Die deutschen Kolonien: Die koloniale Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg [1 ed.] 9783428504527, 9783428104529

Nur kurze Zeit hatte Deutschland Kolonien; nach dem Kolonialerwerb zwischen 1884 und 1899 endete die »Kolonialherrschaft

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Die deutschen Kolonien: Die koloniale Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg [1 ed.]
 9783428504527, 9783428104529

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HANS-JÖRG FISCHER

Die deutschen Kolonien

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 85

Die deutschen Kolonien Die koloniale Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg

Von Dr. Hans-Jörg Fischer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fischer, Hans-Jörg:

Die deutschen Kolonien : die koloniale Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg / Hans-Jörg Fischer. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 85) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10452-8

Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-10452-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort Diese Dissertation wurde im Sommersemester 2000 von der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Recherchen und Forschungsarbeiten wurden überwiegend in den Jahren 1997 bis 1999 durchgefühlt und 2000 auf den neuesten Stand gebracht. Die mündliche Prüfung fand am 12. Juli 2000 statt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Reinhard Mußgnug, für seine zahlreichen Anregungen und die umfangreiche Betreuung der Arbeit. Herrn Professor Dr. Klaus-Peter Schröder danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Außerdem danke ich Herrn Professor Dr. Omaia Elwan vom Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg für seine hilfreichen Anregungen im Hinblick auf das Recht der Entwicklungsländer. Gedankt sei auch dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und der Universitätsbibliothek Heidelberg, ohne deren unerschöpflichen Archive so manche Quelle nicht gefunden worden wäre. Frau Karin Schömann und Herrn Rüdiger Fätsch vom geographischen Institut der Universität Koblenz danke ich für ihre kartographische Mithilfe bei der Erstellung der Karten. Vor allem danke ich meinen Eltern und meiner Lebensgefährtin Vivian Russ für ihren stetigen Zuspruch. Ihr sei diese Arbeit gewidmet. Mannheim, im Juli 2000

Hans-Jörg Fischer

Inhaltsverzeichnis Einleitung

15

Α. Der Untersuchungsgegenstand: Die deutschen Kolonien und ihr Recht

17

I. Geographischer Überblick II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

17 23

1. Die frühen Kolonisationsversuche des 16. bis 18. Jahrhunderts, insbesondere die brandenburgischen Kolonien

23

2. Deutsche Missionare und Handelsgesellschaften als Wegbereiter im 19. Jahrhundert

26

3. Rechtfertigungen für den Erwerb von Kolonien im Deutschen Reich nach 1871

30

4. Die Begründung der „Schutzgebiete" 1884-1899 durch den Abschluß von „Schutzverträgen"; mittelbarer und unmittelbarer Erwerb und Verwaltung durch das Deutsche Reich

35

a) Mittelbarer Erwerb und mittelbare Verwaltung durch Handelsunternehmen

35

b) Exkurs: Die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) - eine neugeschaffene Gesellschaftsform für die Kolonien

36

c) Unmittelbarer Erwerb und unmittelbare Verwaltung

43

d) Der Erwerb der Schutzgebiete im einzelnen

49

e) Aufbau und Verwaltung der Polizei-und Schutztruppen

61

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

66

1. Rechtsnatur und verfassungsrechtlicher Status des Schutzgebietes

66

2. Geltendes Recht und Rechtsordnung

69

a) Das Schutzgebietsgesetz (SGG) von 1886 als „Schutzgebietsverfassung" - die Schutzgewalt des Kaisers

69

Inhaltsverzeichnis

8

b) Die Rechtsstellung von Europäern und Einheimischen nach dem Schutzgebietsgesetz (SGG)

73

aa) Der Status von Reichsangehörigen und anderen Europäern

73

bb) Die Rechtsstellung der einheimischen Bevölkerung

76

c) Parallele Rechtsordnungen für Europäer und die einheimische Bevölkerung

78

aa) Das geltende Recht für Europäer in den Schutzgebieten

78

bb) Die Beibehaltung der Rechtsordnung für die einheimische Bevölkerung und die Rechtsfortbildung durch deutsche koloniale Verwaltungsbehörden

80

cc) Das anzuwendende Recht bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Deutschen und Einheimischen

82

d) Sonderfall: die Geltung von preußischem Recht in den Schutzgebieten

84

e) Die Gerichtsorganisation für Europäer und die einheimische Bevölkerung: Rechtspflege durch Richter und Verwaltungsbeamte

87

aa) Allgemeines

87

bb) Die Geltung des Konsulargerichtsgesetzes (KGG) für Europäer gemäß § 2 SGG für die ordentliche Gerichtsbarkeit

89

cc) Verwaltungsbeamte als Richter und eigene „untere Gerichtsbarkeit" der einheimischen Bevölkerung dd) Sonderfall: die Verwaltungsgerichtsbarkeit 3. Einzeldarstellungen: Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht a) Das geltende Recht für Europäer aa) Zivilrecht

95 106 106 106 106

(1) Das geltende Recht bei „Mischehen"

106

(2) Das Personenstandsrecht

109

(3) Das Grundstücksrecht

110

(4) Das Bergrecht

114

(5) Das Urheber-, Warenzeichen- und Patentrecht in den Schutzgebieten 115 bb) Strafrecht

116

(1) Die eingeschränkte Geltung des StGB und des Nebenstrafrechts

116

(2) Das besondere Kolonialstrafrecht

117

(3) Das koloniale Militärstrafrecht

118

cc) Öffentliches Recht, insbesondere Steuer- und Zollrecht sowie die Verwaltungsorganisation

119

(1) Allgemeiner Verwaltungsaufbau in den Schutzgebieten

119

(2) Die allgemeine Verwaltung im einzelnen

121

(3) Das Steuer- und Zollrecht sowie die Steuer- und Zollverwaltung in den Schutzgebieten 134

Inhaltsverzeichnis

9

(4) Das Münzwesen

144

(5) Das Kolonialbeamtenrecht

145

(6) Das Aufenthaltsrecht in den Schutzgebieten

147

(7) Das Kulturwesen, insbesondere die Kirchen, das Schulwesen und die Zeitungen

149

(a) Die Kirchen

149

(b) Das Schulwesen

149

(c) Die Zeitungen

150

b) Das geltende Recht für Einheimische

151

aa) Zivilrecht

152

(1) Kauf-und Kreditverträge

152

(2) Arbeitsrecht

156

(3) Grundstücksrecht

161

(4) Bergrecht

163

(5) Eherecht

164

(6) Personenstandsrecht

165

(7) Erbrecht

166

(8) Urheber-, Warenzeichen-und Patentrecht

166

bb) Strafrecht

167

(1) Modifikationen des materiellen Strafrechts und des Strafprozesses durch Kolonialrecht

168

(2) Die strafrechtliche Ungleichbehandlung der Einheimischen

174

(3) Die Strafvollstreckung, insbesondere die Leibesstrafe (Prügelstrafe)

177

(4) Koloniales Militärstrafrecht für Einheimische cc) Öffentliches Recht, soweit für die einheimische Bevölkerung relevant (1) Die Besteuerung der einheimischen Bevölkerung

181 182 182

(2) Eigene Verwaltungsstrukturen der einheimischen Bevölkerung ... 187 (3) Das Schulwesen

B. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

192

194

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von Versailles 1919 194 1. Die Verwaltung durch die Mandatsmächte

196

a) Die Einteilung in A-, B-, und C-Mandate (Art. 22 des Versailler Vertrages)

197

b) Die einzelnen Mandatsgebiete

200

Inhaltsverzeichnis c) Die Mandatsgebiete als Treuhandgebiete der Vereinten Nationen ab 1946 204 d) Sonderfall Kiautschou

208

2. Die Entwicklung der deutschen Rechtsordnung in den Mandatsgebieten nach dem ersten Weltkrieg 209 a) Die Rechtsordnung in den Mandatsgebieten 1919-1946: generelle Außerkraftsetzung des deutschen Rechts 209 b) Spuren der deutschen Rechtsordnung nach 1919

246

aa) Übernahme von Teilen des deutschen kolonialen Steuersystems in Ostafrika /Tanganyika 246 bb) Südwestafrika: Weitergeltung von Regelungen des deutschen Kolonialrechts, insbesondere des kolonialen Bergrechts 248 cc) Spuren des deutschen Bodenrechts in Kamerun

254

dd) Beibehaltung der „Häuptlingsgerichte" im britischen Mandatsgebiet Togo bis 1932 254 ee) Beibehaltung der (begrenzten) Selbstverwaltung der einheimischen Bevölkerung in Neuguinea bis 1975 255 ff) Beibehaltung der Land- und Titelkommission in Samoa

256

gg) Beibehaltung der richterlichen Befugnis der Verwaltungsbeamten in den japanischen Mandatsgebieten (Pazifikinseln) 257 hh) Kiautschou: Spuren des deutschen Städteplanungsrechts in Taiwan ... 258

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein Überblick

260

1. Tansania, Ruanda, Burundi (ehem. Deutsch-Ostafrika)

260

2. Namibia (ehem. Deutsch-Südwestafrika)

263

3. Kamerun

265

4. Togo

266

5. Papua-Neuguinea (ehem. Deutsch-Neuguinea)

267

6. Nauru

269

7. Samoa

269

8. Marianen, Palau-Inseln, Mikronesien (Karolinen) Marshall-Inseln

270

9. Qingdao (ehem. Tsingtau)

271

Inhaltsverzeichnis C. Auswertung und Schlußbetrachtung I. Auswertung

II. Schlußbetrachtung

Summary

11 272 272

275

278

Anhang Anhang I: Karten

283

Anhang II: Gesetze und Verordnungen

290

a) Schutzgebietsgesetz vom 25. Juli 1900

290

b) Kaiserliche Verordnung, betreffend die Rechtsverhältnisse in den deutschen Schutzgebieten vom 9. November 1900 294 c) Konsulargerichtsgesetz in der Fassung vom 7. April 1900

297

d) Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919

308

Literaturverzeichnis

315

Sachwortverzeichnis

325

Abkürzungsverzeichnis AG

Aktiengesellschaft

AGBGB

preußisches Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch vom 20. September 1899

ALR

Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten vom 1. Juni 1794

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896

BRV

Bismarck'sche Reichsverfassung vom 16. April 1871

CCM

Chama Cha Mapinduzi (Suaheli), vgl. TANU

DKG

Deutsche Kolonialgesellschaft

DTA

Demokratische Turnhallen-Allianz (Namibia)

EGBGB

Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch

EGHGB

Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch

GewO

Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

DOAG

Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft

GVG

Gerichts Verfassungsgesetz vom 27. Januar 1877

HGB

Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897

KGG

Konsulargerichtsgesetz, Neufassung vom 7. April 1900

KStG

Körperschaftsteuergesetz, Neufassung vom 22. Februar 1996

NGC

Neuguinea-Compagnie

oHG

offene Handelsgesellschaft

RMStGB

Reichsmilitärstrafgesetzbuch vom 20. Juli 1972

RStGB

Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871

RuStAG

Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913

SGG

Schutzgebietsgesetz, Neufassung vom 25. Juli 1900

SWAPO

South West African People's Organisation (Südwestafrikanische Volksorganisation)

TANU

Tanganyika African National Union (Afrikanische Nationale Union von Tanganyika)

UmwStG

Umwandlungssteuergesetz vom 28. Oktober 1994

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

VV

Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919

WRY

Weimarer Reichs Verfassung vom 11. August 1919

Einleitung Im Jahre 1899, also vor etwas mehr als 100 Jahren, erreichte das deutsche Kolonialreich seine größte Ausdehnung, die es bis zum Beginn des ersten Weltkrieges 1914 weitgehend beibehielt. Dies war der vorläufige Schlußpunkt der Entwicklung von einem Bund zersplitterter Kleinstaaten über die Reichseinigung zu einer global denkenden und handelnden Großmacht. Deutschland nahm, ähnlich wie Italien, das Projekt der Kolonialerwerbungen erst nach Erreichen der eigenen Einigung in Angriff und damit zu einem Zeitpunkt, als ein Großteil der Welt schon unter den älteren Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Spanien und Portugal „verteilt" war. Als Kolonialerwerbungen kamen daher nur noch Gebiete in Frage, an denen vorher andere Kolonialmächte kein oder nur wenig Interesse hatte, Gebiete, die gewissermaßen eine „zweite" Wahl darstellten. So rasch Deutschland als Kolonialmacht auftrat, so schnell verschwand es auch wieder aus diesem Kreis, als es aufgrund des Versailler Vertrages 1919 alle Kolonien wieder verlor. Durch den frühen Verlust der Kolonien blieb es Deutschland aber erspart, in die Wirren der Entkolonialisierung der fünfziger und sechziger Jahre hineingezogen und als „imperialistische" oder „kolonialistische" Macht gebrandmarkt zu werden. Das frühe Ende des deutschen Kolonialreiches hatte jedoch zur Folge, daß diese Epoche im Bewußtsein der Deutschen weniger präsent ist; die jüngere Zeitgeschichte, insbesondere die Zeit des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges, prägen das Geschichtsbild unserer Gegenwart mehr als die koloniale Vergangenheit des Deutschen Reiches. Die Tatsache, daß die Entkolonialisierung in Ländern wie Großbritannien oder Frankreich erst in unseren Tagen stattfand, führte dort auch zu einer Auseinandersetzung mit dieser Problematik. In Deutschland hingegen gab es bisher nur vereinzelt eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialepoche; erwähnenswert sei hier Literatur aus der ehemaligen DDR, die sich - wohl auch aus ideologischen Gründen - mit den deutschen Kolonien beschäftigte. Gleichwohl kann die Epoche der deutschen Kolonialisierung einschließlich des deutschen Kolonialrechts auch heute noch zu aktuellen außenpolitischen Fragestellungen für die Bundesrepublik Deutschland führen; so forderten Politiker in Namibia (früher Deutsch-Südwestafrika) unlängst unter Hinweis auf die während der deutschen Kolonialzeit entstandene Konzentration von Grundeigentum in der Hand einiger burischer und deutschstämmiger Farmer, daß Deutschland die Landreform finanziell unterstützen solle (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Mai 2000). Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, die rechtlichen Aspekte der deutschen Kolonien und der Kolonialherrschaft zu beleuchten. Sie will zum einen

16

Einleitung

das Rechtssystem in den deutschen Kolonien darstellen, zum anderen untersuchen, was von diesem Rechtssystem das Ende der deutschen Kolonialzeit überdauerte und was hiervon bis in unsere Zeit erhalten blieb. Dies auch mit einem Seitenblick auf die ehemaligen britischen oder französischen Kolonien, die - zumindest formal - das Rechtssystem ihrer ehemaligen Kolonialmächte nahezu übergangslos übernommen hatten und selbständig weiterentwickelten. Nachkoloniale Bindungen wie das „Commonwealth of Nations" oder die „Communauté Financière Africaine" trugen dazu ebenso bei, wie der bei der Unabhängigkeit auftretende Sachzwang, sich an dem System der ehemaligen Kolonialmacht als einziges Vorbild orientieren zu müssen. Bei den ehemaligen deutschen Kolonien lagen vor der Unabhängigkeit jedoch noch mehrere Jahrzehnte der Mandats Verwaltung durch eine andere Kolonialmacht; die von den Deutschen eingeführte Rechtskultur mußte daher mit dem von den Mandatsmächten eingeführten Rechtssystem konkurrieren. Diese Konstellation macht es schwierig, aber auch reizvoll, nach Spuren des unter deutscher Kolonialherrschaft geltenden Rechts in den heutigen Nachfolgestaaten der ehemaligen Kolonien zu suchen. Die Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialrecht ist sicherlich keines der aktuellen rechtlichen Themen, die Gesetzgebung und Jurisprudenz heute und in der Zukunft beschäftigen wird; die Europäische Einigung mit ihrer Tendenz zur Rechtsvereinheitlichung ebenso wie die durch den technischen Fortschritt bedingte Veränderung von rechtlichen Rahmenbedingungen werden zu kontinuierlichen Veränderungen unseres Rechtssystems, wie wir es heute kennen, führen. Doch erscheint es angezeigt, ein heute nur wenig geläufiges und selten beleuchtetes Kapitel deutscher Rechtsgeschichte herauszuarbeiten und in verfassungsgeschichtlicher, rechtsververgleichender und völkerrechtlicher Hinsicht zu untersuchen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit befaßt sich mit den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, also Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Togo. Hier hatte wegen der höheren Entwicklungsstufe und Bevölkerungszahl die Rechtskultur einen für die damaligen Verhältnisse hohen Entwicklungsstand erreicht, was die Darstellung der Entwicklung und des Schicksals dieser Rechtskultur interessant werden läßt. Demgegenüber stand die - mit der Ausnahme der Stadt Tsingtau, die zum hochentwickelten chinesischen Rechtskreis gehörte - noch wenig ausgebildete Rechtskultur der deutschen Besitzungen in Asien, also die mikronesischen Inseln, Papua-Neuguinea und Samoa. Obwohl auf der Darstellung der deutschen Besitzungen in Asien kein Schwerpunkt liegt, sollen doch zur Abrundung des Gesamtbildes auch die koloniale Rechtskultur und deren Überreste in dieser Region im Überblick dargestellt werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die einzelnen Kolonialgebiete jeweils in der folgenden gleichbleibenden Reihenfolge untersucht: Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Neuguinea, Inselgebiet (Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln), Samoa und Tsingtau (Kiautschou).

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht (vgl. Karte 1: Das deutsche Kolonialreich 1914)

I . Geographischer Überblick In Afrika konzentrierten sich die deutschen Kolonialgebiete auf vier auseinanderliegende Gebiete in Ost,- West- und Südafrika. Deutsch-Ostafrika Bei dem flächenmäßig größten Schutzgebiet handelte es sich um das im Osten Afrikas gelegene Deutsch-Ostafrika mit einer Fläche von 995.000 qkm 1 und der Hauptstadt Daressalam. (Karte 2) Die durchschnittliche Nord-Süd und West-Ost-Erstreckung des Gebietes betrug etwa 1000 km 2 . Im Osten ist das Küstentiefland, das sich in 50 bis 400 km Breite ausweitet, prägend. Es geht landeinwärts in ein bis 700 m hohes Hügelland über, das wiederum in das zentrale Binnenhochland übergeht3. Die natürlichen Grenzen des Binnenhochlandes und damit Deutsch-Ostafrikas liegen im Norden das Kilimandscharo· Gebiet und der Victoria-See, im Westen der Tanganyika-See und im Südwesten der Njassa-See. Das Klima ist zweigeteilt: die Küstentiefländer zeigen tropisch heißes Klima, dagegen herrscht im Hochland ein gemäßigtes tropisches Klima vor. Wegen des Klimas bestimmt die Dornbuschsavanne die Vegetation, und nur an wenigen Stellen findet sich Trockenwald. Günstig ist das Klima aber für den Plantagenanbau von Sisal, Erdnüssen, Baumwolle, Kautschuk, Zuckerrohr, Tabak, Kokos- und Ölpalmen4. Der Bergbau beschränkte sich zur deutschen Zeit auf den Abbau von Salz, Glimmer und Gold in relativ unbedeutenden Mengen5. 1 Kurt Hassert, Deutschlands Kolonien Erwerbungs- und Entwicklungsgeschichte, Landes- und Volkskunde unserer Schutzgebiete, 2. Aufl., 1910, S. 251. 2 Francesca Schinzinger, Die Kolonien und das Deutsche Reich Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, 1984, S. 28. 3 Schinzinger, S. 28. 4 5

Adolf Heilborn, Die Deutschen Kolonien (Land und Leute), 1912, S. 7/8. Schinzinger, S. 28.

2 Fischer

18

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

1912 zählte die einheimische Bevölkerung 7,5 Millionen Menschen, wobei fast die Hälfte, nämlich 3,5 Millionen, die im Nordwesten gelegenen Gebiete Ruanda und Burundi bewohnten, dagegen lebten 1914 in Deutsch-Ostafrika nur 3579 Deutsche6. Es gab die verschiedensten Bevölkerungsgruppen: von den kleinwüchsigen Buschleuten (Pygmäen) aus dem nördlichen Hochland über die zahlenmäßig starken Bantuvölker, die sich in mehr als 100 Stämme gliederten und insbesondere an der Küste kulturell stark von Arabien und Persien geprägt wurden, bis zu den nilotischen und hamitischen Hirtenvölkern der Nordregionen, von denen der rinderzüchtende Massai-Stamm der bekannteste ist. In der Küstenregion lebten auch Araber und Inder, die insbesondere als Händler und Kaufleute tätig wurden 7. Das Gebiet von Deutsch-Ostafrika bildet heute zusammen mit den vorgelagerten Inseln Sansibar und Pemba die Republik Tansania, mit Ausnahme der unabhängigen Republiken Ruanda und Burundi im Nordwesten. Deutsch-Südwestafrika Das nach Deutsch-Ostafrika bedeutendste deutsche Schutzgebiet war DeutschSüdwestafrika mit einer Fläche von 835.000 qkm 8 . und der Hauptstadt Windhuk. (Karte 3) Es erstreckte sich in Nord-Süd-Richtung 1280 km von Angola bis Südafrika und in West-Ost Richtung über 580 km von der Küste des Atlantiks bis zur KalahariWüste. An der Küste befand sich ferner die seit 1878 britische Enklave Walfischbay. In West-Ost Richtung gliedern sich auch die Landschaftstypen: nach der Küstenwüste (Namib) folgt ein bis zu 2000 m hoher Gebirgszug (das „große Escarpment"), danach die Hochplateaus Damaraland und Namaland, die weiter östlich in die Kalahari-Wüste übergehen9. Das subtropische Klima von Deutsch-Südwestafrika kennt, abgesehen von der Küstenwüste Namib, auch im Inland lange Trockenzeiten, wobei im Norden die Niederschläge ergiebiger sind 10 . Wegen des überwiegend trockenen Klimas können nur ca. 1 % der Fläche ackerbaulich genutzt werden; ein Großteil des Landes ist dagegen für die Rinder- und Schafzucht geeignet 11 . Deutsch-Südwestafrika verfügte schon unter deutscher Kolonialherrschaft über beträchtliche Bodenschätze: neben Kupfer, Blei, Gold Uran und Zinn wurden 1908 auch Diamanten vorkommen entdeckt. 1912 betrug die einheimische Bevölkerung ca. 82.000 Menschen, während vor den großen Aufständen der Jahre 1904-1907 ca. 200.000 bis 300.000 Menschen in Deutsch-Südwestafrika lebten. Die Zahl der Europäer jedoch, wobei es sich ins6

Schinzinger, S. 37. Schinzinger, S. 37. s H as sert, S. 67. 9 Schinzinger, S. 29. 10 Heilborn, S. 82. 7

h Schinzinger, S.W.

I. Geographischer Überblick

19

besondere um deutsche Siedler handelte, stieg nach 1904 an: während sich 1901 erst 3.644 Europäer im Lande befanden, lebten 1913 schon 14.830 Europäer in Deutsch-Südwestafrika, darunter 12.292 Deutsche12. Zu den wichtigsten Bevölkerungsgruppen gehörten das Volk der Namas im Süden, von den Buren diskriminierend als „Hottentotten" (Afrikaans: Stotterer) 13 bezeichnet, sowie das in der Mitte des Schutzgebietes siedelnde Volk der Hereros. Beide Völker betrieben überwiegend Weidewirtschaft und Rinderzucht. Im südwestlichen Küstengebiet und in der Wüste Kalahari siedelten Buschleute, die zu den Ureinwohnern des südlichen Afrikas gehörten. Der Stamm der Ovambo siedelte im dicht besiedelten, aber von der deutschen Kolonialverwaltung noch wenig erschlossenen Norden 14 . Das Gebiet von Deutsch-Südwestafrika stand bis zum Jahre 1990 unter südafrikanischer Verwaltung und bildet heute zusammen mit dem Gebiet Walfischbay die Republik Namibia. Kamerun Kamerun, im westlichen Zentralafrika gelegen, hatte eine Fläche von zunächst ca. 520.000 qkm, nach der Erweiterung um Neu-Kamerun (ca. 270.000 qkm) durch das Marokko-Abkommen von 1911 erhöhte sich die Fläche auf ca. 790.000 qkm 1 5 . (Karte 4) Durch diese Gebietserweiterung erstreckte sich das Gebiet vom Tschadsee im Norden ca. 1500 km südwärts bis an den Ubangifluß 16 (Zufluß des Kongo), im Westen grenzte Kamerun an den Atlantischen Ozean. Die Landschaft wird überwiegend geprägt durch Mittelgebirge sowie ein nordöstlich gelegenes Hochland, ferner durch die im Norden gelegen Senke des Tschadsees. Inmitten des schmalen Küstensaumes zum Atlantischen Ozean erhebt sich das Bergmassiv des Kamerunberges auf ca. 4700 m Höhe. Kamerun durchläuft fast alle Klima- und Vegetationszonen von Regenwald über Savannenklima bis zum Wüstenklima17. Kaffee- Kautschuk- Kakao und Ölpalmenplantagen in den Küstengebieten, Viehzucht im Norden sowie die Holzressourcen des Regenwaldes waren die wichtigsten Wirtschaftsfaktoren Kameruns, während in der deutschen Zeit nur unbedeutende Bodenschätze bekannt waren (insbesondere Vorkommen an Zinn, Eisen, Glimmer und geringfügige Goldfunde) 18. 1912 hatte Kamerun eine einheimische Bevölke12

Jürgen Zimmerling, Die Entwicklung der Strafrechtspflege für Afrikaner in DeutschSüdwestafrika 1884-1914: eine juristisch/historische Untersuchung, 1995, S. 28; Werner Bertelsmann, Die Minderheitenrechte der deutschsprachigen Bevölkerung in Südwestafrika, Diss. 1970, S. 15. 13 Zimmerling, S. 27. 14 Schinzinger, S. 40/41. 15 August Full, Kamerun, KolRd 1932, S. 285. 16

Schinzinger, S. 30. 17 Schinzinger, S. 30. is Heilborn, S. 54, 57. 2*

20

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

rung von ca. 2,9 Millionen Menschen, außerdem lebten noch 1359 Deutsche in Kamerun. Die Bevölkerungsstruktur von Kamerun bestand aus den verschiedensten einheimischen Ethnien: der Süden und die zentralen Gebiete wurden teils von Bantustämmen, teils von Sudanvölkern bewohnt, die überwiegend Ackerbau betrieben. Den Norden bewohnten hamitische Völker, die sich überwiegend von Viehzucht und Weidewirtschaft ernährten. In den Regenwäldern des Südens lebten Pygmäenvölker 19 . Das Gebiet des deutschen Schutzgebietes Kamerun bildet heute zum überwiegenden Teil die Republik Kamerun, daneben gehören aber kleinere Gebiete zu Nigeria, Gabun, der Zentralafrikanischen Republik und dem Tschad. Togo Togo an der westafrikanischen Küste war mit einer Fläche von ca. 87.000 qkm das kleinste deutsche Schutzgebiet in Afrika. (Karte 5) Als schmaler, zwischen 50 und 100 km breiter Streifen erstreckte sich Togo von der Küste am Golf von Guinea ca. 600 km nach Norden in den Bereich der Sudanlandschaft 20. Neben dem schmalen Küstenstreifen und einer zentralen Hochfläche sind vor allem das zentrale Togogebirge sowie die nördliche Tiefebene prägende Landschaftsformen. Dem tropischen Klima im Süden steht das Wüstenklima des Nordens gegenüber. Demzufolge gab es auch klimabedingte Unterschiede in den Wirtschaftsfaktoren: während im tropischen Süden der Plantagenanbau von Baumwolle, Olpalmen, Kaffee und Kakao betrieben wurde, herrschte im trockenen Norden die Weidewirtschaft vor. An nennenswerten Bodenschätzen kamen nur die Eisenerzvorkommen im Norden in Betracht; bei Anécho im Süden wurde ferner eine Kalksteinlagerstätte ausgebeutet, im Übrigen gab es kleinere Funde von Chrom, Nickel und Gold 21 . In Togo lebten 1912 ca. 1 Million Einheimische, jedoch nur 316 Deutsche. Die einheimische Bevölkerung setzte sich aus über 40 Volks- und Stammesgruppen zusammen. Während im Süden überwiegend der Stamm der Ewe siedelte, war die Bevölkerungsstruktur in der Mitte und im Norden sehr uneinheitlieh 2 2 Auf dem Gebiet des deutschen Schutzgebiets Togo befindet sich heute die Republik Togo; der westliche Landstreifen des Schutzgebietes allerdings ist heute ein Teil der Republik Ghana. Deutsch-Neuguinea Bei dem - von der Landfläche - größten deutschen Schutzgebiet in Asien handelte es sich Deutsch-Neuguinea, das den nordwestlichen Teil der Insel Neuguinea 19

Zusammenfassend: Schinzinger, S. 37. 20 Hassert, S. 199. 21 Heilborn, S. 34. 22 Schinzinger, S. 45.

I. Geographischer Überblick

21

(in der deutschen Kolonialzeit Kaiser-Wilhelms-Land) 23 umfaßte und zusammen mit den vorgelagerten Inseln des Bismarck-Archipels und den nördlichen Salomoneninseln Buka und Bougainville eine Fläche von 240.000 qkm hatte 24 . (Karte 6) Sowohl Neuguinea als auch die Inseln des Bismarck-Archipels sind durch mehrere, bis zu 5000 m hohe Gebirgsketten geprägt. Das Klima ist überwiegend feucht-tropisch, in den höheren Bergketten gemäßigt. Dementsprechend findet man in den tropischen Gebieten Regenwälder, in den gemäßigten Regionen offene Grasfluren. Der hauptsächliche Wirtschaftsfaktor bestand in der landwirtschaftlichen Nutzung der Kokospalme, daneben wurde auch der Plantagenanbau von Kakao und Kautschuk betrieben. Die - wie man heute weiß - reichen Bodenschätze von Neuguinea (ζ. B. Gold) waren zur deutschen Zeit noch nicht entdeckt25. Die Bevölkerung betrug 1912 ungefähr 400.000 Einheimische und (1908) 647 Europäer, davon 484 Deutsche26. Die einheimische Bevölkerung setzte sich an der Küste von Neuguinea und auf den Inseln des Bismarck-Archipels aus melanesischen Volksstämmen zusammen, im - zur deutschen Zeit nur wenig erforschten - Landesinneren von Neuguinea und auf der zum Bismarck-Archipel gehörenden Insel Neumecklenburg lebten Papua-Volksstämme auf einer vergleichsweise niedrigen technischen Entwicklungsstufe. Das Gebiet von Deutsch-Neuguinea bildet heute zusammen mit dem südöstlichen Teil der Insel Neuguinea die seit 1975 unabhängige Republik Papua-Neuguinea (in der Landessprache: Papua-Niugini). Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln einschließlich Nauru Zu den deutschen Schutzgebieten gehörten auch die im Westpazifik zwischen Neuguinea, Japan und den Philippinen gelegenen Inselgruppen der Palau-Inseln, der Marianen, Karolinen und Marshall-Inseln sowie die südlicher gelegene Insel Nauru mit einer Gesamtfläche von 2476 qkm 2 7 . (Karte 6) Auf den Inseln bestimmt das tropische Klima die Vegetation. Während dichte Regenwälder im Inneren der Inseln eine Erschließung erschwerten, war an den Küsten der Plantagenanbau von Kokospalmen, Kakao und Kautschuk möglich. Zu den bedeutendsten Bodenschätzen der Inseln gehörten die reichen Phosphatvorkommen auf der Insel Nauru 28 . Die ca. 2100 Inseln 29 waren nur dünn besiedelt, viele unbewohnt; auf den Marianen beispielsweise siedelten 1910 nur ca. 3.000 23 Karlheinz Graudenz/Hanns Michael Schindler, Deutsche Kolonialgeschichte in Daten und Bildern, 1984, S. 219. 24 Ernst Gerhard Jacob, Kolonialpolitisches Quellenheft, 1935; Schinzinger, S. 37. 2 5 Schinzinger, S. 34. 26 Hassert, S. 406. 27

Schinzinger, S. 37. Schinzinger, S. 34. 29 Grant Κ Goodman/Felix Moos, The United States and Japan in the Western Pacific: Micronesia and Papua New Guinea, 1981 S. 18. 28

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Einheimische30, 1912 lebten auf den Inseln 232 Deutsche31. Die einheimische Bevölkerung bestand fast ausschließlich aus mikronesischen Volksstämmen32. Das ehemals unter deutscher Kontrolle stehende Inselgebiet teilt sich heute auf in die unabhängigen Staaten Palau, die Vereinigten Staaten von Mikronesien (zu denen die Karolinen gehören), die Marshall-Inseln und Nauru; die Marianen sind ein mit den USA assoziiertes Territorium. Samoa Teil des deutschen Kolonialreiches waren auch die (West)-Samoa Inseln Savaii und Upolu sowie die kleine Insel Manono mit einer Gesamtfläche von 2.900 qkm 3 3 . (Karte 6) Vorherrschend ist feucht-tropisches Klima; der fruchtbare Boden ermöglicht das Betreiben von Landwirtschaft 34 und Plantagenwirtschaft (Kokospalmen, Kakao, Bananen, Zuckerrohr und Kautschuk)35. Nennenswerte Bodenschätze existieren nicht auf Westsamoa. Für 1912 bezifferte sich die einheimische Bevölkerung (ausschließlich Polynesier 36) auf ca. 35.000 Personen, dazu kamen noch 294 Deutsche37. Westsamoa ist heute ein souveräner Staat (in der Landessprache: Samoa i Sisifo). Tsingtau (Qingdao) - Pachtgebiet Kiautschou (Jiaozhou) Auch die auf der Halbinsel Schantung (Shandong) im Nordosten Chinas gelegene Stadt Tsingtau (Qingdao) nebst umliegender Gebiete mit einer Fläche von ca. 600 qkm 3 8 am Ausgang der Bucht von Kiautschou (Jiaozhou) war deutscher Kolonialbesitz39. (Karte 7) Das Schutzgebiet umfaßte die beiden Halbinseln, die die Bucht bildeten, ferner einige in der Bucht liegende Inseln 40 . Die Stadt Tsingtau befand sich auf der östlichen, gebirgigen Halbinsel mit Bergen bis zu 1000 m Höhe; die südliche Halb30 Hassert, S. 408. 31 Schinzinger, S. 37. 32 Graudenz/Schindler, S. 220. 33 Robert D. Craig /Frank P. King, Historical Dictionary of Oceania, 1981, S. 329. 34 Craig/King, S. 329. 35 Heilborn, S. 158. 36 Graudenz/ Schindler, S. 220. 37 Schinzinger, S. 37. 38 Schinzinger, S. 37. 39 Die chinesische Stadt Kiautschou gab sowohl der Bucht, als auch dem Schutzgebiet ihren Namen, vgl. Graudenz/Schindler, S. 243. 40 Anton Mayer, Das Pachtgebiet Tsingtau bis zum Weltkriege, in: Anton Mayer (Hrsg.): Das Buch der deutschen Kolonien, 1934, S. 201.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

23

insel war gering bevölkert und ohne Bedeutung für das Schutzgebiet41. Das Klima wird durch die Monsune bestimmt und ähnelt mit seinen 4 Jahreszeiten europäischen Klimaten 42 . Die einheimische Bevölkerung bestand aus Chinesen und betrug 1897 noch 83.000, 1913 aber schon 192.000 Einwohner 43. 1913 lebten außerdem 2069 Europäer (davon 1855 Deutsche) im Schutzgebiet Kiautschou, hinzu kamen noch die ca. 2000 bis 2400 Soldaten der Marinetruppen 44. Die Einheimischen betrieben vor allem Landwirtschaft, Handwerk wie Töpferei, Wollspinnerei sowie Handel aller Art 4 5 . Die Stadt Tsingtau (Qingdao) ist der fünftgrößte Handelshafen der Volksrepublik China und zählt heute ca. 6,9 Millionen Einwohner (1999) 46 .

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete" 1. Die frühen Kolonisationsversuche des 16. bis 18. Jahrhunderts, insbesondere die brandenburgischen Kolonien Der Aufbau des deutschen Kolonialreiches in Übersee begann erst 1884 und damit im Vergleich zu den Kolonialreichen Portugals, Spaniens, Großbritanniens und Frankreichs 1 recht spät. Allerdings gab es schon seit dem 16. Jahrhundert teils erfolgreiche, teils schon in den Anfängen steckengebliebene Kolonisationsversuche deutscher Fürsten und Kaufleute. Deutsche Handels- und Kolonisationsinteressen in Ubersee zeigten sich erstmals im Jahre 1528. In diesem Jahr erhielt das Augsburger Kaufmannshaus der Welser von Spanien Konzessionsrechte in Venezuela, die sie zur Ausbeutung und Erschließung des Landes berechtigen2. In den folgenden Jahren transportierten die Welser deutsche Bergleute und einige hundert deutsche Einwanderer nach Venezuela, insbesondere in das Gebiet des Maracaibo-Sees, und begannen mit der Einsetzung eigener Statthalter und Feldhauptleute. Wie sich aber mit der Zeit herausGraudenz/Schindler, S. 244. 42 Mayer, S. 201. 43 Ernst Gerhard Jacob, Deutsche Kolonialpolitik in Dokumenten, 1938, S. 420. 44 Fuh-teh Huang, Qingdao. Chinesen unter deutscher Herrschaft 1897-1914,1999, S. 58. 45 Mayer, S. 202. 46 WirtschaftsForum, Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main, Heft 5/1999, S. 26 (28). ι Zum Aufbau der spanischen und portugiesischen Kolonialreiche vgl. David K. Fieldhouse, Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert, 1965, S. 19 ff., zum britischen Kolonialreich vgl. Fieldhouse, S. 49 ff. und S. 215 ff., zum französischen Kolonialreich vgl. Fieldhouse, S. 26 ff. und 230 ff. 2Graudenz/Schindler, S. 1 .

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

stellte, bestand das Interesse der Welser weniger an einer Erschließung des Landes, als vielmehr darin, die „sagenhaften" Goldschätze Südamerikas zu erbeuten. Wegen ihres wucherischen Handels in Venezuela wurden den Welser im Jahre 1556 dort alle Konzessionsrechte entzogen3. Ein ähnlicher Kolonisationsversuch der Welser im Jahre 1534 am Rio de la Plata im heutigen Argentinien scheiterte ebenfalls nach wenigen Jahren4. Ein Deutscher, Peter Minewit aus Wesel, war an der Gründung von New York im Jahre 1626 beteiligt. Später, im Jahre 1636, gründete er an der Mündung des Delaware das Fort Christina. Wegen mangelnder Unterstützung aus Deutschland ging das Fort später in holländischen Besitz über 5. Ein weiterer Kolonisationsversuch des Herzogs Jakob von Kurland im Jahre 1651 an der Mündung des Gambia-Flusses in Westafrika und auf der Insel Tobago in Westindien brach schon wenige Jahre später zusammen6. Pläne des Grafen Friedrich Casimir von Hanau im Jahre 1669 zu Gründung einer Kolonie im heutigen Französisch-Guayana („Hanauisch-Indien") kamen wegen der schlechten finanziellen Situation der Grafschaft Hanau nicht zu Ausführung 7. Bemerkenswert waren die Kolonisationsbestrebungen des Großen Kurfürsten von Brandenburg-Preußen 8. Nach seinem Sieg über Schweden 1675 in der Schlacht bei Fehrbellin baute der Große Kurfürst mit Hilfe des niederländischen Schiffsreeders Benjamin Raule eine brandenburgische Flotte von 10 Schiffen auf 9. Eine von Raule initiierte Expedition an die Westküste Afrikas (beim Kap Très Puntas an der Goldküste, dem heutigen Ghana) im Jahre 1680 stand unter Schutz und Flagge des Großen Kurfürsten und wurde von „20 brandenburgischen Musketieren, 2 Unteroffizieren und einem Ingenieur" begleitet10. Nach dem Erfolg dieser Expedition 11 wurde 1682 vom Großen Kurfürsten eine „Afrikanische Handelskompagnie" 12 gegründet, die ihren Sitz zunächst in Königsberg, ab 1684 in Emden hatte, damals der einzige brandenburgische Nordseehafen von Bedeutung13. Eine 3 Hassen, S. 9/10. 4

Graudenz/Schindler, S. 15. Schinzinger, S. 13. 6 Schinzinger, S. 13. 7 Vgl. Horst Gründer, „.. .da und dort ein junges Deutschland gründen", 1999, S. 10/11. 8 Umfassend hierzu: Adolf Götz, Die brandenburgisch-preußische Kolonisation in Guinea unter Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, ZfK (8) 1906, S. 767-780. 5

9

Georg Wegener, Das deutsche Kolonialreich, 1937, S. 24; Graudenz/Schindler, 10 Wegener, S. 24.

S. 15.

h Trotz einiger Auseinandersetzungen mit den an dieser Küste schon vertretenen Holländern wurden Verträge mit einheimischen Häuptlingen geschlossen, die ihr Einverständnis für die Errichtung eines Forts und für die brandenburgischen Handelsaktivitäten gaben, vgl. Wegener, S. 25. ι 2 „Edikt wegen Oktroyierung der aufzurichtenden Handelkompagnie auf denen Küsten von Guinea" - mit „denen Küsten" waren die Gold- und Elfenbeinküste gemeint, also das Gebiet der Expedition von 1680/81, vgl. Graudenz/Schindler, S. 17. 13 Hassen, S. 15/16.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

25

weitere brandenburgische Expedition unter dem Befehl des Majors Otto Friedrich von der Groeben landete 1682 an der gleichen Stelle wie die frühere Expedition und gründete am 1. Januar 1683 mit „feierlicher Flaggenhissung" Fort und Siedlung Großfriedrichsburg 14. Kurz darauf wurden mit den einheimischen Häuptlingen in der Umgebung Schutz- und Handelsverträge abgeschlossen und das Fort massiv befestigt 15. 1684 errichteten brandenburgische Soldaten weiter östlich die Dorotheenschanze16, kurze Zeit später die kleinen Forts Sophie Louise und Taccarary 17 . 1685 wurde auch an der Westküste Afrikas auf der Insel Arguin (im heutigen Mauretanien) ein brandenburgisches Fort erbaut 18. Die brandenburgische Afrikanische Handelskompagnie erlangte rasch eine wichtige Stellung im afrikanischen Gummihandel, nutzte die afrikanischen Forts aber auch als Ausgangsbasis für den gewinnbringenden Sklavenhandel19. Zu diesem Zweck pachtet Brandenburg 1687 einen Teil der dänischen Insel St. Thomas in Westindien (heute als Teil der Jungferninseln ein mit den Vereinigten Staaten assoziiertes Territorium); die dort gegründete brandenburgische Niederlassung erlangte daher vor allem als Sklavenmarkt Bedeutung20. Nach dem Tod des Großen Kurfürsten 1688 fand die koloniale Expansion Brandenburgs ein jähes Ende. Unter der Herrschaft des Sohnes und Nachfolgers des Großen Kurfürsten, Friedrich III. (später als Friedrich I. erster „König in Preußen") stagnierte und verfiel das brandenburgische koloniale Engagement; die Schulden der Afrikanischen Handelskompagnie wuchsen, die Konflikte mit den anderen Kolonialmächten, insbesondere mit Holland, nahmen zu 2 1 . Sein Sohn, der sparsame „Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I., verkaufte 1721 schließlich die Besitzungen in Afrika für 7200 Dukaten und 12 „Mohren" an die Holländer. Gegen die Beschlagnahme der brandenburgischen Niederlassung auf der Insel St. Thomas durch Dänemark 1731 unternahm Friedrich Wilhelm I. keinerlei Schritte, so daß auch dieser brandenburgische Stützpunkt erlosch 22. Sein Nachfolger Friedrich II. (der Große) zeigte zwar nicht am Erwerb von Kolonien, jedoch am Kolonialhandel großes Interesse. Er beteiligte sich 1751 an der Gründung der Asiatisch-Chinesischen Handelsgesellschaft in Emden, die zunächst gewinnbringend Handel mit China betrieb. Die Tätigkeit der Asiatisch-Chinesischen Handelsgesellschaft endete jedoch mit der Besetzung Emdens 1757 durch französische Truppen im Siebenjährigen 14 Wegener, S. 26; ausführlich zur Geschichte des Forts: Christoph Voigt, Neue Forschungen über Groß-Friedrichsburg, KolMBl/ZfK (15) 1913, S. 355 ff. 15 Graudenz/Schindler, S. 17. 16 Wegener, S. 27.

π Voigt, S. 359. is Hassen, S. 15. 19 Graudenz/Schindler, 20 Wegener, S. 27. 21 Hassen, S. 16. 22 Graudenz/Schindler,

S. 17/18.

S. 19; Wegener, S. 28.

26

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Krieg 23 . Das Interesse Friedrichs II. am Kolonialhandel zeigte sich auch später noch, insbesondere in der Gründung der preußischen Seehandlung in Berlin 177224. Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die österreichischen Kolonialunternehmungen des 18. Jahrhunderts. So gründete der Österreicher Wilhelm Bolts die Österreichisch-Ostindische Handelskompagnie und versuchte 1776 an der Südostküste Afrikas in der Delagoa-Bay (heute Mosambik) eine österreichische Kolonie zu gründen. Diese Besitzungen wurden aber schon 1781 von den Portugiesen erobert und 1785 offiziell aufgegeben 25. 1778 besetzte die Triester Compagnie, eine zum Zwecke des Uberseehandels gegründete österreichische Handelsgesellschaft, die zwischen Indien und Singapur gelegene Inselgruppe der Nikobaren, mußte sie jedoch schon 1785 wieder aufgeben 26

2. Deutsche Missionare und Handelsgesellschaften als Wegbereiter im 19. Jahrhundert Die Gründung des Deutschen Bundes 1815 führte zusammen mit der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland und damit zu einem beträchtlichen Bevölkerungszuwachs. Dieser wiederum löste eine verstärkte deutsche Auswanderung aus 27 . Die beginnende Industrialisierung verstärkte auch das Interesse am Erwerb von Kolonien als Rohstofflieferanten; so vertrat Friedrich List, der Initiator des Deutschen Zollvereins, schon früh diesen Gedanken28. Der Auswanderungs- und Kolonisationsgedanke waren denn auch vorherrschend für die kolonialen Unternehmungen im 19. Jahrhundert. Ab 1820 entstanden im klimatisch begünstigten südlichen Brasilien (im heutigen brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina) deutsche Siedlungen, vorwiegend angelegt von rheinländischen, pommerschen und schwäbischen Bauern 29. Dem „Hamburger Kolonisationsverein" gelang es in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Auswanderung in die deutschen Siedlungen in Brasilien erheblich voranzutreiben. 1858 allerdings verbot die preußische Regierung mit dem

23 Graudenz / Schindler, S. 19. 24 Schinzinger, S. 14; Die preußische Seehandlung ging 1930 in der preußischen Staatsbank auf, die nach dem Krieg in Hamburg, später wieder in Berlin arbeitete und heute als „ruhende Altbank" nach dem Berliner Altbankengesetz fortlebt, vgl. Reinhard Mußgnug, Das Staatserbe Preußens - Rechtslage und Verfassungswirklichkeit - in: Johannes Kunisch, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 2, 1992, S. 3. 25 26 27 28 29

Schinzinger, S. 14. Percy Ernst Schramm, Deutschland und Übersee, 1950, S, 86. Hassert, S. 21/22. Schinzinger, S. 14. Graudenz/Schindler, S. 20.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

27

„von der Heydt'schen Reskript" für Preußen die Auswanderung nach Brasilien - in Unkenntnis der Gegebenheiten in Brasilien, denn die preußische Regierung wollte nur die Auswanderung in die tropischen Gebiete verhindern, nicht jedoch in gemäßigte Klimazonen30. Schon vorher waren deutsche Kolonisationsversuche in Mittelamerika am Klima und an Geldmangel gescheitert, so 1843 in Guatemala und 1852 in Nicaragua; lediglich in Costa Rica kam es zu größeren erfolgreichen Ansiedlungen deutscher Einwanderer 31. Deutsche Einwanderer faßten in Chile ab 1846 und in Peru ab 1851 Fuß 32 . Ein „Verein zum Schutze deutscher Einwanderer in Texas", der 1842 in Mainz gegründet wurde, betrieb das Projekt, in Nordamerika eine deutsche Siedlungskolonie zu gründen, und schickte 5000 deutsche Einwanderer nach Texas; das Projekt scheiterte jedoch, nachdem 1845 die Republik Texas den Vereinigten Staaten beigetreten war 33 . Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der Versuch des Hamburger Syndikus Karl Sieveking im Jahre 1841, die bei Neuseeland gelegenen Chatham-Inseln (Warekauri-Inseln) zwecks Kolonisation durch deutsche Auswanderer zu erwerben. Zwar kam es im Jahre 1842 noch zur Gründung einer „Kolonialgesellschaft". Im gleichen Jahr aber scheiterte das Projekt wegen britischer Souveränitätsansprüche 34. Zeitgleich mit den Aktivitäten der Handelshäuser in Ubersee, oft sogar etwas früher, manchmal auch im Zusammenwirken mit Handelshäusern, begannen die Aktivitäten deutscher Missionsgesellschaften in Afrika und Asien. Seit 1806 wirkten Missionare der Londoner Missionsgesellschaft in Südwestafrika 35; der erste deutsche Missionar in Südwestafrika, Heinrich Schmelen, gründete 1814 eine Missionsstation in Bethanien36. Im Jahre 1842 schickte die Rheinische Missionsgesellschaft 3 Missionare nach Südwestafrika, die dort 1844 mit Groß-Barmen (Otjikango) die erste Missionsstation errichteten 37. Durch gleichzeitig betriebenen Handel - auch Waffen sollen gehandelt worden sein 38 - wurde das Missionswesen dort auch zu einem Wirtschaftsfaktor. Die Mission entwickelte sich später - wie übrigens auch in den anderen deutschen Kolonien - neben ihrer Handelsaktivitäten zu einem wesentlichen Faktor kolonialer Politik und vertrat in den meisten Fällen die Interessen der - späteren - deutschen Kolonialmacht39. Das Wirken der Rheini30 Graudenz/Schindler, S. 24. Schramm, S. 65. 32 Schramm, S. 67. 33 Schramm, S. 58. 34 Ernst Jacobi, Ein Hamburger Versuch deutscher Kolonialpolitik vor 90 Jahren, KolRd (25) 1933, S.309/310 35 Mathias Oldhaver, Die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe in Namibia - Ihre Bedeutung als Faktor in den deutsch-namibischen Beziehungen, 1997, S. 30. 36 JohnJ. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia, 1994, S. 171. 37 Graudenz/Schindler, S. 20. 38 Oldhaver, S. 30. 39 Johannes Lucas de Vries, Namibia, Mission und Politik (1880-1918), 1980, S. 79, 82, 130. 31

2 8 Α .

Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

sehen Missionsgesellschaft überdauerte die deutsche Herrschaft und führte 1967 zur Gründung der Evangelisch-Lutheranischen Kirche unter ihrem ersten farbigen Präses Johannes Lucas de Vries 40 . In Ostafrika war seit 1887 die Berliner Evangelische Missionsgesellschaft aktiv, deren Tätigkeit 1903 von der Berliner (lutheranischen) Mission übernommen wurde 41 . Ab 1891 wurde im Gebiet von Deutsch-Ostafrika auch die Leipziger Mission tätig. Nach dem ersten Weltkrieg übernahm die Augustana-Mission aus den Vereinigten Staaten die Arbeit der deutschen Missionen42. In Kamerun begann 1846 die Missionierung durch englische Baptisten-Missionare, die bis 1884 Missionsstationen in Victoria (heute Limbé) und Douala gründeten. Ab 1886 wurde die - vom Deutschen Reich unterstützte - Basler Mission tätig, später wurden auch Missionare der deutschen Baptistenmission, der katholischen Pallotinermission und der amerikanischen Presbyterianischen Mission aktiv 43 . Nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft entwickelten sich die meisten Missionen in Kamerun bis 1966 zu der kamerunischen presbyterianischen Kirche 44 . An der Küste der späteren deutschen Kolonie Togo wurde 1853 die erste Missionsstation von Missionaren der Norddeutschen bzw. Bremer Missionsgesellschaft errichtet 45, die die Missionierung unter der deutschen Herrschaft intensivierte 46 . Nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft entwickelte sich aus der Bremer Missionsgesellschaft - die ihre Tätigkeit in Togo einstellen mußte - die evangelische Ewe-Kirche 47 . In Neuguinea wurden lutheranische und katholische Missionare erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts tätig, gefolgt von Missionaren der methodistischen Mission 48 . Auf den deutschen Pazifikinseln wurden Missionsstationen von deutschen protestantischen Missionaren, aber auch von der evangelischen BostonMission errichtet. Insgesamt waren im Jahre 1904 in den deutschen Kolonien 430 weiße Missionare und 200 Laienbrüder in 300 Hauptmissionen und ca. 1000 Nebenstationen tätig 49 . 40

John J. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia, 1994, S. 133. Laura S. Kurtz, Historical Dictionary of Tanzania, 1978, S. 21. 4 2 Kurtz, S. 106. « Full, S. 314. 41

44 Mark W. DeLancey/H. Mhella Mokba, Historical Dictionary of the Republic of Cameroon, 2. Aufl., 1990, S. 40. 45 Die Missionsstationen wurden 1869 in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Ashanti und Ewe hineingezogen und z.T. zerstört, vgl. British Colonial Office (Hrsg.): Report on the Administration under Mandate of British Togoland 1924, S. 4. 46 Jürgen Theres, Die Evolution der politisch-administrativen Strukturen in Togo - Eine Fallstudie zur administrativen Anthropologie, Diss. 1988, S. 13/14. 47 Samuel Decalo, Historical Dictionary of Togo, 3. Aufl., 1996, S. 74. 48

John Dademo Waiko, A short history of Papua New Guinea, 1993, S. 52/53. 49 Schreiber, Koloniales Kirchenrecht, ZfK (6) 1904, S. 871.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

29

Wie schon erwähnt, führte das - durch das Wirtschaftswachstum ausgelöste Interesse an überseeischen Rohstoffen zu intensiven Aktivitäten deutscher Handelshäuser. In den Jahren 1844/45 gründeten Hamburger und Bremer Kaufleute an verschiedenen Stellen der späteren deutschen Kolonie Togo Faktoreien; in Kamerun wurden zwischen 1862 und 1868 vom Hamburger Handelshaus Woermann Niederlassungen errichtet 50; 1875 begann das Hamburger Handelsunternehmen Jantzen & Thormälen mit der Errichtung von Faktoreien in Kamerun 51. Insbesondere in Togo zeigt sich auch die enge Verflechtung von Mission und Handel: zur finanziellen Unterstützung der dort tätigen Bremer Missionsgesellschaft wurde 1856 das mit der Missionsgesellschaft eng verbundene bremische Handelshaus Vietor und Söhne gegründet 52. Dieses sicherte sich bis 1882 durch Verträge mit den einheimischen Häuptlingen das Handelsmonopol im Küstenbereich des späteren Schutzgebietes Togo 53 . In Asien sind vor allem die Handelsaktivitäten des Hamburger Handelshauses Johann Cesar Godeffroy zu erwähnen, das um 1850 im Pazifikraum, insbesondere in Australien, Chile, Tahiti und auf den Tuamoto-Inseln tätig war. Von einer 1857 errichteten Handelsstation auf der Samoa-Insel Upolu aus expandierte Godeffroy nach Tonga, zu den Karolinen und Marshall-Inseln und nach Neuguinea und erreichte eine wichtige Stellung im Handel mit Kokosprodukten, insbesondere Kopra und Kokosöl. Die Übernahme der Firma Hernsheim im Jahre 1879, die den Koprahandel auf den Karolinen und den Marshall-Inseln betrieb 54 , führte zu einer weiteren Vergrößerung 55. Hauptkonkurrent von Godeffroy war das ebenfalls aus Hamburg stammende Handelshaus Rüge & Co., das sich ab 1870 in den Koprahandel auf Samoa, Fiji und Tonga einschaltete56. Nach einem zwei Dekaden dauernden Konkurrenzkampf brach Rüge & Co. 1888 zusammen57. Niederlassungen deutscher Handelshäuser bestanden auch seit 1840 in Singapur, seit 1850 in Cochinchina (heute Vietnam) und seit 1858 in Siam (heute Thailand) 58 . Handelsinteressen waren der entscheidende Beweggrund für ein deutsches Engagement in China. Im Zuge der in der Mitte des 19. Jahrhunderts erzwungenen „Öffnung" der chinesischen Häfen für Schiffe europäischer Staaten und der Vereinigten Staaten erhielt 1861 auch Preußen im Rahmen eines Handelsvertrages die Erlaubnis zum Handel mit China. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Deutsche Reich zum zweitgrößten Handelspartner (nach Großbritannien), und es ent-

50 Graudenz/Schindler, 51

S. 20.

Graudenz/Schindler, S. 26. 52 Peter Sebald, Togo 1884-1914 Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie" auf der Grundlage amtlicher Quellen, 1988, S. 32. 53 Theres, S. 13. 54 Graudenz/Schindler, S. 25. 55 Craig/King, S. 106. 56 Craig/King, S. 254. 57 Craig/King, S. 255. 58 Schramm, S. 88-91.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

stand schließlich das Bedürfnis nach einer Niederlassung des Deutschen Reichs an der chinesischen Küste 59 . Flankiert wurde die Tätigkeit deutscher Missionare und Kaufleute in Afrika und Asien von der Arbeit deutscher Forscher. Von 1849 bis 1852 bereisten Heinrich Barth und Eduard Vogel Gebiete in Nord- und Zentralafrika, unter anderem auch Gebiete der späteren Kolonie Kamerun 60. Der Arzt, Afrikaforscher und Diplomat Gustav Nachtigal unternahm Reisen durch Nord- und Zentralafrika und erwarb später (Hissung der deutschen Flagge 1884) Togo und Kamerun für das Deutsche Reich 61 . In Südwestafrika bereiste der Missionar und Afrikaforscher Karl Hugo Hahn das Herero- und das Ovamboland62. Im Zusammenhang mit der Erforschung von Ostafrika sind vor allem A. Roscher (1860) und Karl Klaus von der Decken (1865) zu nennen63. Der Geologe Ferdinand Freiherr von Richthofen bereiste China und Japan und trug zu neuen Erkenntnissen über Ostasien bei; er war auch Teilnehmer der preußischen Expedition, die 1861 den schon erwähnten Handelsvertrag mit China Schloß64.

3. Rechtfertigungen für den Erwerb von Kolonien im Deutschen Reich nach 1871 Handelsinteressen, missionarische Tätigkeiten und Forschungsreisen einerseits und das nach der Reichsgründung erstarkte nationale Selbstbewußtsein andererseits ließen nach 1871 den Wunsch der öffentlichen Meinung nach dem Erwerb von Kolonien durch das Deutsche Reich entstehen. Geprägt von sozialdarwinistischen Motiven, denen zufolge der organische Überlebenskampf in den Bereich der Nationen und Volker zu übertragen sei, sah die öffentliche Meinung das Deutsche Reich nach dem erfolgreichen Abschluß der inneren Einigung nunmehr als eine „starke", aufstrebende Nation an, die sich das Ziel setzen müsse, Weltmacht zu werden 65. Um aber zur Weltmacht aufzusteigen, bedürfe es des Aufstiegs zur Seemacht und zur Kolonialmacht66. Aus diesem Weltgeltungsanspruch ergab sich auch die Rechtfertigung der Herrschaft der „weißen Rasse" und die Legitimierung

59 Anton Mayer, S. 200. 60 Graudenz/Schindler, S. 23. 61

Ralph Erbar, Ein „Platz an der Sonne?" Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884-1914, 1991, S. 9. 62 Graudenz/Schindler, S. 24. 63 Graudenz/Schindler, S. 24, 26. 64 Graudenz/Schindler, S. 24. 65 Gründer, S. 222. 66 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Bd. 4, 2. Aufl., 1982, S. 606.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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der bevorzugten Stellung des eigenen Volkes gegenüber den Angehörigen „unterlegener" Rassen67. Unterstützt wurde die koloniale Stimmung auch durch die Anfänge einer deutschen Kolonialliteratur 68, die ein teils verklärendes Bild von Kolonialromantik (bis hin zur Trivialliteratur) zeichnete, teils aber auch die deutschen Expansionsbestrebungen und das rassische Überlegenheitsgefühl gegenüber dem „Neger" - auch nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft - rechtfertigen wollte 69 . Seit den siebziger Jahren begannen auch die politischen Parteien, insbesondere die Nationalliberalen und die Freikonservativen, später auch die Freisinnigen und die Nationalkonservativen, mit der Unterstützung des kolonialen Gedankens70. Gefördert wurde dies durch das Wirken einflußreicher kolonialpolitischer Verbände wie dem 1882 gegründeten „Deutschen Kolonialverein" oder der 1884 von Carl Peters gegründeten „Gesellschaft für deutsche Kolonisation" 71 . Letztere war dann maßgeblich an der Besitzergreifung von Deutsch-Ostafrika beteiligt 72 . Beide Vereinigungen wurden 1887 zur „Deutschen Kolonialgesellschaft" verschmolzen 73. Die Möglichkeit des Erwerbs von Kolonien war schon in der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 (Bismarck'sche Reichsverfassung, BRV) 7 4 vorgesehen: nach Art. 4 Nr. 1 (gleichlautend mit Art. 4 der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 16. April 1867) „unterliegen der Beaufsichtigung und der Gesetzgebung des Reichs auch die Bestimmungen... über die Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern". Trotz dieser Möglichkeit, Kolonien zu erwerben, stand Reichskanzler Bismarck der Begründung deutscher Kolonien ablehnend gegenüber. So lehnte es Bismarck nach dem Ende des deutschfranzösischen Krieges von 1870/71 ab, französischen Kolonialbesitz (es handelte 67 Gründer, S. 222. 68 So wie die Kolonien für die Literatur ein Modethema wurden, so entwickelte sich auch die Beschäftigung mit deutschem Kolonialrecht zu einem Modethema für rechtswissenschaftliche Dissertationen der Jahre ab 1890; so beschäftigten sich in der Zeit zwischen 1901 und 1916 ca. 80 rechtswissenschaftliche Dissertationen mit dem deutschen Kolonialrecht, vgl. Friedrich Schack, Das deutsche Kolonialrecht in seiner Entwicklung bis zum Weltkriege, 1923, S. 422-424. 69

Zu den Schriftstellern der zweiten Literaturgruppe zählte Hans Grimm, der mit seinen Romanen „Der Ölsucher von Duala" (1918), „Volk ohne Raum" (1926) und „Die Geschichte vom alten Blut und von der ungeheuren Verlassenheit" (1931) den „Blut und Boden"-Vorstellungen des Nationalsozialismus entsprach, vgl. hierzu umfassend: Joachim Warmbold, Deutsche Kolonial-Literatur - Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas, 1982, S. 212 ff., 277 ff. 70 Huber, S. 607. 71 Ernst Gerhard Jacob, Deutsche Kolonialkunde, 1940, S. 27. 72 Kurtz, S. 196. 73 Jacob, Kolonialkunde, S. 27. 74 Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (Bismarck'sche Reichsverfassung), RGBl. 1871, S. 63 und Heinrich Triepel, Quellensammlung zum deutschen Reichsstaatsrecht, 1901, S. 1.

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

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sich hier um die indische Stadt Pondichéry südlich von Madras sowie um das Gebiet von Saigon im heutigen Vietnam) als Kriegsentschädigung anzunehmen75. 1874 wies Bismarck das Angebot des Sultans von Sansibar zurück, die Schutzherrschaft über die Insel Sansibar zu übernehmen; im gleichen Jahr nahm er die Möglichkeit, Nord-Borneo (heute ein Teil von Malaysia) und die Sulu-Inseln (heute ein Teil der Philippinen) für das Deutsche Reich zu erwerben, nicht wahr 76 . Hintergrund der Zurückhaltung von Bismarck war, daß er Konflikte mit den anderen Kolonialmächten, vor allem mit Großbritannien, die sich zwangsläufig bei der Aufteilung von Interessensphären in den unerschlossenen und kaum vermessenen Gebieten Afrikas ergeben mußten, vermeiden wollte. Außerdem sah er die hohen Kosten für die Erschließung und Verwaltung von Kolonien als unverhältnismäßig gegenüber einem möglichen Nutzen an 77 ; auch das Fehlen einer ausreichend großen Flotte sprach für ihn gegen den Erwerb von Kolonien 78 . Eine Wende der Bismarck'schen Politik markierte die sogen. Samoa-Vorlage. Das im Pazifikraum operierende Hamburger Handelshaus Godeffroy war 1879 in finanzielle Schwierigkeiten geraten, unter anderem eine Folge der seit 1873 andauernden Konjunkturkrise 79. Ein Zusammenbruch von Godeffroy hätte - dies war die Befürchtung der Regierung - britischen Handelsunternehmen und damit auch britischen Kolonialbestrebungen im Südpazifik, insbesondere auf Samoa, den Weg geebnet und den deutschen Einfluß - der durch einen Freundschaftsvertrag mit den samoanischen Machthabern begründet worden war - zurückgedrängt. Zur Erhaltung des Unternehmens und zur gleichzeitigen Stärkung des deutschen Einflusses plante Bismarck, daß eine neue Aktiengesellschaft (die „Südsee-Handelsgesellschaft") unter maßgeblicher Beteiligung des Berliner Bankiers Adolph v. Hansemann die Godeffroy'schen Besitzungen in der Südsee übernehmen sollte 80 . Für die hierfür von v. Hansemann geforderte Dividendengarantie in Höhe von 3% auf das Grundkapital von 10 Millionen Mark für 20 Jahre durch das Reich war die Bewilligung des Reichstags erforderlich 81. Die Vorlage scheiterte jedoch am 27. April 1880 im Reichstag am Widerstand insbesondere von Abgeordneten des Zentrums und der Fortschrittspartei 82, die damit die große Zurückhaltung gegenüber einem finanziellen Engagement des Reiches in Ubersee - „auf Kosten des Steuerzahlers" - zum Ausdruck brachten. 75 7

Hans Spellmeyer, Deutsche Kolonialpolitik im Reichstag, 1931, S. 1/2. 6 Graudenz/Schindler, S. 24.

77 Claudia Lederer, Die rechtliche Stellung der Muslime innerhalb des Kolonialrechtssystems im ehemaligen Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika, 1994, S. 13. 78 Zimmerling, S. 9. 79 Lothar Wackerbeck, Die Deutschen Kolonialgesellschaften, Diss. 1977, S. 25. 80 ν. Hansemann hatte über seinen Schwiegersohn v. Kusserow, dem Leiter der Abteilung für überseeischen Angelegenheiten im Auswärtigen Amt, beste Verbindungen zum Reichskanzler, vgl. Wackerbeck, S. 26.

ei Wackerbeck, S. 26. S2 Huber, S. 608.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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Obwohl die Samoa-Vorlage nicht vom Reichstag gebilligt worden war, zeigte sie anschaulich den Wandel der Bismarck'sehen Politik. Bismarck hatte erkannt, daß die deutschen Wirtschaftsinteressen in Übersee einen Verzicht auf jegliche staatliche Einflußnahme dort nicht mehr zuließen. Die zunehmende Aufteilung der Erde unter die Herrschaft anderer Kolonialmächte und die nachteiligen Folgen für den deutschen Überseehandel83 machten ein stärkeres Engagement des Deutschen Reiches erforderlich, das sich zunächst im Abschluß von Freundschaftsverträgen mit einheimischen Machthabern äußerte 84, aber auch in der Ausweitung des Konsularnetzes und des Postdampferverkehrs 85, bis schließlich feststand, daß ohne die Begründung von Kolonien der deutsche Kolonialhandel gegenüber anderen Staaten ins Hintertreffen geraten würde 86 . Gleichzeitig rückte der Gedanke des wirtschaftlichen Nutzens von Kolonien als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte und die Einnahmen aus der Einfuhr von „Kolonialwaren" immer mehr in den Vordergrund 87. Innenpolitisch sah Bismarck mit der Unterstützung der - in der öffentlichen Meinung und weiten Teilen der Bevölkerung populären - Kolonisation die Möglichkeit, die der Kolonialbewegung ablehnend gegenüberstehende Fortschrittspartei zu schwächen, was auch bei den Reichstagswahlen von 1884 gelang und zu einer Stärkung der Position Bismarcks führte 88 . Auch die Kolonialbestrebungen der Kolonialbefürworter verfolgten innenpolitische Zwecke, so hoffte man, mit einer erfolgreichen Expansion nach Übersee, den gesellschaftspolitischen Status quo und das politische Machtgefüge durch einen erfolgreichen Imperialismus zu legitimieren 89. 83 So ζ. B. die Verweigerung von Kohlestationen für deutsche Dampfer oder Handelsbeschränkungen für deutsche Firmen, vgl. Lederer, S. 14, oder die entschädigungslose Enteignung deutscher Pflanzer durch eine andere Kolonialmacht, so geschehen 1874 auf den FijiInseln durch Großbritannien, vgl. Graudenz/Schindler, S. 26. 84 So ζ. B. Freundschaftsverträge mit einheimischen Machthabern auf Tonga und Samoa, vgl. Graudenz/Schindler, S. 27. 85 Lederer, S. 14. 86 Die deutschen Handelsinteressen führten auch - das Deutsche Reich stand selbst kurz vor dem Erwerb eigener Kolonien - zum Engagement Bismarcks in der Kongo-Frage. Im Februar 1884 garantierte Großbritannien vertraglich Portugal die Hoheit über den Unterlauf des Kongo sowie das Recht auf hohe Zölle auf Waren, die über den Kongo ein- und ausgeführt wurden, behielt sich aber weitgehende Vorrechte vor, die faktisch zu einer Vormachtstellung Großbritanniens führten. Durch Kaufmannskreise des deutschen Überseehandels unterstützt, forderte Bismarck im Verein mit anderen Kolonialmächten (Frankreich, Italien, Niederlande, Spanien und die Vereinigten Staaten) die Handelsfreiheit im Kongogebiet für alle Kolonialmächte. In der nachfolgenden Kongokonferenz in Berlin wurde schließlich - unter Mitwirkung des Deutschen Reiches als „ehrlichem Makler" - die Handelsfreiheit des Kongogebietes unter belgischer Oberhoheit in der Kongo-Akte vom 26. Februar 1885 festgeschrieben; vgl. Graudenz/Schindler, S. 32, Huber, S. 609. 87 Schinzinger, S. 23. 88 Schinzinger, S. 23. 89 Udo Wolter, Deutsches Kolonialrecht - ein wenig erforschtes Rechtsgebiet, dargestellt anhand des Arbeitsrechts der Eingeborenen, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (ZNR) 17, 1995, S. 201 (203).

