, ein Feldjäger lieferte sie an den deutschen Militärattaché in Konstantinopel. Aber welche Schuppensalbe rechtfertigte solchen Aufwand? Und welche Salbe bedurfte zweier Blechkästen in einer Holzkiste? Auch wenn die Akten hierüber schweigen, so dürfen wir doch davon ausgehen, dass Paul Schwarz mit dieser Sendung notwendige Sprengmittel geliefert wurden.12 Am 29. November traf Schwarz in Erzurum ein, übernahm zur Tarnung die Geschäfte des Konsulats und machte sich sogleich an die Vorbereitung der geplanten Sabotageakte. Schon am 11. Dezember drahtete Wangenheim: „Expedition Zerstörung Röhrenleitung Batum-Baku abgegangen.“13 Schwarz hatte in Erfahrung gebracht, dass seit dem Beginn der Kampfhandlungen zwischen Russland und der Türkei Anfang November 1914 die Ölanlagen in Baku „sehr scharf bewacht“ wurden. Ursprünglich tatarische Wächter seien vielfach durch Armenier ersetzt worden. In einem Grubenfeld bei Balachany, so Schwarz weiter, seien bereits Feuer ausgebrochen.14 Ob es die dort als „Ewiges Feuer“ immer brennenden Naphthaquellen waren? Die Erwartungen an einen gegen die Russen gerichteten muslimischen Aufstand im Kaukasus waren groß. Wangenheim schrieb von 50.000 mehr oder weniger gut bewaffneten Aufständischen. Dass die Elektrizitätswerke von Batum zerstört seien, sah er als ersten Erfolg.15 Im Auswärtigen Amt rechnete man inzwischen aus, dass die verschiedenen Insurrektionsprojekte bedeutende Geldsummen verschlangen. Alles in Allem addierte Staatssekretär Zimmermann 2,9 Millionen Mark in Gold, die man Anfang Januar 11

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Erzberger an Langwerth, 1.11., Albrecht an Langwerth, 2.11., Wangenheim an AA, 8.11., Aufzeichnungen Wesendonks betr. Scheubner-Richter, 8. u. 9.11., Wangenheim an AA für DEAwerk, 9.11., u. Aufzeichnung Roeslers für Wesendonk, 10.11.1914, in: R 2100, S. 14, 23, 31–33, 36 u. 41. Wangenheim an AA für Direktor DEA, 10.11., Aufzeichnung Wesendonks v. 14.11. jeweils mit Randnotizen, in: ebd., S. 49, 55 u. 58. Schwarz an AA, 29.11., Wangenheim an AA, 11.12.1914: ebd., S. 106 u. 153. Wangenheim an AA, 10.11.1914, in: ebd., S. 51. Wangenheim an AA, 6.12.1914, in: ebd., S. 114.

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nach Konstantinopel bringen wollte.16 Wangenheim aber sah das Geld gut angelegt. Hinsichtlich der Schwarz’schen Sprengaktionen stellte er den hohen Summen entgegen, dass es „bereits“ gelungen sei, die Ölpipelines „an zwei Stellen empfindlich“ zu stören.17 Am 19. Dezember 1914 begann die türkische Kaukasusoffensive. Der frontale Angriff auf die russische Festung Kars und die geplante Umfassung des Gegners von Norden her scheiterten jedoch am mangelhaften Nachschub und am Wetter. Die Versorgung von 120.000 Soldaten über eine 700 Kilometer lange unzureichende Etappenstraße erwies sich als unmöglich. Winterunwetter im tiefverschneiten gebirgigen türkischen Osten taten ein Übriges. Am 10. Januar wurde die Operation auf halbem Wege abgebrochen. 80.000 Mann hatten ihr Leben verloren. Lediglich der Ort Artvin konnte von einem deutschen Kommandounternehmen genommen werden. Kars aber blieb russisch. Am 19. Dezember 1914 erreichte endlich auch Max von ScheubnerRichter den osttürkischen Kriegsschauplatz.18 Sein Regimentskamerad Paul Leverkühn beschrieb ihn später so: „Klein von Gestalt. Beweglich. Ein verhältnismäßig großer Kopf mit ziemlich kahlem Schädel und kleinem Schnurrbart.“ Auch „kluge braune Augen, hinter Gläsern sprechend“, waren dem Biographen in Erinnerung geblieben.19 Max Richter war 1884 als Sohn eines Musikers im russischen Riga geboren worden. Dort und in Deutschland hatte er Chemie studiert. Seit 1908 lebte er in München. Durch die Heirat mit einer 30 Jahre älteren Fabrikantenerbin und eine Adoption kam er 1911 zu dem Doppelnamen mit Adelsprädikat. Im August 1914 hatte sich ScheubnerRichter freiwillig beim 7. Bayrischen Chevauleger-Regiment in Straubing gemeldet.20 Vermittelt durch einen Vorgesetzten aus dem Reiterregiment wechselte er von der West- an die Kaukasusfront. Die ausschlaggebenden Kriterien für seine Versetzung dürften gewesen sein, dass er russisch sprach und von Chemie – Stichwort Sprengmittel – etwas verstand.21 ScheubnerRichter wurde zunächst als Konsulatssekretär also als „Zweiter Mann“ des Konsulats in Erzurum getarnt. Paul Schwarz verließ Erzurum am 21. Dezember, also kurz nach ScheubnerRichters Eintreffen, um die türkische Offensive durch ein Sprengunternehmen zu unterstützen. Wetter und Landschaft diktierten ihre harten Bedingungen der gesamten türkischen Offensive, sie machten aber auch die großartigen deutschen Pläne der Sprengsabotage zunichte. Die persönlichen Strapazen wa16 17 18 19 20

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Zimmermann an Botschaft Therapia, 10.12.1914, in: ebd., S. 142f. Wangenheim an Bethmann Hollweg, 25.12.1914, in: R 12504. Schwarz an AA, 20.12.1914, in: R 21009, S. 170. Paul Leverkühn, Posten auf ewiger Wache. Aus dem abenteuerlichen Leben des Max von Scheubner-Richter. Essen 1938, S. 11. Karsten Brüggemann, Max Erwin von Scheubner-Richter (1884–1923) – der „Führer des Führers“?, in: Michael Garleff (Hrsg.), Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 1, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 119–145. Aufzeichnung Wesendonks betr. Scheubner-Richter, 9.11.1914, in: R 21009, S. 33.

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ren beachtlich, allein militärisch war die ganze Aktion ein völliger Fehlschlag. Schwarz musste froh sein, mit seinem Leben davon gekommen zu sein. Im Pferdewagen machte sich Schwarz auf den Weg ins 60 Kilometer entfernte Städtchen Köprüköy, wo die türkische Armee ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Er übernahm dort für Konstantinopel bestimmte Depeschen, die er zurück nach Erzurum beförderte. Mit anderen Depeschen kehrte er sogleich wieder um. Tatsächlich erreichte der zum Postboten umfunktionierte Konsul zum zweiten Mal Köprüköy, doch war das türkische Hauptquartier inzwischen verlegt worden. Schwarz ritt nun auf einem russischen Beutepferd weiter, weil nach 180 Kilometern Fahrt in zwei Tagen die Pferde so mitgenommen waren, dass er seinen Wagen samt Gepäck aufgeben musste. Auf vereisten Wegen erreichte er spät nachts ein Gebirgsdorf, wo er unter Fieber zusammenbrach. Kaum erholt ging der beschwerliche Ritt weiter nach einem von den Russen verlassenen, aber gleichwohl niedergebrannten Ort. Zwischen den zerstörten Häusern richtete er ohne Heizung, Licht und Nahrung sein Nachtlager ein. Es kam, wie es wohl kommen musste: das Lagerfeuer griff auf die verbliebenen Habseligkeiten über und Schwarz blieben nur die Dinge, die er am Körper trug. Weiter ging es nach Oltu, wo zuerst die Russen ihre Kasernen angezündet und anschließend die nachrückenden türkischen Truppen die armenische Bevölkerung ausgeplündert hatten. Schwarz sah tote Zivilisten, verängstigte Frauen und Kinder, kriegsgefangene russische Soldaten, erbeutete Waffen und zerstörtes Militärgut rechts und links des Weges. Alles in Allem aber schien der türkische Vormarsch ein Erfolg zu sein, lediglich einmal gab die russische Artillerie etwas „Flankenfeuer“. Schwarz schloss sich jetzt den Soldaten des X. türkischen Armeekorps an, die unter großen Verlusten an Mensch (10.000 von 13.000 Mann starben), Tier und Material westwärts über das 3500 Meter hohe Allahüekber Gebirge in Richtung Kars zogen. Unterhalb der Berge erreichte man den Weiler Başköy. Von dort marschierte Schwarz zu Fuß an die Frontlinie, die er von einem höher gelegenen Dorf aus beobachtete: „Das Feuer der russischen Artillerie war sehr intensiv.“ Die strategische Bahnlinie von Kars nach Sarıkamiş war zwar von den Türken an einer Stelle gestört worden, konnte aber von den Russen wiederhergestellt werden. Hier sollte sich das einzige Sprengkommando ereignen, an dem Paul Schwarz einen Anteil hatte: „Nach einer kurzen Erkundung konnte bereits am nächsten Abend, der durch starken Nebel die Aktion begünstigte, die Eisenbahn durch Sprengung einer kleinen Brücke bei Novoselim [wohl: Selım] gründlicher unterbrochen werden. Die Sprengung erfolgte durch einen von mir zusammengestellten Trupp Baschibozuks [türkische Freischärler] unter der Führung eines Georgiers aus der Gegend von Batum.“

Die Aktion war demnach eine vollkommen zufällige. Weder hatte Schwarz beabsichtigt an dieser Stelle zu sein, noch hatte er eigene Leute für das Unternehmen. Aus der Schilderung wird nicht einmal klar, ob er die „Schuppensalbe“ überhaupt noch bei sich trug. Vermutlich schloss er sich eher den Freischär-

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lern des Georgiers an, als dass es umgekehrt war. Und überhaupt: sollten nicht Ölpipelines tief auf russischem Gebiet in Baku Ziele der Aktionen sein? Schwarz wurde einige Tage lang Zeuge der Schlacht bei Sarıkamiş, bei der die Türken eine entscheidende Niederlage erlitten. Im etwas nördlich gelegenen Dorf Diwnik versorgte er dabei Verwundete und Kriegsgefangene. Am 2. Januar verließ er die Front und hielt sich einige Tage in Başköy auf, das noch gegen die Russen verteidigt wurde. Der flüchtende Verwundetentreck, dem sich auch deutsche Offiziere der türkischen Armee anschlossen, überquerte erneut das Hochgebirge des Allahüekber: „Ein scharfer Schneesturm machte das Vorwärtskommen sehr schwierig, der Weg wurde nur an den Menschen- und Tierleichen erkannt, die aus dem Schnee herausragten.“ Schwarz und die deutschen Offiziere erreichten am 10. Januar 1915 erschöpft und an einer Bakterienruhr erkrankt, aber immerhin lebend, Erzurum.22 Seit Schwarz kurz vor Weihnachten 1914 Erzurum verlassen hatte, war Scheubner-Richter in die Funktion als Konsulatsverweser aufgerückt. Seine Stellung hinter dem Zivilisten Schwarz, der nun allerdings nicht mehr anwesend war, genügte dem Soldaten offenbar nicht. Dem Auswärtigen Amt gegenüber stellte er die Konstellation als für den Umgang mit den Türken ungeeignet dar, weshalb er sich bereits als Attaché ausgab. Der Bitte, zum Vizekonsul ernannt zu werden, kam die Berliner Zentrale nicht im gewünschten Sinne nach. Während Scheubner-Richter sich von einer Ernennung auch eine Verstetigung im konsularischen Dienst versprochen haben mochte, so war das Auswärtige Amt an einem solchen Seiteneinstieg gerade nicht interessiert. Lediglich für die Zeit seiner kommissarischen Tätigkeit im Dienstbereich des Auswärtige Amts sollte er sich als Vizekonsul bezeichnen dürfen.23 Tatsächlich ging aber nach Schwarz’ Fehlschlag nicht nur die Arbeit im Konsulat sondern die Führung des ganzen osttürkischen Unternehmens auf ScheubnerRichter über. Zwar behauptete Schwarz gegenüber Botschafter Wangenheim noch, „dass die besonderen ihm gestellten Aufgaben teilweise bereits durchgeführt oder noch in der Ausführung begriffen“ seien, doch gab er zugleich zu, dass ein Teil davon „infolge der Kriegslage von Erzerum aus nicht durchführbar seien“. Um sich von den Anstrengungen zu erholen und um persönlich berichten zu können, bat er, nach Konstantinopel abreisen zu dürfen.24 Am 17. Februar 1915 verließ Paul Schwarz Erzurum. Einige Zeit hielt er sich in Konstantinopel auf, plante wohl auch „eine neue militärische Unternehmung“.25 Anscheinend wollte er von Persien aus über das Kaspische Meer die Ölanlagen in Baku angreifen. Doch Botschafter Wangenheim sprach sich 22 23 24 25

Für das Voranstehende cf. Bericht von Schwarz (Konstantinopel), 15.4.1915, in: R 21012, S. 123–136. Wangenheim an AA 8.1., Matthieu an Wangenheim, 22.1.1915, in: R 141538. Wangenheim an Bethmann Hollweg, 23.1.1915, in: R 21010, S. 52. Vermerk Wesendonks, 24.4., in: R 21012, S. 144f.

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gegen Schwarz’ weitere Verwendung aus. Die Zusammenarbeit mit Scheubner-Richter habe sich ungünstig entwickelt. Außerdem habe Schwarz, der ganz offenbar nach einem Konsularposten strebe, zwar „ein unbegrenztes Vertrauen zu seinen Fähigkeiten, aber nur eine recht undeutliche Vorstellung von den Aufgaben“, die er als Konsul habe.26 Schwarz rechtfertigte sich, er habe immerhin 16 Personen ausgebildet, denen es gelungen sei, einen größeren Brand bei Baku zu legen und zweimal die Pipeline Baku-Batum zu stören.27 Doch das Auswärtige Amt verzichtete einstweilen auf die Dienste des mit dem Eisernen Kreuz dekorierten Schwarz.28 Einige Zeit war er für die Zentral-Einkaufsgenossenschaft in Sachen Eierausfuhr in Budapest tätig29 , kehrte aber 1917 in das Auswärtige Amt zurück. Nach Ende des Ersten Weltkriegs betrieb er reichsdeutsche Propaganda in der Tschechoslowakei, was ihm dort einige Wochen Haft einbrachte.30 Im Auswärtigen Amt machte er eine durchschnittliche Karriere, brachte es zum Konsul in Colombo und war seit 1929 am Generalkonsulat in New York beschäftigt. 1933 wurde Schwarz wegen seiner nichtarischen Herkunft aus dem Reichsdienst entlassen. Er blieb in den USA, arbeitete dort als Journalist und Berater des Justizministeriums. 1943 veröffentlichte er die erste Biographie des deutschen Reichsaußenministers, „This Man Ribbentrop“. Nach Wiederbegründung des Auswärtigen Amts hat man sich bemüht, Schwarz für den neuen Auswärtigen Dienst zu gewinnen. Er kehrte auch tatsächlich 1951 nach Deutschland zurück, starb jedoch noch im gleichen Jahr.31

2. Aufwiegelungspläne und Armenierverfolgung Aber zurück in die Türkei, zurück in das Jahr 1915. Kurz vor Schwarz’ Abreise hatte ein Mann, der sich Prinz Emir Arslan Khan nannte,32 Kontakt zum Konsulat in Erzurum aufgenommen. Er gab an, aus Elisabethpol (dem heutigen Ganja in Aserbaijan) zu stammen, wo er einer militärischen Organisation Difai („Selbstschutz“) vorstehe, die einen großen Aufstand im östlichen Kauka26 27 28 29 30 31 32

Wangenheim an Bethmann Hollweg, 20.4.1915, in: ebd., S. 147–150. Schwarz an Erzberger undatiert, Anlage zu Erzberger an Langwerth, 22.5.1915, in: R 21013, S. 19–23. Wangenheim an Bethmann Hollweg, 3.6.1915, in: ebd., S. 169. Lübbert an AA, 13.8.1915, in: R 141538. Aufzeichnung ohne Unterschrift „Der Zwischenfall des Dr. Schwarz in Prag“ 7.4.1919 u. Aufzeichnung ohne Unterschrift u. Datum „Personalien des Dr. Schwarz“, in: R22759. Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 4, Paderborn 2012, S. 214f.; B 100, Bd. 2522. Die Schreibweisen des Namens und seiner Bestandteile sind nicht einheitlich, Prinz wird er nicht immer genannt, dafür häufig Fürst Choisky, Emir wechselt mit Amir und statt Arslan heißt es auch Aslan, sogar Amir Arslan Chan (oder Han) Choiski findet sich in den Akten.

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sus entzünden wolle. Seine Organisation habe überall Vertrauensleute, verfüge über 3000 Führer, darunter verabschiedete russische Offiziere, und könne eine halbe Million Bewaffnete aufstellen. Das ganze werde auch durch einen Multimillionär namens Ärmusanagieff in Baku finanziert. Später gab er an, dass die Difai-Gruppe ihre „gesamten Geldmittel von den tatarischen Naphthamagnaten“ erhalte. Als Endziel schilderte er eine kaukasische Republik nach Schweizer Muster, die eine Militärunion mit der Türkei oder Deutschland eingehen könne. Es bedürfe nur der Unterstützung durch eine türkische Division und zwei oder drei deutsche Offiziere.33 Schwarz mag versucht haben, mit den von Arslan Khan versprochenen „starken Reitermassen“34 von seinem eigenen Fehlschlag abzulenken. In Deutschland äußerten dagegen Gewährsleute des Auswärtigen Amts Zweifel an der Person Arslans.35 Botschafter Wangenheim riet zur Geduld, General Otto Liman von Sanders hielt die Versprechen für maßlos übertrieben.36 Aber trotz der offensichtlichen Phantastereien griff niemand ein. Die gesamte türkische 3. Armee hatte nur aus rund 120.000 Mann bestanden, der russische Gegner hatte etwa 100.000 Soldaten ins Feld geführt. Jetzt versprach ein Privatmann 500.000 bewaffnete Aufständische. Ein Prinz mit persischem Namen aus einem Geschlecht, das anderen Aserbaijanern aus Elisabethpol unbekannt war, strebte nach einer kaukasischen Schweiz, die für die Mittelmächte in den Krieg gegen Russland ziehen wollte – die Verzweiflung ob der misslungenen Kaukasusoffensive muss groß gewesen sein! Dass an Arslan Khan festgehalten wurde, ist nicht zuletzt Scheubner-Richter, inzwischen zum Leutnant der Reserve befördert,37 zuzuschreiben. Er schilderte die Vorhaben des neuen Verbündeten und sandte Skizzen des Aufmarschgebiets und der Hauptmarschrouten. Der Aufstand werde den östlichen Kaukasus betreffen, das Gebiet der Georgier – hier waren eigenständige Pläne im Schwange38 – werde nicht berührt. Politisch sei das Ziel „gewissermassen ein republikanischer Bundesstaat auf monarchischer Grundlage“ [sic!]. Hierfür gäbe es „genügend Geld, Waffen (Gewehre und einige Maschinengewehre), Munition und ca. 50.000 türkische Uniformen“ für „bis zu 300.000 Mann“ unter der Führung ehemaliger russischer Offizie-

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Wangenheim an AA, 8.2.1915, in: R 21010, S. 73f.; Bericht Schulenburgs, 28.11.1915, in: R 21016, S. 184. Wangenheim an AA, 6.4.1915, in: R 21012, S. 33. Vermerk Cosacks, 12.2.1915, in: R 21010, S. 77. Wangenheim an Bethmann Hollweg, 9.4., u. Liman von Sanders an Botschaft Konstantinopel, 14.4.1915, in: R 21012, S. 81 u. 119–121. Langwerth an Wangenheim, 5.2.1915, in: RAV Konstantinopel, 943. Wolfdieter Bihl, Die Kaukasus-Politik der Mittelmächte. Teil I: Ihre Basis in der OrientPolitik und ihre Aktionen 1914–1917. Wien 1975, S. 74–82; wenig hilfreich Klaus Thörner, Deutscher Kaukasusimperialismus, in: Andreas Lembeck/Michael Rost/Lydia Potts (Hrsg.), Wider den Zeitgeist. Analysen zu Kolonialismus, Kapitalismus und Imperialismus – Festschrift zum 65. Geburtstag von Professor Dr. Schapour Ravasani. Oldenburg 1996, S. 119–156, hier S. 141–145.

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re. Es bedürfe nur der Bereitstellung einer türkischen Division, also 15.000 Mann. Die Aufständischen planten, so Scheubner-Richter, von Süden in zwei Gruppen vorzurücken. Eine solle westlich auf Elisabethpol marschieren, dabei die Eisenbahnlinie Baku-Tiflis bei Xaldan (Khaldan) zerstören und sich weiter in Richtung Wladikawkas oder sogar bis Petrowsk [1000 km nördlich!] bewegen. Eine andere solle östlich direkt auf Baku zielen und die Stadt durch Zerstörung der Bahnlinien nach Tiflis und Derbend abschneiden. ScheubnerRichter stellte den Erfolg der Pläne in Aussicht, wenn das erste „Vordringen der türkisch-kaukasischen Streitkräfte“ gelänge. Er selbst sei bereit, sich ganz in den Dienst dieser Sache zu stellen.39 Offiziell um eine Stellungnahme gebeten, erklärte der türkische Kriegsminister Enver Pascha, mit allen Plänen der Deutschen und ihres Partners Arslan Khan einverstanden zu sein.40 Gleichzeitig verfolgte man aber auch noch die ursprünglichen Pläne, russische Ölleitungen zu sabotieren. Louis Mosel, ein Kaufmann, der sich noch Mitte Dezember 1914 in Borçka an der russisch-türkischen Grenze mit georgischen Kämpfern getroffen hatte, besprach die Idee im Auswärtigen Amt mit dem Orientreferenten Wesendonk und Rudolf Nadolny. Nach Mosels Meinung war die Zerstörung der Ölanlagen „nicht richtig angefasst“ worden. Ortsfremde könnten das auch nicht leisten, man müsse vielmehr auf Bewohner der Region zugehen: „Es stehen uns zur Lösung dieser Aufgabe Terroristen zur Verfügung, denen man höhere Prämien garantieren muss für den Fall“, dass sie Erfolg hätten.41 Nadolny, der wichtigste Verbindungsmann des Auswärtigen Amts zu den Militärs im Generalstab, war der Ansicht, dass es keinen Zweck habe, die Pläne zur Revolutionierung des Kaukasus weiter zu verfolgen, solange man keinen sicheren Transportweg dahin hatte.42 Scheubner-Richter war da ganz anderer Meinung. Zwar sei die Sabotage „in ihrer ursprünglich gedachten Form“, also in der Art wie Schwarz sie angegangen war, „nicht lösbar“ gewesen. Er lehnte anders als Mosel eine Zusammenarbeit mit Banden, die sich nur schwer kontrollieren ließen ab, hielt aber im Kontext eines Aufstands im Kaukasus die Sabotage der Ölleitungen oder die Unterbrechung von Bahnlinien für durchaus praktikabel. Nur erwartete er nicht, dass die Bewohner der Region ihre Hand reichen würden bei der Zerstörung ihres Ölreichtums und ihrer Infrastruktur. Scheubner-Richter kritisierte, dass man ihm nicht vor der Abreise hinreichend über die Aufgaben informiert habe, sonst hätte er schon viel früher ein deutsches Kavalleriekommando vorgeschlagen. Dieses sollte gemeinsam mit persischen und kaukasischen Stämmen

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Scheubner-Richter an Wangenheim, 19.3., u. Anlage zu Wangenheim an Bethmann Hollweg, 9.4.1915, in: R 21012, S. 81–89. Wangenheim an AA, 30.4.1915, in: ebd., S. 173f. Undatierte Aufzeichnung von Mosel, im AA eingetragen 19.3.1915, Randvermerk über die Besprechung am 21.3., in: R 21011, S. 48–52. Vermerk Wesendonks, 25.3.1915, in: ebd., S. 81.

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einen „Reiter-Raid“ unternehmen. Er schlug hierfür die Kriegskameraden aus seinem bayerischen Reiterregiment vor.43 Noch waren alles nur Pläne, als in Berlin die Nachricht eintraf: „Konsulat Erzerum drahtet vom 22. [April]: ,In Wan und Umgebung sind vermutlich infolge russischer Umtriebe Armenier-Unruhen ausgebrochen. Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört. Verbindung mit Persien unterbrochen.‘ Ministerium des Innern bestätigt Richtigkeit mit Bitte um vorläufige Geheimhaltung.“44

Dem Völkermord an den Armeniern fielen im Jahr 1915 vermutlich mehr als eine Million Menschen zum Opfer. Beginnend mit den städtischen Intellektuellen und sehr rasch auf die armenische Landbevölkerung im Osten der Türkei ausgreifend, vollzog sich der Massenmord in spontanen Massakern und organisierten Hungermärschen seit Ende April 1915. Die Motive für das türkische Vorgehen müssen im übersteigerten Nationalismus gesehen werden, der sich einen türkischen Kernbereich des osmanischen Vielvölkerstaats in relativer ethnischer Homogenität zu gestalten suchte. Den territorialen Vorstellungen einer neuen Türkei standen die armenischen Autonomiewünsche entgegen. Doch einen gesamtarmenischen Aufstand hat es, trotz gegenteiliger Erwartungen nie gegeben, ebenso wenig eine allgemeine Parteinahme für die Kriegsgegner der Türkei. Räumlich isoliert, durch Kultur und Religion als Minderheit gekennzeichnet, dem ökonomischen Neid der Mehrheit ausgesetzt und vor allem wegen des Krieges nicht durch äußere Abschreckung geschützt, stellte der armenische Bevölkerungsteil ein leichtes Ziel dar. In Berlin wollte man dem Argument von der Existenzbedrohung des Osmanischen Reichs Glauben schenken. Die schlimmsten Gräuel wurden zwar abgelehnt, aber ein Bruch mit den Türken sollte unbedingt vermieden werden. Ein wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Türkei durchaus möglicher Druck unterblieb jedoch aus Rücksicht auf die deutschen Kriegsinteressen. Also nicht etwa, weil man sich davon keine Wirkung versprochen hätte, sondern ausschließlich aus bündnispolitischen und militärischen Motiven. Zwar gab es unabhängig von der offiziellen Politik ihrer Metropolen und von dort nicht behindert zahlreiche Hilfsaktionen von Deutschen, Österreichern und Ungarn vor Ort. Doch ohne wirklichen Einfluss auf die Führung in Konstantinopel war durch solche Einzelaktionen der massenhafte Tod der Armenier nicht zu verhindern. Auch Max von Scheubner-Richter gehörte zu denjenigen, die die Türken wegen ihrer Gewaltpolitik kritisierten. Von seinen Vorgesetzten in Konstantinopel und Berlin erwartete er ein härteres Vorgehen. Vor Ort tat er sein Möglichstes, um das Schicksal der Opfer zu lindern.45 43 44 45

Wangenheim an AA, 24.3.1915, in: R 21011, S. 78; Scheubner-Richter an Wangenheim 6.3., Anlage zu Wangenheim an Bethmann Hollweg, 17.4.1915, in: R 21012, S. 111–115. Wangenheim an AA, 24.4.1915, in: ebd., S. 146. Hilmar Kaiser, Max Erwin von Scheubner-Richter and the Armenian Genocide, in: A German Officer During The Armenian Genocide. A Biography of Max Von Scheubner-Richter based on Posten auf ewiger Wache. Aus dem abenteuerlichen Leben des Max

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Daneben bemühte sich Scheubner-Richter weiter um den Fortgang der Aufwiegelungs- und Sabotagepläne.46 So erwog er die Aussichten einer Kommandoaktion auf dem Kaspischen Meer, bei welcher der österreichische Fischkundler Victor Pietschmann47 , den der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Ostanatolien überrascht und festgehalten hatte, die Erdölanlagen in Baku beschießen sollte. Scheubner-Richter wollte das Unternehmen in ein strategisches Konzept für die gesamte Kaukasusregion einbinden. An der Spitze der ganzen Aktionen sah er sich selbst, schließlich glaubte er nach Schwarz’ Abgang der einzige vor Ort zu sein, der diplomatische und militärische Kompetenz verband. Hierfür erbat er „aus militärischen und Sicherheitsgründen, wie aus repräsentativen Rücksichten“ zusätzliches Personal. Wieder brachte er seine Regimentskameraden ins Gespräch: „Weiter wären mir erwünscht: 2 Artilleristen, 2 mit Maschinengewehr Ausgebildete, 2 Pionier (Sprengungen).“ Gleichzeitig bat er, ihm mitzuteilen, welche Geldmittel er für die Ausführung der Pläne aufwenden könne. Die Kosten für die Unternehmungen, ursprünglich einmal mit 300.000 Mark veranschlagt – Schwarz gab davon 146,60 Mark zurück48 –, stiegen rasant. Nadolny errechnete jetzt überschlägig 5 Millionen Mark. Wenige Wochen später war man schon bei der doppelten Summe.49 In der inzwischen zunehmend unübersichtlich und teuer gewordenen Situation versuchte sich das Auswärtige Amt mit Hilfe eines erfahrenen Diplomaten Klarheit zu verschaffen. Mitte April genehmigte der Generalstab die Entsendung von Friedrich Werner Graf von der Schulenburg als Verbindungsoffizier in den Kaukasus.50 Vor dem Krieg hatte er das Konsulat in Tiflis geleitet, jetzt sollte er die Verwaltung des Konsulats in Erzurum übernehmen.51 Später wird er noch Gesandter in Teheran und Botschafter in Moskau, bedeutsamer ist jedoch seine Beteiligung am Widerstand gegen Hitler, für den er in Plötzensee hingerichtet wurde. In Berlin versammelte Schulenburg acht Begleiter, darunter die Brüder Leverkühn. Sie mussten eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, die Hierarchien und Verschwiegen-

46 47 48 49 50 51

von Scheubner-Richter by Paul Leverkuehn translated by Alasdair Lean with a preface by Jorge Vartparonian and a historical introduction by Hilmar Kaiser. London 2008, S. XV– CXXVI; Dokumente zu Scheubner-Richter in Wolfgang Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Springe 2005. Scheubner-Richter an Wangenheim 1.5., Anlage zu Wangenheim an Bethmann Hollweg, 19.5.1915, in: R 21013, S. 47–56. NDB 20, S. 432f. Erzberger an Langwerth, 27.6., in: R 21013, S. 237; Schwarz an Erzberger, 20.12.1915, in: R 21016, S. 164f. Nadolny an AA, 21.5., in: ebd., S. 25–30; Notiz,31.8.1915, in: R 21014, S. 141. Vermerk Wesendonks, [27.] 4.1915, in: R 21012, S. 155; Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 4, Paderborn 2012, S. 189–191. Zimmermann an Wangenheim, 11.6.1915, in: R 21013, S. 176f.

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heit, aber auch Bezahlung und Versorgungsansprüche regelte.52 Dass mit Martin Schede – dem späteren Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin – ein Archäologe in der Gruppe war, mag nicht verwundern, wenn man die regen Kriegsaktivitäten von Archäologen kennt.53 Dass aber ein Gynäkologe mitreiste, verwunderte auch Schulenburg. In Konstantinopel verpflichtete er deshalb einen weiteren Arzt, einen Chirurgen. Scheubner-Richter hatte Paul und Karl Gustav Leverkühn schon mehrfach zu seiner Verstärkung angefordert. Er hatte die beiden jungen Männer aus Lübeck kurz während der ersten Kriegsmonate in der Straubinger Garnison kennengelernt. Ihr Vater war der literarisch gebildete Amtsgerichtsrat August Leverkühn, Vormund von Thomas Mann, der im Doktor Faustus in der Person des Adrian Leverkühn an ihn erinnert. Wie der Vater waren auch die Söhne Juristen. Karl Gustav war bereits Referendar, er starb am 20. Juni 1918 bei einem Patrouillengang im nordfranzösischen Arras. Paul Leverkühn, 21 Jahre jung, Student, stand am Beginn einer erstaunlichen Laufbahn in Rechtswissenschaft, Politik und Nachrichtendienst.54 Die Erfahrungen, die er bei den Unternehmungen in Anatolien machte, prägten sein weiteres Leben nachhaltig. Er sollte später Scheubner-Richters Biograph werden. Die Reise des Trupps um Schulenburg führte zunächst mit der Bahn nach Konstantinopel. Die Tarnung als Zivilisten mit gefälschten Pässen fiel nicht auf, doch machten der bulgarische und der rumänische Zoll erwartungsgemäß Probleme: fünf Parabellum-Pistolen und eine Winchester-Jagdbüchse mussten zurück geschickt werden. Die Browning und die Goldmünzen, die Schulenburg bei sich trug, blieben dagegen unentdeckt. In der türkischen Hauptstadt bot der italienische Botschafter „ein kleines, für uns sehr brauchbares Lastauto“ an. Schulenburg wollte den Anbieter „mit dem Preise reinlegen“, was wohl nicht gelang. Jedenfalls schreibt Leverkühn, dass man die Anatolische Bahn bis Ulukişla nördlich von Mersin genommen habe, und von dort mit Pferdefuhrwerken über Kayseri und Sivas nach Erzurum gefahren sei. Dort traf man am 6. August 1915 ein: „Die Sonne stand im Mittag, als Scheubner uns [. . . ] begrüßte.“55

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Verpflichtungserklärung, 9.6.1915, in: ebd., S. 266–269. Martin Kröger, Archäologen im Krieg: Bell, Lawrence, Musil, Oppenheim, Frobenius, in: Charlotte Trümpler (Hrsg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940). Köln 2008, S. 448–461. Burkhard Jähnicke, Lawyer, Politician, Intelligence Officer: Paul Leverkuehn in Turkey, 1915–1916 and 1941–1944, in: The Journal of Intelligence History 2, 2002 (Nr. 2), S. 69– 87; Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 3, Paderborn 2008, S. 63–65. Schulenburg an Nadolny 18.6., Schulenburg an den Stellvertretenden Militärattaché in Konstantinopel, 6.7.1915, in: R 21013, S. 230–232 u. 270–272; Leverkühn, Posten, S. 48– 51; Neurath an Bethmann Hollweg, 9.8.1915, in: R 141538.

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3. Max von Scheubner-Richters NordpersienExpedition Die nächsten Wochen bereitete Scheubner-Richter den Abmarsch einer Kavallerie-Einheit unter seiner Führung vor – den „Reiter-Raid“. Von türkischer Seite unterstützte ihn der „Präsident des jungtürkischen Komitees in Trapezunt“ Omer Nadji Bey. Im September verließen 500 Soldaten mit einem Gebirgsgeschütz unter Omers Führung, 40 Tragtiere und 20 Führer mit Karl Gustav Leverkühn an der Spitze sowie, von Scheubner-Richter angeführt, 30 türkische Reiter und 100 türkische Infanteristen mit einem weiteren Gebirgsgeschütz Erzurum in südlicher Richtung. Insgesamt unternahmen neben Scheubner-Richter und den beiden Leverkühns nur noch der Arzt Dr. Stoffels, der die Truppe aber bald verließ, und die Unteroffiziere Schlimme und Thiel die Expedition. Fünf Deutsche greifen nach dem Ostkaukasus! Nach der gescheiterten Winteroffensive hatte sich die türkische III. Armee auf eine Linie von Fındıklı am Schwarzen Meer über Tortum, 50 Kilometer nordöstlich von Erzurum, und Köprüköy bis zum Van Golu (Vansee) zurückgezogen. Östlich davon, dann jenseits der persischen Grenze und im Norden in Aserbaijan standen russische Truppen. Insofern waren die türkischen Militärs und die beratenden deutschen Offiziere an Aufständen im Rücken des Gegners interessiert. Im westlichen, christlichen Teil des Kaukasus agierten hierfür georgische Kräfte mit dem Ziel eines von Deutschland anzuerkennenden unabhängigen Georgien. Scheubner-Richters Ziel sollte es sein, über Mosul, östlich des Urmiasees nach Tabriz (Täbris) in Nordpersien vorzudringen, um dort ansässige Stämme zum Anschluss zu bewegen, und in Kontakt mit den von Arslan Khan versprochenen Kräften im muslimischen Ostkaukasus zu kommen.56 Scheubner-Richter verfasste während der Unternehmung verschiedene Berichte, die Schulenburg teilweise um eigene Informationen ergänzt hat. Zudem liegt ein zusammenfassender Abschlussbericht von Scheubner-Richter vor. Mehr oder weniger als biographische Abenteuergeschichte, die jedoch auf der Grundlage der Akten des Auswärtigen Amts, von Nachlasspapieren und eigener Erinnerungen verfasst wurde, schilderte Paul Leverkühn die Ereignisse. Aus den verschiedenen Quellen ergibt sich nicht immer ein kongruentes Bild. So divergieren schon die Angaben, wann die Expedition Erzurum verließ. Heißt es an einem Ort, es sei der 23. September gewesen57 , so findet man an anderer Stelle den 25.58 Schulenburg schreibt, es habe schon bis zum Erreichen von Bitlis „einige Desertionen“ gegeben.59 Scheubner-Richter ver56 57 58 59

Lossow u. Wangenheim an AA, 16.10., Wangenheim an AA 16.10., Metternich an AA, 29.11.1915, in: R 21015, S. 93, 99f. u. 288; Leverkühn, Posten, S. 58–60 u. 68. Bericht Scheubner-Richters, 23.8.1916, in: R 21022, S. 151–159. Lossow u. Hohenlohe an, AA 29.9.1915, in: R 21014, S. 232. Bericht Schulenburgs, 28.11.1915, in: R 21016, S. 177–186.

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meldete aber, dass dort erste Freiwillige hätten angeworben werden können, was die Truppe auf rund 1 000 Mann anwachsen ließ.60 Mindestens ebenso wichtig wie der Vormarsch war den beteiligten Deutschen aber ihr rangmäßiger Aufstieg. Kaum war man einige Tage marschiert bzw. geritten, schlug Scheubner-Richter die Brüder Leverkühn zur Beförderung vor. Für sich selbst schlug er den Rang als Rittmeister vor und erbat erneut die Ernennung zum Vizekonsul – den Titel hatte er mit der Geschäftsübernahme Schulenburgs ablegen müsse. Zu letzterem drahtete ihm Neurath aus Konstantinopel: „Auf Antrag bitte nicht mehr zurückkommen.“61 Anfangs kam die Expeditionstruppe recht problemlos voran. Über Muş erreichte man Bitlis, südwestlich des Vansees, doch ein direkter Vormarsch nach Osten über Başkale in Richtung des Urmiasees kam wegen starker russischer Truppenverbände im Süden des Sees nicht in Frage. So entschloss man sich über Siirt nach Cizre (Jaz¯ırat ibn ‘Umar) zu ziehen. Hier verließ ScheubnerRichter seine Truppe, um auf einem Kellek, einem Floß aus aufgeblasenen Häuten, den Tigris abwärts nach Mosul vorzustoßen, wo er am 1. November62 eintraf. Da der Etappendienst von den Türken mangelhaft vorbereitet und Verpflegung entsprechend schwierig zu bekommen war, Scheubner-Richter zudem das Gefühl hatte, dass ihm absichtlich Informationen vorenthalten und seine Leute bei der Verpflegung benachteiligt wurden, war es seine Absicht, selbst in Mosul Quartiere vorzubereiten und Ausrüstung für den Winter zu beschaffen. Während seiner Abwesenheit kämpften Anfang November 1915 Omer Nadjis Soldaten auf Befehl des deutschen Oberkommandierenden der VI. türkischen Armee, Colmar Freiherr von der Goltz, gegen angeblich aufständische Araber und Armenier. Scheubner-Richter hatte jedoch erfahren, dass es sich in Wahrheit mehrheitlich um eher harmlose syrische Christen handelte, die aus Angst vor türkischen „Niedermetzelungen“ in die Berge geflohen waren. Im Einverständnis mit dem deutschen Vizekonsul in Mosul, Walter Holstein, verbot Scheubner-Richter seinen deutschen Kameraden die Teilnahme an der Niederschlagung innerer Unruhen. Tatsächlich wurden die türkischen Kräfte in den Bergen von Midyat zurückgeschlagen. Ein Protest, den Holstein über die Botschaft in Konstantinopel beim türkischen Innen- und beim Kriegsminister veranlasste, führte zur Deeskalation des Konflikts: „Die Aufständischen lieferten zum Zeichen der Unterwerfung ,6‘ Gewehre ab, erhielten die Zusage des Schutzes der Regierung gegen kurdische Räuber, und blieben, wo sie waren.“ Anfang Dezember 1915 kamen auch die türkischen Teile des Expeditionsverbandes in Mosul an.63

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Lossow u. Wangenheim an AA, 16.10., Wangenheim an AA, 16.10., in: R 21015, S. 99f. Lossow u. Wangenheim an AA, 19.10., Nadolny an AA, 20.10., Bericht Nr. 1 v. ScheubnerRichter, 14.10., Neurath an Scheubner-Richter, 10.11.1915, in: ebd., S. 102, 114, 258f. Lossow und Neurath an AA, 2.11.1915, in: ebd., S. 152. Bericht Scheubner-Richters, 7.12.1915, in: R 21017, S. 192–203.

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Hier gelang es Scheubner-Richter erstmals, genauere Informationen über die Lage in Aserbaijan zu erhalten. Eigene Boten berichteten ihm von Aufstandsvorbereitungen überall im Ostkaukasus. Die Menschen sicherten die Vorräte der letzten Ernte vor dem russischen Zugriff, es fehle jedoch an Munition. Die wirtschaftliche Situation der russischen Armee sei offenbar schwierig, da sie bereits den Schmuck der Frauen requiriere, um diesen einzuschmelzen. Aber Scheubner-Richter vermeldete dem Auswärtigen Amt auch militärische Erfolge der Russen in Nordpersien. Ihm selbst sei es dagegen gelungen, den Stamm der Abderi auf die deutsch-türkische Seite zu ziehen, was angesichts der traditionellen Gegnerschaft zwischen Türken, Kurden, Armeniern, anderen kaukasischen Völkerschaften und Persern ein Erfolg sei.64 Nach einem anderthalbmonatigen Aufenthalt in Mosul brach die Truppe Richtung Erbil auf. Über Rewanduz ging es auf Sautschbulak (Mahabad) zu, eine strategisch bedeutsame Provinzstadt südlich des Urmiasees, die sich in russischer Hand befand. Für den Angriff auf die Stellung hatte General von der Golz Scheubner-Richters Verband dem Befehl des Wali (Gouverneur) von Mosul Haidar Bey unterstellt. Zum Gefecht kam es am 29. Dezember 1915. Glaubt man Leverkühns Darstellung, dann eroberte die Scheubner-Richter unterstellte kleine Reitereinheit im Alleingang Mahabad, während die Hauptmasse der Truppen des Wali von Mosul noch heranrückte. Bei der Einnahme der Stadt kamen von 1000 russischen Soldaten 180 ums Leben, darunter zwei Offiziere. Die Russen zogen sich über den Zarrineh-Rud, den Goldenen Fluss, zurück. Mehrfach versuchten sie die Brücke in Miandoab, 40 Kilometer westlich von Mahabad, oder die Suldusebene zwischen Mahabad und dem 30 Kilometer nördlich gelegenen Urmiasee zu erobern, konnten aber zunächst zurückgeschlagen werden. Für die russischen Truppen soll das jeweils mit Verlusten verbunden gewesen sein.65 Doch dem kleinen Feldzug in Nordpersien war nur kurz Erfolg vergönnt. Infolge der Übermacht des Feindes, Ernährungsschwierigkeiten und eines Mangels an wintertauglicher Kleidung waren die türkischen Einheiten schon am 21. Januar 1916 gezwungen, Mahabad zu verlassen und die Stellung südlich des Urmiasees aufzugeben.66 Auch an der viel bedeutsameren russisch-türkischen Front östlich von Erzurum tat sich Dramatisches. Die Stadt musste am 16. Februar 1916 angesichts des russischen Vormarsches, der durch Bombenabwürfe aus Flugzeugen unterstützt wurde, aufgegeben werden. Wieder forderte der Winterkrieg unzählige Opfer unter Soldaten und Zivilbevölkerung. Die Enttäuschung über die 64 65

66

Bericht Scheubner-Richters, 7.11.1915, in: ebd., S. 204–208; auch Lossow an Generalstab Berlin, 11.12.1915, in: R 21016, S. 73. Lossow an Sektion Politik Berlin, 8.2.; Schulenburg an Stellvertretenden Generalstab, 11.1.1916, in: R 21017, S. 159f. u. 188–191; Schulenburg an Stellvertretenden Generalstab, 26.1.1916, in: R 21018, S. 39; Leverkühn, Posten, S. 92–98. Bericht Scheubner-Richters, 23.8.1916, in: R 21022, S. 151–159.

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Niederlage entlud sich in erneuten Gewalttaten gegen die armenische Minderheit. Bei der Evakuierung Erzurums wurden alle Festungsgeschütze zerstört. Bei der Sprengung eines Schwarzpulvermagazins gingen sämtliche Fensterscheiben zu Bruch, zahlreiche Häuser stürzten ein. Schulenburg zog sich rund 150 Kilometer westlich nach Erzincan zurück, wo am 19. Februar auch die türkische Armeeführung eintraf.67 Selbst dort war es nicht völlig sicher. Das Konsulat wurde nach Sivas verlegt, Schulenburg wollte jedoch bis zum „letzten Augenblick“ ausharren.68 Mitte April fiel die wichtige Hafenstadt Trabzon, Ende Juli Erzincan. Danach stabilisierte sich der russisch-türkische Frontverlauf für den Rest des Krieges auf einer Linie von Tirebolu am Schwarzen Meer über Kemah am Kara Su, dem Westlichen Euphrat, und die Kleinstadt Kiı nach Bitlis. Während sich also die militärische Lage in der Osttürkei zuspitzte, gingen den verschiedenen deutschen Unternehmungen dort und anderswo am nahöstlichen Kriegsschauplatz langsam aber sicher die finanziellen Mittel aus. Von den ursprünglich einmal veranschlagten 5 Millionen Mark hatte Schulenburg bis Februar 1916 zwar erst eine halbe Million ausgegeben, jetzt aber bedurfte er dringend einer „Auffrischung“ um 600.000 Mark, wovon 100.000 für Scheubner-Richter bestimmt waren. In Berlin unterstützte Nadolny dieses Ansinnen.69 Schulenburg hatte auf die kriegsbedingt instabilen Preise hingewiesen, und so reichte nach zwei Wochen das Geld schon nicht mehr hin. Scheubner-Richter berechnete seine Monatskosten auf 75.000 Mark, der Militärattaché beantragte deshalb zusätzlich 100.000 für ihn: „Bitte alles Geld in Gold.“70 Nadolny war die ständige Bettelei um Einzelbeträge satt und versuchte deshalb im März die Haushälter des Auswärtigen Amts und des Reichsschatzamts zu einem weniger aufwändigen Verfahren zu bewegen. Für alle laufenden Unternehmungen („Kaukasus, Indien, Afghanistan, Arabien, Senussen und Marokko“) veranschlagte er jetzt eine Million Mark pro Monat, die er bat, auf die Dauer eines halben Jahres im Voraus zur Verfügung zu haben, was den Vorteil hätte, „dass die Summen von einem Unternehmen auf das andere und von einem Monat auf den anderen übertragen werden könnten“.71 In einem Schreiben an seinen Kollegen im Reichsschatzamt schloss sich der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Gottlieb von Jagow dem Antrag Nadolnys an. Derweil meldeten die Offiziere vor Ort, dass ihre Mittel erschöpft seien und orderten dringend neue Barschaft.72 Auch wenn fortan Erleichterungen geschaffen wurden, so war eine völlig freihändige Vergabe der Finanzmittel in 67 68 69 70 71 72

Metternich an AA, 21.2., in: R 21017, S. 254f., Werth an Botschaft Konstantinopel, 20.4.1916, in: R 21019, S. 35–47. Metternich an AA, 24.2.1916, in: R 21018, S. 43. Militärattaché Pera an Sektion Politik Berlin, 2.2., Nadolny an AA 3.2.1916, in: R 21017, S. 145 u. 143. Wolpmann an Sektion Politik Berlin, in: ebd., S. 227. Nadolny an AA, 13.3., 11.4.1916, in: R 21018, S. 172f. u. 246f. Militärattaché Pera an AA, 10.4., Jagow an Helfferich 15.4.1916, in: ebd., S. 248 u. 259f.

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Berlin ganz offensichtlich nicht zu erreichen gewesen. Denn Nadolny meldete dem Auswärtigen Amt weiterhin detailreiche Abrechnungen für den Verbindungsoffizier im Kaukasus, Schulenburg, und dessen Operationen, darunter Einzelpositionen selbst für die Feldflaschen und den Feldgeistlichen.73 Zu den finanziellen Schwierigkeiten und den militärischen Rückschlägen kam hinzu, dass sich der wichtigste Ansprechpartner für den beabsichtigten ostkaukasischen Aufstand, Arslan Khan, immer mehr als Hochstapler herausstellte. Im Juni 1915 war die von Arslan geforderte Garantieerklärung in Berlin formuliert worden. Danach war man bereit, „das von den Ostkaukasiern angestrebte Staatswesen anzuerkennen, falls durch die Erfolge der Aufständischen und der türkischen Truppen ihre Befreiung von russischer Herrschaft gelingt“.74 Eine schriftliche Garantie war Arslan offenbar in der deutschen Botschaft in Konstantinopel im September übergeben worden. Nur wenig später, schon Ende November 1915, kamen erste Zweifel gegen Arslan Khan auf. In Konstantinopel gab ein Mitstreiter Arslans an, die behaupteten und für einen Aufstand nötigen Waffen gäbe es im Lande „auf das Bestimmteste“ nicht.75 Zwar hatte Schulenburg nach langen Unterredungen „den besten Eindruck“ von Arslan. Jedoch erinnerte er auch daran, dass Arslan Khan die einzige Person war, über die es Kontakt in den Ostkaukasus gab. Von seiner Vertrauenswürdigkeit hing letztlich alles ab. Deshalb schürte es Schulenburgs Misstrauen, dass Arslan bei seinen Aktionen plötzlich den bisherigen Elan vermissen ließ. Er wies Louis Mosel an, Näheres über den Herrn in Erfahrung zu bringen.76 Im nordtürkischen Amasya konnte Mosel fünf islamische Geistliche ausfindig machen, die Arslan als Gewährsleute benannt hatte, die jedoch angaben, einen Mann dieses Namens nicht zu kennen. Vieles sprach dafür, dass Arslan Khan in Wahrheit Hassan Bey hieß und als Gelegenheitskrimineller in der Gegend von Amasya bekannt war. Mosel riet zu größter Vorsicht.77 Schulenburg glaubte zwar noch nicht an einen „Hochstapler“, sah nun aber auch Arslans Verhalten „in einem sehr merkwürdigen Licht“. In Berlin begann man aufzuwachen: an das Wort „Hochstapler“ notierte jemand „dürfte stimmen“ an den Rand. Die Botschaft in Konstantinopel riet jedenfalls zur Überwachung Arslans.78 Zwar zweifelte Scheubner-Richter noch daran, einem Schwindler oder Spion aufgesessen zu sein, musste gleichwohl einräumen, dass Arslans hochfahrende Pläne offenbar keine allzu feste Grundlage

73 74 75 76 77 78

Nadolny an AA, 22.5., u. Wolpmann an Sektion Politik Berlin, 19.5.1916, in: R 21019, S. 133–135, 136–138. Aufzeichnung Wesendonks, 25.6., mit Paraphe Zimmermanns, 28.6.1915, in: R 21013, S. 215. Metternich an Bethmann Hollweg 17.11.1915, in: R 21015, S. 271–274. Bericht Schulenburgs, 28.11.1915: R 21016, S. 184–186. Bericht Mosels, 30.11.1915: R 21017, S. 209f. Schulenburg an Stellvertretenden Generalstab, 11.1.1916: R 21017, S. 188–191.

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in der kaukasischen Realität hatten.79 Zudem schöpften die Türken jetzt Verdacht und warfen ihm die Konspiration mit den Russen vor. Haidar Bey wollte ihn nach Mosul eskortieren lassen. Daraufhin berief sich Arslan in einem offenen Telegramm auf den deutschen Kaiser, dessen schriftliche Garantieerklärung er bei sich trüge. Das ging nun auch Scheubner-Richter zu weit, und er befahl Leverkühn, die Garantieerklärung an sich zu nehmen, „um weiteren Missetaten vorzubeugen“.80 Arslan händigte sie dann Scheubner-Richter persönlich aus. Was nun an den Vorwürfen richtig oder falsch war, Arslan schied jedenfalls als ernsthafter Partner aus und die Aussichten auf einen Kaukasusaufstand und die Möglichkeit, die Ölfelder von Baku zu zerstören oder gar zu kontrollieren, lösten sich damit in Wohlgefallen auf. Scheubner-Richter ließ fortan die Finger von dem unsicheren Kantonisten: „Unter zehn solcher Politiker ist immer nur einer ernsthaft zu nehmen und die Schwierigkeit liegt darin, diesen einen herauszufinden.“81 Wie wahr! Nur, Arslan Khan war dieser Richtige nicht. Nach dem Rückzug aus Mahabad im Januar 1916 hatte Scheubner-Richter 45 Kilometer südöstlich in Bokan Stellung bezogen und dort seine Reitertruppe reorganisiert. Um der Überzahl russischer Kavallerie zu begegnen, warb er unter den Kurden freiwillige Reiter an, zudem lehrte er seine Infanteristen das Reiten. So führte er bald etwa 2000 Reiter an. Im März konnten russische Angriffe zurückgeschlagen werden, ein eigener Vorstoß nach Miandoab verlief „wunschgemäß“. Scheubner-Richter übergab das Kommando an Karl Gustav Leverkühn, um selbst in Mosul eine Etappe einzurichten. Nach und nach verließen alle Deutschen die Truppe mit unterschiedlichen Aufgaben oder weil sie erkrankten.82 Wie die Georgische Legion, die nie in einem größeren Maßstab zum Einsatz kam, „ihre Daseinsberechtigung verloren hat[te] nach den Rückschlägen, die die Türken erlitten“ hatten83 , so war jetzt auch für die Expeditionstruppe von Scheubner-Richter das Ende gekommen. Das ursprüngliche Ziel war nicht erreicht, ja zu keinem Zeitpunkt zu erreichen gewesen, den ursprünglichen Auftrag gab es nicht mehr. Am 31. Juli 1916 löste Scheubner-Richter den Verband auf. „Der Kassenabschluß der Expedition“, so schrieb er, „wird nach Beendigung aller Angelegenheiten in Konstantinopel bzw. in Deutschland erfolgen.“84 79 80

81 82 83 84

Ders. an Stellvertretenden Generalstab, 27.1., in: R 21018, S. 40f.; Scheubner-Richter an Schulenburg, 25.2.1916, in: R 21020, S. 3–46. Telegrammabschriften Weber an AA, 11.2., Metternich an AA 12.2., Holstein an Botschaft Konstantinopel 15.2., Wolpmann an Sektion Politik Berlin, 20.2., in: R 21018, S. 52–54. Scheubner-Richter an Schulenburg, 11.5.1916, in: R 21020, S. 48–54. Scheubner-Richter an Schulenburg, 11. u. 16.5.1916, in: ebd., S. 24–41; Bericht Scheubner-Richters, 23.8.1916, in: R 21022, S. 154ff. Militärbevollmächtigter Pera an Sektion Politik Berlin, 30.8.1916, in: R 21020, S. 239. Bericht Scheubner-Richters, 23.8.1916, in: R 21022, S. 158f.