3 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Doch obwohl Bismarck nun der Schaffung deutscher Kolonien nicht länger ablehnend gegenüberstand, wollte er die Verpflichtungen des Reiches hierbei - wohl um innen- und außenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden - auf ein Minimum beschränken90. Nach der Bismarck'schen Konzeption - gestützt auf eine Denkschrift von v. Kusserow 91 - sollte die Begründung von Kolonien durch private Kolonialgesellschaften aufgrund der Berechtigung durch einen kaiserlichen „Schutzbrief ' erfolgen. Während die privaten Gesellschaften staatliche Hoheitsrechte wie Regierung, Verwaltung und Rechtspflege der Kolonien übernehmen sollten, hätte die Rolle des Deutschen Reiches sich lediglich auf die Beaufsichtigung und den Schutz dieser Unternehmungen beschränkt und das Reich sich damit eine Art Oberhoheit („Schutzgewalt") vorbehalten 92. Dieses Programm war an dem Vorbild britischer und niederländischer Handelskompagnien des 17. und 18. Jahrhunderts (die englisch-ostindische und die holländisch-indische Kompagnie), die sogenannten Charter 93- oder Schutzbriefgesellschaften, orientiert, die aufgrund eines königlichen „Freibriefes" oder „Schutzbriefes" („Royal Charter") berechtigt waren, im Namen des königlichen Souveränes, aber auf eigene Verantwortung Kolonien aufzubauen94. Auch die zu jener Zeit noch tätige British North Borneo Company diente als nachahmenswertes Beispiel 95 . In seiner programmatischen Rede vor dem Reichstag (anläßlich einer Gesetzesvorlage, die die Subvention von Postdampferlinien vorsah) am 26. 06. 1884 vertrat Bismarck die Auffassung, daß nicht die Annektierung von überseeischen Provinzen an das Deutsche Reich, sondern die Begründung kaufmännisch verwalteter und regierter Kolonien das Ziel der Kolonialpolitik sein müsse96. Er erteilte damit dem französischen Modell von zentral begründeten und verwalteten Kolonien eine Absage, vielmehr sollte die „Flagge dem Handel folgen" 97 . Wie sich zeigte, setzte sich jedoch in den Jahren, die den ersten Kolonialgründungen folgten, die unmittelbare Verwaltung der Kolonien durch das Deutsche Reich immer mehr durch, so daß ab 1899 keine private Kolonialgesellschaft nennenswerte Hoheitsrechte in den deutschen Kolonien ausübte. Mit der Übernahme der Verwaltung durch das Deutsche Reich wurden die Verwaltungskosten nun nicht mehr von den Handelsgesellschaften, sondern vom Mutterland getragen; diese finanzielle Belastung blieb bis zum Ende der Kolonialherr-

90

Heinrich Helmut Kraft, Chartergesellschaften als Mittel zur Erschließung kolonialer Gebiete, in: Schriften des Kolonial-Institutes des Hansischen Universität, Bd. 7, 1943, S. 139. 91 Kraft, S. 138; zu v. Kusserow siehe oben Fn. 80. 9 2 Zimmerling, S. 10. 93

wegen lat. „carta" - das Papier; gemeint war der Schutzbrief, Anmerkung des Autors. 94 Wackerbeck, S. 41; Kraft, S. 138/139. 95

Kraft, S. 139; auch Portugal erschloß seine Kolonien z.T. durch Chartergesellschaften wie die Companhia de Moçambique, vgl. Kraft, S. 76 ff. % Spellmeyer, S. 15/16. 97 Hierzu ausführlich: Kurt Büttner, Die Anfänge Deutscher Kolonialpolitik in Ostafrika, 1959, S: 23-25.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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schaft bestehen: mit Ausnahme von Togo und Samoa mußten bis 1914 alle deutschen Kolonien durch Zuschüsse aus dem Mutterland finanziell gestützt werden 98.

4. Die Begründung der „Schutzgebiete" 1884-1899 durch den Abschluß von „Schutzverträgen"; mittelbarer und unmittelbarer Erwerb und Verwaltung durch das Deutsche Reich Die Besitzergreifung der deutschen Kolonien durch das Deutsche Reich erfolgte teils direkt durch Okkupation (einseitiger Erwerb) oder Vertragsschluß durch das Reich, teils mittelbar über den Erwerb von Privatpersonen oder privaten Gesellschaften 99.

a) Mittelbarer Erwerb und mittelbare Verwaltung durch Handelsunternehmen Entsprechend der von Bismarck vorgesehenen Vorgehensweise, daß das Deutsche Reich nur die Oberhoheit über von Kaufleuten verwalteten Kolonien ausüben solle, ging in einigen Gebieten der Errichtung der Reichshoheit der Abschluß von Verträgen zwischen Privatpersonen oder privater Kolonialgesellschaften auf der einen Seite und Stammeshäuptlingen auf der anderen Seite voraus 100 . Diese Verträge hatten die Gewährung von Hoheitsrechten an die privaten Erwerber gegen Geld, Waffen oder Branntwein, zum Teil aber auch gegen die Gewährung von Schutz gegen Nachbarstämme zum Gegenstand. Letzteres zeigt deutlich, daß auch die privaten Erwerber im Grunde für das Reich im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auftrag handelten, was in der damaligen Kolonialrechtsliteratur zwar umstritten, aber wohl herrschende Meinung war 1 0 1 . Die so mittelbar für das Reich erworbenen Gebiete wurden anfangs zum Teil im Rahmen der von Bismarck vorgesehenen Konzeption der Schutzbriefgesellschaften auch durch die privaten Erwerber (in der Regel eine private Handelsgesellschaft) für das Reich verwaltet. Dies geschah durch Beleihung durch das Deutsche Reich in Form eines Schutzbriefes, der, wie eingangs erwähnt, die im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auftrag für das Reich erworbenen Hoheitsrechte wieder auf die Handelsgesellschaft zurückübertrug. Eine solche mittelbare Verwaltung durch eine private Handelsgesellschaft hatte nur in Deutsch-Ostafrika von 1884 bis 1890 (durch die Deutsch-Ostafrikani98

Bis 1913 hatte das Deutsche Reich 505 Millionen Mark in die Kolonien investiert, vgl. Fieldhouse, S. 329. 99 Hierzu und zu der völkerrechtlichen Einordnung der Erwerbstatbestände: Schack, S. 88 ff. 100 Huber, S. 610. ιοί Schack, S. 132 ff. 3*

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

sehe Gesellschaft) und in Deutsch-Neuguinea von 1884 bis 1899 durch die Deutsch-Neuguinea-Compagnie102 für einige Zeit Bestand. Die Beleihung der „Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwestafrika" mit Hoheitsrechten in Deutsch-Südwestafrika 1885 scheiterte, da sich die Gesellschaft wegen der hohen Kosten weigerte, Hoheitsrechte auszuüben, so daß die Verwaltung vom Deutschen Reich übernommen werden mußte 103 . Dem privatrechtlichen Gebietserwerb der ersten Gebiete in Kamerun 1884 (als Schutzverträge Geschäftsführung ohne Auftrag für das Reich) folgte gleichfalls schon im gleichen Jahr die unmittelbare Besitzergreifung durch das Reich und der darauf folgende Aufbau einer unmittelbaren Verwaltung 104 . Auch in Togo scheiterten die Pläne Bismarcks einer mittelbaren Verwaltung durch deutsche Handelshäuser an dem mangelnden Interesse der deutschen Kaufleute, die finanziellen Aufwendungen für die Verwaltung der Kolonie zu tragen 105 .

b) Exkurs: Die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) eine neugeschaffene Gesellschaftsform für die Kolonien Das Risiko für ein Handelsunternehmen, Investitionen in weit entlegenen und unerschlossenen Gebieten von Afrika und Asien vorzunehmen, bestimmte von Anfang an die Wahl der Gesellschaftsform für ein wirtschaftliches Engagement in den Kolonien. Als zusätzliche finanzielle Belastung kam die ursprünglich geplante Übernahme von Hoheitsrechten durch koloniale Gesellschaften nach dem Modell der Schutzbriefgesellschaften hinzu, da die Gesellschaft die Kosten der Verwaltung allein zu tragen gehabt hätte. Eine Begrenzung der Gesellschafterhaftung und mehr Flexibilität bei der Gestaltung des Gesellschaftsvertrages waren daher entscheidende Kriterien bei der Wahl der Gesellschaftsform. Die ersten Kolonialgesellschaften hatten die Rechtsform der Korporation nach preußischem Landrecht gemäß § 25 II, 6 des preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR) vom 1. Juni 1794 106 . Diese Rechtsform hatte zwar den Vorteil, daß sie nur durch einige wenige zwingene Rechtsvorschriften - anders als im damaligen Aktienrecht geregelt wurde. Die geringe Regelungsdichte wurde durch die Staatsaufsicht über die Gesellschaft ausgeglichen. Als problematisch wurde jedoch angesehen, daß damit ein preußisches Rechtsinstitut in den Schutzgebieten, die der ausschließli102 i m Falle der Deutsch-Neuguinea-Compagnie konnte ein mittelbarer Erwerb durch eine private Handelsgesellschaft allerdings deshalb nicht erfolgen, da es keine organisierte Staatsgewalt gab, mit der Verträge geschlossen werden konnten, vgl. Huber, S. 620. Die Reichsgewalt wurde daher unmittelbar Ende 1884 durch militärische Okkupation (Flaggenhissung durch deutsche Kriegsschiffe) begründet, vgl. Schinzinger, S. 21. 103 Wackerheck, S. 48; Zimmerling, S. 15. 104 Schack, S. 132. 105 Theres, S. 87; im einzelnen siehe unten, Α. II. 4. d) 106

Ernst Brandi, Das heutige Recht der Deutschen Kolonialgesellschaften, 1934, S. 4.

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chen Kontrolle des Reiches unterstand, Anwendung fand. Außerdem dürften die meisten Korporationen nicht die Qualifikation von gemeinnützigen Unternehmungen, wie sie § 25 II, 6 ALR als Voraussetzung für den Status einer Korporation vorsah, erfüllt haben 107 . Die eingeschränkte Nutzbarkeit der Korporation führte ab 1886 zu Bestrebungen, das Gesellschaftsrecht an die praktischen Notwendigkeiten eines kolonialen Wirtschaftsunternehmens anzupassen und zu reformieren. An der Spitze dieser Reformbestrebungen stand der Deutsche Kolonialverein, der Dachverband privater Kolonialunternehmer 108. Zusammen mit Vertretern der Rechtswissenschaft wurde die Neuschaffung einer Gesellschaftsform propagiert, die die beschränkte Gesellschafterhaftung der Aktiengesellschaft (AG) und das personale Element der offenen Handelsgesellschaft (oHG) in sich vereinigten sollte. Als Folge dieser Grundgedanken wurde die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) durch das GmbH-Gesetz von 1892 eingefühlt; die Existenz der GmbH geht also auf koloniale Überlegungen zurück 109 . Trotzdem wurde die GmbH nicht zur typischen Gesellschaftsform für die Kolonien, da sie auf kleinere Unternehmen zugeschnitten war, wie sich unter anderem an dem relativ geringen Mindeststammkapital von 20.000 Mark zeigte. Außerdem erforderte das Engagement in den Kolonien wegen der großen Entfernungen nach Deutschland einen Organisations- und Verwaltungsaufwand, der eher eine Annäherung an die Rechtsform der AG als an die GmbH gebot 110 . Daher entschloß sich der Gesetzgeber, eine Sonderlösung für die spezifischen Probleme der wirtschaftlichen Betätigung in den Kolonien zu entwickeln. Im Rahmen einer Anderungsnovelle zum Schutzgebietsgesetz (SGG) vom 13. März 1888 111 durch den Reichstag wurden die §§ 8 - 1 1 in das Schutzgebietsgesetz112 eingefügt und damit erstmalig Regelungen bezüglich der Rechtsform der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) geschaffen. Die nun getroffenen - knappen - Regelungen, die mit der DKG eine neue Rechtsform neben der AG und der späteren - GmbH schuf, war von Anfang an nur als Provisorium gedacht und stellte lediglich den Beginn der Bildung eines kolonialen Gesellschaftsrechts dar, dem eine ausführliche Normativregelung folgen sollte 113 . In der Folgezeit befaßte sich der Reichstag noch zweimal, 1899 114 und 1900 115 , mit der DKG. Trotz des 107 Brandi, S. 5. los Wackerbeck, 109 Wackerbeck,

S. 73. S. 74.

no Wackerbeck,

S. 75.

in Das Schutzgebietsgesetz wurde zusammen mit den Anderungsnovellen in einer zusammenhängenden Fassung in RGBl. 1888, S. 75 bekanntgegeben, zuletzt neugefaßt am 25. Juli 1900, vgl. RGBl. 1900, S. 809 und Triepel, S. 315; vgl. ferner Johannes Gerstmeyer, Kommentar zum Schutzgebietsgesetz, 1910, Einleitung S. 24. U2 Der Text des Schutzgebietsgesetzes in der nur wenig abweichenden Fassung von 1900 ist in Anhang I I abgedruckt 113 Wackerbeck, S. 133. 114 Novelle vom 2. Juli 1899, RGBl. 1899, S. 365.

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

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angenommenen - Übergangscharakters der Bestimmungen von 1888 wurden jedoch keine wesentlichen Änderungen vorgenommen; die Änderungen im Jahre 1900 bestanden lediglich darin, daß die für die DKG maßgeblichen Regelungen nunmehr in den §§ 11-13 SGG enthalten waren 116 . Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGG in der Fassung von 1900 117 konnten nur solche Erwerbsunternehmen die Rechtsform der DKG wählen, deren Unternehmenszweck in der „.. .Kolonisation der deutschen Schutzgebiete, insbesondere dem Erwerb und der Verwertung von Grundbesitz, dem Betrieb von Land- und Plantagenwirtschaft, dem Betrieb von Bergbau, gewerblichen Unternehmungen und Handelsgeschäften. . b e s t a n d oder denen „.. .durch kaiserlichen Schutzbrief die Ausübung von Hoheitsrechten..." übertragen worden war. Für die Gründung einer Gesellschaft, die diese Voraussetzungen erfüllte, war gem. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGG ein staatlicher Verleihungsakt in Form eines Beschlusses des Bundesrates erforderlich; erst hierdurch erlangte die DKG ihre Rechtsfähigkeit als juristische Person des Privatrechts 118. Die Rechtsverleihung stand im Ermessen des Bundesrates und unter dem Vorbehalt der Genehmigung des Gesellschaftsvertrages durch den Reichskanzler; die staatliche Kontrolle hatte also bei der Gründung einen wesentlichen Anteil. War die DKG ursprünglich dafür konzipiert worden, als Schutzbriefgesellschaft Hoheitsrechte auszuüben, beschränkte sich nach der schon bald eingetretenen Errichtung der unmittelbaren Verwaltung in allen Schutzgebieten119 die Tätigkeit der DKG auf die erwerbswirtschaftliche Betätigung. Die DKG hatte jedoch auch weiterhin die Möglichkeit zur Ausführung öffentlicher Aufgaben in Form von erteilten Konzessionen, wie ζ. B. das Recht, herrenloses Land in Besitz zu nehmen, Wege und Bahnen anzulegen, Bodenschätze zu erschließen oder Siedlungen zu errichten 120 . Für die Verleihung dieser Konzessionen hatten die DKG im Gegenzug die Verpflichtungen, die konzessionierten Gebiete in einem gewissen Zeitraum durch Expeditionen zu erkunden oder ggf. eine Bergbautätigkeit innerhalb einer bestimmten Frist zu beginnen sowie eine jährliche Konzessionsgebühr zu zahlen 121 . Wegen dieser teil weisen Ausführung öffentlicher Aufgaben bestand auch während des Bestehens der DKG eine staatliche Einflußmöglichkeit: gem. 115 Neufassung des SGG vom 25. Juli 1900, RGBl. 1900, S. 809, in dieser Fassung bekanntgemacht am 10. September 1900 vgl. RGBl. 1900, S. 812 und Triepel, S. 315. 116 Wackerbeck, S. 134. n 7 Die folgenden Paragraphenangaben betreffen die Fassung des Schutzgebietsgesetzes von 1900, siehe auch Anhang II. 118

Hier lag ein wesentlicher Unterschied zu den anderen Kapitalgesellschaften wie AG und GmbH, die durch Gründungsakt der Gesellschafter gegründet werden und bei denen sich die Mitwirkung staatlicher Organisationen auf das Eintragungserfordernis in das Handelsregister beschränkt, vgl. für die AG § 195 HGB in der Fassung von 10. Mai 1897, RGBl. 1897 S. 219-436, heute §§ 36-39 AktG 1965. 119 Mit Ausnahme von Deutsch-Neuguinea, wo die NGC bis 1899 mit Hoheitsrechten beliehen war, siehe oben. 120 Wackerbeck, S. 141. 121 Wackerbeck,

S. 105 ff.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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§13 Satz 1 SGG unterlag eine DKG während ihres Bestehens der Aufsicht des Reichskanzlers. Gem. § 13 Satz 2 SGG jedoch bestimmte die Satzung und damit die Gesellschafterversammlung den Umfang der Aufsichtspflicht, wobei die Satzung aber wiederum der Genehmigung des Reichskanzlers bedurfte 122 . Trotz der vereinzelt schon damals vertretenen Auffassung, daß die Aufsichtsrechte des Reichskanzlers zu einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung der DKG führe, den Gesellschaftszweck zu erreichen, so daß es sich bei den DKG um Körperschaften des öffentlichen Rechts handele 123 , deutete der Erwerbscharakter der DKG vielmehr auf eine Einordnung als juristische Person des Privatrechts hin, da ihr die Befugnis zum Erlaß von Hoheitsakten sowie die Zwangsmitgliedschaft ihrer Mitglieder fehlte 124 . Bei der DKG als juristischer Person des Privatrechts handelte es sich um eine Handelsgesellschaft, da sie zu Erwerbszwecken tätig war; demzufolge hatte die DKG auch Kaufmannseigenschaft i. S. d. § 6 HGB 1 2 5 . Da sich die Haftung der Gesellschaft gem. § 11 Abs. 1 Satz 2 SGG auf ein bestimmtes, im Gesetz aber nicht näher beschriebenes Grundkapital beschränkte, handelte es sich bei der DKG ihrem Wesen nach um eine Kapitalgesellschaft 126. Ähnlich den übrigen Kapitalgesellschaften - § 20 HGB a.F. bzw. § 4 AktG 1965 für die AG und § 4 GmbHG für die GmbH - hatte auch die Firma der DKG den auf die Rechtsform hinweisenden Zusatz „DKG" zu enthalten; dies ergab sich zwar nicht aus einer gesetzlichen Regelung, sondern aus der Genehmigungspraxis des Reichskanzlers 127. Als Besonderheit und weiteres Unterscheidungskriterium zu AG und GmbH jedoch mußte die DKG eine „deutsche" Gesellschaft sein. Dies bedeutete nicht nur, daß die DKG ihren Sitz im Deutschen Reich oder einem Schutzgebiet haben sollte 128 ; vielmehr entwickelte sich aus der Genehmigungspraxis das zusätzliche Erfordernis, daß die Kapitalgeber der DKG und ihre leitenden Personen deutsche Reichsangehörige sein sollten 129 . Auffallend an der Rechtsform der DKG ist die ungewöhnlich geringe Regelungsdichte; lediglich mit 3 Paragraphen hatte der Gesetzgeber das Recht der DKG normiert. Dies ermöglichte es den Gesellschaftern der DKG, den überwiegenden Teil der Gesellschaftsverfassung selbst in der Satzung zu regeln; nur einige grundlegende Bestimmungen waren gem. § 12 SGG in die Satzung aufzunehmen (Rege122 Wackerbeck, S. 143. 123 Nollau, Das Recht der auf Grund des Reichsgesetzes betr. die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete errichteten Kolonialgesellschaften, ZfK (6) 1904, S. 385, 394. 124 Brandi, S. 18; zustimmend Wackerbeck, S. 143. 125 Brandi, S. 19. 126 Brandi, S. 20. 127 Wackerbeck, S. 151. 128 Von der Möglichkeit, den Sitz in das jeweilige Schutzgebiet zu verlegen, hat - soweit bekannt - keine DKG Gebrauch gemacht, vgl. Wackerbeck, S. 151. 129 Brandi, S. 21.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

lungen über Ein- und Austritt von Gesellschaftern, Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis der Gesellschaftsorgane, Rechte und Pflichten der Gesellschafter, Jahresabschluß, Gewinnverwendung und Auflösung der Gesellschaft), aber auch hier blieb das „Wie" der Regelung der Satzung überlassen. Diese Regelungsfreiheit der DKG sollte es ihren Gesellschaftern ermöglichen, die Satzung den individuellen und je nach Schutzgebiet unterschiedlichen Bedürfnissen anzupassen und den so gewonnenen Regelungsfreiraum wiederum in eine gesteigerte wirtschaftliche Effizienz umzumünzen; daneben hatte der Gesetzgeber aber auch das rechtspolitisch relevante Motiv, daß sich aus den individuellen Regelungen der DKG-Satzungen allmählich ein eigenständiges Kolonialgesellschaftsrecht zur Vorbereitung einer gesetzlichen Regelung bilden solle 130 . Eine 1910 vom Reichskolonialamt herausgegebene Mustersatzung spiegelte in 67 Paragraphen die bis dahin fortgeschrittene Entwicklung wider. Als eine Richtlinie für neu zu gründende Gesellschaften hatte sie nur noch beschränkte Praxisrelevanz, da sie einerseits weder zwingend war oder Sanktionen enthielt - eine Abweichung konnte allerdings zur Verweigerung der behördlichen Genehmigung führen - , andererseits bis 1910 die meisten Kolonialgesellschaften schon gegründet worden waren 131 . Trotz der eingangs erwähnten Unterschiede orientierte sich die Gesellschaftsverfassung der DKG, wie dies insbesondere an der Mustersatzung deutlich wurde, an der Rechtsform der AG. Dies zeigte sich vor allem hinsichtlich der Höhe des Grundkapitals von 100.000 Mark, der Wahl zwischen Namens- und Inhaberanteilen, der Bilanzierung und der Organverfassung. Im Hinblick auf die Organverfassung jedoch gab es Abweichungen von der AG; dem Aufsichtsrat (oft auch als Verwaltungsrat bezeichnet) oblag weitgehend die Geschäftsführung - eine Funktion, die bei der Aktiengesellschaft der Vorstand übernimmt - so daß der Vorstand selbst nur wenig selbständige Aufgaben hatte und daher oft als Ausführungsorgan des Aufsichtsrates betrachtet wurde 132 . Abweichend vom Recht der AG war die Eintragung in das Handelsregister nicht konstitutiv, da die Gründung auf der Genehmigung durch den Bundesrat beruhte 133 . Weiterhin konnten die Anteile einer DKG auf einen Nennbetrag von 100 Mark lauten, was die DKG gegenüber der AG, bei der der Mindestnennbetrag der Anteile 1000 Mark betrug, für Kleinanleger attraktiv machte 134 . Anders als bei der AG konnte die Satzung der DKG ferner die Einrichtung einer Verlustrücklage ohne normative Beschränkungen festlegen 135.

130 Wackerbeck, S. 147, 148. 131 Wackerbeck, S. 149. 132 Brandi, S. 31. 133 Wackerbeck, S. 155,156. 134 Hierbei hatte man sich auch an dem Vorbild der britischen Pfund-Aktie orientiert, vgl. Brandi, S. 26. 135 Wackerbeck, S. 166.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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In der Praxis der wirtschaftlichen Betätigung in den Schutzgebieten hatten insbesondere größere und wirtschaftlich bedeutendere Kolonialgesellschaften die Rechtsform der DKG angenommen, kleinere Gesellschaften organisierten sich, entsprechend der Konzeption der GmbH für kleinere Gesellschaften, als GmbH. Bis 1914 wurden 39 DKG gegründet, wohingegen 166 Gesellschaften in der Rechtsform der GmbH im Kolonialhandel tätig waren; diese 166 Gesellschaften verfügten aber nur über weniger als die Hälfte des Kapitals der D K G 1 3 6 . Die kapitalkräftigeren Gesellschaften machten von der Rechtsform der AG dagegen weniger Gebrauch, denn abgesehen von der stärkeren gesetzlichen Normierung unterlag die AG im Bundesstaat ihres Sitzes (meistens Hamburg oder Berlin) der Einkommensteuer hinsichtlich ihrer Erträge im Deutschen Reich 137 (die Körperschaftsteuer existierte noch nicht), die Besteuerung der DKG (sowie die GmbH) hingegen beschränkte sich hinsichtlich ihrer Erträge im Deutschen Reich lediglich auf die Gewerbesteuer 138. Nach dem ersten Weltkrieg führten die Regelungen des Versailler Vertrages 139 (VV) auch zum Ende der Betätigungen der DKG. Gem. Art. 297 b) V V 1 4 0 erhielten die Mandatsmächte das Recht, deutsche Kolonialgesellschaften zu enteignen; von dieser Befugnis machten die Mandatsmächte auch Gebrauch, abgesehen von einigen Ausnahmefällen in Südwestafrika 141. Die Entschädigung hierfür hatte gem. Art. 297 i) V V 1 4 2 das Deutsche Reich zu leisten, allerdings erfolgte die Entschädigung in den Jahren bis 1923 und war daher wegen der Geldentwertung zur Zeit der Inflation nahezu wertlos 143 . Eine bis 1925 gewährte Entschädigung versah einige DKG mit Kapital, war aber an die Bedingung geknüpft, daß eine Neubetätigung der DKG nicht im Inland ausgeübt werden durfte. Diese Bedingung zeigte das Interesse der Reichsregierung an der Wiederaufnahme der Tätigkeit der deutschen Kolonialwirtschaft in Übersee. Wegen des Verlustes der Schutzgebiete und der - zumindest anfangs repressiven - Enteignungspraxis der Mandatsmächte nahmen die DKG ihre Tätigkeit in Gebieten auf, die nicht zu den unmittelbaren Kriegsgegnern des Deutschen Reiches gehörten, insbesondere in den portugiesischen Afrikakolonien und in Südamerika 144. Zwar bedeutete dies genaugenommen einen Verstoß gegen den in § 11 Abs. 1 Satz 1 SGG festgelegten Gesellschafts136 Wackerbeck, S. 137. 137 Ernst Jacobi, Die Heranziehung der kolonialen Erwerbsgesellschaften zu den direkten Steuern in Preußen, ZfK (3) 1901/02, S. 481. 138 Jacobi, direkte Steuern in Preußen, S. 482. 139 Auszugsweise abgedruckt in Anhang II. 140 RGBl. 1919, S. 1127. 141 Insbesondere die Otavi Minen- und Eisenbahngesellschaft, die auch den 2. Weltkrieg überstand, 1976 in eine AG umgewandelt wurde und deren Aktien noch heute an der Frankfurter Börse gehandelt werden, vgl. Wackerbeck, S. 193, 229. 142 RGBl. 1919, S. 1138. 143 Wackerbeck, S: 196. 144 Brandi, S. 13, 14; Wackerbeck,

S. 200, 201.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

zweck, daß die DKG die Kolonisation der deutschen Schutzgebiete betreiben solle. Trotzdem wurde aus diesem Grunde keiner DKG die Rechtsfähigkeit durch den Reichskanzler entzogen, da wegen des nach 1923 neuerwachten Interesses an deutschen Kolonien die Tätigkeit der DKG als lebendiger Beweis für eine kolonisatorische Tätigkeit angesehen wurde und die Forderung nach Rückgabe der Kolonien unterstützen sollte 145 . Der Verlust der Schutzgebiete wurde jedoch als wesentliches Hindernis für die Neugründung einer DKG angesehen, da - mangels Kolonie eine solche Neugründung von vornherein gegen das Kolonisationsgebot des § 11 SGG verstoßen hätte 146 . Nicht unerwähnt bleiben sollte die Tatsache, daß schon bald nach Ende des 1. Weltkrieges deutsche Kolonialgesellschaften nach Kamerun zurückkehrten: hier ersteigerten deutsche Gesellschaften 1925 die ehemals deutschen Plantagen im britisch verwalteten Teil der Kolonie und nahmen ihre Tätigkeit im ehemaligen Schutzgebiet mit Unterstützung des Deutschen Reichs und Duldung Großbritanniens wieder auf 1 4 7 . Nach schweren wirtschaftlichen Verlusten der Kolonialgesellschaften in der Weltwirtschaftskrise von 1929 und einem vorübergehenden Auftrieb der kolonialen Interessen im Dritten Reich bedeutete der 2. Weltkrieg das Ende der kolonialwirtschaftlichen Betätigung in Deutschland. Bis 1945 ging nahezu das gesamte Vermögen der Kolonialgesellschaften verloren 148 ; für diese Verluste erhielten die Kolonialgesellschaften keinerlei Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland. Ein kolonialwirtschaftliches Engagement wurde als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt. Der wirtschaftliche Niedergang der Kolonialgesellschaften führte zur Liquidation einiger Gesellschaften; andere wechselten ihr Tätigkeitsfeld ins Inland und wurden beispielsweise im Computerhandel tätig. In Einzelfällen wurde die flexible Rechtsform der DKG dazu benutzt, die strengen Publizitätsvorschriften des 1965 neu geregelten Aktienrechts zu umgehen 149 . Mit dem „Gesetz über die Auflösung, Abwicklung und Löschung von Kolonialgesellschaften" (Auflösungsgesetz) vom 20. August 1975 150 beendete der Gesetzgeber schließlich die Existenz der Rechtsform der DKG. Gem. § 1 i.V.m. § 5 Auflösungsgesetz hatten sich die verbliebenen D K G 1 5 1 bis zum 31. Dezember 1976 in eine AG oder GmbH umzuwandeln; eine nach diesem Zeitpunkt nicht umgewan145 Wackerbeck, S. 208. 146 Wackerbeck, S. 210. 147 Vgl. Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.): Deutsche Kolonialpolitik in Dokumenten, Anhang, S. 563, 1938. 148

Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die schon obenerwähnte Otavi DKG, die nach 1945 ihren Bergbaubetrieb in Südwestafrika mit Billigung Südafrikas wieder aufnehmen konnte, vgl. Wackerbeck, S. 222. 149 Wackerbeck, S. 225. 150 BGBl. 1975 I, S. 2253. 151 1975 existierten noch 16 DKG, vgl. Wackerbeck,

S. 225.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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delte DKG galt als aufgelöst. Die Umwandlung konnte gemäß § 5 Auflösungsgesetz nach § 61 Umwandlungsgesetz a.F. (Umwandlung in eine AG) oder gemäß § 61a Umwandlungsgesetz a.F. (Umwandlung in eine GmbH) durchgeführt werden, für die steuerlichen Aspekte fanden die Vorschriften des Umwandlungssteuergesetzes (UmwStG) 1969 Anwendung. Für Fälle, in denen der Umwandlungsbeschluß angefochten wurde und sich die Auflösung über den 31. Dezember 1976 hinaus verzögerte, wurde das UmwStG 1977 auf die Umwandlung der DKG angewendet 152 . In den folgenden Jahren wurde der Auflösung der DKG auch durch Korrekturen der einschlägigen Gesetze Rechnung getragen; so wurde mit dem Steueränderungsgesetz 1992 153 bei der in § 1 Körperschaftsteuergesetz (KStG) enthaltenen Aufzählung der körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften die Kolonialgesellschaft gestrichen 154. Auch wenn das heute geltende Recht nicht mehr auf die Existenz der DKG hinweist, so ist es doch bemerkenswert, daß die das Recht der DKG betreffenden §§ 11-13 des SGG faktisch bis 31. Dezember 1976 in Deutschland Geltung hatten und bis vor wenigen Jahren die DKG auch im KStG Erwähnung fand. Einige DKG haben sich auch - meist in der Rechtsform der AG - bis zum heutigen Tag erhalten 1 5 5 und bilden damit ein Bindeglied zur deutschen kolonialen Vergangenheit.

c) Unmittelbarer Erwerb und unmittelbare Verwaltung In den übrigen Kolonien erwarb das Deutsche Reich die Hoheitsgewalt unmittelbar; auch in den Fällen, in denen Privatleute durch Verträge Land erworben hatten: diese wurden damit im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auftrag für das Reich tätig, das diese Berechtigung nicht auf private Gesellschaften zurückübertrug. Auf diese Weise wurden Gebiete in Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Deutsch-Ostafrika für das Deutsche Reich erworben 156 . Zum geringen Teil (einige kleinere Gebiete in Deutsch-Südwestafrika sowie das Gebiet um Windhuk und einige Küstenstreifen, ferner Küstengebiete in Kamerun 157 ) geschah dies durch Okkupation (militärische Besitzergreifung). Im weitaus überwiegenden Fall jedoch erwarb das Deutsche Reich Kolonialbesitz durch völkerrechtliche Verträge, auch wenn diese zum Zweck haben konnten, eine militärische Besetzung zu verschleiern (wie im Falle des Pachtvertrages vom 06. 03. 1898 158 über das Gebiet an der

152 Hermann/Heuer/Raupach -Hühl, § 1 UmwStG, RN 20. 153 BGBl. 1 1992, S. 297. 154 Blümich - Freericks, § 1 KStG, RN 9a. 155 So die schon erwähnte Otavi AG, vgl. Wackerbeck, S. 229. 156 Schack, S. 94, 132. 157 Schack, S. 91, Fn. 5. 158 Text bei Friedrich 1911, S. I f f .

Wilhelm Mohr (Hrsg.): Handbuch für das Schutzgebiet Kiautschou,

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Bucht von Kiautschou und die Stadt Tsingtau nach vorangegangener Besetzung durch ein deutsches Marinegeschwader am 14. 11. 1897) 159 . Wie im Falle von Tsingtau erwarb das Deutsche Reich einige Gebiete durch den Abschluß eines Vertrages mit einem anderen Volkerrechtssubjekt. Zu erwähnen ist hier der Erwerb von (West)-Samoa durch Abkommen zwischen dem Deutschen Reich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten vom 14. November und 2. Dezember 1899, die die Aufteilung der Samoa-Inseln zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten besiegelten und damit den jahrzehntelangen Bürgerkriegs wirren auf Samoa ein Ende setzten 160 . In den meisten Fällen aber (beim Erwerb von Togo, den Marshall-Inseln, von Gebieten in Kamerun, Südwestafrika und Ostafrika) wurden Gebiete durch Vertrag mit den einheimischen Häuptlingen erworben. Schon damals war man der Auffassung, daß nur „Staaten" nach europäischem Verständnis Subjekte des Völkerrechts seien und einheimische afrikanische oder asiatische Stämme nicht dazugehörten. Demzufolge sah die herrschende Meinung die mit den einheimischen Stämmen geschlossenen Verträge als „Unterstützungs- oder Vorbereitungshandlung", als „qualifizierte Okkupation", „Unterwerfung" bzw. „Bestätigung der Okkupation" an 1 6 1 , nicht jedoch als bindende und verpflichtende völkerrechtliche Verträge mit gleichberechtigten Vertragspartnern. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der Erwerb der Karolinen, Marianen und der Palau-Inseln durch Kauf von Spanien im Jahre 1899. Spanien hatte 1898, zu Beginn des Spanisch-Amerikanischen Krieges, schon die meisten seiner Pazifikbesitzungen an die Vereinigten Staaten verloren und zog sich mit dem Verkauf der relativ unbedeutenden restlichen Inseln - völlig aus dem pazifischen Raum zurück. Durch Vertrag vom 30. Juni 1899 wurden die letzten spanischen Gebiete im Pazifik für 25 Millionen Peseten an das Deutsche Reich verkauft 162 . Die unmittelbar erworbenen Gebiete hatten gemeinsam, daß sie von Anfang an auch unmittelbar durch das Deutsche Reich verwaltet wurden, das zu diesem Zweck für jedes Schutzgebiete eine eigene Verwaltung aufbaute. Alle Schutzgebiete - mit Ausnahme von Kiautschou, das dem Reichsmarineamt unterstellt war - wurden in oberster Instanz vom Reichskanzler mit der Unterstützung des ihm unterstellten Auswärtigen Amtes zentral verwaltet. In haushaltsrechtlicher Hinsicht jedoch hatte jedes Schutzgebiet seit einer gesetzlichen Regelung von 1892 163 seinen eigenen Finanzhaushalt und war damit - wenigstens theore-

!59 Mechthild Leutner (Hrsg.) „Musterkolonie Tsingtau" Die Expansion des Deutschen Reiches in China Eine Quellensammlung, bearbeitet von Klaus Mühlhahn, 1997, S. 105 ff. 160 Huber, S. 623. 161

Nachweise bei Schach, S. 95. 162 Craig /King, S. 183. 163 Gesetz über die Einnahmen und Ausgaben der Schutzgebiete vom 30. März 1892, RGBl. 1892, S. 369-370 und Triepel, S. 259.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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tisch - finanziell vom Reich unabhängig164. Damit bezogen die Reichsbeamten, die bisher - in den Schutzgebieten mit unmittelbarer Verwaltung - tätig waren, ihr Diensteinkommen aus den Fonds des jeweiligen Schutzgebietes und wurden Landesbeamte des Schutzgebietes165; eine diesbezüglich gesetzliche Regelung wurde aber erst 1910 mit dem Kolonialbeamtengesetz geschaffen 166. Die zentrale Zuständigkeit für die Bearbeitung kolonialer Fragen lag bis 1890 bei Sachbearbeitern der Abteilung für die deutschen überseeischen Interessen (zum Teil auch als „politische" Abteilung bezeichnet167) des Auswärtigen Amtes, ab 1. April 1890 bei der neugeschaffenen 4. Abteilung, der „Kolonialabteilung" im Auswärtigen Amt. Der Direktor der Kolonialabteilung und später der Staatssekretär des Reichskolonialamtes fungierten nach überwiegender Ansicht als Stellvertreter des Reichskanzlers in Kolonialangelegenheiten, während die Zuständigkeit des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes in Kolonialsachen nur dann als gegeben angesehen wurde, wenn die Beziehungen zu anderen Staaten betroffen waren 1 6 8 . Der Kolonialabteilung wurde ein Beirat von Sachverständigen, der „Kolonialrat" zur Seite gestellt. Dieser, bestehend aus Vertretern der Kolonialwirtschaft, der Missionen und der Rechtslehre, sollte die Kolonialbürokratie in praktischen Fragen im Rahmen von Empfehlungen beraten. Faktisch stellte die Institution des Kolonialrates eine nicht zu unterschätzende Einflußmöglichkeit privater Wirtschaftsinteressen auf die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches dar 1 6 9 . Mit der zunehmenden Erfahrung der Kolonialbürokratie wurde die Funktion des Kolonialrates immer mehr in den Hintergrund gedrängt und der Kolonialrat 1908 aufgelöst 1 7 0 . Einem Wunsch der Kolonial Wirtschaft, insbesondere der Deutschen Kolonialgesellschaft, entsprechend, wurden - nach vorheriger eingehender Diskussion mit dem Kolonialrat - ab 1903 durch Verordnung des Reichskanzlers 171 Gouvernementsräte für jedes Schutzgebiet eingerichtet 172. Dem Gouvernementsrat gehörten der Gouverneur und in der Regel einige Verwaltungsbeamte und europäische Einwohner des jeweiligen Schutzgebietes an. Die wichtigste Aufgabe des Gouverne-

164 Siehe unten, A. III. 3. a) cc) (3) 165 Ralph Erbar, Ein „Platz an der Sonne"? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884-1914, 1991, S. 18. 166 Kolonialbeamtengesetz vom 8. Juni 1910, RGBl. 1910, S. 881-896; siehe unten, A. III. 3. a) cc) (5) 167 v. Hoffmann, Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der deutschen Schutzgebiete, 1908, S. 12. 168 Paech, Die Vertretung des Reichskanzlers in Kolonialangelegenheiten, ZfK (7) 1905, S. 203 (206). 169 Ralph A. Austen, Northwest Tanzania under German and British Rule Colonial Policy and Tribal Politics 1889-1939, 1968, S. 63. 170 Zimmerling, S. 20. 171 Verordnung des Reichskanzlers betreffend die Bildung von Gouvernementsräten vom 24. Dezember 1903, DKGG 7, S. 284. 172 Vgl. Ralph Erbar, S. 26.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

mentsrates war die beratende Mitwirkung bei der Aufstellung des jeweiligen Etats des Schutzgebietes. 1907 wurde - nach Bewilligung der entsprechenden finanziellen Mittel durch den Reichstag - die Kolonialabteilung zu einem selbständigem Reichsamt, dem Reichskolonialamt, unter der Leitung eines Staatssekretärs erhoben 173. Die Schaffung des Reichskolonialamtes als oberste Behörde einer zentralen Kolonialverwaltung markiert den endgültigen Abschied von der - freilich schon früh durchbrochenen - Bismarck'schen Konzeption der mittelbaren Verwaltung durch Handelsgesellschaften. Die Errichtung des Reichskolonialamtes fiel in die Zeit der Reformierung des deutschen Kolonialwesens, initiiert durch den 1906 ernannten neuen Leiter der Kolonialverwaltung, Bernhard Dernburg 174 , zuvor Direktor einer Darmstädter Bank, dessen Ernennung wegen seiner Tätigkeit in der Wirtschaft und seiner jüdischen Herkunft damals allgemein als Sensation empfunden wurde 175 . Vorangegangen war eine Krise der deutschen Kolonial Verwaltung ab 1905/06, ausgelöst durch die unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien, für die auch die Spannungen zwischen militärischer und ziviler Verwaltung verantwortlich gemacht wurde. Ein weiterer Grund für die „Kolonialkrise" waren die hohen Kosten der kolonialen Kriege, insbesondere der Aufstand der Herero und Nama (Hottentotten) in Deutsch-Südwestafrika; Kosten, deren Finanzierung der Bewilligung des Reichstages bedurften 176 . Gerade aber im Reichstag entstand eine stärker werdende Opposition gegen die Kolonialpolitik; insbesondere die sozialdemokratische Partei (SPD) äußerte grundlegende Kritik am kolonialen Konzept des Deutschen Reichs 177 , die zwischen völliger Ablehnung deutscher Kolonien und der Befürwortung einer „positiven", „ethischen" Politik in den Kolonien schwankte178. Hart kritisiert wurde die Kolonialpolitik auch von der Zentrumspartei, insbesondere Matthias Erzberger prangerte im Reichstag die Verfehlungen der deutschen Kolonialverwaltung angesichts der zahlreichen Aufstände der einheimischen Bevölkerung an 1 7 9 . Die kolo173

Zimmerling, S. 19. Bernhard Dernburg, geb. 1865 in Darmstadt, gest. 1937, stammte aus einer angesehenen Familie jüdischer Kaufleute und Gelehrter, bis zu seiner Berufung zum Leiter der Kolonialverwaltung war er Bankdirektor in Darmstadt, vgl. Werner Schiefel, Bernhard Dernburg 1865 -1937, Freiburg, Zürich, 1974, S. 11 -16. 175 Wolter, S. 207. 176 Nach dem Gesetz vom 30. März 1892 war der die Kolonien betreffende Etat auf dem Wege der Gesetzgebung durch den Reichstag festzustellen, so daß der Reichstag hierdurch Mitwirkungsbefugnisse in einem Kernbereich der Kolonialpolitik hatte, vgl. Wolter, S. 205, ausführlich zum Gesetz vom 30.März 1892 siehe unten A. III. 2. a) und A. III. 3. a) cc) (3) vgl. auch Schiefel, S. 31-33. 174

1 77 Vgl. Karl Kautsky, Sozialismus und Kolonialpolitik, Berlin, 1907, S. 10-12. "β Kautsky, S. 18/19. 179 Vgl. Wolfgang Reinhard, „Sozialimperialismus" oder „Enkolonisierung der Historie"? Kolonialkrise und „Hottentottenwahlen" 1904-1907, HistJb 97/98. Jahrgang, 1978, S. 384 (406/407); Wolter, S. 206.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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niale Krise war denn auch das beherrschende Thema der Reichstags wähl vom 25. Januar 1907 (Stichwahl am 5. Februar 1907), die als „Hottentottenwahlen" zwar zu einer gewissen Stärkung der konservativen, pro-kolonialen Kräfte, aber auch zu einem Stimmenzuwachs der kolonialkritischen Zentrumspartei führte; das Wahlkampfthema der konservativen Parteien und des Reichskanzlers v. Bülow, Zentrum und SPD angesichts der Kolonialkrise als Verräter an der nationalen Sache zu diffamieren, hatte nur teilweise Erfolg, auch wenn die konservativen, national ausgerichteten Parteien im Reichstag (der sogen. „Bülow-Block") aus den Wahlen als Sieger hervorgingen 180. Bernhard Dernburg bekannte sich, zunächst im Rahmen des Wahlkampfes zur Reichstagswahl von 1907, zu einer pragmatischen Kolonialpolitik, die insbesondere die ökonomische Bedeutung der Kolonien für das Mutterland unterstrich und zur Erreichung der wirtschaftlichen Ziele in den Kolonien sowohl eine effektive Verwaltung als auch die Förderung der Entwicklung der einheimischen Bevölkerung bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer Kultur vorsah 181 ; dementsprechend wurde die koloniale Gesetzgebung in den folgenden Jahren modifiziert 182 . Mit dem 1906 ernannten Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, v. Rechenberg, fand die neue Kolonialpolitik ihre Umsetzung in der bedeutendsten Kolonie des Deutschen Reichs. Gouverneur v. Rechenberg reorganisierte die Verwaltung in Deutsch-Ostafrika im Sinne einer Trennung von Militär- und Zivilverwaltung, erweiterter Mitbestimmungsrechte der deutschen Bevölkerung im Gouvernementsrat; die von v. Rechenberg geplante Mitspracherechte Einheimischer konnten allerdings nicht durchgesetzt werden 183 . Für die von Dernburg entwickelte „wirtschaftliche Kolonialpolitik" wurde, um den unterschiedlichen Gegebenheiten in den jeweiligen Kolonien gerecht zu werden, umfassenden Kenntnisse über die Kolonien und eine praxisbezogene Ausbildung als unerläßlich angesehen184. Hiervon ausgehend wurde ab 1909 eine Sonderausbildung für Kolonialbeamte eingeführt 185 ; diese wurde z.T. an der schon 1898 gegründeten Kolonialschule in Witzenhausen bei Kassel durchgeführt 186. Ein Ko180 Diesen Sieg hatten sie allerdings auch den Tücken des Mehrheitswahlrechts zu verdanken, vgl. Reinhard, S. 414. 181 Nach Dernburg war „.. .der Eingeborene das wertvollste Aktivum der Kolonien", vgl. Schiefel, S. 62; Dernburg sah das Programm einer wirtschaftlichen Kolonialpolitik nur dann umsetzbar, wenn es sich mit ethischen Gesichtspunkten vertrug, so insbesondere mit der Respektierung der unveräußerlichen Rechte der Einheimischen, vgl. Wolter, S. 224/225. 182 So Wolter, S. 213: „Das Dernburgsche Programm einer „rationalen" oder „wissenschaftlichen" Kolonialpolitik bedeutete eine Abkehr von der bisherigen Laissez-faire-Politik und die Hinwendung zu einer Politik der Gestaltung durch staatliche Förderungsmaßnahmen in vielen Bereichen, um die Schutzfunktion des Staates zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zweck wurde auch das Recht eingesetzt". 183 Vgl. Detlef Bald, Deutsch-Ostafrika 1900-1914, München, 1970, S. 78-80. 184 Schiefel, S. 61.

185 Schinzinger, S. 96.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

lonialinstitut, das dem erhöhten Ausbildungsbedarf für die Kolonialbeamten Rechnung trug, wurde 1908 in Hamburg gegründet 187. Nach einem Besuch von Deutsch-Ostafrika forderte Dernburg in konsequenter Umsetzung der „wirtschaftlichen Kolonialpolitik" eine liberalere Behandlung der einheimischen Bevölkerung, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, eine Beschränkung der weißen Besiedlung in Ostafrika sowie eine Stärkung der Verwaltung durch einheimische Häuptlinge im Sinne der „indirect rule" statt der umfassend organisierten deutschen Verwaltung 188 . Nach dem Ende des ersten Weltkriegs und dem Verlust der Kolonien erfuhr das Reichskolonialamt eine nur scheinbare Aufwertung, als es durch Erlaß des Reichspräsidenten vom 21. März 1919 zum Reichskolonialministerium umbenannt wurde 189 . Denn im Unterschied zur BRV, die Reichsministerien und Reichsminister nicht erwähnt (die Verwaltung einzelner Ressorts oblag Reichsämtern, die von einem Staatssekretär geleitet wurden, die Reichsämter waren wiederum dem Reichskanzler untergeordnet) 190, sah die neue Weimarer Reichs Verfassung (WRV) nun vor, daß die Reichsregierung „aus dem Reichskanzler und den Reichsministern" besteht (vgl. Art. 52 WRV). Der nunmehrige Reichskolonialminister Bell amtierte jedoch nur ein knappes Jahr; durch Erlaß des Reichspräsidenten vom 29. März 1920 wurde das Reichskolonialministerium aufgelöst und die Kolonialzentralverwaltung, deren Tätigkeit sich nun überwiegend auf die Regelung von Entschädigungsfragen beschränkte, dem Reichsministerium für Wiederaufbau unterstellt 191 .

186 Die Deutsche Kolonialschule Wilhelmshof in Witzenhausen bei Kassel (heute Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft) wurde am 23. Mai 1898 als privatwirtschaftliche Weiterbildungsstätte der deutschen Kolonialwirtschaft gegründet und erhielt als eine der wenigen kolonialen Ausbildungsstätten Bedeutung für die Vorbereitung auf den Aufenthalt in den Schutzgebieten, vgl. Erbar, S. 22, Fn. 77. 187 Innocent Kabagema, Ruanda unter deutscher Kolonialherrschaft, 1993, S. 107; das Kolonialinstitut bildete auch die Keimzelle für die später gegründete Universität in Hamburg (Anmerkung des Verfassers). 188 Das Prinzip der „indirect rule" wurde von dem Briten John Lugard entwickelt und von der britischen Kolonialverwaltung zunächst in Indien, später auch in anderen Kolonien angewendet. Es sah vor, die koloniale Verwaltung den einheimischen Herrschern zu überlassen, die unter der Kontrolle von zivilen und militärischen Beratern der Kolonialmacht standen; vgl. Kabagema, S. 109- 111 189 DKB1. 1919, S. 15.

190 Vgl. auch Gesetz betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878, RGBl. 1878, S. 7 und Triepel, S. 216. 191 DKB1. 1920, S. 42.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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d) Der Erwerb der Schutzgebiete im einzelnen Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika war der Kaufmann Carl Peters der Motor der Kolonialisierung 192 : Nach Gründung der „Gesellschaft für Deutsche Kolonisation" im März 1884 Schloß Peters im November und Dezember 1884, nachdem ihm das Deutsche Reich keine Vollmacht für einen Gebietserwerb gegeben hatte, auf eigene Faust an der Ostafrikanischen Küste Verträge mit einheimischen Häuptlingen ab, die den Gebietserwerb sowie auch den Erwerb von Hoheitsrechten für die Gesellschaft zum Inhalt hatte 193 . Für die auf diese Weise erworbenen Gebiete erhielt die Gesellschaft am 27. Februar 1885 einen kaiserliche Schutzbrief. Dieser sah vor, daß das Deutsche Reich für die von den einheimischen Häuptlingen abgetretenen Gebiete die Oberhoheit und damit die völkerrechtliche Vertretung übernahm 194. Im Gegenzug wurde ein Teil der Hoheitsgewalt an die Gesellschaft übertragen. Diese Ubertragung beinhaltete insbesondere, daß die Gesellschaft die Verwaltung einschließlich der Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung, aber auch über die Europäer, unter der Aufsicht des Deutschen Reiches ausüben konnte 195 . Als einzige Bedingung wurde die Ausübung von Hoheitsrechten davon abhängig gemacht, daß die mit der Leitung beauftragten Personen die deutschen Staatsangehörigkeit besitzen sollten. Aus der - nunmehr mit Hoheitsgewalt beliehenen - Gesellschaft ging im März 1885 die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft (DOAG) hervor. Diese unter maßgeblicher Mitwirkung von Carl Peters gegründete Gesellschaft konstituierte sich zunächst in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft mit vier Komplementären, darunter Carl Peters, der die Gesellschaft überwiegend auch leitete, und nur einem Kommanditisten196. In den darauffolgenden Jahren erwarb die DOAG weitere Gebiete, für die zwar strenggenommen der Schutzbrief nicht galt; das Deutsche Reich erkannte aber dennoch die Ausübung der Verwaltung durch die DOAG in diesen Gebieten an. Noch im Januar 1890 erwarb Carl Peters für die DOAG Gebiete im heutigen Uganda und bereitete damit auch für dieses Gebiet die deutsche Oberhoheit vor 1 9 7 . Die zusätzlichen Landkäufe und die erforderliche Erschließung des Landes erforderten mit der Zeit mehr Kapitalmittel, gleichzeitig kam es innerhalb der Kommanditgesellschaft zu Meinungsverschiedenheiten, die 1886 zu ihrer Auflösung führten. Anfang 1887 wurde die DOAG als Korpora-

192 Ausführlich zur Kolonisierung von Ostafrika: Jutta Bückendorf, „Schwarz-weiß-rot über Ostafrika!", 1997, S. 194 ff. 193 Schinzinger, S. 20. 194 Heinrich Helmut Kraft, Chartergesellschaften als Mittel zur Erschließung kolonialer Gebiete, in: Schriften des Kolonial-Institutes der Hansischen Universität, Bd. 7,1943, S. 140. 195 Kraft, S. 141. 196 Kurt Büttner, Die Anfänge Deutscher Kolonialpolitik in Ostafrika, 1959, S. 82. 197 Célestin Muyombano, Ruanda - die historischen Ursachen des Bürgerkriegs, 1995, S. 13.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

tion 1 9 8 neu gegründet 199 und mit umfangreichen Kapitaleinlagen, vor allem der preußischen Seehandlung, einiger Banken, aber auch von Kleinanlegern, ausgestattet 2 0 0 . Nunmehr begann die DO AG, die vorher nur Gebiete im Landesinneren erworben hatte, mit dem Erwerb der - bisher unter der Herrschaft des Sultans von Sansibar stehenden - für die Landerschließung wichtigen Küstengebiete. Zwar einigte sich die DO AG 1887 mit dem Sultan über die Inbesitznahme der Küste im Rahmen eines Pachtvertrages, der der Gesellschaft auch Verwaltungs- und Zollerhebungsbefugnisse sicherte. Kurz nach der tatsächlichen Übernahme der Verwaltung der Küste im September 1888 revoltierte die dort ansässige arabische Bevölkerung jedoch und zwang die DOAG zur Aufgabe der meisten ihrer Niederlassungen, ohne daß die Gesellschaft in der Lage gewesen wäre, die Aufstand mit eigenen Mitteln niederzuschlagen 201. Die prekäre Lage der DO AG angesichts dieses sogen. „Araber-Aufstandes" machte die Entsendung einer militärischen Expedition unter dem Kommando des hierfür zum Reichskommissar ernannten Majors v. Wissmann erforderlich, der den Aufstand bis 1890 niederschlug 202. Faktisch bedeutete das militärische Eingreifen des Deutschen Reiches das Ende der mittelbaren Verwaltung durch die DO AG, die ihre Ohnmacht, ein erworbenes Gebiet auch zu verteidigen, unter Beweis gestellt hatte. Durch Vertrag vom 20. November 1890 trat die DO AG ihre Hoheitsrechte gegen eine Geldentschädigung an das Deutsche Reich mit Wirkung zum 1. Januar 1891 ab 2 0 3 . Hierfür hatte der deutsch-englische sogenannte Helgoland-Sansibar-Vertrag vom 1. Juli 1890 den Weg geebnet, da mit der Abgrenzung der Interessengebiete (die Küstengebiete des Sultans von Sansibar wurden - neben der Insel Helgoland - dem Deutschen Reich, die Inseln Sansibar und Pemba Großbritannien zugesprochen) das Deutsche Reich an der Küste unmittelbar Hoheitsrechte erwarb 204 . Nicht unerwähnt bleiben sollte im übrigen auch der Landerwerb der Gebrüder Denhard, die im April 1885 durch Vertrag (der als Geschäftsführung ohne Auftrag die Schutzherrschaft des Deutschen Reiches begründete) mit dem Sultan von Witu das gesamte Gebiet von Witu an der Südwestküste des heutigen Kenia erwarben. Finanzielle Schwierigkeiten veranlaßten die Gebrüder Denhard wenig später, die so erworbenen Gebiete an die „Deutsche Witu-Gesellschaft", einer Gründung des Deutschen Kolonialvereins, zu veräußern. Da die „Deutsche Witu-Gesellschaft" sich unter Hinweis auf die hohen Kosten weigerte, die Erteilung eines kaiserlichen 198

Nach den Regelungen des preuß. ALR, siehe oben, Α. II. 4. b) Die Wahl dieser Gesellschaftsform ging vor allem auf die kapitalkräftigeren Geldgeber zurück, die wegen der starken Stellung der Hauptversammlung bei der Korporation ihre Einflußmöglichkeiten sichern wollte, vgl. Büttner, S. 99. 200 Büttner, S. 98, 105 ff. 199

201 Kraft, S. 144. 202 Wilhelm Arning, Deutsch-Ostafrika gestern und heute, 1936, S. 109. 203 Vertrag zwischen der Reichsregierung und der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft vom 20. November 1890, DKGG 1, S. 382. 204 Kraft, S. 148.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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Schutzbriefes zu beantragen und damit eine mittelbare Verwaltung für das Deutsche Reich auszuüben, erklärte das Deutsche Reich 1887, daß die „Deutsche WituGesellschaft" mit ihren Kaufverträgen auch hoheitliche Rechte erworben hatte 205 . Das Witu-Gebiet wurde schon 1890 im Rahmen des schon erwähnten HelgolandSansibar-Vertrages - zusammen mit den in Uganda erworbenen Gebieten - an Großbritannien abgetreten 206. Ein weiterer Motor für die Erschließung des nordöstlichen Hinterlandes von Deutsch-Ostafrika war der Wettlauf um die „Rettung" des deutschstämmigen Gouverneurs der sudanesischen Südprovinz Äquatoria, Emin Pascha, der durch den Mahdi-Aufstand in Bedrängnis geraten war und vom Norden des Sudan abgeschnitten war. Nachdem eine britische Expedition 1887 unter der Leitung des durch seine Suche nach dem britischen Missionar und Forscher Livingstone bekanntgewordenen - Henry Morton Stanley vom Kongo aus loszog, machte sich auch eine deutsche Rettungsexpedition von Daressalam auf die Such nach Emin Pascha207. Zwar kam die deutsche Expedition zu spät, denn Emin Pascha wurde 1888 von Stanley gefunden und 1889 nach Deutsch-Ostafrika gebracht; die Expedition baute jedoch den deutschen Einfluß im Bereich des Victoria-Sees aus und festigte die Herrschaft über das einheimische Königreich Bukoba 208 . Das Gebiet der heutigen Staaten Ruanda und Burundi - die zu jener Zeit als selbständige, gänzlich gegen europäische Einflüsse abgeschlossene Königreiche bestanden209 - wurde erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts für die deutsche Kolonisation erschlossen. In Ruanda kam es 1894 zum ersten Kontakt mit deutschen Expeditionen; nachdem 1896 ruandische Stämme mit den aus dem Kongo eindringenden belgischen Truppen in Kämpfe verwickelt wurden 210 , wurde mit Einwilligung des ruandischen Königs 1898 die erste deutsche Militärstation in Ruanda gegründet 211. Nach Gründung eines Militärpostens in Burundi 1897 wurde dieser 1898 zur einer größeren Militärstation ausgebaut212. 1900-1902 einigten sich Belgien und das Deutsche Reich auf eine Grenzregelung im Bereich der Gebiete von Ruanda und Burundi, die ab 1906 unter Beibehaltung der Herrschaft der Könige (Häuptlinge) als Protektorate des Deutschen Reiches (Residenturen) verwaltet wurden 213 .

205 Wackerbeck,

S. 45,48.

206

Schinzinger, S. 20. 207 Bückendorf, S. 414. 208 Bückendorf, S. 415-517. 209 Thomas Laely, Autorität und Staat in Burundi, 1995, S. 264. 210 Innocent Kabagema, Ruanda unter deutscher Kolonialherrschaft 1899-1916 (Europäische Hochschulschriften), 1993, S. 61. 211 Muyombano, S. 16. 212 Laely, S. 265. 213 Muyombano, S. 17; Laely, S. 264. *

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

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Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika ging die erste Initiative auf den Bremer Kaufmann Franz Adolf Lüderitz zurück, der - als erster Deutscher - im April 1883 an der Südwestafrikanischen Küste an der Bucht von Angra Pequena214 ein Gebiet von ca. 1.400 Quadratmeilen von einem einheimischen Häuptling für 100 Pfund Sterling und 200 Gewehre erwarb 215 . Auf Antrag von Lüderitz und getragen von der kolonialen Begeisterung der öffentlichen Meinung erklärte Bismarck im April 1884 die Schutzhoheit des Reiches über die von Lüderitz erworbenen Gebiete. Geht man davon aus, daß Lüderitz Hoheitsrechte erworben hatte, genehmigte somit Bismarck die von Lüderitz durchgeführte Geschäftsführung für das Deutsche Reich - jedoch nicht ohne sich zuvor bei der britischen Regierung versichert zu haben, daß diese keinerlei Ansprüche auf das Gebiet erhob. Die Einigung zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich verhinderte einen - entgegen den Anweisungen aus London - von der Kapkolonie erstrebten Gebietserwerb 216. Tatsächlich vollzogen wurde der Erwerb für das Deutsche Reich im Oktober 1884 durch Vertrag eines Repräsentanten des Reichs (Gustav Nachtigal) mit dem einheimischen Häuptling in Angra Pequena217. Im Ergebnis wurden also durch private Landkäufe - ungeachtet der Frage, ob damit schon Hoheitsrechte für das Reich erworben wurden - die Grundlage des späteren deutschen Kolonialbesitzes gelegt 2 1 8 . Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten übertrug Lüderitz schon 1885 seinen Landbesitz auf die „Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika". Eine ursprünglich geplante Beleihung dieser Gesellschaft mit Hoheitsrechten nach dem Vorbild der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft unterblieb aber, da sich die Gesellschaft - wegen der hohen Kosten für den Aufbau einer Verwaltung - weigerte, Hoheitsrechte zu übernehmen, so daß Südwestafrika ab 1885 unmittelbar - zunächst unter der Leitung des Regierungskommissars Dr. Göring (Vater des späteren Reichsmarschalls) - durch das Deutsche Reich verwaltet wurde 219 . Die „Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika" behielt aber ihren umfangreichen Landbesitz einschließlich der Schürfrechte insbesondere in der Küstenregion. Ein Großteil der ab 1908 entdeckten Diamantenvorkommen befanden sich auf Grundstücken dieser Gesellschaft, so daß sich die Gesellschaft in den folgenden Jahren auf den Diamantenbergbau - unter Aufsicht der staatlichen „Diamanten-Regie-Gesell214

Portugiesisch: kleine Bucht (Anmerkung des Verfassers). 215 Wackerbeck, S. 31. 216 Zimmerling, S. 3; die kolonialen Ambitionen der Kapkolonie zeigten sich auch in der Ausdehnung des britischen Herrschaftsgebietes - unter Einfluß der Kapkolonie - auf Betschuanaland 1885 (heute Botswana), Rhodesien 1890 (heute Simbabwe) und Njassaland 1891 (heute Malawi), ein Schritt, der eine deutsche Ausdehnung von Südwestafrika zum Indischen Ozean verhinderte, vgl. Martin Pabst, Frieden für Südwest? - Experiment Namibia, 1991, S. 29. 2 17 Hassert, S. 39. 2

18 Wackerbeck, S. 32. 19 Hassert, S. 39.

2

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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schaft des Südwestafrikanischen Schutzgebietes"220 - konzentrierte und hohe Gewinne erzielte. Daneben kontrollierte die Gesellschaft auch andere Gesellschaften wie die Kaoko-Gesellschaft, die Otavi-Gesellschaft und die Südafrikanische Landgesellschaft 221. Die Grenzen und Interessenbereiche (Gebiete, die eine Kolonialmacht - ohne sie bereits zu beherrschen - für sich beansprucht) wurden durch Verträge mit Portugal am 30. Dezember 1886 und mit Großbritannien im Rahmen des HelgolandSansibar Vertrages am 1. Juli 1890 festgelegt 222. Kamerun In Kamerun bestand neben der Tätigkeit deutscher Kaufleute auch eine nachhaltige Aktivität britischer Handelsunternehmen. Der schon vorhandene britische Einfluß zeigte sich außerdem daran, daß 1856 in der Küstenstadt Douala ein „Court of Equity" zur Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten, an denen britische Kaufleute beteiligt waren, eingerichtet wurde 223 . Als Konsequenz der britischen Handelsinteressen in Kamerun strebte auch Großbritannien die Einverleibung der Kamerunküste in sein Kolonialreich an. Das Deutsche Reich konnte jedoch vor Großbritannien seine Kolonialherrschaft in Kamerun begründen. Im Frühjahr 1884 schlossen deutsche Kaufleute der Handelshäuser Woermann, Jantzen & Thormälen und Vietor Kauf- und Schutzverträge mit einheimischen Häuptlinge über das Gebiet der Kamerunküste. Kurz darauf, am 14. Juli 1884, erfolgte die Hissung der Reichsflagge durch den deutschen Generalkonsul in Tunis, Gustav Nachtigal (unterstützt durch die Anwesenheit eines deutschen Kriegsschiffes) und damit der unmittelbare Erwerb der Gebiete an der Kamerunküste für das Deutsche Reich 224 . Gustav Nachtigal kam einer Besitzergreifung durch Großbritannien nur einige Tage zuvor 225 . Nach der unmittelbaren Besitzergreifung durch das Deutsche Reich folgte der Aufbau einer unmittelbaren Verwaltung, an deren Spitze ein Reichsbeamter als Gouverneur stand 226 . Die Grenzen und Interessengebiete zu den anderen Kolonialmächten wurden in mehreren deutsch-britischen und deutsch-französischen Verträgen sowie auf der Berliner Kongokonferenz 1884/1885 227 festgelegt, Gebietserweiterungen der deutschen Kamerun-Kolonie regelten insbesondere der deutschbritische Helgoland-Sansibar Vertrag vom 1. Juli 1890 sowie der deutsch-französische Marokko-Vertrag vom 4. November 1911 228 . 220 Grotpeter, S. 103. 221 Grotpeter, S. 99. 222 Huber, S. 614. 223 Théophile Owona, Die Souveränität und Legitimität des Staates Kamerun, Diss. 1990, S. 110. 224 Huber, S. 615. 225 Jacob, Deutsche Kolonialkunde, S. 28/29. 226 Owona, S. 110. 227 Zur Bedeutung der Kongokonferenz für Kamerun vgl. Mark W. DeLancey/H. Mbella Mokba, Historical Dictionary of the Republic of Cameroon, 2. Aufl., 1990, S. 66.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Togo In Togo wurde - im Gegensatz zu den bisher erwähnten Gebieten - der Kolonialerwerb nicht durch private Landkäufe deutscher Kaufleute vorbereitet. Vielmehr schloß Gustav Nachtigal am 4.Juli 1884 an der Togo-Küste 229 als Vertreter des Deutschen Reiches einen Schutzvertrag mit einheimischen Häuptlingen, der den unmittelbaren Gebietserwerb durch das Reich begründete 230 und damit den Weg zum Aufbau einer unmittelbaren Verwaltung in Togo freimachte 231. Die Verwaltung wurde in Togo durch einen Reichskommissar geleitet, der dem Gouverneur von Kamerun unterstellt war; dieser amtierte gleichzeitig als „hoher Reichskommissar" für Togo 232 . Der Reichskommissar erhielt ab 1892 den Titel eines Landeshauptmannes, 1898 den Titel eines Gouverneurs und unterstand nunmehr nicht mehr dem Gouvernement von Kamerun 233 . Unterstützt wurde die Gouvernementsverwaltung durch einen Stab von Referenten 234. In den darauffolgenden Jahren wurde der deutsche Herrschaftsbereich in das Landesinnere ausgedehnt und durch Grenzabkommen mit Großbritannien und Frankreich abgesichert. Das Hauptziel der deutschen Expansion ins Landesinnere, die Schaffung einer Landbrücke zum Niger, wurde jedoch nicht erreicht 235 . Deutsch-Neuguinea Die Gründung der deutschen Kolonie Deutsch-Neuguinea, auf dessen Gebiet sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schon Handelsniederlassungen und Plantagen unter anderem des Handelshauses Godeffroy befanden, geht insbesondere auf die Initiative des Berliner Bankiers Adolph von Hansemann zurück, der schon bei der Frage der Samoa-Vorlage 1880 das koloniale Engagement des Deutschen Reiches unterstützte. Nachdem schon im November 1884 deutsche Kriegsschiffe (da in Neuguinea keine staatlichen Strukturen existierten, war ein Erwerb durch Vertragsschluß nicht möglich, so daß hier ein Erwerb durch Okkupation stattfand) an der Küste von Neuguinea durch Flaggenhissung den unmittelbaren Erwerb für das Deutsche Reich begründeten 236, erhielt die vorher von v. Hansemann begründete 228 Huben s. 615. 229 Das Dorf Togo oder Togoville, in dem der Vertrag geschlossen wurde, gab der Kolonie ihren Namen, vgl. Decalo , S. 279. 230 Theres, S. 17; Gustav Nachtigal machte auf dem Wege nach Kamerun in Togo Station und schloß den Schutzvertrag, von deutschen Kaufleuten in Togo gedrängt, ohne kaiserlichen Auftrag ab; das Reich erkannte aber den Gebietserwerb an und verzichtete gegenüber Frankreich auf - unsichere - Kolonialansprüche in Guinea, vgl. Theres, S. 15 -17. 231 Ralph Erbar: Ein „Platz an der Sonne?" Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884-1914, 1991, S. 10. 232 Theres, S. 88. 233 Erbar, S. 16; Theres, S, 90. 234 Erbar, S. 17. 235 Hassert, S. 194/195. 236 Es war im Übrigen das gleiche Kriegsschiff (Korvette „Elisabeth"), das im August 1884 die Flaggenhissung in Angra Pequena in Südwestafrika durchführte und damit die

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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Neuguinea-Compagnie (NGC) 2 3 7 im Frühjahr 1885 einen kaiserlichen Schutzbrief und damit Hoheitsrechte für die Verwaltung von Neuguinea und der vorgelagerten Inseln 238 . Die Ankunft der ersten Expedition der Gesellschaft, die Neuguinea erst im Herbst 1885 erreichte, markierte den Beginn der Errichtung einer mittelbaren Verwaltung durch die Gesellschaft unter der Oberhoheit des Deutschen Reiches nach dem Prinzip der Schutzbriefgesellschaften 239. Nach dem Erwerb weiterer Gebiete durch die NGC erhielt die Gesellschaft 1886 einen zweiten Schutzbrief, der den ersten Schutzbrief auf die Neuerwerbungen ausdehnte. Dieser Schutzbrief verbriefte die Oberhoheit des Deutschen Reiches über die erworbenen Gebiete sowie die völkerrechtliche Vertretung durch das Reich. Ferner wurde die Rechtsprechung der Hoheit des Deutschen Reiches unterstellt, Gerichtsurteile im Gebiet der NGC hatten „im Namen des Kaisers" zu erfolgen. Im Gegenzug wurden, der Gesellschaft die Rechte der Landeshoheit, insbesondere die Einrichtung der Verwaltung einschließlich der Rechtspflege, der Finanzhoheit240 und das Bergbaurecht verliehen 2 4 1 . Die Gesellschaft mußte sich verpflichten, die Verwaltung aufzubauen, zu erhalten und ihre Kosten zu tragen. 1886 erfolgte die eigentliche Gründung der NGC als Korporation im Sinne des preuß. ALR, eine Rechtsform, die den Interessen der kapitalkräftigen Investoren, insbesondere des Mehrheitsgesellschafters v. Hansemann, entsprach 242. Die NGC verwaltete die Kolonie durch einen von ihr ernannten Landeshauptmann, der vom Reichskanzler bestätigt werden mußte, dem Landeshauptmann unterstanden alle übrigen Verwaltungsangestellte der Gesellschaft. Mit dem Aufbau einer Verwaltung wurde zunächst auf den relativ leicht erschließbaren Inseln des Neuguinea vorgelagerten Bismarck-Archipels begonnen. Später erfolgte schrittweise die Erschließung der Küste von Neuguinea 243 , wobei das - formal zum deutschen Herrschaftsgebiet gehörende - Hinterland bis 1914 noch kaum erforscht war und nur von gelegentlichen Expeditionen durchstreift

Landkäufe von Adolf Eduard Lüderitz unter den Schutz des Reiches stellte, vgl. Jacob, Deutsche Kolonalkunde, S. 29. 237 Bis 1886 handelte es sich lediglich um ein Konsortium interessierter Investoren, so daß bis dahin genau genommen lediglich eine Vorgesellschaft existierte, vgl. Kraft, S. 149 2 38 Huber, S. 620. 239 Ann Turner, Historical Dictionary of Papua New Guinea, 1994, S. 156; die Angehörigen der Expedition wurden von der einheimischen Bevölkerung zunächst für aus dem Jenseits zurückgekehrte Verwandte gehalten, vgl. Turner, S. 156. 240 Z.T. wurde den beliehenen Kolonialgesellschaften das Recht der Finanzhoheit abgesprochen, da dies ein Souveränitätsrecht des Kaisers sei, vgl. Johannes Bernhard Adolf Gaul, Finanzrecht der deutschen Schutzgebiete (unter besonderer Berücksichtigung der Steuergesetzgebung), Diss. 1909, S. 44 ff.