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4. Bilanz Schulenburg machte zunächst einmal Urlaub,85 Scheubner-Richter kehrte nach Deutschland zurück86 . In Berlin verfasste er sogleich Ratschläge für eine Fortsetzung der Ostkaukasusaktion. Nach wie vor hoffte er darauf, in Kurdistan Propaganda zu treiben und mit losen Reiterscharen Aufstände zu entfesseln, vielleicht gemeinsam mit kriegsgefangenen Kaukasiern aus deutschen Lagern.87 Aber das Auswärtige Amt verzichtete auf weitere Dienste des baltisch-bayerischen Kavalleristen. Die befohlenen Abordnungen ScheubnerRichters und der Brüder Leverkühn wurden aufgehoben.88 Das weitere Leben des Max von Scheubner-Richters ist vornehmlich von seinem Ende her bekannt.89 Zunächst aber folgten unterschiedliche militärische Verwendungen, zuletzt in Riga als Presseoffizier der deutschen Besatzungsmacht. Er schloss sich den baltischen Freikorps an und beteiligte sich am Kapp-Putsch.90 Nach dessen Scheitern kehrte er zurück nach München, wo er zu der radikalen Minipartei Adolf Hitlers stieß. Der frühen NSDAP erschloss er Geldquellen in der Wirtschaft und bei russischen Emigranten. Zudem beriet er ihre Führer in außenpolitischen Belangen. Den Putschversuch vom 9. November 1923 hat er maßgeblich mitorganisiert. In dem Schusswechsel in der Münchener Residenzstraße nahe dem Odeonsplatz brach Scheubner-Richter als Erster tot zusammen. Fallend riss er Adolf Hitler mit hinunter, der sich dabei die Schulter verrenkte, jedoch auf dem Pflaster liegend überlebte.91 Später soll er gesagt haben: „Alle sind sie ersetzbar, nur einer nicht: ScheubnerRichter!“ Zwar ist die Quelle des Zitats eher dubios,92 aber es trifft den Kern. Zum Zeitpunkt seines gewaltsamen Todes war Scheubner-Richter einer der wichtigsten Mitstreiter Hitlers. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1916 am Kaukasus ausgerechnet Paul Schwarz, Friedrich Werner Graf von der Schulenburg und Max von Scheubner-Richter zusammengeführt haben: den Helden „auf ewiger Wache“ aus der Kampfzeit der nationalsozialistischen 85 86 87 88 89

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Generalstab an Militärbevollmächtigten Pera, 13.9.1916, in: R 21020, S. 275. Notiz Wesendoncks, 16.10.1916, in: R 21021, S. 141. Scheubner-Richter an AA, 12.12.1916, in: R 21022, S. 133–137. Allerhöchste Kabinettsordre, 26.1.1917, in: R 21022, S. 290. Mike Joseph, Max Erwin von Scheubner-Richter: The Personal Link from Genocide to Hitler, in: Hans-Lukas Kieser/Elmar Plozza (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. Zürich 2006, S. 147–165. Leverkühn, Posten, S. 163ff. Ian Kershaw, Hitler 1889–1936. Stuttgart 1998, S. 265f.; John Dornberg, Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle. München, 8. und 9. November 1923. München 1983, S. 314f.; Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1973, S. 268 u. 273. Zit. n. Georg Franz-Willing, Die Hitlerbewegung. Der Ursprung 1919–1922. Hamburg 1962, S. 133, danach (Anm. 22) sollen die Witwe und ein Mitarbeiter Scheubner-Richters diese Äußerung Hitlers kolportiert haben.

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Partei, den Emigranten, der vor genau dieser Partei fliehen musste, und den Widerstandskämpfer, der zunächst lange als Diplomat dem Regime diente, dann aber zu helfen bereit war, um den Mann zu töten, vor den sich Scheubner-Richter in München schützend geworfen hatte. Was ist nun rückblickend von diesen Sabotage- und Insurrektionsaktionen zu halten? Aus dem Gesamtzusammenhang nur eine Episode zu erzählen ist immer problematisch. So stehen die Aktionen von Paul Schwarz und Max von Scheubner-Richter in engstem Zusammenhang mit den gleichzeitigen Bemühungen in der Nordosttürkei eine georgische Legion aufzustellen, mit deren Hilfe ein Aufstand im westlichen Kaukasus angezettelt werden sollte. Beide Unternehmen sind zu keinem Zeitpunkt unabhängig von der militärischen Entwicklung an der russisch-türkischen Front gewesen. Sie waren eingebettet in den Kontext aller deutschen Bemühungen, auf propagandistische, politische, militärische oder subversive Weise Unruhe im Rücken der Kriegsgegner zu erzeugen, um deren Schlagkraft auf verschiedene Fronten aufzuspalten. Was die Beteiligten in Kurdistan individuell leisteten, beeindruckt noch heute. Auch ist es sicher richtig, zu sagen, dass die Aktionen Kräfte des Kriegsgegners banden, zumal dieser ja in der Unübersichtlichkeit der Kriegsereignisse niemals wissen konnte, was alles hinter den Nadelstichen noch drohte. In ihrer Vielzahl banden die verschiedenen Unternehmen sogar eine ganze Menge Kräfte, die an anderen Fronten durchaus fehlten. Und dennoch, auch die Deutschen hatten auf diese Weise ihre Kräfte aufgespalten, sie verzettelten Menschen, Material und Mittel erfolglos in fernsten Gegenden. Denn wenn man die im osmanischen Hinterland durchgeführten Aktionen an ihren hochgesteckten Zielen misst, blieben es wirklich nur Nadelstiche, denen man keinerlei kriegsentscheidende Bedeutung beimessen kann. Die Vorgänge um Arslan Khan zeigen zudem, wie leicht es geltungsbedürftigen Figuren möglich war, die Entscheidungsträger hinters Licht zu führen. Er war mitnichten ein Einzelfall.93 Von den großen politischen und militärischen Plänen blieben am Ende nur die persönlichen Abenteuer der beteiligten Offiziere und Diplomaten. Bei allen Unterschieden ist den Beispielen eines gemeinsam: sie erzeugten allseits nur ein starkes Misstrauen gegen die vermuteten oder durchschauten Absichten der Deutschen und Türken. Schlimmer noch, auch die türkischen Verbündeten sahen sich in ihren eigenen Ambitionen im Nahen Osten gestört. Ein Resultat, das diese Belastung im Bündnisverhältnis aufgewogen hätte, wurde nie erreicht und die Konsequenzen daraus in Berlin nicht erkannt. Es bleibt rückschauend lediglich der Eindruck eines realitätsfernen Aktionismus, verbunden mit der fehlenden Abstimmung mit dem türkischen Bündnispartner und einem kaum glaublichen Informationsdefizit über die Region 93

Martin Kröger, Revolution als Programm. Ziele und Realität deutscher Orientpolitik im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München/Zürich 1994, S. 376f. u. 382.

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und die realen Möglichkeiten dort. Gründe hierfür liegen nicht allein in materiellen und personellen Problemen bei der Ausstattung der Institutionen und Expeditionen. Es fehlte ein in sich geschlossenes Gesamtkonzept der Orientpolitik. So war die wohl wesentlichste Ursache für den deutschen Misserfolg im Nahen Osten die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Sie vor allem ließ Plan und Wirklichkeit auseinanderlaufen.

Marc Hanisch

Curt Prüfer – Orientalist, Dragoman und Oppenheims „man on the spot“1 „Die Flugblätter [. . . ] werden in einer deutschen Druckerei [. . . ] gedruckt unter meiner Aufsicht. Wir drucken etwa 2000 Blätter auf ganz dünnem Papier in kleinem Oktavformat. Ich reise nach Fertigstellung der Blätter unverzüglich nach Genf. Die Auswahl unserer Emissäre geschieht unter den Mitgliedern des Genfer revolutionären Komitees unter Zuziehung von Farid (eventuelle Benachrichtigung von Schawisch in Konstantinopel). Die Ausgewählten erhalten den Auftrag sich auf verschiedenen Wegen (Brindisi, Athen, Neapel) nach Egypten zu begeben. Dort werden sie mit den egyptischen Revolutionären (Ramadan) Fühlung nehmen und versuchen durch Bildung von Banden, Attentate, Sabotage und insbesondere einen Anschlag auf den Suezkanal (mit B.O. zu besprechen), vor allem aber durch das Aussprengen des Gerüchts einer englischen Niederlage und baldiger Hülfe durch die Deutschen Unruhen hervorrufen.“2

Diesen leicht gekürzten und undatierten Entwurf eines „Memorandums über die Möglichkeit der Vernichtung der britischen Okkupationstruppen in Egypten und die in der Folge leicht durchführbare Sperrung des Suezkanals“, hat das Auswärtige Amt nie erhalten. Anregungen dieser Art gingen jedoch dutzendfach in den ersten Kriegsmonaten in der Wilhelmstraße ein. Getragen von einem Optimismus hinsichtlich der einfachen Durchführbarkeit des jeweiligen Unternehmens und in der Regel auch immer in Empfehlung der eigenen Person. Wirklich empfehlen musste sich der Autor dieses Schreibens allerdings nicht. Die Bezüge zu zentralen Führungsfiguren der ägyptischen Opposition und auch der Verweis auf „B.O.“, womit Baron Oppenheim gemeint war, deuten schon an, dass es sich hierbei um eine Person handeln muss, die dem Auswärtigen Amt alles andere als unbekannt sein dürfte. Dem war auch so. Das Memorandum entstammte der Feder des Orientalisten und zwischen 1907 und 1913 kommissarisch als Dragoman am deutschen Konsulat, später auch für die Diplomatische Agentur, in Kairo tätigen Dr. Curt Prüfer (1881–1959). Seine persönliche Karriere, die ihn von einem hoffnungsvollen Nachwuchs-Orientalisten zu einem politischen Agenten und Nachrichtenoffizier des Ersten Weltkrieges machte und in der daran anschließenden Zwischenkriegszeit sukzessive zu einem Spitzendiplomaten des Auswärtigen Amtes aufstiegen ließ, ist eng mit den politischen Entwicklungen im Orient bzw. den deutsch-englischen Spannungen in Ägypten verbunden.

1 2

Für diesen Aufsatz siehe gleichfalls FN1 des Oppenheim-Aufsatzes in diesem Band. PAAA, NL-Prüfer, Nr. 919–7.

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Oppenheims Nachfolger in Kairo Curt Max Prüfer wurde am 26. Juli 1881 als Sohn des Gymnasiallehrers Carl Prüfer und seiner Frau Agnes in Berlin geboren. Nach dem Abitur im Jahre 1900 studierte er bis 1903 Jura und Philosophie an der Universität Berlin und Arabisch am Seminar für orientalische Sprachen. Dem folgten weitere Sprachstudien in Italien, der Türkei und Ägypten, nicht zuletzt auch aus gesundheitlichen Gründen, die längere Aufenthalte in südlichen Regionen wünschenswert machten. Prüfer war auffällig klein und von schmächtiger Statur. Ein schweres Nieren- und Lungenleiden wird ihn zeitlebens begleiten und auch später immer wieder seine Tätigkeit im Auswärtigen Dienst für Erholungsaufenthalte in Davos unterbrechen lassen. Kaum ein Bericht oder eine Passage autobiographischer Erinnerungsliteratur kommt ohne diesen Hinweis aus. Der Orientalist und Bibelforscher Paul Ernst Kahle hatte in seinem Nachruf Prüfers Leben, das trotz allem fast 80 Jahre währen sollte, daher auch als „den Sieg eines starken Geistes und lebendiger Intelligenz über einen schwachen und stets leidenden Körper“ charakterisiert.3 Kairo wurde für Prüfer ab 1903 zu einem immer wieder aufgesuchten Ort des längeren gesundheitlichen Verweilens und wissenschaftlichen Arbeitens, der sein Leben nachhaltig beeinflussen sollte. Hier lernte er seine erste Frau kennen, die US-Amerikanerin Frances Pinkham, die er 1906 heiratete. Und hier entdeckte er 1905 in einem kleinen Theater ein ägyptisches Schattenspiel, dessen Text er editierte, kommentierte und zu einer Dissertationsarbeit ausbaute, die er 1906 an der Universität in Erlangen einreichte. Prüfer war ein junges Mitglied der deutschen Orientalistengemeinschaft, die in Kairo eines ihrer wichtigsten Auslandszentren hatte. Der schon erwähnte Paul Kahle wird hier zu einem genauso engen Vertrauten wie etwa auch Max Meyerhof, mit dem Prüfer zusammen mehrere Artikel zur Augenheilkunde in den arabischen Wissenschaften publizierte. Enno Littmann zählte ebenso zu Prüfers guten Bekannten, wie auch Carl Heinrich Becker auf seinen Reisen nach Ägypten ein willkommener Gast im Hause der Prüfers war, die in einem vornehmen Vorort Kairos lebten. Zwar hat Prüfer in seiner Zeit in Ägypten auch für verschiedene deutsche Zeitungen geschrieben, doch vermögend war er nicht. Das notwendige Kapital für das alles andere als kostengünstige Leben und Arbeiten in Kairo brachte seine Frau mit in die Ehe. Prüfers Sprachbegabung galt als phänomenal. Er sprach Französisch, Englisch, Italienisch, Arabisch und konnte sich zusätzlich in Türkisch, Russisch, Spanisch und Portugiesisch verständlich machen. Vor allem aber sein Arabisch war außergewöhnlich, von dem Kahle schrieb, dass es „damals wohl nur ganz wenige Arabisten in Deutschland gegeben [hat], die so wie er das moderne Arabisch sprechen und schreiben konnten, und in der arabischen Presse 3

Ernst Kahle, Nachruf Curt Prüfer, in: ZDMG 111 (1961), S. 2.

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tätig sein konnten“.4 Der letzte Nebensatz mag da für die Tätigkeit eines Orientalisten etwas irritieren und wird von Kahle auch nicht weiter präzisiert, sondern geht im Text des Nachrufes unter. Daher hinter steckt jedoch eine der zentralen Weichenstellungen in Prüfers Leben, die ihn ab 1906 ein Stück weit den Wissenschaften entreißen und der Außenpolitik zuführen sollte und dabei nicht unwesentlich den eigenen Lebensweg mit dem vom Max von Oppenheim verband. Oppenheims Tätigkeit als Beobachter für die politischen Entwicklungen in der islamischen Welt war stark durch seine Vernetzung mit der einheimischen Presse beeinflusst, in der sich wiederum die politische Opposition gegen das britische Besatzungsregime sammelte. Fast zehn Jahre lang konnte Oppenheim dieses Feld weitestgehend ungestört als Quelle seiner Berichterstattung und Informationsgewinnung nutzen, auch wenn er wohl für Lord Cromer schon in den 1890er Jahren eine Art bête noire gewesen war. Sonderlich geheim oder konspirativ war sein Umgang mit politischen Herausgebern und Publizisten wie Ali Jusuf oder Mustafa Kamil nicht. Oppenheim war in keinerlei Hinsicht ein unscheinbarer Gast dieser Stadt, sondern in allem was er tat, ein ziemlich auffälliger und extrovertierter Typ, der auch schon mal seine riesigen Expeditionszelte vor den Toren Kairos aufbauen ließ, um hier die europäische Community zu empfangen und zu bewirten. Zu seiner USA-Reise aus dem Jahre 1902 findet sich im Nachlass Oppenheims ein eigener Band, in dem er sorgfältige alle möglichen Presseartikel zu seiner Person eingeklebt hat und in der Gesamtsumme mehrere Hundert umfasst.5 Allein dies verdeutlicht, wie sehr Oppenheim schon zu Lebzeiten eine Medienberühmtheit war, die sicherlich ihres Gleichen suchte. Als Geheimagent, den die Briten irgendwann in ihm erkannt haben wollten, war er jedenfalls ziemlich ungeeignet. Bis 1906 wurde Oppenheims enger Verkehr mit der politisch-intellektuellen, anti-britischen Elite Ägyptens von der British Residency toleriert, dann jedoch sollten Algeciras-Konferenz und Akaba-Konflikt dies nachhaltig verändern. Am 10. Februar 1906 veröffentlichte das Journal des Débats einen Lettre d’Egypte, in dem über einen in Kairo, in halbamtlicher Stellung tätigen Deutschen berichtet wurde, der mit einem algerischen Renegaten übelsten Rufes ein Comité central de l’union islamique gegründet habe, welches beabsichtige demnächst die arabischen Stämme Nordafrikas zum Heiligen Krieg gegen die christlichen Herrscher aufzurufen. Dieser „Brief aus Kairo“ bildete den Startschuss für eine mehrmonatige Diffamierungskampagne gegen die deutsche Orientpolitik, bei der Oppenheim als Symbolträger von Anfang im Mittelpunkt stand. Die Kampagne hat Oppenheims Bild bis heute am nachhaltigsten geprägt und maßgeblich das Urteil über seine Arbeit und Funktion beeinflusst – auch mit Blick auf die Denkschrift von 1914. Das Schlagwort vom „Kaiser’s Spy“, der die gesamte islamische Welt zum Heiligen 4 5

Ebd. Hausarchiv Sal.Oppenheim, NL-MvO, Nr. 29.

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Krieg gegen Frankreich und England aufhetzte, war die Quintessenz einer beispiellosen Artikelflut, die zunächst, als „Begleitmusik von Algeciras“, vor allem die französische Presse betraf. Durch den zeitgleich sich verschärfenden englisch-türkischen Akaba-Konflikt griffen aber auch die englischen Medien die Vorwürfe zügig auf. Hinzu kam, dass sich Lord Cromer während der Krise schon früh in Verdächtigungen gegen Deutschland und nicht zuletzt Oppenheim selbst verstiegen hatte, dem er eine Mitschuld an der zunächst wenig einlenkenden Haltung des Osmanischen Reiches in dem Grenzkonflikt um Akaba zusprach. Dabei beruhten Cromers wenig gehaltvolle Verdächtigungen vor allem auf seiner persönlichen Abneigung gegen den türkischen Sondergesandten Muktar Pascha, mit dem Oppenheim ebenfalls seit Jahren bekannt war und den er mindestens einmal im Jahr zu Gesprächen aufsuchte. Oppenheim wurde schnell zum Politikum deutsch-englischer Spannungen, bei denen London offen die Abberufung Oppenheims einforderte. Dem kam das Auswärtige Amt zwar nicht nach, doch hielt man es für ratsam, Oppenheim den weiteren näheren Umgang mit der panislamischen Opposition zu untersagen. Seine hervorragenden Kontakte zu eben dieser islamischenarabischen Presse wollten allerdings weder der Staatssekretär in Berlin noch das Generalkonsulat in Kairo völlig aufgeben. Und für eben jenen Zwiespalt bahnte sich im Spätsommer 1906 eine Lösung an, die Curt Prüfer hieß: „Da wir außerdem jetzt in der Person des Dr. Prüfer, des neuen Vertreters des „Berliner Lokalanzeigers“, einen Mittelsmann haben, der in arabischen Journalistenkreisen bekannt ist und großes Ansehen genießt, so haben wir politisch die ewigen Verleumdungen der „Pyramides“ etc. nicht zu fürchten und können, ohne das ein Beamter des Generalkonsulats in die hier recht gefährliche Feuerlinie eintritt, mit der arabischen Presse in Fühlung bleiben.“6

Ob Prüfer von Oppenheim empfohlen wurde, lässt sich nicht belegen. Dies kann allerdings als genauso sicher gelten, wie beide sich schon einige Jahre gekannt haben mussten. In dieser Hinsicht war Kairo eine viel zu kleine Metropole, als dass ein deutscher Orientalist an Oppenheim vorbei gekommen wäre. Umso mehr, als dass der Direktor der Khedivischen Bibliothek, Prof. Bernhard Moritz, bei dem Oppenheim vor seiner Entsendung jahrelang Arabisch gelernt hatte und der dann vor allem auf Anregung von Oppenheim als Nachfolger des scheidenden Direktors Dr. Vollers durch das Generalkonsulat im Jahr 1896 angefragt worden war, so etwas wie die erste Anlaufstation für jeden Orientalisten darstellte. Prüfers offizielle Rolle als „neuer Vertreter des Berliner Lokalanzeigers“ währte jedoch nur kurz. Denn als 1907 der bisherige Dragoman des deutschen Konsulats in Kairo – nicht zu verwechseln mit dem Generalkonsulat – überraschend starb, wurde Prüfer kurzerhand als dessen Nachfolger kommissarisch eingestellt. Eine Karriere im Auswärtigen Dienst eröffnete sich Prüfer hierdurch allerdings nicht. Seine Beschäftigung erfolgte bis 1913 immer unter der ausdrücklichen Betonung, dass für Prüfer hieraus niemals Ansprüche und 6

PAAA, R 15248, Grünau an AA 31.8.1906.

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Aussichten auf eine Übernahme in den regulären Auswärtigen Dienst bzw. das Dragomanat erwachsen würden. Von Herkunft, Wesen und Vermögen konnten Prüfer und Oppenheim kaum unterschiedlicher sein, in ihrer politischen Tätigkeit und prekären Anstellung als sog. Outsider innerhalb der Auswärtigen Dienstes gab es jedoch frappierende Ähnlichkeiten, die sicherlich nicht unwichtig für die Ausbildung einer lebenslangen engen Freundschaft waren, die hier in Kairo ihren Ausgangspunkt fand und durch die Kontakte zur panislamischen Opposition auch eine ähnliche politische Sozialisation erfuhr. Die Arbeiten für das Konsulat absolvierte Prüfer zur großen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Insbesondere der deutsche Generalkonsul Bernstorff schätzte Prüfers Auftreten und seine Fähigkeit, sowohl mit Engländern als auch Ägyptern gleichermaßen gute Beziehungen zu unterhalten. Für den politisch als anglophil geltenden Bernstorff, der den Posten des Generalkonsuls auf dem Höhepunkt der deutsch-englischen Spannungen im Mai 1906 übernommen hatte und seine politische Aufgabe vor allem in der Wiederherstellung guter Beziehungen zu Großbritannien sah, war dies eine ganz entscheidende Qualifikation. Bernstorff entwickelte sich zu einem Förderer Prüfers, der ihn auch dann nicht vergaß, als er selbst schon Botschafter in Washington D.C. war. Da ein Seiteneinstieg in den Auswärtigen Dienst für Prüfer jedoch ausgeschlossen blieb, hielt Bernstorff nach Alternativen für dessen beruflichen Werdegang Ausschau. Für den Orientalisten, der er ja eigentlich war, sollte sich ab 1908 schließlich eine äußerst attraktive Möglichkeit anbahnen. Nach 12 Jahren in Kairo, gesundheitlich schlechter Verfassung und Konflikten mit dem ägyptischen Bildungsminister Sa‘d Zaghlul brachte der Direktor des Khedivischen Bibliothek Prof. Moritz offen seine Rückkehrabsichten nach Deutschland vor, sobald dort eine adäquate Stelle für ihn frei sei. Zwar sollte sich Moritz’ Abschied erst 1911 verwirklichen lassen, doch bereits 1908 hatte Bernstorff empfohlen, Prüfer als Nachfolger für Moritz in Betracht zu ziehen. Dies wiederholte sich 1909, und auch 1911 machte sich Bernstorff erneut für ihn stark. Möglicherweise auch, weil er mitbekommen hatte, dass sein eigener Nachfolger an der Spitze des Generalkonsulats, Hermann von Hatzfeldt, der Kandidatur Prüfers ablehnend gegenüber stand, da er eine Person mit größerer akademischer und professoraler Reputation bevorzugte. In Ermangelung anderer Kandidaten bzw. durch die Selbst-Diskreditierung des Dr. Brönnle, der in Kairo in kürzester Zeit durch Trunksucht und Geldschulden auffällig geworden war und damit prahlte, der neue Direktor werden zu würden, akzeptierte schließlich auch Hatzfeldt die Kandidatur Prüfers. Allerdings sollte sich jetzt zeigen, dass Prüfers Arbeit für das deutsche Konsulat ihn schon längst in eine Position gebracht hatte, die Grünau 1906 als „gefährliche Feuerlinie“ umschrieb. Seine Verbindungen zur politischen Opposition, die sich seit 1907 nicht nur in Redaktionen, sondern auch in

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Parteien organisieren konnten, waren den Briten selbstredend nicht verborgen geblieben. Wirklich vorzuwerfen war ihm allerdings wenig. Es gehörte zu den regulären Aufgaben eines Dragomans, genau jene Kommunikationsverbindungen zu unterhalten, die für ein hohes Mitglied des Konsulats als nicht opportun gelten können oder müssen. In diesem Falle aus Rücksicht gegenüber England. Ähnlich wie auch schon bei Oppenheim, der mittlerweile aus dem Auswärtigen Dienst ausgeschieden war und sich seit 1910 seinen Ausgrabungen in Tell Halaf widmete, erzeugte Prüfers Umgang mit der nach Selbstständigkeit strebenden Elite in wachsendem Maße Misstrauen auf englischer Seite, was ihm durch seine Freundschaft zu Oppenheim sicherlich schon von Anfang entgegen gebracht wurde. Eine Anstellung als Direktor der Khedivischen Bibliothek, die den steten Verkehr mit maßgeblichen ägyptischen Bevölkerungskreisen aus Politik und Gesellschaft beinhaltete, war für die Engländer jedenfalls ausgeschlossen. Die vertraglichen Zusagen aus dem Jahre 1904, dass dieser Posten stets einem Deutschen vorbehalten sei und auch kein Einspruchsrecht gegen einzelne Kandidaten vorsah, zählten jetzt nicht mehr. Offiziell meldete England allerdings nur wegen Prüfers Zugehörigkeit zur deutschen Agentur Vorbehalte an. Als Prüfer hiervon erfuhr, bat er unmittelbar um seine Beurlaubung von seiner Tätigkeit und Abreise aus Kairo. Die Wahl zwischen dem prestigeträchtigen Direktorenposten und einer kommissarischen Anstellung auf einer Dragomanatsstelle, die etatmäßig eigentlich einem einheimischen Übersetzer vorbehalten und damit auch schlechter vergütet war, vor allem aber keinerlei Zukunftsperspektive beinhaltete, fiel nicht schwer. Ändern sollte dies aber nichts mehr. Mitte 1912 war endgültig klar, dass Prüfer nicht der Nachfolger von Moritz werden würde. Anstatt nun mit 30 Jahren und ohne Professur auf einen der bedeutendsten Auslandsposten für deutsche Orientalisten zu gelangen, in dessen Folge sich ihm sicherlich diverse Türen für eine erfolgreiche akademische Karriere geöffnet hätten, blieb alles wie gehabt: prekär beschäftigt, schlecht bezahlt und kaum Aussichten auf eine adäquate berufliche Zukunft in Kairo. Ob – und wenn, wie sehr – dies nun seine persönliche Einstellung gegenüber England verändert hat, lässt sich nicht sagen. Es war eine politische Entscheidung in einem politisch sensiblen Feld vor dem Hintergrund seiner politischen Tätigkeit. Gefallen haben wird sie ihm mit Sicherheit aber nicht. In unmittelbarer Konsequenz ging es Prüfer nun vor allem darum, sich wieder verstärkt den Wissenschaften zu widmen, um seinen Abschied aus Kairo vorzubereiten und eine Rückkehr nach Deutschland auf ein solides Fundament zu stellen. Nach mehrmonatigen Urlaubsaufenthalten in den USA und Europa bat er ein gutes Jahr später um seine Entlassung aus dem Dienst zum 1. Dezember 1913, damit er sich für längere Zeit nach Oberägypten zur Vollendung seiner Forschungsarbeiten begeben könne. Die Bitte des Auswärtigen Amtes, bis zur Entsendung eines Nachfolgers bleiben zu mögen, schlug er aus und kehrte im Frühjahr 1914 schließlich nach Deutschland zurück. Zum

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Nachfolger von Prüfer wurde im Juni 1914, der bis dato am Konsulat in Buschehr tätige Dragoman Wilhelm Waßmuß ernannt. Wegen des Kriegsausbruchs in Europa konnte dieser seinen Posten in Kairo allerdings nie antreten. Prüfers langjähriger Chef, Generalkonsul Hatzfeldt, hat ihn als einen Menschen beschrieben, „von feinsten Umgangsformen, der es versteht, eine höfliche Bescheidenheit mit einem durchaus würdevollen und selbstbewussten Auftreten zu vereinen.“ Und dabei auch ausdrücklich auf das hingewiesen, was schon Bernstorff schätze, nämlich dass „[s]eine Beziehungen sowohl zu den massgebenden englischen, wie zu den egyptischen Kreisen [. . . ] ausgedehnte und gleichmässig gute [sind].“7 Da Prüfer als Dragoman über kein eigenes Berichterstattungsrecht verfügte, gibt es kaum Unterlagen, die vermitteln, wie Prüfer bis 1914 über die politischen Verhältnisse im Orient dachte. Seine lebenslange Freundschaft zu Oppenheim, ihre spätere Zusammenarbeit im Weltkrieg, sowie insbesondere seine Nachfolgeschaft als Kontaktmann der deutschen Stellen in Ägypten zur einheimischen Presse, die ihn durchaus mit delikaten Informationen wie angeblichen Aufstandsvorbereitungen von Oppositionellen in Nordafrika versorgte, lassen darauf schließen, dass Prüfers Vorstellungen mit denen von Oppenheim ziemlich identisch sein mussten. Die Wertschätzung, die er gerade von Bernstorff erfuhr, der „dem Panislam“ distanziert gegenüber stand, um die Beziehungen zu England nicht zu vergiften, machen aber auch deutlich, dass er es hervorragend verstand, sich bestimmten Situationen und Gesprächspartnern adäquat anzupassen. Ein großer Idealist war Prüfer nicht, und er ist daher kaum mit Attributen wie arabophil, anglophob o. ä. treffend zu charakterisieren. Wenn überhaupt, dann würde der Begriff des Pragmatikers ihm wohl am ehesten entsprechen. Wie pragmatisch er die Dinge im Orient betrachten konnte, zeigt sich bspw. in einem Auszug aus dem Begleitschreiben für das eingangs zitierte Memorandum: „Die Eg[ypter], die seit Jahrzehnten geknechtet sind, werden aus eigenem Antriebe kaum je die Waffen gegen die Englische Okk[upation] ergreifen, obwohl sie die Engländer bitter hassen. Die tiefste Quelle ihres Hasses ist jedoch trotz aller [. . . ] patriotischen Freiheitsphrasen keineswegs Vaterlandsliebe und Unabhängigkeitssehnsucht, sondern ein Gemisch aus unbefriedigter Geldgier und Abneigung gegen die religiös fremden Herren. Die nationalistische Bewegung scheiterte bisher in Eg[ypten] weil die dem Volke das viel zu hohe Vaterlandsideal zu unterschieben suchte und es aus Furcht vor Europa nicht wagte an die starken gemeinsamen Instinkte der Habgier und des Fanatismus zu appellieren. Entscheiden wir uns die Eg[ypter] bei diesen ihren Wünschen zu packen, so wird der Aufstand unabwendbar sein, dessen Ausgang [. . . ] bei der lächerlichen Schwäche der britischen Stellung nicht zweifelhaft sein kann.“8

Wenngleich dies auch nur einen Entwurf darstellte, der nie an die Wilhelmstraße abgeschickt wurde und dessen Intention natürlich darin bestand, in Empfehlung der eigenen Person möglichst klare, erfolgsversprechende Patent7 8

Bundesarchiv Lichterfelde, R901, Nr. 37416, Hatzfeldt an Bethmann Hollweg 17.3.1911. PAAA, NL-Prüfer, Nr. 919–7.