Kraft, 242 Kraft,

S. 150. S. 151.

243 Auf dem Festland erwies sich auch die Anlage von Plantagen schwierig, da die einheimische Bevölkerung an der Plantagenarbeit nicht interessiert war und daher indonesische und malayische Arbeiter angesiedelt wurden, vgl. John Dademo Waiko, A short history of Papua New Guinea, 1993, S. 42.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

wurde. Die Erschließung der wenig erforschten Gebiete und der häufige, durch Klima und Krankheiten verursachte Wechsel der Angestellten erwies sich in der Folge als aufwendig und kostspielig, so daß die NGC 1889 ihre Verwaltungsbefugnisse an das Reich abtrat. Das Deutsche Reich stellte daraufhin das Verwaltungspersonal unter der Leitung eines Regierungskommissars, die Kosten trug jedoch weiterhin die NGC. Wegen der hohen Kosten dieser Regelung kehrte die NGC 1892 noch einmal zur mittelbaren Verwaltung von Deutsch-Neuguinea zurück. In den folgenden Jahren ließen die Kosten für die Verwaltung und die Erschließung des Landes den Gesamtverlust der NGC stetig weiter anwachsen, so daß sich die Gesellschaft endgültig dazu entschloß, ihre Hoheitsrechte an das Deutsche Reich abzutreten 244. Die mittelbare Verwaltung durch die NGC wurde durch Vertrag mit dem Reich vom 7. Oktober 1898 mit Wirkung vom 1. April 1899 beendet und eine unmittelbare Reichsverwaltung eingerichtet; die NGC erhielt dafür eine Entschädigung von 4 Millionen Mark und 50.000 Hektar Land 2 4 5 . Der Aufbau der Verwaltung von Deutsch-Neuguinea wurde ab 1899 unter der Leitung eines Gouverneurs erfolgreich vorangetrieben, nicht zuletzt eine Folge der Tatsache, daß die nunmehr staatliche Reichsverwaltung weit höhere Finanzmittel in die Erschließung des Landes stecken konnte 246 . Marshall-Inseln einschließlich Nauru Auch auf den Marshall-Inseln hatten deutsche Handelsunternehmen schon früh Fuß gefaßt und bildeten die Grundlage des kolonialen Erwerbs. Das Handelshaus Godeffroy hatte auch hier Plantagen und Faktoreien errichtet, die 1878 von der „Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft" (Nachfolgeunternehmen von Godeffroy) übernommen wurden 247 . Nachdem schon 1877 mit den Häuptlingen auf der Hauptinsel Jaluit Handels- und Meistbegünstigungsverträge abgeschlossen worden waren 248 , wurde im Oktober 1885 durch den Abschluß eines Schutzvertrages des Deutschen Reiches mit den Häuptlingen auf Jaluit die Schutzherrschaft des Reiches unmittelbar begründet 249. Spanien und Großbritannien verzichteten 1886 gegenüber dem Deutschen Reich auf ihre Ansprüche auf die Inseln 250 . Zu den Marshall-Inseln wurde auch die wegen ihrer Phosphatvorkommen wirtschaftlich interessante Insel Nauru gezählt. Nauru, das von Bürgerkriegswirren zerrissen war, wurde 1888 auf Betreiben der Jaluit-Gesellschaft und mit Unterstützung eines deutschen Kanonenbootes, das durch seine Anwesenheit weitere Bürgerkriegsauseinandersetzungen unterband, dem Schutzgebiet der Marshall-Inseln 244 245 246 247 248 249

Kraft, S. 157. Huber, S. 621. Waiko, S. 44. Huber, S. 622. Jacob, Deutsche Kolonialkunde, S. 29. Schach, S. 91.

250 Craig /King, S. 182.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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einverleibt 251 . 1887 vereinigten sich die Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft, zusammen mit Hernsheim & Co. und der auf den Marshall-Inseln lokal tätigen Firma Capalle & Co. zur „Deutschen Jaluit-Gesellschaft". Die Jaluit-Gesellschaft hatte das Handelsmonopol für die Marshall-Inseln, so daß keinerlei konkurrierende Gesellschaften auf den Marshall-Inseln Handel treiben konnten 252 . Obwohl die Jaluit-Gesellschaft einen Teil der Verwaltungskosten für die Inseln trug, war sie an der Verwaltung direkt nicht beteiligt. Die Inseln wurden vielmehr unmittelbar durch das Deutsche Reich unter der Aufsicht eines Reichskommissars, ab 1894 unter der Leitung eines Landeshauptmannes als selbständiges Schutzgebiet verwaltet; von einer mittelbaren Verwaltung nach dem Beispiel von DeutschOstafrika oder Deutsch-Neuguinea konnte hier demzufolge nicht gesprochen werden. Nachdem das Handelsmonopol der Jaluit-Gesellschaft zu Protesten insbesondere von Großbritannien geführt hatte, wurden ihre Handelsprivilegien ab April 1906 aufgehoben, die Inseln dem Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea eingegliedert und das Amt des Landeshauptmannes abgeschafft 253. Dennoch erwirtschaftete die Jaluit-Gesellschaft weiterhin bis 1914 hohe Gewinne 254 . Palau-Inseln, Marianen, Karolinen Auf die in Zentral- und Westmikronesien gelegenen Karolinen- Marianen- und Palauinseln erhob das Deutsche Reich schon 1885 Ansprüche. Die Inseln wurden jedoch auch von Spanien beansprucht (spanische Seefahrer hatten die Inseln im 16. Jahrhundert entdeckt, seitdem übte Spanien eine - eher lockere - Kontrolle aus); beide Seiten einigten sich auf eine Regelung des Konflikts durch einen Schiedsspruch von Papst Leo XIII. Dieser erkannte die Souveränitätsrechte Spaniens an, sprach dem Deutschen Reich aber Handels- und Schiffartsfreiheit zu (Faktoreien und Plantagen deutscher Handelshäuser bestanden schon) sowie das Recht, auf den Karolinen eine Kohlestation (Stützpunkt zur Versorgung der damals mit Kohle betriebenen Schiffe) für deutsche Schiffe zu errichten 255 . Nachdem Spanien im Verlauf des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 seine wichtigste Kolonie im Pazifik, die Philippinen, an die USA verloren hatte, entschloß sich die spanische Regierung zum Verkauf der strategisch unbedeutenden Inseln an das Deutsche Reich. Durch Kaufvertrag vom 30. Juni 1899 erwarb das Deutsche Reich die Inseln zum Preis von 25 Millionen Peseten - damals umgerechnet 4,5 Millionen US-Dollar oder 16,75 Millionen Mark 2 5 6 - und gliederte die Inseln unmittelbar darauf verwaltungsmäßig in Deutsch-Neuguinea ein 2 5 7 . 251 Craig/King , S. 202. 252 Craig/King, S. 203. 253 Huber, S. 622. 254 Craig/King, S. 203. 255 Huber, S. 622. 256 Jacob, Deutsche Kolonialkunde, S. 29. 257 Kaiserliche Verordnung vom 18. Juli 1899, vgl. RGBl. 1899, S. 541 und Triepel, S. 287.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Samoa Auf Samoa bestanden schon, wie eingangs erwähnt, seit Mitte des 19. Jahrhunderts Handelsaktivitäten deutscher Kaufleute 258 , die Plantagen und Faktoreien errichteten und mit den dort überwiegend tätigen britischen und amerikanischen Kaufleuten konkurrierten. Die Aktivitäten ihrer Kaufleute auf den Inseln machten folglich das Deutsche Reich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten zu Interessenparteien an der samoanischen Innenpolitik, insbesondere in Bezug auf die immer wieder aufflackernden Bürgerkriege. Seit 1867 fungierte der Vertreter der Handelsgesellschaft Godeffroy auch als Konsul des Norddeutschen Bundes, ab 1871 des Deutschen Reichs 259 . 1879 schloß das Deutsche Reich mit dem König von Samoa einen Freundschaftsvertrag, der die Interessen der deutschen Handelshäuser sichern sollte 260 , im gleichen Jahr wurde ein Übereinkommen zwischen den drei Staaten und den beiden Bürgerkriegsparteien getroffen 261 , das die Feindseligkeiten beendete, den beiden Bürgerkriegsparteien einen Anteil an der Macht sicherte, das samoanische „Parlament" (Ratsversammlung) stärkte, sowie insgesamt die samoanische Verfassung neu ordnete 262 . Im Gegenzug erhielt ein 3-köpfiges Beratergremium, bestehend aus den Konsuln der drei Staaten, ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Verwaltung der Hauptstadt Apia und damit faktisch über die gesamte Inselgruppe 263 im Rahmen eines „Munizipalkondominats". Ferner wurden den drei Staaten Kohlestationen auf den Inseln gewährt 264 . Die Ablehnung der „Samoa-Vorlage" 1880 (siehe oben Α. II. 3.) verhinderte zunächst ein frühzeitiges stärkeres politisches Engagement des Deutschen Reiches 265 . In der Folge kam es wieder zu samoanischeh Thronstreitigkeiten und zu einem Wiederaufflackern des Bürgerkriegs. Am 14. Juni 1889 einigten sich die drei Staaten in Berlin im Rahmen einer „Samoa-Konferenz" auf die Errichtung eines gemeinsamen Kondominats über die gesamten Inseln mit entscheidenden Einflußmöglichkeiten der drei Konsuln auf Regierung und Gerichtsbarkeit von Samoa (niedergelegt in der Generalakte der Samoa-Konferenz) 266. Versuche einzelner deutscher Konsuln vor Ort, Samoa für das Deutsche Reich zu annektieren und da258

Insbesondere des Handelshauses Godeffroy bzw. des Nachfolgeunternehmens, der „Deutschen Handels- und Plantagen-Gesellschaft der Südseeinseln zu Hamburg". 259 Dieter Giesen, Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der juristischen Gesellschaft zu Berlin, Dieter Wilke (Hrsg.), 1984, S. 177 (182). 2 60 Giesen, S. 188. 261 Z.T. auch als „Bismarck"-Übereinkommen bezeichnet, nach dem deutschen Kriegsschiff „Bismarck", das zu jener Zeit vor Samoa ankerte, vgl. Craig /King, S. 30. 2 2 * Craig/King, S. 30. 2 63 Giesen, S. 189. 264 Huber, S. 623. 265 Insbesondere wurde Bismarcks Zurückhaltung bestärkt, die Dreimächteherrschaft in Samoa zu ändern, vgl. Giesen, S. 194. 266 Z.T. auch als „Berliner Vertrag" bezeichnet, vgl. Craig/ King, S. 25.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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mit die mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten geschlossenen Vereinbarungen zu brechen, vereitelte Bismarck, um koloniale Konflikte mit Großbritannien zu vermeiden 267 . Die Regelungen der Samoa-Konferenz wurden in der Folgezeit durch die anhaltenden Unruhen neutralisiert, gleichzeitig zeigte sich nach der Entlassung Bismarcks und dem stärkeren Einfluß Kaiser Wilhelms II. auf die Außenpolitik seit 1894 ein verstärktes Interesse des Deutschen Reichs an einer Einverleibung von Samoa 268 . In Vereinbarungen vom 14. November (zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich) 269 und 2. Dezember 1899 (zwischen Großbritannien, den USA und dem Deutschen Reich) 270 einigten sich die drei beteiligten Staaten auf die Aufteilung der Inseln zwischen dem Deutschen Reich (Westsamoa, Hauptort Apia) und den Vereinigten Staaten (Ostsamoa, Hauptort Pago-Pago 271 ). Großbritannien erhielt als Ausgleich die Protektoratsherrschaft über die Tonga-Inseln272. Tsingtau (Kiautschou) Für die Inbesitznahme von Gebieten an der Kiautschou(Jiaozhou)-Bucht und Tsingtau an der chinesischen Küste waren zunächst militärische Gründe, insbesondere der Marine, aber auch wirtschaftliche Gründe entscheidend. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 und der darauffolgenden militärischen Schwäche des chinesischen Reiches bemühten sich Rußland, Großbritannien, Frankreich und Japan um die Begründung von Flottenstützpunkten und Kohlestationen273 in Ostasien, insbesondere an der chinesischen Küste. Auch Admiral von Tirpitz, seit 1897 Staatssekretär des Reichsmarineamtes, erkannte die Bedeutung eines Flottenstützpunktes in China für die weltweiten Rottenpläne des Deutschen Reiches. Kein Hafen in den schon vorhandenen deutschen Schutzgebieten verfügte über die erforderlichen Werftkapazitäten, die erforderlichen klimatischen und geographischen Gegebenheiten und die Infrastruktur einer größeren Stadt - Voraussetzungen, die für einen Flottenstützpunkt erforderlich waren. Gleichzeitig konnte eine deutsche Niederlassung an der chinesischen Küste eine gute Ausgangsbasis für die deutschen Handelsinteressen für den sehr lukrativen Chinahandel bieten. Admiral von Tirpitz war es denn auch, der diesbezüglich gerade auf die Kiautschoubucht aufmerksam gemacht hatte 274 . 267 268 269 270

Giesen, S. 211-213. Giesen, S. 218/219. DKGG 4, S. 129. DKGG 4, S. 147.

271 Ostsamoa ist auch heute noch ein mit den Vereinigten Staaten assoziiertes Territorium (Anmerkung des. Verfassers). 272 Jacob, Deutsche Kolonialkunde, S. 30. 273

Die mit Kohle betriebenen Kriegsschiffe des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren, um weltweit operieren zu können, auf ein Netz von - möglichst eigenen - Kohlestationen angewiesen (Anmerkung des Verfassers). 274 Hans Weicher, Kiautschou Das deutsche Schutzgebiet in Asien, 1908, S. 98.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

1897 wartete das Deutsche Reich auf eine geeignete Möglichkeit, einen Stützpunkt an der chinesischen Küste - vorzugsweise Kiautschou - militärisch zu besetzen; ein deutsches Marinegeschwader unter dem Kommando von Admiral von Diederich befand sich zu diesem Zweck seit Juni 1897 in chinesischen Gewässern 275 . Einen Vorwand für die Besetzung bot zum einen ein Vorfall am 31. Oktober 1897, bei dem die Bootsbesatzung eines deutschen Kriegsschiffs von der chinesischen Bevölkerung mit Steinen beworfen wurde. Als am 1. November dann schließlich zwei deutsche Missionare der katholischen Steyler Mission in der Provinz Schantung (Shandong) von Angehörigen eines chinesischen Geheimbundes ermordet wurden , war der erforderliche Vorwand gegeben . Während der deutsche Gesandte durch überhöhte Sühneforderungen an die chinesische Regierung Zeit gewinnen konnte, besetzte das Marinegeschwader unter dem Befehl von Admiral v. Diederichs, in Ausführung eines Befehls von Kaiser Wilhelm II., am 14. November die Kiautschou-Bucht. Die Besetzung der Bucht war nicht unumstritten innerhalb der Reichsregierung, insbesondere Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe sowie einige Berater von Kaiser Wilhelm II. rieten zur Zurückhaltung; ein diesbezüglicher Befehl erreichte die deutschen Schiffe jedoch nicht mehr. Die Besetzung selbst erfolgte kampflos; die an der Kiautschou-Bucht stationierten chinesischen Truppen unter dem Kommando eines Generals zogen sich unter Protest, aber ohne Kampfhandlungen zurück 278 . Nach diplomatischen Verhandlung einigten sich beiden Seiten im Frühjahr 1898 darauf, daß China das besetzte Gebiet im Rahmen eines Pachtvertrages für 99 Jahre dem Deutschen Reich überlassen sollte. Trotz der Bezeichnung als Pachtvertrag diente dieses Übereinkommen vor allem dazu, die Besetzung völkerrechtlich zu legalisieren - an der Oberhoheit des Deutschen Reiches über das Pachtgebiet bestand kein Zweifel 279 . Der am 06. März 1898 unterzeichnete Pachtvertrag überließ dem Deutschen Reich nicht nur die vollen Hoheitsrechte an einem abgegrenzten Gebiet am Ausgang der KiautschouBucht 2 8 0 einschließlich des Fischerdorfes Tsingtau; vielmehr wurde ein Gebiet im Umkreis von 50 Kilometern um die Bucht zur „neutralen Zone" erklärt und deutschen Truppen dort ein Durchmarschrecht gewährt 281 . Ferner wurde dem Deut275

Mechthild Leutner (Hrsg.), „Musterkolonie Tsingtau" Die Expansion des Deutschen Reiches in China Eine Quellensammlung, bearbeitet von Klaus Mühlhahn, 1997, S. 106. 276 Ermordet wurden die Missionare Henle und Nies; bei der chinesischen Geheimgesellschaft handelt es sich um einen Vorläufer der Boxerbewegung, vgl. Leutner, S. 107. 277 Leutner, S. 107. 27 8 Leutner, S. 109. 279

Leutner, S. 113; eine ähnliche völkerrechtliche Legalisierung durch Pacht auf 99 Jahre wurde 1898 durch Großbritannien bezüglich der „New Territories" von Hongkong vorgenommen (die den flächenmäßig größten Teil der Kolonie Hongkong ausmachten), die dann zum 1. Juli 1997 an China - zusammen mit den Städten Hongkong und Kowloon, die nicht zum Pachtgebiet gehörten - zurückgegeben wurden (Anmerkung des Verfassers). 2 80 Teil I, Art. III des Vertrages vom 06.März 1898, abgedruckt bei Friedrich Wilhelm Mohr (Hrsg.): Handbuch für das Schutzgebiet Kiautschou, 1911, S. 1 ff. 2

«i Teil I., Art. I des Vertrages, Mohr, S. 1 ff.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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sehen Reich die Konzession für den Bau von Eisenbahnlinien gewährt, die den Eisenbahnanschluß an Peking zum Ziel hatten und daher strategische Bedeutung besaßen; auch die Erteilung von Bergwerkskonzessionen zwecks Ausbeutung von Kohlegruben in der Provinz Schantung entlang der Eisenbahnlinie wurde zugesagt 282 . Die chinesische Provinz Schantung wurde damit faktisch zum deutschen Einflußgebiet. Durch kaiserlichen Erlaß vom 27. April 1898 wurde Kiautschou zum Schutzgebiet erklärt 283 . Das Schutzgebiet Kiautschou sollte überwiegend als Marinestützpunkt dienen und unterstand daher nicht der Reichskolonialverwaltung, sondern dem Reichsmarineamt 284. Unter der deutschen Kolonialherrschaft entwickelte sich insbesondere die Stadt Tsingtau zum wichtigsten Handelszentrum des deutschen Chinahandels285.

e) Aufbau und Verwaltung der Polizei- und Schutztruppen Die frühzeitige Abkehr von der mittelbaren Verwaltung durch Schutzbriefgesellschaften zur unmittelbaren Verwaltung durch das Deutsche Reich machte auch die Aufstellung von bewaffneten Einsatzkräften der Exekutive erforderlich. Zunächst wurde in allen Schutzgebieten mit dem Aufbau einer Polizeitruppe begonnen, die jeweils von den Gouverneuren angeworben und von ihnen auf die verschiedenen Bezirke verteilt wurde 286 , Die Polizeitruppe, die den Behörden der Zivilverwaltung unterstand 287, hatte die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten und bestand vorwiegend aus Einheimischen; diese hatten jedoch gegenüber Europäern keine Befugnisse, sondern mußten sich im Hinblick auf Maßnahmen gegen Europäer an weiße Polizisten wenden 288 . Die Aufgaben der Polizeitruppe wurde mit sehr geringem Personalaufwand bewältigt: in Togo bestand die Polizeitruppe bei ihrer Gründung 1885 aus 10 Personen 2 8 9 und wuchs bis 1914 auf ca. 560 Personen, darunter lediglich 8 Deutsche290. 282 Teil II, Art. I und IV des Vertrages; die geplante Eisenbahnstrecke wurde bis 1914 nur zum Teil fertiggestellt, diese Teilstück befindet sich auch heute noch in gutem Zustand, vgl. Wackerbeck, S. 134; die Tätigkeit deutscher Bergbauunternehmen in Schantung wurde bis 1911 wegen mangelnder Rentabilität eingestellt, vgl. Leutner, S. 388-391. 28 3 RGBl. 1898, S. 171 und Triepel, S. 276. 284 Huber, S. 624. 28 5 Schinzinger, S. 22. 28 6 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., Bd. 2, 1901, S. 191. 287 Huber, S. 632; eine Ausnahme bildete Deutsch-Ostafrika, wo die Polizeitruppe erst 1891 durch Herauslösung aus der Schutztruppe entstand, vgl. Franz JosefSassen, Deutsches Kolonial-Militärrecht, 1911, S. 14. 288 Hubert Henoch, Die Befugnisse schwarzer Polizisten gegenüber den Weißen, ZfK (7) 1905, S. 155 (157). 289 Theres, S. 91. 29 0 Sebald, S. 279.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

In Deutsch-Neuguinea wurde 1899 nach dem Ende der Verwaltung durch die NGC eine überwiegend aus Melanesiern bestehende Polizeitruppe aufgestellt 291, die bis 1914 die gelegentlichen Strafexpeditionen gegen Aufstände der Einheimischen durchführte 292. Erwähnenswert ist auch die - neben der Schutztruppe bestehende Polizeitruppe in Kamerun, die ab 1909 militärisch organisiert wurde (ζ. B. mit militärischen Dienstgraden) und 1911 eine Stärke von 550 Mann hatte 293 . Im Schutzgebiet Kiautschou bestand eine Polizeitruppe von ca. 80 bis 120 einheimischen Polizisten und ca. 30 deutschen Polizeiwachtmeistern 294 In den größeren Kolonien Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika und Kamerun machte der anhaltende Widerstand von Teilen der einheimischen Bevölkerung und - mit Ausnahme von Deutsch-Südwestafrika - der florierende Sklavenhandel die Errichtung einer zusätzlichen Schutztruppe notwendig. Die Schutztruppe war konzipiert als eine in unmittelbarem Reichsdienst stehende militärische Einheit zur Niederschlagung von Aufständen in den Schutzgebieten; vom übrigen Reichsheer war sie losgelöst 295 . Bereits 1888 griff das Deutsche Reich militärisch in Deutsch-Ostafrika zur Niederschlagung des Araber-Aufstandes ein und entsendete eine - überwiegend aus einheimischen Sudanesen (meist Soldaten von Emin Pascha, siehe oben, Α. II. 4. d)) bestehende - Eingreiftruppe unter dem Kommando von v. Wissmann 296 . Aus diesen Soldaten ging dann auch die erste deutsche Schutztruppe hervor 297 , die für Deutsch-Ostafrika durch Reichsgesetz vom 22. März 1891 298 formell gegründet wurde. Durch Reichsgesetz vom 9. Juni 1895 299 wurden Schutztruppenkontingente auch für die unruhigen Gebiete Deutsch-Südwestafrika und Kamerun aufgestellt 300. Eine umfassende Regelung erfuhr die Schutztruppe aber erst durch das Schutztruppengesetz vom 18. Juli 1896 301 ; ergänzt durch das Wehrgesetz für die Schutzgebiete vom 22. Juli 1913, das den Wehrdienst in der Schutztruppe (insbesondere die Wehrpflicht in der Schutztruppe von Reichsangehörigen mit Ansässigkeit in den Schutzgebieten) regelte 302 .

291

1911 bestand die Polizeitruppe aus 477 Personen, vgl. Sassen, S: 34. Ann Turner, Historical Dictionary of Papua New Guinea, 1994, S. 175. 29 3 Sassen, S. 35. 294 Huang, S. 143 ff. 292

29

5 Huber, S. 632. 296 Siehe oben, Α. II. 4. d). 297

v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 146. RGBl. 1891, S. 53. 299 RGBl. 1895, S. 258. 300 Zur Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika vgl. auch Verordnung betreffend die Erfüllung der Dienstpflicht bei der kaiserlichen Schutztruppe für Südwestafrika, vom 30. März 1897, RGBl. 1897, S. 167 und Triepel, S. 271. 301 RGBl. 1896, S. 653 und Triepel, S. 265. 302 RGBl. 1913, S. 610. 298

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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Als „obersten Kriegsherrn" bestimmte § 1 Schutztruppengesetz den Kaiser; an der Spitze sowohl des Schutztruppenkommandos als auch der Schutztruppenverwaltung stand jedoch der Reichskanzler, der diese Aufgabe auf den Staatssekretär des Reichskolonialamtes delegierte 303. Das lokale Oberkommando über die Schutztruppen im jeweiligen Schutzgebiet hatte der Gouverneur, dem auch der Kommandeur der Schutztruppen unterstand 304. Der Gouverneur konnte daher die Schutztruppe auch zu zivilen Aufgaben, so ζ. B. der Durchführung einer Expedition, heranziehen 305. Der Kommandeur der Schutztruppe war der unmittelbare militärische Vorgesetzte und der höchste Offizier des Schutzgebietes306. Die Schutztruppen bestanden überwiegend aus Angehörigen der einheimischen Bevölkerung; insbesondere in Deutsch-Ostafrika und Kamerun stellten sie den gesamten Bestand an Mannschaftsdienstgraden 307, während in Deutsch-Südwestafrika auch die Mannschaften von Deutschen gestellt wurden und Einheimische nur zu Hilfsdiensten herangezogen wurden 308 . Als Sonderfall konnten in Deutsch-Südwestafrika auch die burischen Einwohner (die regelmäßig keine Reichsangehörigen waren) zum Wehrdienst herangezogen werden, allerdings nur im Schutzgebiet selbst 309 Nur in der deutsch-ostafrikanischen Schutztruppe dienten Einheimische auch im Unteroffizierskorps und stellten sogar 2 Offiziere 310 . Alle übrigen Offiziere (einschließlich Sanitäts- Veterinär- und Ingenieursoffiziere) und - bis auf Deutsch-Ostafrika - alle Unteroffiziere schieden für die Zeit ihres Dienstes in der Schutztruppe aus dem Reichsheer aus, der Wiedereintritt nach Ende der Dienstzeit in den Kolonien war ihnen jedoch vorbehalten 311. Die deutschen Angehörigen der Schutztruppe gingen den einheimischen Soldaten ohne Rücksicht auf den Dienstgrad stets vor; so stand ζ. B. ein deutscher Mannschaftsdienstgrad in keinerlei Unterordnungsverhältnis zu einem der einheimischen Offiziere 312 . Die einheimischen Soldaten wurden teils im Schutzgebiet rekrutiert, teils außerhalb des Schutzgebietes angeworben; der Dienst von Reichsangehörigen in den Schutztruppen als Offizier oder Unteroffizier, in Deutsch-Südwestafrika auch als Mannschaftsdienstgrad 313, 303 Sassen, S. 18. 304 Sassen, S. 20. 305 Schinzinger, S. 110. 306 v. Hoffmann, Einführung, S. 152. 307 Vgl. die Statistik bei Sassen, S. 28-30. 308 Schinzinger, S. 110; dies war in Deutsch-Südwestafrika wohl eine Folge durch die Aufstände 1904-1907 ausgelösten Mißtrauens der deutschen Verwaltung gegenüber den Einheimischen. 309 Sassen, S. 65, 66. 310 Im Jahre 1911; vgl. Sassen, S. 28-30. 311 Huber, S. 633. 312 v. Hoffmann, Einführung, S. 151. 313 Dies betraf in erster Linie Reichsangehörige, die in Deutsch-Südwestafrika ihren Wohnsitz hatten; allerdings konnten auch Reichsangehörige, die ihren Wohnsitz in Europa

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

erfolgte stets aufgrund freiwilliger Meldung und mehrjähriger Verpflichtung zwischen 2 Jahren (Kamerun) und dreieinhalb Jahren (Deutsch-Südwestafrika) 314. Einen Sonderfall stellte das Schutzgebiet Kiautschou dar, da es die Funktion eines Marinestützpunkt hatte und demzufolge dem Reichsmarineamt und nicht dem Reichskolonialamt unterstellt war. Die Offiziere, Unteroffizier und Mannschaften in Tsingtau blieben folglich Angehörige von regulären Teilen der Reichsmarine und bildeten faktisch die „Besatzung" von Kiautschou. Oberster Kriegsherr über die Truppen in Kiautschou wie über alle übrigen Reichstruppen war gem. Art. 53 BRV der deutsche Kaiser, der diese Befugnis an den Staatssekretär des Reichsmarineamtes übertragen hatte; auch die Zivilverwaltung unterstand im übrigen dem Reichsmarineamt. Der Gouverneur von Kiautschou, der stets ein Marineoffizier sein mußte, übte den Oberbefehl im Schutzgebiet aus und stand an der Spitze der Zivilverwaltung 315 . Die im Schutzgebiet Kiautschou stationierten Marinetruppen, das III. Seebataillon und ein Marine-Artilleriedetachment, wurden durch Freiwillige aus Stammkompanien in Deutschland ergänzt 316 . Die Mannschaftsdienstgrade wurden für mindestens 1 Jahr, Unteroffiziere für mindestens 2 Jahre und Offiziere für mindestens 3 Jahre nach Kiautschou abgeordnet 317. Die Marinetruppen waren auch für die Festungswerke in Tsingtau sowie für den Schutz und die Unterhaltung der Depots und Werften zuständig. Zwischen 1907 und 1914 betrug die Stärke der Truppen in Kiautschou ca. 2400 Mann, einschließlich der Soldaten in den Stammkompanien in Deutschland318. Ein kleines Truppenkontingent wurde 1899 auch aus einheimischen Chinesen gebildet; diese als „Chinesenkompanie" bezeichnete Einheit gewann jedoch keine Bedeutung und wurde 1901 schon wieder aufgelöst 319. Nicht unerwähnt bleiben sollten die Militärbeamten der Schutztruppen, die überwiegend in der Intendantur (Verwaltung, Besoldung, Beschaffung), und als Militärjustizbeamten tätig wurden; sie standen zwar im Offiziersrang; doch hatte für sie das Kolonialbeamtengesetz von 1910 Vorrang 320 . Gemäß § 5 SGG blieb die Militärgerichtsbarkeit durch das SGG unberührt (zu Besonderheiten des Militärstrafrechts für Europäer vgl. A. III. 3. a) bb) (3); hinsichtlich des Militärstrafrechts für Einheimische A. III. 3. b) bb) (4), grundsätzlich hatten, auf begründeten Antrag ihren Dienst als sogenannte „Einjährig"- oder MehrjährigFreiwillige in der Schutztruppe ableisten, vgl. Sassen, S. 55, 56. 314 Sassen, S. 36. 315 Sassen, S. 17,31. 316 Huang, S. 43. 317 Sassen, S. 48, 49. 318 Huang, S. 43. 319 Huang, S. 139 ff.; diese in Litsun stationierte Einheit von ca. 120 Mann wurde durch häufige Desertionen dezimiert, die verbliebenen Soldaten wurden schließlich der Polizeitruppe zugewiesen. 320 Sassen, S. 51-53.

II. Der Erwerb der „Schutzgebiete"

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hatte das deutsche Militärstrafrecht somit auch für die Schutztruppen Gültigkeit. Das Reichsmilitärstrafgesetzbuch (RMStGB) vom 20. Juli 1872 321 galt aufgrund der kaiserlichen Verordnung vom 26. Juli 1896 322 für die deutschen Schutztruppensoldaten in den afrikanischen Schutzgebieten (da in den asiatischen Schutzgebieten keine Schutztruppen existierten, war eine diesbezügliche Regelung dort nicht notwendig), für die Marinetruppen in Kiautschou galt es unmittelbar 323 . Das Verfahren regelte sich nach der Reichsmilitärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 324 und der jeweiligen kaiserlichen Ausführungsverordnungen, zuletzt vom 2. November 1909 325 . Da nach der Militärstrafgerichtsordnung ein außerordentliches Militärstrafverfahren für Truppen außerhalb Europas vorgesehen war, galt dieses außerordentliche Verfahren faktisch für alle in den Schutzgebieten stationierten Soldaten 3 2 6 . Dieses außerordentliche Verfahren entsprach den Militärstrafverfahren im Kriegsfall („im Felde") und bedeutete, daß die Strafgerichtsbarkeit für die meisten Militärstraftaten bei Offizieren (sofern sie Befehlshaber einer selbständigen Abteilung waren) lag 3 2 7 . Die Stärke der Schutztruppen betrug 1911 in Deutsch-Ostafrika 235 Deutsche und 2528 Einheimische, in Deutsch-Südwestafrika 2431 Deutsche und 685 Einheimische (nur Hilfspersonal) und in Kamerun 163 Deutsche und ca. 1300 Einheimische; hinzu kamen noch die obenerwähnten 2000 Mann Marinetruppen im Schutzgebiet Kiautschou 328 . In allen drei Schutzgebieten mit einer Schutztruppe spielte diese bei der Stabilisierung der deutschen Herrschaft gegen einheimische Aufstände eine entscheidenden Rolle, insbesondere in den Jahren zwischen 1895 und 1906. In diese Zeit fallen die großen Aufstände Einheimischer 329 wie 1904-1907 in Deutsch-Südwestafrika der Aufstand der Hereros und Namas (sogen. „Hottentotten") 330 , der Maij-Maij Aufstand von 1905-07 in Deutsch-Ostafrika 331 oder

321 RGBl. 1872, S. 174. 322 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einführung der deutschen Militärstrafgesetze in den afrikanischen Schutzgebieten vom 26. Juli 1896, RGBl. 1896, S. 669; vgl. Übersicht bei: Johannes Gerstmeyer, Kommentar zum Schutzgebietsgesetz, Konsulargerichtsgesetz und den Ausführungsbestimmungen, 1910, Fn. 1 zu § 5 SGG, S. 27. 323 Sassen, S. 67. 324 RGBl. 1898, S. 1189 und Triepel, S. 277. 325 Kaiserliche Verordnung, betreffend das strafgerichtliche Verfahren gegen Militärpersonen der Schutztruppen vom 2. November 1909, RGBl. 1909, S. 943. 326 y. Hoffmann, Einführung, S. 152. 327 Sassen, S. 68-70. 328 Sassen, S. 28-31. 329 Zu den Aufständen, die allerdings entsprechend der DDR - Parteilinie als „antikoloniale Befreiungskämpfe" bezeichnet werden, ausführlich: Dagmar Krone, Zwischen Waterberg und Kilimandscharo, 1990, S. 35 ff. 330 JvhnJ. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia, 1994, S. 456-457. 331 Vgl. Ralph A. Austen, Northwest Tanzania under German and British rule Colonial Policy and Tribal Politics, 1889-1939, 1968, S. 75. 5 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

kleinere, aber häufigere Aufstände in Kamerun 332 . Nach Beendigung der Aufstände zwischen 1907 und 1914 bestand die Aufgabe der Schutztruppe neben der Abschreckung der einheimischen Bevölkerung vor weiteren Aufständen darin, den Eisenbahn- und Straßenbau zu unterstützen und die Erschließung des Landes durch Expeditionen voranzutreiben 333. Da die Schutztruppen im Hinblick auf die Ausbildung des Personals und die Ausrüstung nur auf die Abwehr von Aufständen einheimischer Bevölkerungsteile, nicht aber auf die konventionelle Kriegführung mit einer anderen europäischen Macht vorbereitet waren, unterlagen die Schutztruppen im Ersten Weltkrieg - mit der Ausnahme Deutsch-Ostafrika - sehr rasch den Truppen der Ententemächte.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete 1. Rechtsnatur und verfassungsrechtlicher Status des Schutzgebietes Der Begriff des „Schutzgebietes" wurde weder durch Gesetz noch durch Verordnung näher bestimmt. Auch zur „Schutzgewalt" führt § 1 Schutzgebietsgesetz (SGG)1 lediglich aus, daß „.. .die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten der Kaiser im Namen des Reiches ausübt"; demnach war also ein Schutzgebiet ein Gebiet, in dem der Kaiser eine Schutzgewalt ausübt, die in ihrer Substanz dem Deutschen Reich zustand2. Die amtliche Bezeichnungsweise „Schutzgebiet" wurde auf verschiedene Weise erklärt: zum einen wurde der Begriff des Schutzgebietes auf die Gewährung von Schutz an deutsche Privatpersonen und Handelsgesellschaften in den späteren deutschen Kolonien in Form von kaiserlichen Schutzbriefen zurückgeführt 3, zum anderen wurde der Begriff aus den Schutzverträgen hergeleitet, die sowohl deutsche Kaufleute oder Handelsgesellschaften als auch Repräsentanten des Deutschen Reiches selbst mit einheimischen Häuptlingen geschlossen hatten und - wenigstens auf dem Papier - letzteren unter anderem gegen Nachbarstämme schützen sollte4. Im Ergebnis lassen sich beide Interpretationen auf die anfangs für die Kolonien vorgesehene Form der mittelbaren Herrschaft, vergleichbar einem Protektorat, zurückführen - der Begriff des Schutzgebietes wurde in den juristischen Diskussionen im Vorfeld des SGG von 1886 als selbstverständlich betrachtet und als das 332 Harry S. Rudin, Germans in the Cameroons 1884-1914, 1938, S. 195. 333 Schinzinger, S. 110. 1

Siehe Anhang II. 2 So auch Huber, S. 626. 3 Friedrich Schack, Das deutsche Kolonialrecht in seiner Entwicklung bis zum Weltkriege, 1923, S. 211. 4 Schack, S. 212-213.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Gebiet umschrieben, auf das sich die „Schutzgewalt" bezog5. Die Schutzgewalt wurde - anfangs - als Protektoratsgewalt umschrieben, also als eine mittelbare Herrschaft, die durch Herrschaftsmittler wie Schutzbriefgesellschaften oder einheimische Häuptlingen vermittelt wurde. Diese Umschreibung der Schutzgewalt konnte jedoch nach dem sehr frühen Wandel von der mittelbaren zur unmittelbaren Herrschaft durch das Deutsche Reich (mit der Ausnahme Deutsch-Neuguinea) nicht mehr zutreffen. Vielmehr bedeutete die Ausübung der Schutzgewalt im Sinne von § 1 SGG durch den Kaiser die Ausübung von Souveränitätsrechten des Reiches, somit die Gleichsetzung von Schutzgewalt mit Staatsgewalt6. Unbestritten war damit, daß die Schutzgebiete völkerrechtlich als Inland des Reiches zu betrachten waren, daß also die Schutzgebiete gegenüber anderen europäischen Kolonialmächten als Teil des Reiches anerkannt wurden. Dies zeigte sich schon in den Regelungen der Kongo-Akte vom 26. Februar 18857 die die wechselseitige Neutralität der afrikanischen Kolonien vorsah und damit implizit von der völkerrechtlichen Souveränität der Kolonialmächte, auch des Deutschen Reiches, über ihre Kolonialgebiete in Afrika ausging8. Darüber hinaus waren die Schutzgebiete auch staatsrechtlich als Inland zu betrachten9. Entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht, daß die Schutzgebiete nur völkerrechtlich zum Deutschen Reich gehörten, aber dem Reich nicht eingegliedert seien und daher staatsrechtlich zum Ausland gehörten 10, zählten die Schutzgebiete nach überwiegender Auffassung zwar nicht zum Bundesgebiet (da sie nicht als Teil des Bundesgebietes in Art. 1 BRV genannt wurden), jedoch, ähnlich dem Reichsland Elsaß-Lothringen, zum Reichsgebiet11. Die Schutzgebiete hatten jedoch auch nicht den Status eines Reichslandes wie Elsaß-Lothringen, da dieses den Bundesstaaten weitgehend gleichgestellt wurde 12 , und auch die Reichs Verfassung dort ab 1. Januar 1874 Geltung hatte 13 . Am ehesten vergleichbar ist der Status der Schutzgebiete daher mit Elsaß-Lothringen zwischen 1871, der staatsrechtlichen Vereinigung mit dem Reich, und 1. Januar 1874, dem Inkrafttreten der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen; in dieser Zeit übte der Kaiser im Namen des Reiches die Souveränität des Reiches aus, so wie es später in § 1 des SGG für die Schutzgebiete geregelt wurde 14 . Die Befürworter der These einer auch staatsrechtlichen Zugehörigkeit 5 Schock, S. 213. 6

So die herrschenden Lehre schon ab ca. 1888, Überblick bei Schack, S. 221 ff. Vgl. oben 3. Abschnitt. 8 So Huber, S. 627. 9 Im Ergebnis Schack, S. 251, Huber, S. 627. 10 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., Bd. 2, 1901, S. 277278. 7

h Simon Reimer, Die Freizügigkeit in den deutschen Schutzgebieten, in: Hubert Naendrup, Kolonialrechtliche Abhandlungen, 1911, S. 8-10. 12 Vgl. ζ. B. Gesetz vom 31. Mai 1911, RGBl. 1911, S. 225, zur Stellung im Bundesrat. 13 Gesetz vom 25. Juni 1873, RGBl. 1873, S. 161 und Triepel, S. 156; Reimer, S. 10. 14 Reimer, S. 10. 5*

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

der Schutzgebiete zum Deutschen Reich hoben außerdem hervor, daß eine alleinige völkerrechtliche Schutzhoheit bedeutet hätte, daß die Schutzgebiete Teile eines anderen Staates gewesen wären oder eigene Staatlichkeit besessen hätten - dies war aber, weder bei Kiautschou15 noch bei allen übrigen Gebieten16 der Fall. Da diese Gebiete aber nicht gleichzeitig staatsrechtlich herrenlos und völkerrechtlich Teil des Deutschen Reiches sein konnten, waren die Schutzgebiete auch aus diesem Grund der staatsrechtlichen Herrschaft des Deutschen Reiches unterworfen. Erwähnt sei noch, daß - unberührt von dem eingangs dargestellten Streitstand - die Schutzgebiete aufgrund eindeutiger gesetzlicher Bestimmungen gemäß § 9 Abs. 3 SGG auch in staatsrechtlicher Hinsicht für einzelne Regelungsgebiete zum Inland erklärt wurden. Beispielsweise beabsichtigte der Gesetzgeber mit der Verweisung von § 9 Abs. 3 SGG auf § 21 Abs. 1 des Gesetzes vom 1. Juni 197017 (Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit durch zehnjährigen Aufenthalt im Ausland) mit der Maßgabe, daß die Schutzgebiete diesbezüglich als Inland anzusehen seien, daß ein Reichsangehöriger seine Staatsangehörigkeit18 nicht durch einen mehr als zehnjährigen Aufenthalt in den Schutzgebieten verlieren konnte. In gleicher Weise verwies § 9 Abs. 3 SGG auf das Gesetz wegen Beseitigung der Doppelbesteuerung vom 13. Mai 187019 und erklärte hinsichtlich des Verbotes der Doppelbesteuerung die Schutzgebiete zum Inland 20 , so daß auch Gewinne, die in den Schutzgebieten erzielt wurden, nur jeweils einmal der Besteuerung unterlagen. Aufgrund der staats- und völkerrechtlichen Abhängigkeit der Schutzgebiete vom Mutterland, dem Deutschen Reich, hatten die Schutzgebiete somit nicht den Status von Protektoraten, sondern von echten Kolonien 21 . Nichts anderes galt für Kiautschou, das den formellen Status eines Pachtgebietes hatte; denn nach allgemeiner zeitgenössischer Meinung bestanden die Rechte Chinas aus dem Pachtvertrag nicht in der Geltendmachung von Hoheitsrechten, sondern nur in dem Anspruch auf Wiedererlangung nach dem Ende der Pachtzeit (sogen. Heimfallsrecht) 22 . Kiautschou hatte folglich in rechtlicher Hinsicht den Status eines Schutzgebietes mit der Folge, daß ein Großteil der kolonialen Gesetze und Verordnungen 15

Bei Kiautschou handelte es sich um ein lediglich fiktives Pachtverhältnis, da die Okkupation von chinesischem Territorium verschleiern sollte, vgl. oben Α. II. 4. c). 16 Die Herrschaft einheimischer Häuptlinge wurde in der zeitgenössischen Staatslehre nicht als völkerrechtlich anerkannte Staatsgewalt betrachtet, vgl. oben Α. II. 4. c). 17 § 21 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, Bundesgesetzblatt (des Norddeutschen Bundes) S. 355, RGBl. 1896 S. 615 und Triepel, S. 74. 18 Gemäß § 1 des Gesetzes vom 1. Juni 1870 wurde die Reichsangehörigkeit durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat vermittelt (mittelbare Reichsangehörigkeit); siehe unten A. III. 2. b) 19 Bundesgesetzblatt (des Norddeutschen Bundes) 1870, S. 119 und Triepel, S. 69. 20

Zusammenfassend: Laband, S. 278. Hans Gmelin, in: Fritz Stier-Simlo / Alexander Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, 3. Bd., 1928, S. 627 (629). 22 Laband, S. 274. 21

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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auch in Kiautschou Gültigkeit hatten. Alle Schutzgebiete unterlagen somit einerseits der Souveränität des Reichs, also der Exekutiv-, Legislativ- und Jurisdiktionsgewalt 23 , die Reichsverfassung galt jedoch in den Schutzgebieten nicht, was sich schon aus der Nichterwähnung der Schutzgebiete in Art. 1 BRV ergab. Die Reichweite der oben dargelegten Souveränität des Reiches in den Schutzgebieten wurde jedoch faktisch beschränkt, insbesondere aus der Tatsache heraus, daß die Gebiete in Afrika und Asien fast völlig unerschlossen waren. Die Frage der Souveränität des Reiches stellte sich demzufolge insbesondere für die sogen. Interessensphären. Hierbei handelte es sich um von der deutschen Verwaltung noch unerschlossene, z.T. auch unerforschten Gebiete, auf die das Deutsche Reich Ansprüche erhob, die von den anderen Kolonialmächten anerkannt wurden (ζ. B. in der Kongo-Akte oder im Rahmen von bilateralen völkerrechtlichen Verträgen). Nach der zeitgenössischen herrschenden Auffassung bestand noch keine Reichssouveränität über die Interessensphären, da es dort faktisch an jeglichen organisatorischen Voraussetzung zur Durchsetzung der Souveränität fehlte 24 . Die Interessensphären beruhten auf völkerrechtlichen Verträgen und hatten eine rein völkerrechtliche Bedeutung; sie begrenzten Gebiete für zukünftige Okkupationen und Schutzherrschaften, solange das fragliche Gebiet noch nicht einer effektiven Schutzgewalt unterworfen war 25 . Die Souveränität und damit die Geltung des SGG und aller anderen Rechtsnormen dehnte sich in dem Maße in die Interessensphären aus, wie sich die Verwaltung tatsächlich dort etablierte 26; hierfür wurde eine rein militärische Besetzung eines Gebietes aber nicht für ausreichend gehalten 27 . Im Ergebnis bestand in den Interessensphären somit zwar völkerrechtlich (in Bezug auf andere Kolonialmächte), jedoch nicht staatsrechtlich die Souveränität des Deutschen Reiches28.

2. Geltendes Recht und Rechtsordnung a) Das Schutzgebietsgesetz (SGG) von 1886 als „Schutzgebietsverfassung" die Schutzgewalt des Kaisers Der verfassungsrechtliche Sonderstatus der Schutzgebiete manifestierte sich in der besonderen Rechtsstellung des Kaisers, wie sie insbesondere in § 1 SGG, der 23 Huber, S. 627. 24 Franz Josef Sassen, Das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht in den deutschen Kolonien, in: Philipp Zorn /Fritz Stier-Simlo (Hrsg.), Abhandlungen aus dem Staats- Verwaltungsund Völkerrecht, 1909, S. 62-63. 25 Laband, S. 270. 26 Karl v. Stengel, Der geographische Geltungsbereich der für die Schutzgebiete erlassenen Gesetze und Verordnungen, DKZ (6) 1893, S. 13 (14). 27 Reimer, S. 66. 28 Laband, S. 270.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

die Ausübung der Schutzgewalt durch den Kaiser regelte, zum Ausdruck kam 29 . Das SGG hatte damit der Charakter einer „Schutzgebietsverfassung" 30, da es wenn auch auslegungsbedürftig - Rechte und Pflichten der Staatsorgane in den Schutzgebieten umschrieb. Das SGG mit seinen nur 16 Paragraphen erwies sich jedoch bald als lückenhaft und gab den verschiedensten Auslegungen Raum - unter anderem in der Frage der Schutzgewalt, der Gerichtsverfassung sowie der Frage der Selbstverwaltung deutscher Siedler. Daher entwickelte sich ab ca. 1900 eine Reformdiskussion, in die auch die schon in den Schutzgebieten gesammelte Erfahrung eingebracht wurde 31 . Eine grundlegende Reform des SGG konnte jedoch wegen des Beginns des 1. Weltkriegs 1914 und des unmittelbar darauffolgenden Verlustes der Kolonien nicht mehr verwirklicht werden. Die in § 1 SGG festgelegte - mit der Staatsgewalt gleichbedeutende - Ausübungsbefugnis der Schutzgewalt durch den Kaiser läßt vermuten, daß eine Gewaltenteilung in den Schutzgebieten faktisch nicht existierte und der Kaiser in den Kolonien über eine quasi-diktatorischen Machtfülle verfügte. Die Ausübung der Schutzgewalt umfaßte zum einen die Ausübung der Regierungsgewalt in den Schutzgebieten32, also die Exekutivgewalt. Im Rahmen der kaiserlichen Schutzgewalt konnte der Kaiser die Verwaltungsorganisation der Schutzgebiete regeln; eine gesetzliche Regelung, etwa im Schutzgebietsgesetz, die die Befugnisse des Kaisers hätte eingrenzen können, war nicht gewünscht33. Die Tatsache, daß bis zum Ende der deutschen Kolonialherrschaft eine von der Verwaltung unabhängige Rechtspflege nur zu einem geringen Teil aufgebaut werden konnte, führte zu weitgehenden Kompetenzen des Kaisers auch im Bereich der Justiz, soweit diese nicht von der Exekutive getrennt war 3 4 Die Ausübung der Schutzgewalt beinhaltete außerdem ein weitgehendes kaiserliches Verordnungsrecht auf alle Gebieten der kolonialen Rechtsordnung35. Zum Teil war die Verordnungsbefugnis des Kaisers auch ausdrücklich im SGG geregelt, so enthielt § 4 SGG eine Verordnungsbefugnis für die Gleichstellung von Einheimischen mit Europäern bei der Gerichtsbarkeit, § 6 SGG eine Verordnungsbefugnis auf dem

29 v. Hoffmann , Kolonialregierung und Kolonialgesetzgebung, ZfK (7) 1905, S. 362 (370). 30 Auch als Kolonial Verfassung bezeichnet, vgl. Sassen, Das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht in den deutschen Kolonien, S. 65. 31 Ζ. B. bei Kurt Romberg, Entwurf eines Schutzgebietsgesetzes nebst Begründung, ZfK (12) 1910, S. 657 ff. 32 v. Hoffmann, Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der deutschen Schutzgebiete, 1908, S. 10. 33

Karl v. Stengel, Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete, 1901, S. 67. Erst ab 1908 gab es verstärkte Bestrebungen, die Trennung von Justiz und Verwaltung in den Schutzgebieten durchzuführen, vgl. Sassen, Gesetzgebungs- und Verordnungrecht, S. 123. 34

35 Jürgen Zimmerling, die Entwicklung der Strafrechtspflege für Afrikaner in DeutschSüdwestafrika 1884-1914, 1995, S. 38.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Gebiet des Strafrechts. Der Kaiser übte somit auch weitreichende legislative Befugnisse in den Schutzgebieten aus. Die Machtfülle des Kaisers unterlag jedoch auch nicht unerheblichen Beschränkungen; diese Beschränkungen ergaben sich aus formellen Reichsgesetzen36, denn die Ausübung der Kolonialgesetzgebung fiel gemäß Art. 4 Nr. 1 BRV in die Kompetenz der Reichsgesetzgebung, die gemäß Art. 5 BRV gemeinsam von Bundesrat und Reichstag ausgeübt wurde. Aufgrund der Normhierarchie konnte die Reichweite der Verordnungsgewalt des Kaisers, wie auch die jeweilige kaiserliche Verordnung selbst, durch ein formelles Reichsgesetz neutralisiert werden. Darüber hinaus hatte das Gegenzeichnungsrecht des Reichskanzlers gemäß Art. 17 BRV nach allgemeiner Meinung 37 auch für die kaiserlichen Verordnungen für die Schutzgebiete Geltung, obwohl die Reichsverfassung selbst - wie schon erwähnt in den Schutzgebieten nicht zur Anwendung kam. Als erstes Gesetz, das die Kompetenzen des Kaisers beschränkte, kam das SGG selbst in Frage. Dieses regelte einige Materien selbst und entzog sie damit der Regelung durch kaiserliche Verordnungen. Hierzu gehörten die Gerichtsverfassung (§ 2 SGG), die Anwendung von Reichsrecht - insbesondere des die Gerichtsverfassung regelnden Konsulargerichtsgesetzes 38 (KGG) - und preußischem Recht (§ 3 und 7 SGG) 39 , die Naturalisation von Einheimischen (§ 9 SGG) und die Regelung der Rechtsform der DKG (§ 11-13 SGG). Ferner erhielt auch der Reichskanzler gemäß § 15 SGG eine umfassende Verordnungsbefugnis, insbesondere im Hinblick auf Ausführungs- und Verwaltungsvorschriften. Weitere Beschränkungen erfuhr die kaiserliche Verordnungsbefugnis durch das Gesetz über die Einnahmen und Ausgaben der Schutzgebiete vom 30 März 189240, das die Finanzhoheit des Kaisers einschränkte und die Kontrolle über die - allerdings jeweils selbständigen - Schutzgebietshaushalte der Kontrolle des Bundesra36 37

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung S. 11. Stellvertretend: v. Hoffmann, Kolonialregierung und Kolonialgesetzgebung, S. 362

(372). 3 8 In der Fassung der Neubekanntmachung vom 7. April 1900, vgl. RGBl. 1900, S. 213 und Triepel, S. 303, auszugsweise im Anhang I I abgedruckt; die Konsulargerichtsbarkeit war im 19. Jahrhundert sehr verbreitet und Ausdruck des Personalitätsprinzips; ein Reichsangehöriger unterstand in einem anderen Staat der Gerichtsbarkeit des deutschen Konsuls und umgekehrt der Staatsbürger dieses Landes in Deutschland der Gerichtsbarkeit seines Konsuls, sofern dies durch völkerrechtlichen Vertrag vereinbart wurde. Heute überwiegt das Territorialitätsprinzip, d. h. jeder Staat übt die volle Gerichtsbarkeit über In- und Ausländer auf seinem Territorium aus. Das Konsulargerichtsgesetz enthielt Verfahrensvorschriften für die Gerichtsbarkeit der deutschen Konsuln im Ausland. 39 Ein Sonderfall stellte jedoch § 16 SGG für Gebiete dar, in denen das KGG sowie das Ehe- und Personenstandsrecht noch keine Geltung hatte: hier wurde der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verweisungsnormen des SGG, insbesondere §§ 2, 3 und 7 SGG, auf KGG und das Ehe- und Personenstandsrecht der Verordnungsbefugnis des Kaisers übertragen. 40 RGBl. 1892, S. 369 und Triepel, S. 259.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

tes und Reichstages unterwarf 41; insbesondere für den Reichstag stellte das Mitspracherecht im Rahmen des Gesetztes vom 30. März 1892 ein wirksames Mittel der Einflußnahme auf die Kolonialpolitik der Reichsregierung dar 42 Die Schutzgewalt wurde ferner eingeschränkt durch das Schutztruppengesetz vom 18. Juli 189643, welches das Schutztruppenwesen auf eine gesetzliche Grundlage stellte, durch das Kolonialbeamtengesetz vom 8. Juni 1910 44 , das detaillierte Regelungen für Beamte im Kolonialdienst enthielt, sowie durch das Wehrgesetz für die Schutzgebiete vom 22. Juli 191345, das die Ableistung der Wehrpflicht in der Schutztruppe zum Gegenstand hatte. Die gesetzliche Regelung dieser Materien war erforderlich, da sie in allen Fällen in erster Linie die Rechte und Pflichten von Reichsangehörigen betraf und daher auch Geltung für das Reichsgebiet haben mußte46, so daß eine kaiserliche Verordnung nicht das adäquate Mittel gewesen wäre. Trotz der Regelung durch Gesetze des Reichstages wurde dem Kaiser bei der Kolonialgesetzgebung ein Mitspracherecht zugebilligt, das aus der Schutzgewalt hergeleitet wurde und im wesentlichen aus dem Recht der Gesetzesinitiative bestand47. Neben der Einschränkung der aus der Schutzgewalt resultierenden Befugnisse des Kaisers durch gesetzliche Regelungen verzichtete der Kaiser auf einige Befugnisse aus der Schutzgewalt und übertrug sie dem Reichskanzler; so sah die Kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 190848 ausdrücklich vor, daß von nun an ausschließlich der Reichskanzler (bzw. das Reichskolonialamt) zuständig für den Erlaß von Regelungen hinsichtlich der Verwaltungsorganisation sowie des materiellen und prozessualen Rechts der einheimischen Bevölkerung sein sollte, diese Zuständigkeit konnte vom Reichskanzler auf die Gouverneure delegiert werden. Demzufolge handelte es sich bei den Verordnungen des Reichskanzlers um eine dritte Rechtsquelle für das Recht der Schutzgebiete neben den Schutzgebietsgesetzen bzw. Reichsgesetzen, die durch §§3 und 7 SGG für anwendbar erklärt wurden, und den kaiserlichen Verordnungen. Die Verordnungen des Reichskanzlers wurden vom Reichskanzler (bzw. in seinem Namen von der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, ab 1907 vom Reichskolonialamt) zum Teil aufgrund einer Ermächti41

Johannes Bernhard Adolf Gaul, Finanzrecht der deutschen Schutzgebiete (unter besonderer Berücksichtigung der Steuergesetzgebung), Diss. 1909, S. 39. 42 So in der „Kolonialkrise" der Jahre 1906/1907, vgl. oben Fn. 176. 43 RGBl. 1896, S. 653 und Triepel, S. 265. 44

RGBl. 1910, S. 881. 5 RGBl. 1913, S. 610. 4 6 Huber, S. 629. 4

47

v. Hoffmann, Kolonialregierung und Kolonialgesetzgebung, S. 371. Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenen-Rechtspflege in den afrikanischen und Südsee-Schutzgebieten, vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617; ausdrücklich zum Charakter dieser Verordnung als Einschränkung der kaiserlichen Schutzgewalt: Runderlaß des Staatssekretärs des Reichskolonialamtes vom 15. August 1908 zur Kaiserlichen Verordnung vom 3. Juni 1908, DKGG 12, S. 353 (354). 48

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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gung durch eine Kaiserliche Verordnung 49, überwiegend aber aufgrund der generalklauselartigen Verordnungsermächtigung gem. § 15 Abs. 1 SGG zur Ausführung des SGG und gem. § 15 Abs. 2 SGG auf dem Gebiet des Polizei- und Verwaltungsrechts erlassen. Darüber hinaus enthielt § 15 Abs. 3 SGG eine Subdelegationsermächtigung des Reichskanzlers im Hinblick auf die Übertragung von Verordnungsrechten auf Kolonialgesellschaften (was selten vorkam) sowie - was häufiger geschah - auf Kolonialbeamte (in der Regel die Gouverneure der Schutzgebiete). Die Vielzahl der zu regelnden Sachverhalte führte dazu, daß nur grundsätzliche Regelungen durch kaiserliche Verordnungen getroffen wurden; hinsichtlich der vielfältigen Detailfragen wurde aufgrund einer - allgemein anerkannten - Subdelegationsbefugnis des Kaisers, die aus der Schutzgewalt hergeleitet wurde, die Verordnungsbefugnis auf den Reichskanzler sowie auf die Gouverneure der Schutzgebiete übertragen 50. Neben den schon genannten Regelungswerken bildete daher die Gouverneursverordnung die Realität der kolonialen Rechtssetzung. Im Ergebnis bestand somit angesichts der Fülle von Verordnung des Kaisers, des Reichskanzlers und der Gouverneure ein - vom Recht des Mutterlandes losgelöstes - eigenes deutsches „Überseerecht", ähnlich dem „Droit d'outre-mer" in den französischen Kolonien.

b) Die Rechtsstellung von Europäern und Einheimischen nach dem Schutzgebietsgesetz (SGG) In territorialer Hinsicht wurden die Schutzgebiete als staatsrechtliches und völkerrechtliches Inland des Deutschen Reiches betrachtet und damit weitgehend gleichgestellt. In personaler Hinsicht jedoch sollte eine Gleichstellung der Bewohner der Schutzgebiete mit Europäern gerade vermieden werden. Dem Geist der Zeit entsprechend und unter Hinweis auf die fremdartige und oft als „primitv" angesehene Kulturstufe der einheimischen Bevölkerung wurde es als selbstverständlich angesehen, die als „Eingeborene" bezeichneten Einheimischen statusrechtlich nicht Reichsangehörigen gleichzustellen.

aa) Der Status von Reichsangehörigen

und anderen Europäern

Reichsangehörige behielten ihre Reichsangehörigkeit (die nach § 1 des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 187051 grundsätzlich nur durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat 49 Vgl. die schon erwähnte Kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617. 50 Adolf Arndt, Die Subdelegation des kaiserlichen Verordnungsrechts in den deutschen Schutzgebieten und die Gültigkeit der Verordnungen des Reichskanzlers über die Rechte an Grundstücken und das Bergwerkseigentum, ZfK (13) 1911, S. 919 (921). 51 Bundesgesetzbl. 1870, S. 355, RGBl. 1896, S. 615 und Triepel, S. 74.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

vermittelt wurde, sogen, mittelbare Reichsangehörigkeit) auch bei einem mehr als 10-jährigen Aufenthalt in den Schutzgebieten; § 9 Abs. 3 SGG stellte klar, daß die Schutzgebiete im Hinblick auf § 21 Abs. 1 des Gesetzes vom 1. Juni 1870, der den Verlust der Staatsangehörigkeit (und damit der Reichsangehörigkeit) bei mehr als 10-jährigem Aufenthalt im Ausland zum Gegenstand hatte, als Inland behandelt wurden. Diese Regelung wurde in § 2 Abs. 2 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStAG) vom 22. Juli 1913 52 , das im Rahmen einer Neuordnung das Gesetz vom 1. Juni 1870 ersetzte, übernommen 53. Inhaber der mittelbaren Reichsangehörigkeit hatten während ihres Aufenthaltes in den Schutzgebieten alle Rechte und Pflichten, die sich aus der Staatsangehörigkeit im Reich und der Staatsangehörigkeit in den Bundesstaaten i. S. d. Art. 3 BRV sowie den jeweiligen bundesstaatlichen Regelungen ergaben. Reichsangehörige mit Wohnsitz in den Schutzgebieten unterstanden grundsätzlich deutschem Recht und einer von der Rechtspflege der einheimischen Bevölkerung getrennten Gerichtsbarkeit (siehe unten, A. III. 2. c) aa)). Gemäß § 9 Abs. 1 SGG in der Fassung vom 25. Juli 1900 (bzw. § 6 Abs. 1 in der Fassung des SGG vom 17. April 1886) konnten auch Ausländer, die sich in den Schutzgebieten niedergelassen hatten, sowie Angehörige der einheimischen Bevölkerung durch Naturalisation die Reichsangehörigkeit erhalten; im Unterschied zu § 1 des Gesetzes vom 1. Juni 1870 konnte auf diese Weise die Reichsangehörigkeit auch unmittelbar erlangt werden, ohne die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat zu besitzen. Der Erwerb der unmittelbaren Reichsangehörigkeit wurde entsprechend der Vorschrift des § 9 Abs. 1 SGG nach der Neuordnung des Reichsund Staatsangehörigkeitsrechts in § 33 Nr. 1 RuStAG vom 22. Juli 1913 festgelegt 54 . In der Praxis erwarben die unmittelbare Reichsangehörigkeit nur Buren nach dem Burenkrieg (als in einem Schutzgebiet niedergelassene Ausländer) 55 sowie vereinzelt „Mischlinge" in Härtefällen; von der Einbürgerung ,/einrassiger Eingeborener" 56 wurde abgesehen. Durch die Verweisung von § 9 Abs. 2 SGG auf Art. 3 der BRV (das sogen, „gemeinsame Indigenat") wurde klargestellt, daß naturalisierte Einheimische in jedem deutschen Bundesstaat als Inländer zu behandeln waren 57. 52 RGBl. 1913, S. 583. 53 Aufgrund des Verlustes der Schutzgebiete gemäß Art. 119 ff. des Versailler Vertrages von 1919 (RGBl. 1919, S. 687) wurde diese Regelung gegenstandslos, vgl. Jakob Woeber/ Karl August Fischer, Kommentar zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, 5. Aufl., 1932, § 2, RN 2. 54 Die Vorschrift wurde ebenfalls wegen des Verlustes der Schutzgebiete (Art. 119 ff. Versailler Vertrag) ab 1919 gegenstandslos, vgl. Kay Hailbronner/Günter Renner, Kommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, 2. Aufl., 1998, § 33 RuStAG, RN 2. 55 Hailbronner/Renner, § 2 RuStAG, RN 6. 56 Hailbronner/Renner, § 33 RuStAG, RN 1. 57 Johannes Gerstmeyer, Kommentar zum Schutzgebietsgesetz, Konsulargerichtsgesetz und den Ausführungsbestimmungen, 1910, § 9 Fn. 5.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

75

§ 9 Abs. 2 SGG verwies im übrigen auf das Wahlgesetz für den Deutschen Reichstag vom 31. Mai 186958. Demnach erhielten naturalisierte Einheimische auch das Wahlrecht für Reichstagswahlen; allerdings hatte dies nur für das passive Wahlrecht, nicht jedoch für das aktive Wahlrecht Bedeutung59. Gemäß §§ 1 und 7 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 hatte die Ausübung des aktiven Wahlrechts zur Voraussetzung, daß der naturalisierte Einheimische seinen Wohnsitz in einem deutschen Bundesstaat sowie dort in einem bestimmten Wahlbezirk hatte. Dies war jedoch ausgeschlossen, da Voraussetzung der Naturalisation gemäß § 9 Abs. 2 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGG gerade die Ansässigkeit in einem Schutzgebiet war 60 . Selbst wenn man von dem Erfordernis der Ansässigkeit in einem deutschen Bundesstaat absah, standen der Ausübung des aktiven Wahlrechts eines naturalisierten Einheimischen auch weitere Hindernisse entgegen, denn das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869 kannte die Möglichkeit einer Briefwahl - der heutigen Regelung des § 36 Bundeswahlgesetz entsprechend - noch nicht. Faktisch konnte daher ein naturalisierter Einheimischer für den Reichstag zwar kandidieren; er hatte jedoch keinerlei Möglichkeit, bei Reichstagswahlen zu wählen. Ferner wurden auch die Angehörigen anderer völkerrechtlich anerkannter Staaten weitgehend - nicht nur in Bezug auf anzuwendendes Recht und Gerichtsbarkeit, sondern auch statusrechtlich - den Reichsangehörigen gleichgestellt61; dies ergab sich aus dem Begriff der „Schutzgenossenschaft" gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 KGG, demzufolge auch Angehörige bestimmter, befreundeter Staaten der Gerichtsbarkeit der deutschen Konsuln unterworfen werden konnten. Da in den Schutzgebieten aber kein Konsularschutz in einem fremden Staatsgebiet ausgeübt wurde, sondern in einem dem Reich gehörenden Gebiet, wurde der Status der Gleichberechtigung (wie ein Schutzgenosse nach KGG) auf alle sich auf dem Gebiet des Schutzgebietes aufhaltenden Personen ausgedehnt, sofern sie Angehörige von Staaten waren, die „der Völkerrechtsgemeinschaft angehörten" 62. Zwischen dem Begriff des „Angehörigen eines völkerrechtlich anerkannten Staates", unter dem man gemeinhin einen Staat mit „europäischer" Bevölkerung verstand, und dem Begriff des „Eingeborenen", zu dem man zunächst generell jeden Angehörigen einer „farbigen", nicht europäischen Rasse oder Volksgruppe zählte, gab es schon bald Abgrenzungsprobleme. So ordnete die kaiserlichen Verordnung vom 9. November 190063 japanische Staatsbürger nicht den „Eingeborenen" bzw. diesen gleichgestellten „farbigen Stämmen" zu, sondern stellte sie - im Hinblick auf Gerichtsbarkeit und anzuwendendes Recht - den Reichsangehörigen gleich. Nach

58 Bundesgesetzblatt (des Norddeutschen Bundes) 1869, S. 145 und Triepel, S. 64. 59

Karl v. Stengel , Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete, 1901, S. 59. Gerstmeyer, Kommentar, § 9 SGG, Fn. 6 - nach Gerstmeyer „ruhte" aus diesem Grunde das aktive Wahlrecht naturalisierter Einheimischer. 61 Gerstmeyer, Kommentar, § 4 SGG, Fn. 3. 62 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., Bd. 2, 1901, S. 279. 63 RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318, der Text ist in Anhang I I abgedruckt. 60

76

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Auffassung der zeitgenössischen juristischen Literatur zählten zu den Angehörigen zivilisierter Nationen, die den Reichsangehörigen gleichzustellen waren, auch Türken und Angehörige „farbiger" Rassen, die die Staatsangehörigkeit völkerrechtlich anerkannter Staaten erworben hatten64. Weitere Personengruppen auf dem Territorium der Schutzgebiete wurden den Reichsangehörigen insoweit gleichgestellt, daß sie ebenfalls dem deutschen Recht und der Gerichtsbarkeit den Reichsangehörigen in den Schutzgebieten unterworfen wurden (vgl. ζ. B. in Deutsch-Ostafrika die Goanesen (Einwohner der portugiesischen Kolonie Goa in Indien), Parsen (nach Indien ausgewanderte Anhänger der persischen Religion der Zoroastrier) und christlichen Syrer (siehe unten A. III. 2. c) aa)). Eine weitergehende Gleichstellung mit Reichsangehörigen, insbesondere auch im Hinblick auf Rechte (Wahlrecht) und Pflichten (Wehrpflicht) bedeutete dies nicht.

bb) Die Rechtsstellung der einheimischen Bevölkerung

Die Angehörigen der einheimischen Bevölkerung in den Schutzgebieten besaßen die Reichsangehörigkeit - außer aufgrund einer Naturalisation (unmittelbare Reichsangehörigkeit) gemäß § 9 SGG - nicht, da es ihnen schon an der Staatszugehörigkeit zu einem deutschen Bundesstaat fehlte. Sie hatten einen besonderen Status als Personen, die der Schutzgewalt des Kaisers unterstanden65, - teils wurden sie als „Schutzbefohlene" des Deutschen Reiches bezeichnet66, teils als „mittelbare Reichsuntertanen" 67. Die einheimische Bevölkerung in den Schutzgebieten hatte den - einer Staatsangehörigkeit entsprechenden - Status der Schutzgebietsangehörigkeit; diese wurde definiert als „die dauernde, von der Tatsache des Aufenthaltes im Schutzgebiet unabhängige Zugehörigkeit zu dem staatlichen Gebilde des Schutzgebietes"68. Damit wurden alle Personen der einheimischen Bevölkerung, die zur Zeit der Errichtung der Schutzgewalt im Schutzgebiet ansässig waren, sowie deren Nachkommen als Schutzgebietsangehörige betrachtet. Keine Schutzgebietsangehörigkeit hatten demnach Angehörige von Stämmen aus Kolonien anderer europäischer Staaten, da sie der Gebietszugehörigkeit dieser Kolonien zuzurechnen waren 69. Auch Reichsangehörige und Angehörige anderer völkerrechtlich anerkannter Staaten wurden als Schutzgebietsfremde angesehen70. Nur in Deutsch-Ostafrika wurde die Schutzgebietsangehörigkeit ausdrücklich ge64

Gerstmeyer, Kommentar, § 4 SGG, Fn. 3. Joachim Heinrich Lücke, Bevölkerung und Aufenthaltsrecht in den deutschen Schutzgebieten Afrikas, in: Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstitutes, Bd. 12, 1923, S. 22. 66 Huber, S. 634. 65

67 68 69 70

Laband, S. 280. Lücke, S. 22. Lücke, S. 23. Lücke, S. 26.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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regelt 71 und als „Landesangehörigkeit" bezeichnet. Demnach konnten auch Angehörige der einheimischen Bevölkerungsgruppen die ostafrikanische Landesangehörigkeit durch Verleihung durch den Gouverneur erlangen, wobei mit der Verleihung gesondert darüber entschieden wurde, ob der Beliehene der Gerichtsbarkeit der Reichsangehörigen oder der übrigen einheimischen Bevölkerung angehören solle 72 ; die Landesangehörigkeit allein führte also noch nicht zu einer rechtlichen Gleichstellung mit Reichsangehörigen im Hinblick auf anzuwendendes Recht und Gerichtsbarkeit. Auch Mischlinge, die aus einer nichtehelichen Verbindung zwischen Europäern und Schutzgebietsangehörigen hervorgegangen waren, wurden zu den Schutzgebietsangehörigen gerechnet 73. Da es sich stets um Verbindungen europäischer Männer mit einheimischen Frauen handelte - die umgekehrte Konstellation hatte es nicht gegeben74 - folgte das Kind der Staatsangehörigkeit der Mutter. Stellvertretend für die Praxis, das nichteheliche Kind eines deutschen Vaters und einer einheimischen Mutter familien- und erbrechtlich der Familie der einheimischen Mutter zuzurechnen, ist hier die Verordnung des Gouverneurs von Samoa vom 20. Mai 1914 zu erwähnen: ein „Mischlingkind" durfte weder den Familiennamen des Vaters führen, noch wurde es gesetzlicher Erbe des Vaters, allerdings erhielt das nichteheliche Kind einen Unterhaltsanspruch gegen den Vater, der auch gegen die Erben des Vaters geltend gemacht werden konnte 75 . Sofern ein Mischlingskind aus einer ehelichen Verbindung zwischen einem Reichsangehörigen und einer Einheimischen hervorgegangen war, so wurde ihm ohne Rücksicht auf die umstrittene Frage, ob solche Eheschließungen überhaupt zulässig waren - von der überwiegenden Meinung die Reichsangehörigkeit zugebilligt 76 .

71 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Verleihung der deutsch-ostafrikanischen Landesangehörigkeit, vom 24. Oktober 1903, DKGG 7, S. 227; vgl. auch Claudia Lederer, Die rechtliche Stellung der Muslime innerhalb des Kolonialrechtssystems im ehemaligen Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika, 1994, S. 34. 7 2 Lederer, S. 34. 7 3 Lücke, S. 24. ™ Lederer, S. 29. 75 Vgl. Verordnung des Gouverneurs von Samoa, betreffend die Rechtsverhältnisse der unehelichen Mischlinge, vom 20. Mai 1914, DKB1. 1914, S. 700. 76 Stellvertretend Lücke, S. 24; anders dagegen das von Lücke zitierte Obergericht Windhuk in seiner Entscheidung vom 28. Juni 1911, das auch in dieser Konstellation den Erwerb der Reichsangehörigkeit verneinte.

7 8 Α .

Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

c) Parallele Rechtsordnungen für Europäer und die einheimische Bevölkerung aa) Das geltende Recht für Europäer in den Schutzgebieten

Die Zuordnung von Reichsangehörigen und gleichgestellten Personengruppen einerseits und der einheimischen Bevölkerung („Eingeborene" bzw. „Farbige") andererseits zu getrennten Rechtsordnungen ergab sich aus den ausdrücklichen Gesetzesverweisungen des SGG. Durch den Verweis von § 3 SGG auf § 19 KGG wurde für Reichsangehörige das Zivil- und Strafrecht des Deutschen Reiches sowie preußisches Recht für anwendbar erklärt. Im einzelnen bedeutete die Verweisung von § 3 SGG auf § 19 KGG, daß in den Schutzgebieten auf dem Gebiet des Zivilrechts das BGB sowie zivilrechtliche Vorschriften des preußischen Rechts77, vor Einführung des BGB insbesondere im verstärktem Maße zivilrechtliche Vorschriften des preuß. ALR, Geltung hatten (§ 19 Nr. 1 KGG). Auf dem Gebiet des Strafrechts verwies § 19 Nr. 2 KGG auf die Reichsstrafgesetze, insbesondere auf das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871. Nach allgemeiner Ansicht wurden von der Verweisung auch Strafgesetze in engerem Sinne wie das Reichssprengstoffgesetz erfaßt, nicht jedoch Strafvorschriften in Nebengesetzen wie ζ. B. in Zollgesetzen oder der Reichsgewerbeordnung 78. Weiterhin verwies § 7 Abs. 1 SGG im Hinblick auf Eheschließungen und die Beurkundung des Personenstandes auf das Reichsgesetz vom 4. Mai 187079. Die Verweisungsnorm des § 3 SGG betraf aber auch Normen des KGG, nach denen einige Vorschriften des BGB modifiziert wurden bzw. durch kaiserliche Verordnung modifiziert werden konnten. So wurde auf § 31 KGG verwiesen, nach dem auf Vereine mit dem Sitz in einem Schutzgebiet die vereinsrechtlichen Regelungen der §§ 21, 22, 44 Abs. 1 und 55-79 BGB nicht anwendbar waren. Die Verweisung von § 3 SGG auf § 38 KGG modifizierte das Nottestament vor dem Bürgermeister gemäß § 2249 Abs. 1 BGB dahingehend, daß eine mündliche Erklärung vor drei Zeugen i. S. d. § 2250 BGB in den Schutzgebieten als ausreichend angesehen wurde. Ferner konnten in den Schutzgebieten ausgestellte Inhaberpapiere i. S. d. § 795 Abs. 1 BGB nur mit Genehmigung des Reichskanzlers in Umlauf gebracht werden (§§ 3 SGG, 34 KGG). Gemäß § 3 SGG i.V.m. § 35 KGG konnte in Bezug auf die Schutzgebiete durch Anordnung des Reichskanzlers bestimmt werden, wer an die Stelle der Gemeinde des Fundortes im Falle der §§ 976 und 977 BGB und an die Stelle der „öffentlichen Armenkasse" i. S. d. § 2072 BGB treten soll. Gemäß § 3 SGG i.V.m. § 40 Abs. 1 KGG galten für „Handelssachen" 77

Zur Geltung des preußischen Rechts in den Schutzgebieten vgl. A. III. 2. d). ™ Zusammenfassend: Fritz Kersting, Das öffentliche Recht der deutschen Schutzgebiete, 1911, S. 83/84. 7 9 Gesetz betreffend die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes von Bundesangehörigen im Ausland vom 4. Mai 1870, Bundesgesetzbl. 1870, S. 599, RGBl. 1896, S. 614.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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die Vorschriften des HGB (die gemäß § 19 Nr. 1 KGG grundsätzlich in den Schutzgebieten Anwendung fanden) nur insoweit, als nicht ein in den Schutzgebieten eventuell vorhandenes Handelsgewohnheitsrecht besondere Regelungen vorsah. Allerdings galten als „Handelssachen" gemäß § 40 Abs. 2 KGG nur Handelsgeschäfte eines Vollkaufmannes im Sinne von § 1 HGB. Diese Unterordnung des Handelsrechts der Europäer unter einheimisches Handelsgewohnheitsrecht sollte eine bessere Anpassung des deutschen Kolonialhandels ermöglichen und den Handel damit erleichtern 80. Ferner konnte durch kaiserliche Verordnung gemäß § 33 KGG hinsichtlich der Zinsregelungen der §§ 246-247 BGB sowie 288 BGB und 352 HGB ein höherer Zinssatz festgelegt werden 81, außerdem Regelungen bezüglich der Feststellung der Mündelsicherheit von Grundpfandrechten i. S. d. § 1807 Abs. 2 BGB (§ 37 KGG 8 2 ) sowie Regelungen hinsichtlich der Hinterlegung und der Hinterlegungsstellen (§ 39 KGG 8 3 ) getroffen werden. Das geltende Recht für Europäer bestand jedoch nicht nur aus den in § 19 KGG genannten Normen des Reichszivil- und Reichsstrafrechts, des preußischem Zivilund Verfahrensrechts sowie der obenerwähnten materiellrechtlichen Sondervorschriften des KGG. Vielmehr trat zu dieser Rechtsordnung noch spezielles Schutzgebietsrecht hinzu, das zum einen aus den schon eingangs erwähnten Kolonialgesetzen bestand (Kolonialhaushaltsgesetz, Schutztruppengesetz, Kolonialbeamtengesetz und Wehrgesetz für die Schutzgebiete), zum anderen aus kaiserlichen Rechtsverordnungen. Für diese ergab sich eine allgemeine Ermächtigung aus der Schutzgewalt des § 1 SGG, ferner eine spezielle Ermächtigung zum einen aus dem Katalog des § 6 SGG (insbesondere für das gerichtliche Verfahren, aber auch gemäß § 6 Nr. 1 SGG für Nebenstrafrecht), zum anderen über die Verweisung des § 3 SGG aus dem KGG, ζ. B. aus § 21 KGG in Bezug auf Grundstücksrecht und aus § 22 KGG in Bezug auf das Urheber-, Gebrauchsmuster- und Warenzeichenrecht. So enthielt die schon erwähnte kaiserliche Verordnung vom 9. November 1900 84 in § 3 die Regelung, daß für das Recht der Grundstücke und des Bergwerkseigen80 Ludwig Sieglin, Die koloniale Rechtspflege und ihre Emanzipation vom Konsularrecht, 1908, S. 10. 81 Eine solche Verordnung war bis 1910 jedoch für die Schutzgebiete nicht ergangen, vgl. Gerstmeyer, Kommentar, § 33 KGG Fn. 1; anders jedoch für die Konsulargerichtsbezirke Art. 3 der Allerhöchsten Verordnung zur Einführung des KGG vom 25. Oktober 1900, RGBl. 1900, S. 999, der einen mögliche Höchstzinssatz von 10% vorsah. 82 Eine diesbezügliche Verordnung war bis 1910 noch nicht ergangen, vgl. Gerstmeyer, Kommentar, § 37 KGG Fn. 1. 83 Eine diesbezügliche Verordnung war bis 1910 noch nicht ergangen (vgl. Gerstmeyer, Kommentar, § 39 KGG Fn. 1) und auch die über § 19 Nr. 1 KGG, Art. 144 EGBGB zwar grundsätzlich einschlägigen Regelungen der preußischen Hinterlegungsordnung waren gemäß § 20 Abs. 1 KGG wegen des Fehlens jeglicher Einrichtung für Hinterlegungsstellen nicht anwendbar; in der Praxis dienten die Bezirksgerichte als Hinterlegungsstellen, vgl. Gerstmeyer, Kommentar, § 39 KGG Fn. 1. S4 RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318, Anhang II.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

turns nicht Reichsrecht anwendbar sein sollte; die Regelung dieser Materie wurde auf den Reichskanzler übertragen zusammen mit einer Subdelegationsermächtigung auf die Gouverneure der Schutzgebiete. Als weitere Rechtsquelle für Europäer sind die Rechtsverordnungen des Reichskanzlers bzw. Reichskolonialamtes aufgrund der Ermächtigung des § 15 SGG zu nennen, da Regelungen auf dem Gebiet des Polizei- und Verwaltungsrecht für Europäer und Einheimische gleichermaßen Geltung haben konnten. Neben den Reichsangehörigen wurden auch andere Personengruppen dem Recht der „Europäer" (und im übrigen auch ihrer Gerichtsbarkeit) gleichgestellt. Hierzu zählten - über den Begriff der sogenannten „Schutzgenossen" hinaus - die Angehörigen aller „fremden zivilisierten Nationen" bzw. „völkerrechtlich anerkannter Staaten"85. Gemäß § 2 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 8 6 konnten auch andere Bevölkerungsteile der Schutzgebiete durch Verordnung des Gouverneurs in rechtlicher Hinsicht den Reichsangehörigen gleichgestellt werden. Im Hinblick auf die Gleichstellung mit dem Recht der Reichsangehörigen galt der Grundsatz, daß dies nur dann opportun sei, wenn dadurch keine Kollision mit dem in der Kultur des jeweiligen Volkes verwurzelten Rechtsverständnis erfolgte. Deshalb wurde in Deutsch-Ostafrika nur die Volksgruppe der Goanesen (Angehörige der an der indischen Küste gelegenen portugiesischen Stadt Goa) und der Parsen (Angehörige der in Persien beheimateten Religionsgruppe der Zoroastrier) durch Gouverneursverordnung 87 den Europäern gleichgestellt. 1910 erfolgte in Deutsch-Ostafrika auch die rechtliche Gleichstellung der nichtmoslemischen Syrer mit Reichsangehörigen 88 . Ferner wurden in Samoa die dort ansässigen Chinesen dem Recht und der Gerichtsbarkeit der Reichsangehörigen unterstellt 89, während für die in Kiautschou ansässige chinesische Bevölkerung ihr eigenes „Eingeborenen" - Recht galt.

bb) Die Beibehaltung der Rechtsordnung für die einheimische Bevölkerung und die Rechtsfortbildung durch deutsche koloniale Verwaltungsbehörden

Mit dem Begriff der „Eingeborenen" für den überwiegenden Teil der einheimischen Bevölkerung wurde gleichzeitig der Bevölkerungsteil umschrieben, für den 85 Paul Laband, Das Staatrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., Bd. 2, 1901, S. 279. 86 RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318. 87 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die rechtliche Gleichstellung der Goanesen und Parsen mit den Nichteingeborenen vom 3. Oktober 1904, DKGG 8, S. 234; vgl. Lederer, S. 27. 88 Vgl. Lederer, S. 28. 89 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Rechtsverhältnisse, vom 1. März 1900, DKGG 5, S. 33; vgl. ferner Hans Kariowa, Die Strafgerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den deutschen Kolonien, 1911, S. 8.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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grundsätzlich nicht das deutsche Recht, sondern das autochthone, angestammte Recht der einheimischen Bevölkerung (sowie eine gesonderte Gerichtsbarkeit) Geltung hatte. Auch „Mischlinge" wurden, sofern sie statusrechtlich nicht als Reichsangehörige betrachtet werden konnten (was ζ. B. bei einer ehelichen Geburt nach deutschem Recht der Fall gewesen wäre), auch rechtlich den „Eingeborenen" gleichgestellt90. Gem. § 2 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 wurden auch Angehörige fremder „farbiger" Stämme grundsätzlich „Eingeborenen" gleichgestellt; hiervon wurden aber, wie schon erwähnt, Japaner sowie andere Völker und Bevölkerungsgruppen ausgenommen. Für die einheimische Bevölkerung stand die Geltung der Verweisungsnorm des § 3 SGG hinsichtlich der Anwendbarkeit des deutschen Zivil- und Strafrechts unter dem Vorbehalt, daß dies durch kaiserliche Verordnung für anwendbar erklärt wurde, (vgl. §§4 SGG für die Anwendbarkeit von § 3 SGG; ferner § 7 Abs. 3 SGG für die Verweisung in § 7 Abs. 1 SGG auf das deutsche Ehe- und Personenstandrecht); entsprechende kaiserliche Verordnungen wurden jedoch bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit nicht erlassen 91, so daß grundsätzlich das deutsche Zivil- und Strafrecht auf die als „Eingeborene" bezeichneten Bevölkerungsteile keine Anwendung fand. Gleiches galt für die oben erwähnten speziellen Kolonialgesetze, da diese nur Regelungen in Bezug auf Reichsangehörige treffen sollten und nur aus diesem Grunde die sich aus der Schutzgewalt ergebende Legislativgewalt des Kaisers einschränkten 92. Grundsätzlich galt somit für die als „Eingeborene" bezeichnete Bevölkerung zunächst weiterhin ihr angestammtes Recht 93 . Da dieses angestammte Recht den deutschen Kolonialbehörden zunächst weitgehend unbekannt war, bestand großes Interesse an der Erforschung des „Eingeborenenrechts". So entwarf schon 1898 Josef Kohler, Rechtsprofessor zunächst in Würzburg, später in Berlin und einer der bedeutendsten Juristen seiner Zeit, im Auftrag der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes einen Fragebogen bezüglich des Rechts der Einheimischen in den Schutzgebieten, der an Beamte, Missionare und andere in den Schutzgebieten tätige Personen verteilt wurde 94 . Ein weiterer Fragebogen wurde bis 1912 von einer aus Mitgliedern des Reichskolonialamtes, des Reichstages und unabhängigen Gelehrten bestehenden Kommission ausgearbeitet und in den Kolonien verteilt 95 . Die deutsche Kolonialverwaltung hielt jedoch darüber hinaus, dem Geist der Zeit entsprechend, eine Umgestaltung des einheimischen Rechts für erforderlich, 90 Gerstmeyer, Kommentar, Fn. 3 zu § 4 SGG, S. 25. 91 Lederer, S. 58. 92 Vgl. Lederer, S. 57. 93 Allgemeine Rechtsüberzeugung, vgl. nur Franz Josef Sassen, Das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht in den deutschen Kolonien, in: Philipp Zorn/Fritz Stier-Simlo, Abhandlungen aus dem Staats- Verwaltungs- und Völkerrecht, 1909, S. 123. 94

Hierzu und zum Lebenslauf von Josef Köhler vgl. Bernhard Großfeld /Margina Wilde, Josef Kohler und das Recht der deutschen Schutzgebiete, RabelsZ (58) 1994, S. 59 ff. 95 Heinrich Wiek, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten, Diss. 1913, S. 2. 6 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

um die Rechtskultur der „Eingeborenen" zu fördern, sie auf eine höhere „europäische" Kulturstufe zu heben und Zustände, die als unvereinbar mit der zivilisatorischen Mission der Kolonisation angesehen wurden, abzuschaffen 96 („ordre public"-Argument). Als Fernziel bezweckte man mit der Normierung des einheimischen Rechts das friedliche Zusammenleben von Europäern und Einheimischen in den Schutzgebieten dauerhaft sicherzustellen und nicht zuletzt die oft wirtschaftlich und kulturell schwächeren Einheimischen vor Übervorteilung durch Europäer zu schützen97. Daher wurde durch Verordnungsrecht in Recht und Rechtspflege der „Eingeborenen" eingegriffen. Dies war nach Schutzgebietsrecht im Wege der kaiserlichen Verordnung zulässig, da die „Eingeborenen" als Schutzgebietsangehörige bzw. „Schutzbefohlene" der Schutzgewalt des Kaisers und damit auch seiner Legislativgewalt in vollem Umfang unterstanden; ferner konnte insbesondere materielles Polizeirecht für Einheimische auch durch Verordnungen des Reichskanzlers gemäß §15 SGG geregelt werden. Die kaiserliche Rechtsetzungsbefugnis für Einheimische wurde durch Verordnung vom 3. Juni 190898 bezüglich der Schutzgebiete in Afrika und Asien und durch Verordnung vom 27. Januar 1898" für Kiautschou auf den Reichskanzler bzw. die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes (später Reichskolonialamt) delegiert. Für diese Befugnisse bestand wiederum eine weitreichende Delegationsbefugnis an die Gouverneure der Schutzgebiete, von der in großem Maße Gebrauch gemacht wurde; die vorher ohne Ermächtigung durch Kaiser und Reichskanzler ergangenen Vorschriften der Gouverneure in Bezug auf Recht und Rechtspflege der Einheimischen blieben weiterhin in Kraft 1 0 0 .

cc) Das anzuwendende Recht bei Rechts Streitigkeiten zwischen Deutschen und Einheimischen

Die Anknüpfung der Rechtsordnungen an das Personalstatut von Europäern und Einheimischen und damit die Etablierung zweier Rechtsordnungen auf einem Territorium führte zu der Frage, welche Rechtsordnung bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Rechtsordnungen anzuwenden war. Die Zuwanderung deutscher Siedler in die Kolonien machte diese Frage auch zu einem Problem der gerichtlichen Praxis in den Schutzgebieten.

96 Wiek, S. 4. 97 Wiek, S. 4. 98 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenen-Rechtspflege in den afrikanischen und Südsee-Schutzgebieten vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617. 99 Allerhöchste Order, betreffend die Verwaltung des Kiautschougebietes, vom 27. Januar 1898, DKGG 4, S. 160. 100 Wick, S. 6.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Angesichts des kulturellen Überlegenheitsdenkens der damaligen Zeit stand es außer Zweifel, daß Europäer dem angestammten einheimischen Recht und Gerichtsbarkeit unter keinen Umständen unterstehen sollten. Ferner entsprach die Anwendung des deutschen Rechts auch auf Einheimische dem missionarischen Gedanken, das deutschen Recht als Teil der europäischen Zivilisation den Einheimischen näherzubringen 101. Andererseits hätte die ausschließliche Anwendung des für die Einheimischen fremden deutschen Rechts einen erheblichen Nachteil für den beteiligten Einheimischen mit sich gebracht und die Eigentümlichkeiten seiner Rechtskultur völlig unberücksichtigt gelassen102. Grundsätzlich war vorgesehen, daß im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit der Gerichtsstand des Beklagten bzw. Angeklagten entscheidend ist 1 0 3 . Demnach konnte ein Nichteuropäer nur vor einem europäischen Gericht gegen einen Europäer vorgehen und umgekehrt ein Europäer vor einem für die einheimische Bevölkerung zuständigen Gericht, bei denen es sich aber dann auch stets um europäische Beamte (Bezirksamtmann) handelte, da man keinesfalls wollte, daß ein „eingeborener" Richter ein Urteil über einen Europäer fällte. Diesen Grundsätzen folgte die gerichtliche Praxis aber nur in Togo und Kamerun 104 . Nach einer verbreiteten zeitgenössischen Ansicht war bei „gemischten" Rechtsstreitigkeiten im Zivilrecht stets die für Europäer zuständige Gerichtsbarkeit zu befassen und deutsches Recht anzuwenden; die Parteien sollten jedoch die Möglichkeit haben, sich im Rahmen eines Schiedsvertrages darauf zu einigen, daß die Rechtssache von dem für den Einheimischen zuständigen Bezirksamtmann unter Anwendung des einheimischen Rechts entschieden würde 105 . Dieser Ansicht entsprach auch die Praxis in Deutsch-Ostafrika und in Samoa 106 . Für Deutsch-Südwestafrika regelte eine Verfügung des Reichskanzlers 107, daß bei Klagen von Europäern aus Verbindlichkeiten gegen Einheimische zwar grundsätzlich deutsches Recht anzuwenden war 1 0 8 , entschieden wurde über diese Klagen vom Bezirksamtmann, der örtlich für den beteiligten Einheimischen zuständig war.

101 Lederer, S. 111. 102 Im übrigen war auch die Gerichtssprache in den Schutzgebieten Deutsch, vgl. Lederer, S. 112. 103 Gerstmeyer, Kommentar, Fn. 4 zu § 4 SGG, S. 26. 104

v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 175. i° 5 Hermann Hesse, Zur Geltung des bürgerlichen Rechts in den Schutzgebieten; ZfK (6) 1904, S. 190(193). i° 6 v. Hoffmann, Einführung, S. 175. 107 Verfügung vom 23. Juli 1903 betreffend Rechtsgeschäfte und Rechtsstreitigkeiten Nichteingeborener mit Eingeborenen im südwestafrikanischen Schutzgebiet, DKB1. 1903, S. 383. los Dieses wurde jedoch in der gleichen Verfügung für Mischfälle abgewandelt, näheres siehe unten. *

8 4 Α .

Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Die zum Teil vertretene Ansicht (die teilweise auch der gängigen Rechtspraxis in den Schutzgebieten entsprach), derzufolge bei Mischprozessen die einheitliche Anwendung des deutschen Rechts gefordert wurde, entsprach nicht der damaligen Gesetzeslage, da die Gleichstellung der Einheimischen mit dem Recht und der Gerichtsbarkeit für Europäer aufgrund der dafür gemäß § 4 SGG erforderlichen kaiserlichen Verordnung nicht ergangen war. Der Entwurf einer entsprechenden kaiserlichen Verordnung wurde 1912 zur Diskussion gestellt 109 , der Beginn des ersten Weltkrieges kam jedoch dem Erlaß dieser kaiserlichen Verordnung zuvor. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang aber die Tatsache, daß auch Einheimische, die als Kläger gegen Europäer auftraten, weder eine Ausländersicherheit gemäß §110 ZPO zu leisten hatten noch einen gemäß § 85 GKG (Gerichtskostengesetz) a.F. (damals noch erforderlichen) erhöhten Ausländervorschuß 110. Zur Vornahme weiterer Regelungen im Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung von Einheimischen bei Rechtsstreitigkeiten mit Europäern bot die kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908 111 eine Ermächtigung und eine Subdelegationsermächtigung für den Reichskanzler bzw. das Reichskolonialamt. In der Folgezeit wurden die von den Verwaltungsbeamten vor Ort dringend geforderte Ermächtigung an die Gouverneure erteilt, besondere Regelungen, die gerade die Gleichstellung der Einheimischen mit Europäern zum Gegenstand hatten, erfolgten nicht 112 . Im Schutzgebiet Kiautschou jedoch erließ der Gouverneur eine Regelung hinsichtlich des anzuwendenden Rechts und der Gerichtsbarkeit bei Mischprozessen in Strafsachen 113. In Abweichung von dem Grundsatz des Gerichtsstandes des Angeklagten bestimmte § 1 dieser Verordnung, daß bei Anklagen, die sich gegen Europäer und Chinesen gemeinsam richteten, das für Nichtchinesen zuständige Gericht auch für Chinesen zuständig war und auf Chinesen auch das für die Europäer geltende deutsche Recht anzuwenden sei.

d) Sonderfall: die Geltung von preußischem Recht in den Schutzgebieten Obwohl die Schutzgebiete der Souveränität des Deutschen Reichs und nicht eines einzelnen Bundesstaates unterstanden und demnach im Rahmen der Europäerrechtsordnung allein das Reichsrecht Anwendung finden sollte, kam dem preußi109 Lederen S. 115. no Verfügung der Preußischen Justizministers vom 06. März 1902, DKB1 1902, S. 157; gemäß § 19 Nr. 1 KGG, das in den Kolonien anwendbar war, hatte u. a. auf dem Gebiet des Zivilprozeßrechtes preußisches Recht in den Schutzgebieten z.T. Geltung, näheres siehe sogleich unter A. III. 2. d) m Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenenrechtspflege, vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617. 112 Lederer, S. 117. 113 Verordnung des Gouverneurs betreffend die Rechtsverhältnisse der Chinesen vom 15. April 1899, DKGG 4, S. 191, vgl. Hesse, S. 197.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

85

sehen Recht eine Sonderstellung zu. Dies erklärt sich daraus, daß neben Reichsrecht auch Rechtsmaterien, die im Deutschen Reich in die Regelungskompetenz eines Bundesstaates gefallen wären (ζ. B. Ausführungsbestimmungen, Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit, vor Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 auch das materielle Zivilrecht), in den Schutzgebieten der Regelung bedurften. Da man dies nicht kurzfristig durch originäres Schutzgebietsrecht (Verordnungen des Kaisers, Reichskanzlers oder Gouverneurs) regeln konnte, sah das Schutzgebietsgesetz in seiner allerersten Fassung vom 17. April 1886 114 in § 2 eine Verweisung auf § 3 des KGG in der Fassung vom 10. Juli 1979 115 vor. Diese Verweisung bedeutete, daß auf dem Gebiet des Zivilrechts die Reichsgesetze, das preußische ALR sowie andere preußische Zivilgesetze im Geltungsbereich des preußischen ALR (das preußische ALR hatte in der preußischen Rheinprovinz keine Geltung 116 ) in den Schutzgebieten geltendes Recht werden sollten 117 . § 3 SGG i.V.m. § 19 Nr. 2 KGG sahen für das Strafrecht und das Strafprozeßrecht die Einführung des im Deutschen Reich geltenden Rechts vor; auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts, insbesondere des Verwaltungsrechts der Schutzgebiete, wurde kein mutterländisches Recht in die Schutzgebiete übertragen, sondern aufgrund Verordnungsermächtigungen des SGG originäres Schutzgebietsrecht durch Verordnungen des Kaisers oder des Reichskanzlers geschaffen. Für die in die Kompetenz der Bundesstaaten fallenden Rechtsgebiete hinsichtlich des Bürgerlichen Rechts wurden in den Schutzgebieten somit ausschließlich die entsprechenden preußischen Rechtsvorschriften herangezogen; die Rechtsnormen anderer Bundesstaaten blieben außer Betracht. Wegen der unmittelbaren Geltung der Reichsgesetze auf dem Gebiet des Zivilrechts aufgrund § 3 SGG i.V.m. § 19 KGG in den Schutzgebieten führte die gesetzgeberische Tätigkeit des Reichsgesetzgebers, insbesondere das Inkrafttreten von BGB und HGB im Jahre 1900 dazu, daß der Anwendungsbereich preußischer Zivilgesetze immer geringer wurde. Die Neufassung von SGG und KGG im Jahre 1900 erklärte demzufolge in den §§ 3 SGG i.V.m. 19 Nr. 1 KGG nur noch „.. .die innerhalb Preußens im bisherigen Geltungsbereich des preußischen ALR in Kraft stehenden allgemeinen Gesetze sowie die Vorschriften der bezeichneten Gesetze über das Verfahren und die Kosten in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in Konkurssachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit..für anwendbar (§19 Nr. 1 KGG). Von der Anwendung des preußischen ALR war nicht mehr die Rede.

i h RGBl. 1886, S. 75. us RGBl. 1879, S. 197. ι 1 6 Dort galt als „rheinisches Recht" weiterhin französisches Recht, so u. a. der Code Civil, erst mit dem Inkrafttreten des BGB 1900 wurde dort - wie im übrigen deutschen Reich - die Rechtseinheit hergestellt, vgl. Huber, Bd. 2, 3. Aufl., 1988, S. 26/27. 117

Vgl. Fritz Kersting, Das öffentliche Recht der deutschen Schutzgebiete, 1911, S. 84.

8 6 Α .

Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Bei dem Zivilrecht in den Schutzgebieten handelte es sich demnach bis zum 31. Dezember 1899 überwiegend um preußisches Recht, nach der Einführung von BGB und HGB überwiegend um Reichsrecht, so daß sich das preußische Privatrecht auf diejenigen Gebiete, beschränkte, die unter die landesrechtlichen Vorbehalte von EGBGB und EGHGB fielen 118. Daneben schränkte der Reichsgesetzgeber aber auch nach 1900 den Anwendungsbereich preußischer Vorschriften in den Schutzgebieten durch die Regelung des Versicherungsrechtes (1901), des Verlagsrechts und des Scheckrechtes (1908) weiter ein. Weiterhin wurde durch koloniale Rechtsverordnungen aufgrund von Verordnungsermächtigungen des SGG oder des KGG die in § 19 Nr. 1 KGG vorgesehene Anwendung des preußischen Verfahrensrechts immer mehr verdrängt. Daneben sollten nur die gesetzlichen Bestimmungen des preußischen Rechts Geltung haben; soweit aufgrund der noch anwendbaren preußischen Gesetze landesherrliche Verordnungen oder Anordnungen der preußischen Behörden vorgesehen waren, sollten diese gemäß §§3 SGG i.V.m. § 23 KGG nur noch bis zu einer Regelung durch koloniales Verordnungsrecht gültig sein. Gegen Ende der deutschen Kolonialherrschaft hatten somit nur noch unbedeutende Vorschriften des preußischen materiellen Zivilrechtes, insbesondere Einzelnormen des preußischen Ausführungsgesetzes zum BGB (AGBGB) vom 20. September 1899 und des preußischen ALR, Geltung in den Schutzgebieten119. Wegen der umfangreichen Regelungen auf dem Gebiet des Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, insbesondere hinsichtlich des Zustellungs- und Vollstrekkungswesens, durch koloniale Verordnungen und Verfügungen 120 wurde der Anwendungsbereich des diesbezüglichen preußischen Rechts fast völlig verdrängt 121. Einige preußische Normen galten hingegen auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit, insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit der Gerichte 122 sowie der Notariate und des Verfahrens in Grundbuchsachen 123.

ns Ernst Radlauer, Über den Umfang der Geltung des preußischen Rechts in den deutschen Schutzgebieten Sonderdruck aus dem Jahrbuch der Hamburgischen wissenschaftlichen Anstalten, 1911, S. 1. 119 Neben den Normen des preuß. AGBGB und des preuß. ALR auch die preußische Gesindeordnung vom 8. November 1810, soweit sie das (seltene) nicht einheimische Gesinde betraf; ferner das preußische Eisenbahngesetz vom 3. November 1838 bezüglich der Haftung der Bahn bei Sachschäden; vgl. die detaillierte Übersicht bei Radlauer, S. 6. 120 ζ . B. Verfügungen des Reichskanzlers vom 25. Dezember 1900, DKB1. 1901 S. 1, und vom 8. Mai 1908, DKB1. 1908, S. 659; vgl. die Übersicht bei Radlauer, S. 2. 121

Als erwähnenswerte Ausnahme blieben die Vorschriften der preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung hinsichtlich der Zwangsvollstreckung gegen den Fiskus (§§ 33, 35, 153, und 242 der Gerichtsordnung) gemäß § 15 Nr. 3 EGZPO in Kraft, vgl. Radlauer, S. 7. 122 ζ . B. Art. 31, 33-36 des preuß. Gesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit (FGG), § 29 preuß. AGGVG und Art. 1 und 68 preuß. AGBGB. 123 Ζ. B. Art. 1, 2, 40-63, 65-76 des preuß. FGG, Art. 70 preuß. AGBGB und § § 1 - 1 0 preuß. AGGBO, Einzelheiten bei Radlauer, S. 7.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Ferner hatten - subsidiär neben kolonialem Verordnungsrecht - auch Einzelvorschriften des preußischen Kostenrechts in der Endphase der deutschen Kolonialherrschaft noch Gültigkeit in den Schutzgebieten124. Im Ergebnis wurde somit das in den Schutzgebieten geltende preußische Landesrecht im Verlauf der deutschen Kolonialzeit immer mehr durch Reichsrecht verdrängt und spielte gegen Ende der deutschen Kolonialzeit keine Rolle mehr.

e) Die Gerichtsorganisation für Europäer und die einheimische Bevölkerung: Rechtspflege durch Richter und Verwaltungsbeamte aa) Allgemeines

Wie schon erwähnt, wurde für den Aufbau der Gerichtsbarkeit für Europäer in den Schutzgebiet das Recht der konsularischen Gerichtsbarkeit herangezogen. Die im 19. Jahrhundert häufige Konsulargerichtsbarkeit bedeutete die Ausdehnung der deutschen Jurisdiktion auf deutsche Staatsangehörige in einem anderen Staat und die Ausübung der entsprechenden richterlichen Befugnisse 125 durch die deutschen Konsularbeamten 126. Dies wurde in der Regel durch Staatsverträge mit dem jeweiligen Staat vereinbart, wobei die Gegenseitigkeit der Konsulargerichtsbarkeit garantiert wurde; Angehörige des anderen Staates standen also gleichfalls unter der Jurisdiktion ihres Konsuls. Da auch im Falle der Schutzgebiete die deutsche Jurisdiktion über das Territorium des Mutterlandes hinaus ausgedehnt wurde, lag es nahe, das bewährte Konsulargerichtsgesetz auch für die Schutzgebiete anzuwenden 1 2 7 . Daher bestimmte für die Gerichtsbarkeit über Europäer § 2 SGG die Anwendbarkeit des KGG mit der Maßgabe, daß „.. .an die Stelle des Konsuls der von dem Reichskanzler zur Ausübung der Gerichtsbarkeit ermächtigte Beamte und an die Stelle des Konsulargerichts das in Gemäßheit der Vorschriften über das letztere zusammengesetzte Gericht des Schutzgebiets tritt". In Ausführung dieser gesetzlichen Vorgaben regelte eine Verfügung des Reichskanzlers vom 25. Dezember 1900 128 in § 1 für jedes Schutzgebiet die Einsetzung

124 Insbesondere Normen des preußischen Gerichtskostengesetzes, der preußischen Gebührenordnung für Notare und des preußischen Gesetzes über die Gebühren der Rechtsanwälte und Gerichtsvollzieher, vgl. Radlauer, S. 7/8. 125 Insbesondere für die in Zivilsachen und Strafsachen den Amtsgerichten zugewiesenen Sachen, vgl. § 7 Nr. 1 KGG; ferner konnten Konsulargerichte für die den Landgerichten zugewiesenen Sachen eingerichtet werden, vgl. § 10 Nr. 1 KGG. 126 Heute wird dagegen nicht an das Personalprinzip, sondern an das Territorialprinzip angeknüpft; dies bedeutet, daß grundsätzlich Staaten die Gerichtsbarkeit über alle Personen auf ihrem Territorium ausüben; allerdings kann das Herkunftsland durch eine Auslieferung die Möglichkeit der Gerichtsbarkeit wieder erhalten. 127 Zusammenfassend Otto Köbner, Die Organisation der Rechtspflege in den Kolonien, 1903, S. 9/10.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

eines Bezirksgerichts unter einem Bezirksrichter sowie, auf der Ebene des Konsulargerichts, die Einrichtung eines Obergerichtes unter einem Oberrichter. Aus der Formulierung des § 2 SGG, daß der zuständige Beamte nur zur Ausübung der Gerichtsbarkeit ermächtigt wurde, ergab sich - nach der allgemeinen zeitgenössischen Rechtsansicht - daß dies nur die Bedeutung einer Beauftragung mit der Wahrnehmung von richterlichen Geschäften und nicht eine Anstellung im beamtenrechtlichen Sinne hatte 129 . Im übrigen fand das GVG und damit auch die Norm des § 1 GVG, die die Unabhängigkeit der Gerichte garantierte, in den Schutzgebieten keine Anwendung, da § 19 Nr. 1 KGG lediglich auf die Verfahrensgesetze des Reiches, nicht jedoch auf Normen der Gerichtsverfassung verwies und weder KGG noch SGG weitere Vorschriften über das Richteramt getroffen hatten 130 . Als Folge konnten auch Verwaltungsbeamte ohne juristische Vorbildung die richterliche Tätigkeit eines Bezirksrichters ausüben, was anfangs auch insbesondere wegen des Mangels an Volljuristen in den Schutzgebieten geschah. Damit aber bestand eine - schon zu jener Zeit als Nachteil empfundene - Vermischung von Jurisdiktion und Exekutive 131 . Dies stellte nicht nur ein Defizit gegenüber der im Reich garantierten Unabhängigkeit der Gerichte dar; es konnte auch zu der bedenklichen Konsequenz führen, daß über die Rechtsgültigkeit der Anordnung eines Verwaltungsbeamten dieser selbst als Richter zu entscheiden hatte 132 . Da dies für die europäische Bevölkerung zunehmend als inakzeptabel angesehen wurde, besetzte man im Laufe der Zeit die Bezirksgerichte mit unabhängigen Richtern; bis 1914 war beispielsweise in Deutsch-Südwestafrika im Hinblick auf die Gerichtsbarkeit über Europäer die Trennung von Justiz und Verwaltung bereits durchgeführt 133. Auch das Kolonialbeamtengesetz von 8. Juni 1910 134 sah nicht vor, Verwaltungsbeamten mit Richterfunktion durch - auf Lebenszeit ernannte - Berufsrichter zu ersetzen; allerdings erkannte es erstmalig an, daß Verwaltungsbeamte, soweit sie richterliche Befugnisse ausüben, ihr Amt als unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Richter ausüben135.

128 Verfügung des Reichskanzlers, betreffend die Ausübung der Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee vom 25 Dezember 1900, DKB1. 1901, S. 1 ff. 129 Gerstmeyer, Fn. 3 zu § 2 SGG, S. 23. no Vgl. Friedrich Doerr, Deutsche Kolonialgerichtsverfassung, ZfK (11) 1909, S. 161 (163). 131 Kersting, S. 81. 132 Doerr, S. 165. 133 Hugo Blumhagen: Südwestafrika einst und jetzt, 1934, S. 59. 134 RGBl. 1910, S. 881 ff. 135 § 48 Kolonialbeamtengesetz; umfassend zu dieser Problematik: Friedrich rechtliche Stellung der deutschen Kolonialrichter, ZfK (13) 1911, S. 803 ff.

Doerr, Die

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete bb) Die Geltung des Konsulargerichtsgesetzes

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(KGG) für Europäer

gemäß § 2 SGG für die ordentliche Gerichtsbarkeit

Die ordentliche Gerichtsbarkeit für Europäer lag in der ersten Instanz bei den Bezirksgerichten. Der Bezirksrichter als Einzelrichter war gem. § 2 SGG i.V.m. § 7 Nr. 1 KGG aufgrund der Verweisung auf die Zuständigkeitsvorschriften des GVG in den Sachen, die den Amtsgerichten zugewiesen sind, zuständig. Dies umfaßte sowohl Zivilsachen (§ 23 GVG a.F.) als auch Strafsachen, die im Deutschen Reich in die Zuständigkeit der Schöffengerichte fielen (§ 25, 27 GVG a.F.) 136 ; darüber hinaus war der Bezirksrichter für Straftaten, die gemäß §§ 74, 75 GVG a.F. zur Zuständigkeit der Landgerichte gehörten, zuständig 137 . Der Bezirksrichter und zwei Beisitzer entschieden als Bezirksgericht in den bürgerlichen Streitigkeiten, die gem. § 2 SGG i.V.m. § 10 Nr. 1 KGG den Landgerichten zugewiesen waren (§ 70 GVG a.F.). Ebenso hatte das Bezirksgericht in der Besetzung von einem Bezirksrichter und vier Beisitzern über die erstinstanzlich dem Landgericht zugewiesenen Strafsachen zu entscheiden (§§ 72, 73 GVG a.F.) 138 . Als Berufungs- und Beschwerdeinstanz waren in zweiter Instanz die Obergerichte zuständig. Der Oberrichter (für jedes Obergericht existierte nur ein Oberrichter) entschied allein bei Beschwerden in Zivilsachen, Konkurssachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit; im übrigen entschied der Oberrichter mit vier Beisitzern 1 3 9 . Im Unterschied zu der Regelung der Konsulargerichtsbarkeit, die die Zuständigkeit des Reichsgerichts als Berufungs- und Beschwerdeinstanz vorsah (vgl. § 14 KGG), wurde dies durch § 6 Nr. 6 SGG anders geregelt. § 6 Nr. 6 SGG enthielt eine kaiserliche Verordnungsermächtigung, die Berufungs- und Beschwerdezuständigkeit auf Gerichte in den Schutzgebieten zu übertragen. Hiervon machte der Kaiser in der schon erwähnten Verordnung vom 9. November 1900 140 in § 8 Gebrauch, indem diese Zuständigkeiten grundsätzlich - wie schon oben dargelegt - dem jeweiligen kaiserlichen Obergericht des jeweiligen Schutzgebietes bzw. dem jeweils zuständigen Obergericht eines anderen Schutzgebietes (ζ. B. für Togo das Obergericht in Kamerun, für Kiautschou das Kaiserliche Konsulargericht in Schanghai141 und

136

v. Hoffmann, Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der deutschen Schutzgebiete, 1908, S. 42. 137 Vgl. § 6 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900, RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel S. 318. 138 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 43. 139

Vgl. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S: 44; Übersicht der Zuständigkeiten bei: Law Reports of Cases determined by the High Court of Tanganyika, Bd. 1, 1921-1952, 1953, Einführung, S. 5. 140 RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318- siehe Anhang II. 141 1907 wurde auch für Kiautschou mit dem Kaiserlichen Obergericht für Kiautschou mit dem Sitz in Tsingtau ein Gericht zweiter Instanz geschaffen, vgl. Kaiserliche Verordnung, betreffend das Gericht zweiter Instanz für das Schutzgebiet Kiautschou vom 28. September 1907, RGBl. 1907, S. 735.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

für die Karolinen-, Palau- und Marianeninseln das Obergericht von Deutsch-Neuguinea) übertragen wurde. Die Regelung des § 6 Nr. 6 SGG stellte einen gewissen Widerspruch zu der Verweisungsnorm des § 2 SGG dar, da diese Norm die entsprechende Anwendung der §§ 5, 7 -15,17 und 18 KGG zum Inhalt hatte, also auch die entsprechende Anwendung des § 14 KGG, der als Berufungs- und Beschwerdeinstanz gerade die Zuständigkeit des Reichsgerichts (und nicht ein Obergericht) vorsah. Für die Schutzgebiete existierte keine Revisionsinstanz und damit keine Möglichkeit einer einheitlichen Rechtsauslegung und einer systematischen Rechtsentwicklung. Schon 1903 wurde aus diesem Grunde vorgeschlagen, die Zuständigkeit des Reichsgerichtes für Revisionen in Kolonialsachen zu begründen 142. In der Folgezeit entstand eine lebhafte Diskussion um die Einrichtung eines obersten Kolonialgerichtes; neben der Einrichtung eines Kolonialsenates am Reichsgericht wurde - wegen der Nähe zum Reichskolonialamt - das preußische Kammergericht in Berlin vorgeschlagen; außerdem - wohl wegen der Nähe zum Kolonialinstitut und der Erfahrung der Richter mit Rechtsstreitigkeiten beim Überseehandel - das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg 143 . Nach einem 1911 gescheiterten Gesetzesentwurf hinsichtlich der Einrichtung eines Kolonial- und Konsulargerichtshofes sah ein erneuter Gesetzesentwurf vom 16. Oktober 1913 die Einrichtung eines nur für Kolonialsachen zuständigen Reichskolonialhofes in Berlin vor 1 4 4 . Wegen der Uneinigkeit des Reichstages, der zum Teil die Einrichtung eines Kolonialsenates beim Reichsgericht in Leipzig bevorzugte 145, zog sich das Gesetzgebungsverfahren bis in den Sommer 1914 und wurde dann durch den Beginn des 1. Weltkrieges unterbrochen, so daß es nicht mehr zur Einrichtung des Reichskolonialhofes kam. Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika wurde zur Zeit der Verwaltungshoheit der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft die Gerichtsbarkeit über Europäer durch einen Angestellten der Gesellschaft ausgeübt; diese stand ihrerseits - über den Generalkonsul in Sansibar - unter der Aufsicht des Reichs 146 . Nach Übernahme der unmittelbaren Verwaltung durch das Reich wurden für Zivil- und Strafsachen (einschließlich Schwurgerichtssachen) in erster Instanz zunächst zwei Bezirksgerichte eingerichtet; 1914 bestanden fünf Bezirksgerichte in Daressalam, Tanga, Muansa, Moshi und Tabo142 Otto Köbner, Die Organisation der Rechtspflege in den Kolonien, 1903, S. 27; Paul Königsberger, Wo soll der Kolonialgerichtshof seinen Sitz haben?, DKZ 1913, S. 848 f. 143 Überblick bei Friedrich Giese, Zur Errichtung des Kolonial- und Konsulargerichtshofes, ZfK (13) 1911, S. 331, Buchbesprechung zu Kurt Pereis, Die Errichtung eines Kolonialund Konsulargerichtshofes, 1910. 144

Viktor Fuchs, Das kommende Reichskolonialgericht, DKZ 1913, S. 788 ff. 145 Königsberger, S. 848. 4 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 8 .

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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ra 1 4 7 ; die Zuständigkeit umfaßte auch das Gebiet der Interessensphären, insbesondere Ruanda und Burundi. Als zweite Instanz wurde das Obergericht in Daressalam eingerichtet 148. Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika war ab 1885 zunächst der kaiserliche Kommissar für die Gerichtsbarkeit zuständig; 1890 wurde dann in Windhuk das erste Bezirksgericht eingerichtet 149. Schon 1910 bestanden in Südwestafrika fünf Bezirksgerichte in Windhuk, Swakopmund, Lüderitzbucht, Keetmanshoop und Omaruru sowie als zweite Instanz ein Obergericht in Windhuk 150 . Kamerun In Kamerun bestand der am 14. Januar 1856 eingerichtete Court of Equity, der ab Oktober 1858 auch in Limbé (Victoria) tagte 151 . Bei dem Court of Equity handelte es sich um ein aus Vertretern deutscher und britischer Kaufleute gebildetes Gericht, das Handelsstreitigkeiten schlichten sollte. Da man das Gericht nach der deutschen Inbesitznahme als ein Mittel der britischen Einflußnahme ansah, wurde es 1885 abgeschafft und die Gerichtsbarkeit in Zivilsachen zunächst provisorisch vom Gouverneur und zwei Beisitzern für das gesamte Schutzgebiet Kamerun ausgeübt 152 . Dieses Gericht mit dem Charakter eines Schiedsgerichtes für Europäer bestand bis 1888 und wurde dann durch ein erstinstanzliches Gericht für Zivil- und Strafsachen in Douala (dem späteren Bezirksgericht in Douala) ersetzt 153 . Ebenfalls 1888 wurde als Gericht zweiter Instanz ein Obergericht in Douala eingerichtet, das allerdings 1905 nach Buéa, dem neuen Hauptsitz der Kolonialverwaltung, verlegt wurde 154 . 1914 bestanden vier Bezirksgerichte in den Orten Douala, Kribi, Lomie und Nola 1 5 5 . Togo In Togo wurde 1885 zunächst der kaiserliche Kommissar mit der Rechtsprechung beauftragt. 1888 wurde ein Gericht erster Instanz geschaffen, die Gerichtsbarkeit übte aber zunächst weiterhin der kaiserliche Kommissar im Rahmen diese Gerichtes aus, so daß die Rechtsprechung faktisch von Verwaltungsbehörden wahr147 Wilhelm Arning, Deutsch-Ostafrika gestern und heute, 1936, S. 109/110. 148 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 87/88. 149 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 79. 1 50 Gerstmeyer, Kommentar, Anhang, S. 264. 1 51 Théophile Owona, Die Souveränität und Legitimität des Staates Kamerun, Diss. 1990, S. 128. 152 Harry S. Rudin, Germans in the Cameroons, 1938, S. 198/199. 1 53 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 53. ι 5 4 Carlson Anyangwe, The Cameroonian Judicial System, 1987, S. 31. 155 August Full, Kamerun, KolRd (9/12), 1932, S. 304.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

genommen wurde 156 . Erst ab 1900 und endgültig ab 1906 ging die Rechtsprechung in Zivil- und Strafsachen für Europäer in erster Instanz auf das Bezirksgericht in Lomé über, das bis 1914 für das gesamte Schutzgebiet Togo zuständig war 1 5 7 . Als Berufungsgericht war zunächst das Oberlandesgericht Hamburg und in Schwurgerichtssachen das Schwurgericht in Potsdam zuständig 158 , ab 1900 wurde jedoch, wie schon erwähnt, gemäß § 8 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900, als Gericht zweiter Instanz für Togo das Obergericht von Kamerun für zuständig erklärt. Deutsch-Neuguinea, Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln In Deutsch-Neuguinea wurde auch zur Zeit der Verwaltung durch die Neuguinea-Compagnie die Gerichtsbarkeit durch juristisch vorgebildete Verwaltungsbeamte des Reiches ausgeübt, nach der endgültigen Übernahme der Verwaltung durch das Reich 1899 wurden zwei Bezirksgerichte für die erstinstanzliche Zuständigkeit in Zivil- und Strafsachen eingerichtet 159. Zum Zuständigkeitsbereich des Bezirksgerichts Herbertshöhe, das 1911 nach Rabaul verlegt wurde, gehörte der östliche Teil des Schutzgebietes, insbesondere das Bismarck-Archipel, während das Bezirksgericht Friedrich-Wilhelms-Hafen (Madang) für den westlichen Teil, insbesondere für das Festland von Neuguinea, zuständig war 1 6 0 . Hinzu kamen drei Bezirksgerichte für die Deutsch-Neuguinea administrativ angegliederten Inselgebiete der Karolinen, Marianen und Marshall-Inseln. Für die Westkarolinen und Marianen wurde, nachdem in einer Übergangszeit seit dem Erwerb 1899 die Gerichtsbarkeit von einem Verwaltungsbeamten ausgeübt wurde, 1901 ein Bezirksgericht in Yap eingerichtet. Für die Ostkarolinen wurde nach einer ähnlichen zweijährigen Übergangsperiode 1901 ein Bezirksgericht in Ponape aufgebaut 161. Auf den Marshall-Inseln wurde die Gerichtsbarkeit ab 1886 von dem auch für die Verwaltung zuständigen kaiserlichen Kommissar ausgeübt, ab 1890 wurde das Bezirksgericht Jaluit eingerichtet. Bis 1890 war als Gericht zweiter Instanz für die Marshall-Inseln das Konsulargericht in Apia (Samoa) zuständig, von 1890 bis zur verwaltungsmäßigen Angliederung an Deutsch-Neuguinea 1906 ein eigens eingerichtetes Obergericht in Jaluit 1 6 2 . Für Deutsch-Neuguinea war als Gericht zweiter Instanz zunächst seit 1886 das deutsche Konsulargericht in Apia (Samoa) zuständig, 1889 (gleichzeitig mit der ersten, bis 1892 dauernden Übernahme der Verwaltung durch das Reich) wurde ein Obergericht in Herbertshöhe, später in Rabaul

156

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 64. 157 August Full, Fünfzig Jahre Togo, 1935, S. 100. 1 58 Jürgen Theres, Die Evolution der politisch-administrativen Strukturen in Togo. Eine Fallstudie zur administrativen Anthropologie, Diss. 1988, S. 97. 1 59 v. Hoffmann , Gerichtsverfassung, S. 95. 160

Gerstmeyer, Kommentar, Anhang, S. 266. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 102. 162 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 99.

161

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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eingerichtet 163. Dieses Obergericht war auch für die Karolinen und Marianen und seit 1906 auch für die Marshall-Inseln zuständig 164 . Samoa In Samoa trat für Europäer mit der kaiserlichen Verordnung vom 17. Februar 1900 165 die Gerichtsverfassung des SGG mit Wirkung zum 1. März 1900 in Kraft. In Apia wurde das aus dem Konsulargericht hervorgegangene Bezirksgericht errichtet166; im gleichen Jahr wurde in Apia ein Obergericht als Gericht zweiter Instanz geschaffen, das ab 1904 durch einen Oberrichter geleitet wurde 167 . Tsingtau (Kiautschou) Im Schutzgebiet Kiautschou wurde 1898 durch kaiserliche Verordnung 168 die Gerichtsverfassung des SGG eingeführt und für Europäer das „kaiserliche Gericht von Kiautschou" eingerichtet, das - ähnlich wie die Bezirksgerichte der anderen Schutzgebiete - als erste Instanz in Zivil- und Strafsachen zuständig war. Die drei Richter dieses Gerichtes wurden durch 18 Beisitzer - mehrheitlich Kaufleute - unterstützt; die Mitwirkung von Laien hatte vor allem bei Handelssachen große Bedeutung 169 . § 5 der Verordnung vom 27. April 1898 bestimmte das Konsulargericht in Schanghai als Gericht zweiter Instanz für Berufungs- und Beschwerdesachen170. Mit der kaiserlichen Verordnung vom 28. September 1907 171 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1908 als Gericht zweiter Instanz das „kaiserliche Obergericht von Kiautschou" unter der Leitung eines kaiserlichen Oberrichters eingefühlt. Die Regelungen im Hinblick auf das Verfahren für Europäer vor den Gerichten in den Schutzgebieten waren durch eine gewisse Unübersichtlichkeit geprägt. Zunächst mußten im Rahmen der Verweisung von § 3 SGG die anwendbaren Bestimmungen des KGG festgestellt werden; dann im Rahmen der Verweisung des § 19 KGG wiederum die anwendbaren Bestimmungen der Reichsgesetze (also insbesondere ZPO und StPO 172 ) und - zu einem geringen Teil - der preußischen Geset163

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 95. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 99. 165 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Rechtsverhältnisse in Samoa vom 17. Februar 1900, RGBl. 1900, S. 136. 166 Otto Köbner, Die Organisation der Rechtspflege in den Kolonien, 1903, S. 15. 167 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 105. 168 Allerhöchste Verordnung betreffend die Rechtsverhältnisse in Kiautschou vom 27. April 1898, RGBl. 1898, S. 172. 169 Hans Weicher, Kiautschou Das deutsche Schutzgebiet, 1908, S. 100. no Vgl. y. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 131. 171 Allerhöchste Verordnung, betreffend die Einrichtung eines Gerichts zweiter Instanz im Schutzgebiet Kiautschou vom 28. September 1907, RGBl. 1907, S. 735. 1 72 Überblick über die Verfahrensnormen bei: Franz Josef Sassen, Das Gesetzgebungsund Verordnungsrecht in den deutschen Kolonien, in: Abhandlungen aus dem Staats- Verwaltungs- und Völkerrecht, Philipp Zorn/Fritz Stier-Simlo (Hrsg.), 1909, S. 123 ff.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

ze; hinzu kam noch, daß jedesmal zu prüfen war, ob durch SGG oder KGG Ausnahmen durch Verordnungen zugelassen waren und ob solche Verordnungen auch erlassen worden waren 173 . Im Hinblick auf das Verfahren in Zivilsachen für Europäer 174 kam eine kaiserliche Verordnungsermächtigung für ergänzende zivilprozessuale Vorschriften gemäß § 3 i.V.m. § 20 Abs. 2 KGG sowie eine konkretere kaiserliche Verordnungsermächtigung gemäß § 6 Nr. 7 - Nr. 9 SGG für die Regelung von Zustellungen, Zwangsvollstreckung, Kostenwesen, freiwillige Gerichtsbarkeit und Fristen hinzu. Diese Verordnungsbefugnis wurde im Hinblick auf die Regelung von Zustellungen, Zwangsvollstreckung und Kosten gemäß § 10 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 175 auf den Reichskanzler und die Gouverneure (bei letzteren aber unter einem Zustimmungsvorbehalt des Reichskanzlers) delegiert. Der Reichskanzler machte von dieser Verordnungsbefugnis in seiner Verfügung vom 25. Dezember 1900 176 für die Schutzgebiete in Afrika und der Südsee Gebrauch und regelte in § 4 der Verfügung die Nichtanwendbarkeit einiger ZPO-Zustellungsvorschriften, in § 5 für die Zwangsvollstreckung die Entbehrlichkeit einer vollstreckbaren Ausfertigung 177 ; § 7 enthielt Regelungen hinsichtlich des Kostenwesens. Für Kiautschou wurde eine ähnliche Regelung für die Zustellung, die Zwangsvollstrekkung und das Kostenwesen durch eine Verordnung des Gouverneurs vom 21. Juni 1904 178 getroffen. Auf dem Gebiet des Strafprozesses 179 galten - wie schon erwähnt - die StPO sowie die Sondervorschriften des KGG im 7. Abschnitt (§§ 52-72). Mehr Relevanz für die Situation in den Schutzgebieten hatten jedoch die Verordnungsermächtigungen in § 6 Nr. 2 bis Nr. 5 SGG hinsichtlich des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens (Nr. 2), der Zuständigkeit des Einzelrichters auch für Schöffengerichtssachen (Nr. 3), der Besetzung mit einem Richter und vier Beisitzern in Schwurgerichtssachen (Nr. 4) sowie der Art der Todesstrafe (Nr. 5). Die entsprechenden Regelungen wurden in der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 getroffen. Nach § 5 dieser Verordnung beschränkte sich die Tätigkeit des Staatsanwaltes auf die Mitwirkung bei der Hauptverhandlung, während das Verfahren zur Einleitung des Strafverfahrens dem Bezirksrichter oblag; der Staat wurde 173

Otto Köbner, Die Organisation der Rechtspflege in den Kolonien, 1903, S. 13. Ausführlich hierzu: Friedrich Doerr, Deutsches Kolonialzivilprozessrecht, 1914; der s.: Deutsches Kolonialzivilprozessrecht, ZfK (13) 1911, S. 615 ff. ™ RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318 - siehe Anhang II. 176 Verfügung des Reichskanzlers, betreffend die Ausübung der Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee, vom 25. Dezember 1900, DKB1. 1901, S. 1. 177 Die Ausfertigung eines Gerichtsurteils mit einer Vollstreckungsklausel ist eine der Voraussetzungen für die Durchführung einer Zwangsvollstreckung, vgl. § 725 ZPO. 178 DKGG 8, S. 288, genehmigt vom Reichskanzler bzw. für diesen vom Reichsmarineamt am 1. Oktober 1904. 174

1 79 Überblick bei: Friedrich S. 660 ff.