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rezepte anbieten zu können, so gilt auch für Prüfer, ähnlich wie schon bei Oppenheim, dass man in der Situation des Weltkrieges geneigt war, alle Vorbehalte aufzugeben und sich unter Bezug auf bestimmte Klischeevorstellungen der Hoffnung hinzugeben, mit ausreichend Geld und Propagandaarbeit eine Revolutionierung der islamischen Welt entfachen zu können. Als Bewerbung war das Memorandum allerdings überflüssig. Denn mit der Wiedereinstellung seines Freundes Oppenheim am 2. August 1914 sollte sich auch Prüfers Rückkehr in den Auswärtigen Dienst schnell und unbürokratisch vollziehen lassen.

Prüfers Propaganda- und Nachrichtenmission Von der Wichtigkeit zielgerichteter Propaganda durch das Verbreiten von Flugschriften, Artikeln und Aufrufen aller Art waren sowohl Prüfer als auch Oppenheim überzeugt. Bereits 1906 hatte Oppenheim Pläne für eine zentralisierte Institution innerhalb des Auswärtigen Amtes ausgearbeitet, in der systematisch Presseartikel gesammelt und ausgewertet sowie gleichzeitig die islamischen Zeitungen mit Nachrichten und Informationen über Deutschland versorgt werden sollten, um so dem Einfluss und der Deutungshoheit der englischen und französischen Medien wie Nachrichtenagenturen etwas entgegen setzen zu können. In der Aufrechterhaltung und Pflege des guten deutschen Prestiges in der islamischen Welt sah Oppenheim damals – und vor allem in Ermangelung anderer politischer Optionen – die wichtigste Aufgabe der deutschen Außen- und Orientpolitik. Mit der Verwirklichung seiner Pläne sollte es allerdings bis zum Weltkrieg dauern, als allen Beteiligten klar wurde, dass das Gelingen eines antikolonialen Aufstandes auch von einer möglichst umfassenden Propagandatätigkeit abhängen würde. Das sah man auch in England so und bemühte sich vor allem in dem Land, das in den letzten Jahrzehnten den Widerstand gegen den europäischen Imperialismus – allerdings vornehmlich publizistisch – angeführt hatte, von den ersten Kriegstagen an um eine strikte Informations- und Nachrichtensperre. Am 12. September 1914 erhielt Oppenheim schließlich die offizielle Genehmigung zum Aufbau eines „Übersetzungsbüros für orientalische Sprachen“, als dessen erster Leiter er fungierte. Knapp vier Monate später informierte dann Unterstaatssekretär Zimmermann Anfang Januar 1915 den Großen Generalstab und den Kriegsminister über die nunmehr erfolgte Einrichtung der sogenannten „Nachrichtenstelle für den Orient“ (NfO), die von da an für die deutsche Propaganda in diesem Raum verantwortlich war. Neben der eigentlichen Propaganda kümmerte sich die NfO aber auch um die „Kontaktpflege zu Orientalen im Reich und den neutralen Staaten, den Aufbau eines Zeitungs- und Personenarchivs, die Pressesichtung und Herausgabe einer Presseschau für den amtlichen Gebrauch, Übersetzungsarbeit, Zensur von

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Schriften, Filmen und Briefen und die Gefangenenbetreuung.“9 Es war Oppenheims lang gehegter Wunsch nach einer zentralisierten außenpolitischen Institution, die er in dieser Zeit endlich verwirklichen konnte und die treffend als der „think tank der deutschen Orientpropaganda“10 bezeichnet wird. Bis in den Herbst 1914 hinein, bevor sich Oppenheim verstärkt um den Aufbau der NfO und ihre Propagandaarbeiten kümmern konnte, war er vor allem an der Vorbereitung und raschen Entsendung diverser Expeditionen für den Orient beteiligt. Dabei zeichnete er sich im Besonderen für die Maßnahmen in Bezug auf Ägypten verantwortlich und hatte hierzu auch Prüfer schon vor Monatsende des August 1914 nach Konstantinopel entsandt. Dessen Alter, Sprachkenntnisse, Vor-Ort-Erfahrungen und persönliche Kontakte prädestinierten ihn deutlich stärker für den Auslandseinsatz, als dass diese Qualifikationen für das Erstellen von Propagandaschriften in Berlin und Botengänge in die Schweiz benötigt worden wären; ganz unabhängig davon, wie gut Prüfer die Mitglieder der politischen Opposition im Genfer Exil persönlich auch kannte. Mit welch umfangreichen bzw. konkreten Instruktionen Prüfer nach Konstantinopel entsandt wurde, ist nicht völlig klar. Vermutlich sollte er sich zunächst einmal als einer der zentralen außenpolitischen Spezialisten für Ägypten in die osmanische Hauptstadt begeben, um die Vorbereitungen für die gewünschte Suezkanals-Expedition im Allgemeinen zu begleiten bzw. zu fördern. Gleichzeitig sollte er aber auch – als Vertrauensmann von Oppenheim, dem er persönlich Bericht erstattete – konkrete Informationen über die innenpolitischen Entwicklungen im Osmanischen Reich und in Ägypten erlangen. Darüber hinaus sollte die Sperrung des Suezkanals versucht werden. Dafür war Prüfer allerdings nicht vorgesehen, sondern ein Oberleutnant Mors, der Prüfer am 28. August 1914 von Berlin aus nach Konstantinopel begleitete; im Gepäck dabei: Pamphlete und Sprengstoff für Bomben. Robert Otto Casimir Mors war vor dem Krieg als Leutnant im ägyptischen Polizeidienst der Stadt Alexandria tätig gewesen und befand sich bei Kriegsausbruch gerade auf einem dreimonatigen Heimaturlaub. Allem Anschein nach auch unter Einbeziehung des Reichsmarineamtes in Berlin wurde der Kontakt zum Auswärtigen Amt bzw. Oppenheim und Prüfer hergestellt. In Konstantinopel oblag es dann Prüfer, zusammen mit den Verantwortlichen der deutschen und vor allem türkischen Stellen, Mors auf seine Mission für Ägypten vorzubereiten. Diese sollte nun darin bestehen, zusammen mit einer Gruppe ägyptischer Emissäre und einer Gruppe „Maghrebiner, die während des Tripoliskrieges für die Türkei Waffenschmuggel betrieben hätten, [. . . ] am 9 10

Martin Kröger, Ziele und Realität deutscher Orientpolitik im Ersten Weltkrieg, in: Michalka, W. (Hg.): Der Erste Weltkrieg. München 1994, S. 366–391, hier S. 374. Salvador Oberhaus, „Zum wilden Aufstande entflammen“. Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg am Beispiel Ägyptens. Saarbrücken 2007, (Hervorhebung im Original) S. 135.

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Kanal Banden zu bilden, die die Kanalposten nachts angreifen und sich dann bei Tage wieder zerstreuen müssten.“11 Dieser frühe Versuch der Initiierung eines Guerillakrieges scheiterte jedoch schon im Ansatz. Nachdem Mors und die Ägypter am 8. September 1914 Konstantinopel per Schiff verlassen hatten, wurde Mors bereits im Hafen von Alexandria von Zollbeamten mit samt seiner delikaten Fracht entdeckt und verhaftet. In mehreren Verhören legte er ein relativ umfassendes Geständnis ab und gab vor allem über die Vorbereitungsgespräche in Konstantinopel detailliert Auskunft. Für die Briten war damit klar, dass nicht nur Deutschland Ägypten als Operationsfeld betrachtete, sondern auch das Osmanische Reich, obwohl es noch gar nicht in den Krieg eingetreten war, sondern sich offiziell im Zustand der „bewaffneten Neutralität“ befand. Darüber hinaus deutete sich zu ihrer Erleichterung aber auch an, dass es beiden Ländern „offenbar nicht gelungen war, ein schlagkräftiges Untergrundnetzwerk in Ägypten aufzubauen.“12 Wen die Briten auf deutscher Seite dabei besonders im Verdacht hatten, von Konstantinopel aus gegen ihre Position in Ägypten zu arbeiten, geht aus den Verhörprotokollen deutlich hervor. Niemand anderes als Baron Oppenheim stand bei ihnen ganz oben auf der Liste. Das konnte Mors zwar in dieser Form abstreiten. Den Namen seines Verbindungsoffiziers Prüfer – den die Engländer ja ebenfalls bestens kannten – gab er jedoch preis. Damit gelangte Prüfer schließlich zu der zweifelhaften Ehre, Bestandteil der formalen Begründung zur britischen Kriegserklärung gegen das Osmanische Reich zu werden, wie Kahle geradezu anerkennend bemerkte.13 Vom Scheitern der Mors-Mission erfuhr Prüfer, trotz aller Bemühungen um Kontaktaufnahme bzw. Informationsgewinnung, erst am 20. Oktober 1914 in Haifa aus der Zeitung. Zu diesem Zeitpunkt war er schon im Stab von Oberst Freiherr Kress von Kressenstein als Dolmetscher und Nachrichtenoffizier an den Vorbereitungen für den Suezfeldzug tätig. Prüfer hatte Konstantinopel keine zwei Wochen nach Mors verlassen bzw. verlassen müssen, da ihm deutlich mitgeteilt wurde, dass er dort „überflüssig“14 sei und stattdessen als Vertrauensmann im syrisch-palästinensischen Raum und sofern möglich auch im Kanalgebiet tätig sein solle. Schon bei seiner Ankunft war ihm aufgefallen, dass der langjährige Dragoman der deutschen Botschaft, Theodor Weber, „sichtlich wenig erbaut über meine Anwesenheit“ war. Auch in anderer Hinsicht stellte sich schnell ein pessimistischer „Eindruck des Nicht-Zusammenarbeitens zwischen Marine, Etappenkommando (Humann) und Botschaft“ ein.15 Sein direkter Zugang

11 12 13 14 15

HIA, NL-CP, Tagebuch Weltkrieg Nr. 1, Eintrag vom 6.9.1914. Alexander Will, Kein Griff nach der Weltmacht. Geheime Dienste und Propaganda im deutsch-österreichisch-türkischen Bündnis. Köln u. a. 2012, S. 74. Kahle, Nachruf, S. 2.; auch: Donald McKale, Curt Prüfer. German Diplomat from the Kaiser to Hitler. Kent, London 1987, S. 31. HIA, NL-CP, Tagebuch Weltkrieg Nr. 1, Eintrag vom 11.9.1914. HIA, NL-CP, Tagebuch Weltkrieg Nr. 1, Eintrag vom 4.9.1914.

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zu hochrangigen Vertretern im türkischen Kriegsministerium bis hinauf zu Enver Pascha, der ihn am 7. September empfangen und ihm seine Pläne für einen Guerillakrieg ausgebreitet hatte, waren vor allem für Botschafter Wangenheim ein Problem. Sie erschwerten dessen Bemühungen um Zentralisierung der deutschen und türkischen Arbeit. Von Enver Pascha selbst schien auch auf Prüfer eine große Faszination ausgegangen zu sein, die im Hinblick auf den bevorstehenden Genozid an den Armeniern allerdings etwas erschreckend Prophetisches besaß: „Ein Mann von Stein. Ein unbewegliches, regelmäßiges, im weiblichen Sinne schönes Gesicht. Gepflegt bis zur Geckenhaftigkeit. Dabei ein Zug unerhörter Härte: ,Wir können noch grausamer sein als die Engländer.‘ Der Mann will etwas; auf das ,Etwas‘ kommt es nicht an.“16

Noch in Konstantinopel lernte Prüfer Kress von Kressenstein kennen, der mit einer kleinen Anzahl deutscher Offizieren gerade im Begriff stand, nach Damaskus abzureisen, um sich dem VIII. Armeekorps unter Oberst Djemal Bey – dem ,kleinen Djemal‘ – anzuschließen. Seit August 1914 liefen die Vorbereitungen für einen Suez-Feldzug, die aber nur sehr schleppend vorankamen. Erst nachdem der Oberbefehlshaber der IV. Armee in Damaskus, Zekki Bey, im November 1914 durch den damaligen türkischen Marineminister, Djemal Pascha – den ,großen Djemal‘ –, ersetzt wurde, sollten sich wirkliche Fortschritte einstellen. Vor allem der Ankauf von Tausenden von Kamelen, die für den Transport von Heeresbedarf und Verpflegung der Truppen existenziell waren, aber auch die Beschaffung dieser Materialien selbst sowie infrastrukturelle Baumaßnahmen standen im Vordergrund. Sonderlich optimistisch war Kress allerdings wohl schon in Konstantinopel nicht und beschrieb die „Kriegsaussichten gleich null“.17 Prüfer sagte dennoch zu, als dieser ihn bat, seinem Stab beizutreten. Bis zur Abreise am 20. September 1914 kümmerte sich Prüfer noch um die Entsendung weiterer Emissäre und versorgte sie mit ausreichend Propagandamaterial und Geldmitteln. Dann ging es mit Kress und fünf weiteren deutschen Offizieren in die syrischen Provinzen des Osmanischen Reiches. Bis zum Beginn des Abmarsches der türkischen Truppenverbände Richtung Suezkanal am 13. Januar 1915 arbeitete Prüfer nun an den Vorbereitungen für den vielleicht wichtigsten deutschen Feldzug außerhalb Europas mit, ohne dass sich große Zuversicht einstellen mochte. Kress hielt die aus Türken, Beduinenstämmen und arabischen Freiwilligen zusammengestellten Truppen für mäßig qualifiziert. Vor allem der Mangel an Transportmitteln wie auch geeigneter Waffen für einen Angriff auf den von britischen Kriegsschiffen geschützten Suezkanal war eklatant. Detaillierte Lageberichte aus dem Kanalgebiet waren nur schwer zu erlangen. Prüfer beklagte schon früh das Fehlen von Flugzeugen. Hinzu kam, dass es Indiskretionen im Stab gab und Infor16 17

Ebd., Eintrag vom 7.9.1914. Ebd., Eintrag vom 13.9.1914.

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mationen über Vorbereitung und Planung wiederholt nach außen drangen. Und die Zeit rannte davon, denn nur in den Wintermonaten gab es überhaupt eine Chance für die mit riesigen Anstrengungen und Entbehrungen verbundene Durchquerung der Wüste, die bis spätestens Februar/März erfolgt sein musste. Kress’ September-Einschätzung schien sich zu bestätigen. Ende Dezember 1914 war man in Konstantinopel davon überzeugt, auf Grund der unzureichenden Vorbereitung den Feldzug verschieben zu müssen. Allein Djemal Paschas Weigerung und Durchsetzungskraft, der darin eine endgültige Aufgabe aller Ägypten-Pläne sehen wollte, soll dies verhindert haben. Neben seiner Mitarbeit im Stab von Kress organisierte Prüfer zusätzlich von Damaskus aus zusammen mit Konsul Loytved Hardegg die Propagandaarbeit für die arabischen Territorien und bemühte sich um den Aufbau eines professionellen Nachrichtendienstes für Ägypten, den er im Februar 1915 allerdings als „unzulänglich“18 beschrieb. Er bereiste immer wieder selbstständig den syrisch-palästinensischen Raum, um sich ein Bild von der Wirkung der Propaganda machen zu können, und traf unterschiedlichste Personen, um Einschätzungen zur Einstellung und Loyalität der Bevölkerung sowie insbesondere der großen arabischen Stämme und Clans gewinnen zu können. Das Bild, das dabei entstand, widersprach in Vielem den Vorstellungen, die sich in den politischen Zentren von Berlin und Konstantinopel entwickelt hatten. Noch Anfang September 1914 hatte Enver Pascha geglaubt, dass die Situation des Krieges tatsächlich die panislamische Vision bestätigen würde und die ehedem untereinander verfeindeten und vereinzelt auch mit Misstrauen hinsichtlich ihrer Beziehungen zu England belegten Clan-Führer, wie Ibn Saud, Ibn Raschid, Saijid el Idrisi oder Scherif Hussein, sich sowohl mit den Türken wie auch untereinander vereinen und gemeinsam gegen England kämpfen lassen würde. Das konnte Prüfer nicht bestätigen: „Ibn Raschid ist unser Freund. Ibn Saud das Gegenteil. Auch der Scherif Hussein ist englisch durch und durch [. . . ] Saijid el Idrisi ist ebenfalls englisch. Die Ergebenheit ist nur in Konstantinopel bezeugt worden, um zu täuschen.“19

Vor allem aber widersprach Prüfer, als er von Oppenheim Ende Dezember 1914 Auszüge aus seiner Revolutionierungsdenkschrift erhielt, den darin skizzierten Ausführungen in aller Heftigkeit und machte deutlich, wie groß die Differenzen zwischen einer idealisierten Planung und den Realitäten wirklich waren. Zwar hob er noch die Fortschritte und Auswirkungen im Bereich der Presse- und Propagandaarbeit hervor, erklärt aber unumwunden, dass man „sich nicht darüber täuschen dürfe, dass die Begeisterung für den heiligen Krieg in Syrien und Palästina [. . . ] eine künstliche ist.“ Deutsche Presseartikel, die bereits im Dezember über ein Vorrücken und den großen Kräfteaufwand berichteten, bezeichnete er als „lächerliche Übertreibungen“ und „leicht kontrollierbare Lügen“, die vor allem die Glaubwürdigkeit der 18 19

PAAA, R21129, Prüfer an Wangenheim 9.2.1915. PAAA, R21115, Prüfer an Oppenheim 3.11.1914.

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eigenen Propagandaarbeit beschädigen würden. Das Bild von der islamischen Solidargemeinschaft, insbesondere in Bezug auf die einheimischen Truppenteile, die unter englischer Kontrolle standen und nur auf den Moment warten würden überzulaufen, zweifelte er genauso an wie er auf die bereits eingetretene Spaltung innerhalb der ägyptischen Nationalpartei hinwies. Überhaupt machte Prüfer deutlich, dass mit der uneingeschränkten und solidarischen Unterstützung von Seiten der Bevölkerung nicht zu rechnen war, wenn etwa die arabischen Beduinen den osmanischen Truppen nur minderwertige Kamele verkauften oder die Tiere gleich an die Engländer lieferten, die noch großzügigere Preise als die Türken zahlen konnten. Auch der Waffenschmuggel nach Ägypten sei gescheitert, „da die aegyptischen Vertrauensleute aus Angst sich weigerten, die Waffen auch nur bei sich zu beherbergen.“ Insgesamt hätte man, so ein frustrierte Prüfer, mit den eingeborenen Freiwilligen und Irregulären bisher „nur ungünstige Erfahrungen gemacht. Sie leisten gar nichts, sind dagegen unbotmäßig, feige und anspruchsvoll.“ Auch Oppenheims Zusammenfassung der militärstrategischen Zielsetzungen wies er entschieden zurück, indem er etwa klar machte, dass eine Zerstörung des Süßwasserkanals, der für die Niveauregulierung des Kanals zentral war, einzig und allein einer Eigenschädigung gleich käme, da man in Ermangelung ausreichender Wasserversorgung nach dem Marsch durch die Wüste genau auf jene Quelle angewiesen sei. Auch dessen Vorstellungen von der Truppenstärke, die sich im Idealfall auf ein 60.000 Mann starkes Armeekorps, eine riesige Anzahl von Beduinen und anderer Hilfstruppen aus allen Teilen des Osmanischen Reiches bezogen, waren völlig an den Realitäten vorbei kalkuliert. Mehr als die bisherigen 20.000 Mann Gesamtstärke war nicht zu erreichen und insbesondere nicht zu versorgen. Unumwunden stellte Prüfer fest, dass man sich im Stabe des VIII. Armeekorps „vollständig darüber klar [sei], dass der Feldzug mit unzureichenden Mitteln ausgeführt wird“ und die Engländer den osmanischen Truppen an Zahl und Ausrüstung überlegen sein werden. Am Ende brachte er es auf den Punkt, als er klärte, dass vor allem „politische Erwägungen maßgebend“ waren, den eigentlich zum Scheitern verurteilten Feldzug trotz Allem durchzuführen: „Würde man jetzt den Abmarsch verzögern, so würde unbedingt die mühselig erreichte Begeisterung wieder schwinden und der alten Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Feindseligkeit, Platz machen. Noch viel unheilvoller aber wäre der Eindruck in Aegypten, wo das Herannahen der türkischen Armee bereits durch Flugblätter und Emissäre verkündet wurde. Ihr Ausbleiben wäre mit gänzlicher Entmutigung der ohne dies feigen Aegypter gleichbedeutend.“20

Am 13. Januar 1915 begann der Abmarsch. Nach einer Woche hatte man bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt und am 20. Januar Bir el Hamme, inmitten der Sinaiwüste, erreicht. „Die Geschichte kennt kein Beispiel“, so Kress in der Retrospektive, „daß ein Heerführer es wagte, das Innere der 20

PAAA, R21128, Prüfer an Oppenheim 31.12.1914.

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Wüste von einer größeren Truppenmacht durchqueren zu lassen.“21 Da jedoch die Heerstraße an der Küste im Bereich der englischen Kriegsschiffe lag, gab es keine Alternative. So wachsam die Engländer die Stimmung in der ägyptischen Bevölkerung beobachteten, so sehr gab es Zweifel daran, ob die Türken eine Wüstendurchquerung überhaupt wagen würden. Die Wüste schien eine schier unüberwindliche Barriere und Schutzzone zu sein. Als Lord Kitchener die Verteidigungsanlagen am Kanal inspizierte, soll er daher auch den Oberkommandierenden der englischen Streitkräfte in Ägypten, General Maxwell, wütend gefragt haben: „Verteidigen Sie eigentlich den Kanal oder lassen Sie sich durch Kanal verteidigen?“22

Wider Erwarten und trotz aller Strapazen, inklusive wiederholter Fliegerangriffe der Engländer, die mittlerweile über das Heranrücken informiert waren, gelang dem osmanischen Heer die Durchquerung ohne größere Verluste. Und auch Prüfer war nach der Ankunft in der ca. 40 km vom Kanal entfernten Oase Chabra II und einer ersten Erkundungstour zum Kanal überrascht: „Auf dem östlichen Ufer steht bis zum Kanal kein Feind. Es ist fast unheimlich, diese Untätigkeit. Ein Pionier Hauptmann hat sogar Wasser aus dem Kanal zurückgebracht!“23

Das Übersetzen und Halten einer Stellung, bis man den Kanal sperren konnte, sollte sich jedoch als deutlich schwerer erweisen. In der Nacht vom 2./3. Februar 1915 griffen die osmanischen Truppen an und scheiterten beim Versuch der Überquerung auf ganzer Linie. Von der jahrelangen Prognose, nach der ein ägyptischer Aufstand beim Erscheinen der türkischen Truppen am Suezkanal ausbrechen würde, fehlte jede Spur. Für einen langen Stellungskrieg nicht ausgerüstet, entschieden Djemal und Kress am Folgetag, die Operation abzubrechen und sich zurückzuziehen. Während Djemal mit dem Großteil der Truppen nach Palästina zurückkehrte, um mit den Vorbereitungen für einen zweiten Feldzug zu beginnen, bezog Kress mit einigen kleineren Kontingenten in der Wüste Stellung, um von dort aus zu einer „Taktik der Nadelstiche“24 überzugehen, die die Engländer permanent beschäftigen und Truppen binden sollte. Prüfer hatte an den vordersten Kampfhandlungen nicht teilgenommen. Er blieb Beobachter. In seinen Abschlussberichten vom 9. Februar 1915 an Wangenheim und Oppenheim gab er seiner Enttäuschung insbesondere über die Revolutionierungsbemühungen freien Ausdruck. Geradezu verbittert schrieb er dem Botschafter:

21

22 23 24

Friedrich Kress von Kressenstein, Überblick über die Ereignisse an der Sinaifront von Kriegsbeginn bis zur Besetzung Jerusalems durch die Engländer Ende 1917, in: Zwischen Kaukasus und Sinai. Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 1, Berlin 1921, S. 11– 54, hier S. 15. Ders.. Die Kriegsführung in der Wüste, in: Wiegand, Th. (Hg.): Sinai. Berlin, Leipzig 1920, S. 1–35, hier S. 33. HIA, NL-CP, Tagebuch Weltkrieg Nr. 2, Eintrag vom 27.1.1915. Will, Kein Griff, S. 65; auch Kress, Sinaifront, S. 22.

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„Ich fürchte trotz der hier im Lager verbreiteten Gerüchte von grossen Massacres in Egypten, dass alle unserer Arbeit zur Revolutionierung des Nillandes ein Versuch mit untauglichen Mittel an untauglichen [sic!] Objekt war. Bei den feigen und nur mit dem Munde patriotischen Arabern und insbesondere den Egyptern ist nur durch umfangreichste Bestechung vielleicht etwas zu erreichen. Ich würde jedoch jeden Aufwand auf Agitationsversuche in Egypten so lange für unzweckmäßig halten, als er nicht einer Aktion gegen den Kanal voraufgeht [sic!], die mit hinreichenden militärischen Mitteln ausgeführt wird. Durch Pamphlete und Aufrufe zum heiligen Krieg dürfte es uns kaum gelingen, die Araber zu Taten zu bewegen.“25

Noch deutlicher wurde er gegenüber Oppenheim. Feigheit, Verrat, arabische Türkenfeindschaft und passiver Widerstand von Seiten der Türken gegenüber den deutschen Offizieren dominieren sein abschätziges Urteil über die Zusammenarbeit im Suezfeldzug. Auf den Punkt gebracht: „Der heilige Krieg ist eine Tragikomödie.“

Die von Oppenheim in seiner Denkschrift geforderte Zurückhaltung und sensible Kooperation mit den türkischen Stellen wies Prüfer nun gänzlich zurück. Unumwunden erklärte er, dass bei einem erneuten Eroberungsversuch nicht nur mit schweren Batterien und zahlreichen Flugzeugen operiert werden solle, sondern auch „die Türken ganz aus dem Stabe verschwinden [müssen]. Unser Generalkommando [. . . ] war eine Karrikatur.“26 Dass dies die unmittelbar vorherrschende Meinung der deutschen Offiziere um Kress widerspiegelte, ist anzunehmen. Auch wenn Kress später in der Rückschau ein milderes Urteil fällte und vielmehr die Leistungs- und Leidensfähigkeit der türkischen Armee hervorhob. Dagegen benannte und kritisierte Prüfer aber auch früh schon die offensichtlichen Missstände und Verfehlungen auf deutscher Seite. Noch im Februar ging ein zweiter Bericht an Oppenheim, in dem er die Ansichten eines von ihm äußerst geschätzten türkischen Offiziers übermittelte, der unzweideutig „das hochfahrende Wesen“ und „die öffentlich zur Schaue getragene Verachtung der Bewohner und Einrichtungen des Landes, dessen Gäste sie seien“,27 durch einen Teil der deutschen Offiziere kritisierte, die sich zusätzlich nur als Durchschnittssoldaten präsentiert hätten. Prüfer teilte diese Ansichten nicht nur, er brachte sie auch gegenüber Wangenheim zum Ausdruck, wenn er die wachsende Missstimmung in Syrien/Palästina gegen Deutschland, nicht allein feindlicher Propaganda, Misswirtschaft und Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung zuschrieb, sondern auch der mehrfachen Entsendung von Deutschen, „die moralisch und militärisch-technisch in keiner Weise ihrer Aufgabe gewachsen waren. Unkenntnis, hochfahrendes Wesen, vor allem aber der Mangel an Selbstzucht bei einigen der bis vor kurzem hier anwesenden Herren haben unsere Sache schwer geschädigt.“ Nur wenige Monate nach seiner Proklamation war der Dschihad für Prüfer nur noch ein „voll25 26 27

PAAA, R21119, Prüfer an Wangenheim 9.2.1915. Ebd., Prüfer an Oppenheim 9.2.1915. PAAA, R21131, Prüfer an Oppenheim 24.2.1915.

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ständiges Fiasko“28 , dem man auch mit weiterer Propagandaarbeit kaum begegnen konnte. Das sah man in Berlin an prominenter Stelle allerdings anders.

Oppenheim und die „Nachrichtensaal-Organisation“ Sicherlich aufgeschreckt von den mehr als ernüchternden Berichten seines wichtigsten Verbindungsmannes vor Ort, hielt es Oppenheim in Berlin auf dem Chefsessel der NfO nicht mehr aus. Sollten sich seine seit fast 20 Jahren verfestigten Vorstellungen von der islamischen Solidargemeinschaft, dem Wunsch nach Befreiung vom europäischen Imperialismus, der Autoritätshörigkeit wie Lenkbarkeit der Bevölkerung und vor allem die Prognose von der Vorbedingung eines großen europäischen Krieges tatsächlich als Chimäre erweisen? Mit fast 55 Jahren reiste er im April 1915 nun selbst wieder in den Orient; jedoch nicht, um sich ein genaueres und möglicherweise neues Bild von der Lage zu machen, sondern um der bisherigen Propagandatätigkeit größere Durchsetzungskraft zu verleihen. Oppenheims Vorstellungen vom Orient waren ein ideologisches Konstrukt, in dem kaum Platz für Widersprüche existierte. Prüfers Berichte mögen ein zutreffendes Stimmungsbild geliefert haben. Aber daraus den Rückschluss zu ziehen, dass die Bedeutung des Panislamismus nicht nur überschätzt wurde, sondern eventuell an sich hinterfragt werden müsse, lag Oppenheim fern. Nicht die Analysen waren falsch, sondern nur die eigenen Anstrengungen nicht intensiv genug und adäquat umgesetzt. Von daher war auch die Propagandaarbeit nicht wirkungslos, sondern bedurfte lediglich besserer Strukturen und eines größeren Engagements. Das hieß für Oppenheim, im Zeitraum von ursprünglich einmal angedachten vier Monaten eine zentrale Nachrichtenstelle in Konstantinopel mit einem ausgedehnten Netzwerk von Nachrichtensälen aufbauen zu wollen, in denen Tausende von Menschen täglich mit Meldungen über den Kriegsverlauf, Broschüren, Pamphleten, Zeitungen usw. versorgt werden sollten. Auch die hohe Anzahl von Analphabeten galt es zu erreichen und durch Bilder und Zeichnungen politisch-militärisch, im Sinne des Panislamismus und Kalifatsgedankens, „aufzuklären“ und für den Dschihad zu motivieren. Nach dem Krieg wiederum sollte diese Nachrichtensaal-Organisation (NO) dann gänzlich für die Interessen der deutschen Wirtschaft, d. h. als zentrales Instrument der Wirtschaftswerbung, nutzbar gemacht werden, die es aber schon jetzt hiervon zu überzeugen galt wie Oppenheim die politische Agitation auch mit dem ökonomischen Potenzial Deutschlands – „streng vertraulich“ – zu verbinden suchte: 28

PAAA, R21134, Prüfer an Wangenheim 19.5.1915.

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„Allen Schichten des großen türkischen Reiches muss die Überzeugung eingehämmert werden, daß Deutschland nicht nur die erste politische und militärische Großmacht des Abendlandes, sondern daß auch seine wirtschaftliche und industrielle Leistungsfähigkeit der der feindlichen Nationen überlegen ist, mit einem Wort, daß man in Deutschland alles, und zwar am besten und billigsten kaufen kann.“29

Darüber hinaus wollte auch Oppenheim den Versuch der Einrichtung einer dauerhaften und funktionierenden Kommunikations- und Nachrichtenverbindung nach Ägypten, Sudan, Abessinien, Persien, Afghanistan und Indien sowie zu den einzelnen Expeditionen unternehmen, um den Bemühungen einer Revolutionierung größere Wirkung zu verleihen. Zudem sollten religiöse Bruderschaften, Moscheegelehrte, Beduinenscheichs etc. für die panislamische Propaganda und als Emissäre herangezogen werden. Die deutschen Stellen standen dem genauso offen gegenüber wie Enver Pascha. Letzterer allerdings mit einer sehr zentralen Einschränkung: Die Nachrichtensäle für Pressezwecke zu nutzen, begrüßte er „mit Freude“; die Gründung von Organisationen bzw. Unter-Organisationen, die in Verbindung mit der NO in den türkischen Provinzen den Kalifatsgedanken verkünden sollten, lehnte er jedoch strikt ab. Weniger inhaltlich, als vielmehr aus der Sorge, dass sich hier unkontrolliert oppositionelle Gruppierung organisieren könnten. Er handle hier „nach den altbewährten Maximen Abdul Hamids“, dessen Präventivmaßnahmen die Jungtürken „selbst nur auf dem Umwege über die Freimaurerlogen haben durchbrechen können. Ihr Erfolg und der Gang der Geschichte beweisen, dass beide, Abdul Hamid und seine Überwinder, Recht haben.“30 Unausgesprochen galt dies allerdings auch gegenüber den Deutschen. Denn ganz unabhängig davon, ob ein Nicht-Muslim nun überhaupt befähigt war, panislamische Propaganda zu betreiben, misstraute auch Enver jeder wachsenden Betätigung deutscher Stellen im Osmanischen Reich. Eine Nachrichtenorganisation im Sinne geheimdienstlicher Tätigkeit, die Oppenheim sicher im Idealfall zusätzlich vorschwebte, war damit von vornherein ausgeschlossen. Aber es gelang Oppenheim als Leiter dieser neu geschaffenen Nachrichtenstelle bis 1916, unter strikter Kontrolle und Zensur der türkischen Stellen, ein Netz von über 60 größeren und kleineren Nachrichtensälen im Osmanischen Reich einzurichten, in denen politischmilitärische Propaganda betrieben wurde. Eine große messbare Wirkung bzw. Veränderung der Stimmung in der Bevölkerung erzielte dies aber wohl nicht. Dass in einzelne Provinzsälen 10.000 und in Konstantinopel „bis zu 20.000 Personen“ täglich registriert worden seien, wie Oppenheim in einem Memorandum ein Jahr später angab, ist eher unwahrscheinlich.31 Dennoch 29 30 31

Max von Oppenheim, Die Nachrichtenstelle der Kaiserlichen Botschaft in Konstantinopel und die deutsche wirtschaftliche Propaganda in der Türkei. Berlin 1916, S. 13f. Yale University Library, Ernst Jäckh Papers, Humann Besprechung mit Enver Pascha am 6.4.1915. Oppenheim, Nachrichtenstelle, S. 15. Auch: Kröger, Eifer, S. 131; Oberhaus, Zum wilden Aufstande, S. 119, FN 68.

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war man auf deutscher Seite sowohl mit dem Aufbau der NO als auch der Arbeit Oppenheims persönlich ganz zufrieden. Der neue deutsche Botschafter in Konstantinopel und Nachfolger des am 25. Oktober 1915 verstorbenen Wangenheims, Wolff-Metternich, sprach von einem „augenfälligen Nutzen“ und würdigte Oppenheims Umgang mit den türkischen Stellen: „Die Leitung durch Freiherrn von Oppenheim ist vorsichtig und zurückhaltend und nimmt mit Geschick auf die türkischen Eigenart und Empfindlichkeit Rücksicht.“32

Für eben jene Mission hatte Oppenheim noch vor Abreise 1915 ausdrücklich Prüfer angefordert, da er mit ihm bereits im August 1914 große Teile dieses Programms ausgearbeitet hätte und dieses nun als die „Fortsetzung desselben“33 zu betrachten sei. Da es frühe Einrichtungen von Nachrichtensälen „nachweislich in Jerusalem, Jaffe, Aleppo, und Damaskus“34 schon 1914 gab, ist es sehr wahrscheinlich, dass deren Aufbau vor allem auf Betreiben von Prüfer erfolgt war. Djemal allerdings verweigerte die Freigabe und Abberufung Prüfers, worauf Wangenheim wiederum Rücksicht zu nehmen gedachte. Dass diese Entscheidung Einfluss auf den weiteren politischen Verlauf des Weltkrieges genommen hat, ist abwegig. Dennoch war damit zumindest von vornherein die Chance ausgeschlossen, dass Prüfer möglicherweise noch in Konstantinopel mit Oppenheim zusammentreffen konnte, wo sich dessen eigentlich nur kurz geplanter Zwischenstopp um mehrere Wochen verzögerte. Und dies in erster Linie, weil hier die Dinge eine Entwicklung nahmen, der Oppenheim höchste Priorität beimaß, die sich später aber als Fehleinschätzung erweisen sollte und dabei von Anfang an allen Erkenntnissen seines engsten Vertrauensmannes widersprochen hatten. Als Oppenheim im April 1915 in Konstantinopel ankam, befand sich auch der haschemitische Prinz Faisal in der Stadt. Zwischen den Jungtürken und seinem Vater, dem Scherifen von Mekka, bestand seit der Absetzung Abdulhamids II. ein tiefes Misstrauen. Es gab immer wieder Gerüchte, dass eine erzwungene Absetzung des Scherifen durch die Jungtürken bevorstehe sowie darüber, dass Hussein insbesondere durch seinen ältesten Sohn, den Prinzen Abdullah, enge Verbindungen zu den Engländern unterhielt. Darüber hinaus kam es immer wieder zu Spannungen zwischen Hussein und dem türkischen Wali für den Hedjaz. Für Oppenheim hatten die Unterstützung und das Mitwirken Husseins, den er vor vielen Jahren persönlich kennengelernt hatte, für die Propagandaarbeit allerdings höchsten Stellenwert. Wenn sich mit Blick auf den Dschihad im Jahre 1915 noch etwas verändern sollte, dann konnten der Scherif und sein Einfluss in den Pilgerzentren von Mekka und Medina sicherlich von ausschlaggebender Bedeutung sein und damit vielleicht auch

32 33 34

PAAA, R13904, Metternich an Bethmann Hollweg 29.03.1916. PAAA, R21130, Oppenheim an AA 23.3.1915. Will, Kein Griff, S. 193f.

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„ein für den Enderfolg des Krieges bedeutungsvolles Werk darstellen.“35 Als er erfuhr, dass auch Faisal in der Stadt war, um eine Entspannung in den Beziehungen zwischen Konstantinopel und seinem Vater zu bewirken und dieser angeblich sogar bereit sei, an einer systematischen Propagandatätigkeit in den von Kriegsgegnern besetzten Ländern mitzuarbeiten, gehörte Oppenheim zu demjenigen Personenkreis in Konstantinopel, der sich bei Enver Pascha und Talat Bey für eine Aussprache und Zusammenarbeit stark machte. Am Ende einigten sich Enver und Faisal auf eine Kooperation, deren wichtigste Ergebnisse rückblickend wahrscheinlich darin bestanden, dass man nicht nur die Dschihad-Propaganda im Hedjaz, als einem zentralen Knotenpunkt der islamischen Welt, ganz in die Hände von Hussein legte, sondern vor allem von deutscher Seite zusicherte, keinen eigenen Nachrichtendienst in der Region einzurichten. Nach den Erfahrungen mit den Fehltritten deutscher Offiziere in den letzten Monaten, war man in dieser Phase sehr darum bemüht, mit mehr Zurückhaltung aufzutreten. Und da auch Enver auf eine so gering wie möglich ausfallende Kooperation zwischen den deutschen Stellen und Hussein drängte, hatte Deutschland sich mehr oder weniger freiwillig aus allen eigenen Beobachtungen zu Husseins Agieren ausgeklinkt. In diesen Kontext passt auch, dass man Enver Ende April 1915 ganz offiziell die Oberleitung aller deutschen Expeditionen angetragen hatte. Das Vertrauen in Hussein jedenfalls zahlte sich nicht aus. Schlussendlich sollte man von dem Araberaufstand des Jahres 1916 überrascht werden. Ob Faisal nun Oppenheim in der ganzen Zeit eine „Komödie allererster Güte vorspielte und nach Strich und Faden betrog“36 , ist letztlich genauso schwer zu beantworten, wie die Frage nach den politischen Präferenzen jedes einzelnen einflussreichen Clan-Mitgliedes des Scherifen zum damaligen Zeitpunkt bzw. ob vor Faisals Reise nach Konstantinopel in Mekka wirklich schon eine Entscheidung darüber getroffen worden war, auf wessen Seite man zu kämpfen gedachte. Wahrscheinlich ist, dass Hussein durch geschicktes Lavieren zwischen allen Akteuren das Bestmögliche für sich herauszuschlagen bemüht war. Dazu gehörten auch weitere Verhandlungen mit den Engländern, die vor allem für die Nahrungsmittelversorgung im Hedjaz wichtig waren, da sich Konstantinopel hierzu nicht mehr imstande sah. Fakt ist aber auch, dass ein Jahr später der Aufstand gegen die Türken ausbrechen sollte. Das Vertrauen in Faisal und eine Kooperation mit Hussein entpuppten sich als der vielleicht größte Fehlschlag, den Oppenheim im Weltkrieg für sich ganz persönlich hinnehmen musste; sieht man einmal davon ab, dass sich seine günstigen Prognosen für einen antikolonialen Aufstand im Weltkrieg nicht wirklich einstellen sollten. Dass nun allein Prüfers Anwesenheit in Konstantinopel an dieser Kooperation etwas geändert hätte, ist sicherlich übertrieben. 35 36

PAAA. R21133, Oppenheim Memorandum „Islamische Propaganda über Arabien“, 15.5.1915, S. 15. Will, Kein Griff, S. 89.

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Wirkliche Alternativen zu Hussein gab es auf deutsch-türkischer Seite im Jahr 1915 nicht. Aber nach all seinen Erkenntnissen misstraute Prüfer Hussein nun mal sehr und notierte im Moment des Aufstandsausbruches in seinen Tagebüchern auch nur, dass er „mit Recht vor dem Scherifen gewarnt [habe]“. Ein Monat später sollte zudem feststehen, dass auch Faisal „abgefallen“ war, was der ganzen Sache jetzt allerdings auch eine persönliche Note verlieh. Die damit verbundene Tragik brachte Prüfer in zwei Worten auf den Punkt: „Armer Oppenheim.“37

An der Seite von Djemal Pascha Als der Araberaufstand im Sommer 1916 losbrach, war Prüfer bereits der Fliegerabteilung 300 in Palästina als Flugbeobachter zugeteilt und ganz nebenbei von den Briten in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Da Djemal ihn für die „Oppenheim-Mission“ nicht freigestellt hatte, blieb Prüfer von März 1915 bis Mai 1916 als Dolmetscher und Nachrichtenoffizier im Stab des Chefs der IV. Türkische Armee und Generalgouverneur für Syrien tätig. Wobei er sich gleichzeitig aber auch weiterhin eigenständig um eine Nachrichtenverbindung nach Ägypten bzw. das Entsenden von Agenten kümmern konnte. Diese rekrutierten sich in der Regel zwar aus der arabischen Bevölkerung, blieben aber nicht darauf beschränkt. Prüfer gelang es auch, drei Mitglieder aus der jüdischen Community in Jerusalem, für die Spionage in Ägypten zu gewinnen: die US-amerikanischen Staatsbürger Moritz Rothschild und Isaak Cohn sowie die russische Emigrantin Minna Weizmann. Letztere war die jüngste Schwester von Dr. Chaim Weizmann, dem späteren Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation und erstem israelischen Staatspräsidenten. Gerade zu den Weizmanns scheint Prüfer in den wenigen Wochen, die er im Winter 1914/15 vor dem Abmarsch zum ersten Suezfeldzug in Jerusalem verbrachte, enge Beziehungen aufgebaut zu haben. Jedenfalls schreibt er in seinen Tagebüchern von einem „rührenden Abschied [. . . ] besonders von Dr. Weitzmann[sic!]“;38 was in dieser Form ein Unikat darstellt. Ihrem Auftrag in Ägypten konnten alle drei nachkommen. Doch während Rothschild und Cohn zur Berichterstattung in Berlin eintrafen, begab sich Minna Weizmann nach Rom zu Botschafter von Bülow und wurde dabei von einem russischen Landsmann beobachtet. Nach ihrer Rückkehr in Ägypten verhafteten sie die Engländer zunächst, übergaben sie dann aber den Russen, die Weizmann nach Russland abschoben. Auf dem Weg dorthin soll sie die Möglichkeit gefunden haben, sich in einem Hotel in Bukarest einer Deutschen mitzuteilen, die wiederum die deutsche Botschaft in Konstantinopel über das Schicksal der 37 38

HIA, NL-CP, Tagebuch Weltkrieg Nr. 3, Einträge vom 9.6. u. 8.7.1916. Ebd., Eintrag vom 9.1.1915.

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Agentin informierte. Ob und wann Prüfer, dem sein Sohn später eine Affäre mit Minna Weizmann nachsagte, davon erfahren hat, lässt sich nicht genau sagen. Es ist aber anzunehmen, dass er es irgendwann wissen musste, da der Beamte am Bosporus, den die Deutsche mit ausdrücklichem Hinweis auf Prüfer informieren konnte, Kurt Ziemke war. Ihn traf Prüfer noch während des Krieges in Jerusalem und beide sollten auch nach dem Krieg gemeinsam Karriere im Orientreferat des Auswärtigen Amtes machen. Nach dem Krieg sollte auch Oppenheim von Faisal, als dieser im politisch und staatlich neu geordneten Nahen Osten König des Irak war, erfahren, was ihn zur Abkehr von Konstantinopel und Teilnahme am Araberaufstand im Jahr 1916 bewegt haben soll. Demnach waren vor allem die Hinrichtungen von arabischen Notabeln durch Djemal ausschlaggebend, deren Zeuge Faisal im Mai 1916 bei einem Besuch in Syrien wurde. Dass dies in dieser Unmittelbarkeit ausschlaggebend gewesen sein soll, ist eher zu bezweifeln. Nicht zu bezweifeln ist allerdings, dass das brutale Regime, das Djemal als Generalgouverneur und Chef der IV. Armee in Syrien 1915/16 aufbaute, auch für die Haschemiten eine existenzielle Bedrohung darstellen musste. Djemal war in dieser Zeit nicht nur maßgeblich in die Deportationen der Armenier verstrickt, sondern auch um Unterdrückung der arabischen Elemente bemüht, die er anti-türkischer und panarabischer Tendenzen verdächtigte. Dabei hatte er auch vor Hinrichtungen nicht zurückgeschreckt. Eine Stärkung des osmanischen Zentralstaates, wie es die deutsche Außenpolitik im Allgemeinen und auch Oppenheim im Besonderen von jeher wünschten, hätte vermutlich in der Folge über kurz oder lang auch das Ende für den ungeliebten Scherifen von Mekka bedeuten müssen. Um das Gewaltregime Djemals wusste aber nicht nur Faisal, sondern natürlich auch Prüfer, der schließlich in der ganzen Zeit Djemal zugeordnet war. Und auch Oppenheim, der sich seit Juni 1915 um die Etablierung der Nachrichtensäle in syrisch-palästinensischen Raum kümmerte und dabei ebenfalls in engem Kontakt zum Armeechef stand. In einem Bericht zur Persönlichkeit Djemals und den Vorbereitungen für den zweiten Suezfeldzug, tritt bei Oppenheim dabei genau jene Mixtur aus Mangel an Vorstellungsvermögen, naivem Optimismus und ideologischem Dogma hervor, die vermutlich auch schon in seinen Gesprächen mit Faisal vorherrschte und in scheinbarer Ermangelung von politischen Alternativen den Verlust jeglichen kritischen Standpunktes offenbaren. Zu Djemal heißt es dazu u. a., dass er ihn „nicht für grausam [halte], trotz seines gegenwärtig notgedrungenen Vorgehens gegen die Armenier.“ Darüber hinaus blieb Oppenheim von der Möglichkeit des Sieges im bevorstehenden Suezfeldzug überzeugt. Weniger in Kenntnis des Vorbereitungsstandes als vielmehr weil dies die letzte Chance war, den Krieg im Orient und dann auch in Europa doch noch zu eigenen Gunsten und in Erfüllung seiner Vision zu entscheiden. Von daher appellierte er auch an Berlin, alle notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit der

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„für die Beendigung des Krieges so notwendig[e]“ Sieg sichergestellt werde.39 Oppenheims Urteil über die Persönlichkeit Djemals fiel so überaus günstig aus, dass man sich auf der Botschaft in Konstantinopel genötigt sah, explizit darauf hinzuweisen, dass dies „von den meisten der mit ihm in näherer Berührung gekommenen deutsche Offiziere und Beamten nicht geteilt [wird]“ und vor allem die Zuverlässigkeit Djemals „stark bezweifelt“ werde.40 Gerade Letzteres bewog dann wohl auch Oppenheims Vorgesetzten im Auswärtigen Amt, Staatssekretär Gottlieb von Jagow, ihm die Rückkehr im September 1915 nach Deutschland zu verweigern und ihn stattdessen anzuweisen, für die Dauer der Vorbereitungen der Suezoffensive „in der Nähe des Hauptquartiers der IV. Armee bleiben“41 zu sollen. Ganz unabhängig vom Urteilsvermögen Oppenheims, wollte man nicht darauf verzichten, eigene Leute in Djemals Nähe zu wissen. Dazu zählte natürlich auch Prüfer. Während dieser weiterhin frei von jeglichem Optimismus war, auch was die Vorbereitungen des zweiten Suezfeldzuges angingen, so relativierte oder beschwichtigte Prüfer allerdings nicht nur die Gewaltpolitik Djemals, sondern war in diese persönlich involviert. Denn im Herbst 1915 bereiste er im Auftrag Djemals mehrere Wochen lang den syrisch-palästinensischen Raum, um „festzustellen, ob die innere politische Lage, vor allem die türkenfeindliche Stimmung der Araber, die Schaffung eines von den Zivilbehörden getrennten militärisch-politischen Sicherheitsdienstes notwendig mache.“ Prüfer kommt dabei zu einem negativen Ergebnis und „hält die Gefahr arabischer Umtriebe für zu gering, um Djemal zu ausserordentlichen Maßnahmen zu raten.“42 Dabei stützt sich sein Urteil auf genau jene Faktoren, die er zuvor schon für das Scheitern des Dschihads angeführt hatte und wieder die bekannte Kombination aus Feigheit, materieller Sinnesart und Tatenlosigkeit enthielt. In dieser Hinsicht war Prüfer genauso dogmatisch wie Oppenheim in seinem Glauben an den panislamischen Befreiungskrieg. Von der Einrichtung einer Sonderbehörde hielt Prüfer zwar nichts, bot Djemal aber an, die politischen Entwicklungen weiterhin zu beobachten. Auch dieser Bericht erzeugte eine Reaktion in Konstantinopel. Dabei rückte weniger Prüfers Auftrag an sich in den Fokus, sondern vielmehr das, was Prüfer darüber hinaus gemacht hatte. Nämlich eine Liste mit ca. 50 Namen an Djemal auszuhändigen, deren Entfernen – oder wenn man soll will Deportation – ins Hinterland er im Falle einer feindlichen Invasion Syriens empfahl. Das ging Metternich in dieser Form definitiv zu weit. Er teilte Prüfer umgehend mit, dass er dies für „höchst bedenklich“ halte: „Bei geringster Indiskretion könnte Bevölkerung Vorwurf erheben, daß wir rigorose Maßnahmen wie Vertreibung veranlaßt. Bitte in Zukunft Ihre Vorschläge für Djemal unter diesem Gesichtspunkt mit vorsichtiger Zurückhaltung abfassen.“43 39 40 41 42 43

PAAA, R21135, Oppenheim an Bethman Hollweg 9.8.1915. Ebd., Neurath an Bethmann Hollweg 23.8.1915. PAAA, R21136, Jagow an Oppenheim 26.9.1915. PAAA, R21138, Prüfer an Metternich 10.12.1915. Ebd., Metternich an Bethmann Hollweg 23.12.1915; Unterstreichung im Original.