Doerr, Deutsches Kolonialstrafprozeßrecht, ZfK (10) 1908,

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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also nur in beschränktem Maße durch die Staatsanwaltschaft vertreten 180 . Faktisch bedeutete dies eine Tendenz zur Inquisitionsmaxime und damit eine Beschneidung der prozessualen Rechte des Angeklagten. § 6 der Verordnung schuf die Zuständigkeit des Einzelrichters auch für Straftaten, die nach dem GVG zur Zuständigkeit des Schöffengerichts gehörten, § 7 regelte, daß für Schwurgerichtssachen das Gericht aus einem Richter und vier Beisitzern bestehen mußte (zu den Zuständigkeiten siehe oben); ferner zählte § 9 die zulässigen Arten der Todesstrafe auf (Enthaupten, Erschießen und Erhängen) und überließ die Wahl der jeweiligen Todesstrafe im Einzelfall der Entscheidung des Gouverneurs.

cc) Verwaltungsbeamte

als Richter und eigene „ untere Gerichtsbarkeit

"

der einheimischen Bevölkerung

Die genannten Gerichte waren für die einheimische Bevölkerung, soweit sie vom deutschen Kolonialrecht als „Eingeborene" angesehen wurden, nicht zuständig; dies ergab sich aus § 4 SGG, demzufolge die Einheimischen nur unter der Voraussetzung einer diesbezüglichen kaiserlichen Verordnung der Gerichtsorganisation für Europäer gemäß § 2 SGG unterstehen sollten. Eine solche Verordnung erging jedoch nicht; vielmehr bestand für die einheimische Bevölkerung eine eigene Gerichtsorganisation 181. Durch kaiserliche Verordnung vom 25. Februar 1896 182 wurde dem Reichskanzler und mit dessen Ermächtigung bzw. Zustimmung den Gouverneuren die Befugnis übertragen, Vorschriften über die Ausübung der Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung zu erlassen. Diesbezügliche Ausführungsbestimmungen wurden für jedes Schutzgebiet erlassen 183. Eine umfassende Übertragung der Zuständigkeit für den Erlaß von Regelungen hinsichtlich der Ausübung der Gerichtsbarkeit über Einheimische (hierbei handelte es sich ursprünglich um eine Befugnis, die dem Kaiser als Teil seiner Schutzgewalt zustand) auf den Reichskanzler wurde erst mit der Kaiserlichen Verordnung vom 3. Juni 1908 durchgeführt 184. Grundsätzlich waren für die Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung die Amtsvorsteher der jeweiligen Bezirksämter (Verwaltungseinheiten der Schutzgebiete) zuständig 185 , also Verwaltungsbeamte (Amtsbezeichnung: Bezirksamtiso v. Hoffmann, Einführung, S. 223. 181 Vgl. Überblick bei: Friedrich Doerr, Deutsche Kolonialgerichtsverfassung, ZfK (11) 1909, S. 161 ff. 182

Kaiserliche Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten vom 25. Februar 1896, DKGG 2, S. 213, zuletzt geändert durch kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908, RGBl. 1908, S. 397. 183 Vgl. Überblick bei: Köbner, S. 40 ff. 184 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenen-Rechtspflege in den afrikanischen und Südsee-Schutzgebieten, vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

mann). Eine Trennung von Justiz und Verwaltung bestand bei der Gerichtsverfassung für die einheimische Bevölkerung nicht 1 8 6 (auch für Europäer hatte sich diese Trennung nur zum Teil durchgesetzt); eine solche Trennung hatte aber im Unterschied zu den Verhältnissen im Deutschen Reich in den Schutzgebieten auch keinerlei Tradition. Die Trennung zwischen den Gerichtsbarkeiten in Bezirksgerichte für Europäer und Bezirksamtmänner für Einheimische wurde personell oft nicht durchgehalten; so waren Versetzungen zwischen Gerichten und Bezirksämtern an der Tagesordnung, es gab auch Beispiele, daß ein Bezirksrichter in Personalunion auch als Bezirksamtmann fungierte 187 . Die Bezirksamtsmänner urteilten in - den Rechtsgewohnheiten der Einheimischen entsprechenden - öffentlichen Gerichtssitzungen („Palaver") sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht nach den Rechtsanschauungen der Einheimischen, allerdings auch unter Zuhilfenahme von Grundsätzen des deutschen Rechts 188 . Wie das materielle Straf- und Zivilrecht wurde auch das Verfahrensrecht durch Verordnungsrecht des Reichskanzlers und der Gouverneure modifiziert, um den besonderen Gegebenheiten jedes einzelnen Schutzgebietes Rechnung zu tragen 189 . Die Strafrechtspflege durch den Bezirksamtmann wies in allen Schutzgebieten Gemeinsamkeiten auf: so existierte keine Staatsanwaltschaft; der Bezirksamtmann vereinigte Ermittlung und richterliche Funktion in seiner Person. Abweichend von den Grundsätzen des deutschen Strafprozeßrechts, das sinngemäß auch bei Verfahren gegen Einheimische angewendet wurde, hatte sich in den Schutzgebieten die Gerichtspraxis herausgebildet, Einheimische nicht zu vereidigen, da man ihrer Glaubwürdigkeit mißtraute 190 . Begründet wurde diese - in der juristischen Literatur umstrittenen und auch von Staatssekretär Dernburg kritisierten - Praxis mit dem Argument, daß bei Einheimischen wegen mangelnder Verstandesreife im Sinne des § 56 StPO von der Vereidigung Abstand genommen werden müsse 191 . Bei Zivilrechtsstreitigkeiten, insbesondere auf unterer Ebene, wurde die Gerichtsbarkeit auch einheimischen Stammeshäuptlingen, Sultanen oder besonderen, mit Einheimischen besetzten Gerichten überlassen. Die unterschiedlichen Regelungen

185 Vgl. stellvertretend § 1 der Verfügung des Reichskanzlers wegen Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo vom 22. April 1896, DKBL 1896, S. 241. 186

Fritz Kersting, Das öffentliche Recht der deutschen Schutzgebiete, 1911, S. 81. Ζ. B. in Muansa in Deutsch-Ostafrika; vgl. Claudia Lederer, Die rechtliche Stellung der Muslime innerhalb des Kolonialrechtssystems im ehemaligen Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika, 1994, S. 23. 188 Johannes Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, in: Rechts vergleichendes Handwörterbuch, Fritz Schlegelberger (Hrsg.), Bd. 1, 1929, S. 557. 189 Einen Uberblick über die Vielzahl der Normen gibt Friedrich Doerr, Deutsches Kolonialstrafprozeßrecht, ZfK (10) 1908, S. 660 ff. 190 Zu den Verhältnissen in Südwestafrika vgl. Jürgen Zimmerling, Die Entwicklung der Strafrechtspflege in Deutsch-Südwestafrika 1884-1914, 1995, S. 59 ff. w Zimmerling, S: 62; siehe unten, A. III. 3. b) bb) (1). 187

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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in den Schutzgebieten werden im folgenden im Rahmen einer Einzeldarstellung erörtert. Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika wurde die Zivilrechtspflege für die einheimische Bevölkerung durch mehrere Verordnungen des Gouverneurs geregelt 192 . Gerichtsverhandlungen fanden in öffentlichen Sitzungen unter freiem Himmel („Schauri") 193 statt. In Zivilsachen war erstinstanzlich der Bezirksamtmann zuständig, dem als Berater ein einheimischer Richter („Wali") zur Seite stand, bei dem es sich in der Regel um den Dorfältesten („Jumbe", „Akide") handelte; diesem wurden auch richterliche Befugnisse bei Bagatellsachen (mit Bagatellsachen sind Zivilrechtsstreitigkeiten kleineren Umfanges sowie Strafsachen bei kleineren Delikten wie leichte Körperverletzungen oder kleinere Diebstähle gemeint - die Bagatellgrenze war je nach Schutzgebiet unterschiedlich und schwankte zwischen ca. 30 Mark und bis zu 100 Mark Straferwartung bzw. Streitwert in Zivilsachen) insbesondere auf dem Gebiet des islamischen Rechts, unter der Aufsicht und Verantwortung des Bezirksamtmannes übertragen 194. Bei den Akiden handelte es sich um Angehörige der einheimischen Bevölkerung, meist Araber, die als Vertrauenspersonen des Bezirksamtes Verwaltungsbefugnisse für jeweils ein bestimmtes Gebiet hatten und von der Kolonialverwaltung fest besoldet wurden. Den Akiden unterstanden die nicht besoldeten Dorfältesten (Jumben oder Wulat, im Singular Wali) 1 9 5 . Eine Berufung an den Oberrichter war möglich, sofern der Streitwert 1000 Rupien überstieg 196. Ferner hatte der Bezirksamtmann auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Aufgabe, Rechtsgeschäft zwischen Einheimischen zu beurkunden; er konnte auch Eheschließungen zwischen Einheimischen beurkunden, diese Aufgabe aber auch den Wulat oder Akiden (s.o.) überlassen 197. Durch Verordnungsrecht des Gouverneurs wurden neben Regelungen bezüglich der Rechtsgeschäfte der einheimischen Bevölkerung, die im folgenden unter A. III. 3. b) untersucht werden, auch Regelungen hinsichtlich der Regulierung von Nachlässen getroffen 198 ; demnach oblag diese Aufgabe dem Bezirksamtmann, dem dabei eine Nachlaß-Kommission der einheimischen Bevölkerung zur Seite stand.

192 Vor allem durch die Verordnung des Gouverneurs betreffend die Gerichtsbarkeit und die Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute vom 14. Mai 1891, DKGG 6, S. 33. 193 v. Hoffmann , Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der deutschen Schutzgebiete, 1908, S. 91. 194 § 1 Satz 2 und § 13 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896, DKB1. 1896, S. 241, Lederer, S. 98. 195 F. O. Karstedt, Beiträge zur Praxis der Eingeborenenrechtsprechung in Deutsch-Ostafrika, 1912, S. 35 ff. 196 Ludwig Sieglin, Die kolonial Rechtspflege und ihre Emanzipation vom Konsularrecht, 1908, S. 98. 197 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 92. 198 Vgl. Verordnung des Gouverneurs vom 4. November 1893, DKGG 2, S. 47. 7 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

In Strafsachen wurden aufgrund der schon erwähnten Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 in den dicht besiedelten Küstengebieten die Strafgerichtsbarkeit vom Gouverneur ausgeübt, in den Bezirksämtern von dem Bezirksamtmann; im wenig erschlossenen Landesinneren waren hierfür der Stationsvorsteher einer Station sowie der Expeditionsführer einer Expedition zuständig, die Verhängung der Todesstrafe blieb jedoch allein dem Gouverneur überlassen 199. In den Küstengebieten wurde die Strafgerichtsbarkeit bei kleineren Delikten den schon erwähnten Akiden überlassen. Die Akiden waren befugt, kleinere Gerichtsverhandlungen (Schauris) selbständig abzuhalten und dabei Strafen von bis zu 14 Tagen Kettenhaft oder 15 Stockhieben zu verhängen. In den weniger erschlossenen Gebieten des Landesinneren wurde den Häuptlingen (Sultane) die Entscheidung über geringfügige Straf- und Zivilrechtsstreitigkeiten belassen; die Berufung gegen die Entscheidung der Häuptlinge sowie die erstinstanzliche Zuständigkeit in allen übrigen Rechtsstreitigkeiten oblag dem Bezirksamtmann bzw. dem Stationsleiter. Es galt der Grundsatz, daß zu den Strafverhandlungen durch den Bezirksamtmann stets auch der jeweils zuständige Dorfälteste (Jumbe) hinzuzuziehen war 2 0 0 . In den Interessensphären und dem Gebiet der Residenturen, wo sich der Einfluß der deutschen Kolonialverwaltung auf den militärischen Schutz beschränkte (insbesondere Ruanda, Burundi und Bukoba), bestand weiterhin die alleinige Gerichtshoheit des Häuptlings; lediglich Straftaten einheimischer Angestellten bei der Kolonialverwaltung unterlagen der Gerichtsbarkeit des deutschen Residenten (Verwaltungsbeamter) 201 . In Strafsachen wurde die Berufung dadurch ersetzt, daß Urteile über mehr als 200 Rupien Geldstrafe oder über 6 Monate Gefängnis der Bestätigung des Gouverneurs bedurften 202 ; Todesurteile konnten ohnehin nur mit Zustimmung des Gouverneurs verhängt werden 203 . Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika bestanden seit der Inbesitznahme durch das Reich 1884/1885 Verträge mit den Häuptlingen (oft auch mit dem burischen Wort Kapitän bezeichnet) der Nama („Hottentotten"), Herero und den Rehobot-Bastards (ein Mischlingsstamm aus Nama und eingewanderten Buren) und damit der wichtigsten Stämme; diese Verträge sicherten den Häuptlingen die Beibehaltung ihrer Gerichtsbarkeit über ihre Stammesangehörigen zu 2 0 4 . Auf dem Gebiet der Zivilrechtspflege wurde durch Verordnung des Gouverneurs vom 1. Januar 1899 205 die 199 Vgl. Köbner, S. 30. 200 § 13 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896, DKB1. 1896, S. 241 ff. 201 Wilhelm Arning, Deutsch-Ostafrika gestern und heute, Berlin, 1936, S. 111. 202 § 10 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896, DKB1. 1896, S. 241 ff. 203 § i l der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896, DKB1. 1896, S. 241 ff. 204 Köbner, S. 29. 205 Verordnung des Gouverneurs von Südwestafrika betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen des Schutzgebietes von Deutsch-Südwestafrika, einschließlich der Bastards, in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 1. Januar 1899, DKB1. 1899, S. 232.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Zuständigkeit des Bezirksamtmannes zusammen mit einheimischen Beisitzern in erster Instanz begründet, kleinere Verfahren konnten jedoch von den jeweiligen Häuptlingen entschieden werden. Der Oberrichter von Südwestafrika wurde 1903 als Berufungsinstanz zuständig; Berufung konnte bei einem Streitwert von mehr als 300 Mark eingelegt werden 206 . Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege wurden durch Verordnung des Landeshauptmannes von Südwestafrika vom 8. November 1896 207 die Bestimmungen der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 (siehe oben) auch in DeutschSüdwestafrika eingefühlt. Damit wurde die einheimische Bevölkerung der Gerichtsbarkeit des Landeshauptmannes (später Gouverneur) bzw. des zuständigen Bezirksamtmannes unterworfen, die vertraglichen Vorrechte der Häuptlinge allerdings wurden durch ein Mitspracherecht der Häuptlinge bei den Strafverhandlungen berücksichtigt. Nach den Aufständen der Jahre 1904-1907 wurde den einheimischen Häuptlingen mit Ausnahme der Rehobot-Bastards, die sich neutral verhalten hatten, ihre richterlichen Kompetenzen weitgehend entzogen - die entsprechenden Verträge wurden als gegenstandslos angesehen - und die umfassende Gerichtsbarkeit des Bezirksamtmannes über die einheimische Bevölkerung begründet 208. Kamerun In Kamerun wurden in den Schutzverträgen von 1884/1885 den einheimischen Häuptlingen zunächst nur die Respektierung ihrer Sitten und Gebräuche garantiert; faktisch überließ man ihnen in der Anfangszeit aber auch die Rechtsprechung über ihre Stammesangehörigen209. Gleichzeitig wurde 1885 der - auch für Rechtsstreitigkeiten zwischen Einheimischen und Europäern zuständige - Court of Equity abgeschafft 210. Durch eine Verordnung des Gouverneurs vom 16. Mai 1892 211 wurde für den Stamm der Douala und durch elf weitere Verordnungen in den Jahren 1893 bis 1897 auch für andere Stämme 212 jeweils ein sogenanntes „Eingeborenen-Schiedsgericht" eingeführt. Demnach war der Häuptling des Dorfes des jeweiligen Beklagten bzw. Angeklagten in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bis zu einem Streitwert von 100 Mark (damals eine nicht unbedeutende Summe) 213 und in Strafverfahren bis zu einer Straferwartung von 300 Mark Geld206

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 82. 207 Verordnung des Landeshauptmannes von Südwestafrika betreffend die Strafgerichtsbarkeit über die Eingeborenen in Südwestafrika vom 8. November 1896, DKGG 2, S. 294. 208

Jürgen Zimmerling, Die Entwicklung der Strafrechtspflege für Afrikaner in DeutschSüdwestafrika 1884-1914, 1995, S. 114. 2 09 Köbner, S. 29. 210

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 56. Verordnung des Gouverneurs von Kamerun betreffend die Einführung eines Eingeborenen-Schiedsgerichtes für den Dualastamm vom 16. Mai 1892, DKGG 1, S. 251. 212 Übersicht bei: v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 57. 211

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

strafe oder 6 Monaten Gefängnis in erster Instanz zuständig 214 . Damit hatten die einheimischen Häuptlinge eine nicht unerhebliche gerichtliche Zuständigkeit und konnten auch empfindliche Strafen verhängen. Für alle übrigen Zivil- und Strafverfahren sowie als Berufungsinstanz für Urteile der Häuptlinge wurden Eingeborenen-Schiedsgerichte eingerichtet. Diese bestanden aus Häuptlingen bzw. Dorfältesten aus den jeweiligen Stammesgebieten, die vom Gouverneur ernannt wurden 2 1 5 . Gegen die Urteile der Eingeborenen-Schiedsgerichte konnte Berufung beim Gouverneur bzw. seinem Stellvertreter eingelegt werden. Die Eingeborenen-Schiedsgerichte hatten keine Zuständigkeit für Mord, Totschlag sowie alle übrigen Taten mit einer Straferwartung von mehr als zwei Jahren Gefängnis sowie der Todesstrafe 216. Hierfür sowie für Zivil- und Strafverfahren in Stammesgebieten ohne Eingeborenen-Schiedsgerichte (insbesondere im Küstengebiet) war in den Bezirksämtern der Bezirksamtmann erstinstanzlich zuständig 217 . In den noch wenig erschlossenen Gebieten des Landesinneren bestanden noch keine Bezirksämter, sondern nur sogenannte Stationen, d. h. kleinere Außenposten unter der Leitung eines deutschen Verwaltungsbeamten; hier blieb die Gerichtsbarkeit durch einheimische Häuptlinge intakt, allerdings hatten die Stationsleiter Einfluß auf die Häuptlinge 218 . In den nördlichen Gebieten fand die deutsche Kolonialverwaltung staatenähnliche Strukturen der einheimischen, meist islamischen Fürsten, Sultanen bzw. Statthaltern (Lamido, im Plural Lamidat) vor. Diese Staaten blieben erhalten und wurden lediglich von einem deutschen Residenten kontrolliert, auch die althergebrachten Gerichte, die das islamische Recht anwendeten, bestanden weiterhin 219 . Der deutsche Resident, der als „Ratgeber" des jeweiligen Fürsten die Politik der Residenturgebiete beeinflußte, hatte jedoch die Möglichkeit, die Rechtsprechung zu beeinflussen; in einigen Gebieten wurde der Resident auch als höchste gerichtliche Instanz anerkannt 220. Togo In Togo blieben nach der deutschen Inbesitznahme die einheimischen Häuptlings- und Oberhäuptlingsgerichte (ein Oberhäuptlingsgericht war für ein aus mehreren Dörfern bestehendes Gebiet zuständig) für die Gerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen zuständig. Die Prozesse der Häuptlingsgerichte, die sich aus dem Dorfhäuptling und mehreren Dorfältesten zusammensetzten, fanden öffentlich statt 213

Zum Vergleich: ein ungelernter einheimischer Regierungsangestellter verdiente um 1910 monatlich ca. 15 Mark, vgl. Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914, 1970, S. 133. 214 Köbner, S. 31. 2

15 Harry R. Rudin, Germans in the Cameroons 1884-1914, 1938, S. 200.

216

Carlson Anyangwe, The Cameroonian Judicial System, 1987, S. 34. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 55, 58. 218 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 59. 2 19 August Full, Kamerun, KolRd, (9/12) 1932, S. 304/305. 22 0 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 60. 217

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

101

(„Palaver") 221 ; hiergegen konnte Berufung beim Oberhäuptlingsgericht oder beim Bezirksamtmann eingelegt werden 222 , der dann mit der Hilfe von zwei einheimischen Häuptlingen entschied, die jedoch nur beratende Funktion hatten 223 . In Strafsachen wurde durch die schon erwähnte Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 die Zuständigkeit der Bezirksamtmänner für die einheimische Bevölkerung eingefühlt; die Häuptlingsgerichte blieben aber weiterhin zuständig für Straftaten mit einer Straferwartung von - je nach Landstrich unterschiedlich zwischen 30 Mark und 50 Mark Geldstrafe, Oberhäuptlingsgerichte z.T. sogar für Taten mit einer Straferwartung von bis zu 100 Mark, zeitweise von bis zu 200 Mark 2 2 4 . Als Anreiz für die Häuptlinge war es ihnen gestattet, zwischen 5% und 10% des Streitwertes bzw. der Geldstrafe als Gerichtskosten zu erheben und einzubehalten 225 . Sowohl die Straf- als auch die Zivilgerichtsbarkeit der Häuptlinge blieb aber unter der Aufsicht der Bezirksamtmänner, die im Bedarfsfall auch unmittelbar entscheiden konnten 226 . Bestimmte althergebrachte Verfahrensweisen der Häuptlingsgerichte wurden als unvereinbar mit der europäischen Zivilisation angesehen und verboten bzw. unter Strafe gestellt: hierzu gehörte die Wahrheitsfindung durch Verabreichung eines giftigen Getränks (Fetischtrank), durch den Würfelbecher oder durch sonstiges Gottesurteil (Ordalbeweis), ferner wurde die Blutrache sowie die Abhaltung von Gerichtsverhandlungen wegen angeblicher Hexerei verboten 227 . Gegen Entscheidungen des Bezirksamtmannes konnte Berufung beim Landeshauptmann bzw. Gouverneur eingelegt werden; sofern erstinstanzlich ein Häuptlingsgericht geurteilt hatte, zog der Landeshauptmann bzw. Gouverneur Häuptlinge zur Beratung heran 228 . In den Stationsgebieten des wenig erschlossenen Landesinneren blieb die Gerichtsbarkeit der Häuptlinge weitgehend unangetastet, der deutsche Stationsleiter vor Ort hatte jedoch einigen Einfluß auf die Häuptlinge und fungierte als Berufungsinstanz 229.

221

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 66. August Full, Fünfzig Jahre Togo, 1935, S. 101. 223 Jürgen Theres, Die Evolution der politisch-administrativen Strukturen in Togo. Eine Fallstudie zur administrativen Anthropologie, Diss. 1988, S. 98. 22 4 So ζ. B. im westlichen Bezirk Misahöhe, vgl. DKB1. 1901, S. 314/315; vgl. ferner Full, S. 102, der darauf hinweist, daß diese weitgehende Zuständigkeit unter der britischen Mandatsherrschaft anfangs weiterbestand; vgl. im übrigen Ralph Erbar, Ein „Platz an der Sonne"? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 18841914, 1991, S. 56. 222

22 22

5 Erbar, S. 56. 6 Full, S. 102.

22 7 Full, S. 101 /102; vgl. Runderlaß des Gouverneurs, betreffend die Bestrafung der Straftaten der Eingeborenen vom 11. Februar 1907, DKGG 11, S. 93. 228

2

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 67. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 0.

102

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Deutsch-Neuguinea In Deutsch-Neuguinea lag die Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung zunächst, wie schon erwähnt, bei der mit Hoheitsrechten beliehenen Neuguinea-Compagnie (NGC). Wegen der Unerschlossenheit des Schutzgebietes bestand zur Zeit der Herrschaft der NGC keine organisierte Zivilgerichtsbarkeit für die einheimische Bevölkerung 230 . Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege erließ die NGC 1888 eine Rechtsverordnung 231, durch die die Strafgerichtsbarkeit den von der NGC eingesetzten Gerichten übertragen wurde. Im Regelfall bestanden diese Gerichte aus einem Gerichtsvorsteher und einem Gerichtsschreiber, bei schwereren Fällen, bei denen auf Todesstrafe bzw. Gefängnis mit Zwangsarbeit nicht unter 6 Monaten erkannt werden konnte, wurden zwei Beisitzer herangezogen; hierfür konnte der Gerichtsvorsteher den Beamten der jeweiligen Station (Verwaltungsbezirk) oder einen anderen Weißen des Bezirks bestimmen 232 . Diese Organisation der Strafrechtspflege wurde auch nach dem Ubergang der Hoheitsrechte auf das Deutsche Reich 1899 beibehalten und die Strafverordnung der NGC analog angewendet 233 ; der Bezirksamtmann bzw. der Stationsleiter übten nun die Strafgerichtsbarkeit in erster und letzter Instanz aus, nur Todesurteile bedurften der Bestätigung des Gouverneurs und konnten von ihm aufgehoben werden. Auch die Zivilgerichtsbarkeit wurde nunmehr vom Bezirksamtmann oder dem Stationsleiter ausgeübt, sofern es sich nicht um geringe Streitwerte handelte, bei denen die Gerichtsbarkeit bei einheimischen Richtern lag 2 3 4 . Wie in den anderen Schutzgebieten beabsichtigte schon die NGC, aber auch die späteren Gouverneure, die Einheimischen an der Rechtsprechung (und der Verwaltung) in ihren Angelegenheiten zu beteiligen. In Deutsch-Neuguinea war dies jedoch erschwert durch die Tatsache, daß traditionelle Hierarchien bei den überwiegend melanesischen Einheimischen fehlten; die einheimische Bevölkerung gliederte sich in viele zersplitterte Kulturen mit unabhängigen Sprachen und ohne erkennbare, größere Stammesstrukturen 235; das Fehlen eines einheimischen Häuptlings mit ausreichender Autorität verhinderte damit auch die Übertragung beschränkter Gerichtsbefugnisse. Um eine solche einheimische Gerichts- und Verwaltungsstruktur zu etablieren, ging die deutsche Kolonial Verwaltung ab 1901 dazu über, sowohl Verwaltungs- als auch Gerichtsbefugnisse auf bestimmte vertrauenswürdige Einheimische („Regierungshäuptlinge"; sogen. „Luluai" oder „Tultul") zu übertragen, denen zum Zeichen ihrer Autorität ein Amtsstab und eine 230

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 97. Strafverordnung für die Eingeborenen, erlassen von der Neuguinea-Compagnie, am 21. Oktober 1888, DKGG 1, S. 555. 232 Vgl. Köbner, S. 33. 233 Vgl. Kaiserliche Verordnung, betreffend die Übernahme der Landeshoheit über das Schutzgebiet von Neuguinea durch das Reich, vom 27. März 1899, DKB1. 1899, S. 227. 231

234 23

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 97. 5 Hermann Joseph Hiery, Das Deutsche Reich in der Südsee 1900-1921, 1995, S. 115.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

103

Amtsmütze übergeben wurden 236 . In der Folgezeit bewährte sich diese Vorgehensweise, so daß die häufigsten zivilrechtlichen und strafrechtlichen einheimischen Konflikte, sofern sie nicht größere Ausmaße hatten oder Europäer beteiligt waren, ohne Einmischung der Kolonialverwaltung direkt durch die Luluai entschieden wurden 237 . Die Urteile der Luluai hatten sich jedoch auf die Verhängung von traditionellen Gegenleistungen (ζ. B. Wiedergutmachung durch Naturalrestitution, Entschuldigung) und Geldbußen zu beschränken, wobei Strafen in traditionellem Muschelgeld vom Luluai einbehalten werden konnten, Strafen in Mark jedoch an die Kolonialverwaltung abgeliefert werden mußten; die Verhängung von Leibesstrafen (Prügelstrafen) 238 blieb hingegen dem Bezirksamtmann bzw. dem Stationsleiter vorbehalten, bei dem auch Berufung gegen die Urteile des Luluai eingelegt werden konnte. Sowohl die Einsetzung von Luluai als auch die Urteile des Stationsleiters oder Bezirksamtmannes als neutraler Mittler bei den oft verwickelten melanesischen traditionellen Rechtsstreitigkeiten fanden eine hohe Akzeptanz bei der einheimischen Bevölkerung. Marshall-Inseln Auf den Marshall-Inseln entsprach die Gerichtsorganisation für die einheimische Bevölkerung inhaltlich der schon erwähnten Strafverordnung der NGC 2 3 9 , allerdings unterstand die Gerichtsorganisation von vornherein nicht der Jaluit-Gesellschaft, sondern dem Deutschen Reich; die Rechtsprechung wurde daher von den Stationsleitern, nach Einrichtung der Bezirksämter auch vom jeweiligen Bezirksamtmann unter Aufsicht des kaiserlichen Kommissars bzw. des späteren Landeshauptmannes und nach der verwaltungsmäßigen Eingliederung unter Aufsicht des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea ausgeübt240. Palau-Inseln, Marianen, Karolinen Auch auf den 1899 erworbenen Marianen, Karolinen und Palau-Inseln übte der Bezirksamtmann bzw. der Stationsleiter in Zivil- und Strafsachen die Gerichtsbarkeit bei Rechtsstreitigkeiten von Bedeutung aus 241 . Insbesondere auf den Palau-Inseln und den Marianen fällte der Stationsleiter bzw. Bezirksamtmann seine Urteile mit der Unterstützung von einheimischen Beisitzern, da die dortige Bevölkerung der „Chamorro" durch die vorhergehende spanische Kolonisierung auf einer höheren Kulturstufe stand und daher die Tendenz bestand, die Einheimischen „gleich236 Hiery, S. 116. 237 Hiery, S. 117. 238 Siehe unten, A. III. 3. b) bb) (3) 239 Vgl. Kaiserliche Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen im Schutzgebiete der Marshall-Inseln vom 26. Februar 1890, DKGG 1, S. 624; Strafverordnung für die Eingeborenen der Marshall-Inseln, erlassen vom Reichskanzler, vom 10. März 1890, DKGG 1, S. 627. 240 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 99/100. 241 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 103/104.

104

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

berechtigter" zu behandeln; diese Praxis wurde allerdings später von der Kolonialverwaltung wieder eingeschränkt 242. Auf den Marianen, Karolinen und Palau-Inseln sowie auf den Marshall-Inseln 243 wurde die Verwaltungsorganisation der einheimischen Häuptlinge und Oberhäuptlinge ebenso beibehalten wie ihre Gerichtsbarkeit in kleineren Zivilund Strafsachen und die Ausübung der örtlichen Polizeibefugnisse; die Tätigkeit der Häuptlinge stand jedoch weitgehend unter der Aufsicht der deutschen Verwaltungsbeamten, vielfach wurden einheimische Rechtsstreitigkeiten direkt vor den deutschen Verwaltungsbeamten gebracht 244. Samoa In Samoa wurde die Gerichtsorganisation für die einheimische Bevölkerung nach der 1900 erfolgten Übernahme durch die deutsche Verwaltung neu geregelt 2 4 5 . Auf der Hauptinsel Apia unterstanden die Einheimischen in Zivil- und Strafsachen dem auch für die Europäer zuständigen Bezirksrichter nur in den Rechtsstreitigkeiten, für die der durch die Samoa-Konferenz in Berlin am 14 Juni 1889 (siehe oben) eingesetzte Oberrichter zuständig war. Hierbei handelte es sich um Zivil- und Strafrechtssachen zwischen Einheimischen und Europäern. Der Bezirksrichter war ebenfalls bei Verstößen Einheimischer gegen Vorschriften des Munizipalrates von Apia zuständig 246 , bei dem es sich um eine vor der deutschen Inbesitznahme bestehende Vertretung der europäischen Ansiedler in Samoa handelte 247 . Die Zuständigkeit in Strafsachen für Gefängnisstrafen bis zu 6 Monaten und Geldstrafen bis zu 300 Mark (für Straftaten gegen Europäer) wurde auf der Insel Savaii auf den dortigen Stationsleiter delegiert. Für alle übrigen Zivil- und Strafrechtssachen der einheimischen Bevölkerung blieben jedoch die einheimischen Dorfrichter („Faamasino") zuständig; dies betraf auch die im traditionellen samoanischen Rechtsverständnis fundamentalen Vergehen gegen Standes- und Ordnungspflichten 248. Die Faamasino unterstanden der Aufsicht der deutschen Kolonialverwaltung; gegen ihre Urteile war Berufung an den Bezirksrichter oder an den Gouverneur zulässig 249 . 242 Hiery, S. 112. 243 Auf den Marshall-Inseln entsprechend den Schutzverträgen mit den einheimischen Häuptlingen, vgl. Conrad Bornhak, Das Recht der Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten, DKZ 1891, S. 145 (146). 244 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 100, 103/104. 245 Verordnung des Gouverneurs von Samoa, betreffend die Rechtsverhältnisse, vom 1. März 1900, DKB1. 1900, S. 312. 246 Der Munizipalrat erhielt durch die Samoa-Konferenz die Befugnis, bei Verstößen gegen seine Verordnungen Geldbußen von bis zu 200 Dollar und Gefängnisstrafen von bis zu 180 Tagen zu verhängen, vgl. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 107. 247 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 107. 248 Hiery, S. 113/114. 249 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 108.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Tsingtau (Kiautschou) In Kiautschou wurde eine Beteiligung der chinesischen Bevölkerung bei der Rechtsprechung unter Hinweis auf die Bestechlichkeit der damaligen chinesischen Beamten weitgehend vermieden 250 und die Zuständigkeit der deutschen Kolonialbehörden begründet 251. Die deutschen Behörden und Gerichte hatten zur „.. .Erforschung der chinesischen Rechtsanschauungen die chinesischen Dorfältesten oder andere geeignete Persönlichkeiten zu hören" ( § 4 der Verordnung vom 15. April 1899). Das in Strafverfahren anzuwendende Recht bestand aus dem Verordnungsrecht des Gouverneurs, den Tatbeständen des RStGB hinsichtlich der Delikte gegen Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum einschließlich der sog. „Übertretungen" des RStGB, und dem Strafrecht des Chinesischen Reiches (§ 5 der Verordnung); den Zivilprozessen lag das örtliche Gewohnheitsrecht zugrunde (§ 17 der Verordnung). Die Zuständigkeit des Bezirksamtmannes - je nach örtlicher Zuständigkeit der Bezirksämter Tsingtau oder Litsun - bestand erstinstanzlich in Zivilsachen für einen Streitwert von bis zu 250 mexikanischer Dollars (die geltende Währung in Kiautschou) 252 , in Strafsachen für die Verhängung von Freiheitsstrafen von bis zu 3 Monaten, die Verhängung von Geldstrafen von bis zu 500 mexikanischen Dollars, Prügelstrafe oder Ausweisung. Für alle übrigen erstinstanzlichen Straf- und Zivilsachen war der Kaiserliche Richter (der auch für die Europäer zuständige Richter) zuständig. Der Kaiserliche Oberrichter war zuständig als Berufungsinstanz gegen die Urteile des Bezirksamtmannes, sofern in Zivilsachen der Wert des Streitgegenstandes 150 mexikanische Dollars überstieg und in Strafsachen auf Freiheitsstrafe von mehr als 6 Wochen oder Geldstrafe von über 250 mexikanische Dollars erkannt worden war 2 5 3 . Todesurteile bedurften der Bestätigung durch den Gouverneur (§14 der Verordnung). Bei Mischprozessen zwischen Chinesen und Europäern bestand die Zuständigkeit des Kaiserlichen Richters, der das für Nichtchinesen geltende Recht (d. h. das deutsche Recht) auch auf Chinesen anzuwenden hatte (§ 1 der Verordnung). Eine gewisse Beteiligungsmöglichkeit der chinesischen Bevölkerung an der Rechtsprechung bot das „chinesische Komitee", das bei der Schlichtung streitiger Handelssachen zwischen Chinesen und in Fragen des chinesischen Familien- und Erbrechts tätig werden konnte 254 .

250

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 136/137. Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Rechtsverhältnisse der Chinesen, vom 15. April 1899, DKGG 4, S. 191. 252 Siehe unten, A. III. 3. a) cc) (4); zwischen 1900 und 1910 entsprach ein mexikanischer Silberdollar ca. 2 Mark, vgl. Huang, S. 314. 253 Überblick bei Friedrich Wilhelm Mohr (Hrsg.), Handbuch für das Schutzgebiet Kiautschou, 1911, S. 71; vgl. auch v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 136/137. 24 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 1 3 . 251

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht dd) Sonderfall: die Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die - auch im Deutschen Reich noch wenig entwickelte und vor allem nicht vollständig von der Verwaltung getrennte 255 - Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Schutzgebieten wurde gemäß §§3 SGG, 23 Abs. 2 KGG ebenso wie bei der Konsulargerichtsbarkeit durch den Bundesrat in erster und letzter Instanz ausgeübt. Verwaltungsrechtsmittel und Verwaltungsgerichte existierten in den Schutzgebieten nicht 2 5 6 ; aufgrund der kaiserlichen Verordnung vom 14. Juli 1905 257 bestand jedoch die Möglichkeit von Rechtsbehelfen bei Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung. Demnach konnte gegen Vollstreckungsmaßnahmen des Bezirksamtmannes Beschwerde beim Gouverneur eingelegt werden, bei Maßnahmen des Gouverneurs Beschwerde beim Reichskanzler 258.

3. Einzeldarstellungen: Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht Im folgenden werden zunächst die Regelungen ausgewählter Rechtsgebiete in den Schutzgebieten für Europäer und Einheimische - jeweils dem Zivilrecht, dem Strafrecht oder dem Öffentlichen Recht zugeordnet - dargestellt. Hierbei wird auch auf rechtliche Besonderheiten einzelner Schutzgebiete eingegangen, die von der eingangs beschriebenen Systematik des geltenden Rechts abwichen. Diese Besonderheiten werden im vorliegenden Abschnitt hinsichtlich der Rechtsordnung sowohl für die Europäer, als auch für die einheimische Bevölkerung dargestellt.

a) Das geltende Recht für Europäer aa) Zivilrecht

(1) Das geltende Recht bei „Mischehen" Zu der am heftigsten diskutierten Frage des Kolonialrechts gehörte in den Jahren bis 1914 das Problem der Zulässigkeit von Eheschließungen zwischen Deutschen und Einheimischen. Allgemein wurden die als solche bezeichneten „Mischehen" 255 Vgl. § 13 GVG, der bei Verwaltungsrechtsstreitigkeiten die Verwaltungsbehörden und die Verwaltungsgerichte als zuständig erwähnt; die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichte von den Verwaltungsbehörden ist heute in Deutschland gemäß § 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) von 1960 garantiert. 256

v. Hoffmann , Gerichtsverfassung, S. 22/23. Kaiserliche Verordnung betreffend die Zwangs- und Strafbefugnisse der Verwaltungsbehörden in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee vom 14. Juli 1905, DKGG 9, S. 169. 258 Vgl. § 16 der Kaiserlichen Verordnung, betreffend Zwangs- und Strafbefugnisse der Verwaltungsbehörden in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee vom 14. Juli 1905, DKGG 9, S. 169. 257

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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und die damit verbundene Bildung einer Mischlingsbevölkerung als unerwünscht angesehen, da man, dem Geist jener Zeit entsprechend, von der Überlegenheit der weißen Rasse ausging und eine wirksame Mischehe die rechtliche Gleichstellung der Abkömmlinge mit sich gebracht hätte 259 . Nach einer teilweise vertretenen Ansicht in der Rechtslehre konnten keine rechtswirksamen Mischehen zustande kommen, da jede Bevölkerungsgruppe ihr eigenes Recht und demzufolge auch ihre eigene Form der Eheschließung habe und eine Eheschließungsform für eine Mischehe nicht existiere 260 . Diese Ansicht stützte sich auf die Tatsache, daß es vor 1874 in Preußen keine für Christen und Juden gemeinsame Eheschließungsform gab, Christen und Juden also keine Ehe schließen konnten. Sie argumentierte weiterhin, daß das gemäß § 7 Abs. 1 Schutzgebietsgesetz (SGG, vgl. Anhang II) anwendbare Eherecht des Gesetzes vom 4. Mai 1870 261 (standesamtliche Trauung, Grundsatz der obligatorischen Zivilehe) nur für Eheschließungen von Europäern untereinander, gemäß § 7 Abs. 3 SGG jedoch nicht für „Eingeborene", also Einheimische, anzuwenden war. Eine kaiserliche Verordnung, die gemäß § 7 Abs. 3 SGG das im Reich geltende Eherecht auch auf die als „Eingeborene" bezeichneten Bevölkerungsgruppen als anwendbar hätte erklären können, war nicht erlassen worden. Europäer sollten daher die Ehe nur nach dem erwähnten Gesetz vom 4. Mai 1870, Einheimische nur nach ihrem eigenen Stammesrecht schließen können 262 . Nach einer anderen Ansicht war § 7 Abs. 3 SGG so auszulegen, daß die Einheimischen lediglich von der Pflicht entbunden waren, die Formvorschriften nach dem Gesetz vom 4. Mai 1870 einzuhalten, was nicht ihre Berechtigung ausschloß, eine Ehe auch nach den Formvorschriften des europäischen Eherechts einzugehen. Da § 7 Abs. 3 SGG kein Verbot für den Standesbeamten beinhaltete, eine Ehe zwischen Europäern und Einheimischen oder zwischen Einheimischen abzuschließen, konnten demnach - vor dem örtlichen Standesbeamten - auch rechtswirksame Ehen zwischen Europäern und Einheimischen geschlossen werden 263 . Mischehen könnten dann nur verhindert werden, wenn es dem Standesbeamten - wie im September 1905 in Deutsch-Südwestafrika geschehen - von seiner vorgesetzten Be259

Sehr deutlich zur Unzulässigkeit von Mischehen: Schreiber, Zur Frage der Mischehen zwischen Weißen und Eingeborenen im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika, ZfK (11) 1909, S. 88 (89/90): „.. .Zwischen dem Weißen und seiner schwarzen Frau oder Konkubine fehlt jede geistige Gemeinschaft und jede Grundlage, auf der sie allmählich aufgebaut werden könnte. Der Schwarzen fehlt jedes Verständnis dafür, wie dem Manne das Leben im Hause verschönert und angenehm gemacht werden könnte, die Frau fühlt sich zu ihren Familiengliedern und Stammesgenossen hingezogen, hält mit ihnen Verbindungen aufrecht, zieht ihren Mann zu ihren und ihres Volkes Anschauungen herunter und entfremdet ihn seinem Volk und Vaterlande." 2 60 v. Hoffmann, Die Mischehenfrage, DKZ 1909, S. 793; ders.: Einführung in das deutsche Kolonialrecht, Leipzig, 1911, S. 178; ähnlich wohl auch: Franz - Josef Sassen: Das Personenstandsrecht in den deutschen Kolonien, ZfK (12) 1910, S. 297 (299). 261 Bundesgesetzbl. 1870, S. 599, RGBl. 1896, S. 614. 262

v. Hoffmann, Mischehenfrage, S. 794. 263 Schreiber, S. 93.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

hörde, dem Gouverneur, verboten wurde, die Ehe zwischen einem Europäer und einem Einheimischen zu schließen264. Da die rechtliche Wirksamkeit solcher Verbote nicht unumstritten waren, wurde eine gesetzliche Regelung als erforderlich angesehen265. Das überzeugendste Argument für die Möglichkeit von wirksamen Mischehen war jedoch die Tatsache, daß auch anderen Rechtsgeschäften zwischen Europäern und Einheimischen wie Kauf- oder Tauschhandel, Miet- oder Arbeitsverträge die Wirksamkeit - auch in formaler Hinsicht - nicht abgesprochen wurde, obwohl es sich auch hier um „Misch"- Rechtsgeschäfte handelte 266 . Diese Argumentation entsprach der Realität, da Rechtsgeschäfte zwischen den Bevölkerungsgruppen an der Tagesordnung waren und ihre Unwirksamkeit allein aus formalen Gründen schwer nachvollziehbar gewesen wäre. Eine soziale Mißachtung der Mischehen bedeutete noch keine rechtliche Mißachtung 267 , auch wenn die eingangs erwähnte Ansicht mit dem Argument der formellen Unwirksamkeit eine solche rechtliche Mißachtung konstruieren wollte. Im Ergebnis tendierte die Mehrheit in dar Literatur dahin, Mischehen als zulässig anzusehen, solange der Kolonialgesetzgeber (d. h. Kaiser oder Reichskanzler) kein Verbot ausgesprochen hatten 268 , was bis 1914 nicht gesehen war. Die Frage der Mischehen hatte beträchtliche rechtliche Relevanz, denn eine wirksame Eheschließung zwischen einem deutschen Mann und einer einheimischen Frau (der umgekehrte Fall ist nicht dokumentiert 269 ) hätte zur Folge gehabt, daß gemäß § 25 des Gesetzes von 1. Juni 1870 270 die einheimische Frau mit der Eheschließung die Staats- und Bundesangehörigkeit des Mannes erworben und folglich auch die (Mischlings)- Kinder diese Staatsangehörigkeit und damit auch das Heimatrecht in einer deutschen Gemeinde erhalten hätte 271 . Da in diesem Fall auch das deutsche Erbrecht auf die einheimische Frau anwendbar war, wurde ferner befürchtet, daß der Grundbesitz deutscher Farmer durch Erbfall an die ein264 In der Folgezeit wurde dieses Eheschließungsverbot - rechtsstaatlich bedenklich auch rückwirkend auch schon auf schon geschlossene Ehen angewendet; ein ähnliches ausdrückliches Eheschließungsverbot wurde außer in Deutsch-Südwestafrika nur noch im Januar 1912 in Samoa eingeführt, allerdings nicht rückwirkend und daher wegen der Kürze des Zeitraumes bis zur militärischen Besetzung im Herbst 1914 kaum von Bedeutung, vgl. Gründer, S. 231/232. 2 65 Schreiber, S. 93. 2 66 Fleischmann, Die Mischehenfrage, ZfK (12) 1910, S. 83 (85). 267

Fleischmann, S. 86. Fleischmann, S. 87. 2 *9 Schreiber, S. 93/94. 268

270 Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, Bundesgesetzbl. 1870, S. 355, RGBl. 1896, S. 615 und Triepel, S. 74. 271 Vgl. Rudolf A. Hermann, Mischehen und Grundeigentum in Deutsch-Südwestafrika, ZfK (8) 1906, S. 134 (137), der als Konsequenz eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorschlug (vgl. S. 140).

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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heimische Ehefrau und damit wieder an die einheimische Bevölkerung fallen könnte 272 . Die tatsächliche Relevanz dieser Frage war geringer; so gab es in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1903 nur ca. 40 Mischehen, während die Zahl der Eheschließungen mit deutschen Frauen - wohl aufgrund der staatlich geförderten Zuwanderung deutscher Frauen in die Schutzgebiete - stetig zunahm 273 .

(2) Das Personenstandsrecht Ergänzend hierzu soll das mit der Frage der Eheschließung verknüpfte Personenstandsrecht in den Schutzgebieten dargestellt werden. Wie schon erwähnt, richtete sich das materielle Personenstandsrecht nach den Vorschriften des Gesetzes vom 4. Mai 1870, auf das § 7 Abs. 1 SGG verwiesen hatte. Die Zuständigkeit der Kolonialbehörden bzw. einzelner Kolonialbeamten für die Wahrnehmung der Aufgaben des Standesbeamten wurde gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGG durch eine Ermächtigung des Reichskanzlers begründet (eine gleichlautende Ermächtigung enthielt auch das SGG von 1886). Dies geschah zunächst dadurch, daß im Wege von Einzelverfügungen Kolonialbeamten der Aufgabenbereich eines Standesbeamten zugewiesen wurde 274 ; erst durch Verfügung des Reichskanzlers vom 27. März 1908 275 wurde mit Wirkung ab 1. Januar 1909 eine einheitliche Regelung für alle Schutzgebiete getroffen. Demnach bestand grundsätzlich eine Ermächtigung der Bezirksrichter zur Ausübung der Aufgaben eines Standesbeamten für ihren jeweiligen Gerichtsbezirk. In den weniger erschlossenen und von den Bezirksrichtern entfernten Gebieten des Landesinneren lag die Zuständigkeit bei den Bezirksamtmännern, den Stations- oder Distriktschefs oder den Residenten. Als Besonderheit war in Deutsch-Neuguinea ein vom Reichskanzler besonders ermächtigter Standesbeamter in dem Ort Finschhafen (auf Kaiser-Wilhelms-Land, nordöstlicher Teil der Insel Neuguinea) für einen besonders abgegrenzten Bezirk zuständig 276 . In Kiautschou lag die Ermächtigung für die Tätigkeit des Standesbeamten nach dem Erlaß vom 21. Januar 1901 277 bei dem kaiserlichen Zivilkommissar und für den Fall seiner Verhinderung beim kaiserlichen Richter.

272

Vgl. Hermann, S. 141, der zur Lösung allerdings vorschlug, daß deutsche Farmer ihr Land von der Kolonialverwaltung (zum Grundstücksrecht siehe unten) nur unter den Voraussetzungen eine Heimfallklausel dergestalt erwerben sollten, daß das erworbene Land im Falle von „gemischtrassigen" Nachkommen an die Kolonialverwaltung zurückfallen sollte. 27 3 Vgl. die Statistiken bei Hermann, S. 138/139. 274

Franz-Josef Sassen, Das Personenstandsrecht in den deutschen Kolonien, ZfK (12) 1910, S. 297 (298). 27 5 DKB1. 1908, S. 372; für Kiautschou vgl. Erlaß des Reichskanzlers vom 21. Januar 1901, DKGG 6, S. 572. 27 6 Sassen, S. 303. 277

Erlaß des Reichskanzlers vom 21. Januar 1901, DKGG 6, S. 572.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

(3) Das Grundstücksrecht Grundlage des Grundstücksrechts in den Schutzgebieten war nicht die abgeleitete Geltung des deutschen Grundstücksrechts gem. § 3 SGG in Verbindung mit § 19 Konsulargerichtsgesetz (KGG) 2 7 8 ; sondern die Ermächtigung zur Regelung durch kaiserliche Verordnung gem. §§3 SGG, 21 KGG. Wie § 3 der kaiserlichen Verordnung von 9. November 1900 279 klarstellte, hatten kaiserliche Verordnungen zur Regelung des Grundstücksrechtes und des Rechtes am Bergwerkseigentum Vorrang. Maßgeblich war demzufolge die kaiserliche Verordnung vom 21. November 1902 280 sowie die Verfügung des Reichskanzlers zur Ausführung dieser Verordnung vom 30. November 1902 281 . Grundsätzlich galt gemäß dieser Verordnung für Grundstücke europäischer wie auch einheimischer Eigentümer das Grundstücksrecht des BGB, für Grundstücke von Einheimischen aber nur, wenn diese in ein Landregister eingetragen wurden oder ein Grundbuchblatt angelegt wurde 282 . Dies wurde faktisch jedoch nur für den kleinen Teil der Einheimischen relevant, die in näheren Kontakt mir Europäern traten; bei dem überwiegenden Teil der einheimischen Bevölkerung fehlte es hinsichtlich ihres Grundbesitzes an einer katastermäßigen Vermessung als Grundlage für eine Eintragung in ein Grundbuchblatt. Ob das Grundstück eines Einheimischen schließlich eingetragen werden durfte, unterlag der Entscheidung des jeweiligen Gouverneurs 283. Wegen des Fehlens einer ausreichenden Landvermessung kam die Einführung des deutschen Grundbuchsystems, abgesehen von einigen Stadtbezirken, nur sehr langsam voran 284 . Daher regelte die kaiserliche Verordnung von 1902 die Einrichtung von Landregistern, die die Eintragung des Eigentums nur dann vorsahen, wenn es auf einem Neuerwerb beruhte (Zusammenstellung der Beurkundungen über den Grundstückserwerb zu einem Landregister, sogen. Immatrikulationssystem) 285 . Das System des Landregisters entstand ursprünglich in Australien und wurde dort 1857 durch Sir Robert Torrens 286 eingeführt (daher auch Torrens-Sy-

278

Siehe Anhang II. RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318 - siehe Anhang II. 28 0 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Rechte an Grundstücken in den deutschen Schutzgebieten, vom 21. November 1902, DKB1. 1902, S. 563. 28 1 Verfügung des Reichskanzlers zur Ausführung der Kaiserlichen Verordnung vom 21. November 1902, DKB1. 1902, S. 568. 279

282

In den Schutzgebieten wurde z.T. schon vor der Geltung der Grundbuchordnung von 1897 mit der Anlage von Grundbüchern begonnen, so ζ. B. 1888 in Kamerun, vgl. Heinrich Krauss, Die moderne Bodengesetzgebung in Kamerun 1884-1964, 1966, S. 66. 283 v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 198. 284 für Kamerun ζ. B. vgl. Krauss, S. 67. 28 5 Krauss, S. 65. 286

Sir Robert Torrens war zu jener Zeit Registerführer in Südaustralien, vgl. Krauss, S. 66.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

111

stem genannt) 287 ; dieses System erwies sich als ideal für wenig erschlossene Gebiete, also den überwiegenden Teil der Kolonien im 19. Jahrhundert, da Grundstücke auch ohne die aufwendige und langwierige Landvermessung registriert werden konnten. Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß bei einer Registrierung im Landregister nach der kaiserlichen Verordnung von 1902 auch Rechtsformen einheimischen Ursprungs eingetragen werden konnten 288 . Die Tatsache, daß die meisten Grundstücke der Einheimischen unregistriert blieben, führte dazu, daß für sie weiterhin ihr Stammesrecht galt; die bestehenden Eigentumsverhältnisse, bei denen es sich in der Regel um Eigentumsrechte von Häuptlingen oder Dorfgemeinschaften handelte, wurden von der Kolonialverwaltung respektiert 289 (vgl. auch unten A. III. 3. b) aa) (3). Für die Grundstücke der Europäer war nach Maßgabe der kaiserlichen Verordnung von 1902 290 das deutsche Grundstücksrecht anwendbar. Es bestanden jedoch einige Abweichungen vom deutschen Recht; so war - wegen der schlechten Verkehrsverhältnisse in den Schutzgebieten - gemäß § 3 der kaiserlichen Verordnung von 1902 bei der Auflassung die gleichzeitige Anwesenheit beider Parteien (abweichend von § 925 Abs. 1 BGB) nicht erforderlich; ferner konnten gemäß § 4 der Verordnung im Grundbuch einzutragende Geldbeträge in der im Schutzgebiet geltenden Währung (in einigen Schutzgebieten bestand eine andere Währung als Mark, vgl. unten A. III. 3. a) cc) (4) angegeben werden. Der weitaus größte Anteil an der Fläche der Schutzgebiete bestand aus „herrenlosem" Land, d. h. aus überwiegend unerschlossenen Urwald-, Sumpf- und Gebirgsgebieten. Hierzu zählte auch Land, das von der einheimischen Bevölkerung nur sporadisch genutzt wurde und daher ebenfalls als herrenlos angesehen wurde. Dieses Land wurde durch kaiserliche Verordnungen („Kronlandverordnungen") 291 zum „Kronland" erklärt. Die Erklärung dieser Gebiete zum Kronland hatte ein Aneignungsrecht für das Deutsche Reich zum Inhalt mit der Möglichkeit des Eigentumserwerbes durch die Kolonialverwaltung für das Reich 292 . Für die Ermittlung und Feststellung des herrenlosen Landes waren in Deutsch-Ostafrika und Kamerun spezielle Landkommissionen, in Togo der Bezirksamtmann und in Deutsch-Neuguinea ein besonderer Beauftragter des Gouverneurs nach vorheriger örtlicher Be287 vereinzelt wird als Ursprung des Torrens-Systems wiederum die preußische Hypothekengesetzgebung angesehen, vgl. v. Hoffmann, Einführung, S. 194. 288 Hiervon ist jedoch nie Gebrauch gemacht worden, vgl. Krauss, S. 67. 289 V. Hoffmann, Einführung, S. 195. 290 Kaiserliche Verordnung vom 21. November 1902, DKB1. 1902, S. 563. 291 Ζ. B. für Deutsch-Ostafrika kaiserliche Verordnung vom 26. November 1895, DKGG 2, S. 200; für Kamerun kaiserliche Verordnung vom 15. Juni 1896, DKGG 2, S. 232; ähnliche Verordnungen ergingen auch für Togo, Deutsch-Neuguinea, die Karolinen, Marianen und Palau-Inseln; für Deutsch-Südwestafrika wurde von einem Aneigunungsrecht des Fiskus abgesehen. Für die Marshall-Inseln, Samoa und Kiautschou hatte die Frage keine Relevanz, da kein herrenloses Land existierte; vgl. v. Hoffmann, Einführung, S. 200. 292 Krauss, S. 47.

112

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

sichtigung zuständig 293 . Streitigkeiten und Unklarheiten, ob es sich um herrenloses Land, Land von Einheimischen oder Europäern handelte, kamen häufig vor und mußten im Rahmen der Feststellung der „Herrenlosigkeit" geklärt werden 294 . Statt der Aneignung durch die Schutzgebietsverwaltung konnte das Kronland auch im Wege einer Konzessionsvergabe an Landgesellschaften vergeben werden, die das Land zum Eisenbahnbau und zur Anlage von Minen, Siedlungen oder Plantagen benötigten; eine Praxis, die die Entwicklung der Schutzgebiete jedoch nicht nachhaltig förderte, da die Landgesellschaften oft die notwendigen Investitionen nicht durchführen wollten, so daß die Kolonialverwaltung dazu überging, die Konzessionen durch Verträge mit den Landgesellschaften, vereinzelt auch durch Konzessionsentzug, wieder einzuschränken 295. Eine besondere Regelung des Grundstücksrechts fand sich in Kiautschou. Schon am Tage der Besetzung von Kiautschou, dem 14. November 1897, erließ der deutsche Oberbefehlshaber der deutschen Marine in Ostasien, Admiral von Diederichs, ein Verbot jeglicher Veräußerung von Grundeigentum ohne Genehmigung des Gouverneurs. Geplant war, mit dieser Maßnahme den Ankauf von Land durch die deutsche Verwaltung zu ermöglichen; mit dem privatrechtlichen Erwerb von Kiautschou sah man eine Möglichkeit, den unklaren völkerrechtlichen Zustandes abzusichern 296. Mit dieser Maßnahme sollte aber auch die Bodenspekulation von Anfang an verhindert werden und die Grundlage zur Verwirklichung der zu jener Zeit auch im Deutschen Reich diskutierten Bodenreform gelegt werden. Grundgedanke der deutschen Bodenreformbewegung, die von dem Bodenreformer Adolf Damaschke inspiriert wurde, war der Gedanke, daß der Wertzuwachs von Grund und Boden unverdient war und daher durch staatliche Besteuerung abgeschöpft werden müsse; dieser Wertzuwachs könne dann dem Gemeinwohl zugeführt werden 297 . Zu den Anhängern der sozialen Ziele der Bodenrechtsreform gehörten neben Bismarck auch der damalige Staatssekretär des Reichsmarineamtes, von Tirpitz 2 9 8 , aber auch Admiral von Diederichs selbst 299 . Zur Verwirklichung dieser Ziele wurde daher nicht nur der - wegen des Mangels ausreichender Geldmittel zunächst schleppend vorangehende - Landerwerb durch die Kolonialverwaltung sowie der Erwerb von Vorkaufsrechten durchgeführt, sondern schon am 2. September 1898 eine „Landordnung" durch den Gouverneur erlassen 300, die später unwe293 v. Hoffmann, Einführung, S. 200. 294

Zu den besonderen Schwierigkeiten, die sich aus der fehlenden Erschließung von Deutsch-Neuguinea ergaben, vgl. Albert Hahl, Deutsch-Neuguinea, 1936, S. 26. 2 95 v. Hoffmann, S. 197. 296 Mechthild Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou Die Expansion des Deutschen Reiches in China Eine Quellensammlung, bearbeitet von Klaus Mühlhahn, 1997, S. 173. 297 Ekkehard Lindner, Zum Beispiel Kiautschou. Ein Diskussionsbeitrag zur immer dringender erforderlichen Bodenrechtsreform, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, 51. Folge, 17. Jahrgang, 1981, S. 18(19). 298 Lindner, S. 18 (19). 299

Leutner, S. 175, Fn. 28.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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sentlich modifiziert wurde 301 . Die Regelungen dieser Landordnung wurden überwiegend durch den Bodenreformer Wilhelm L. Schrameier geprägt, der seit 1898 in Kiautschou als Dolmetscher, später (bis 1909) als Kommissar für chinesische Angelegenheiten im Rang eines Admiralitätsrates tätig war 3 0 2 . Zu den Grundzügen der Landordnung 303 gehörte, daß das Gouvernement von den chinesischen Eigentümern sämtlichen Grund und Boden zu den vor der 1897 erfolgten militärischen Besetzung üblichen Preisen erhalten sollte. Das so erworbene Land sollte durch öffentliche Versteigerungen an private Interessenten veräußert werden; diese konnten das Land jedoch nur dinglich belastet mit einem Vorkaufsrecht zugunsten des Gouvernements erwerben 304. Weiterhin wurde auf jedes Grundstück eine Grundsteuer von 6% erhoben (siehe unten A. III. 3. a) cc) (3) 3 0 5 . Um die Nutzung sicherzustellen, hatte der Grundstückserwerber vorher in einem allgemeinen Benutzungsplan die genaue Verwendung des Landes anzugeben, wobei in den meisten Fällen eine Bebauung geplant war 3 0 6 . Unterließ der Erwerber die bestimmungsgemäße Nutzung, erhöhte sich die jährliche Grundsteuer von bisher 6% des Kaufpreises auf 9% und um weitere 3% alle drei Jahre bis auf höchstens 24% 3 0 7 . Die weitreichendste Maßnahme zur Verhinderung der Bodenspekulation war jedoch die Einführung einer Wertzuwachssteuer in Höhe von 33 1 /3% des Reingewinns bei Veräußerung durch den Grundstückseigentümer (siehe unten A. III. 3. a)cc)(3) 3 0 8 . Im Ergebnis wirkte sich die Landordnung positiv für die Entwicklung des Schutzgebietes aus und ermöglichte mit den weitgehenden staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten, der Aufstellung von Bebauungsplänen und der Errichtung von Stra-

300 Verordnung, betreffend den Landerwerb in dem deutschen Kiautschougebiete, vom 2. September 1898, DKGG 5, S. 198 ff. 301 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Rechte an Grundstücken im Kiautschougebiete, vom 30. März 1903, DKGG 7, S. 299; Verordnung des Gouverneurs über Abänderung und Ergänzung der Verordnung, betreffen die Rechte an Grundstücken im Kiautschougebiete vom 31. Dezember 1903, DKGG 7, S. 312; Verordnung des Gouverneurs, betreffend LandÜbertragungen unter der chinesischen Bevölkerung in dem deutschen Kiautschougebiete, vom 5. Mai 1904, DKGG 8, S. 280. 302 Lindner, S. 18; Leutner, S. 497. 303 Grundlegend: Wilhelm L. Schrameier, Aus Kiautschous Verwaltung - Die Land,Steuer- und Zollpolitik des Kiautschougebietes, 1914, S. 9 ff.; Lindner, S. 19. 304 Vgl. § 6 Abs. 3 der Landordnung vom 2. September 1898, DKGG 5, S. 198, und § 5 der Verordnung vom 30. März 1903, DKGG 7, S. 299. 305 Vgl. § 8 der Landordnung vom 2. September 1898, DKGG 5, S. 198. 306 Vgl. § 3 Abs. 2 der Landordnung vom 2. September 1898; vgl. Hans Weicher, Kiautschou - Das deutsche Schutzgebiet in Ostasien, 1908, S. 104. 307 Vgl. Verordnung vom 31. Dezember 1903, DKGG 7, S. 312; Weicker, S. 104. 308 Vgl. § 6 der Landordnung vom 2. September 1898; Lindner, S. 19, v. Hoffmann, Einßhrung, S. 203. 8 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

ßen, Wasserversorgung und Kanalisation eine moderne städtebauliche Entwicklung der Stadt Tsingtau (Qingdao) 309 . Die Landordnung bildete damit die Grundlage der heutigen Großstadt Qingdao.

(4) Das Bergrecht Ebenso wie das Grundstücksrecht konnte gemäß § 3 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 auch das (private) Bergrecht (Recht des Bergwerkseigentums) durch kaiserliche Verordnung geregelt werden. Die Regelung durch eigenes Schutzgebietsrecht im Wege der kaiserlichen Verordnung wurde als sinnvoll angesehen, da wegen der besonderen Verhältnisse in den Schutzgebieten die Anwendung des deutschen Bergrechts, insbesondere des preußischen Berggesetzes, nicht sinnvoll war 3 1 0 . Das Bergrecht in den Schutzgebieten wurde für Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo und Deutsch-Neuguinea durch kaiserliche Verordnung vom 27. Februar 1906 311 und für Deutsch-Südwestafrika durch kaiserliche Verordnung vom 8. August 1905 312 inhaltlich überwiegend übereinstimmend geregelt. Als Gegenstände der Bergbauberechtigung sahen diese Verordnungen neben Edelmetallen (Gold, Silber, Platin), Edelsteinen (ζ. B. Diamanten), Halbedelsteinen und allen anderen Metallen (ζ. B. Eisen, Kupfer) auch andere Mineralien wie Glimmer, Bitumen (Erdöl und Asphalt), Kohle und Salz vor. Grundsätzlich bestand Bergbaufreiheit für das gesamte Gebiet des Schutzgebietes, allerdings nur für Europäer, nicht jedoch für die einheimische Bevölkerung 313 . Große Gebiete wurden jedoch wieder von der Bergbaufreiheit ausgeschlossen und in diesen entweder aus polizei- und ordnungrechtlichen Gründen der Bergbau ganz untersagt (ζ. B. auf öffentlichen Liegenschaften) oder die Bergbauberechtigung im Wege der Konzession einer privaten Bergbaugesellschaft überlassen. In den Gebieten mit Bergbaufreiheit entstand die Bergbauberechtigung mit der Entdeckung der jeweiligen Bodenschätze 309 So auch Leutner, S. 175/176; die moderne städtebauliche Entwicklung von Tsingtau hatte vor allem die Interessen der deutschen Bevölkerung zum Ziel; Verbesserungen für die chinesische Bevölkerung - so insbesondere die Sicherstellung „europäischer" Hygienestandards durch die Einrichtung einer modernen Wasserversorgung, Kanalisation und Müllbeseitigung sowie eine bessere medizinische Versorgung durch die Einrichtung von „Chinesenkliniken" (um die Ausbreitung von Epidemien zu verhindern) war nur ein Nebenprodukt der deutschen Stadtentwicklung, vgl. Huang, S. 208 ff., 301. aio v. Hoffmann, Einführung, S. 207. 311

Kaiserliche Bergverordnung für die afrikanischen und Südseeschutzgebiete mit Ausnahme von Deutsch-Südwestafrika vom 27. Februar 1906, DKGG 10, S. 36. 312 Kaiserliche Bergverordnung für Deutsch-Südwestafrika vom 8. August 1905, DKGG 9, S. 221. 313 Die Kaiserliche Bergverordnung für Deutsch-Südwestafrika vom 8. August 1905, DKGG 9, S. 221, sprach beispielsweise in § 10 davon, daß das Schürfen „.. .einem jedem gestattet sei", in § 2 Abs. 2 der Verordnung („Allgemeine Vorschriften") wurde jedoch klargestellt, daß Angehörige der einheimischen Bevölkerung ein Schürfrecht nur mit Ermächtigung des Gouverneurs erwerben konnten.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

115

unabhängig von den Eigentumsverhältnissen des Schürfgebietes. Voraussetzung für die Erklärung zum Bergwerkseigentum war die Erklärung des Schürfgebietes zum Bergbaubezirk; danach war das Schürfgebiet abzustecken, die Belegung in das Schürfregister einzutragen und das Schürfrecht durch Einigung mit dem Grundstücksberechtigten (in der Regel die Schutzgebietsverwaltung, da es sich meistens um Kronland handelte) auf den Schürfer zu übertragen 314. Für Kiautschou erfolgte eine abweichende Regelung des Bergrechts in der Verordnung des Reichskanzlers vom 16. Mai 1903, die dem Schutzgebietsfiskus ein ausschließliches Schürfrecht für Mineralien einräumte und damit private Schürfberechtigungen ausschloß315.