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Was Djemal mit der Liste gemacht hat und vor allem was aus den entsprechenden Personen wurde, lässt sich nicht sagen. Bis Anfang Mai 1916 arbeitete Prüfer noch für Djemal an der Vorbereitung des zweiten Suezfeldzuges, dem Unternehmen „Pascha“, mit. Dann wechselte er zur Fliegerabteilung 300, die sich ebenfalls an dem Feldzug beteiligen sollte. Das Unternehmen „Pascha“ war im Gegensatz zum ersten Suezfeldzug nun tatsächlich mehr von militärischen als politischen Erwägungen geleitet. Nicht die Eroberung und Hoffnung auf einen Aufstand standen im Vordergrund, sondern das Errichten von strategischen Stellungen auf dem östlichen Ufer, um durch Beschuss das Passieren des Kanals zu unterbinden. Das Heranschaffen von schwerer Artillerie, Flugzeugen und diverser Spezialkräfte sowie der Ausbau von Eisenbahnstrecken sollten einen größeren Erfolg versprechen. Trotz aller Anstrengungen kam es aber erneut zu elementaren Verzögerungen, so dass der Vormarsch erst Mitte Juli 1916 beginnen konnte und damit in die absolut ungünstigste Jahreszeit fiel. Auch England hatte seine Lehren aus dem ersten Feldzug gezogen und rüstete nicht nur stark auf, sondern errichtete auch auf dem Ostufer des Kanals kilometertiefe Verteidigungslinien. Der zweite Feldzug scheiterte damit genauso wie der erste. Am 4. August 1916 wurden die angreifenden türkischen Truppen schon bei Romai, ca. 40 Kilometer vor dem Kanal, geschlagen. Damit war die Offensivkraft des Osmanischen Reiches im Sinai erschöpft und ermöglichte nun den englischen Truppen ihrerseits in die Offensive zu gehen, deren stetes Vorrücken mit der Eroberung Jerusalems im Dezember 1917 endete. An dem kurzen Feldzug nahm Prüfer krankheitsbedingt nicht teil. Seine Stellung als Nachrichtenoffizier bei Djemal musste er aufgeben, weil das Nachrichtenwesen mittlerweile ausschließlich von Türken bearbeitet wurde. Am 18. August 1916 reichte er noch einen Abschlussbericht zu „Pascha“ und der politischen Gesamtsituation bei Weber in Konstantinopel ein. Prüfer rechnete nun mit einer steten englischen Offensive Richtung Syrien und in Arabien, ohne dabei „allzu viel Vertrauen“ in die eigene „Defensivstellung“ zu besitzen. Er erneuerte dabei nicht nur seine Kritik an dem Versuch, mit „untauglichen Mittel eine Aufgabe zu lösen, deren Lösung weit über unsere Kräfte ging“, sondern stellte auch klar, was durch den Araberaufstand nunmehr zu erwarten sei: „Mit dem Verluste von Mekka ist der schon früher recht problematische heilige Krieg jedenfalls ganz zur Farce geworden und wird sich höchstens noch gegen Konstantinopel kehren.“44

Prüfer sollte damit in Gänze Recht behalten. Auch Oppenheim hätte dem wohl ausdrücklich zugestimmt. Es war das politische Negativ seiner orientpolitischen Konstruktion, die genauso handlungsleitend war, wie die Chimäre des panislamischen Befreiungskampfes. Nach zwei Jahren ununterbrochener Arbeit in den verschiedensten Bereichen, war Prüfer damit nicht nur gesundheit44

PAAA, R20099, Prüfer an Weber 18.8.1916.

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lich, sondern letztlich auch politisch am Ende. In der Konsequenz bat er Weber gleichzeitig darum, nunmehr seinen ersten Fronturlaub antreten zu dürfen.

Leiter der „Nachrichtensaal-Organisation“ Mehrere Monate verweilte Prüfer in Deutschland, bevor er noch einmal in das Osmanische Reich zurückkehrte. Denn als nicht-reguläres Mitglied des Auswärtigen Dienstes war seine weitere Verwendung, um die Prüfer trotz Allem nachsuchte, schwieriger als üblich zu realisieren. Die NachrichtensaalOrganisation und Oppenheims Bemühungen um deren Privatisierung im Winter 1916/17 schufen dahingehend Abhilfe. Botschafter Kühlmann, der Metternich in Konstantinopel folgen sollte, forderte Prüfer für die Vorortarbeiten zur Umwandlung der Nachrichtenstelle im Januar 1917 ausdrücklich an. Die Verhandlungen zwischen dem Auswärtigen Amt und der Deutschen Überseedienst GmbH in Hamburg, die die NO übernehmen wollte, zogen sich jedoch in die Länge. Prüfer, der als Leiter der neuen NO vorgesehen war, wartete ungeduldig auf seine Abreise, da er eine zweimonatige Inspektionstour durch die Provinzsäle als Bedingung für die Aufnahme seiner leitenden Tätigkeit betrachtete. Obwohl die Verhandlungen immer noch nicht abgeschlossen waren, reiste Prüfer am 14. März 1917 nach Konstantinopel und übernahm fünf Tage später offiziell die Leitung, vor allem um den weiteren Betrieb der NO in gewohnter Form aufrecht zu halten. Mitte Mai begann Prüfer seine große Revisionstour. Nach sechs Wochen quer durch Syrien kam er im mesopotamischen Mossul an, wo er an Pappataci-Fieber erkrankte, wie sich überhaupt seine Tagebuch-Aufzeichnungen dieser Reise als eine Ansammlung von Erkrankungen und körperlichen Leiden lesen. Die intensiven Jahre im Orient waren gesundheitlich nicht ohne Folgen geblieben. Am 18. Juli 1917 kehrte er schließlich nach Konstantinopel zurück. Seine Arbeit für die NO verrichtete in den Folgemonaten ohne nennenswerte Vorkommnisse im routinierten Gang. Als im Oktober 1917 der ägyptische Khedive Abbas Hilmi II., der die letzten drei Jahre im Schweizer Exil verbrachte, zum ersten Mal wieder Konstantinopel besuchen sollte, wurde Prüfer, der den Khediven aus seiner Kairoer Zeit gut kannte, dem Besuch beigeordnet. Auch im Sommer 1918, als der Khedive nach Deutschland reiste und u. a. die Westfront besichtige und Kaiser Wilhelm II. in Spa traf, gehörte Prüfer zu dessen Entourage. Nach Kriegsende beerbte er Eugen Mittwoch schließlich noch als Leiter der „Nachrichtenstelle für den Orient“ in Berlin und wickelte deren Übergang zum „Deutschen Orient Institut“ ab. Prüfer war auch hierfür der ideale Vertrauensmann, der sich stets mit ganzer Kraft engagierte, wenn gleich er auch deutlich weniger von Oppenheims Idealismus besaß. Im letzten Kriegsjahr und im Kontext der substanziellen Spannungen zwischen Berlin und Konstantinopel bzgl. des türkischen Expan-

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sionismus im Kaukasus, rückte Prüfer endgültig von den Türken ab, wie er bereits im ersten Kriegsjahr den ohnehin nur partiellen Glauben an einen großen panislamischen Befreiungs- und Unabhängigkeitskrieg insbesondere mit Blick auf die Araber aufgegeben hatte. Im Juni 1918 erfuhr er von Werner Otto von Hentig, mit dem er in dieser Zeit viel zusammen war, von einem angeblichen separaten Friedensangebot der Engländer an die Türkei, wonach London u. a. die türkischen Kriegsanleihen übernehmen und Syrien, Arabien und Mesopotamien zu „autonome[n] türk. Suzeränstaaten“ werden würden, wenn Konstantinopel dafür auf seine Interessen in Ägypten und Persien verzichtete. Bernstorff, der Kühlmann als Botschafter in Konstantinopel folgte, hielt dies für eine „türk. Chantage“, also einen Erpressungsversuch gegenüber Deutschland. Prüfer aber, so scheint es, wollte an die Echtheit glauben. Denn so könnte man deutscherseits, wie er empfahl, nun mit einem eigenen Angebot an England herantreten: „Wir sollten England auf gr. Basis Vorschlag machen. Teil[un]g der Türkei in 2 Sphären, arabische für England, turanische (Nordpersien, Turkestan) deutsch.“45

Damit hatte Prüfer das Projekt eines antikolonialen oder antiimperialen Aufstandes, wofür er sicherlich in der ganzen Zeit schon nicht als der ideelle Repräsentant gelten konnte, endgültig ad acta gelegt. Jetzt plädierte er ganz offen für einen klassischen europäischen Imperialismus des Teilens und Herrschens. Doch als Wilson seine 14 Punkte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamierte, erinnerte sich auch Prüfer wieder der Wurzeln seiner politischen Sozialisation. Im Kontext der ägyptischen Revolution von 1919, also quasi dem tatsächlichen, so lange erwünschten, für das Deutsche Reich aber zu spät kommenden Aufstand gegen die Engländer, verfasste Prüfer einen Artikel, der leidenschaftlich für die „stets [. . . ] starke Unabhängigkeitsbewegung“ Partei ergriff und gegen einen „kaltherzigen Imperialismus und Kapitalismus“ in Ägypten historisch-politisch Stellung bezog.46 Ohne dabei mit einem Wort auf Deutschlands Rolle im Weltkrieg einzugehen, lässt sich der Text, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den politischen Folgen der deutsche Niederlage, doch als eine nachträgliche – in Bezug auf sein Wirken zwischen 1914 und 1918 – moralische Legitimierung des eigenen Handelns interpretieren, die Prüfer am Ende wieder näher an Oppenheim heranführte und die Idee eines antikolonialen Befreiungskampfes der vom europäischen Imperialismus beherrschten Völker im Allgemeinen auch für die Zukunft nicht völlig ausschloss.

45 46

HIA, NL-CP, Tagebuch Weltkrieg Nr. 5, Eintrag vom 30.6.1918. PAAA, NL-Prüfer, Nr. 919-7.

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Der Gegenspieler im Hintergrund: Josef Pomiankowski und die antideutsche Orientpolitik Österreich-Ungarns 1914–1918 Es war das Jahr 1927 als im Wiener Amalthea-Verlag unter dem Titel „Der Zusammenbruch des ottomanischen Reiches“1 das Buch eines pensionierten polnischen Generals erschien. Josef2 Pomiankowski war allerdings kein x-beliebiger Militär, der außer belanglosen Kriegserinnerungen wenig zu sagen gehabt hätte. Während des gesamten Ersten Weltkrieges war er österreichischungarischer Militärbevollmächtigter in Konstantinopel und daher mit den Ereignissen im Orient bestens vertraut. Sein Buch wurde so zu einer der wichtigsten Quellen für Historiker, die sich mit der Geschichte des Bündnisses der Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich beschäftigten. Umso erstaunlicher ist es, dass über Pomiankowski selbst so gut wie nichts bekannt ist.3 In Konstantinopel ist er nämlich nicht nur Beobachter für und Berichterstatter an seine Regierung gewesen – nein, Pomiankowski war noch vor dem k.u.k. Botschafter bei der Pforte einer der wichtigsten Drahtzieher österreichischer Politik auf dem Balkan und im Vorderen Orient. Er war dabei nicht nur als Militär tätig, er vereinte vielmehr in seiner Person den Offizier und den Geheimdienstler mit dem Propagandisten, Kulturbotschafter und Wirtschaftsfachmann. Die österreichisch-ungarische Politik im Osmanischen Reich wurde zwischen 1914 und 1918 im Wesentlichen vor Ort entworfen und umgesetzt. Das war möglich, weil mit Josef Pomiankowski eine außergewöhnliche Persönlichkeit im österreichischen Dienst stand, die zum einen weit über ihren eigentlichen militärischen Wirkungskreis hinaus interessiert und befähigt war, zum anderen aber auch den Willen hatte, politisch zu handeln und zu führen. Pomiankowski gelang es dabei nicht nur, sich intern gegen vielfältige Widerstände durchzusetzen, er vermochte auch, die militärischen, geheimdienstlichen, wirtschaftlichen und propagandistisch1 2

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Joseph Pomiankowski, Der Zusammenbruch des ottomanischen Reiches. Wien u. a. 1927. Für den Vornamen Pomiankowskis finden sich in den Quellen verschiedene Schreibweisen. In seinem Buch erscheint „Joseph“. In den österreichisch-ungarischen Akten „Josef “ sowie „Joseph“, in den polnischen Akten der Nachkriegszeit durchgängig „Józef “. Im Folgenden wird „Josef “ verwendet. Dürre, gelegentlich auch fehlerhafte Informationen, die über die Lebensdaten kaum hinausgehen, finden sich in: Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 8, Lieferung 37, 1980, S. 190. Polski Słownik Biograficzny. Band 27, Breslau etc. 1983, S. 382f. Henryk P. Kosk, Generalicja Polska. Band 2, Pruszków 2001, S. 93.

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kulturpolitischen Aktivitäten der Donaumonarchie zu institutionalisieren und sie letztlich unter seine Kontrolle zu bringen. Das geschah sehr unauffällig, aber außerordentlich effektiv. Die österreichisch-ungarische Politik im Osmanischen Reich hätte möglicherweise ohne Pomiankowski inhaltlich und in ihrer materiellen Ausformung eine völlig andere Form angenommen. Pomiankowski als Person wurde dabei bereits von seinen Zeitgenossen nur wenig wahrgenommen. In der umfangreichen deutschsprachigen Memoirenliteratur, die nach 1918 über den Krieg im Orient entstand, erschien sein Name so gut wie nie.4 Sein Buch jedoch wurde intensiv besprochen. Der Turkologe Herbert W. Duda verfasste etwa 1929 eine bemerkenswerte Rezension in der „Orientalischen Literaturzeitung“, in der ein Gedanke ausgesprochen wurde, den man für das Folgende als Leitmotiv bezeichnen könnte.5 Duda konstatierte nämlich eine antideutsche, ausschließlich von eigenen Interessen geleitete Politik der Donaumonarchie im Osmanischen Reich während des Weltkrieges. Daraus – also aus der Annahme einer antideutschen Politik Österreich-Ungarns im Vorderen Orient zwischen 1914 und 1918 – ergeben sich eine Reihe von Fragen: Wie kam es, dass ein Militär letztlich die gesamten Aktivitäten der Doppelmonarchie in der Türkei nicht nur leitete, sondern auch maßgeblich in einem antideutschen Sinn inspirierte? Wie agierte er in einer multinationalen Umgebung, die nicht nur durch die Auslandssituation gegeben war, sondern auch durch den Charakter der Donaumonarchie als multiethnischer Staat? Auf welche Mittel und Methoden setzte Österreich-Ungarn im Kampf um Einfluss im Osmanischen Reich, und sind die entsprechenden Schwerpunkte möglicherweise durch die Person Pomiankowskis zu erklären? Die Quellen, die zur Beantwortung dieser Fragen herangezogen werden können, sind begrenzt. Es sind kaum Egodokumente Pomiankowskis, also Privatbriefe, Tagebücher und dergleichen, erhalten geblieben. Ein Nachlass in öffentlichen Archiven existiert nicht, sollte sich ein solcher in Privathand befinden, ist er nicht bekannt.6 Wer Pomiankowskis Leben nachzeichnen will, muss sich also mit seiner dienstlichen Korrespondenz, seinem Buch sowie Unterlagen aus deutschen und polnischen Archiven über seine Tätigkeit behelfen.

1. Ins Leben gefallen: Ein k.u.k. Offizier wird gemacht Seine Lebensstationen hat Josef Pomiankowski in den zwanziger Jahren selbst einmal aufgezeichnet – auf einem Formular für die Personalabteilung des 4

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Eine Ausnahme stellen die von Friedrich v. Rabenau postum herausgegebenen Erinnerungen Hans v. Seeckts dar. Vgl. Friedrich v. Rabenau, Seeckt. Aus seinem Leben. Leipzig 1941, S. 45f. Orientalische Literaturzeitung. Nr. 8/9, 1929, S. 692f. Zumindest verlief die Suche bisher erfolglos. Der Autor ist für Hinweise auf eventuell doch existierende Quellen solcher Art dankbar.

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Kriegsministeriums der Zweiten Polnischen Republik.7 Danach wurde er am 23. November 1866 im Galizischen Jaroswał geboren. Mit zehn Jahren trat er in die Militär-Unterrealschule in Güns (Köszeg, Ungarn) ein, durchlief diese in der Regelschulzeit von vier Jahren, um dann weitere drei Jahre auf der Militär-Oberrealschule in Mährisch Weißkirchen (Hranice na Moravě, heute Tschechien) zu verbringen. Diese schloss er mit gutem Erfolg ab, so dass Pomiankowski zwischen 1883 und 1886 die technische Militärakademie in Wien besuchen konnte. Sein Offizierspatent als Leutnant erhielt er schließlich 1886 mit 19 Jahren. Pomiankowski wurde danach zur Kavallerie kommandiert und diente drei Jahre in einem Ulanen-Regiment. Auch dort scheint sich der junge Leutnant bewährt zu haben – ab Oktober 1890 besuchte er nämlich 24 Monate lang die Kriegsschule in Wien. An dieser prestigeträchtigsten militärischen Bildungsanstalt der Donaumonarchie erhielt Pomiankowski eine Generalstabsausbildung. In den folgenden Jahren durchlief er verschiedene Verwendungen als Generalstabsoffizier und Truppenkommandeur. Bis zum Jahr 1901 handelt es sich bei ihm also um einen begabten jungen Offizier, dessen Karriere planmäßig und ganz im Rahmen der gewöhnlichen Laufbahn eines leistungsstarken k.u.k. Offiziers verlief und die ganz sicher irgendwann mit der Pensionierung im Obersten- oder gar Generalsrang zu Ende gegangen wäre. Seine Loyalität zum Herrscherhaus stand außer Frage und so trat Pomiankowski schließlich mit 34 Jahren am 1. November 1901 einen der brisantesten Posten an, den es im österreichisch-ungarischen Militär zu dieser Zeit gab: Er wurde Militärattaché in der serbischen Hauptstadt Belgrad.

2. In die weite Welt gefallen: Bewährung auf dem Balkan Josef Pomiankowski blieb sechs Jahre in Serbien und erlebte dort nach der Ermordung König Milan Obronovics und Königin Dragas im Jahr 1903 eine Zeit des vollkommenen Umbruchs zu einem Habsburg-feindlichen Kurs. Dabei fällt auf, dass er sich vergleichsweise intensiver mit wirtschaftlichen, politischen und propagandistischen Aufgaben befasste als mit rein militärischen Sachverhalten. Darüber hinaus war Pomiankowski nicht nur Berichterstatter und Beobachter – er entwickelte selbst Handlungskonzepte und setzte sie auch um. Zunächst präsentierte sich Pomiankowski als politischer Denker, der alle Aspekte eines Vorgangs bewerten konnte und sich dabei nicht auf militärische Fragen beschränkte. So beobachtete er beispielsweise intensiv die Annäherung 7

Karta kwalifikacyjna dla Komisji Weryfikacyjnej. Centralne Archiwum Wojskowe, Warschau. Kol. Gen. i Osob, Pomiankowski Józef.

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Serbiens an Bulgarien, die 1904 schließlich zu einem Bündnisvertrag führte. In einem Bericht, der auch von Kaiser Franz-Joseph selbst eingesehen wurde8 , beschrieb Pomiankowski zunächst die politische Atmosphäre zwischen Serbien und Bulgarien, bevor er sich dem geplanten Abkommen zwischen den beiden Staaten und seiner Bewertung widmete. Dabei standen nicht etwa militärische Erwägung im Vordergrund – sondern wirtschaftliche. Das Projekt einer Zollunion hielt Pomiankowski für unrealistisch. Dadurch würden bulgarische Rohprodukte serbischen auf dem europäischen Markt Konkurrenz machen. Darüber hinaus würde kein europäischer Staat mehr Handelsverträge mit Serbien abschließen, wenn dabei automatisch auch Bulgarien mit im Boot sei. Sein Fazit: „Daraus folgt, daß die Idee der Zollunion im gegenwärtigen Zeitmoment undurchführbar ist und daher eine Utopie genannt werden kann.“9 Gleiches gelte für eine militärische Allianz, die in jedem Falle auf unrealistischen Annahmen beruhe. Pomiankowski glaubte nicht an die Dauer eines solchen Abkommens und sah auf serbischer Seite innenpolitische Motive hinter der Annäherung an Bulgarien: „Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man die Erklärung dieser neuen Richtung in der serbischen Republik zum großen Theil dem Bestreben des Königs zuschreibt, den ganzen panslavistischen Chauvinismus und die Feindschaft der Serben gegen unsere Monarchie zur Befestigung seiner eigenen Stellung im Lande auszunützen.“10

Mit seiner Analyse hatte Pomiankowski ganz recht: Schon 1907 hatten sich die bulgarisch-serbischen Gegensätze wegen des Streits um Mazedonien wieder so zugespitzt, dass die Übereinkunft von 1904 keine Rolle mehr spielte.11 Eine feine Beobachtungsgabe für Politiker, ihre Persönlichkeiten, ihre Stärken und Schwächen sowie eine Begabung für die Analyse politischer Netzwerke zeigten darüber hinaus Pomiankowskis Berichte anlässlich von Ministerernennungen oder Kabinettsumbildungen.12 In Belgrad wurde Pomiankowski erstmals mit wirtschaftlichen Fragen konfrontiert. In den Jahren 1904/1905 hatte sich die serbische Armee entschlossen, ihre Artillerie mit modernen Schnellfeuergeschützen auszurüsten. Um diesen Auftrag begannen verschiedene französische, britische, deutsche und österreichische Firmen zu konkurrieren. Untrennbar verbunden mit der Frage, welches Geschütz die Serben letztlich beschaffen, war die Frage nach der Finanzierung der Lieferung. Hier ging es um die Vermittlung einer Anleihe, die dem Geldgeber nicht unerheblichen Einfluss auf die serbische Politik verschafft hätte.13 Pomiankowski agierte von Anfang an als Sachwalter 8

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Pomiankowski an Generalstabschef Friedrich v. Beck-Rzikowsky, 13. Mai 1904, in: Andrija Radenic (Hrsg.), Österreich-Ungarn und Serbien 1903–1918. Dokumente aus Wiener Archiven, II, 1904. Belgrad 1973, S. 340–343. Ebd., S. 342. Ebd. Vgl. Richard C. Hall, The Modern Balkans. A History. London 2011, S. 73. Siehe bspw. Pomiankowski an Beck, 10. Februar 1904, in: Radenic, II, 1904, S. 114–116. Erstmals berichtete Pomiankowski im Mai 1904 über die entsprechenden Pläne: Pomi-

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und Interessenvertreter der österreichisch-ungarischen Firma Skoda und verschiedener Banken der Donaumonarchie. Die Leitung der Pilsener SkodaWerke kommunizierte direkt mit Pomiankowski. Dabei wurden Informationen ausgetauscht sowie Strategien zwischen den k.u.k. Regierungsstellen im Ausland und dem Privatunternehmen abgestimmt. Pomiankowski scheint in dieser Zeit für Skoda fast so etwas wie ein inoffizieller Firmenrepräsentant gewesen zu sein, der auch direkt zu Gunsten des Pilsener Konzerns tätig geworden ist.14 Er intervenierte sogar beim serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pašič und versuchte, ihn in einem persönlichen Gespräch von den Vorzügen der Skoda-Geschütze und den Nachteilen der Krupp’schen und Creusot’schen Konstruktionen zu überzeugen.15 Ihm gelang es jedoch nicht, für Skoda einen Erfolg zu erzielen. Die politische Lage, das heißt die zunehmenden Differenzen zwischen Serbien und Österreich-Ungarn, sowie die grundlegende antiösterreichische Orientierung der Pašič-Regierung ließen ein solches Geschäft mit Österreich für Serbien nicht opportun erscheinen. Weitere wichtige wirtschaftliche Aspekte der Tätigkeit Pomiankowskis waren die serbischen Versuche, Anleihen16 im Ausland zu platzieren sowie der Bahnbau17 im Land. Beides stand in engem Zusammenhang miteinander, mussten die Bahnen – wie auch die Aufrüstung des Landes – doch über Kredite finanziert werden, denn in Serbien selbst mangelte es an Kapital. Pomiankowski befürwortete vehement das Engagement österreichisch-ungarischer Banken und vertrat diese Ansicht auch gegenüber den Zentralstellen in Wien.18 Die Erfahrungen Pomiankowskis mit Banken, der Rüstungsindustrie und der Bürokratie eines Staates wie Serbien kamen ihm wenige Jahre später zugute, denn in seiner Zeit als Militärbevollmächtigter in Konstantinopel waren es erneut Rüstungsgeschäfte und Finanztransaktionen, die einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen sollten. Die Jahre in Belgrad waren aber auch eine Zeit, in der Pomiankowski sich darin übte, die öffentliche Meinung seines Gastlandes zu beeinflussen. Das Verfassen von Stimmungsbildern und die Pressebeobachtung gehörten da-

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ankowski an Beck, 25. Mai 1904, in: Radenic, II, 1904, S. 357f.; vgl. für Pomiankowskis weitere Tätigkeit in dieser Sache ders. an Beck, 2. Januar 1905, in: Andrija Radenic (Hrsg.), Österreich-Ungarn und Serbien 1903–1918. Dokumente aus Wiener Archiven, III, 1905. Belgrad 1985, S. 17f. Vgl. Generaldirektor der Skodawerke, Georg Günther, an den Militärattaché in Belgrad, Pomiankowski, 19. Dezember 1904, in: Radenic, II, 1904, S. 683f.; Pomiankowski an Beck, 6. März 1905, in: Radenic, III, 1905, S. 119–122; ders. an Beck, 18. April 1905, in: ebd., S. 225; Georg Günther, Generaldirektor der Skodawerke, an Pomiankowski, Briefe vom 6. und 19. Juni 1905, in: ebd., S. 311f. Pomiankowski an Beck, 23. Januar 1905, in: ebd., S. 65f. Vgl. ders. an Beck, 30. Mai 1904, in: Radenic, II, 1904, S. 370–372. Eine umfangreiche Analyse der serbischen Bahnpläne legte Pomiankowski schon 1904 vor: ders. an Beck, 26. Mai 1904, in: ebd., S. 358–362; vgl. zum Bahnbau und der Finanzierung auch ders. an Beck, 1. September 1904, in: ebd., S. 454–456. Ders. an Beck, 26. Oktober 1904, in: ebd., S. 563–565.

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mals bereits zu den Aufgaben der Militärattachés.19 Pomiankowski allerdings ging auch hier einen Schritt weiter. Er beobachtete nicht nur und analysierte messerscharf die Gründe für eine bestimmte Haltung der Presse20 , er begann selbst aktiv zu werden, selbst Schritte zu unternehmen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch diesen Aspekt seiner Tätigkeit entwickelte er wenig später im Osmanischen Reich zur Meisterschaft. In Belgrad begann Pomiankowski, seine Unterstützung für die österreichisch-ungarische Rüstungsindustrie propagandistisch zu flankieren. In erster Linie betraf dies die von Serbien gewünschten Geschützkäufe. Im Januar 1905 berichtete er so zum Beispiel nach Wien: „Um die Krupp-Kanone nach Möglichkeit zu discreditieren, sorge ich in unauffälliger Weise dafür, dass die Resultate der vorjährigen Erprobung [...] allgemein bekannt werden. Bei dieser Gelegenheit zertrümmerte nämlich das nach dem Schuß zurücklaufende Rohr die Kupplung zwischen demselben und der Rücklaufbremse.“21

Auch um die serbische Regierung dazu zu bringen, Vergleichsversuche mit den verschiedenen Geschützmodellen durchzuführen, mobilisierte Pomiankowski die öffentliche Meinung. Das serbische Kriegsministerium hatte sich nämlich entschieden, die Aufträge ohne solche Versuche zu vergeben, während sich Skoda gute Chancen ausrechnete, in Vergleichsversuchen die Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Pomiankowski ging es in dieser Frage darum, eine der wichtigsten Zeitungen des Landes, das den Königsmördern nahestehende nationalistische „Mali Žurnal“ zur Unterstützung dieser Versuche zu überreden. Dafür musste er einen Köder anbieten. Er wusste, dass es das wichtigste Anliegen der Verschwörer-Clique war, die internationale Isolation ihres Landes nach dem Regizid zu durchbrechen und den neuen König Peter gleichberechtigt in den Kreis der europäischen Monarchen einzuführen. Pomiankowski ließ also einen seiner Agenten in einem Gespräch mit einem hochrangigen Königsmörder Andeutungen machen, die darauf hinzuweisen schienen, dass Österreich-Ungarn möglicherweise bereit sei, die Isolation der neuen serbischen Führung zu beenden22 – und hatte Erfolg. Die Zeitung der Verschwörer änderte tatsächlich ihren Kurs und trat in der Folge für Artillerie-Vergleichsversuche ein.23 Wiewohl die Versuche aus anderen Gründen nie stattfanden, ist doch das Vorgehen Pomiankowskis so raffiniert wie bemerkenswert. Geschicklichkeit bewies der Militärattaché auch beim Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel zur Informationsgewinnung. In jenen Jahren wurden der Balkan, und insbesondere das noch immer osmanische Mazedonien, von einer Welle des Terrorismus überrollt. Bulgaren, Serben und Griechen erhoben An19 20 21 22 23

Vgl. Alexander Will, Kein Griff nach der Weltmacht. Geheime Dienste und Propaganda im deutsch-österreichisch-türkischen Bündnis. Köln u. a. 2012, S. 39f. Vgl. bspw. Pomiankowski an Beck, 4. Oktober 1904, in: Radenic, II, 1904, S. 513–515. Pomiankowski an Beck, 2. Januar 1905, in: Radenic, III, 1905, S. 19. Ders. an Beck, 23. Januar 1905, in: ebd., S. 66. Ders. an Beck, 15. September 1905, in: ebd., S. 442.