(5) Das Urheber-, Warenzeichen- und Patentrecht in den Schutzgebieten Bis zum Inkrafttreten der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 am 1. Januar 1901 war die Anwendbarkeit des deutschen Urheber-, Warenzeichenund Patentrechts in den Schutzgebieten strittig. Da eine in § 3 SGG i.V.m. der Ermächtigungsvorschrift des § 22 KGG vorgesehene kaiserliche Verordnung hinsichtlich der Anwendung in den Schutzgebieten zunächst nicht ergangen war, wurde die Anwendbarkeit des reichseinheitlich geregelten Urheber-, Warenzeichenund Patentrechts dadurch ermöglicht, daß diese Rechtsgebiete dem Zivilrecht zugeordnet wurden, so daß sie über die Verweisung des § 19 Nr. 1 KGG Eingang in die Rechtsordnung der Schutzgebiete fanden 316 . Durch § 4 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 wurde die Frage eindeutig geklärt und die Anwendbarkeit dieser Rechtsgebiete ab 1. Januar 1901 in den Schutzgebieten normiert. Damit wurden in Urheber- und patentrechtlicher Hinsicht die Schutzgebiete als Teil des Deutschen Reiches angesehen mit der Folge, daß die Ausübung des Patents schon bei einer ausschließlichen Verwertung im Schutzgebiet als vollzogen anzusehen war 3 1 7 . Demgegenüber hatte der in den Schutzgebieten ansässige Inhaber eines Patentrechts weiterhin die Verpflichtung, einen Vertreter mit Wohnsitz im Deutschen Reich zwecks Wahrnehmung seiner Interessen gegenüber dem Patentamt zu bestellen; hier stand der Gedanke im Vordergrund, die in der großen Entfernung begründeten langen Postwege und Reibungsverluste zu vermeiden, die bei den Schutzge314

Zusammenfassend: v. Hoffmann, Einführung, S. 208-213. 315 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend das Bergwesen im Kiautschougebiete, vom 16. Mai 1903, DKGG 7, S. 306, erlassen aufgrund der Ermächtigung gemäß § 3 der kaiserlichen Verordnung von 9. November 1900. 316 Überblick bei Ewald Lüders, Die Anwendung des deutschen Urheber- und Erfinderrechts in den Schutzgebieten, in: Abhandlungen und Mitteilungen aus dem Seminar für Öffentliches Recht und Kolonialrecht, Heft 4, 1914, S. 1 ff. 317 W. Zimmerstädt, Die Stellung der Kolonien bzw. Schutzgebiete im Industrierecht, ZfK (13) 1911, S. 605. *

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

bieten ebenso gegeben waren wie bei Patentrechtsinhabern im übrigen Ausland 318 . Die praktische Relevanz dieses Problems war allerdings gering, da zwischen 1877 und 1910 für im Schutzgebiet ansässige Erfinder nur insgesamt 7 Patente erteilt wurden 319 .

bb) Straf recht

(1) Die eingeschränkte Geltung des RStGB und des Nebenstrafrechts Aus der Verweisung des § 3 SGG auf § 19 Nr. 2 KGG ergab sich, daß grundsätzlich das gesamte materielle Strafrecht des Deutschen Reiches, insbesondere also das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB), auch in den Schutzgebieten galt. Gemäß § 3 SGG, § 20 KGG war jedoch von der Anwendung dann abzusehen, wenn die betreffende Rechtsnorm „...Einrichtungen und Verhältnisse voraussetzten...", die in den Schutzgebieten fehlten. Dies war besonders für die Tatbestände der Übertretungen des RStGB (die ungefähr den heutigen Ordnungswidrigkeiten entsprechen) relevant 320 . Demnach konnte eine Übertretung der Polizeistunde gemäß § 365 RStGB in den Schutzgebieten nicht verfolgt werden, sofern dort eine Regelung der Polizeistunde nicht stattgefunden hatte, eine Störung der Sonn- und Feiertage konnte nur dann gemäß § 366 RStGB geahndet werden, wenn Anordnungen zum Schutz dieser Feiertage erlassen wurden. Auch § 367 RStGB, der die Übertretung von verwaltungsrechtlichen Vorschriften wie der Gewerbeordnung, des Sprengstoffgesetzes, der Eisenbahnverkehrsordnung und der Postordnung ahndete, konnte in den Schutzgebieten deshalb nicht angewendet werden, da diese verwaltungsrechtlichen Vorschriften selbst in den Schutzgebieten keine Anwendung fand: der Verweis des § 19 KGG bezog sich nur auf materielle und prozessuale Vorschriften des bürgerlichen Rechts und des Strafrechts, nicht jedoch auf Staats- und Verwaltungsrecht des Deutschen Reiches. Infolgedessen waren auch die Bestimmungen des Nebenstrafrechts, wie die Strafbestimmungen der Gewerbeordnung, des Sprengstoffgesetzes oder des „Reichspreßgesetzes" in den Schutzgebieten überwiegend nicht anwendbar, da sie sich auf den Verstoß gegen in den Schutzgebieten nicht anwendbares Verwaltungsrecht bezogen321. Ausnahmsweise waren nebenstrafrechtliche Bestimmungen anwendbar, sofern sie sich auf zivilrechtliche Bestimmungen bezogen; so galt § 146 GewO vom 21. Juni 1869 (a.F.), der die Strafbarkeit der Anwendung des Trucksy-

318 Zimmerstädt, S. 606. 319 Zimmerstädt, S. 607. 320 Vgl. Friedrich Doerr, Deutsches Kolonialstrafrecht, ZfK (10) 1908, S. 321 (324). 321 Vgl. Franz Josef Sassen, Das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht in den deutschen Kolonien, in: Philipp Zorn /Fritz Stier-Simlo: Abhandlungen aus dem Staats,- Verwaltungsund Völkerrecht, 1909, S. 132.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

117

stems 322 regelte, auch in den Schutzgebieten, da sich das Truckverbot auf die zivilrechtliche Regelung der Lohnzahlung an gewerbliche Arbeiter gemäß § 115 GewO a.F. bezog 323 .

(2) Das besondere Kolonialstrafrecht Zur Schließung von Strafbarkeitslücken, die aus der Nichtanwendbarkeit von Nebenstrafrecht in Bezug auf Verwaltungsrecht entstanden, sah § 6 Nr. 1 SGG eine Ermächtigung des Kaisers vor, Nebenstrafrecht außerhalb des RStGB durch kaiserliche Verordnung zu regeln. Gestützt auf diese Ermächtigung, enthielten koloniale Rechtsverordnungen auch Strafbestimmungen, so ζ. B. die schon erwähnten Bergverordnungen, die kaiserliche Verordnung vom 15. Juni 1906 betreffend das Telegraphenwesen 324, die kaiserliche Verordnung vom 7. November 1902 betreffend das Zollwesen, 325 , sowie einige unbedeutendere Verordnungen 326. Neben dem Kaiser hatte der Reichskanzler gemäß § 15 Abs. 2 SGG die Befugnis, Polizei- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen und diese durch Strafnormen bei Nichtbefolgung zu ergänzen. Diese Verordnungsbefugnis übertrug der Reichskanzler aber 1903 im Wege einer Verfügung in vollem Umfang auf die Gouverneure bzw. Landeshauptleute der Schutzgebiete327. Die Verfügung von 1903 ermächtigte wiederum die Gouverneure in beschränktem Maße (Regelungen durften ζ. B., entsprechend der Befugnis des § 15 Abs. 2 SGG, nur eine maximale Freiheitsstrafen von 3 Monaten androhen) zur Weiterdelegation, so daß infolgedessen in einzelnen Schutzgebieten die Verordnungsbefugnis auf einzelne Kolonialbeamte übertragen wurde 328 . Im übrigen konnten Strafbarkeitslücken aber auch dadurch geschlossen werden, daß durch koloniales Verordnungsrecht selbst das nicht unmittelbar anwendbare, im Deutschen Reich geltende Verwaltungsrecht einschließlich des darin enthaltenen Nebenstrafrechts im Schutzgebiet eingefühlt wurde 329 ; beispielsweise wurde das gesamte „Reichspreßgesetz" durch Verordnung des Gouverneurs (ermächtigt 322

Beim Trucksystem erfolgt die Entlohnung durch beim Arbeitgeber zu entnehmende Waren, vgl. Wolter, S. 228. 323 Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 326. 324 RGBl. 1906, S. 843. 32 5 RGBl. 1902, S. 903. 32 6 Überblick bei Gerstmeyer, Kommentar, § 6 SGG,, Fn. 3. 327 Verfügung des Reichskanzlers, betreffend die seemannsamtlichen und konsularischen Befugnisse und das Verordnungsrecht der Behörden in den Schutzgebieten Afrikas und des Südsee vom 27. September 1903, DKB1. 1903, S. 509; für Kiautschou: Erlaß des Reichskanzlers, betreffend die Regelung der Rechtsverhältnisse und die Ausübung der Gerichtsbarkeit in Kiautschou vom 27. April 1898, DKGG 4, S. 167. 32 8 Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 329/330. 32 9 v. Hoffmann, Einführung, S. 218.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

durch die Subdelegationsbefugnis der Verfügung des Reichskanzlers von 1903) in Deutsch-Ostafrika als eigenes Schutzgebietsrecht eingeführt 330 . Die Verordnung wurde jedoch nur hinsichtlich der Androhung einer maximale Freiheitsstrafe von 3 Monaten als gültig angesehen, da die im Reichspreßgesetz vorgesehene Höchststrafe von 6 Monaten von der Verordnungsermächtigung des § 15 Abs. 2 SGG nicht umfaßt war 3 3 1 . Neben dem Strafrecht des Deutschen Reichs und dem in Verordnungen der Gouverneure geregelten Strafrecht hatten auch völkerrechtliche Verträge Bedeutung für das Strafrecht in den Schutzgebieten. So sah die Generalakte der Brüsseler Antisklavereikonferenz vom 2. Juli 1890 332 die strafrechtliche Verfolgung des Sklavenhandels, des Waffenhandels und des unerlaubten Handels mit Branntwein insbesondere in Afrika vor. Die Generalakte wurde durch das Reichsgesetz, betreffend die Bestrafung des Sklavenraubes und des Sklavenhandels vom 28. Juli 1895 333 sowie durch Strafverordnungen in den Schutzgebieten umgesetzt334. Ferner hatte der Vertrag über Auslieferung und Rechtshilfe mit Belgisch-Kongo vom 25. Juli 1890 335 einige Bedeutung für die Verfolgung von Straftätern in den Schutzgebieten.

(3) Das koloniale Militärstrafrecht Gemäß § 5 SGG wurde die Militärgerichtsbarkeit durch das SGG nicht berührt; dies bedeutete, daß das Reichsmilitärstrafgesetzbuch (RMStGB) vom 20. Juni 1872 336 zunächst keine Anwendung in den Kolonien fand, was jedoch zunächst wegen der geringen Zahl von militärischem Personal in den Schutzgebieten auch von geringer Bedeutung war. Dies änderte sich erst mit der Aufstellung einer Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika 1890 aufgrund des Araber-Aufstandes (siehe oben, Α. II. 4. d): der Erwerb der Schutzgebiete im einzelnen). Die Regelung des Reichsgesetzes betreffend die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika vom 22. März 1891 337 , nach der Schutztruppensoldaten mit Marinetruppen gleichgestellt wurden, bedeutete auch die Anwendung des RMStGB auf Schutztruppensol330 Verordnung des Gouverneurs vom 25. März 1899, DKGG 8, S. 210. 331 Otto Mathies, Das in den Schutzgebieten geltende Reichsstrafrecht im Verhältnis zum Verwaltungsrecht, ZfK (14) 1912, S. 318 (326). 332 RGBl. 1892, S. 605. 333 RGBl. 1895, S. 425. 334 Vgl. Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 327. 335 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Kongostaat über die Auslieferung der Verbrecher und die Gewährung sonstiger Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den deutschen Schutzgebieten in Afrika und dem Gebiete des Kongostaates vom 25. Juli 1890, RGBl. 1891, S. 91. 336 RGBl. 1872, S. 174. 337 RGBl. 1891, S. 53.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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daten. In bezug auf das Verfahren sah die kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1891 338 die Anwendung der preußischen Militärstrafgerichtsordnung vom 3. April 1845 in Deutsch-Ostafrika vor. Eine einheitliche Regelung erfolgte nach Aufstellung von Schutztruppen auch in Kamerun und Deutsch-Südwestafrika durch das Schutztruppengesetz vom 18. Juli 1896 339 , das die Grundlage bildete für die kaiserliche Verordnung vom 26. Juli 1896 betreffend die Einführung der deutschen Militärstrafgesetze in den afrikanischen Schutzgebieten340 sowie für die kaiserliche Verordnung vom 26. Juli 1896 betreffend das strafgerichtliche Verfahren gegen Militärpersonen der kaiserlichen Schutztruppen 341. Die letztere Verordnung, die die Einführung der preußischen Militärstrafgerichtsordnung vom 3. April 1845 vorsah, wurde durch die kaiserliche Verordnung vom 18. Juli 1900 342 ersetzt, die hinsichtlich des Verfahrens auf die Reichsmilitärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 343 verwies. Im Hinblick auf das Disziplinarrecht für die Schutztruppe wurde durch die kaiserliche Verordnung vom 26. Juli 1896 344 die Disziplinarstrafordnung für das Heer auch für die Schutztruppen für anwendbar erklärt 345 . Diese Rechtsnormen hatten jedoch nur für europäische Schutztruppensoldaten Geltung; für einheimische („farbige") Angehörige bestanden Sonderregelungen, da sie einer besonderen Militärstrafgerichtsbarkeit unterlagen (siehe unten, A. III. 3. b) bb) (4).

cc) Öffentliches Recht, insbesondere Steuer- und Zollrecht sowie die Verwaltungsorganisation

(1) Allgemeiner Verwaltungsaufbau in den Schutzgebieten Neben der schon dargestellten zentralen Kolonialverwaltung in Berlin durch den Reichskanzler und das Reichskolonialamt346 wurde schon früh - abgesehen von den Schutzgebieten, in denen anfangs hoheitlich beliehene Schutzbriefgesellschaften tätig wurden - mit dem Aufbau einheitlicher Verwaltungsstrukturen in den Schutzgebieten begonnen. 338 Kaiserliche Verordnung, betreffend das strafgerichtliche Verfahren gegen die zur kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika abkommandierten Militärpersonen vom 3. Juni 1891, RGBl. 1891, S. 241. 33 9 RGBl. 1896, S. 653 und Triepel, S. 265. 3 *o RGBl. 1896, S. 669. 341 RGBl. 1896, S. 670. 342

RGBl. 1900, S. 831; ersetzt, aber nicht wesentlich geändert durch die kaiserliche Verordnung vom 2. November 1909, DKB1. 1909, S. 1079. 343 RGBl. 1898, S. 1189 und Triepel, S. 277. 344 Kaiserliche Verordnung betreffend die Disziplinarstrafordnung für die kaiserliche Schutztruppen, vom 26. Juli 1896, DKB1. 1896, S. 514. 34 5 Vgl. Doerr, S. 323. 34 6 Vgl. Α. II. 4. c).

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Als oberster Beamter eines Schutzgebietes hatte der Gouverneur - in den ersten Jahren der Kolonisierung in Togo, Südwestafrika und Neuguinea der Landeshauptmann - nicht nur die Befugnisse der Exekutive im jeweiligen Schutzgebiet, sondern aufgrund der schon erwähnten Verfügung des Reichskanzlers vom 27. September 1903 347 auch eingeschränkte legislative Befugnisse in der Gestalt der Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen. Die grundsätzliche Zuständigkeit hinsichtlich des Erlasses von Regelungen der Verwaltung eines Schutzgebietes lag als Teilbereich der Schutzgewalt zunächst noch beim Kaiser, durch die Kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908 348 wurde diese Zuständigkeit jedoch vollständig auf den Reichskanzler (bzw. auf das Reichskolonialamt) übertragen, der diese Zuständigkeit in der Regel auf die Gouverneure übertrug 349 und so deren legislative Zuständigkeiten hinsichtlich der Regelung der Verwaltungsorganisation stärkte. Die Einzelermächtigungen der Gouverneure wurde durch eine Verordnung des Reichskanzlers vom 15. Juli 1914 350 durch eine Sammelermächtigung der Gouverneure aller Schutzgebiete ersetzt, die bis dahin aufgrund der Einzelermächtigungen erlassenen Vorschriften blieben aber wirksam 351 . Weiterhin nahmen die Gouverneure anfangs auch Funktionen der Justiz wahr und fungierten, solange noch kein Obergericht im Schutzgebiet bestand, als Berufungsinstanz. Außerdem hatte der Gouverneur den Oberbefehl über die Schutztruppen in seinem Schutzgebiet und war nur dem zentralen Schutztruppenkommando in Berlin (d. h. dem Reichskanzler und dem Staatssekretär des Reichskolonialamtes) gegenüber verantwortlich; auch gegenüber dem Kommandeur der Schutztruppe, dem höchsten militärischen Vorgesetzten im jeweiligen Schutzgebiet, hatte er Weisungsbefugnis. Der Gouverneur koordinierte somit die militärische und die zivile Verwaltung. Insgesamt bestand bei dem Gouverneur eines Schutzgebietes eine ungewöhnliche, mit den Grundsätzen der Gewaltenteilung nicht übereinstimmende Machtkonzentration. Daher forderten schon frühzeitig deutsche Siedler und die Vertreter deutscher Handelsunternehmen, unterstützt von der Deutschen Kolonialgesellschaft, ein Mitspracherecht bei der Verwaltung des Schutzgebietes in Form von Beiräten nach dem Vorbild der

347 DKB1. 1903, S. 509. 348 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenenrechtspflege, vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617; vgl. ferner Runderlaß des Staatssekretärs des Reichskolonialamtes vom 15. August zur Kaiserlichen Verordnung vom 3. Juni 1908, DKGG 12, S. 353. 349 Verfügungen des Reichskanzlers, betreffend die Ermächtigung der Gouverneure von Kamerun vom 16. März 1909 (DKB1. 1909, S. 361), von Deutsch-Neuguinea vom 15. Mai 1909 (DKB1. 1909, S. 524), von Deutsch-Südwestafrika vom 18. Januar 1910 (DKB1. 1910, S. 117) und von Deutsch-Ostafrika vom 21. Februar 1913 (DKB1. 1913, S. 213). 350 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend die Ermächtigung der Gouverneure der afrikanischen und Südsee-Schutzgebiete zur Neuschaffung, Verlegung und Aufhebung von Verwaltungsbehörden und zur Abänderung der Grenzen der Verwaltungsbezirke, vom 15. Juli 1914, DKB1. 1914, S. 696. 351 So ζ. B. die Verfügung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea, betreffend die Aufhebung des Bezirksamts Jaluit (Marshall-Inseln) vom 17. Februar 1911, DKB1. 1911, S. 339.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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britischen Repräsentativkolonien 352. Die Rechtsgrundlage für die Konstituierung von Gouvernementsräten wurde durch die Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 353 für Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Neuguinea und Samoa geschaffen. Typischerweise gehörte zu dem Stab eines Gouverneurs ein Referent für die allgemeine Zivilverwaltung sowie weitere Beamte für die Zentralverwaltung, die Lokalverwaltung, die Justizverwaltung und gegebenenfalls die Verwaltung der Schutztruppen 354. Neben der zentralen Schutzgebietsverwaltung entwickelten sich in Schutzgebieten mit größerem deutschen Bevölkerungsanteil Strukturen kommunaler Selbstverwaltung. Die Rechtsgrundlage für die kommunale Selbstverwaltung in den Schutzgebieten war eine aufgrund der Ermächtigung des § 15 Abs. 2 SGG vom Reichskanzler am 3. Juli 1899 erlassene Verordnung 355, die nach dem Vorbild der preußischen Kreisverwaltung die Schaffung kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften auf Bezirksebene zum Ziel hatte. Diese Verordnung ermächtigte den Reichskanzler, „Wohnplätze" in den Schutzgebieten zu Selbstverwaltungskörperschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit zu vereinigen und Regelungen hinsichtlich ihrer Organisation zu treffen 356 . Bis 1914 kam es zur Gründung von kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften lediglich in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika (siehe unten).

(2) Die allgemeine Verwaltung im einzelnen Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika bestand die Zentralverwaltung beim Gouvernement im Jahre 1901 aus 9 Referaten, zuständig für politische Angelegenheiten und Personal, Schutztruppenangelegenheiten, Finanz- und Zollwesen, Justiz- und Personenstandswesen, Sanitäts- und Veterinärangelegenheiten, „Flotillen-Angelegenheiten" (für die deutschen Kanonenboote auf dem Tanganyika-See), Bauwesen, Land- und Forstwirtschaft sowie Kirchen- und Schulwesen357. Es bestand keine Referenten352

v. Hoffmann, Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der deutschen Schutzgebiete, 1908, S. 26-28. 353 Verordnung des Reichskanzlers betreffend die Bildung von Gouvernementsräten vom 24. Dezember 1903, DKGG 7, S. 284. 354 Bernhard v. König, Die Kolonialbehörden, deren Zuständigkeit und Verfahren, ZfK (2) 1900/01, S. 1 (4). 3 55 Verordnung über die Vereinigung von Wohnplätzen in den Schutzgebieten zu Kommunalverbänden vom 3. Juli 1899, DKGG 4, S. 78 und Triepel, S. 287. 356 Vgl. Ralph Erbar, Ein „Platz an der Sonne"? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884-1914, 1991, S. 35, Fn. 152. 3 57 Übersicht bei: v. König, S. 5/6.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

stelle ausschließlich für die Lokalverwaltung, vielmehr stand diese grundsätzlich unter der Aufsicht des Gouverneurs als unmittelbarer Vorgesetzter der Bezirksamtmänner; Angelegenheiten von geringerer Bedeutung wurden jedoch vom Gouverneur auf die Referenten übertragen. Als zentrale Behörden des Schutzgebietes sind ferner noch das BiologischLandwirtschaftliche Institut in Amani und die Bauinspektion in Daressalam zu erwähnen 358 . Aufgrund des Übernahmevertrages vom 20. November 1890 wurde der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft (DOAG) ein begrenztes Beratungs- und Mitspracherecht bei der Verwaltung zugestanden; dieses Beteiligungsrecht der DOAG bestand bis zum 1. April 1903. Der Ermächtigung aus der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 folgend, wurde auch in Deutsch-Ostafrika Anfang 1904 ein - lediglich beratender - zehnköpfiger Gouvernementsrat eingerichtet, der aus dem Ersten Referenten, dem Oberrichter, dem Kommandeur der Schutztruppe und den beiden Provinzialreferenten sowie von Seiten der deutschen Zivilbevölkerung aus einem Kaufmann, zwei Pflanzern, einem Gewerbetreibenden und einem Missionar bestand359. Im Zuge der Reformierung der Kolonialverwaltung durch Gouverneur v. Rechenberg wurden 1912 die Vertreter der deutschen Zivilbevölkerung erstmals demokratisch gewählt 360 . Als zentrale Selbstverwaltungskörperschaften konstituierten sich ferner einige wirtschaftliche Interessenvereine 361 unter dem Dach des Wirtschaftlichen Landes-Verbandes von Deutsch-Ostafrika (WLV), dem obersten Zusammenschluß regionaler Wirtschaftsverbände in der Kolonie 362 . Die ersten Ansätze zum Aufbau einer Lokalverwaltung durch die DOAG, die einige Bezirkschefs einsetzte, wurden durch den Araberaufstand zerstört 363 . Nach der Übernahme der unmittelbaren Verwaltung durch das Reich wurde die örtliche Verwaltung (Lokalverwaltung) in den dichter besiedelten und erschlossenen Regionen, insbesondere der Küste und entlang den Bahnlinien in das Landesinnere, durch Bezirksämter und diesen unterstellte Bezirksnebenstellen durchgeführt. Die Bezirke wurden von einem Bezirksamtmann geleitet, der wiederum unterstützt wurde von in der Regel mehreren Bezirksamtssekretären sowie einigen von der Schutztruppe abkommandierten Unteroffizieren, die eine aus Einheimischen bestehende Polizeimannschaft kommandierten 364. Die Befugnisse der Bezirksamtmänner erstreckten sich nicht nur auf die Verwaltung, sondern auch - wie schon erwähnt - auf den Erlaß von Verwaltungsvorschriften und die Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung. Auch hier zeigt sich somit wieder eine den Gouver358

Gerstmeyer, Kommentar, Anhang, S. 263.

359

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 86/87. 3 *o Bald, S. 98. 361 Schinzinger, S. 97. 3

62 Bald, S. 100.

363

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 84. 364 V. König, S. 6.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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neuren entsprechende ungewöhnliche Machtkonzentration auf der unteren Verwaltungsebene. Nach dem Stand von April 1910 bestanden insgesamt 16 Bezirksämter; hierbei handelte es sich um Daressalam, Bagamojo (Bezirksnebenstelle Sadani), Pangani (Bezirksnebenstelle Hadeni), Tanga, Wilhelmstal (im Usambaragebirge, heute Lushoto), Mohoro, Kilwa-Kiwindje (Bezirksnebenstelle Chole auf der vorgelagerten Insel Mafia), Lindi (Bezirksnebenstellen Kibata, Mikindani und Liwale), Ssongea, Neu-Langenburg (heute Tukuyu; Bezirksnebenstelle Mwaja), Morogoro (Bezirksnebenstelle Kilossa), Mpapua (Bezirksnebenstelle Kondoa-Irangi), Tabora (Bezirksnebenstelle Shinyanga), Muansa (Bezirksnebenstelle Shirati), Moshi (Bezirksnebenstelle Arusha) und Udjidji (Bezirksnebenstelle Bismarckburg, heute Kasanga)365. Im weniger erschlossenen Landesinneren bestanden Stationen, bei denen es sich faktisch um Militärstationen der Schutztruppe handelte, die zunächst provisorisch auch die Aufgaben der Zivilverwaltung wahrnahmen. Stationen wurden in der Regel mit fortschreitender Erschließung des Landes in Bezirksämter umgewandelt, wie dies auch bei den meisten der obengenannte Bezirksämtern geschehen war. Stationschef war ein Angehöriger der Schutztruppe, der in Zivilangelegenheiten den Weisungen der Zentralverwaltung des Gouvernements zu folgen hatte, jedoch in militärischer Hinsicht seinem Dienstvorgesetzten unterstellt blieb. In DeutschOstafrika war bis Mitte 1910 die Umwandlung in Bezirksämter weitgehend schon erfolgt, es bestanden noch Stationen in Iringa, Mahenge und Kilimatinde. Schließlich bestanden für einige noch völlig unerschlossene Landesteile die einheimischen Herrschaftsstrukturen; die deutsche Kolonialverwaltung hatte dort die Herrschaft durch den jeweiligen König bzw. Sultan sowie dessen Exekutivorgane (d. h. Verwaltungsstrukturen, soweit vorhanden, auch Gerichte) vollständig aufrechterhalten. Diese Gebiete, die sogenannten Residenturen, standen nur militärisch und völkerrechtlich unter der Kontrolle der deutschen Kolonialverwaltung, die durch einen Residenten vertreten war. Als höchster deutscher Repräsentant am Hofe des Königs (Häuptlings) fungierte er gleichzeitig als dessen Berater und hatte so faktisch entscheidenden Einfluß auf die Politik des einheimischen Herrschers. Der Resident wurde nur von einer geringen Anzahl weiterer Kolonialbeamter 366 sowie durch eine Militärstation unterstützt; ein größerer Verwaltungsaufwand war auch nicht notwendig, da in den Residenturen (vorerst) keine deutsche Verwaltung aufgebaut werden sollte. Die Residenturen hatten damit den Charakter von Protektoraten und entsprachen dem bewährten System der „indirect rule" nach britischem 365

Übersicht bei Gerstmeyer, Kommentar, Anhang, S. 263. 366 1914 wurde der Resident in Ruanda unterstützt von 5 europäischen Beamten und einigen Dutzend überwiegend einheimischen Schutztruppensoldaten, vgl. Innocent Kabagema: Ruanda unter deutscher Kolonialherrschaft 1899-1916, 1993, S. 172; 6 deutsche Beamten unterstützen den Residenten in Burundi: den überwiegenden Teil der europäischen Bevölkerung in Ruanda und Burundi stellten die Missionare (ca. 130 Personen) und Soldaten (insgesamt ca. 40 Personen), vgl. Roger Louis, Ruanda-Urundi 1884-1919, 1963, S. 204.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Vorbild. Die deutsche Kolonialverwaltung verfolgte grundsätzlich eine Politik der Nichteinmischung in die Kultur der Residenturgebiete (abgesehen von der missionierenden Tätigkeit der Missionen); demgegenüber griff die Schutztruppe militärisch bei regionalen Aufständen gegen die einheimischen Herrscher ein, um den Machterhalt der von der deutschen Kolonialverwaltung anerkannten Könige bzw. Sultane zu sichern 367 . Diese Verwaltungspolitik zementierte die Vorherrschaft einzelner Stämme über andere und hatte eine Parteinahme in den Konflikten zwischen den Stämmen zur Folge 368 , die sich auch auf die nachkolonialen Konflikte auswirkte 369 . Mitte 1910 bestanden drei Residenturen: es handelte sich hierbei um Bukoba (am Victoria-See), Ruanda und Burundi. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutsch-Ostafrika. In Ausübung der Verordnung des Reichskanzlers vom 3. Juli 1899 (vgl. Fußnote 355) wurde die Bildung kommunaler Verbände mit eigener Rechtspersönlichkeit in Deutsch-Ostafrika durch die Verordnung des Reichskanzlers vom 29. März 1901 370 , ergänzt durch die Verordnung vom 30. März 1907, ermöglicht 371 . Trotz der Etablierung von Selbstverwaltungskörperschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit blieb eine enge Verflechtung der Kommunalverbände mit der Zentralverwaltung in der Person des Bezirksamtmannes erhalten, da die Kommunalverbände unter der Leitung des jeweiligen Bezirksamtmannes standen, dem allerdings hierfür neben dem Bezirksamtssekretär ein eigener Kommunalbeamter zugeordnet wurde. Wegen der hohen Kosten der Kommunalverbände wurden 1909 die bis dahin entstandenen 11 Kommunal verbände 372 bis auf Tanga und Daressalam aufgelöst. Im folgenden Jahr wurden beide Städte dann durch die Deutsch-Ostafrikanische Städteordnung 373 zu Stadtgemeinden erklärt und erstmals ein Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung festgelegt. Nach den Regelungen der Städteordnung lag die Gemeindeverwaltung nun in den Händen eines

367 Vgl. Thomas Laely, Autorität und Staat in Burundi, 1995, S. 273-275. 368 Francesca Schinzinger, Die Kolonien und das Deutsche Reich Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Ubersee, 1984, S. 97. 369 ζ . B. die noch heute aktuellen Stammeskonflikte in Ruanda: vgl. Kabagema, S. 112; umfassend: Célestin Muyombano, Ruanda - Die historischen Ursachen des Bürgerkriegs, 1995, S. 20 ff. 370 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend die Schaffung von Kommunalverbänden in Deutsch-Ostafrika vom 29. März 1901, DKGG 6, S. 292; Ausführungsbestimmungen zur Verordnung vom 29. März 1901, vom 2. Mai 1901, DKGG 6, S. 306. 371 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend die Schaffung kommunaler Verbände in den Bezirken Moshi, Muansa und Tabora (Deutsch-Ostafrika) vom 30. März 1901, DKB1. 1907, S. 384. 372 Tanga, Daressalam, Pangani, Bagamoyo, Kilwa, Lindi, Wilhelmstal, Kilossa, Langenburg, Rufiji und Songea, vgl. Johannes Bernhard Adolf Gaul, Finanzrecht der deutschen Schutzgebiete (unter besonderer Berücksichtigung der Steuergesetzgebung), Diss. 1909, S. 74. 373 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend die Stadtgemeinden in Deutsch-Ostafrika (Deutsch-Ostafrikanische Städteordnung), vom 18. Juli 1910, DKB1. 1910, S. 679.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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„Städtischen Rates", der sich aus dem zuständigen Bezirksamtmann und vier weiteren Mitgliedern zusammensetzte, von denen drei Mitglieder von den Einwohnern der Stadt (wahlberechtigt waren jedoch nur Reichsangehörige) gewählt, der vierte dagegen vom Gouverneur ernannt wurde 374 . Neben dieser kommunalen Personalhoheit konnte die Gemeinde die ihr in der Städteordnung zugewiesenen Aufgaben (örtliche Aufgaben, wie das Marktwesen, Verkehr, Lebensmittelaufsicht, Abfallwesen, etc.) durch Ortssatzungen regeln (Satzungshoheit)375. Schließlich übertrug die Städteordnung den Gemeinden Daressalam und Tanga auch das Recht zur Erhebung von Gebühren und örtlicher Steuern (ζ. B. die Hundesteuer) und damit die für die kommunale Selbstverwaltung charakteristische Finanzhoheit 376 ; insgesamt zeigten sich damit bei den Städten Daressalam und Tanga die ersten Schritte hin zu einer modernen kommunalen Selbstverwaltung nach deutschem Vorbild. Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika entsprach der Aufbau der Zentralverwaltung des Schutzgebietes derjenigen in Deutsch-Ostafrika, allerdings mit leichten Abweichungen bei den Referaten des Gouvernements. Das Schutzgebiet stand ab 1885 zunächst unter der Leitung eines Kommissars, der ab 1893 den Titel eines Landeshauptmannes und ab 1898 den eines Gouverneurs führte. Der Gouverneur mit dem Amtssitz in Windhuk vereinigte wie in Deutsch-Ostafrika exekutive, legislative und jurisdiktionelle Befugnisse in sich. Zum Stab des Gouverneurs gehörten ein erster Referent, der auch als Stellvertreter fungierte, ein Finanzdirektor, ein forsttechnischer Beirat und einige sogen. Hilfsarbeiter (Hilfsarbeiter entsprachen Sachbearbeitern) 377. Als besondere Zentralbehörde in Windhuk wurde eine Bergbehörde eingerichtet, dort bestand außerdem die Betriebsleitung der Eisenbahnverwaltung; ferner ist das Hafenamt in Swakopmund zu erwähnen 378. Schon früh hatte die deutsche Siedlerbevölkerung Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Verwaltung des Schutzgebietes. Seit 1899 wurden auf der Ebene der Bezirksämter Beiräte aus den Reihen der deutschen Zivilbevölkerung gewählt, die den Bezirksamtmann in Verwaltungsfragen beraten konnten. Aufgrund der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 bezüglich der Einführung von Gouvernementsräten wurde auch in Deutsch-Südwestafrika ein Gouvernementsrat eingerichtet, allerdings erst nach dem Ende der Aufstände im Jahre 1906. Dieses weiterhin nur beratende - Gremium, das seit März 1908 die Bezeichnung Landesrat trug, bestand aus dem Gouverneur, 7 Beamten und 11 Vertretern der deutschen Zivilbevölkerung aus allen Teilen des Schutzgebietes379. 374 375 376 377 378 379

Werner Maas, Deutsches Koloniales Steuerrecht, 1942, S. 37. Maas, S. 37. § 8, Abs. 3 der Deutsch-Ostafrikanischen Städteordnung. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 71. Gerstmeyer, Kommentar, S. 264. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 73/74.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Die Lokalverwaltung wurde durch Bezirksämter unter der Leitung von Bezirksamtmännern durchgeführt, bei denen es sich in der Regel um Zivilbeamte der Kolonialverwaltung handelte und die über eine ähnliche Machtfülle wie in DeutschOstafrika verfügten. Jedes Bezirksamt verfügte über eine Polizeitruppe, die sich aus abkommandierten Mannschaftsdienstgraden der Schutztruppe zusammensetzte - nach den Aufständen von 1904 bis 1907 zum überwiegenden Teil Europäer, da man den Einheimischen nicht mehr traute. Weniger erschlossene Gebiete wurden in Distrikte eingeteilt und von Distriktsämtern verwaltet, bei denen es sich faktisch um Militärstationen handelte; Distriktschef war in der Regel ein Offizier der Schutztruppe, der bei der Ausübung der Zivilverwaltung der zentrale Zivilverwaltung beim Gouvernement unterstand. Einige Distriktsämter wurden direkt einem Bezirksamt unterstellt. Bis 1910 wurden die in den unerschlossenen Gebieten bestehenden Polizeistationen unter der Leitung eines Offiziers oder Unteroffiziers der Schutztruppen als Stationschef in Distriktsämter umgewandelt. Zu dieser Zeit bestanden 11 Bezirksämter; im einzelnen bestanden Bezirksämter in Windhuk, Swakopmund, Lüderitzbucht, Keetmanshoop (mit unterstelltem Distriktsamt Hasuur), Gibeon, Karibib, Outjo (mit den unterstellten Distriktsämtern Okaukwejo und Sesfontein), Grootfontein (unterstelltes Distriktsamt Namutoni), Warmbad, Rehobot und Waterberg. Selbständige Distriktsämter bestanden in Omaruru, Gobabis, Okahandja, Bethanien und Maltahöhe 380 . Ab 1908, nach dem Ende des Herero-Aufstandes, wurde die tatsächliche Verwaltungstätigkeit des Gouverneurs auf die sogenannte Polizeizone beschränkt (die Bezeichnung rührte aus der Tatsache her, daß in der Polizeizone „Polizeischutz", also eine Präsenz von Polizei- und Schutztruppen bestand, außerhalb jedoch nicht) 381 . Der noch völlig unerschlossene Norden des Schutzgebietes (das Siedlungsgebiet des Ovambo-Stammes) sowie der Caprivizipfel im Osten wurden durch die Polizeizone vom übrigen Schutzgebiet verwaltungsmäßig getrennt: außerhalb der Polizeizone überließ man die Verwaltung vollständig den einheimischen Häuptlingen; dort bestand daher keinerlei Zuständigkeit eines Bezirksamtes oder Distriktsamtes 382. Europäischen Zivilpersonen wurde das Betreten der Gebiete außerhalb der Polizeizone verboten 383 ; auch das Verbringen von Waffen, Pferden und Alkohol in diese Gebiete wurde untersagt. Um dies sicherzustellen und um das Eindringen Einheimischer in die Polizeizone zu verhindern, wurden Polizeiposten entlang der nördlichen Grenze der Polizeizone errichtet (diese Grenze wurde nach 1919 unter südafrikanischer Verwaltung als „Rote Linie" beibehal380

Zusammenfassend: Gerstmeyer, Kommentar, S. 264. Imre Josef Bernhardt, Deutsche Kolonialgrenzen in Afrika, 1997, S. 104. 38 2 Demhardt, S. 104. 381

383

Vgl. Verordnung des Gouverneurs, betreffend den Verkehr in und nach dem Ambolande , vom 25. Januar 1906, DKB1. 1906, S. 222; Verordnung des Gouverneurs, betreffend den Verkehr in und nach dem Caprivi-Zipfel vom 16. Oktober 1908, DKGG 13, S. 436.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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ten) 384 . Bis 1914 kam es nicht mehr zu der Einrichtung einer Residentur im Gebiet der Ovambo-Stämme; für das Ovambo-Gebiet war damit noch nicht einmal der Charakter einer Protektoratsherrschaft gegeben, vielmehr hatte das Ovamboland den Status einer Interessensphäre mit einer lediglich völkerrechtlichen Bindung zur deutschen Kolonialherrschaft. Demgegenüber wurde in dem ebenfalls außerhalb der Polizeizone gelegenen Caprivi-Zipfel ein Resident zur Verwaltung dieses Gebietes eingesetzt385. Auch in Deutsch-Südwestafrika entwickelte sich, begründet auf die Verordnung des Reichskanzlers vom 3. Juli 1899, die kommunale Selbstverwaltung; angesichts der großen Zahl deutscher Siedler bestand ein erhöhter Bedarf an politischer Mitbestimmung der Europäer, so daß schon 1899 in den Bezirken Windhuk und Swakopmund Bezirksbeiräte eingerichtet wurden, die den Bezirksamtmann beim Erlaß von Verordnungen beraten konnten 386 . Der weitere Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung wurde durch die Aufstände der Jahre 1904 bis 1907 zunächst unterbrochen. Erst die „Selbstverwaltungsordnung" (Verordnung des Reichskanzlers vom 28. Januar 1909) 387 , die unter maßgeblicher Mitwirkung des ehemaligen Bürgermeisters von Bückeburg, Külz, für die Verhältnisse in Südwestafrika konzipiert wurde, ermöglichte die Entstehung von kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften 388. Die Selbstverwaltungsordnung teilte die Kommunal verbände in Gemeinden und Bezirksverbände ein. Gemeinden im Sinne der Selbstverwaltungsordnung erhielten als Körperschaften des öffentlichen Rechts die typischen Merkmale der gemeindlichen Selbstverwaltung, so, wie sie auch im Deutschen Reich bestanden und überwiegend noch heute bestehen. Hierzu zählte die Satzungshoheit zur Regelung der örtlichen Angelegenheiten sowie die kommunale Finanzhoheit ebenso wie eine Gemeindeverfassung, bestehend aus einem Gemeinderat, der sich zur einen Hälfte aus frei gewählten Vertretern, zur anderen Hälfte aus Vertretern der Berufsstände zusammensetzte, und einem vom Gemeinderat gewählten Gemeindevorsteher (in einigen Gemeinden auch als Bürgermeister bezeichnet). Der Gemeindevorsteher vertrat die Gemeinde nach außen und übte die laufenden Geschäfte der Verwaltung aus, als Aufsichtsbehörde fungierte der Gouverneur bzw. in seinem Auftrag das örtlich zuständige Bezirks- oder Distriktsamt 389 . Die kommunale Selbstverwaltung bestand zunächst in 8 Gemeinden: Windhuk, Klein-Windhuk, Swakopmund, Karibib, Omaruru, Okahandja, Keetmanshoop und Lüderitzbucht, bis 1914 kamen noch Aus, Tsumeb, Warmbad und Usakos hinzu 390 . Bezirksver384 Ausführlich: John J. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia, 1994, S. 412/413. 385 Schinzinger, S. 97. 386 Ernst Radlauer, Finanzielle Selbstverwaltung und Kommunalverwaltung der Schutzgebiete, 1910, S. 150. 387 DKB1. 1909, S. 141. 388 Radlauer, S. 151. 389 Vgl. Karl Pickel, Die Staatsaufsicht über die Selbstverwaltungsverbände der Weißen in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika vor dem Weltkriege, 1916, S. 22/23. 390 Zusammenfassend Radlauer, S. 160/161.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

bände, die alle Wohnplätze eines Bezirks oder eines selbständigen Distrikts umfaßten, erhielten gleichfalls eigene Rechtspersönlichkeit, hier blieb aber der Bezirksamtmann als Regierungsbeamter weiterhin das oberste Verwaltungsorgan, während der gewählte 4-köpfige Bezirksrat neben beratender Tätigkeiten ein Mitspracherecht bei Fragen des Haushaltes des Bezirks Verbandes hatte 391 . Insgesamt zeigte die Konstituierung von kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften eine deutliche Orientierung an die historisch entwickelte kommunale Selbstverwaltung in Deutschland. Als weitere Interessenvertretungen konstituierte sich die „Kaufmannschaft Windhuk", eine Art Handelskammer ohne den Charakter einer Zwangskörperschaft, ferner bestand eine besondere Interessenvertretung im Bereich des Bergbaus, insbesondere des Diamantenbergbaus 392. Kamerun Das für die zentrale Verwaltung des Schutzgebietes Kamerun zuständige Gouvernement hatte seinen Sitz bis 1901 in Douala, dann in Buéa und ab 1909 wieder in Douala 393 . Zum Stab des Gouvernements gehörte als Stellvertreter des Gouverneurs auch ein Kanzler, der bis 1898 auch als erstinstanzlicher Richter des Bezirksgerichtes in Douala fungierte 394 und danach den Titel eines Abteilungschefs der Zentral Verwaltung, ab 1900 den Titel eines Referenten führte 395 . Ferner gehörte zur Zentralverwaltung auch ein Finanzdirektor. Als weitere zentrale Landesbehörde bestand die Versuchsanstalt für Landeskultur in Victoria 396 . Schon seit 1885 bestand ein Verwaltungsrat, bestehend aus drei Europäern, der den Gouverneur zu beraten hatte. Aufgrund der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 wurde auch in Kamerun mit Wirkung vom 1. Januar 1905 ein beratender Gouvernementsrat eingerichtet, dem neben 11 Beamten auch 6 Kaufleute, 2 Pflanzer und 3 Missionare angehörten 397. Pläne zur Schaffung von kommunalen Selbstverwaltungsverbänden wurden bis 1914 nicht in die Tat umgesetzt; ein insbesondere auf Douala zugeschnittener Verordnungsentwurf des Gouverneurs über die Errichtung von kommunalen Gebietskörperschaften wurde 1910 vom Gouvernementsrat abgelehnt und danach nicht mehr weiter verfolgt 398 . Als freie Interessenvertretungen der europäischen Kaufleute - ohne den Charakter von

391 Radlauer, S. 162. 392 Schinzinger, S. 97. 393 Owona, S. 122 und S. 104, Fn. 261: nach der Besetzung durch britische und französische Truppen wurde Yaoundé ab 1916 Verwaltungssitz des französischen Teils von Kamerun. 394 y. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 53. 395 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 50. 396 Gerstmeyer, Kommentar, S. 265. 397 y. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 52. 398 Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika - Wirtschaftsinteressen und Kolonial Verwaltung in Kamerun vor 1914, 1970, S. 254.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Selbstverwaltungskörperschaften oder Zwangskörperschaften - konstituierten sich zwei Handelskammern; hierbei handelte es sich um die 1903 gegründete Handelskammer für Douala und Mittelkamerun und die zwischen 1904 und 1907 aufgebaute Handelskammer für Südkamerun 399. Die Lokal Verwaltung gliederte sich 1914 in Bezirksämter für die weitgehend erschlossenen Gebiete sowie in Stationen für die weniger zugänglichen Regionen. Es bestanden 12 Bezirksämter (Douala, Victoria (heute Limbé), Kribi, Edea, Yaoundé, Ebolowa, Jabassi, Dschang, Ossidinge, Banjo, Jukaduma, Lomie und Dume) sowie 7 Hauptstationen (Rio del Rey, heute Issangele; Campo, Lolodorf, Buéa, Johann-Albrechts-Höhe, heute Kumba; Bamenda und Bare) 400 , bei denen es sich um Militärstationen unter der Leitung eines Offiziers handelte, der auch für die Zivilverwaltung zuständig war. Ferner gab es eine Reihe von kleineren Militärposten in entlegenen Regionen 401 . In den weitgehend unabhängig gebliebenen islamischen Fürstentümer des Nordens wurden ab 1903 deutsche Residenturen eingerichtet und damit die deutsche Protektoratsherrschaft über diese Kleinstaaten auch dort nach dem Vorbild der „indirect rule" begründet. Es handelte sich hierbei um Vasallenstaaten der großen, von Großbritannien, Frankreich und dem Deutschen Reich zerschlagenen Feudalreiche von Sokoto und Bornu; nach ihrer Zerschlagung gerieten deren Vasallenstaaten in die Abhängigkeit der jeweils benachbarten Kolonialmacht. Es bestand - jeweils unter der Aufsicht eines Offiziers im Hauptmannsrang als Residenten, der je eine Schutztruppenkompanie zur Verfügung hatte 402 eine Residentur in Kusseri (seit 1913 in Mora) für die Fürstentümer am Tschadsee und eine weitere in Garoua für die Region Adamaua 403 . Togo Die unmittelbare Verwaltung für das Deutsche Reich in Togo stand zunächst unter der Leitung eines kaiserlichen Kommissars, der bis 1891 dem Gouverneur von Kamerun (der diesbezüglich den zusätzlichen Titel eines Oberkommissars für Togo führte) unterstand 404. Ab 1893 wurde der - nunmehr nur der zentralen Kolonialverwaltung in Berlin verantwortliche - kaiserliche Kommissar zum Landeshauptmann ernannt und führte ab 1898 den Titel eines Gouverneurs 405. Der Landeshauptmann und spätere Gouverneur, (sein Amtssitz wurde 1897 von Klein-Popo nach Lomé verlegt) 406 , erhielt 1897 einen Kanzler als Stellvertreter, der ab 1906 399 Hausen, S. 243/244. 400 Hausen, S. 98. 401 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 51. 402 Hausen, S. 106/107. 403 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 51; von der Residentur Adamaua wurde 1913 der südliche Teil als Residentur Ngaundere verselbständigt, vgl. Hausen, S. 106. 404 Erbar, S. 15. 405 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 62. 406 Erbar, S. 13.

9 Fischer

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

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den Titel eines Referenten führte. Zur Zentralverwaltung des Schutzgebietes Togo gehörten ferner ein bautechnischer „Hilfsarbeiter" (d. h. Sachbearbeiter), ein forstwirtschaftlicher Beirat und ein Geologe 407 . Um den Mitbestimmungsinteressen der Vertreter deutscher Handelsunternehmen gerecht zu werden, konstituierte sich schon 1886 ein aus drei (später mehr) Vertretern von deutschen Handelsfirmen bestehender Verwaltungsrat, der beratend den kaiserlichen Kommissar unterstützen konnte 408 . Nach der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 wurde 1904 auch in Togo ein Gouvernementsrat geschaffen, der den Verwaltungsrat ersetzte. Der Gouvernementsrat bestand neben Beamten aus vier Kaufleuten und einem Pflanzer, hinzu kamen ab 1908 zwei Mis409

sionare . Die Lokalverwaltung wurde durch Bezirksämter und Stationen (Polizeistationen unter der Leitung eines Polizeioffiziers, der auch die Zivilverwaltung leitete) durchgeführt 410. Mitte 1910 bestanden in Togo die Bezirksämter Lomé Stadt, Lomé Land, Anécho (das 1905 umbenannte Klein-Popo) und Misahöhe (heute Kpalimé), und die Stationen Atakpamé, Kete-Kratchi, Sokode-Bassari und ManguJendi 411 . Residenturen existierten nicht; vielmehr wurden die weniger erschlossenen Gebiete des Nordens durch die Stationen verwaltet 412 . Um eine Mitwirkung der deutschen Bevölkerung an der Entwicklung von Lomé zu ermöglichen, wurde 1908 über die Einrichtung einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft für Lomé auf der Grundlage der Verordnung des Reichskanzlers vom 3. Juli 1899 diskutiert. Selbst die Beteiligung von angesehenen Einheimischen an der kommunalen Selbstverwaltung wurde nicht ausgeschlossen. Diese Pläne konnten bis 1914 jedoch nicht mehr verwirklicht werden; die 1914 kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges eingeführte Möglichkeit, daß zwei angesehene Bürger von Lomé ihre Wünsche dem Gouverneur vortragen konnten 413 , stellte einen ungenügenden Ersatz für eine kommunale Selbstverwaltung dar. Eine Interessenvertretung der deutschen Kaufleute in Togo bestand seit 1904 in Lomé 4 1 4 .

407

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 63. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 63/64. 409 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 64. 410 Zu der schon eingangs erwähnten Unabhängigkeit der Bezirksamtmänner und Stationsleiter vgl. die - wohl überzeichnete - Darstellung von Sebald, S. 275 ff., der die deutsche Kolonialverwaltung dem Geschichtsbild der DDR entsprechend als Willkürherrschaft darstellt. 408

411

Gerstmeyer, Kommentar, S. 265. Aber auch im Norden Togos bestand - wie in den Residenturgebieten der anderen Schutzgebiete - ein Einreiseverbot für Europäer; selbst die Missionen erhielten dort erst 1912 die Möglichkeit zur Missionsarbeit, vgl. Samuel Decalo, Historical Dictionary of Togo, 3. Aufl., 1996, S. 148. 4 13 Erbar, S. 36. 412

4 4

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Radlauer, S. 142.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Deutsch-Neuguinea In Deutsch-Neuguinea wurde die Verwaltung zunächst durch die NeuguineaCompagnie (NGC) durchgefühlt, die ab 1885 einen Landeshauptmann als obersten Vertreter der NGC einsetzte. Amtssitz des Landeshauptmannes war zunächst Finschhafen, später Friedrich-Wilhelmshafen (heute Madang) 415 . Zusammen mit der Wahrnehmung der wirschaftlichen Interessen der NGC bei der ökonomischen Entwicklung in Neuguinea übte der Landeshauptmann als Chef der Verwaltung auch die der NGC übertragenen Hoheitsrechte aus 416 . Neben der Aufsicht des Reichskanzlers über die NGC im Deutschen Reich, die dem Landeshauptmann als ihrem Angestellten Weisungen erteilen konnte, stellte das deutsche Reich auch Beamte für die richterlichen Tätigkeiten (siehe oben, A. III. 2. e) bb)). Zwischen 1. November 1889 und 1. September 1892 wurde die Leitung der Verwaltung und damit die hoheitlichen Befugnisse auf einen kaiserlichen Kommissar übertragen. Anschließend unterstand die Verwaltung wieder einem Landeshauptmann der NGC, bis schließlich am 1. April 1899 mit der endgültigen Übernahme der Verwaltung durch das Deutsche Reich ein Gouverneur eingesetzt wurde. Amtssitz des Gouverneurs wurde zunächst Herbertshöhe (heute Kopopo) auf der Gazellehalbinsel an der Nordspitze der Insel Neu-Pommern (heute Neubritannien) im Bismarck-Archipel, im Jahre 1910 Rabaul (vorher Simpsonhafen), nur ca. 20 km von Herbertshöhe entfernt. Auch in Deutsch-Neuguinea wurde aufgrund der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 ein Gouvernementsrat im Jahre 1904 eingesetzt, der sich aus 5 Beamten und aus weiteren 5, ab 1908 7 Vertretern der deutschen Zivilbevölkerung (2 Kaufleute, 3 Pflanzer, 2 Missionare) 417

zusammensetzte . Während der Zeit der Verwaltung durch die NGC wurde das Schutzgebiet in einen östlichen Verwaltungsbezirk, der das Inselgebiet, insbesondere das BismarckArchipel und Bougainville umfaßte, und einen westlichen Verwaltungsbezirk, der das Festland von Neuguinea betraf, eingeteilt. Jeder Verwaltungsbezirk stand unter der Leitung eines Bezirksvorstehers 418. Die Lokalverwaltung wurde durch Stationen der NGC wahrgenommen, deren Leiter Verwaltungs- und Polizeibefugnisse für ihren örtlichen Bereich hatten. Nach der Übernahme der Verwaltung durch das Reich wurde die Verwaltung durch Bezirksämter und Stationen durchgeführt, deren Leiter, wie in den anderen Schutzgebieten auch, weitreichende Kompetenzen vor Ort hatten. Zum Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung der Europäer kam es angesichts der geringen Anzahl deutscher Siedler bis 1914 nicht 4 1 9 .

415 Albert Hahl, Deutsch-Neuguinea, 1936, S. 23. 416

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 93. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 94. 418 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 94. 4 *9 Radlauer, S. 185. 417

9*

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln Die durch Kauf von Spanien erworbenen Karolinen, Marianen und Palau-Inseln wurden unmittelbar nach ihrem Erwerb 1899 verwaltungsmäßig in das Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea eingegliedert und das bisher auf diesen Inseln geltende spanische Recht durch Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea aufgehoben420. Auch die Marshall-Inseln, zusammen mit Nauru ab 1885 durch einen kaiserlichen Kommissar (später Landeshauptmann) im Einvernehmen 421 mit der Deutschen Jaluit-Gesellschaft verwaltet, wurden mit Wirkung vom 1. April 1906 in das Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea eingegliedert. Nach der dadurch ausgelösten Neugliederung der Verwaltung bestanden vor Beginn des ersten Weltkrieges 4 Bezirksämter und 12 unterstellte Regierungsstationen; es handelte sich um FriedrichWilhelmshafen (Madang), zuständig für das Festland von Neuguinea, mit den unterstellten Regierungsstationen Aitape, Morobe, Manus und Angorum; Rabaul (Simpsonhafen), zuständig für das Bismarck-Archipel und Bougainville mit den Stationen Namatanai, Kavieng und Kieta; Yap, zuständig für die Westkarolienen, Marianen und Palau-Inseln mit den Stationen Saipan (Marianen) und Koror (PalauInseln); sowie Ponape, zuständig für die Ostkarolinen, Marshall-Inseln und Nauru mit den Stationen Truk (Ostkarolinen), Jaluit (Marshall-Inseln) und Nauru 422 . Samoa In Samoa wurde nach der Übernahme durch das Deutsche Reich 1900 ein Gouverneur eingesetzt, der seinen Amtssitz in Apia hatte. 1901 wurde die Stelle eines Referenten geschaffen, der den Rang eines stellvertretenden Gouverneurs hatte; diese Funktion wurde ab 1904 von dem kaiserlichen Oberrichter in Apia übernommen 4 2 3 . Zur Zentral Verwaltung in Apia zählten auch 2 Gouvernementssekretäre, ein Polizeivorsteher mit zahlenmäßig geringen einheimischen Polizeimannschaften 4 2 4 sowie ein für die eingewanderte chinesische Bevölkerung zuständiger sogen. Chinesenkommissar. Als Mitbestimmungsorgan der sehr einflußreichen gewerbetreibenden europäischen Bevölkerung wurde in Ausführung der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 in Jahre 1906 ein Gouvernementsrat eingerichtet, dem 4 Beamten, darunter der Gouverneur, und 8 Zivilpersonen (3 Kauf420 Verordnung des Gouverneurs von Neuguinea, betreffend die Aufhebung spanischer Bestimmungen für das Inselgebiet der Karolinen, Palau und Marianen vom 4. November 1899, DKGG 4, S. 125; vgl. Maas, S. 130. 421 Die Jaluit-Gesellschaft in Hamburg konnte die Verwaltungsbeamten vorschlagen, die vom kaiserlichen Kommissar - vorbehaltlich der Genehmigung des Reichskanzlers - dann ernannt wurden; ferner war sie vor dem Erlaß von Verwaltungsvorschriften anzuhören. Dafür beteiligte sie sich am Etat für die Marshall-Inseln; vgl. hierzu v. König, S. 9. 422 Hahl, S. 24; Gerstmeyer, Kommentar, S. 266. 423 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 104. 424 Bis 1914 reichten ca. 50 Polizisten für die Verwaltung des gesamten Schutzgebietes aus, vgl. Robert D. Craig /Frank P. King, (Hrsg.), Historical Dictionary of Oceania, 1981, S. 107.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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leute, 3 Pflanzer, ein Händler und ein ehemaliger Beamter) angehörten 425. Mit diesem Gouvernementsrat wurde der bisherige Munizipalrat von Apia aus der Zeit der britisch-amerikanisch-deutschen Mitbestimmung der samoanischen Politik vor 1900 ersetzt, eine gesonderte Kommunalverwaltung für die europäische Bevölkerung existierte nicht mehr 426 . Die Lokalverwaltung wurde für die Hauptinsel Upolu durch das Gouvernement bzw. durch den Polizeivorsteher von Apia, für die Insel Savaii durch einen örtlichen Regierungsbeamten („Amtmann") ausgeübt427. Tsingtau (Kiautschou) Im Schutzgebiet Kiautschou stand die Zivil- und die Militärverwaltung unter der Leitung eines Seeoffiziers, der den Titel eines Gouverneurs führte 428 . Der Gouverneur unterstand dem Reichsmarineamt und damit dessen Staatssekretär (seit 1897 Admiral v. Tirpitz), und nicht dem Reichskolonialamt429. Stellvertreter des Gouverneurs und sein Chef des Stabes war ebenfalls ein Seeoffizier; zum Stab des Gouverneurs gehörten ferner ein Platzmajor, ein Ingenieuroffizier, ein Artillerieoffizier und ein Intendant 430 . Zur zentralen Verwaltung des Schutzgebietes zählte ein Zivilkommissar für die Angelegenheiten der europäischen Bevölkerung, ein Kommissar für chinesische Angelegenheiten, ferner ein höherer Forstbeamter und ein Polizeichef für das Stadtgebiet von Tsingtau mit ca. 30 deutschen Polizeiwachtmeistern und ca. 80 bis 120 einheimischen Polizisten 431 , die insbesondere für den Hafen und das Chinesenviertel zuständig war. In Tsingtau bestanden als besondere Lokalbehörden noch die Bauverwaltung unter der Leitung eines Baudirektors, die Hafen Verwaltung und die Werft unter der Leitung des Hafenkapitäns, das 1912 eröffnete astronomisch-meteorologische Observatorium sowie ein Katasteramt 432. Eine örtliche Selbstverwaltung bestand nur für die chinesische Bevölkerung (siehe unten), nicht jedoch für die europäische Bevölkerung 433 . Als besondere Selbstverwaltungskörperschaft ist jedoch die deutsch-chinesische Handelskammer zu erwähnen 434 . Zur Beratung der chinesischen Stadtgemeinde und des Gouverneurs wurde 1902 ein 12-köpfiges „chinesisches Komitee" eingerichtet, das sich aus angesehenen Mitgliedern des Kaufmannsstandes zusammensetzte; 1910 wurde es aufgelöst und durch 4 Vertrauensleute ersetzt, die auf Vorschlag der chinesischen 425

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 105. 26 Radlauen S. 192. 427 Gerstmeyer, Kommentar, S. 266; Radlauer, S. 191. 4 28 Allerhöchste Order vom 1. März 1898, DKGG 4, S. 161. 4 29 Leutner, S. 171. 4

430

Hans Weicker, Kiautschou Das deutsche Schutzgebiet in Ostasien, 1908, S. 99. 1 Huang, S. 144. 432 v.König, S. 9/10. 43

433 434

v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 109. Huber, Bd. 4, S. 625.

1

Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Handelsgilden ernannt wurden 435 . Mitwirkungsbefugnisse bei den Verwaltungstätigkeiten des Gouvernements, insbesondere Anhörungsrechte, erhielt die im Laufe der Zeit steigende Zahl der deutschen Siedler schon aufgrund der Verordnung des Gouverneurs vom 13 März 1899 436 , die die Konstituierung eines 3-köpfigen Gremiums ermöglichte. Diese Mitwirkungsmöglichkeit wurde durch den aufgrund der Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Dezember 1903 im Jahre 1907 eingerichteten Gouvernementsrat ersetzt, der aus 7 Beamten (einschließlich des Gouverneurs) und 4 Vertretern der deutschen Siedler bestand; hiervon wurde ein Vertreter durch die in Kiautschou tätigen Handelsunternehmen ernannt und die restlichen 3 Vertreter durch freie Wahl der deutschen Siedler bestimmt 437 . Die Lokalverwaltung gliederte sich in die beiden Bezirksämter Tsingtau und Litsun, jeweils unter der Leitung eines Bezirksamtmannes 438.

(3) Das Steuer- und Zollrecht sowie die Steuer- und Zollverwaltung in den Schutzgebieten Der Beginn einer geordneten Steuer- und Zollverwaltung 439 wurde durch das Gesetz über die Einnahmen und Ausgaben der Schutzgebiete vom 30. März 1892 440 markiert. Von nun an stellte jedes Schutzgebiet seinen eigenen Haushalt auf und war sowohl für die Bewirtschaftung des Schutzgebietes als auch für die Einnahmenerzielung durch Steuern und Zölle selbst verantwortlich 441 . Allerdings bedeutete die rechtliche Selbständigkeit der Schutzgebiete in haushaltsrechtlicher Hinsicht noch nicht zwangsläufig eine faktische finanzielle Selbständigkeit vom Deutschen Reich. Gemäß § 2 und § 3 des Gesetzes von 1892 hatte der Reichskanzler (bzw. für diesen die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, später das Reichskolonialamt, für Kiautschou das Reichsmarineamt 442) die Etats der Schutzgebiete dem Reichstag und dem Bundesrat vorzulegen. Zusätzlich wurden die Haushalte der Schutzgebiete durch den Rechnungshof des Deutschen Reichs geprüft 443 . Vor der Rechnungslegung wurden darüber hinaus die Haushalte zunächst intern von der Kolonialbuchhalterei der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, ab 1898 durch besondere, in die Schutzgebiete entsandte Finanzkommissare ge-

435

Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Deutsche Kolonialpolitik in Dokumenten, 1938, S. 421. Verordnung des Gouverneurs betreffend die Wahl von Zivilgemeindevertretern vom 13. März 1899, DKGG 4, S. 188. 437 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 109-111. 438 Gerstmeyer, Kommentar, S. 267. 439 Überblick bei Friedrich Weber, Die koloniale Finanzverwaltung, 1909, S. 1 ff. " o RGBl. 1892, S. 369 und Triepel, S. 259. 441 Werner Maas, Deutsches koloniales Steuerrecht, 1942, S. 22/23. 442 Maas, S. 23. 436

443

Gaul, S. 64/65.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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prüft, die ab 1902 als „Finanzdirektoren" den Gouverneuren direkt unterstellt wurden 444 . Da die meisten Schutzgebiete auch weiterhin auf Reichszuschüsse zum Ausgleich ihres Etats angewiesen waren 445 , sah § 4 des Gesetzes von 1892 die Finanzierung des Zuschusses im Wege einer Anleihe beim Reich vor, die durch Reichsgesetz zu beschließen war und damit ein Mitspracherecht des Reichstages bei der Finanzierung der Kolonialhaushalte begründete. Für die zentrale Finanzverwaltung war für jedes Schutzgebiet eine Finanzabteilung beim Gouvernement zuständig 446 , der auch die Finanzdirektoren angehörten. Zur Aufgabe der Finanzabteilungen gehörte neben der Aufstellung und Prüfung des jährlichen Schutzgebietshaushaltes die Durchführung des Besteuerungswesens, gleichermaßen im Hinblick auf die Besteuerung von Europäern und Einheimischen. Da die Schutzgebiete jeweils besondere Zollgebiete bildeten und für das Deutsche Reich Zollausland darstellten (für Einfuhren aus den Schutzgebieten in das Deutsche Reich galten jedoch Meistbegünstigungszollsätze), konnten die Schutzgebiete auf Ein- und Ausfuhrwaren Zölle erheben. Zum Zwecke der Einnahmenerzielung erhoben die Schutzgebiete entsprechende Zölle, lediglich im Gebiet der Kongo-Akte (Teile des östlichen Kamerun und westliche Gebiete von DeutschOstafrika) war die Erhebung von Einfuhrzöllen verboten 447 . Die zentrale Zollverwaltung des Schutzgebietes wurde zunächst von selbständigen Zollabteilungen, später von der zentralen Finanzabteilung des Schutzgebietes durchgeführt (in der Regel durch den Referenten für Finanz- und Zollangelegenheiten). Verantwortlich für die örtliche Steuerverwaltung waren keine besonderen Finanzbehörden (Finanzämter), sondern die allgemeinen örtlichen Behörden, also die Bezirksämter, vereinzelt auch die Stationen, bei kommunalen Abgaben die Gemeinden 448 . Wegen des Fehlens einer effizienten lokalen Steuerverwaltung hatten direkte Steuern in den Schutzgebieten wenig Bedeutung, es überwogen die indirekten Steuern 449. Demgegenüber bestand für jedes Schutzgebiet eine eigene örtliche Zollverwaltung mit Hauptzollämtern, Zollämtern und Zollstationen. Die Grundlage für die Steuer- und Zollgesetzgebung bildete § 15 SGG in Verbindung mit § 5 der schon erwähnten Verfügung des Reichskanzlers vom 27. September 1903 450 , die den Gouverneuren die Verordnungsbefugnis auch auf dem Ge444 Gaul, S. 64/65. 445 Schinzinger, S. 98/99; insbesondere die Besoldung der Schutztruppe erfolgte stets aus Reichszuschüssen, vgl. Erbar, S. 174. 446 Maas, S. 23. 447 Gaul, S. 170/171. 448 Maas, S. 26/27. 449 Schinzinger, S. 104. 450 Verfügung des Reichskanzlers betreffend die seemannsamtlichen und konsularischen Befugnisse und das Verordnungsrecht der Behörden in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee vom 27. September 1903, DKB1. 1903, S. 509.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

biet des Steuer- und Zollwesens übertrug 451 . Wie im Deutschen Reich bestand auch in den Schutzgebieten kein einheitliches Besteuerungsverfahren, vielmehr wurde das Verfahren im jeweiligen Steuergesetz geregelt 452 . Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika zählte die Hüttensteuer zu der wichtigsten Steuer. Bei ihr handelte es sich um eine Variante der schon jahrhundertealten Kopfsteuer, mit der - ohne Differenzierung - jeder Steuerpflichtige („pro K o p f ) belegt wurde. Wegen der festansässigen Bevölkerung in den Küstengebieten von Ostafrika erwies sich die Hüttensteuer als sachgerechter, da das Besteuerungsobjekt, die Hütte, leicht zu erfassen war 4 5 3 . Nachdem die Hüttensteuer schon zur Zeit der Herrschaft des Sultans von Sansibar existierte, wurde sie 1897 durch Verordnung des Gouverneurs in Deutsch-Ostafrika neu eingeführt 454 . Von der Besteuerung wurden auch die Häuser von Europäern erfaßt, lediglich Gebäude des Fiskus (Regierungsgebäude) und Kirchen wurden ausgenommen. Zur Festsetzung der Steuer wurden die Häuser in verschiedene Klassen (Hütten der Einheimischen, der Inder oder der Europäer) eingeteilt, bei den Hütten der Einheimischen betrug die Steuer 3 Rupien jährlich, bei europäischen Häusern zwischen 15 und 100 Rupien jährlich, je nach Mietwert 455 . Für entlegene Gebiete außerhalb des Kontrollbereiches der Bezirksämter und Stationen war weiterhin statt der Hüttensteuer die Erhebung der Kopfsteuer vorgesehen. Während die Besteuerung der Hütten in den Dörfern der Einheimischen meist durch die Dorfältesten (Akiden, Jumben) erfolgte, die den Ertrag an das Bezirksamt ablieferten, erfolgte die Besteuerung der übrigen Häuser im Wege der Veranlagung durch das zuständige Bezirksamt oder die zuständige Station 456 . Grundsätzlich war die Steuer in Geld zu entrichten, von den Einheimischen konnte sie aber auch in Naturalleistungen erbracht werden, so ζ. B. durch die Lieferung von Früchten, Nüssen, Kautschuk, Bienenwachs, Elfenbein oder durch die Erbringung von Dienstleistungen für die Verwaltung (ζ. B. Bau von Straßen, Brücken oder öffentlichen Gebäuden) oder Privatunternehmen (in diesem Fall zahlte dann der Unternehmer die auf den Einheimischen entfallenden Steuer an den Fiskus) 457 . Am Steueraufkommen wurden die Kommunalverbände zur Hälfte beteiligt, während die andere Hälfte vom Schutzgebietsfiskus vereinnahmt wurde 458 . Als weitere aliger i Maas, S. 25. 452 Maas, S. 42. 453 Gaul, $.16111. 454 Verordnung des Gouverneurs betreffend die Erhebung einer Häuser- und Hüttensteuer in Deutsch-Ostafrika vom 1. November 1897, DKGG 2, S. 368. 455 Gaul, S. 78/79. 456 Maas, S. 66. 457 Vgl. Bernd Arnold, Steuer- und Lohnarbeit im Südwesten von Deutsch-Ostafrika 1891-1916, 1994, S. 85 ff. 458 Gaul, S. 84.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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meine, d. h. Europäer und Einheimische betreffende Steuer wurde 1899 eine Gewerbesteuer in Höhe von jährlich 4% des Gewerbeertrages eingeführt 459 . Ausgenommen von der Gewerbesteuer wurden jedoch Erträge aus Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Bergbau. Der Gewerbeertrag wurde in der Regel durch eine Einschätzungskommission des zuständigen Bezirksamt ermittelt; hiergegen konnte Beschwerde bei einer Obereinschätzungskommission eingelegt werden, die vom Gouverneur ernannt wurde 460 . Ferner ist noch eine Salzverbrauchsabgabe, die auf die Gewinnung von Salz erhoben wurde, zu erwähnen 461. Wie unter A. III. 3. a) cc) (2) bereits dargelegt, bestanden in Deutsch-Ostafrika Kommunalverbände mit rechtlicher Selbständigkeit, die zur Erhebung eigener Steuern mit örtlichen Bezug berechtigt waren. Neben der Tembosteuer (bei Tembo handelte es sich um einen Palmwein, der überwiegend von der einheimischen Bevölkerung konsumiert wurde) für Einheimische (siehe hierzu A. III. 3. b) cc) (1)) betraf dies insbesondere die Hundesteuer. Als einziger Kommunalverband erhob die Stadt Daressalam ab 1899 eine Hundesteuer für (Luxus)Hunde, die sowohl europäische als auch einheimische Besitzer betraf 462 . Zur Erhebung von Ein- und Ausfuhrzöllen auf Warenlieferungen wurde in Deutsch-Ostafrika eine eigene lokale Zollverwaltung aufgebaut, diese bestand aus den 5 Hauptzollämtern Daressalam, Bagamoyo, Tanga, Lindi und Muansa sowie zahlreichen Nebenzollämtern und Zollstationen 463 . Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika wurde seit 1909 eine Grundsteuer und eine Grunderwerbsteuer erhoben 464. Während die Bemessung der Grundsteuer von der Fläche und dem Charakter des jeweiligen Grundstücks als Stadt- oder Landgrundstück abhing, belief sich die Grunderwerbsteuer auf 2% des Entgeltes 465 . Daneben hatte die Wandergewerbehändlersteuer einige Bedeutung, da wegen der Weite des Lan459 Runderlaß des Gouverneurs betreffend die Erhebung einer Gewerbesteuer, nebst den dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen, vom 22. Februar 1899, DKGG 4, S. 39; aufgehoben und neu gefaßt durch Runderlaß des Gouverneurs betreffend die Gewerbesteuer vom 16. März 1900, DKGG 5, S. 41; ergänzt durch die Gewerbesteuerverordnung des Gouverneurs vom 7. Dezember 1907, DKGG 11, S. 421. 4 60 Gaul, S. 88/89. 461 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Verbrauchsabgabe von Salz für das deutsch-ostafrikanische Schutzgebiet vom 12. Mai 1904, DKGG 8, S. 111; ergänzt durch die Bekanntmachung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung der Salzabgabe vom 9. Dezember 1904, DKGG 8, S. 259; Gaul, S. 95-97. 462 Verordnung des kaiserlichen Bezirksamtes, betreffend die Erhebung einer Hundesteuer im Bezirk der Stadt Daressalam, vom 24. Juli 1899, DKGG 4, S. 84; Maas, S. 122; Gaul, S. 98/99. 463

Gerstmeyer, Kommentar, Anhang S. 264. Beides geregelt in der Verordnung des Gouverneurs über die Besteuerung des Grundeigentums vom 19. März 1909, DKB1. 1909, S. 479. 4 65 Maas, S. 102. 464

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

des die Bevölkerung auf den Handel mit Wanderhändlern angewiesen war. Diese nur Europäer betreffende Steuer - war gleichzeitig mit der Erteilung eines Wandergewerbescheines im voraus zu zahlen und hing von der Art der Handelstätigkeit ab (ζ. B. Handel mit Fuhrwerken, Schausteller oder Inhaber von festen Wanderlagern) 466 . Nach der Entdeckung von Diamantenvorkommen im Jahre 1908 „entdeckte" der Schutzgebietsfiskus die Besteuerung der Unternehmen, die Diamanten förderten, als neue Einnahmequelle. Nachdem zunächst Ausfuhrzölle auf Diamanten und hohe Lizenzgebühren auf Schürflizenzen erhoben wurden, kam es 1912 zur Einführung der Diamantensteuer 467. Die Gewinne der Unternehmen, die den Diamantenabbau betrieben, unterlagen einer Steuer von 66%; das Steueraufkommen stand zu 98% dem Schutzgebietsfiskus und zu 2% der Diamanten-Regie-Gesellschaft (eine Gesellschaft, die das Monopol für den Verkauf und die Verwertung der geförderten Diamanten hatte), zu 4 6 8 . Zu den weiteren Einnahmequellen des Schutzgebietes zählten eine Wagensteuer, mit der Eigentümer von Fuhrwerken besteuert wurden 469 , sowie Lizenzgebühren für den Ausschank von Spirituosen 470 und den Handel mit Feuerwaffen 471. Eine allgemeine Kopfsteuer für die einheimische Bevölkerung existierte nicht; allerdings schufen einige Bezirke eine Steuer für die einheimische Bevölkerung, die einer Einkommensteuer (Besteuerung abhängig zur Einkommenshöhe im Unterschied zur Kopfsteuer) ähnlich war (siehe unten); Pläne hinsichtlich der Einführung dieser Steuer im gesamten Schutzgebiet konnten bis 1914 nicht mehr verwirklicht werden 472 . Auch die Kommunal verbände in Deutsch-Südwestafrika hatten, ebenso wie in Deutsch-Ostafrika, als Bestandteil ihrer kommunalen Finanzhoheit das Recht zur Erhebung örtlicher Steuern durch Satzung; dies betraf vor allem die Hundesteuer. Grundlage für die kommunalen Hundesteuersatzungen war die Verordnung des Gouverneurs vom 23. Februar 1907 473 .

466 Verordnung des Landeshauptmannes, betreffend die Besteuerung der Wanderhändler in Südwestafrika vom 26. Juni 1895, DKGG 2. S. 162; abgeändert durch die Verordnung des Gouverneurs vom 10. Oktober 1901, DKGG 6, S. 401; zuletzt geändert durch die Verordnung des Gouverneurs vom 7. November 1908, DKB1. 1909, S. 5. 467 Verordnung über die Besteuerung von Diamantenabbaubetrieben in Deutsch-Südwestafrika vom 30. Dezember 1912, DKB1. 1913, S. 25. 468 Maas, S. 117. 469 Verordnung des Gouverneurs, betreffend eine Wege- und Wagenabgabe in Südwestafrika, vom 30. Dezember 1895, DKGG 2, S. 205; ergänzt durch die Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Wagenabgabe in Deutsch-Südwestafrika, vom 27. Oktober 1901, DKGG 6, S. 406; vgl. Gaul, S. 125-127. 470 Gaul, S. 118. 471 Gaul, S. 129. 472 Maas, S. 76/77. 473 Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika, betreffend die Besteuerung von Hunden vom 23. Februar 1907, DKB1. 1907, S. 385.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Für die Erhebung der Einfuhr- und Ausfuhrzölle wurden 3 Zollämter in Swakopmund, Lüderitzbucht und Windhuk sowie mehrere Zollstationen und Zollabfertigungsstellen eingerichtet 474. Kamerun In Kamerun bestand für die dichter besiedelten Gebiete, ähnlich wie in DeutschOstafrika, eine Häuser- und Hüttensteuer, während in den wenig erschlossenen Gebieten die einheimische Bevölkerung zur Kopfsteuer herangezogen wurde. Daneben bestand eine Grunderwerbsteuer in Höhe von 5% des Entgeltes, bei bebauten Grundstücken in Höhe von 10% des Entgeltes 475 . Eine Besonderheit in Kamerun stellte die Spirituosenhandelssteuer dar: in Kamerun tätige Handelsunternehmen hatten schon vor der deutschen Kolonialisierung an die einheimischen Häuptlinge die sogen. Kumiabgabe zu leisten und waren damit der Willkür der Häuptlinge ausgeliefert. Dieses Recht zur Einziehung der Kumiabgabe wurde den Häuptlingen auch in den Schutzverträgen weiter zugesichert 476 . Um die Kumiabgabe durch eine Zahlung an die Häuptlinge abzulösen, führte die deutsche Verwaltung die Spirituosenhandelssteuer ein 4 7 7 . Ab 1885 wurde von jedem europäischem Handelsunternehmen für die Abgabe von Branntwein eine jährliche Spirituosenhandelssteuer in Höhe von 2.000 Mark erhoben. Die Erträge aus dieser Steuer flössen in den sogenannten Kamerunfonds bei der Deutschen Reichsbank in Berlin, aus dessen Zinserträgen die Kumiabgabe, die 1888 letztmalig erhoben wurde, durch Pauschalzahlungen an die Häuptlinge ersetzt wurde 4 7 8 . Diese Zweckbestimmung der Spirituosenhandelssteuer fiel 1907 weg, da die Zinsen des Kamerunfonds für die Zahlungen an die Häuptlinge nun ausreichten, so daß der Steuerertrag nun dem Schutzgebietsfiskus zufloß 479 . Zu erwähnen ist ferner noch die Erhebung einer Hundesteuer, die - da keine Kommunalverbände in Kamerun existierten - von den Bezirksämtern in Douala 480 , später auch in Victoria, Edea und Kribi erhoben wurde 481 . Für die lokale Zollverwaltung bestanden ein Hauptzollamt in Douala, Zollämter in Douala und Victoria und einige Zollstationen 482 . 474 Maas, S. 28. 475 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Umsatzsteuer bei dem Erwerbe von Grundeigentum im Schutzgebiet Kamerun vom 1. November 1909, DKB1. 1910, S. 43. 476

Zusammenfassend: Gaul, S. 100 ff.

477

Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Einführung einer Abgabe auf den Handel mit Spirituosen im Kamerungebiete vom 20. Juli 1885, DKGG 1, S. 239. 47 » Maas, S. 108/109. 479 Gaul, S. 102. 480 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Einführung einer Hundesteuer im Stadtbezirk Douala vom 23. September 1901, DKGG 6, S. 395. 4

81 Gaul, S. 104.

482

Gerstmeyer, Kommentar, Anhang S. 265.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Togo Zur Haupteinnahmequelle des Fiskus in Togo zählte die 1890 eingeführte Firmensteuer, nach der jedes Handelsunternehmen, das im Import- oder Exporthandel tätig war, eine jährliche Steuer von 1.000 Mark zu zahlen hatte 483 . 1899 wurde die Steuer - nach dem heftigen Widerstand der Handelsunternehmen 484 - modifiziert und vom Umfang der Handelstätigkeit des Unternehmens abhängig gemacht 485 . Die als Ersatz für die bisher für die einheimische Bevölkerung geltende Kopfsteuer ab 1909 im Küstengebiet eingeführte Einkommensteuer, die - erstmals in den deutschen Schutzgebieten - die Besteuerung von der Einkommenshöhe abhängig machte, wurde nur bei der einheimischen Bevölkerung erhoben 486 . Zu den weiteren Einkunftsquellen des Fiskus zählten eine Lizenzgebühr für die Schankerlaubnis, eine von den Bezirksämtern erhobene Hundesteuer 487 und eine Lizenzgebühr für die Gummihandelslizenz488. Zwar war auch das Schutzgebiet Togo ein eigenes Zollgebiet, doch um den umfangreichen Schmuggel über die Landgrenzen nach Britisch-Goldküste und Französisch-Dahomey zu verhindern, wurde vertraglich von 1887 bis 1894 mit Dahomey und von 1894 bis 1904 mit Britisch-Goldküste jeweils ein gemeinsames Zollgebiet (Zollunion) errichtet; wegen der zurückgehenden Einnahmen aus Einfuhrund Ausfuhrzöllen wurden beide Zollvereinbarungen wieder aufgehoben 489. Für die lokale Zollverwaltung bestanden Zollämter in Lomé, Agbanake, Tokpli und Noepe, ferner 16 Zollnebenstellen490. Deutsch-Neuguinea In Deutsch-Neuguinea wurde 1888 eine „Gewerbe- und Einkommensteuer" durch die Neuguinea-Compagnie (NGC) mit Genehmigung des Reichskanzlers eingeführt 491 . Ungeachtet der Bezeichnung als Einkommensteuer handelte es sich 483 Verordnung des Kaiserlichen Kommissars, betreffend die Erhebung einer Firmenabgabe vom 27. Oktober 1890/25. Mai 1891, DKGG 1, S. 278. 484 Schinzinger, S. 106. 485 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Neuregelung der Abgabe von Handelsgewerbe vom 1. August 1899, DKGG 4, S. 85; Gaul, S. 110. 486 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Besteuerung der Eingeborenen in Lomé und Anécho vom 15. März 1909, DKGG 13, S. 163; siehe unten, A. III. 3. b) cc) (1). 487 Verordnung des Landeshauptmannes für die Stadtbezirke Lomé und Klein Popo (1905 umbenannt in Anécho, Anmerkung des Verfassers), betreffend eine Hundesteuer, vom 27. Mai 1897, DKGG 2, S. 348, unwesentlich geändert durch die Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Hundesteuer vom 3. Februar 1910, DKB1. 1910, S. 311; Gaul, S. 115-117. 488 Verordnung des Landeshauptmannes, betreffend den Gummihandel und die Gummigewinnung im Togogebiete vom 20. Februar 1897, DKGG 2, S. 329. 489 Erbar, S. 176-179. 490 Gerstmeyer, Kommentar, Anhang S. 265. 491 Verordnung der Neuguinea-Compagnie, betreffend die Erhebung einer Gewerbe- und Einkommensteuer vom 30. Juni 1888, DKGG 1, S. 530.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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lediglich um eine einkommensabhängige Steuer für Gewerbetreibende. Zuständig für die Veranlagung war ein Angestellter der NGC, Rechtsmittel gegen die Steuerveranlagung konnten beim Landeshauptmann eingelegt werden. Nach der Übernahme der Verwaltung durch das Deutsche Reich wurde die Steuer als Handelsund Gewerbesteuer ab 1905 neu modifiziert; besteuert wurden nun Händler, Handwerker und Gastwirte mit einer jährlichen Steuer zwischen 40 Mark und 4.000 Mark, abhängig von der durch eine besondere Einschätzungskommission des Gouvernements geschätzten Betriebsgröße 492. Für die Erhebung der Einfuhr- und Ausfuhrzölle waren gemäß der Zollverordnung vom 10. Juni 1908 493 die Bezirksämter und Stationen zuständig. Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln Während auf den 1899 verwaltungsmäßig in Deutsch-Neuguinea eingegliederten Marianen, Karolinen und Palau-Inseln auch Steuern und Zölle ebenso wie in Deutsch-Neuguinea erhoben wurden, galt für die Marshall-Inseln ein abweichender Rechtszustand, der auch nach der 1906 erfolgten verwaltungsmäßigen Eingliederung in Deutsch-Neuguinea beibehalten wurde (auch danach wurde für die Marshall-Inseln weiterhin ein gesonderter Etat geführt) 494 . Auf den Marshall-Inseln wurde eine Gewerbesteuer auf die Einkünfte von Handelsunternehmen in Höhe von jährlich 200 Mark bis 9.000 Mark erhoben 495 , die 1905 der Gewerbesteuer von Deutsch-Neuguinea angenähert wurde 496 . Weitere Einnahmen in den Marshall-Inseln erzielte der Fiskus aus der Erhebung einer Kopfsteuer (die allerdings nur Europäer, nicht jedoch Einheimische betraf) 497 und einer Lizenzgebühr für die Anlage von Pflanzungen 498; auf den Palau-Inseln, Marianen und Karolinen wurden eine Hundesteuer (nur auf den Marianen) 499 und verschiedene Lizenzgebühren 500 erhoben 501. 492 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Gewerbesteuer vom 26. Januar 1905, DKGG 9, S. 41; ergänzt durch die Ausführungsbestimmungen des Gouverneurs vom 18. Februar 1905, DKGG 9, S. 59; vgl. auch Gaul, S. 134/135. 493 Zollverordnung für Deutsch-Neuguinea vom 10. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 883. 494

Gaul, S. 141. Verordnung des Kaiserlichen Kommissars für die Marshall-Inseln, betreffend die Erhebung von Gewerbesteuern, vom 28. Juni 1888, mit Änderungen vom 15. Juli 1889, 17. April 1890 und 2. August 1890, DKGG 1. S. 620. 49 6 Verordnung des Landeshauptmannes der Marshall-Inseln, betreffend den Handelsbetrieb in den Marshall-Inseln vom 14. September 1905, DKGG 9, S. 250. 497 Verordnung des Kaiserlichen Kommissars für die Marshall-Inseln, betreffend die Erhebung von Gewerbesteuern, vom 28. Juni 1888, einschließlich Änderungen, siehe Fn. 237; geändert durch die Verordnung des Kaiserlichen Landeshauptmannes der Marshall-Inseln, betreffend die Einführung von Steuern, vom 29. August 1898, DKGG 3, S. 120. 495

49 8 Verordnung, betreffend das Anpflanzen von jungen Kokosnußbäumen auf den Marshall-Inseln vom 22. September 1894, DKGG 2, S. 129. 499 Verordnung des Bezirksamtmannes der Marianen, betreffend die Einführung einer Hundesteuer im Amtsbezirk Saipan vom 1. Februar 1902, DKGG 6, S. 450.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Für die Zollverwaltung waren für das Gebiet der Marshall-Inseln die Stationen Jaluit und Nauru, für das übrige Inselgebiet die Bezirksämter Ponape und Yap sowie die Stationen Truk, Angaur, Koror und Saipan zuständig 502 . Samoa In Samoa wurden nach der Übernahme der Verwaltung durch das Deutsche Reich zunächst die bestehenden, durch die Generalakte der Samoa-Konferenz festgelegten Steuern weiterhin erhoben (die Generalakte selbst war dagegen durch das Abkommen vom 2. Dezember 1899 zwischen den USA, Großbritannien und dem Deutschen Reich aufgehoben worden) 503 . Demgemäß wurde die einheimische Bevölkerung zu einer Kopfsteuer herangezogen, während die europäische Bevölkerung statt dessen für ihre Grundstücke eine Grundsteuer in Höhe von 1 % des Wertes zu zahlen hatten; die Grundstücke der Einheimischen blieben steuerfrei 504. Weitere Steuern betrafen Händler (deren Gewerbe zur Durchführung der Besteuerung in Klassen, abhängig von der Art des Handels, eingeteilt wurde), Eigentümer von Booten und von Schußwaffen; ferner existierte eine Hundesteuer für das Stadtgebiet von Apia. Überlegungen zur Einführung einer Einkommensteuer wurden wegen fehlender Möglichkeiten zur Einkommensermittlung wieder fallengelassen 505 . Die Neuregelung des Steuerrechts ab 1909 entsprach inhaltlich der schon bestehenden Besteuerung 506. Einnahmen erzielte der Schutzgebietsfiskus ferner aus den Hafengebühren für den Hafen von Apia, Lizenzgebühren und Zöllen. Die Zollverwaltung wurde durch das Zollamt Apia durchgeführt 507. Tsingtau (Kiautschou) In Kiautschou wurde - wie schon erwähnt - zur Verhinderung von Grundstücksspekulationen eine Grundsteuer in Höhe von 6% des Wertes (entsprach dem Kaufpreis bei Erwerb vom Gouvernement) 508 eingeführt, wobei sich bei nicht bestim500

Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea, betreffend die Erlaubnis zur Ausübung einiger Gewerbebetriebe vom 14. März 1903, DKGG 7, S. 62. 501 Hierzu ausführlich Gaul, S. 147-155. 502 Maas, S. 29. 503 Verordnung des Gouverneurs von Samoa, betreffend die Rechtsverhältnisse, vom 1. März 1900, DKGG 5, S. 33. 504 Gaul, S. 158. 505 Maas, S. 75. 506 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Neuregelung des Steuerwesens vom 12. November 1909, DKGG 13, S. 632; Verordnung des Gouverneurs, betreffend das Verfahren bei der Erhebung von Steuern und Abgaben nach der Verordnung von 1909, vom 3. Januar 1911, DKB1. 1911, S. 269. 507 Maas, S. 29/30. 508 Vgl. § 8 der Landordnung vom 2. September 1898 (siehe oben, A. III. 3. a) aa) (3) ); Wilhelm L. Schrameier: Aus Kiautschous Verwaltung - Die Land-, Steuer- und Zollpolitik des Kiautschougebietes, 1914, S. 77.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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mungsgemäßer Nutzung des Grundstücks die Grundsteuer auf 9% und alle 3 Jahre um weitere 3% auf höchstens 24% erhöhte 509 . Eine zusätzliche Maßnahme zur Verhinderung der Grundstücksspekulation stellte eine Wertzuwachssteuer in Höhe von 33 1 /3% des Reingewinnes bei Grundstücksveräußerung dar, mit der ein Teil des Spekulationsgewinnes abgeschöpft werden sollte 510 . Als weitere Steuern sind eine Hundesteuer für das Stadtgebiet von Tsingtau 511 , Hafengebühren sowie einige Lizenzgebühren, unter anderem für die Erteilung eines Gewerbescheines512 zu erwähnen; zu den Lizenzgebühren zählte auch eine Lizenzgebühr für den Verkauf von Opium und den Betrieb eines Opiumhauses513, da man realistischerweise davon ausging, daß angesichts des im benachbarten China üblichen Opiumkonsums sich ein Verbot in Kiautschou nicht durchsetzen lassen konnte; der Opiumkonsum sollte aber wenigstens auf öffentlich zugängliche Opiumhäuser beschränkt werden und durch Lizenzgebühren und Einfuhrzölle verteuert werden 514 . Flankierend hierzu wurden - für damalige Verhältnisse - hohe Einfuhrzölle (ca. 5 Mark, später ca. 15 Mark für das Kilo Rohopium) erhoben und der Opiumanbau in Kiautschou verboten, so daß lediglich ein kontrollierter Verkauf aus dem Zollager an die Betreiber der Opiumschenken stattfand 515. Kiautschou war bis 1905 ein eigenes Zollgebiet mit Zollgrenzen zum angrenzenden Chinesischen Reich. Wegen des unkontrollierbaren Schmuggels nach China wurde ab 1. Januar 1906 ein einheitliches Zollgebiet mit China wieder hergestellt (wie vor der deutschen Besitzergreifung) und in Tsingtau ein chinesisches Seezollamt unter einem chinesischen Zolldirektor (jedoch unter der Aufsicht des Gouvernements) eingerichtet, das 20% der Zolleinnahmen an das Gouvernement von Kiautschou, den Rest an die zentrale chinesische Seezollverwaltung in Peking abführte, die allerdings - seit der Öffnung der chinesischen Häfen durch die europäischen Großmächte ab Mitte des 19. Jahrhunderts - unter der Leitung europäischer oder amerikanischer Beamten stand 516 . Im Hafen von Tsingtau wurde ein Freihafen mit Zollager eingerichtet, das unter der Aufsicht des chinesischen Seezollamtes stand 517 . 509 Vgl. Verordnung vom 31. Dezember 1903, DKGG 7, S. 312; Weicker, S. 104. 510 Vgl. § 6 der Landordnung vom 2. September 1898, DKGG 5, S. 198; Ekkehard Lindner, Zum Beispiel Kiautschou. Ein Diskussionsbeitrag zur immer dringender erforderlichen Bodenrechtsreform, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, 51. Folge, 17. Jahrgang, 1981, S. 18 (19). su § 6 der Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung von Steuern und Abgaben in dem deutschen Kiautschou-Gebiet (Steuerordnung), vom 2. September 1898, DKGG 5, S. 197. 512 513 514 515 516 517

§ 8 der Steuerordnung. § 1 der Steuerordnung. Schrameier, S. 82. Schrameier, S. 82. Weicker, S. 107/108. Weicker, S. 107/108.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

(4) Das Münzwesen Für die deutschen Schutzgebiete wurden zunächst keine einheitlichen Regelungen hinsichtlich des Münzwesens getroffen; vielmehr wurden durch Einzelregelungen in der Anfangszeit der Kolonisierung ein Nebeneinander des bisherigen, angestammten Münzwesen mit dem kolonialem Münzwesen geschaffen. In Kamerun, Togo und Deutsch-Südwestafrika wurden zunächst die deutschen Reichsmünzen mit Ausnahme der Fünfmarkstücke in Umlauf gesetzt; in Deutsch-Südwestafrika blieb das schon vorher im Umlauf befindliche englische Geld weiterhin als Zahlungsmittel zugelassen518. In Kamerun wurden die bisher als Zahlungsmittel gebräuchlichen Kauri-Muscheln nicht mehr zugelassen, während die ebenfalls schon vor der Kolonisierung verbreiteten silbernen Maria-Theresientaler weiter zu einem Kurs von 1.50 Mark geduldet wurden 519 . In Deutsch-Ostafrika prägte die DeutschOstafrikanische Gesellschaft (DOAG) als Teil ihrer hoheitlichen Befugnisse aufgrund des Kaiserlichen Schutzbriefes 5 2 0 die schon vor der deutschen Kolonisierung als Zahlungsmittel in Umlauf befindliche indische Silberrupie (1 Rupie entsprach 64 Peso). Im Rahmen der Übernahme der Hoheitsgewalt ab 1. Januar 1891 garantierte das Deutsche Reich der DOAG das ausschließliche Recht, Münzen zu prägen, für eine Übergangszeit 521. Nachdem die DOAG ihr Prägerecht - wohl aus Kostengründen - gegen eine Geldzahlung mit Wirkung vom 1. April 1903 zugunsten des Schutzgebietsfiskus aufgegeben hatte 522 , wurde das Münzwesen in Deutsch-Ostafrika durch die Verordnung des Reichskanzlers vom 28. Februar 1904 523 neu geregelt. Gesetzliches Zahlungsmittel war nunmehr die (deutsch-ostafrikanische) Rupie, wobei eine Rupie 100 Heller entsprach 524. In der Südsee war vor der deutschen Kolonialisierung Muschelgeld („Diwarra", „Tapsoka", „Tambu") weit verbreitet 525 . In Deutsch-Neuguinea prägte die NGC als Teil ihrer hoheitlichen Befugnisse eigene Münzen (sogen. „NeuguineaMark") 5 2 6 . Die NGC verlor ihr Münzprägerecht 1899 mit der Abgabe der Hoheits-

518 Maas, S. 55. 519 Maas, S. 55. 520 Kaiserlicher Schutzbrief vom 27. Februar 1885, DKGG 1, S. 323. 521 Vertrag zwischen der Reichsregierung und der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft vom 20. November 1890, DKGG 1, S. 382. 522 Vertrag zwischen dem Reichskanzler und der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, betreffend die Ablösung der Privilegien der Gesellschaft vom 15. November 1902, DKGG 6, S. 547. 523 DKGG 8, S. 52; neugefaßt durch Verordnung vom 29. Oktober 1908, DKGG 12, S. 468. 524 Maas, S. 56/57. 525 v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 126. 526 Verordnung der Neuguinea-Compagnie (NGC), betreffend die Ausprägung von NeuGuinea-Münzen vom 1. August 1894, DKGG 2, S. 119.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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rechte an das Deutsche Reich, die Neuguinea-Münzen blieben jedoch bis 15. April 1911 gültig 5 2 7 . Mit Ausnahme von Deutsch-Ostafrika - siehe oben - und Kiautschou - hier galt weiterhin der mexikanische Silberdollar 528 als gesetzliches Zahlungsmittel 529 wurde das Geldwesen für alle Schutzgebiete durch die Verordnung des Reichskanzlers vom 1. Februar 1905 530 einheitlich geregelt; nunmehr galt bis auf die erwähnten beiden Ausnahmen in allen deutschen Schutzgebieten die Markwährung: sowohl Reichsmünzen als auch Reichskassenscheine (Banknoten) wurden gesetzliches Zahlungsmittel.

(5) Das Kolonialbeamtenrecht Bis zum Kolonialbeamtengesetz vom 8. Juni 1910 531 wurden die Rechtsverhältnisse der Kolonialbeamten überwiegend durch kaiserliche Verordnungen und nur zum geringen Teil durch Reichsgesetze geregelt 532 . Nach allgemeiner Ansicht waren als Kolonialbeamte nur diejenigen Beamte zu verstehen, die im Dienst eines Schutzgebietes standen und aus dessen Etat besoldet wurden, so daß erst mit der haushaltsmäßigen Selbständigkeit der Schutzgebiete aufgrund des Gesetzes über die Einnahmen und Ausgaben der Schutzgebiete vom 30. März 1892 533 von Kolonialbeamten gesprochen werden konnte 534 . Die in den Schutzgebieten tätigen Postbeamten und die Beamten der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes bzw. des Reichskolonialamtes hatten auch danach weiterhin den Status von Reichsbeamten 5 3 5 . Bis zum Gesetz vom 30. März 1892 handelte es sich bei den in den Schutzgebieten tätigen Beamten um Reichsbeamte, die vom Reichsfiskus besoldet wurden und für die das Reichsbeamtenrecht angewendet wurde, allerdings ohne Rechtsgrundlage, da die Reichsbeamtengesetze als öffentlich-rechtliche Reichsgesetze nicht automatisch in den Schutzgebieten Geltung hatten 536 (vgl. auch die 527

Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea, betreffend die Außerkraftsetzung der Neuguinea-Münzen, vom 5. September 1908, DKB1. 1909, S. 7. 52 8 Der mexikanische Silberdollar war seit der erzwungenen „Öffnung" Chinas durch europäische Mächte und die USA Mitte des 19. Jahrhunderts in den chinesischen Häfen die im Außenhandel benutzte Währung, vgl. Huang , S. 314. 529 v. Hoffmann , Einführung, S. 130; vgl. Bekanntmachung des deutschen Postamts von Kiautschou, betreffend Barverkehr an den Postschaltern, vom 30. April 1903, DKGG 7, S. 301. 530 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend das Geldwesen der Schutzgebiete außer Deutsch-Ostafrika und Kiautschou, vom 1. Februar 1905, DKGG 9, S. 43.

531 RGBl. 1910, S. 881 532 Franz Geller, Deutsches Kolonialbeamtenrecht, in: Abhandlungen aus dem Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, Philipp Zorn/Fritz Stier-Simlo (Hrsg.), Bd. 7, 1911, S. 3. 533 RGBl. 1892, S. 369 und Triepel, S. 259. 534 Geller, S. 2 - 4 . 535 Geller, S. 2. 10 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Verweisung der §§ 3 SGG, 19 KGG i. d. Fassung v. 1900, die sich nur auf die Reichsgesetze des bürgerlichen Rechts und des Strafrechts bezog; ebenso die älteren Fassungen des KGG und SGG). Als einziges Reichsgesetz vor dem Kolonialbeamtengesetz enthielt das Gesetz vom 31. Mai 1887 betreffend die Rechtsverhältnisse der kaiserlichen Beamten in den Schutzgebieten537 lediglich Bestimmungen hinsichtlich der doppelten Anrechnung der Dienstzeit in den Schutzgebieten für die Frage der Pensionierung. Im übrigen unterlag die Regelung der Rechtsverhältnisse der Kolonialbeamten der kaiserlichen Verordnungsbefugnis als Ausfluß der kaiserlichen Schutzgewalt im Sinne von § 1 SGG. Diesbezügliche Regelungen erfolgten zunächst für Kamerun und Togo 538 , später für Deutsch-Ostafrika 539. Die Vorschriften dieser Verordnungen wurden dann durch die kaiserliche Verordnung vom 9. August 1896 auf alle Schutzgebiete ausgedehnt540. Inhaltlich verwies die kaiserliche Verordnung vom 9. August 1896 überwiegend auf das Reichsbeamtenrecht; Sonderregelungen wurden lediglich hinsichtlich der Ernennung der Gouverneure durch den Kaiser („Bestallung"), der Einrichtung besonderer Disziplinarbehörden in den Schutzgebieten sowie der Ansprüche der Kolonialbeamten auf Pension und Wartegeld getroffen 541. Mit dem Kolonialbeamtengesetz von 1910 sollten die Rechtsverhältnisse der Kolonialbeamten in möglichst umfassender und erschöpfender Weise geregelt werden; auch auf Schutztruppenbeamte, Polizeibeamte, Kommunalbeamte, Notare und „eingeborene" Beamte konnte das Kolonialbeamtengesetz durch kaiserliche Verordnung für anwendbar erklärt werden; keine Anwendung fand das Kolonialbeamtengesetz auf die Beamten in Kiautschou, die dem Reichsmarineamt unterstanden 5 4 2 . Daneben blieben aber die Reichsbeamtengesetze anwendbar: § 1 Kolonialbeamtengesetz verwies ausdrücklich auf das Reichsbeamtengesetz und das Beamtenhinterbliebenengesetz. Neben der Neuordnung des schon vorhandenen Kolonialbeamtenrechts enthielt das Kolonialbeamtenrecht auch einige Neuerungen; so wurde das Personalaktenwesen neu geregelt und dem Beamten ein Einsichtsrecht gewährt, ferner wurde bei der Frage von Pensions- und Wartegeldansprüchen der Begriff der Kolonialdienstunfähigkeit geprägt und auf dem Gebiet des Besoldungs-

536 Franz Josef Sassen, Deutsches Kolonialbeamtenrecht, ZfK (12) 1910, S. 486 (486). 537 RGBl. 1887, S. 211 und Triepel, S. 243. 538 Kaiserliche Verordnung betreffend die Rechtsverhältnisse der Landesbeamten in den Schutzgebieten von Kamerun und Togo vom 3.August 1888, DKGG 1, S. 178. 539 Kaiserliche Verordnung betreffend die Rechtsverhältnisse der Landesbeamten in Deutsch-Ostafrika vom 22. April 1894, DKGG 2, S. 88. 540 Kaiserliche Verordnung betreffend die Rechtsverhältnisse der Landesbeamten in den deutschen Schutzgebieten vom 9. August 1896, RGBl. 1896, S. 691 und Triepel, S. 266; ergänzt durch die kaiserliche Verordnung wegen Abänderung und Ergänzung der Verordnung vom 9. August 1896 betreffend die Rechtsverhältnisse der Landesbeamten in den Schutzgebieten vom 23. Mai 1901, RGBl. 1901, S. 189. 541 Vgl. ausführlich Sassen, S. 489/490. 542 Vgl. Geller, S. 7.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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rechts die Tropenzulage eingeführt. Schließlich wurde als Eignungsvoraussetzung für richterliche Schutztruppenbeamte die Befähigung zum Richteramt normiert und ihre richterliche Unabhängigkeit nunmehr garantiert (§51 Kolonialbeamtengesetz). Insgesamt wurde das Kolonialbeamtengesetz als gelungenes Beispiel angesehen, im Wege der zunehmenden Vereinheitlichung von Einzelregelungen unter Einbeziehung von Rechtsprechung praktische Erfahrung und koloniale Rechtsfortbildung in einer einheitlichen, gesetzlichen, und damit durch den Reichstag legitimierten Regelung zu vereinen 543 .

(6) Das Aufenthaltsrecht in den Schutzgebieten Der Zustrom von Deutschen in die Schutzgebiete mit der Absicht, sich als Siedler niederzulassen, der insbesondere in Deutsch-Südwestafrika zu beobachten war, warf schon früh die Frage nach der Freizügigkeit für Reichsangehörige in den Schutzgebieten, einschließlich der Einreisemöglichkeiten und Ausweisungsbefugnisse, auf. Die Freizügigkeit innerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches wurde durch das Freizügigkeitsgesetz des Norddeutschen Bundes vom 1. November 1867 544 garantiert. Da in den Schutzgebieten weder die Reichsverfassung - bis auf Art. 3 BRV, der aber nur das gemeinsame Indigenat für naturalisierte Einheimische betrifft, vgl. § 9 Abs. 2 SGG - noch das öffentliche Recht des Deutschen Reiches §§3 SGG, 19 KGG verwiesen nur auf das Strafrecht und Zivilrecht - galt, hatte nach der nahezu einhelligen Auffassung der damaligen Zeit auch das Freizügigkeitsgesetz in den Schutzgebieten keine Geltung 545 . Einigkeit bestand jedoch auch darin, daß die Freizügigkeit in den Schutzgebieten nicht willkürlich, sondern nur nach pflichtgemäßem Ermessen insbesondere aus polizeirechtlichen Gründen eingeschränkte werden konnte. Hierfür dienten die Ausführungsbestimmungen der Gouverneure zur kaiserlichen Verordnung vom 14. Juli 1905 546 , in denen die Reichweite der polizeilichen Anordnungen der Gouverneure und der ihnen unterstellten Beamten auf den Anwendungsbereich des § 10, Teil II, Titel 17 des preuß. ALR, also auf die Gefahrenabwehr, beschränkt wurde 547 . Demnach konnte die 543 Vgl. auch Sassen, S. 490. 544 Bundesgesetzbl. 1867, S. 55, RGBl. 1896, S. 613 und Triepel, S. 47. 545 Simon Reimer, Die Freizügigkeit in den deutschen Schutzgebieten, in: Kolonialrechtliche Abhandlungen, Hubert Naendrup (Hrsg.), 1911, S. 12/13. 546 Kaiserliche Verordnung betreffend Zwangs- und Strafbefugnisse der Verwaltungsbehörden in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee vom 14. Juli 1905, DKGG 9, S. 169; die erste Ausführungsbestimmung erging am 15. Juni 1906: Ausführungsbestimmung des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, DKGG 10, S. 238. 547 Vgl. Joachim Heinrich Lücke, Bevölkerung und Aufenthaltsrecht in den deutschen Schutzgebieten Afrikas, in: Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstitutes, Bd. 12, 10*

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Freizügigkeit der Reichsangehörigen, aber auch von Angehörigen anderer Staaten, nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nach pflichtgemäßem Ermessen beschränkt werden; zum Instrumentarium gehörten neben der Abweisung von Einwanderern und der Ausweisung auch die Meldepflicht und die Legitimationspflicht. Ferner wurde die Orts- und Landesverweisung von vorbestraften Personen in analoger Anwendung von § 3 Freizügigkeitsgesetz für zulässig gehalten 5 4 8 . Auch die Ausweisung von Missionaren aus Gründen der öffentlichen Sicherheit wurde als zulässig und nicht als Verstoß gegen § 14 SGG, der Religionsund Religionsausübungsfreiheit in den Schutzgebieten garantierte, angesehen549. In der Praxis äußerten sich die polizeilichen Befugnisse zur Kontrolle der Einwanderung in Regelungen, die die Einwanderung von dem Nachweis eines Arbeitsvertrages in dem jeweiligen Schutzgebiet oder - alternativ - von der Hinterlegung einer Geldsumme (zwischen 500 und 1.500 Mark) bei der Verwaltung abhängig machten (so in Kamerun und Togo) 550 . In anderen Schutzgebieten, so ζ. B. in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika, war die Einwanderung von Europäern verboten, die keinen ausreichenden Unterhalt nachweisen konnten und wegen ihres körperlichen Zustandes oder wegen Krankheiten hierzu auch nicht in der Lage waren. Wer trotzdem einwanderte, konnte wieder abgeschoben werden. Zusätzlich hatten sich die deutschen Reedereien, die den Schiffsverkehr mit den Schutzgebieten betrieben, vertraglich gegenüber den jeweiligen Gouvernements verpflichtet, Einwanderern nur nach Nachweis eines Arbeitsvertrages oder von ausreichenden Geldmitteln (zwischen 400 und 2.000 Mark) die Passage auf ihren Schiffen zu gestatten551. Nur zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß die Einwanderungsbeschränkungen und Ausweisungsbefugnisse nur für Reichsangehörige und andere Ausländer galten; Schutzgebietsangehörige, also insbesondere die Angehörigen der einheimischen Bevölkerung konnte nicht ausgewiesen werden 552 , dies galt auch für naturalisierte Einheimische, die dadurch die Reichsangehörigkeit erhalten hatten 553 ; beiden Personengruppen wäre durch eine Ausweisung ihre gewohnte kulturelle und ethnische Lebensgrundlage entzogen worden.

1913, S. 13/14; § 10, Teil II, Titel 17 des preuß. ALR bot daneben auch die Rechtsgrundlage für detaillierte und je nach Schutzgebiet unterschiedliche Beschränkungen der Gewerbefreiheit, vgl. umfassend: Otto Mathies, Die Beschränkungen der Gewerbe- und Handelsfreiheit in den deutschen Schutzgebieten, in: Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstitutes, Bd. 29, 1916, S. 19 ff. 548 Reimer, S. 14. 549 Vgl. Karl v. Stengel, Die Zulässigkeit der Ausweisung von Reichsangehörigen und von Ausländern aus dem Schutzgebiet, ZfK (11) 1909, S. 861 (867) - solche Fälle sind allerdings nicht belegt. 550 Überblick bei Lücke, S. 33 ff. 551 Zusammenfassend Lücke, S. 34/35. 552 v. Hoffmann, Einführung, S. 100. 553 Reimer, S. 33.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Meldepflichten bestanden für Europäer in allen Schutzgebieten, nicht jedoch für die einheimische Bevölkerung 554 . Nicht unerwähnt bleiben sollten die schon eingangs erwähnten Verbote für Europäer, die Residenturgebiete zu betreten (so in Deutsch-Ostafrika die „Sultanate" (Königreiche) Ruanda, Burundi und Bukoba, in Deutsch-Südwestafrika die Gebiete außerhalb der Polizeizone, also das Ovamboland im Norden und der Caprivizipfel im Nordosten, in Kamerun die Gebiete am Tschadsee), da die dort lebende einheimische Bevölkerung für den Kontakt mit Europäern noch nicht als reif angesehen wurde bzw. geschützt werden sollte 555 . (7) Das Kulturwesen, insbesondere die Kirchen, das Schulwesen und die Zeitungen (a) Die Kirchen

Als Rechtsgrundlage sicherte § 14 Satz 1 SGG Religions- und Gewissensfreiheit allen Angehörigen derjenigen Religionsgemeinschaften zu, die in den Verfassungen der deutschen Bundesstaaten anerkannt waren. Zu diesen Religionsgemeinschaften gehörten die katholischen und evangelischen Kirchen, die jüdische Religionsgemeinschaft, ferner Altlutheraner, Baptisten und Mennoniten, nicht dagegen der Islam und der Buddhismus. Für die Angehörigkeit entscheidend war das religiöse Bekenntnis, nicht die Zugehörigkeit zur inländischen Organisation, ζ. B. einer Landeskirche, so daß nicht nur Bundesangehörige, sondern auch Ausländer unter den Schutz des § 14 SGG standen 556 ; dies dürfte gleichermaßen für missionierte Einheimische zutreffen. Ergänzend hierzu gewährte Art. 6 der Kongoakte vom 26. Februar 1885 557 den zu ihrem Geltungsbereich (Teile von Kamerun und Deutsch-Ostafrika) gehörenden Einheimischen und Europäern Religions- und Gewissensfreiheit. (b) Das Schulwesen

Für die europäische Bevölkerung in den deutschen Kolonien hatte das Schulwesen - bis auf Deutsch-Südwestafrika und Kiautschou 558 , wo sich eine Anzahl deutscher Siedler niederließ - eine eher geringe Bedeutung; in den wenigen Städten wurden „Gouvernementsschulen" für europäische Kinder eingerichtet 559, da die 554 Überblick bei: Lücke, S. 38 ff. 555 Vgl Reimer, S. 15-17. 556 Gerstmeyer, Kommentar, § 14 SGG, Fn. 1. 557 RGBl. 1885, S. 215. 558 im Schutzgebiet Kiautschou gab es seit 1904 eine Gouvernementsschule für die deutschen Kinder in Ostasien, vgl. Huang, S. 165. 559 in Deutsch-Neuguinea beispielsweise wurde erst 1909 eine Schule für europäische Kinder bei Rabaul eingerichtet, vgl. Albert Hahl, Deutsch-Neuguinea, 1936, S. 83; vgl. auch

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

meisten Siedler und Pflanzer aber weit abgelegen und verstreut siedelten, war allgemein wegen der großen Entfernungen eine zentrale Schulausbildung nicht möglich. Anders waren die Verhältnisse in Deutsch-Südwestafrika, der größten deutschen Siedlungskolonie: 1906 wurde für die ca. 800 deutschen Kinder die allgemeine Schulpflicht eingeführt 560 ; 1914 besuchten ca. 1000 deutsche Kinder die 22 Schulen in Deutsch-Südwestafrika (20 Volksschulen und 2 Realschulen in Windhuk und Swakopmund)561 Der Unterricht an diesen Schulen (1914 unterrichteten 18 Lehrer und 16 Lehrerinnen) dauerte auch nach der militärischen Besetzung durch südafrikanische Truppen fort und wurde erst nach Kriegsende vorübergehend eingestellt 562 . Ähnlich waren die Verhältnisse auch in Kiautschou, wo die deutschen Einwanderer nicht weitflächig verstreut siedelten, sondern in einer überschaubaren Stadt (Tsingtau); hier wurden neben Elementarschulen im Jahre 1905 auch eine höhere Schule (kaiserliche Gouvernementsschule mit dem Lehrplan eines Realreformgymnasiums) eingerichtet 563, ferner wurde 1909 eine deutsch-chinesische Hochschule gegründet, die überwiegend von Angehörigen der chinesischen Bevölkerungsgruppe besucht wurde (vgl. A. III. 3. b) cc) (3)). (c) Die Zeitungen

Bis 1914 hatten sich in den Schutzgebieten 6 deutschsprachige Zeitungen etabliert, die jedoch nur wöchentlich erschienen. Hiervon erschienen zwei in Deutsch-Ostafrika; es handelte sich um die „Deutsch-Ostafrikanische Zeitung" in Daressalam, die als Beilage den „Amtlichen Anzeiger für Deutsch-Ostafrika", das offizielle Verkündungsblatt, enthielt, und die „Usambara-Post" in Tanga, die als Beilage die „Mitteilungen aus dem Biologisch-Landwirtschaftlichen Institut Amani" enthielt. In Deutsch-Südwestafrika erschien die „Deutsch-Südwestafrikanische Zeitung" in Swakopmund, ergänzt durch eine monatlich erscheinenden „Landwirtschaftlichen Beilage"; ferner der „Südwestbote" in Windhuk, der 1911 seinen Untertitel die Schulordnung für die Regierungsschule in Apia (Samoa), erlassen vom Gouverneur von Samoa, vom 18. Februar 1904, DKGG 8, S. 46, die keine allgemeine Schulpflicht einführte, sondern neben den deutschen Kinder auch ausländischen Kindern, „Mischlingskindern" und mit Ausnahmegenehmigung auch einheimischen Kindern den Besuch der Regierungsschule freistellte. 560 Genauer: „alle Kinder der weißen Bevölkerung", vgl. Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Einführung der Schulpflicht (Schulpflichtverordnung), nebst Ausführungsbestimmungen, vom 20. Oktober 1906, DKB1. 1906, S. 797. 561 Ernst Gerhard Jacob, Deutsche Kolonialkunde, 1940, S. 42/43. 562 Hugo Blumhagen, Südwestafrika einst und jetzt, 1934, S. 61. 563 Schulordnung für die Kaiserliche Gouvernements-Schule vom 8. August 1905, DKGG 9, S. 299, ersetzt durch die Schulordnung vom 24. Juli 1909, DKGG 13, S. 666; eine allgemeine Schulpflicht für deutsche Kinder ergab sich aus diesen Schulordnungen aber nicht.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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„Organ des Farmerbundes" aufgab, sowie die „Lüderitzbuchter Zeitung" in Lüderitz564.

Seit 1912 erschien in Kamerun, wo schon seit 1908 als offizielles Verkündungsblatt das „Amtsblatt für das Schutzgebiet Kamerun" herausgegeben wurde, die „Kamerun-Post" 565. Im Schutzgebiet Togo wurde ab 1906 in ein- bis zweiwöchigem Abstand das „Amtsblatt des Schutzgebietes Togo" verlegt, das auch einen nichtamtlichen Teil enthielt 566 . Die „Samoanische Zeitung" als Publikationsblatt der Deutschen in Samoa erschien wöchentlich in Apia und enthielt als Beilage das „Samoanische Gouvernementsblatt", das offizielle Verkündungsblatt. Im Schutzgebiet Kiautschou erschien von 1898 bis 1904 die „Deutsch-Asiatische Warte", von 1908 bis 1914 die „Kiautschou-Post" und von 1904 bis 1914 die „Tsingtauer Neuesten Nachrichten"; ferner wurde in Schanghai von 1897 bis 1917 der „Ostasiatische Lloyd" herausgegeben567. Die meisten Zeitungen mit Ausnahme ζ. B. der „Usambara-Post" konnten auch im Deutschen Reich abonniert werden 568 .

b) Das geltende Recht für Einheimische In der folgenden Darstellung soll das angestammte Recht der einheimischen Bevölkerung, das Stammesrecht, so wie es vor der deutschen Kolonisation vorgefunden wurde, lediglich gestreift werden; es würde den Rahmen dieser Dissertation sprengen, eine umfängliche Darstellung des - durch das deutsche Kolonialrecht weitgehende nicht beeinflußten - einheimischen Rechtes zu liefern, so wie es aufgrund der Fragebögen einiger rechtsvergleichend tätiger Juristen wie ζ. B. Josef Kohler nach 1890 durchgeführt wurde 569 . Hier soll vielmehr nur die Rechtsordnung der einheimischen Bevölkerung insoweit dargestellt werden, wie sie durch das deutsche Kolonialrecht modifiziert wurde.

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Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1884 — 1914,1968, S. 303. 565 Harry R. Rudin, Germans in the Cameroons 1884-1914,1938, S. 218. 566 Vgl. Notiz in DKB1. 1905, S. 605. 567 Huang , S. 10. 568 Überblick bei: Hubert Henoch, Die in den deutschen Kolonien erscheinenden Zeitungen nebst Angabe der Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise, ZfK (6) 1904, S. 84. 569 Zu den Einzelheiten und Repräsentanten der Fragebögen vgl. Margina Boin, Die Erforschung der Rechtsverhältnisse in den „Schutzgebieten", Münster, S. 36 ff.; zur Person Josef Kohlers selbst vgl. Bernhard Großfeld/Margitta Wilde, Josef Kohler und das Recht der deutschen Schutzgebiete, RabelsZ 58 (1994), S. 59 ff.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht aa) Zivilrecht

(1) Kauf- und Kreditverträge Das angestammte Kaufrecht der einheimischen Bevölkerung ging überwiegend von Warenaustausch durch Tauschhandel aus, allerdings war, wie oben erwähnt, auch Geld wie ζ. B. Maria-Theresientaler, britisches Geld oder andere Zahlungsmittel wie Kaurimuscheln in einigen Gebieten verbreitet. Die Hauptintention der deutschen Kolonialverwaltung, durch Verordnungen in das Kaufrecht der einheimischen Bevölkerung einzugreifen, bestand darin, die im Wirtschaftsverkehr nach europäischem Muster noch völlig unerfahrenen Einheimischen vor Übervorteilung zu schützen. Verordnungen, die das Privatrecht der einheimischen Bevölkerung betrafen, wurden aufgrund der kaiserlichen Verordnung vom 3. Juni 1908 570 vom Reichskanzler bzw. aufgrund einer Verordnungsermächtigung des Reichskanzlers von den Gouverneuren erlassen. Es ist zweifelhaft, ob die vor 1908 erlassenen Verordnungen der Reichskanzlers allein auf § 15 Abs. 2 SGG (der nur den Erlaß von Verfahrensvorschriften, also prozessualen Regelungen rechtfertigen würde) gestützt werden konnten; da jedoch hinsichtlich der Regelungen für Einheimische keine klare Trennung zwischen Prozeßrecht und materiellem Recht vorgenommen und in der Regel beides gleichzeitig geregelt wurde, dürfte als Ermächtigungsgrundlage für diesbezügliche Verordnungen und Verfügungen des Reichskanzlers die Kaiserliche Verordnung vom 25. Februar 1896 571 (die dem Wortlaut nach den Reichskanzler nur zum Erlaß von Regelungen des Gerichtsverfahrens, also prozessualer Regelungen, nicht jedoch des materiellen Rechts ermächtigte) ausreichend gewesen sein. Die Schutzvorschriften beinhalteten in der Regel, daß Kauf- oder Kreditverträge mit Einheimischen als Vertragspartei der Genehmigung bzw. der Beurkundung durch den Bezirksamtmann bedurften und Forderungen gegen Einheimische nach kurzer Zeit als erloschen gelten sollten 572 . Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika existierte eine Regelung, die die Wirksamkeit der Rechtsgeschäfte Einheimischer von der Beurkundung abhängig machte 573 ; ohne Beurkundung war die Klagbarkeit aus solchen Rechtsgeschäften ausgeschlossen. Weiter wurde nicht in das angestammte Recht in Deutsch-Ostafrika eingegriffen, so daß 570 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenen-Rechtspflege in den afrikanischen und Südsee-Schutzgebieten vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617. 571 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten, vom 25. Februar 1896, DKGG 2, S. 213. 572 Überblick bei: v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 187/

188.

Verordnung des Reichskanzlers vom 23. September 1893, DKGG 2, S. 39.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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insbesondere an der Küste das islamische Recht für die einheimische Bevölkerung weiterhin galt; der Bezirksamtmann zog bei Fragen des islamischen Rechts in der Regel einen islamischen Rechtskundigen (Wali) als Ratgeber hinzu 574 . Als Besonderheit ist zu erwähnen, daß - wie bei den Strafverfahren - bei Zivilverfahren lediglich die Araber und Inder des Schutzgebietes, nicht jedoch Angehörige der afrikanischen einheimischen Bevölkerung vereidigt wurden; bei der afrikanischen Bevölkerung war der Begriff des Eides kulturell nur wenig verwurzelt, so daß er kein brauchbares Bekräftigungsmittel darstellte und die Gefahr von Meineiden bestand 575 . Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika griff die Kolonialverwaltung gleichfalls nur zurückhaltend in das Kauf- und Darlehensrecht der einheimischen Bevölkerung ein, die im übrigen über ein z.T. gut ausgebildetes Privatrecht verfügte 576 . Der einschneidenste Eingriff der deutschen Kolonialverwaltung in das einheimische Zivilrecht erfolgte durch die Verfügung des Reichskanzlers vom 23. Juli 1903 577 . Diese Vorschrift, die wiederum den Schutz der geschäftsunerfahrenen einheimischen Bevölkerung bezweckte, sah vor, daß Verbindlichkeiten, so ζ. B. aus Darlehen oder aus einem Abzahlungskauf, innerhalb eines Jahrs nach Abschluß des Vertrages erlöschen, falls nicht in dieser Zeit Klage erhoben wurde (§ 1 der Verfügung). Nach Erlöschen der Verbindlichkeit konnte der (europäische) Gläubiger das Geleistete nur dann herausverlangen, wenn es sich um eine vertretbare Sache handelte und diese sich noch im Vermögen des Einheimischen befand. Mit dieser Vorschrift wurde auch das Zivilrecht für die europäische Bevölkerung modifiziert (ζ. B. durch die Verkürzung der Verjährung abweichend von §§ 194 ff. BGB), ohne daß eine gesetzliche Regelung oder Kaiserliche Verordnung hierzu ermächtigte; insbesondere § 6 Nr. 9 SGG sah nur den Erlaß von Verschriften vor, die die Verjährung verlängern konnten, nicht jedoch eine Verkürzung 578. Die Folgen dieser - als Schutzvorschrift für die Einheimischen gedachten - Vorschrift waren katastrophal: um Ansprüche nicht durch die einjährige Verjährung zu verlieren, gingen die europäischen Gläubiger dazu über, ihre Forderungen so schnell wie möglich zu vollstrecken; umfangreiche Pfändungen, insbesondere bei dem über reichen Viehbestand verfügenden Stamm der Herero waren die Folge; letztlich ist hierin eine der

57 4

Franz Oskar Karstedt, Beiträge zur Praxis der Eingeborenenrechtsprechung in Deutsch-Ostafrika, Daressalam, 1912, S. 67. 575 Lederer, S. 107. 576 Insbesondere zum Recht der Nama: C. Wandres, Uber Rechtsbewußtsein und Recht unserer Eingeborenen, besonders der Hottentotten, ZfK (12) 1910, S. 269 (276 ff.). 577 Verfügung des Reichskanzlers, betreffend Rechtsgeschäfte und Rechtsstreitigkeiten Nichteingeborener mit Eingeborenen im südwestafrikanischen Schutzgebiet, vom 23. Juli 1903, DKB1. 1903, S. 383. 578 Hermann Hesse, Zur Geltung des bürgerlichen Rechts in den Schutzgebieten, ZfK (6) 1904, S. 190 (201).

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

wesentlichen Ursachen für den Herero-Aufstand im Jahre 1904 zu sehen 579 . Nach dem Ende des Aufstands wurde die Verfügung von 23. Juli 1903 durch die Verordnung vom 30. Oktober 1908 580 ersetzt, nach der Einheimische nur mit einer Ausnahmegenehmigung des Bezirks- oder Distriktsamtmannes ein Darlehen empfangen oder einen Abzahlungskauf tätigen durften; von der problematischen Veijährungsregelung wurde dagegen Abstand genommen581. Kamerun In Kamerun wurde, wie eingangs schon erwähnt, die Zivilgerichtsbarkeit für Einheimische bis zum Streitwert von 100-120 Mark von den Stammeshäuptlingen durchgeführt, während die „Eingeborenenschiedsgerichte" als Berufungsinstanz fungierten und auch die übrigen erstinstanzlichen Zuständigkeiten ausübten: beide Rechtszüge wendeten - unter der Aufsicht des Bezirksamtmannes - ausschließlich das einheimische Privatrecht an 5 8 2 ; Regelungen der deutschen Kolonialverwaltungen, die das einheimische Kauf- und Kreditvertragsrecht modifizierten, bestanden zunächst nicht. Erst mit der Verordnung des Gouverneurs vom 15. November 1912 583 wurden Rechtsgeschäfte untersagt, die die Lieferung von Waren an Einheimische gegen die Lieferung von Gummi vorsahen 584. Ferner orientierte sich die Ordnung des Prozesses nach den Grundzügen der ZPO; dies galt nicht nur für die Berufungen gegen die Urteile der „Eingeborenenschiedsgerichte" beim Gouverneur 585 , sondern ebenso für die Urteile der „Eingeborenenschiedsgerichte" selbst 586 . Togo In Togo wurde das angestammte Zivilrecht nur geringfügig durch Regelungen des Kolonialgesetzgebers modifiziert; vielmehr wurde ab 1907 mit der Sammlung und Aufzeichnung des einheimischen Zivilrechts, insbesondere des bedeutsamen Ehe- und Familienrechts, durch den Bezirksamtmann Asmis begonnen587. Diese umfassenden Recherchen hatten das Ziel, eine einheitliche Kodifikation des Privatrechts der Einheimischen zu schaffen; der Beginn des ersten Weltkriegs kam dem Abschluß der Arbeiten zuvor, allerdings hatte die deutsche Kolonialverwaltung 579

So auch Hesse, bürgerliches Recht, S. 197. 580 Verordnung des Gouverneurs vom 30. Oktober 1908, DKB1. 1909, S. 4. 581 Vgl. v. Hoffmann, Einführung, S: 188. 582 Ludwig Sieglin, Die koloniale Rechtspflege und ihre Emanzipation vom Konsularrecht, 1908, S. 99/100. 583 Verordnung des Gouverneurs, betreffend das Verbot gewisser Kreditgeschäfte im Gummihandel vom 15. November 1912, DKB1. 1913, S. 90. 584 Heinrich Wiek, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten, Diss. 1913, S. 21. 585 Vgl. Sieglin, S. 99/100. 586 Carlson Anyangwe, The Cameroonian Judicial System, 1987, S. 33. 587 August Full, Fünfzig Jahre Togo, 1935, S. 108.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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schon vorher auf die Schaffung einer einheitlichen Kodifikation verzichtet 588 . Als materiellrechtliche Schutzvorschrift auf dem Gebiet des Schuldrechts der Einheimischen ist die Verordnung des Gouverneurs vom 2. Oktober 19 1 2 5 8 9 zu erwähnen, die die Wirksamkeit von Bürgschaftserklärungen, Schuld- und Erfüllungsübernahmeerklärungen unter den Vorbehalt der öffentlichen Beurkundung und der Genehmigung des Gouverneurs stellte 590 . Deutsch-Neuguinea, Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln In Deutsch-Neuguinea wurde durch Verordnung des Gouverneurs vom 18. Juni 1904 591 die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften von Europäern mit Einheimischen unter den Vorbehalt von Formvorschriften gestellt und die Kreditierung an Einheimische im Rahmen von Kaufverträgen verboten; dies galt jedoch nicht in den Fällen von Rechtsgeschäften zwischen europäischen Händlern und einheimischen Zwischenhändlern. Regelungen ähnlichen Inhalts (d. h. Formvorschriften für Rechtsgeschäfte unter Beteiligung von Einheimischen, Verbot der Darlehensverpflichtung durch Einheimische) bestanden auch für die Marshall-Inseln 592, die Karolinen 593 und Marianen 594 . Nach der organisatorischen Zusammenfassung des Inselgebietes mit Deutsch-Neuguinea wurden die erwähnten Regelungen durch die Verordnung des Gouverneurs vom 14. Mai 1909 595 ersetzt. Die Verordnung von 1909 sah vor, daß Rechtsgeschäfte, durch die Einheimische zu einer künftigen Leistung verpflichtet wurden, nur nach der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung des Bezirksamtmannes oder des Stationschefs zulässig waren; die Ausnahmevorschrift hinsichtlich von Rechtsgeschäften an einheimische Zwischenhändler wurde in die neue Regelung übernommen. Samoa In Samoa wurde durch Ortsstatuten der einheimischen Dörfer der einheimischen Bevölkerung jegliche Kreditaufnahme bei Europäern und bei Einheimischen untersagt, Zuwiderhandlungen wurden strafrechtlich verfolgt und führten zur Nichtig588 Full , Fünfzig Jahre Togo, S. 109. 589 Verordnung des Gouverneurs, betreffend Bürgschafts- und Schuldübernahmeerklärungen Eingeborener, vom 2. Oktober 1912, DKB1. 1912, S. 1132. 590 Wick, S. 21. 591 Verordnung des Gouverneurs, betreffend das Verbot des Kreditgebens an Eingeborene, DKGG 8, S. 138. 592 Verordnungen des Kaiserlichen Kommissars vom 16. Oktober 1889, DKGG 1, S. 627; ferner vom 25. Januar und 14. August 1887, beide in DKGG 1, S. 625. 593 Verordnung des Vizegouvemeurs (entspricht einem Bezirksamtmann) von Ponape vom 10. April 1900, DKGG 5, S. 58. 594 Verordnung des Bezirksamtmannes von Saipan vom 25. Oktober 1900, DKGG 6, S. 261. 595 Verordnung des Gouverneurs, betreffend das Kreditgeben an Eingeborene und den Abschluß von Verträgen mit Eingeborenen, DKGG 13, S. 249.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

keit des betreffenden Rechtsgeschäfts. Diese Ortsstatuten wurden durch Bekanntmachung des Gouverneurs vom 10. Januar 1908 596 für allgemein verbindlich erklärt. Tsingtau (Kiautschou) In Kiautschou wurde das materielle und prozessuale Zivilrecht ebenso wie das Strafrecht durch die Verordnung vom 15. April 1899 597 betroffen. Diese Verordnung enthielt jedoch nur die schon erwähnten prozessualen Modifikationen hinsichtlich der Zivilgerichtsbarkeit; hinsichtlich des materiellen Zivilrechts für die chinesische Bevölkerung, insbesondere des Kaufrechts und des Familienrechts, wurde auf das chinesische Recht verwiesen (§17 der Verordnung). Dieses wurde, wie schon erwähnt, vom Bezirksamtmann unter Zuhilfenahme der chinesischen Dorfältesten oder anderer Rechtskundiger angewendet (§ 4 der Verordnung).

(2) Arbeitsrecht Die Wirtschaft in den Schutzgebieten, insbesondere die Plantagen der europäischen Siedler, waren auf einheimische Arbeitskräfte angewiesen. Die Vielzahl der abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse erforderte daher auch eine Regelung durch Verordnungen der Kolonialverwaltung, um eine Ubervorteilung der Einheimischen zu verhindern, aber auch um eine regelmäßige Arbeitsleistung der Einheimischen, die oftmals die rechtlichen Konsequenzen des Arbeitsvertrages als Dauerschuldverhältnis nicht kannten, für die europäischen Arbeitgeber sicherzustellen 598. Eine einheitliche Regelung des Arbeitsrechts für Einheimische wurde erst im Zuge der Reformen von Bernhard Dernburg, Staatssekretär im Reichskolonialamt, und Freiherr v. Rechenberg, seit 1906 Gouverneur von Deutsch-Ostafrika (die später sogen. „Ära Dernburg / Rechenberg") 599, nach 1906 möglich. Grundlage für eine einheitliche Regelung war die kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908 600 , die das Verordnungsrecht des Kaisers zur Regelung des Rechts der Einheimischen und deren Rechtsbeziehung zu Europäern auf den Reichskanzler übertrug, zusammen mit der Befugnis zur Subdelegation auf die Gouverneure; die Dernburg'schen Vorstellungen einer gerechteren Behandlung der Einheimischen konnten so gezielt umgesetzt werden 601 . Regelungsbedarf bestand beispielsweise hinsichtlich der Anwerbung 596 Bekanntmachung des Gouverneurs, betreffend das Verbot des Schuldenmachens für die Samoaner, DKGG 12, S. 33. 597 Verordnung des Gouverneurs von Kiautschou, betreffend die Rechtsverhältnisse der Chinesen, vom 15. April 1899, DKGG 4, S. 191. 598 Vgl. Wick, S. 24. 599 Siehe oben, Α. II. 4. c); vgl. ferner Bernd Arnold, Steuer- und Lohnarbeit im Südwesten von Deutsch-Ostafrika 1891 -1916,1994, S. 142. 600 Verordnung vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617.