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sprüche auf diese Region und rüsteten terroristische Banden aus, die gegen die anderen Volksgruppen sowie die osmanische Staatsmacht in Mazedonien mit brutaler Gewalt vorgingen.24 In den Jahren 1904 und 1905 war es eine Haupttätigkeit Pomiankowskis, die Aufstellung und Ausrüstung solcher Terrorgruppen durch die serbische Regierung zu beobachten und über ihre Tätigkeit in Mazedonien nach Wien zu berichten.25 Er stützte sich dabei auf ein Netz vertraulicher Informanten in den verschiedenen revolutionären Komitees, über das es ihm sogar gelang, an Operationspläne einzelner Gruppen zu gelangen.26 Er identifizierte darüber hinaus auch eine Bedrohung Bosnien-Herzegowinas durch serbische Terroristen und deckte die entsprechenden Netzwerke auf.27 Diese nachrichtendienstlichen Erfolge gaben den Österreichern Gelegenheit zu Gegenmaßnahmen und brachten dem Militärattaché Lob ein. In einem Privatbrief eines Hauptmanns des Evidenzbüros des Generalstabes, des militärischen Geheimdienstes Österreich-Ungarns, an Pomiankowski heißt es: „Deine Berichte, verehrter Herr Major, über das Comité-Treiben, besonders mit Bezug auf Bosnien, haben das höchste Interesse erregt [...] Hoffentlich beginnen die Serben die Action wirklich, damit sie sich tüchtig die Finger verbrennen.“28

Der loyale habsburgische Pole, der sich in schwierigen Zeiten in einer explosiven Gegend Europas bewährt hatte, war so nach einem kurzen Intermezzo bei der Truppe bald reif für einen noch verantwortungsvolleren Posten. Er wurde als Militärattaché an einen Brennpunkt der Weltpolitik versetzt: ins Osmanische Reich, nach Konstantinopel.

4. In den Sturm gefallen: Der Erste Weltkrieg im Orient Am 1. November 1909 trat der nunmehrige Oberst Josef Pomiankowski seinen Dienst in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches an. Der 42-Jährige hatte inzwischen geheiratet. Pomiankowski hatte zwei Töchter, die 1904 und 1905 zur Welt kamen.29 Es scheint, dass Pomiankowskis Familie nur zeitweise in Konstantinopel gelebt hat. Bei Kriegsausbruch im August 1914 befanden sich seine Frau und die beiden Töchter in Lemberg. Pomiankowski schickte sie von dort nach Wien, da er die russische Offensive in Galizien voraussah.30 Eine Erklärung für das oft separierte Familienleben mag darin liegen, dass die Lebenshaltungskosten für Diplomaten im Ausland recht hoch waren, was ins24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Hall, Balkans, S. 71f. Siehe beispielhaft Pomiankowski an Beck, 5. März 1904, in: Radenic, II, 1904, S. 189–191. Pomiankowski an Beck, 15. Februar 1904, in: ebd., S. 28f.; ders. an Beck, 18. Februar 1904, in: ebd., S. 135–137. Ders. an Beck, 18. Februar 1904, in: ebd., S. 134f. Hauptmann Hranlilović an Pomiankowski, 21. Februar 1904, in: ebd., S. 143f. Polski Słownik Biograficzny, S. 383. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 70f.

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besondere auch für Konstantinopel galt. Diplomaten und entsandte Offiziere, die nur auf ihren Sold angewiesen waren, konnten sich daher oft nicht leisten, ihre Familien bei sich zu haben.31 Es war eine turbulente Zeit am Goldenen Horn. Im Jahr zuvor hatten die Jungtürken den absolutistisch herrschenden Sultan Abdulhamid gestürzt. Die inneren Unruhen im Osmanischen Reich benutzte Österreich-Ungarn, um Bosnien und die Herzegowina, die bereits unter Verwaltung der Donau-Monarchie standen, zu annektieren. Eine internationale Krise folgte, die Österreich-Ungarn international isoliert durchstehen musste. Selbst der Verbündete Deutschland goutierte den Gebietszuwachs keineswegs, fürchtete Berlin doch um das fragile politische und militärische Gleichgewicht auf dem Balkan. Kaiser Wilhelm II. bezeichnete das österreichische Vorgehen als „Fähnrichsstreich“.32 Im Osmanischen Reich erlitt der Handel ÖsterreichUngarns durch einen mehrere Monate dauernden Boykott österreichischer Waren und Unternehmen schweren Schaden. All das hatte insbesondere an den österreichisch-ungarischen Botschafter, den Markgrafen Pallavicini, höchste Anforderungen gestellt. Dieser galt als einer der profiliertesten Diplomaten der Donaumonarchie. Kurz vor dem Tod Aehrentals führte er sogar vertretungsweise das Ministerium des Äußeren.33 Pomiankowski und Pallavicini scheinen leidlich miteinander ausgekommen zu sein, allerdings gab es durchaus auch Differenzen grundsätzlicher Art. Wie noch gezeigt werden wird, sahen die Diplomaten vor allem die wirtschaftlichen Aktivitäten Pomiankowskis äußerst ungern. Der Militärbevollmächtigte seinerseits kritisierte wiederholt Pallavicinis Pessimismus bezüglich der Zukunft des Osmanischen Reiches, aus der dieser auch gegenüber seinen Vorgesetzten übrigens niemals einen Hehl machte.34 Trotz dieser Differenzen harmonierte das österreich-ungarische Personal in Konstantinopel in der Regel recht gut miteinander. Botschaft und der Apparat des Militärbevollmächtigten boten dabei in nationaler Hinsicht ein Spiegelbild der Donaumonarchie: In Pomiankowskis eigenem Büro gab es Deutsche, Ungarn und Tschechen. Pallavicini entstammte einer italienischen Familie. Pomiankowski war Pole. Der erste Botschaftsrat Graf Trauttmannsdorf Deutsch-Österreicher. „Botschaftsrat war noch Ivan Graf Csekonics, Ungar, Legationsrat Herr von Panfili, Italiener, Botschaftssekretäre Herr von 31

32

33 34

Das galt zu Beginn seiner Karriere auch für den nachmaligen k.u.k. Botschafter in Konstantinopel, Johann Markgraf Pallavicini; vgl. Erich Würl, Die Tätigkeit des Markgrafen Pallavicini in Konstantinopel 1906–1914. Wien 1951, S. 5. Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, in: Wolfram v. Herwig (Hrsg.), Österreichische Geschichte 1804–1914. Wien 1997, S. 563. Vgl. Würl, Tätigkeit, S. 60. Vgl. Privatschreiben Pomiankowskis an den Generalstabschef Arz v. Straußenburg, 16. Dezember 1917, in: Kriegsarchiv (KA), Wien, Armeeoberkommando (AOK), Operationsabteilung (Op. Abt.), Op. Geh., Karton 463.

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Grigorcea, Rumäne und Baron Biegeleben, Deutscher, Attachés Herr von Hevesy, Ungar, und Baron Malfatti, Italiener; Konsul war Herr Csurcsin, ein Serbe, und Konsularattaché Herr Bedřich Stepanek, Tscheche.“35 Betrachtet man nun die fast neunjährige Tätigkeit Pomiankowskis im Osmanischen Reich, fällt erneut, wie schon in Belgrad, ein besonderer Charakterzug dieses Offiziers auf. Er war nicht nur Militär, sondern auch ein strategischer, politischer Denker, der dabei auch wirtschaftliche Gesichtspunkte im Auge hatte. Es ist wahrscheinlich, dass Pomiankowski genau wegen dieser Fähigkeiten für den wichtigen Posten am Bosporus ausgewählt worden war, obwohl seine Berufung erst nach heftigen Auseinandersetzungen im Generalstab zu Stande kam, die ihre Ursachen in Ressortstreitigkeiten hatten.36 Die Militärattachés Österreich-Ungarns berichteten in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs direkt an den Chef des Generalstabes. Zwischen 1906 und 1911 und erneut von 1912 bis 1917 war das Franz Conrad von Hötzendorf. Nach Pomiankowskis eigener Erinnerung legte dieser bei der Berufung der militärischen Auslandsvertreter besonderen Wert auf politisches Urteilsvermögen: „Er erachtete es als unbedingt notwendig, über die auswärtige Politik der Monarchie genau orientiert zu sein und verfügte – um Konflikte mit dem Ministerium des Äußeren zu vermeiden – ihm in Privatbriefen regelmäßig über alle laufenden politischen Angelegenheiten zu berichten.“37

Pomiankowski dürfte das entgegengekommen sein, hatte er doch schon in Belgrad intensiv an den politischen Geschehnissen Anteil genommen und sich von der Beschränkung auf das Militärische emanzipiert. Dass die Wiener Zentralstellen eine gute Wahl getroffen hatten, zeigte sich spätestens im Sommer 1914, als es darum ging, auf welcher Seite das Osmanische Reich in den Krieg eintreten würde. So sagte Pomiankowski ganz richtig die Strategie einer zunächst hinhaltenden Neutralität der Türkei voraus und schätzte auch ihre militärische Kapazität richtig ein.38 Strategisch betrachtete Pomiankowski den Balkan und den Vorderen Orient als maßgebliche Region für die Zukunft Europas und der Donau-Monarchie. Das galt insbesondere für die Zeit nach dem Balkankrieg, dessen Ausgang Pomiankowski auch als Niederlage Österreich-Ungarns wertete: „Ich sah, wie sehr Frankreich und England während des Balkankrieges die Niederlage der deutschfreundlichen Türkei wünschten und zweifelte nicht, daß dieser Krieg nur das Vorspiel zu einer weiteren, viel bedeutenderen Aktion der Entente bildete.“39

Er scheint allerdings auch ein recht gleichgültiges Verhältnis zu seinem Gastland entwickelt zu haben. Für ihn war die Zukunft des Osmanischen Reiches 35 36 37 38 39

Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 42. Vgl. ebd., S. 45f. Ebd., S. 46. Pomiankowski an Generalstab, 20. Juli 1914, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1914, Präs. 47/17/101. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 35.

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nur soweit von Interesse, als es Österreich-Ungarn betraf. Das schloss überbordende imperialistische Träume jedoch aus. Im Gegensatz zum Botschafter, der das Ziel formulierte „die Türkei erstarken zu machen, sie aber gleichermassen unter sein [des Dreibundes] Protektorat zu bringen“40 , betrachtete der Militärbevollmächtigte das Land als unabhängige Macht, bei der es für Österreich-Ungarn durch geschickte Politik möglich war, bedeutende politische und wirtschaftliche Vorteile zu erringen. Noch im Dezember 1917 formulierte Pomiankowski das in einem Privatbrief an den Generalstabschef Arthur Arz v. Straußenburg: „Vor allem kann es nicht gleichgültig sein, ob die in Zukunft viel besser organisierte und schlagkräftige türkische Armee – mindestens 1 ½ Millionen Mann – mit oder gegen uns steht; zweitens kommt der Türkei als Bezugsquelle für Rohstoffe ganz besonders in Betracht.“41

Keinen Zweifel gab es für Pomiankowski auch, dass vor allem die genannten wirtschaftlichen Interessen zu Lasten und unter Ausnutzung der Schwächen des deutschen Bundesgenossen zu verfolgen waren: „Der rücksichtslose deutsche Imperialismus hat den Türken große Bedenken eingeflößt, auch ist das persönliche Auftreten deutscher Exponenten nicht geeignet für ihre Person und Tendenzen Sympathien zu erwecken. Man kann [...] behaupten, dass die türkische Regierung jede Gelegenheit benützt, um uns Beweise ihrer Sympathie und ihres Entgegenkommens zu geben.“42

Die daraus resultierende politische, wirtschaftliche und propagandistische Tätigkeit des Militärbevollmächtigten brachte ihn bald in Konflikt mit den Deutschen im Osmanischen Reich, worauf noch eingegangen wird. Bis ins Jahr 1918 hinein entsprach diese Linie voll und ganz dem Kurs der Zentralstellen in Wien, ja dürfte seine Formulierung maßgeblich mitbestimmt haben. In einem streng geheimen Erlass des Außenministeriums an den Markgrafen Pallavicini wurde in diesem Sinne etwa der Rahmen der österreichisch-ungarischen Tätigkeit im Osmanischen Reich gezogen: „Unsere Aufgabe wird es unter allen Umständen sein müssen, den Blick darauf zu richten, aus den gegebenen Verhältnissen den größtmöglichen Vorteil für uns zu ziehen. [...] Hierzu wird es nötig sein, unsere zukünftige Tätigkeit so einzustellen, daß wir nicht durch kritiklose Unterstützung etwaiger zu weit gehender deutscher Monopolisierungsabsichten auch uns das Mißtrauen der Türken zuziehen.“43

Erheblich weitgehender dürften diese Gedanken in einem Papier des Armeeoberkommandos ausformuliert worden sein, das den Titel „Principien zur 40

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Pallavicini an Außenminister Leopold Graf Berchtold, 19. November 1914, in: Haus- Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Wien, Politisches Archiv (PA), Generalia, 1907– 1918, I, 521. Pomiankowski an Arz, 27. Dezember 1917, in: KA, Wien, AOK, Op. Abt., Op. geh., Karton 463. Hervorhebungen wie im Original. Ders. an Präsidialbüro des Kriegsministeriums. 19. Mai 1917, in: ebd., Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/37. Gesichtspunkte zum Verhältnis Österreich-Ungarns zur Türkei. 9. Februar 1916, in: HHStA, Wien, PA XII, Türkei, Konstantinopel, 1848–1918, 208, Berichte.

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Abwehr des deutschen Imperialismus in der Türkei“ trug, leider aber in den Archiven nicht mehr auffindbar ist.44 Da Österreich-Ungarn ganz ohne Zweifel im Vergleich zu Deutschland über die geringeren wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Mittel verfügte, um in diesem Konkurrenzkampf zu bestehen, begann Pomiankowski auf die „weichen“ Faktoren der zwischenstaatlichen Verhältnisse zu setzen. Ausschlaggebend war für ihn dabei die Beobachtung, dass den Deutschen im Osmanischen Reich etwas fehlte, was man heute als „interkulturelle Kompetenz“ bezeichnen würde. Diese Kompetenzen betrachtete Pomiankowski als ausschlaggebendes, immaterielles Kapital des multinationalen ÖsterreichUngarn im Kampf um Einfluss im Osmanischen Reich. Diese Idee einer überlegenen interkulturellen Kompetenz äußerte sich konkret etwa in folgender Beobachtung, die Pomiankowski im Jahre 1917 nach Wien meldete: „Die Deutschen erfreuen sich als Verbündete der Unterdrücker nur geringer Sympathien im Lande [gemeint ist in diesem Fall das arabische Syrien]. Dazu kommt noch das schroffe, wenig schmiegsame Auftreten der Deutschen, welches ihnen den letzten Rest von Sympathien verscherzt hat. [...] Ein um so erfreulicheres Bild zeigt sich jedoch im Verhältnis der Bevölkerung zu den österr. ung. Soldaten in Syrien. Alle Meldungen erklären einstimmig, dass die Österreicher u. Ungarn sich allgemeinster Sympathien erfreuen [...] Das Geheimnis dieser Sympathien liegt lediglich im korrekten, freundlichen und nicht überhebenden Verhalten unserer Offiziere und Mannschaften gegenüber den türkischen Kameraden und der einheimischen Bevölkerung. In diesen Sympathien liegt ein Kapital, das politisch auszunützen vielleicht nicht außer dem Bereich der Möglichkeit liegt.“45

Pomiankowski besaß jedenfalls einen geschärften Blick für die Bedeutung kultureller Codes und wusste um ihre Bedeutung für seine Tätigkeit und das Verhältnis zwischen den Staaten.46 Die Deutschen betrachtete er als wenig geneigt und geeignet, auf diese weichen Faktoren Rücksicht zu nehmen: „Das innere Wesen des Deutschen – in einer biederen Offenherzigkeit, bei geringer Berücksichtigung der Empfindungen [...] der übrigen Mitmenschen bestehend – steht mit jenem der Türken und Orientalen, die im Verkehr das Hauptgewicht auf Höflichkeit und gegenseitige Schonung der Gefühle, Sitten und Gebräuche legen, in diametralem Gegensatz. Die hieraus resultierende Schwierigkeit und oft Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu verstehen, erschwerte nicht nur die Arbeit der deutschen Offiziere und sonstigen Organe, sondern machte überhaupt alle Bemühungen, ein herzliches oder wenigstens freundliches Verhältnis zwischen den beiden Parteien anzubahnen, oft illusorisch.“47

Eine völlig entgegengesetzte Grundeinstellung konstatierte der Militärbevollmächtigte hingegen bei der Mehrheit der österreichisch-ungarischen Offiziere.48 Pomiankowski selbst scheint einen strengen Unterschied zwischen den 44

45 46 47 48

Pomiankowski erwähnt es allerdings an zwei Stellen. Zunächst in einem Schreiben an das Präsidialbüro des Kriegsministeriums vom 19. Mai 1917, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/37. Er bezieht sich darüber hinaus auf das Papier in Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 323f. Ders. an Chef des Generalstabes, 6. Januar 1917, in: Kriegsarchiv, Wien, 1917, Präs. 47/1/7. Vgl. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 18f. Ebd., S. 245. Ebd., S. 247.

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Menschen, die ihm begegneten und den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Türkei gemacht zu haben. Die Türken schätzte er als die „besten Soldaten der Welt, wahre Gentleman des Orients und das sympathischste unter allen Völkern des nahen Ostens“,49 sie seien „eines der demokratischsten Völker der Erde“,50 das Antisemitismus nie gekannt habe.51 Allerdings habe der Islam die Entwicklung der Türkei schwer beeinträchtigt, er sei die Ursache des Niedergangs des Osmanischen Reiches. Trotz aller seiner positiven persönlichen Qualitäten sei der Türke ob seiner Religion ein Hindernis für jegliche Modernisierung: „Wegen der Mohammedanisierung war die türkische Herrschaft für alle betroffenen Völker ein furchtbares Unglück. [...] Die türkischen Städte sind der kulturloseste und ödeste Aufenthalt, den man sich vorstellen kann. Mit einem Wort, das Land ist in jeder Hinsicht um mehrere Jahrhunderte zurückgeblieben.“52 Pomiankowskis antideutsche Tätigkeit brachte ihn immer wieder in die Schusslinie der deutschen Botschaft und der Militärmission. Als er Anfang Juni 1917 für einige Monate Frontdienst am Isonzo tat, versuchten deutsche Stellen in Konstantinopel über eine Intervention beim deutschen Kaiser Wilhelm II. und dem k.u.k. Generalstab seine Abberufung zu erreichen – vergeblich.53 Ob seiner Aktivitäten geriet der k.u.k. Militärbevollmächtigte auch im täglichen Geschäft häufig in Konflikt mit deutschen Stellen in Konstantinopel. Diese Konflikte wurden oft auf einer protokollarischen Ebene ausgetragen und eskalierten gelegentlich zu Intrigen der giftigsten Art. Als etwa Ende 1917 der neue deutsche Botschafter bei der Pforte, Johann Heinrich Graf v. Bernstorff, seinen Posten antrat, machte Pomiankowski der Etikette folgend einen Antrittsbesuch. Er traf den Grafen nicht an, hinterließ seine Karte und hatte damit die Forderungen der diplomatischen Höflichkeit erfüllt. Allerdings wurde der Besuch nicht erwidert, was hätte geschehen müssen. Kurze Zeit darauf wurde Pomiankowski bei einer Einladung des Grafen anläßlich des Besuches für den in Konstantinopel weilenden österreichischen Erzherzog Hubert Salvator erneut übergangen. Pomiankowski war der höchstrangige k.u.k. Offizier in der osmanischen Hauptstadt und mußte dies unbedingt als Affront gegen sich auffassen. Er verbot daraufhin seinerseits allen österreichischen Offizieren, Einladungen deutscher Diplomaten anzunehmen.54 Diese Episode illustriert, wie gespannt die Beziehungen zwischen den Verbündeten am Bosporus zu Zeiten gewesen sein müssen.

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Ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 302f. sowie S. 308. Pomiankowski an Arz, 17. November 1917, in: KA, Wien, AOK, Op. Abt., Op. geh., Karton 462.

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Als Militärbevollmächtigter war Pomiankowski Dienstvorgesetzter aller österreichisch-ungarischen Kontingente auf dem asiatischen Kriegsschauplatz. Die erste k.u.k. Formation, eine schwere Mörserbatterie, traf Ende 1915 in Asien ein und wurde an den Dardanellen eingesetzt. In den Jahren bis 1918 folgten weitere Artillerie-, Transport- und Sanitätseinheiten. Sie alle operierten unter osmanisch-deutschem Befehl, unterstanden aber administrativ und disziplinarisch Pomiankowski.55 Diese Truppen schlugen sich – vor allem an der Palästinafront 1917/18 – hervorragend, hatten aber für den Ausgang des Krieges im Orient nur geringe Bedeutung. Österreich-Ungarn und wohl auch Pomiankowski ging es aber auch nicht darum, einen entscheidenden militärischen Beitrag an dieser Front zu leisten. Die eigene militärische Schwäche wussten sowohl der Militärbevollmächtigte in Konstantinopel als auch der Generalstab sehr realistisch einzuschätzen. Vielmehr war pro-österreichische und gegen Deutschland gerichtete Propaganda, der eigentliche Grund der militärischen Präsenz Österreich-Ungarns im Osmanischen Reich. Pomiankowski schrieb das nach dem Krieg in aller Deutlichkeit nieder: „Die Bereitstellung kleinerer Abteilungen [...] wäre ohne Beeinträchtigung der eigenen Operationen möglich, könnte einerseits der Türkei wesentlich nützen, andererseits der Monarchie auf dem großen Gebiete des Osmanischen Reiches in politischer, ökonomischer und wirtschaftlicher Beziehung bedeutende Vorteile bringen. Ich legte dar, daß ÖsterreichUngarn im Inneren der Türkei so gut wie gar nicht bekannt wäre. [...] Das Erscheinen Österreich-Ungarischer Truppenabteilungen jedoch würde schon durch die abweichende Uniform den Wesensunterschied zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland der Bevölkerung zu Bewußtsein bringen, das Prestige der Monarchie im Orient heben und der Industrie, sowie dem Handel der beiden Staaten zum größten Vorteil gereichen.“56

Pomiankowski sah in seiner Funktion als Vorgesetzter dieser Einheiten und als Militärbevollmächtigter alle osmanischen Fronten. Er besuchte die Dardanellen, begleitete Cemal Pascha und Enver Pascha auf Inspektionsreisen nach Syrien und inspizierte die osmanischen Divisionen, die 1916 an der Seite österreichischer Verbände in Galizien kämpften. Im Jahre 1917 hatte das militärische Engagement Österreich-Ungarns seinen Höhepunkt erreicht und Pomiankowski hatte einen erheblichen Apparat zu befehligen.57 Genaue Angaben über die Stärke dieser Truppen sind schwer zu machen, schwankte doch die Mannschaftsstärke dauernd. Es dürften sich aber – vorsichtig geschätzt – zwischen 1914 und 1918 mehr als 12.000 österreichisch-ungarische Soldaten und Offiziere im Osmanischen Reich aufgehalten haben. Militärisch engagierte sich die Donau-Monarchie also durchaus im Vorderen Orient, an einem anderen Aspekt des deutsch-türkisch-habsburgischen 55

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Vgl. zum militärischen Engagement Österreich-Ungarns im Orient zwischen 1914 und 1918: Peter Jung, Der k.u.k. Wüstenkrieg. Österreich-Ungarn im Vorderen Orient. Graz u. a. 1992, S. 31–136; Wolfdieter Bihl/Erwin A. Schmidt, Österreich-Ungarns Präsenz und Ambitionen im Nahen Osten, in: Jürgen Angelow (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung. Berlin 2011, S. 91–95. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 187. Vgl. ebd., S. 310–318.

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Bündnisses – der Propaganda für den Heiligen Krieg und dem Versuch der Revolutionierung muslimischer Völker unter der Herrschaft von Entente-Mächten58 – nahm sie hingegen nur geringen Anteil. Das dürfte auch und vor allem auf das Wirken des Militärbevollmächtigten in Konstantinopel zurückzuführen gewesen sein. Zunächst ist es überaus auffällig, dass in den beiden Fällen, in denen Österreich-Ungarn in Revolutionierungsprojekte verwickelt war, Pomiankowski daran nicht beteiligt war, ja erst ausgesprochen spät eingeweiht worden ist. Es handelt sich dabei um die Arabien-Mission des Prälaten Musil59 und um den Versuch, Persien zum Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte zu bewegen.60 Allerdings hatte Pomiankowski für derartige Vorhaben auch nichts übrig. Für ihn war es zum einen eine Strategie, die nur wenig Aussicht auf Erfolg hatte, zum anderen nahm er sie als Mittel zur Ausdehnung des deutschen Einflusses im Vorderen Orient wahr.61 Vor allem aber war der Militärbevollmächtigte von der impliziten Voraussetzung einer solchen Strategie – nämlich der Wirksamkeit der Propaganda für den islamischen Heiligen Krieg – in keiner Weise überzeugt. In einem Bericht an den Generalstab vom 25. Februar 1915 belegte er dies mit einer nüchternen Kette von Argumenten.62 Zunächst habe es nach der Proklamation des Heiligen Krieges durch die Osmanen bisher nur unbestätigte Gerüchte über Aufruhr und Aufstände in Ägypten, Indien und Nordafrika gegeben. Dies sei auch völlig logisch, denn den Menschen in diesen britisch und französisch beherrschten Gebieten mangele es vollkommen an Waffen und Geld für einen Aufstand. Zudem bescheinigte Pomiankowski der Idee des Heiligen Krieges einen grundlegenden Denkfehler: „Bei Beurteilung dieser Lage muss man sich vor allem darüber klar sein, dass ebenso wie das Christentum, so auch der Islam in zahlreiche Sekten gespalten ist, zwischen denen nur ein sehr loser Zusammenhang besteht und von welchen viele den türkischen Sultan als Khalifen gar nicht anerkennen. Von Glaubenseifer und religiösem Fanatismus kann bei Türken, sowie bei den übrigen muselmanischen Fraktionen heute wohl nur ausnahmsweise die Rede sein. Wenn nun bei diesen Völkern eine Bewegung [entsteht] so ist das eigentliche Motiv derselben wahrscheinlich nicht religiöser Natur, sondern dürfte vielmehr in nationalen, besonders aber in wirtschaftlichen Momenten liegen.“63

Darüber hinaus hätten nur wenige Völker, etwa im Kaukasus oder in Ägypten, das Bedürfnis, ihre russischen und britischen Herren durch türkische Unterdrücker zu ersetzen. In seinem Fazit nannte Pomiankowski schließlich Bedingungen, die erfüllt sein müssten, um den Heiligen Krieg und die darauf aufbauenden Revolutionierungsprojekte zu einem Erfolg zu führen:

58 59 60 61 62 63

Für eine Neubewertung dieser Aktivitäten vgl. Will, Weltmacht, S. 311–317. Vgl. ebd., S. 242–246; Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 171f. Vgl. Will, Weltmacht, S. 263–294. Vgl. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 51f. Ders. an k.u.k. Chef des Generalstabes, 25. Februar 1915, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1914, Präs 47/1. Ebd. Hervorhebungen im Original.

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„[...] die Eröffnung des freien Verkehrs zwischen der Tuerkei und unserer Monarchie, dann aber auch eine uns günstige Entscheidung auf den europäischen Kriegsschauplätzen. [...] Bis dahin jedoch wird man gut tun, sich mit den gegenwärtigen, bescheidenen Erfolgen zu begnügen und an die Proklamierung des Schihad keine übertriebenen Hoffnungen zu knüpfen.“64

Es ist auffällig, dass dieses Dokument in Wien mit zahlreichen Anstreichungen versehen worden ist. Insbesondere der letzte Satz wurde auffällig hervorgehoben. Man kann also durchaus schlussfolgern, dass Pomiankowskis Bewertung im Generalstab Wirkung entfaltet hat. Wien hielt sich letztlich während des gesamten Krieges aus den Revolutionierungsbemühungen Deutschlands und der Türkei weitgehend heraus. Pomiankowski selbst fühlte sich nach dem Krieg in seinen Bewertungen bestätigt. Die Proklamation sei aber kein Fehler gewesen, denn sie habe letztlich der Entente, wenn auch nicht im geplanten Maße, geschadet. Aufwand und Nutzen sah er jedoch in einem Missverhältnis: „Es wäre jedoch gewiß zweckentsprechender gewesen, die durch den heiligen Krieg von Deutschland und der Türkei angestrebten Ziele in viel bescheideneren Grenzen zu halten und die zur Verfügung stehenden ohnehin knappen Mittel nicht für ferne liegende, unerreichbare Ziele zu vergeuden.“65

Die Haupttätigkeit des Militärbevollmächtigten Josef Pomiankowski lag in Konstantinopel auf drei anderen Feldern: Nachrichtendienst, Propaganda und wirtschaftliche Aktivitäten. Zum einen entsprach dies den Begabungen Pomiankowskis, wie sie sich schon während seiner Zeit in Serbien gezeigt hatten. Zum anderen waren dies die Felder, auf denen sich die antideutschen Grundgedanken der österreichisch-ungarischen Politik im Vorderen Orient am besten umsetzen ließen. Bei seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit konnte sich Pomiankowski auf das Netzwerk der österreichisch-ungarischen Konsulate im Osmanischen Reich stützen. Schon 1912 war es dem Generalstab gelungen, diese diplomatischen Vertretungen in den militärischen Nachrichtendienst einzubinden.66 Im Osmanischen Reich führten die Konsuln schließlich sogar eigene Agenten und errichteten ein nachrichtendienstliches Netz, das sehr erfolgreich vor allem die deutsche Tätigkeit in der Türkei sowie das deutsch-osmanische Verhältnis beobachtete.67 Darüber hinaus rekrutierte Pomiankowski eigene Agenten, die durch das Land reisten und ihre Beobachtungen weitergaben. Bei ihnen handelte es sich ausschließlich um österreichisch-ungarische Staatsbürger.68 Die Ergebnisse seines Nachrichtendienstes fasste Pomiankowski regelmäßig in kleineren und größeren Bulletins zusammen. Es ist aufschlussreich, dass diese sich sehr

64 65 66 67 68

Ebd. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 96. Will, Weltmacht, S. 97f. Ebd., S. 104–120. Ebd., S. 134f.

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oft überwiegend mit der deutschen Tätigkeit in der Türkei befassten.69 Die gesammelten Informationen wurden nun sowohl nach Wien weitergeleitet, als auch im Lande selbst ausgewertet. Die Ergebnisse wurden vor allem auf zwei Gebieten eingesetzt – der antideutschen Propaganda und bei der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen. Seit dem Jahre 1917 war die Propaganda im Apparat des Militärbevollmächtigten mit dem Büro des Presse- und Propagandaoffiziers in einer separaten Einheit institutionalisiert. Der Oberleutnant Karl Schrecker schuf in Konstantinopel eine kleine, aber außerordentlich schlagkräftige Organisation, die es tatsächlich fertig brachte, Österreich-Ungarn deutlich von Deutschland abzusetzen, es nicht als Anhängsel des großen Verbündeten erscheinen zu lassen und erhebliche Sympathien für die Donaumonarchie zu wecken.70 Das ist insbesondere erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Annexionskrise erst wenige Jahre zurück lag und Österreich-Ungarn zu diesem Zeitpunkt die am Bosporus meist gehasste europäische Macht gewesen sein dürfte. Schrecker entwarf zu Beginn seiner Tätigkeit ein außerordentlich umfangreiches Propagandakonzept.71 Es enthielt umfangreiche Ideen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der Türkei im Sinne Österreich-Ungarns. Dabei beschränkte sich Schrecker nicht einfach nur auf weitreichende Vorschläge, wie die osmanische Presse pro-österreichisch zu stimmen sei, er legte auch Ideen für die Nutzung neuer Medien wie dem Film vor. Darüber hinaus machte er sich für etwas stark, was man als Kulturpropaganda bezeichnen kann und das sich in österreichischen Kunst- und Gewerbeausstellungen sowie in Gastspielen österreichischer Theater- und Operetten-Ensembles im Osmanischen Reich materialisierte. Schrecker fasste seine Zielgruppe sehr weit und dachte dabei auch an die türkischen Frauen. Um sie von der überlegenen Lebensart Österreich-Ungarns und dem Wiener Schick zu überzeugen, veranstaltete Pomiankowskis Propaganda-Spezialist Modenschauen, die von Wiener Konfektionshäusern bestückt wurden und deren Produkte in Konstantinopel reißenden Absatz fanden.72 Es ist schwer zu bewerten, wie erfolgreich all diese Bemühungen letztlich gewesen sind. Schrecker selbst zog, als die Niederlage seines Landes und des Osmanischen Reiches bereits Gewissheit waren, eine positive Bilanz: „Es kann festgestellt werden, [...], dass die österr-ung. Wehrmacht in der Türkei es zu einem grossen Ansehen gebracht hat. Die Österreicher und Ungarn werden heute mit Kriegsschluss in der Türkei als ein den Deutschen ebenbürtiger militärischer und wirtschaftlicher 69 70 71

72

Siehe dazu z. B. Pomiankowski an Generalstab, 14. April 1916, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/7. Zur außerordentlich umfangreichen österreichisch-ungarischen Propaganda im Osmanischen Reich vgl. Will, Weltmacht, S. 124–181. Propaganda und Pressedienst in der Türkei. Schrecker an Kriegspressequartier, 20. September 1917, in: KA, Wien, Archive des Militärattachés, Konstantinopel, Presse- und Propagandaoffizier, Karton 62. Vgl. Will, Weltmacht, S. 155f.

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Machtfaktor eingeschätzt und hat man es dahingebracht, dass diesem österr.-ung. Machtfaktor dem zweiten Verbündeten Deutschland gegenüber ein unbestreitbarer Vorzug gegeben wird. Die Leistungen des österr.-ung. Militärs werden sehr hoch eingeschätzt, und zwar – wie dies in einem vertraulichen Berichte wohl gesagt werden darf – stark überschätzt. [...] Dieses [...] ist das Ergebnis dessen, was man ,Propaganda‘ nennt.“73

Neben der Propaganda war die Wirtschaft – erneut ungewöhnlich für einen Militärbevollmächtigten – Pomiankowskis großes Arbeitsfeld. Wieder fallen zwischen 1914 und 1918 seine gute ökonomische Analysefähigkeit und sein Talent zur Darstellung wirtschaftlicher Sachverhalte auf.74 Diese Qualitäten – und Pomiankowskis Bereitwilligkeit, sich mit wirtschaftlichen Fragen zu befassen sowie in dieser Hinsicht auch praktisch tätig zu werden – dürften die Ursache sein, dass sich in seinem Apparat während des Krieges fast die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit der Donau-Monarchie im Osmanischen Reich bündelte. In der einen oder anderen Weise waren sämtliche derartige Projekte entweder von Pomiankowski oder seinem Büro angestoßen oder gar federführend betreut und umgesetzt worden. Die wichtigsten seien hier dargestellt. Erneut befasste sich Pomiankowski mit Geschützlieferungen an sein Gastland. Im Sommer 1916 ging es um den Verkauf von 10-cm-Gebirgshaubitzen, 15-cm-Haubitzen sowie 30,5-cm-Mörsern. Darüber hinaus wünschte die osmanische Heeresverwaltung den Ankauf von 480 Maschinengewehren.75 Die Finanzierung dieses bedeutenden Rüstungsgeschäfts wurde durch ein österreichisch-ungarisches Bankenkonsortium bis 1917 sichergestellt. Hier verhandelte Pomiankowski auch direkt mit Enver Pascha über Einzelheiten des Geschäfts.76 Als alles perfekt schien, musste allerdings der Lieferant – die Skoda-Werke – passen. Der Bedarf des österreichisch-ungarischen Heeres war so groß, dass keine Produktionskapazitäten für den osmanischen Auftrag zur Verfügung standen.77 Wirklich geliefert wurde hingegen eine große Anzahl von Motorfahrzeugen. Bis zum August 1916 handelte es sich mindestens um 110 Lastkraftwagen verschiedener Größe und 25 Personenwagen. Hinzu kamen umfangreiche Werkstattausrüstung sowie österreichisch-ungarisches Personal in der Stärke von 500 Mann und 15 Offizieren. Die Lieferung dieser Fahrzeuge sah Pomiankowski auch als industriepolitisches Vorhaben: „Betreffs der Autowerkstätten wird angestrebt, dieselben nach und nach zu erweitern und schließlich zu Automobilfabriken auszugestalten. [...] Es kommt nun in erster Linie 73 74

75 76 77

Schrecker an Kriegspressequartier, 23. Oktober 1918, in: KA, Wien, Archive des Militärattachés, Konstantinopel, Presse- und Propagandaoffizier, Karton 64. Vgl. Pomiankowskis Einschätzung der wirtschaftlichen Lage des Osmanischen Reiches aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch: Wirtschaftliche Lage und Beziehungen der Türkei nach Abschluss der französischen Anleihe. 22. April 1914, in: ebd., Kriegsministerium, 1914, Präs. 47/1/a. Unsere wirtschaftlichen Interessen in der Türkei, 26. August 1917, in: ebd., 1917, Präs. 47/1/52. Türkische Geschützbestellung. 2te Serie, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/8–3 Ebd.; Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 321.

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darauf an, dass die heimische Industrie durch zufriedenstellende Lieferungen das gewonnene Vertrauen festigt.“78

Pomiankowski bemühte sich auch um die Sicherung von Bergwerkskonzessionen für ein österreichisches Konsortium. Es handelte sich um Blei- und Kupferminen in Kleinasien. Der Deckung des österreichisch-ungarischen Rohstoffbedarfs diente ebenfalls eine Erkundungsmission nach Mesopotamien im Auftrag der türkischen Regierung. Die Expedition des Ingenieurs Bielski sollte die Erdölquellen in dieser Region inspizieren und war von weitgehenden Zielen motiviert, die Pomiankowski so zusammenfasste: „Wenn die zu erschließenden Petroleumquellen tatsächlich von der erhofften Bedeutung sind und die Mission Bielski’s Erfolg hat, so ist die Möglichkeit vorhanden, die zukünftige Petroleumproduktion der Türkei in unsere Hand zu bekommen.“79 Weitere Projekte, die Pomiankowski unterstützte, waren der Versuch österreichischer Unternehmen, als Betreiber einige türkische Häfen zu kontrollieren, sowie verschiedene Konzessionen zur Errichtung von Industrieanlagen zu erhalten.80 Ende 1917 gelang es der Firma des österreichischen Barons Grödl, eine der größten Forstbetriebe Österreichs, mit maßgeblicher Unterstützung von Pomiankowskis Organisation, Konzessionen für die Ausbeutung der Wälder des Vilajates Kastamuni zu erhalten.81 Die wirtschaftlichen Aktivitäten nahmen im Laufe des Krieges immer mehr zu, sodass der Apparat des Militärbevollmächtigten in Konstantinopel Anfang 1917 drohte, überfordert zu werden. Die Wirtschaftsabteilung Pomiankowskis bestand damals bereits aus drei Sektionen: eine für den Einkauf von Rohstoffen, eine, die eine Anzahl technischer und ökonomischer Berater der osmanischen Regierung führte, sowie eine Abteilung, in der Wirtschaftsspezialisten verschiedener Branchen Dienstleistungen für österreichische Unternehmen erbrachten. Im August 1917 wurde dieser Wirtschaftsabteilung schließlich mit Adolf Ritter von Zambaur ein eigener Chef zugeteilt, der jedoch weiter Pomiankowski unterstellt blieb.82 Parallel zu dieser Straffung der eigenen Organisation drängte Pomiankowski auf organisatorische Veränderungen in Wien, konkret auf die Schaffung einer Abteilung im Kriegsministerium, die sich ausschließlich mit wirtschaftlichen Fragen des Orients befassen sollte. Er begründete das mit der langsamen Erledigung „eines Komplexes wirtschaftlicher Fragen“83 . Entscheidungen des Kriegsministeriums dauerten ob der unzulänglichen Struktur des Ministeriums für die Bearbeitung wirtschaftlicher Fragen einfach zu lang. Pomiankowski 78 79 80 81 82 83

Unsere wirtschaftlichen Interessen in der Türkei, 26. August 1917, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/52. Ebd. Ebd. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 321. Ebd., S. 320f. Hughestelegramm, Pomiankowski an Kriegsministerium, 5. Januar 1917, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1.

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befürchtete unangenehme Konsequenzen seitens der Türken, gebe es hier keine Änderung: „Von türkischer Seite wird mir mitgeteilt, dass man nicht mehr lange warten kann, und wenn in kurzer Zeit keine Erledigungen erfolgen, die betreffenden Konzessionen [anderen] Staaten vergeben werden müssen.“84 Diese „anderen Staaten“ konnten nach Lage der Dinge nur einer sein – Deutschland. Im Mai 1917 legte Pomiankowski noch einmal nach. Er analysierte die unzulängliche Struktur des Kriegsministeriums zur Entscheidung wirtschaftlicher Fragen und schlug erneut die Gründung einer „Türkischen Abteilung“ vor, die sich einzig diesen Fragen zu widmen hätte. Sollte dies nicht geschehen, drohe Österreich-Ungarn den Wettbewerb mit Deutschland auf dem ökonomischen Feld zu verlieren.85 Im Juni 1917 reiste er schließlich nach Wien, um dort in dieser Frage zu intervenieren86 – und setzte sich durch. Letztlich ausschließlich auf sein Drängen hin wurde mit Datum vom 30. Juni 1917 im Kriegsministerium die „Orientabteilung“ geschaffen, der „die einheitliche Leitung aller wirtschaftlichen Angelegenheiten der Heeresverwaltung in Beziehung zum Oriente“87 oblag. Unter „Orient“ verstand das Kriegsministerium das Osmanische Reich sowie den Balkan. Diese weitgehenden ökonomischen Interessen Österreich-Ungarns hatten Anfang 1917 bereits fallweise zu Konflikten mit Deutschland geführt. Es stellte sich also die Frage, wie man sich in Zukunft mit dem größeren Verbündeten in dieser Frage arrangieren wollte. Pomiankowski und seine Mitarbeiter waren zu Beginn des Jahres 1917 wiederholt von Vertretern der deutschen Militärmission und der Botschaft auf diese Frage angesprochen worden, ja es hatte sogar Kooperationsangebote gegeben.88 Die Deutschen am Bosporus hatten offensichtlich kein Interesse, auf wirtschaftlichem Gebiet einen Konkurrenzkampf mit den Österreichern auszufechten. Pomiankowski analysierte die Situation umfangreich, konstatierte die eigene Schwäche – und kam zu einer außerordentlich aggressiven Schlussfolgerung, nach der bis zum Kriegsende auf österreichischer Seite auch gehandelt wurde: „Ich würde meine unmaßgebliche Meinung dahin aussprechen, dass es gegenwärtig für uns empfehlenswerter sei, unbeschadet fallweiser Übereinkünfte, unsere eigenen Wege zu gehen und zu trachten, bis zum Friedensschluss möglichst zahlreiche Objekte für unsere künftige Tätigkeit in der Türkei in die Hand zu bekommen.“89 84 85 86 87 88

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Ebd. Aufstellung der türkischen Abteilung im Kriegsministerium. Pomiankowski an Kriegsministerium, 19. Mai 1917, in: ebd., Präs. 47/1/37. Kriegsministerium, Chef der ökonomischen Sektion, an Kriegsministerium, Präsidialbüro, 2. Mai 1917, in: ebd., Präs. 47/1/1–3. Orientabteilung – Aufstellung, Wirkungskreis. 30. Juni 1917, in: ebd., Archive des Militärattachés, Bern, Karton 19. Einvernehmen mit Deutschland in Lieferungs- und Konzessionsfragen. Pomiankowski an Kriegsministerium, 23. Januar 1917, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/15. Ebd.

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Ein wesentliches Argument Pomiankowskis neben der Furcht vor dem deutschen Imperialismus bestand in der Beobachtung, dass die osmanische Führung danach trachtete, kein deutsches Monopol auf wirtschaftlichen Einfluss zuzulassen: „Ich habe sowohl bei Enver Pascha als auch beim Generalintendanten der Armee Ismail Hakki Pascha in vorsichtiger Weise sondiert, wie sich die türkische Regierung einer eventuellen Verständigung zwischen Deutschland und Österr. Ungarn in allen die Türkei betreffenden wirtschaftlichen Fragen gegenüber stellen würde. Beide Funktionäre haben sich einer solchen Idee sehr feindlich gesinnt gezeigt und erklärt, dass alle uns zugewendten Geschäfte eben nur durch uns und nicht durch Deutschland effektuiert werden sollen.“90

Diese harte, antideutsche Haltung Pomiankowskis, die in Wien schließlich auch noch zum politischen Handlungsmaßstab wurde, sein großer Einfluss in diesen Fragen und seine selbständige Führung der Geschäfte forderten natürlich die Freunde einer sehr engen Kooperation mit Deutschland in Wien und der österreichischen Botschaft in Konstantinopel heraus, sowie all jene, denen der selbstbewusste und tatkräftige Militärbevollmächtigte ohnehin ein Dorn im Auge war. Zunächst intervenierte das Außenministerium auf Initiative des Botschafters Pallavicini, der sich in wirtschaftlichen Fragen übergangen fühlte, beim bis April 1917 amtierenden Kriegsminister Alexander v. Krobatin: „Ich darf Euer Exzellenz sohin ersuchen, denn Herrn k.u.k. Militärbevollmächtigten [...] nahezulegen in Angelegenheiten wirtschaftspolitischer Natur stets, noch bevor er hierüber mit türkischen Regierungsvertretern Fühlung nimmt, sich mit der k.u.k. Botschaft ins Einvernehmen zu setzen.“91

Pomiankowski konterte dies mit einem Privatbrief an einen Vertrauten im Kriegsministerium, den dieser an den Minister weiterleitete. In diesem Schreiben erklärte Pomiankowski, warum er die Diplomaten bei seiner wirtschaftlichen Tätigkeit überging und spielte geschickt auf der Klaviatur der Gegensätze zwischen Militär und Diplomatie: „Im Vertrauen teile ich Dir mit, das ich in diesen Angelegenheiten mit voller Absichtlichkeit derartig vorgegangen bin. Bei der Engherzigkeit, Kleinlichkeit und Eifersucht unserer diplomatischen Vertreter ist es nämlich ganz sicher, dass nicht nur die Botschaft, sondern in verstärktem Maß das Ministerium des Äußeren fortwährend Schwierigkeiten gemacht hätte. Beide Instanzen hätten [...] zahlreiche unsere Maßnahmen entweder ganz zum Scheitern gebracht, oder wenigstens versucht, sie in ein anderes, weder von uns noch von der Türkei gewünschtes Fahrwasser zu bringen.“92

Dieses Fahrwasser war natürlich ein deutsches. Der Angriff auf Pomiankowski scheiterte. Nicht nur wurde er nicht gemaßregelt, er erzielte in der Folge auch mit der Gründung der Orientabteilung einen großen Erfolg. Anderthalb Jahre später, nach dem Wechsel des Kriegsministers, setzten sich Pomiankowskis Gegner im Kriegsministerium allerdings zunächst durch. 90 91 92

Ebd. Wirtschaftliche Betätigung des k.u.k. Militärs in Konstantinopel, Minister des Äußeren an Kriegsminister, 9. Januar 1917, in: ebd., Kriegsarchiv, 1917, Präs. 47/1/8. Privatbrief Pomiankowskis, 2. Februar 1917, in: KA, Wien, Kriegsministerium, 1917, Präs. 47/1/8–2.

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Der neue Kriegsminister, Rudolf Stöger-Steiner von Steinstätten, schrieb einen Brief an den Chef des Generalstabes, Arthur Baron Arz v. Straußenburg, in dem er von Pomiankowskis direkten Vorgesetzten nichts weniger forderte als dessen Abberufung. Steiners Argumentation zeigt dabei deutlich den Einfluß deutschfreundlicher Kreise und der Diplomaten: „Nicht zuletzt sei auf den keineswegs wünschenswerten Gegensatz zwischen uns und den Deutschen in der Türkei hingewiesen, den Fml. v. Pomiankowksi bisher nicht zu überbrücken vermochte [...] Ich füge bei, daß [...] mir [...] mitgeteilt wurde, daß P. zu wenig Aktivitäten entfaltet, die Verhältnisse außerhalb Konstantinopels persönlich viel zu wenig kennt, und daß er den Deutschen stets Schwierigkeiten bereiten soll.“93

Der Generalstabschef nahm diese Demarche als das, was sie offensichtlich war: im ersten Teil eine Intrige deutschfreundlicher Kreise, im zweiten Teil eine glatte Verleumdung. Pomiankowski blieb jedenfalls bis zum Kriegsende auf seinem Posten – und das obwohl er mehrfach um Abberufung und ein Frontkommando gebeten hatte. Man wusste zumindest im Generalstab ganz offensichtlich, was man an dem umtriebigen Militärbevollmächtigten in Konstantinopel hatte.

5. Zeitenwende und Individuum Am 6. Januar 1919 bestiegen Josef Pomiankowski, 200 Offiziere, 1050 Mann und 200 Zivilisten das türkische Schiff „Reschid Pascha“, das sie nach Triest bringen sollte. Der sonst so nüchterne Pomiankowski beschrieb diese Szene später in seinen Erinnerungen mit einigem Pathos: „In melancholischer Stimmung betrachteten wir die immer undeutlicher werdende, uns so wohlbekannte Silhouette Stambuls, sowie die langsam verlöschenden Lichter Konstantinopels. [...] Die Periode der vierjährigen, schweren Kämpfe an der Seite der heroischen Türkei war beendet und es begann für uns ein neuer Lebensabschnitt, vorläufig bedeckt mit dem Schleier des Geheimnisses unserer zukünftigen Schicksale.“94

Dieser Schleier des Geheimnisses zerriss für den ehemaligen Militärbevollmächtigten nur zu bald. Er wurde nämlich durch die Macht der Umstände, durch den Zusammenbruch des Habsburger Reiches, zu einem polnischen Staatsbürger. Zunächst wirkte sich die Staatsbürgerschaft der neuen polnischen Republik, zu der nun auch Pomiankowskis Heimatstadt Lemberg gehörte, durchaus positiv aus. Im Juli 1919 konnte er nach Konstantinopel zurückkehren, um seine Angelegenheiten zu ordnen und seinen zurückgebliebenen Besitz zu sichern.95 Deutschen und Österreichern blieb dies verwehrt. Für den Berufssoldaten Pomiankowski hieß es nun allerdings auch, sich eine Beschäftigung zu suchen, mit der die Familie zu ernähren wäre. Vermögen 93 94 95

Stöger-Steiner an Arz, 11. Juli 1918, in: AOK, Op. Abt., Op. geh., Karton 490. Pomiankowski, Zusammenbruch, S. 428. Ebd., S. 72.

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oder Grundbesitz hatte der alte Soldat nicht. So war Pomiankowski bereits am 25. März 1919 der neuen polnischen Armee beigetreten.96 Seine erste Verwendung führte den frisch gebackenen polnischen Generalleutnant Pomiankowski zurück in die alte Kaiserstadt Wien. Für vier Monate war er dort als Chef einer Kommission tätig, die Ausrüstung für die polnische Kavallerie aus alten österreichisch-ungarischen Beständen erwarb.97 Nach der Zeit in Wien folgte ein kurzes Zwischenspiel Pomiankowskis als Chef der polnischen Militärmission für Schweden, Dänemark und Norwegen mit Sitz in Stockholm98 , bevor er schließlich nach Paris versetzt wurde, wo er die Leitung der polnischen Militär-Einkaufskommission in Frankreich übernahm. Generalleutnant Pomiankowski blieb auf diesem Posten bis Ende Februar 1921. Im März 1921 wurde er schließlich in Paris Chef der polnischen Militärmission, ein Amt, das er bis zu seiner Pensionierung Ende Januar 1922 bekleidete.99 Pomiankowski zog sich danach nach Lemberg zurück und veröffentlichte 1927 seine Erinnerungen. 1929 starb er, seine Grabstätte befindet sich auf dem Lützenhofer Friedhof in Lemberg.100 War nun der österreichisch-ungarische Feldmarschallleutnant Josef Pomiankowski nur ein Erfüllungsgehilfe einer Politik, die in Wien gemacht wurde? Wir haben gesehen, dass dies keineswegs so gesehen werden kann. In Konstantinopel geriet Pomiankowski in eine sehr spezielle Situation. Bedingt durch die Umstände – also schwierige Nachrichtenverbindungen und große Entfernungen zu den Zentralstellen – konnte er in seiner Position sehr stark unabhängig arbeiten. Das führte im Rahmen der strategischen Interessen Österreich-Ungarns zu einer Politik, die maßgeblich von der Person Pomiankowski geprägt war. Seine persönlichen Interessen und Begabungen – für Wirtschaft und Propaganda – wirkten sich konstituierend auf die Richtung der österreichischungarischen Politik im Osmanischen Reich während der Jahre 1914 bis 1918 aus. Josef Pomiankowski war erheblich mehr als der Vollstrecker einer in Wien formulierten Politik. Man kann vielmehr in vielen Fällen sehen, dass sein Urteil und seine Ideen die Zentralstellen erst veranlassten, einen bestimmten politischen Weg zu verfolgen. In dieser Hinsicht weist der spezielle Fall des österreich-ungarischen Militärbevollmächtigten Josef Pomiankowski auch über den Einzelfall hinaus: Schafft man nämlich den Schutt fort, den die Analyse institutioneller Strukturen hinterlassen hat, wird doch wieder der Einzelne, das Individuum, als Quelle und Antrieb historischer Prozesse sichtbar werden.

96 97 98 99 100

Karta Ewidencyjna. Centralne Archiwum Wojskowe, Warschau. Kol. Gen. i Osob, Pomiankowski Józef. Ebd. Ebd. Ebd. Kosk, Generalicja, S. 93.

Autoren Marc Hanisch M.A., Doktorand an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Michael Jonas, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Stefan M. Kreutzer M.A., Doktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Martin Kröger, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin. Dr. Bernd Lemke, Militärhistoriker, Potsdam. Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried Loth, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Veit Veltzke, Direktor des Preußen-Museums Nordrhein-Westfalen, Wesel. Dr. Alexander Will, Historiker, Leipzig. Jan Zinke M.A., Doktorand an der Westfälischen Wilhelms-Universität.