601 Wolter,

S. 225.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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der zahlreichen, für die Plantagenarbeit benötigten Arbeiter. Den aufgrund der Ermächtigung der Verordnung vom 3. Juni 1908 in Deutsch-Ostafrika 602, DeutschSüdwestafrika 603, Kamerun 604 , und Deutsch-Neuguinea605 erlassenen Verordnungen 6 0 6 , die inhaltlich weitgehend übereinstimmten, lag der Schutzgedanke zugrunde, daß die Einheimischen nicht durch falsche Versprechungen zum Verlassen ihrer Heimat und Aufnahme einer Tätigkeit an einer weit entfernten Arbeitsstelle bewegt werden sollten. Daher sahen diese Verordnungen vor, daß zur Anwerbung nur staatlich kontrollierte Anwerbestellen oder private Anwerber, die eine Genehmigung des Gouverneurs erhalten hatten (sogen. „Anwerbeschein"), zugelassen waren. Das Ziel der Reform der Arbeiterverordnungen - die auch unter dem Eindruck des Maij-Maij Aufstandes und der Herero-Erhebung standen607 - war es, die Arbeitsbedingungen der einheimischen Arbeiter zu verbessern und auf gesicherte rechtliche Grundlagen zu stellen. Am weitgehendesten waren diese Reformen in Deutsch-Ostafrika: hier wurden aufgrund der Arbeiterverordnung Distriktskommissare ernannt, die die Interessen der Arbeiter wahrnehmen sollten. Die Distriktskommissare hatten das Recht, die Plantagen und andere Betriebsstellen jederzeit zu besichtigen; Arbeitgeber und leitende Angestellte waren zur Auskunft an den Distriktskommissar verpflichtet 608 . Ähnliche Befugnisse wie der Distriktskommissar hatte der Arbeiterkommissar in Kamerun 609 ; dort wurden in der Arbeiterverordnung von 1909 jedoch die Kontrollrechte des Arbeiterkommissars verwässert, da der Arbeiterkommissar eine bevorstehende Besichtigung einer Plantage beim jeweiligen Arbeitgeber anzumelden hatte 610 . Hinsichtlich der Lohnzahlung regelten die obengenannten Arbeiterverordnungen übereinstimmend, daß die Lohnzahlung in Geld und nicht in Waren des Arbeitgebers zu erfolgen habe (Verbot des Trucksystems), lediglich die Arbeiterverordnung für Deutsch-Neuguinea ließ die vertragliche Regelung der Auszahlung des Arbeitslohnes in Handelswaren zu, verbot aber jeglichen Zwang des Arbeitgebers, Waren als Arbeitslohn anzunehmen611. Die erwähnten Arbeiterverordnungen regelten 602

Anwerbeverordnung des Gouverneurs vom 27. Februar 1909, DKGG 13, S. 112, gleichzeitig erlassen mit der - das übrige Arbeitsrecht der Einheimischen regelnden - Arbeiterverordnung, DKGG 13, S. 116. 603 Arbeiterverordnung des Gouverneurs vom 16. Dezember 1911, DKB1. 1911, S. 196, ferner galt z.T. noch die Arbeiterverordnung vom 18. August 1907, DKGG 11, S. 350. 604 Arbeiterverordnung vom 24. Mai 1909, DKGG 13, S. 194. 605 Arbeiterverordnung vom 4. März 1909, DKGG 13, S. 147. 606 Übersicht bei Wick, S. 25-27. 607 Arnold, S. 141. 608 Ausführlich Arnold, S. 145 ff. 609 Wick, S. 29. 610 Gotthilf Walz, Die Entwicklung der Strafrechtspflege in Kamerun unter deutscher Herrschaft 1884-1914, 1981, S. 158. 611 Zur Lohnzahlung vgl. ausführlich: Paul Claß, Die Rechtsverhältnisse der freien farbigen Arbeiter in den deutschen Schutzgebieten Afrikas und der Südsee, 1913, S. 49-51.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

weitgehend übereinstimmend ferner, daß Arbeitsverträge mit einer Dauer von mehr als einem Monat schriftlich abzuschließen waren und der Vorlage an den Bezirksamtmann, den Distriktskommissar oder den Arbeiterkommissar bedurften 612 . Nach den Arbeiterverordnungen durfte die tägliche Arbeitszeit 10 Stunden nicht überschreiten 613; die in der Regel befristeten Arbeitsverhältnisse endeten durch Zeitablauf, seltener durch Kündigung 614 . Ein umstrittenes Kapitel des Arbeitsrechts für Einheimische stellte das sogen. Züchtigungsrecht des europäischen Arbeitgebers bei Vertragsverletzungen des einheimischen Arbeitnehmers, insbesondere bei Arbeitsverweigerung, dar. Die in den Kolonien aller europäischen Kolonialmächte übliche Praxis des Züchtigungsrechts durch den Arbeitgeber wurde kontrovers in der internationalen Rechtsliteratur diskutiert 615 . Insbesondere die französische Rechtsliteratur kritisierte dies mit dem heutigem Grundrechtsverständnis entsprechenden - Argument, daß die Züchtigung einen ungerechtfertigten Eingriff in die persönliche Freiheit des Menschen darstellte. Die Arbeitsverweigerung bzw. „Flucht" von der Plantage habe darüber hinaus oft ihren berechtigten Grund darin, daß die Einheimischen durch falsche Versprechungen zum Abschluß des Arbeitsvertrages gebracht würden. Um Arbeitsverweigerung zu sanktionieren, seien im übrigen die Mittel des Zivilrechts, wie Schadensersatzansprüche, angemessener als jegliches Züchtigungsmittel616. Die überwiegende Meinung in Deutschland jedoch 617 hielt ein Züchtigungsrecht des Arbeitgebers für unverzichtbar, da die Verweisung des Arbeitgebers auf die Möglichkeit zivilrechtlicher Sanktionen wegen der häufigen Vermögenslosigkeit der Einheimischen in Leere gehe. Entsprechend der damaligen Anschauung von der geistigen und kulturellen Überlegenheit der Europäer wurde angesichts der weitreichenden „väterlichen" Fürsorgepflichten des Arbeitgebers eine Übervorteilung der einheimischen Arbeitnehmer ausgeschlossen; ferner wurde auf das Züchtigungsrecht einiger deutscher Gesindeordnungen verwiesen 618 . Das preußische ALR von 1794 sah in § 227 I I 7 ausdrücklich ein „mäßiges" Züchtigungsrecht bei „faulem, unordentlichem und widerspenstigem Gesinde" vor, auch die preußische Gesindeordnung vom 8. November 1810 ließ „Scheltworte und geringe Tätlichkeiten" gegen das „Gesinde" zu 6 1 9 . Die Befürworter der Prügelstrafe, die sich auf die Anwendung der Gesindeordnung in den Kolonien beriefen, verkannten jedoch, daß diese Regelungen durch das RStGB von 1871 gegenstandslos geworden waren, da die Bestimmungen im RStGB über Notwehr und Beleidigungen abschließend wa612 Wick, S. 28/29. 613 Wick, S. 29/30. 614 Wick, S. 31/32. 615 Ü b e r b l i c k b e i Claß, S. 60 ff. 616 Überblick bei Claß, S. 60. 617 v. Hoffmann, Einführung, S. 142. 618 Claß, S. 61. 619 Wolter, S. 240/241.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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ren 6 2 0 Dies galt grundsätzlich auch für die Schutzgebiete, da zwar gemäß § 19 Nr. 1 KGG grundsätzlich die preußische Gesindeordnung von 1810 621 , aber gemäß § 19 Nr. 2 KGG auch das RStGB in den Schutzgebieten anwendbar waren und daher aus den gleichen Gründen ein Züchtigungsrecht nicht direkt aus der Gesindeordnung von 1810 hergeleitet werden konnte 622 . Als Folge der Regelung des RStGB sahen im übrigen die Polizeistrafgesetze einiger deutscher Bundesstaaten seit 1871 bei „hartnäckigem Ungehorsam" des „Dienstboten" nurmehr ein Einschreiten der Polizei und die Verhängung von geringen Haft- und Geldstrafen vor, für eine Bestrafung durch den Arbeitgeber blieb damit kein Raum mehr 623 . Als weiteres Argument für das Züchtigungsrecht wurde angeführt, daß eine Gefährdung der wirtschaftliche Entwicklung des Schutzgebietes durch die Arbeitsverweigerung bestanden habe, da das Unternehmerinteresse am Betrieb der Plantage mit dem öffentlichen Interesse identisch gewesen sei 6 2 4 . Entsprechend der letzteren Ansicht war die Züchtigung des einheimischen Arbeiters in den deutschen Schutzgebieten anerkannt und wurde ab 1896 geregelt 625 . Mit der Regelung sollten die vorher nicht seltenen willkürlichen Bestrafungen durch Unternehmer, Plantagenbesitzer oder Verwaltungsbehörden verhindert werden 626 . Ergänzend hierzu sah der ab 1900 geltende Art. 95 Abs. 3 EGBGB a.F., der über § 19 Nr. 1 KGG ebenso auch für die europäische Bevölkerung in den Schutzgebieten galt, ein generelles Verbot der Züchtigung durch den Arbeitgeber vor; ein 620 Wilhelm Kahler, Gesindewesen und Gesinderecht in Deutschland, 1896, S. 156/157; Rainer Schröder, Das Gesinde war immer frech und unverschämt, 1992, S: 93. 621 Vgl. Radlauer, S. 6; die Gesindeordnung von 1810 ging als spezielles Recht den Regelungen des preuß. ALR hinsichtlich des Gesinderechts vor, vgl. Franz Demmer, Das Gesinderecht im Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten von 1794 und in der Gesindeordnung für sämtliche Provinzen der Preußischen Monarchie von 1810, Diss. 1968, S. 97. 622 Die meisten Regelungen der preußischen und aller anderen deutschen Gesindeordnungen wurden im übrigen mit der Einführung des BGB ab 1900 weitgehend gegenstandslos; zwar blieb das Gesinderecht in der Zuständigkeit der Landesgesetzgeber (Art. 95 EGBGB), aus Gründen der Rechtseinheit wurden die Bestimmungen des BGB, insbesondere die Regelungen des Dienstvertrages und der deliktischen Haftung, für das Gesinderecht maßgeblich, vgl. Kühler, S. 193. 623 Art. 16 Württembergisches Polizei-StGB vom 27. Dezember 1871, vgl. v. Schicker, Das Polizeistrafrecht und Polizeistrafverfahren im Königreich Württemberg, 4. Aufl., 1907; Art. 106 Bayrisches Polizei-StGB vom 26. Dezember 1871, vgl. August v. Sutner, Kommentar zum Polizeistrafgesetzbuch für das Königreich Bayern vom 26. Dezember 1871, 7. Aufl., 1907. 624 ciaß, S. 61. 625 Und zwar in § 17 der Verfügung des Reichskanzlers wegen Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo vom 22. April 1896, DKGG 2, S. 225. 626 Wolter, S. 233: vor allem die einheimischen Aufseher auf den Plantagen machten oft von der Peitsche im Auftrag des Plantagenbesitzers Gebrauch; im Fall von Deutsch-Neuguinea spricht Hiery, S. 133 von faktischer „Leibeigenschaft" und einer „Patrimonialgerichtsbarkeit" des Plantagenbesitzers hinsichtlich der Kontraktarbeiter, insbesondere zur Zeit der Verwaltung durch die NGC.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

auf „Gewohnheit beruhendes privates Recht zur Züchtigung farbiger Arbeiter" wurde faktisch aber weiterhin toleriert 627 . § 17 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 628 regelte die Bestrafung wegen Vertragsbruchs für Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo; der Anwendungsbereich dieser Verfügung wurde später auch auf Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Neuguinea ausgedehnt. Grundlage der Bestrafung der einheimischen Arbeitnehmer war, daß die Strafe als Disziplinarstrafe ausschließlich von dem für die Strafgerichtsbarkeit über die Einheimischen zuständigen Verwaltungsbeamten, also durch die Beamten der Stationen, Distrikte oder Bezirksämter vollstreckt wurde. Die Arbeitgeber hatten lediglich den Vertragsbruch als „Antragsdelikt" bei der Verwaltungsbehörde zu melden; eine Bestrafung durch den Arbeitgeber war hingegen nicht zulässig 629 . Die für die Bestrafung möglichen Strafarten entsprachen dem in § 2 der Verfügung vom 22. April genannten Katalog der Strafsanktionen, die auch bei Straftaten gegen Einheimische verhängt werden konnten, insbesondere körperliche Züchtigung, Prügel- und Rutenstrafe oder Kettenhaft. Daneben wurde aber dem europäischem Arbeitgeber weiterhin ein „gelindes, väterliches" Züchtigungsrecht zugestanden, das mit dem zur damaligen Zeit praktizierten Züchtigungsrecht in Gefängnissen und Zuchthäusern und der „väterlichen" Zucht des Lehrherren gegenüber dem Lehrling verglichen wurde und lediglich Erziehungscharakter haben sollte 630 . Eine Besonderheit galt in Deutsch-Südwestafrika: als Folge der Aufstände der Einheimischen mißtraute man ihnen und wollte sie stärker kontrollieren; daher räumte eine Verordnung von 1907 631 dem deutschen Farmer - nach altpreußischem Vorbild - auch ein weitgehendes Aufsichtsrecht über die auf seiner Farm („Werft") wohnenden Einheimischen ein; letztere hatten wiederum aufgrund des „Wohnzwangs" auf der Farm zu wohnen und waren damit in ihrer Freizügigkeit beschränkt 632.

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Nach Wolter, S. 234 Schloß man aus der Tatsache, daß die Arbeiterverordnungen ein Kündigungsrecht des Arbeiters nur bei „grober" Mißhandlung vorsahen, daß ein „gewisses" Züchtigungsrecht anerkannt sein müsse; vgl. ferner Hesse, Starfgewalt über die Eingeborenen in den Schutzgebieten, ZfK (6) 1904, S. 122 (123). 628 DKGG 2, S. 225; gültig auch in Deutsch-Südwestafrika durch Verordnung des Landeshauptmannes von Südwestafrika vom 8. November 1896, DKGG 2, S. 294; im wesentlichen übernommen für Deutsch-Neuguinea durch die Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhaltung der Disziplin unter den farbigen Arbeitern vom 20. Juni 1900, geändert am 11. Juli 1900, DKGG 6, S. 248. 629 Zusammenfassend: Claß, S. 62/63. 630 Ausführlich bei: Jürgen Zimmerling, Die Entwicklung der Strafrechtspflege für Afrikaner in Deutsch-Südwestafrika 1884-1914, 1995, S. 148-150. 631 § 11 der Verordnung des Gouverneurs, betreffend Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen, vom 18. August 1907, DKB1. 1907, S. 1181. 632 Claß, S. 68.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Insgesamt entsprach die Praxis des Arbeitsrechtes, insbesondere die Anwendung von körperlichen (Disziplinar-)Strafen zur Sanktionierung von Vertragsverletzungen der zu jener Zeit üblichen Vorgehensweise in den meisten Kolonialgebieten Afrikas und Asiens; aus heutiger Sicht ist eine solche Behandlung der einheimischen Plantagenarbeiter zwar schwer verständlich, damals jedoch wurde die körperliche Züchtigung auch in Europa noch als ein durchaus zulässiges Disziplinierungsmittel, ζ. B. gegenüber „Dienstboten", Lehrlingen oder „Zuchthäuslern", angesehen. Im übrigen lassen sich neben der Nutzung der (billigen) Arbeitskraft der Einheimischen zum Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung der Schutzgebiete auch Ansätze zur Verbesserung der Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung hin zu einem „europäischen" Niveau erkennen.

(3) Grundstücksrecht Auf dem Gebiet des Grundstücksrechts bestand grundsätzlich eine Trennung des europäischen und des einheimischen Grundstücksrechts, die jedoch durch die Kaiserliche Verordnung vom 21. November 1902 633 durchbrochen wurde, derzufolge das deutsche Grundstücksrecht auch dann auf Grundstücke der einheimischen Bevölkerung Anwendung fand, wenn das entsprechende Grundstück in das Grundbuch oder ein Landregister eingetragen wurde 634 ; dies dürfte, wie schon bei A. III. 3. a) aa) (3) erwähnt, selten vorgekommen sein. Lediglich in Samoa wurden Grundstücke Einheimischer häufiger in das Grundbuch eingetragen, sofern ihre Grundstücke in den schon bestehenden Landregistern (samoan land records) eingetragen waren 635 . Um die oftmals verwickelten Landstreitigkeiten zwischen samoanischen Familien und Clans zu schlichten und damit weitere Unruhe unter der samoanische Bevölkerung, deren Clans sich wegen ungelöster Grundeigentumsfragen in der Vergangenheit befehdeten, zu verhindern, wurde durch Verordnung des Gouverneurs vom 25. Februar 1903 eine „Land- und Titelkomission" gebildet, die, bestehend aus 3 Deutschen und bis zu 6 Samoanern, über alle streitigen Fälle entschied636. Ein großes Problem für den Erwerb von Grundstücken in den Schutzgebieten stellte die Tatsache dar, daß die Eigentumsverhältnisse des Landes der Einheimischen schwierig zu bestimmen waren; häufig handelte es sich auch um unveräußerliches Stammeseigentum, das dem gesamten Dorf zur Verfügung stand 637 . Um den 633 DKGG 6, S. 4. 634 Vgl. Wilhelm Arning, Deutsch-Ostafrika gestern und heute, 1936, S. 117. 635 Verordnung des Gouverneurs vom 15. Juli 1903, DKGG 7, S. 155. 636 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Ernennung einer Land- und Titelkommission, vom 25. Februar 1903, DKB1. 1903, S. 200, ersetzt durch die Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Land- und Titelkommission, vom 23. Januar 1911, DKB1. 1911, S. 620; vgl. Hiery, S. 114. 637 Vgl. zur Verfügungsgewalt der Allgemeinheit der Dorfgemeinschaft in den Südseekulturen: Hermann Joseph Hiery, Das Deutsche Reich in der Südsee 1900- 1921, 1995, S. 105. 11 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Landbedarf zu befriedigen, der für die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien und der Siedler benötigt wurde, erklärte die deutsche Kolonialverwaltung sogenanntes „herrenloses" Land zu Kronland, für das ein Aneignungsrecht des Fiskus des Schutzgebietes bestand (vgl. oben A. III. 3. a) aa) (3)); die zum Kronland erklärten Gebiete lagen in ausreichendem Abstand zu den Dörfern der Einheimischen und sollten so sicherstellen, daß genügend Land zum Fortbestehen der Gemeinschaften der Einheimischen vorhanden war 6 3 8 . Um die Einheimischen vor einer existenzbedrohenden Verkleinerung ihrer Landbestände zu schützen, wurden in einigen Kolonien (die im folgenden aufgeführten) Schutzvorschriften eingeführt, die die Veräußerung von Grundstücken von Einheimischen an Europäer an besondere Bedingungen knüpften oder untersagte. In Deutsch-Ostafrika 639 und Kamerun 640 wurde die Veräußerung von Grundstücken durch Einheimische ab einer bestimmten Größe von der Genehmigung des Gouverneurs abhängig gemacht; außerdem wurde die Kolonialverwaltung, in der Regel der Bezirksamtmann, verpflichtet, den Einheimischen über die Folgen des Grundstücks Verkaufes aufzuklären 641. Ähnliche, weniger detaillierte Regelungen wurden in Deutsch-Südwestafrika 642 und Togo 643 getroffen. In Deutsch-Neuguinea644 und den Karolinen, Marianen und Palau-Inseln645 wurde die Verfügung von Grundstücken von Einheimischen an Europäer untersagt, die Veräußerung von Grundstücken entgegen dieses Verbotes wurden als unwirksam erklärt (dies betraf aber nicht Veräußerungen vor Inkrafttreten der jeweiligen Verordnung). Eine übereinstimmende Regelung wurde auch für die Marshall-Inseln erlassen 646. In Deutsch-Neuguinea und dem Inselgebiet war allein der Schutzgebietsfiskus berechtigt, Land von Einheimischen zu erwerben 647.

638 Ausführlich Wick, S. 36 ff. 639 Kaiserliche Verordnung vom 26. November 1895, DKGG 2, S. 200 (Kronlandverordnung für Deutsch-Ostafrika). 640 Kaiserliche Verordnung vom 15. Juni 1896, DKGG 2, S. 232 (Kronlandverordnung für Kamerun). 641 Für Deutsch-Ostafrika: Verfügung des Reichskanzlers vom 27. November 1895, DKGG 2, S. 202; für Kamerun: Verfügung des Reichskanzlers vom 17. Oktober 1896, DKGG 2, S. 291. 642 Ausführungsbestimmungen des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika vom 23. Mai 1903, DKGG 7, S. 114. 643 Verordnung des Gouverneurs von Togo vom 5. September 1904, DKGG 8, S. 217. 644 Ausführungsbestimmungen des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea vom 22. Juli 1904, DKGG 8, S. 157. 645 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend den Erwerb von Grundeigentum Eingeborener im Inselgebiete der Karolinen, Palau und Marianen vom 20. Januar 1900, DKGG 5, S. 19. 646 Verfügung des Reichskanzlers vom 8. Juli 1905, DKGG 9, S. 166. 647 Vgl. Wick, S. 37.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Auch in Samoa bestand ein grundsätzliches Verbot für Einheimische, Grundbesitz an Europäer zu veräußern; Ausnahmegenehmigungen des Gouverneurs wurden dann erteilt, wenn die Landveräußerung die gesamte, den Samoanern zur Verfügung stehende Landfläche nicht spürbar verminderte 648. Hinsichtlich des Grundstücksrechts von Kiautschou, insbesondere die Regelungen der Landordnung für Kiautschou wird auf die ausführliche Darstellung unter A. III. 3. a) aa) (3) verwiesen.

(4) Bergrecht In Deutsch-Südwestafrika schlossen die Regelungen der kaiserlichen Bergverordnung vom 8. August 1905 649 die einheimische Bevölkerung faktisch davon aus, Edelmetalle (Gold, Silber, Platin), Edelsteine (ζ. B. Diamanten), andere Metalle (ζ. B. Kupfer, Eisen), Glimmer, Kohle und Salz abzubauen: der Grundsatz der Bergbaufreiheit in dieser Verordnung bezog sich nicht auf die einheimische Bevölkerung 650 . Einheimische hatten die Möglichkeit des Schürfens nur, sofern ihnen der Gouverneurs eine Ausnahmegenehmigung erteilte, was selten vorkam 651 . Allerdings fiel die Gewinnung von Kochsalz aus Salzpfannen nicht unter die Verordnung und konnte daher durch Einheimische ohne Beschränkungen ausgeübt werden 6 5 2 . Auch in Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo und Deutsch-Neuguinea war die einheimische Bevölkerung durch die Regelungen der kaiserlichen Bergverordnung vom 27. Februar 1906 653 aufgrund eines Genehmigungsvorbehaltes (Ausnahmegenehmigung des Gouverneurs) faktisch von der Förderung von Edelmineralien, aber auch anderer Mineralien ausgeschlossen654. Nach der Verordnung vom 27. Februar 1906 fiel jedoch der Abbau von Eisen, Kupfer, Graphit und Salz im Tagebau durch Einheimische auf eigene Rechnung nicht unter die Verordnung und damit unter den Genehmigungsvorbehalt durch den Gouverneur, sofern nicht die Förderung dieser Mineralien ausdrücklich durch Anordnung des Reichskanzlers bzw. des Gouverneurs mit Genehmigung des Reichskanzlers in den Anwendungsbereich der Verordnung einbezogen wurde 655 . 648 Vgl. Verfügung des Gouverneurs, betreffend die Beschränkung des Verfügungsrechts der Samoaner über ihre Ländereien, vom 20. Juni 1909, DKGG 13, S. 328. 649 DKGG 9, S: 221. 650 v. Hoffmann, Einführung, S. 209.

651 Vgl. z. B. § 2 Abs. 2 der Bergverordnung für Deutsch-Südwestafrika vom 8. August 1905, DKGG 9, S. 221. 652 Vgl. § 1 Abs. 2 der Bergverordnung für Deutsch-Südwestafrika. 653 Kaiserliche Bergverordnung für die afrikanischen und Südseeschutzgebiete mit Ausnahme von Deutsch-Südwestafrika vom 27. Februar 1906, DKGG 10, S. 36. 654 Vgl. § 2 Abs. 2 der Bergverordnung vom 27. Februar 1906. 655 § 1 Abs. 2 der Bergverordnung vom 27. Februar 1906. 11*

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

In Kiautschou umfaßte das generelle Schürfverbot für Privatpersonen gemäß der Verordnung des Reichskanzlers vom 16. Mai 1903 656 gleichermaßen die europäische wie die einheimische Bevölkerung. Insgesamt war die einheimische Bevölkerung in den Schutzgebieten faktisch vom Abbau wertvoller Mineralien ausgeschlossen.

(5) Eherecht In das weit ausgebildete und für das Leben der Einheimischen bedeutsame Familienrecht 657 griff die deutsche Kolonialverwaltung nur wenig ein, da man die Kulturstufe der Einheimischen als noch nicht reif genug für ein europäisch geprägtes Familienrecht ansah 658 . Daher wurden bei den Einheimischen die vom europäischen Familienrecht stark abweichenden Rechtsinstitute wie Polygamie und Polyandrie („Vielmännerei"), Kaufehe („Kauf 4 der Braut gegen Zahlung eines Kaufpreises an die Eltern der Braut, die Ehe konnte gegen Rückerstattung des Kaufpreises aufgelöst werden), Scheidung durch einfache Willenserklärung des Mannes (Scheidung nach islamischem Recht, sogenannte ,,talaq"-Scheidung) und Verlöbnis von Kindern von der deutschen Kolonialverwaltung grundsätzlich geduldet 659 . In Togo wurde 1907 660 die bei der einheimischen Bevölkerung weitverbreitete Rechtsgewohnheit, daß Eltern mit anderen Eltern bindende Verlöbnisse ihrer Kinder schlossen, untersagt. Die umfassendste Regelung des Eherechts der Einheimischen wurde durch die Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea vom 5. Februar 1904 661 vorgenommen. Diese Verordnung regelte jedoch nur das Eherecht der einheimischen Stämme im Gebiet der Gazellehalbinsel an der Nordküste der Insel Neu-Pommern (heute Neubritannien), da das Recht dieser Stämme der Kolonialverwaltung weitgehend schon bekannt war 6 6 2 : außerdem dürften diese Stämme wegen der Nähe zu dem Verwaltungssitz Herbertshöhe (und dem späteren Verwaltungssitz Rabaul) schon zu einem gewissen Grad durch europäische Kultur beeinflußt worden sein. 656 DKGG 7, S. 306; erlassen aufgrund der Ermächtigung gemäß § 3 der kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900. 657 Vgl. Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika, ZfK (5) 1903, S. 237 (248). 658 Wiek, S. 41. 659 Überblick bei K. Julius Friedrich, Strafrechtsgewohnheiten der Eingeborenen in deutschen Schutzgebieten, ZfK (13) 1911, S. 283 (287 ff.). 660 Runderlaß des Gouverneurs vom 11. Februar 1907, DKGG 11, S. 93.

661 Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea, betreffend das Eherecht unter den Eingeborenen, vom 5. Februar 1904, DKGG 8, S. 41, ergänzt durch die Anweisung zur Einführung der Eherechtsverordnung vom 20. Juli 1904, DKGG 8, S. 157. 662 Ausführlich v. Hoffmann, Die Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea, betreffend das Eherecht unter den Eingeborenen, ZfK (7) 1905, S. 764 (764).

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Die Verordnung regelte zunächst die Ehehindernisse und führte das Verbot der Doppelehe (Bigamie) ein 6 6 3 . Das Recht der Eheschließung wurde - in Abänderung des bisher üblichen Brautkaufes - dahingehend modifiziert, daß zur Eingehung der Ehe ausschließlich die Einigung der Brautleute bzw. deren Eltern, nicht jedoch die Leistung des Kaufpreises erforderlich waren 664 . Weitgehende Modifikationen wurden hinsichtlich des Ehescheidungsrechts vorgenommen; hier wurde das Recht des BGB, insbesondere die Regelung, daß die Scheidung durch Urteil erfolgt (§ 1564 BGB a.F.) und die Ehescheidungsgründe der §§ 1565-1569 BGB a.F. übernommen 6 6 5 ; zuständig zum Erlaß des Scheidungsurteils war der Bezirksamtmann von Herbertshöhe 666.

(6) Personenstandsrecht Da Eheschließungen unter Einheimischen nahezu ausschließlich nach Stammesrecht vorgenommen wurde, bestand grundsätzlich keine Notwendigkeit zur Führung von Personenstandsregistern für die einheimische Bevölkerung. Zur besseren Kontrolle wurden jedoch 1905 durch Runderlaß des Gouverneurs 667 in DeutschOstafrika Personenstandsregister für die einheimische Bevölkerung eingeführt; die Eintragung einer Eheschließung hatte jedoch keinerlei rechtsbegründende Wirkung 6 6 8 . Auch in Kamerun konnte aufgrund einer Bekanntmachung des Gouverneurs vom 7. Dezember 1896 669 die Eheschließung zwischen Einheimischen in das Personenstandsregister eingetragen werden, sofern beide Ehepartner eine kirchliche Ehe führten oder einer Missionsgesellschaft angehörten. In DeutschSüdwestafrika konnte nach einer Verfügung des Gouverneurs vom 28. April 1914 auf Antrag die christliche Eheschließung zwischen Einheimischen in ein Eheregister (das beim Bezirksamtmann bzw. Distriktschef geführt wurde) eingetragen werden 670 . Gemäß der Verfügung des Gouverneurs begründete die Eintragung der Ehe die Vermutung, daß die eingetragene Ehe die einzig gültige Ehe war 6 7 1 .

663 V. Hoffmann, ZfK (7) 1905, S. 764 (769). 664 v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 190. 665 Wick, S. 45/46. 666 y. Hoffmann, ZfK (7) 1905, S. 764 (788 ff.). 667 Runderlaß des Gouverneurs, betreffend die Registrierung von Ehen Eingeborener vom 25. Juli 1905, DKGG 9, S. 179. 668 Wick, S. 48. 669 Bekanntmachung des Gouverneurs, betreffend die Einrichtung eines Standesamtsregisters für die christlichen Eingeborenen, DKGG 6, S. 138. 670 Verfügung des Gouverneurs, betreffend Einführung eines Eheregisters für Eingeborene, vom 28. April 1914, DKB1. 1914, S. 769. 671 Also gleichsam ein öffentlicher Glaube des Eheregisters, vgl. Verfügung vom 28. April 1914.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

(7) Erbrecht Auch hinsichtlich des Erbrechts der einheimischen Bevölkerung übte die Kolonialverwaltung Zurückhaltung und sah in den meisten Fällen von eigenen Regelungen ab, da es sich bei dem angestammten Recht der Einheimischen häufig um sakrales Recht handelte und im übrigen wegen des geringen materiellen Besitzes der meisten Einheimischen eine Normsetzung hinsichtlich der Behandlung von Nachlässen nicht notwendig erschienen. Lediglich in Deutsch-Ostafrika regelte die Verordnung des Gouverneurs vom 4. November 1893 672 das Verfahren bei der Regulierung von Nachlässen Einheimischer. Die Verordnung entsprach inhaltlich vereinfacht den Bestimmungen über die Nachlaßverwaltung der §§ 1981 ff. BGB; entsprechend den besonderen Verhältnissen in den Schutzgebieten wurde der Erbschein vom Bezirksamtmann erteilt, der auch die (auf Antrag eines Erben vorzunehmende) Nachlaßverwaltung durchführte. Auch in Deutsch-Neuguinea erließ der Gouverneur Vorschriften zur gesonderten Behandlung von Nachlässen von Angehörigen der einheimischen Bevölkerung 673 ; nach den Vorschriften dieses Runderlasses hatte der Arbeitgeber des Verstorbenen, der auf der Plantage wohnte, den Erben den Nachlaß unverzüglich herauszugeben; in allen anderen Erbfällen wurde eine Nachlaßregulierung durch den Bezirksamtmann nur auf Antrag durchgeführt.

(8) Urheber-, Warenzeichen- und Patentrecht Das deutsche Urheber- Warenzeichen- und Patentrecht fand für die einheimische Bevölkerung keine Anwendung, da die Einheimischen gemäß § 4 SGG den in § 3 SGG bezeichneten Vorschriften, zu denen auch der das Urheber- Warenzeichen- und Patentrecht betreffende § 22 KGG zählte, nur dann unterstanden, wenn dies eine kaiserliche Verordnung ausdrücklich vorsah. Gemäß § 4 der Kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 674 war die Anwendung der reichsrechtlichen Vorschriften über das Urheber- Warenzeichen- und Patentrecht auf die einheimische Bevölkerung gerade nicht vorgesehen 675. Demzufolge hatten Einheimische in den deutschen Schutzgebieten nicht die Möglichkeit, ein Patent oder Warenzeichen anzumelden; auch Schutzrechtsverletzungen durch andere Einheimische unterlagen nicht deutschem Urheber- Warenzeichen- und Patentrecht. Bei der Schutzrechtsverletzung durch einen Europäer bestand jedoch Einigkeit darüber, daß sich der geschädigte Einheimische auf die Vorschriften des deutschen Urheber-, Warenzeichen- oder 672 DKGG 2, S. 46. 673 Runderlaß und Dienstanweisung des Gouverneurs vom 22. Juli 1904, DKGG 8, S. 161. 674 RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel S. 318; siehe Anhang II. 675 Einhellige Meinung, vgl. nur Ewald Lüders, Die Anwendung des deutschen Urheberund Erfinderrechts in den Schutzgebieten, in: Abhandlungen und Mitteilungen aus dem Seminar für Öffentliches Recht und Kolonialrecht, Heft 4, 1914, S. 37/38.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Patentrechts berufen konnte, da in diesen Fällen wie bei allen anderen Fällen von „rechtlichen Mischbeziehungen" das deutsche Recht anzuwenden sei 6 7 6 .

bb) Straf recht

Die deutschen Kolonialbehörden fanden bei der Inbesitznahme der Schutzgebiete eine Vielzahl einheimischer Kulturen mit individuellem Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis vor. Auch hinsichtlich des Strafrechts der einheimischen Bevölkerung als einer wesentlichen Ausprägung einheimischer Moral-, Religions- und Kulturauffassungen 677 bestanden erhebliche Unterschiede, so daß von einem einheitlichen Strafrecht der Einheimischen nicht gesprochen werden konnte. Hinzu kam, daß die einheimischen Stämme ihre Strafrechtsgrundsätze nicht schriftlich festlegten - bis auf die bemerkenswerte Ausnahme der Rehobot-Bastards in Deutsch-Südwestafrika, die seit 1874 ein geschriebenes Strafgesetzbuch besaßen678 - , sondern mündlich überlieferten, so daß die jeweiligen Strafrechtsgewohnheiten der einzelnen Stämme für Europäer schwer erfaßbar waren. Welches Strafrecht konnte der Bezirksamtmann, der aufgrund der schon erwähnten Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 die Strafrechtspflege über die einheimische Bevölkerung ausübte, sofern sie nicht durch Verordnung des jeweiligen Gouverneur in Bagatellsachen (zum Begriff siehe oben, A. III. 2. e) cc)) auf einheimische Richter übertragen wurde, nun anwenden? Zwar fand das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) grundsätzlich auf die einheimische Bevölkerung keine Anwendung, faktisch wurde die Strafbarkeit der Handlungsweise der einheimischen Bevölkerung in Ermangelung eines kodifzierten Strafrecht des jeweiligen Stammes nach dem RStGB beurteilt 679 , welches allerdings nur unter schonender Berücksichtigung der Stammessitten angewendet werden sollte. Als Grundlage der Bestrafung konnte auch das Strafrecht des einheimischen Stammes herangezogen werden, soweit es unter Mithilfe eines einheimischen Rechtskundigen festgestellt werden konnte und sofern es dem deutschen Recht nicht widersprach 680. Eingriffe in die einheimische Strafrechtsordnung durch koloniale Verordnungen erfolgten nur dann, wenn aus Gründen des „ordre public" Verhaltensweisen verbo676 Vgl. Lüders, S. 38-40. 677 Überblick zu den Grundsätzen des Strafrechts der einheimischen Naturvölker: K. Julius Friedrich, Strafrechtsgewohnheiten der eingeborenen in deutschen Schutzgebieten, ZfK (13) 1911, S. 283 ff.; Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika, ZfK (5) 1903, S. 237 (245 ff.). 678 Jürgen Zimmerling, Die Entwicklung der Strafrechtspflege für Afrikaner in DeutschSüdwestafrika 1884-1914, 1995, S. 78. 679 Lederer, S. 37. 680

Zimmerling, S. 63.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

ten wurden, die als den europäischen Rechtsanschauungen nicht entsprechend angesehen wurden, so auf dem Gebiet des einheimischen Strafprozesses bei Strafverfahren einheimischer Richter. Auch bei Straftatsbeständen, die nicht europäischen Standards entsprachen, sah man Handlungsbedarf für eine Regelung materieller, „europäisch" geprägter Straftatsbestände durch koloniale Rechtsverordnungen. Außerdem mußten hinsichtlich der Verhängung der - schon vor der deutschen Kolonisierung üblichen - Körperstrafen Regelungen geschaffen werden, die Willkür und Ungerechtigkeiten bei der Strafverhängung ausschloß.

(1) Modifikationen des materiellen Strafrechts und des Strafprozesses durch Kolonialrecht Das einheimische Strafrecht der verschiedenen Stämme war auf die Regelungen der einfachen Verhältnisse, unter denen die Einheimischen lebten, zugeschnitten und reichte als rechtlicher Rahmen für das Zusammenleben mit den Europäern nicht aus. Insbesondere verbreitete, als „barbarisch" angesehene Strafrechtsanschauungen wie die Strafbarkeit der Zauberei 681 oder die Straflosigkeit einer Tötung aus Gründen der Blutrache 682 , die Rechtsfindung durch Gottesbeweise wie Zweikampf, Orakel 683 , Giftprobe (der Angeklagte trinkt Gift und gilt als schuldig, wenn er erkrankt) oder das „Heißölordal" (der Angeklagte hat seine Unschuld durch das Herausnehmen eines Gegenstandes aus einem Kessel mit siedendem Öl zu beweisen)684 und nicht zuletzt die Anwendung grausamer Strafen wie Verbrennen, „Pfählung", Ertränken oder Verstümmelung (ζ. B. das Abschlagen einer Hand oder das Durchschneiden der Achillessehne)685 widersprachen europäischem Rechtsempfinden; die Kolonialverwaltung bemühte sich daher, solche Strafrechtsanschauungen zurückzudrängen. Demnach setzte sich das geltende Strafrecht und Strafprozeßrecht zusammen aus dem einheimischen Stammesrecht - hiervon ausgenommen die Gebräuche, die europäischer Rechtsanschauung widersprachen und dem RStGB, jedoch ohne die Regelungen hinsichtlich Art und Höhe der Strafe, da man bei den Einheimischen - entsprechend der schon vor Ankunft der Deutschen geübten Praxis - die Verhängung von Leibesstrafen als sinnvoller ansah 686 . Die Ansätze der Kolonialverwaltung und des Kolonialrates zwischen 1894 und 1898, ein Strafgesetzbuch für die einheimische Bevölkerung zu schaffen, wurden

681 C. Wandres, Über Rechtsbewußtsein und Recht unserer Eingeborenen, besonders der Hottentotten, ZfK (12) 1910, S. 269 (274/275). 682 Zimmerling, S. 66/67. 6S3 Wandres, S. 272/273. 684

K. Julius Friedrich, Strafrechtsgewohnheiten der Eingeborenen in deutschen Schutzgebieten, ZfK (13) 1911, S. 283 (298). 6S5 Friedrich, S. 294/295. 686 Vgl. Friedrich Doerr, Deutsches Kolonialstrafrecht, ZfK (10) 1908, S. 321 (331).

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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wegen der offensichtlichen Unterschiede der einheimischen Kulturen und des noch weitgehend unbekannten einheimischen Rechts nicht weiter verfolgt 687 . Die rechtliche Grundlage für koloniales Strafrecht und Strafprozeßrecht stellte die kaiserliche Verordnung vom 25. Februar 189 6 6 8 8 dar, die den Reichskanzler zu Ausführungsvorschriften ermächtigte. Auf der Grundlage dieser Verordnung erging zunächst die Verfügung des Reichskanzlers vom 27. Februar 1896 689 , die mit dem Verbot der Verhängung von Verdachtsstrafen und von anderen als in der RStPO zugelassenen Zwangsmitteln zur Erzielung von Aussagen - vorher eine Praxis in den meisten einheimischen Strafverfahren - die ersten strafprozessualen Rechtsgarantien für Einheimische schuf. Die Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 690 regelte ergänzend insbesondere die Zuständigkeit des Bezirksamtmannes oder Stationschefs für Strafsachen Einheimischer, die Arten der Strafvollstreckung (siehe unten A. III. 3. b) bb) (3)) und die Führung von Strafregistern zwecks Dokumentation und Kontrolle der Bestrafungen (hiervon konnte aufgrund des Erlasses des Reichskolonialamtes vom 8. Februar 1909 691 wieder abgesehen werden). Durch die kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908 692 wurde die Zuständigkeit zur Regelung des Strafprozesses und des materiellen Strafrechts für die einheimische Bevölkerung (die grundsätzlich als ein Bestandteil der Schutzgewalt dem Kaiser zustand) vollständig auf den Reichskanzler (bzw. das Reichskolonialamt) übertragen, der sie wiederum auf die Gouverneure delegieren konnte 693 . Faktisch wurde das Strafverfahren dadurch modifiziert, daß von der Vereidigung der Einheimischen unter - höchst zweifelhafter - Anwendung des § 56 StPO (mangelnde Verstandesreife) stets abgesehen wurde, da die Richter grundsätzlich Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Aussagen Einheimischer hatten 694 . Demzufolge bildete sich als neuer Straftatsbestand in der Gerichtspraxis der Schutzgebiete der - bis dahin im RStGB unbekannte - Straftatbestand der falschen uneidlichen Aus687 Zimmerling, S. 81-83. 688 Allerhöchste Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten vom 25. Februar 1896, DKGG 2, S. 213. 689 Verfügung des Reichskanzlers, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten vom 27. Februar 1896, DKGG 2, S. 213. 690 Verfügung des Reichskanzlers wegen Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinarstrafgewalt von Ostafrika, Kamerun und Togo, vom 22. April 1896, DKGG 2, S. 225; gültig auch in Deutsch-Südwestafrika durch Verordnung des Landeshauptmannes von Südwestafrika vom 8. November 1896, DKGG 2, S. 294. 691 Erlaß des Reichskolonialamtes betreffend die über die vollstreckten Strafen zu erstattenden Berichte vom 8. Februar 1909, in: Die Landesgesetzgebung des Schutzgebietes Togo, Kaiserliches Gouvernement von Togo (Hrsg.), Nr. 108, S. 206. 692 Verordnung vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617; Runderlaß des Staatssekretärs des Reichskolonialamtes vom 15. August 1908 zur Kaiserlichen Verordnung vom 3. Juni 1908, DKGG 12, S. 353. 693 Mit der gleichen Verordnung wurde auch die Zuständigkeit hinsichtlich der Regelung der Verwaltung übertragen, vgl. § 1 Nr. 1 der Verordnung vom 3. Juni 1908. 694 Siehe oben, A. III. 2. e) cc).

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

sage heraus 695 , der in einigen Schutzgebieten - ζ. B. in Kamerun - auch ausdrücklich durch eine Regelung des Gouverneurs eingeführt wurde 696 . Zwar war die Einführung eines Tatbestandes der falschen uneidlichen Aussage zu jener Zeit in Deutschland in der Diskussion, ein Vorentwurf einer Neufassung des RStGB aus dem Jahr 1909 enthielt auch bereits in § 168 eine entsprechende Regelung 697 . Die koloniale Praxis dürfte die Diskussion in Deutschland jedoch nicht beeinflußt haben, da sie sich ausschließlich auf die einheimische Bevölkerung in den Sclmtzgebieten bezog 698 . Modifikationen durch Verordnungen der jeweiligen Gouverneure erfolgten hinsichtlich einzelner Straftatbestände und prozessualer Regelungen (siehe unten) sowie hinsichtlich von Art und Höhe der Strafen (siehe unten A. III. 3. b) bb) (3)). Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika 699 wurde das geltende Strafrecht (RStGB modifiziert durch Stammesrecht) ergänzt durch eine Anweisung des Gouverneurs vom 19. August 1896 700 , in der Sklavenhandel und Sklavenraub durch Einheimische unter Strafe gestellt wurde und mit Kettenhaft oder hoher Freiheitsstrafe geahndet wurde. Ausführungsbestimmungen des Gouverneurs regelten weitere Einzelheiten, insbesondere das Recht der Bezirksamtmänner, Bagatellstrafsachen auf einheimische Richter („Wali", „Akiden" oder „Sultani") zu übertragen; ferner Protokollierungspflichten für den Strafprozeß, die Strafvollstreckung und die strafrichterlichen Kompetenzen von Expeditionsführern 701. Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika 702 blieben die schon erwähnten Bestimmungen des kodifizierten Strafrechts der Rehobot-Bastards sowie ihre Gerichtsbarkeit in Strafsachen ihrer Stammesangehörigen auch nach dem Ende der Aufstände in Kraft; da sich die Rehobot-Bastards nicht an den Aufständen beteiligt hatten, trafen sie nicht 695 Zimmerling, S. 64/65. 696 Dienstvorschrift des Gouverneurs von Kamerun, betreffend die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegenüber den Eingeborenen, vom Mai 1902, DKGG 6, S. 467. 697 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch - Begründung - , Reichsjustizamt (Hrsg.), 1909, S. 528 ff. 698 Der Tatbestand der falschen uneidlichen Aussage wurde erst 1943 in das deutsche Strafrecht aufgenommen; auch hierbei orientierte man sich nicht an der Gerichtspraxis in den ehemaligen deutschen Schutzgebieten, sondern am österreichischen Strafrecht, vgl. Rietsch, Die vorgetäuschte Straftat und die falsche Aussage, DStR (Deutsches Strafrecht) 1943, S. 97 (105). 699 Ausführlich zur Strafrechtspflege in Deutsch-Ostafrika: Lederer, S. 36 ff. 700 Anweisung betreffend die bei der Bestrafung des Sklavenhandels gegenüber Eingeborenen zu befolgenden Grundsätze vom 19. August 1896, DKGG 2, S. 267. 701 Lederer, S. 52-54. 702 Ausführlich zur Strafrechtspflege in Deutsch-Südwestafrika: Zimmerling, S. 64/65.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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die obenerwähnten restriktiven Maßnahmen der Kolonialverwaltung gegen die Einheimischen. Demgegenüber wurden nach dem Ende der Aufstände bei Straftaten von Angehörigen anderer Stämme keine einheimische Häuptlinge als Beisitzer von den Bezirksamtmännern oder Distriktschefs herangezogen; dieses ursprünglich in den Schutzverträgen den einheimischen Häuptlingen zugesagte Mitspracherecht bei der Strafgerichtsbarkeit wurde durch die Aufstände als verwirkt angesehen703. Kamerun In Kamerun 704 bezog die Dienstvorschrift des Gouverneurs vom Mai 1902 705 ausdrücklich das RStGB in die Strafrechtsordung für die Einheimischen ein, außerdem Strafvorschriften aufgrund von kaiserlichen Verordnungen gemäß § 6 SGG und Verordnungen des Reichskanzlers gemäß § 15 SGG. Bemerkenswert ist, daß in § 2 der Dienstvorschrift von 1902 das strafrechtliche Rückwirkungsverbot auch für die einheimische Bevölkerung verankert wurde: Strafverfahren durften nur gegen Taten eingeleitet werden, die durch das RStGB und Strafverordnungen gemäß §§6 und 15 SGG schon zur Zeit der Tat mit Strafe bedroht waren. Allerdings führten Zweifel an der Verbindlichkeit dieser Dienstanweisung sowie zum Teil auch die Unkenntnis des deutschen Verwaltungsbeamten hinsichtlich der Regelungen des RStGB (zum Teil fehlten dem Beamten auch die Gesetzestexte) dazu, daß die Rechtsprechungspraxis der lokalen Beamten weiterhin von Rechtsunsicherheit, freiem Ermessen bei der Tatbestandsfindung, zum Teil auch von Willkür geprägt war 7 0 6 , ein Mißstand, der vom Gouvernement erkannt und durch den Runderlaß des Gouverneurs von 5. Januar 1906 auch teilweise beseitigt wurde 707 . Erwähnenswert ist ferner, daß in § 4 der Dienstvorschrift der dem RStGB zu jener Zeit noch unbekannte Tatbestand der falschen uneidlichen Aussage vor Gericht eingeführt wurde; ein direkter Einfluß auf die Gesetzgebung im Deutschen Reich hinsichtlich der späteren Einfügung des heutigen § 153 StGB läßt sich jedoch nicht nachweisen (siehe oben). Im Hinblick auf das Strafverfahren führten die § § 6 - 1 0 der Dienstanweisung die strafprozessualen Garantien wie das Opportunitätsprinzip (allerdings mit einem Anklagemonopol der Verwaltungsbehörde, da es für Einheimische keine Staatsanwaltschaft gab) sowie die Prinzipien der Öffentlichkeit und Münd703 Zimmerling, S. 114. 704 Hierzu ausführlich Walz, S. 89 ff. 705 Dienstvorschrift des Gouverneurs, betreffend die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegenüber den Eingeborenen, vom Mai 1902, DKGG 6, S. 467. 706 Als Straftaten ohne jegliche gesetzliche Grundlage wurden von einzelnen lokalen Beamten u. a. geahndet: Selbstmord, Fahrlässige Sachbeschädigung, „Widersetzlichkeit", „Frechheit gegen Europäer", Entlaufens aus dem Gefängnis", „Ungebühr", „Fortgesetzte Faulheit", „Böswilliges Verlassen des Ehemannes"; vgl. Walz, S. 105. 707 Runderlaß des Gouverneurs, betreffend Straf- und Disziplinargerichtsbarkeit über Eingeborene, vom 5. Januar 1906, in: Die Landesgesetzgebung für Kamerun, Julius Kuppel (Hrsg.), 1912, Nr. 404, S. 819.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

lichkeit ein. Insbesondere Regelungen zur vierteljährlichen Führung der Straflisten enthielt der schon erwähnte Runderlaß des Gouverneurs vom 5. Januar 1906 708 . Togo In Togo wurden die Regelungen der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 hinsichtlich der Verhängung der Todesstrafe, der Zuständigkeit der Bezirksamtmänner und der Führung der Strafbücher durch die Dienstanweisung des Gouverneurs vom 10. Januar 1906 709 umgesetzt. Um das materielle Strafrecht und insbesondere den Strafprozeß der einheimischen Richter in Bagatellsachen europäischen Rechtsanschauungen nahezubringen, wurden Modifikationen durch den Runderlaß des Gouverneurs vom 11. Februar 1907 710 vorgenommen. Dieser érklärte folgende Verhaltensweisen von Einheimischen zu Straftatbeständen: Abtreibung sowie Beihilfe hierzu, Ausübung der Blutrache, Verwendung von Fetischen und Giftproben als Beweismittel durch einheimische Richter, Anmaßung von Häuptlings- und Richterbefugnissen sowie die - weit verbreitete - Gewohnheit der einheimischen Richter, Gerichtsgebühren oder Strafgelder in Branntwein einzuziehen und auch während der Gerichtsverhandlungen Branntwein zu konsumieren. Deutsch-Neuguinea In Deutsch-Neuguinea, aber auch auf den anderen Südseeinseln außer Samoa bestand ein sehr archaisches Rechts- und Gesellschaftssystem; Stammeskämpfe, Blutrache, Kannibalismus und Menschenopfer waren weit verbreitet 711 . Für den Strafrichter stellte sich hier - mehr als in Afrika - bei der Untersuchung von strafbaren Handlungen die Frage, ob eine Strafverfolgung nach dem einheimischen Rechtsgefühl und der Lage des Falles verstanden worden wäre. Die Auffassung von „Verbrechen" war völlig verschieden von einer europäischen Sichtweise, so war Diebstahl innerhalb einer Gruppe verboten, außerhalb einer Gruppe aber unter Umständen eine „Heldentat" 712 . Dem trug die aufgrund der Ermächtigung der kaiserlichen Verordnung vom 7. Juli 1888 713 erlassene Strafverordnung der Direktion der NGC vom 21. Oktober 1888 714 dadurch Rechnung, daß sie als geltendes Straf-

los Runderlaß vom 5. Januar 1906, S. 819. 709 Dienstanweisung des Gouverneurs vom 10. Januar 1906, betreffend die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen gemäß der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896, Landesgesetzgebung für Togo, Nr. 104, S. 198. 710 Runderlaß des Gouverneurs betreffend die Bestrafung der Straftaten der Eingeborenen vom 11. Februar 1907, Landesgesetzgebung für Togo, Nr. 105, S. 201 -202.

™ Hiery, S. 96. ™ Hiery, S. 98. 713 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen im Schutzgebiet der Neuguinea-Compagnie vom 7. Juli 1888, DKGG 1, S. 532. 714 Strafverordnung der Neuguinea-Compagnie für die Eingeborenen vom 21. Oktober 1888, DKGG 1, S. 555.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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recht zwar das RStGB und die Strafverordnungen des Reichskanzlers für anwendbar erklärte, dem zuständigen Strafrichter aber ein weites Ermessen hinsichtlich der Strafverfolgung einräumte. War die strafbare Handlung wegen des abweichenden kulturellen Verständnisses der Einheimischen nicht zur Strafverfolgung geeignet, konnte der Richter davon absehen715. Diese Strafverordnung wurde nach der Übernahme der Verwaltung durch das Deutsche Reich 1899 mit unwesentlichen Änderungen übernommen 716. Als weitere bemerkenswerte Regelung schloß die Strafverordnung - im Unterschied zu den Regelungen in Afrika - die den Rechtstraditionen in der Südsee weitgehend unbekannte Leibesstrafe (Prügelstrafe) aus 717 ; dies galt jedoch nicht für die melanesischen Plantagenarbeiter, die von anderen Südseeinseln angeworben wurden: hier wurde die Prügelstrafe im Rahmen der schon erwähnten Bestrafung „wegen Vertragsbruchs" vollstreckt 718 . Marshall-Inseln Für die Marshall-Inseln enthielt die aufgrund der kaiserlichen Verordnung vom 26. Februar 1890 719 erlassene Strafverordnung des Reichskanzlers vom 10. März 1890 720 hinsichtlich des anzuwendenden Strafrechts, des Ermessens des Richters zur Strafverfolgung und des Verbots der Leibesstrafe Regelungen, die mit der Strafverordnung für Deutsch-Neuguinea weitgehend übereinstimmten. Palau-Inseln, Marianen, Karolinen Auf den 1899 erworbenen Karolinen, Marianen und Palau-Inseln blieb das einheimische Strafrecht, welches auch weiterhin von den einheimischen Häuptlingen in Bagatellsachen unter der Aufsicht deutscher Verwaltungsbeamten angewendet wurde, in Kraft, die Strafrechtspraxis entsprach aber nun mehr und mehr der Strafverordnung von Deutsch-Neuguinea721. Nach der verwaltungsmäßigen Zusammenfassung auch der Marshall-Inseln mit Deutsch-Neuguinea kam es zu einer einheitlichen Regelung des Strafrechts durch die aufgrund der kaiserlichen Verord715 Noch 1912 wurde einem Einheimischen von der Insel Karkar (Neuguinea), der aus Blutrache einen anderen Einheimischen und dessen Kind tötete, die strafrechtliche Verfolgung erlassen, da sein Heimatdorf noch kaum mit der deutschen Verwaltung Berührung hatte; statt dessen wurde er für ein Jahr nach Rabaul verbannt, wo er im Straßenbau zu arbeiten hatte, vgl. Hiery, S. 125. 71 6 Vgl. Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 335. 717 Vgl. Hiery, S. 107. 718 Hiery, S. 133. 719

Kaiserliche Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen im Schutzgebiete der Marshall-Inseln, vom 26. Februar 1890, DKGG 1, S. 621. 720 Strafverordnung des Reichskanzlers für die Eingeborenen der Marshall-Inseln, vom 10. März 1890, DKGG 1, S. 627. 721 Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea, betreffend die vorläufige Regelung der Verwaltung und Rechtsverhältnisse in dem Inselgebiet der Karolinen, Palau und Marianen, vom 26. September 1899, DKGG 6, S. 221; Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 336.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

nung vom 3. Juni 1908 erlassene Verordnung vom 28. Oktober 1908 , in der das weite Ermessen des Bezirksamtmannes und damit die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit in Anlehnung an die jeweilige einheimische Rechtskultur sichergestellt und insgesamt die Strafverordnung für die Marshall-Inseln der Strafverordnung von Neuguinea inhaltlich angenähert wurde; deswegen wurde die Strafverordnung für die Marshall-Inseln durch die Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Juli 1914 aufgehoben 724. Samoa Auch in Samoa wurde überwiegend das Strafrecht der Einheimischen angewendet 7 2 5 , die Verhängung der Prügelstrafe gegen Samoaner war verboten; allerdings wurde auch hier die Prügelstrafe auf die meist chinesischen Plantagenarbeiter bei „Vertragsbruch" angewendet726. In der Praxis waren Strafverfahren gegen Samoaner selten, sonstige disziplinarische Zuchtmittel praktisch unbekannt: Samoa galt als die friedlichste deutsche Kolonie 727 . Tsingtau (Kiautschou) Im Schutzgebiet Kiautschou bestimmte sich die Strafrechtspflege nach § 5 ff. der Verordnung des Gouverneurs vom 15. April 1899 728 . Demnach gehörte zum geltenden Recht in Strafsachen nicht nur das RStGB und die Strafverordnungen des Gouverneurs, sondern auch die Strafnormen des chinesischen Reichs; zur deren Erklärung und Auslegung konnte ein chinesischer Rechtskundiger hinzugezogen werden (§ 4). Weiterhin regelte die Verordnung die Zuständigkeit des Bezirksamtmannes in Bagatellsachen (§ 12) und des kaiserlichen Richters bei allen schwereren Straftaten (§ 13); ferner die Verhängung der Prügelstrafe.

(2) Die strafrechtliche Ungleichbehandlung der Einheimischen Zu den umstrittenen Fragen des kolonialen Strafrechts gehört die unterschiedliche strafrechtliche Behandlung von Einheimischen und Europäern, insbesondere die Nachsicht gegenüber Europäern bei Taten, die sich gegen Einheimische richte722 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenenrechtspflege, vom 3. Juni 1908, DKB1. 1908, S. 617. 723 Verordnung des Reichskanzlers, betreffend die Änderung der Strafverordnungen für die Eingeborenen von Neuguinea vom 21. Oktober 1888 und für die Eingeborenen der Marshall-Inseln vom 10. März 1890, DKB1. 1908, S. 1087. 724 Verordnung des Reichskanzlers vom 24. Juli 1914, DKB1. 1914, S. 696. 72 5 Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 337. 72 6 Hiery, S. 135/137. 727 Hiery, S. 114. 728 Verordnung des Gouverneurs von Kiautschou, betreffend die Rechtsverhältnisse der Chinesen, vom 15. April 1899, DKGG 4, S. 191.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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ten. Zwar genossen die Rechtsgüter eines Einheimischen - in der Theorie - den gleichen Schutz wie die Rechtsgüter eines Europäers 729. In der Rechtspraxis hingegen zeigte sich anhand der quartalsweise erstellten Straflisten, die aufgrund § 18 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 730 vom Bezirksamtmann zu erstellen und an den Gouverneur und von diesem an die Kolonialabteilung, später dem Reichskolonialamt zuzuleiten waren 731 , daß die Strafen für die einheimische Bevölkerung ungleich härter als die Bestrafung von Europäern für vergleichbare Delikte waren. So wurden in Deutsch-Südwestafrika Einheimische für die Verübung eines Totschlags oder Mordes an einem Europäer in der Regel zur Todesstrafe verurteilt; 1896 wurde die Todesstrafe gegen zwei Nama verhängt, die einen Buren getötet hatten 732 . Die Tötung von Einheimischen durch Europäer hingegen wurden milder bestraft; in fünf Fällen in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1896 und 1903 kam es zur Verurteilung europäischer Angeklagter zu Freiheitsstrafen zwischen 3 Monaten und 3 Jahren 733 . Hinzu kam noch, daß die Schutz Vorschriften von Amtsdelikten wie Aussageerpressung (§ 343 StGB) oder Vollstreckung gegen Unschuldige (§ 345 StGB) in der Realität des Strafprozesses gegen Einheimische oftmals faktisch für einheimische Angeklagte keine Anwendung fanden; es gab einige Fälle von willkürlich verhängten Prügelstrafen gegen einheimische Angeklagte 734 . Auch die ab 1911 in Deutsch-Südwestafrika einsetzende Prozeßserie gegen deutsche Farmer wegen Mißhandlung und Totschlags von einheimischen Arbeitern führte lediglich zu Urteilen, die die Mindeststrafe von einigen Jahren Freiheitsstrafe vorsahen 7 3 5 . In Kamerun wurden 1909-1910 114 Europäer angeklagt, in den meisten Fällen wegen Körperverletzung an Einheimischen; eine große Zahl der Angeklagten wurde jedoch freigesprochen, der Rest lediglich zu Geldstrafen verurteilt 736 . Diese unverhältnismäßig milde Verurteilung deutscher Straftäter wurde schon damals von Teilen der Kolonialverwaltung als Mißstand angesehen, weil man die Verbitterung der Einheimischen und daraus hervorgehende Unruhen befürchtete 7 3 7 . Verschärft wurde der Gegensatz in Kamerun noch durch die Privatjustiz der 729

So v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht, 1911, S. 217. 30 Verfügung vom 22. April 1896, DKB1. 1896, S. 241, siehe oben A. III. 3. b) bb) (1).

7

73

1 Vgl. Lederer, S. 51. Vgl Zimmerling, S. 115/116.

732 733

Zimmerling, S. 86. Vgl. Thomas Kopp, Nichtdeutsche Angeklagte im deutschen Strafverfahren, 1997, S. 103/104; die Fälle der Exzesse der Verwaltungsbeamten Leist und Wehlan (vgl. Fn. 741) wurden in der deutschen Öffentlichkeit, so auch im Reichstag, kontrovers diskutiert, vgl. hierzu ausführlich Martin Schröder, Prügelstrafe und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas, 1997, S. 42/43 und Kopp, S. 99. 73 5 Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1884 — 1914, 1968, S. 298 ff. 73 6 Rudin, S. 203. 734

737

Walz, S. 353.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

deutschen Pflanzer, die - obwohl das „private Prügeln" in Kamerun nicht zulässig war und eine Straftat darstellte - weiterhin ihre Plantagenarbeiter - meist durch die einheimischen Aufseher - prügeln ließen 738 . Hier zeigte sich deutlich ein Zwiespalt zwischen Siedler und Kolonialverwaltung: auf der einen Seite stand die Kolonialjustiz, die den Schutz der einheimischen Bevölkerung vor Willkür als wirtschaftlich notwendige Maßnahme ansah, die einheimische Bevölkerung als Arbeitskraft zu erhalten; sie handelte gewissermaßen als „Anwalt" der Einheimischen, auch wenn sie damit letztlich mit der Schaffung besserer Lebensbedingungen der Einheimischen eine wirtschaftliche Entwicklung zum Nutzen der deutschen Wirtschaft anstrebte 739. Auf der anderen Seite standen die Farmer, Pflanzer und Kaufleute, die - unterstützt von der öffentlichen Meinung in den Schutzgebieten und dem Überlegenheitsgefühl der weißen Rasse zu jener Zeit - sich berechtigt glaubten, ihre untergebenen einheimischen Arbeiter nach Gutdünken bestrafen und für die eigenen Wirtschaftsinteressen rücksichtslos ausbeuten zu können 740 . Diese Gruppe maß dem Leben eines Einheimischen einen weit geringeren Wert bei als dem Leben eines Europäers. Auch wenn die Höhe des Strafmaßes demnach oftmals unterschiedlich ausfiel, sollte man daraus nicht die pauschalierende Schlußfolgerung ziehen, daß die einheimische Bevölkerung im Vergleich zu den Europäern rechtlos gestellt war. Vielmehr war die Strafzumessung Ausdruck des kulturellen Hintergrundes und des Zeitgeistes, dem die deutschen Richter ebenso wie jeder andere verhaftet waren. Fälle wie der des kaiserlichen Richters Wehlan in Kamerun, der 1895 die Prügelstrafe auch zur Erzielung von Geständnissen einsetzte, kamen selten vor; sie wurden in der deutschen Presse angeprangert und führten zur Disziplinarbestrafung und Amtsenthebung des Richters 741 . Die Fälle Wehlan und Leist und die dadurch ausgelöste öffentliche Diskussion 742 führten zum Erlaß der Verfügung des Reichskanzlers vom 27. Februar 1896 743 , die nunmehr grundsätzliche Rechtsgarantien für die einheimische Bevölkerung vorsah: so wurden die Zwangsmittel zur Erzielung von Geständnissen auf die Zwangsmittel der StPO beschränkt und die Verhängung von Verdachtsstrafen verboten 744 . Zum Teil wurde denn auch die Verordnungsund Gerichtspraxis hinsichtlich der einheimischen Bevölkerung als „zu milde" kri738 Walz, S. 230/231. 739 Walz, S. 158. 740 Bley, S. 296-298. 741 Lederer, S. 47/48; ähnliche Exzesse hatte sich in Kamerun auch der Verwaltungsbeamte Leist zuschulden kommen lassen, vgl. Martin Schröder, S. 35/36. 742 Vgl. Martin Schröder, S. 50/51. 743 DKGG 2, S 213. 744 Vgl. Lederer, S. 47; vgl. auch die diesbezüglichen Ausführungsbestimmungen, ζ. B. den Gouverneursbefehl, betreffend das Gerichtsverfahren gegen Eingeborene in Deutsch-Ostafrika vom 4. April 1896, DKGG 2, S. 215, der hinsichtlich von Verdachtsstrafen durch den deutschen Richter ausdrücklich auf die Amtsdelikte des RStGB, insbesondere auf § 343 (Aussageerpressung) hinwies.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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tisiert uhd für die Aufstände der Jahre 1904-1907 in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika verantwortlich gemacht 745 .

(3) Die Strafvollstreckung, insbesondere die Leibesstrafe (Prügelstrafe) Zu der schon zu jener Zeit am heftigsten umstrittenen Frage zählte die Anwendung der Prügelstrafe als Mittel der Strafvollstreckung gegen Einheimische in den Schutzgebieten. Gegen die Prügelstrafe wurde angeführt, daß ihre Anwendung selbst eine gefährliche Körperverletzung und damit eine Straftat im Sinne des RStGB darstelle und mit europäischen Rechtsanschauungen hinsichtlich der Strafvollstreckung nicht vereinbar sei 7 4 6 . Die Befürworter der Prügelstrafe wiesen demgegenüber auf die kulturelle Verwurzelung der Prügelstrafe in den Schutzgebieten hin: mit Ausnahme der deutschen Kolonien im Pazifik wurde schon vor der deutschen Kolonisation die Prügelstrafe als häufigstes Mittel der Strafvollstreckung praktiziert 747 . Zum Teil zog man auch die niedrigere Kulturstufe der einheimischen Bevölkerung als Begründung dafür heran, daß die Strafe für eine Tat unmittelbar und schmerzhaft „auf dem Fuße" folgen müsse 748 . Sogar medizinische Erwägungen spielten eine Rolle, um die Prügelstrafe angesichts der „lederartigen" Haut der einheimischen Bevölkerung als vergleichsweise harmlose Bestrafung einzustufen 749. Europäisches Herrenmenschendenken und kulturelles Sendungsbewußtsein führten zur Vorstellung, die Einheimischen mit Hilfe des Strafrechts erziehen zu können und bildeten damit die grundlegende Rechtfertigung für die Anwendung der Prügelstrafe 750. Die Prügelstrafe als Disziplinarstrafe war auch in Deutschland durchaus nicht unbekannt; so war die Prügelstrafe als Kriminalstrafe in den deutschen Staaten erst zwischen 1809 und 1848 abgeschafft worden; in Zuchthäusern und Arbeitshäusern einiger deutscher Staaten (so ζ. B. Preußen, Sachsen, Hamburg oder Mecklenburg) wurde die Prügelstrafe als Disziplinarstrafe noch bis 1918 eingesetzt751. Insgesamt jedoch ging die Anwendung der Prügelstrafe in Deutschland zurück, während sie in den deutschen Schutzgebieten - abgesehen von den deutschen Kolonien im Pazifik - häufig Anwendung fand 752 . 745

Hermann Hesse, Strafgewalt über die Eingeborenen in den Schutzgebieten, ZfK (6) 1904, S. 122 (124). 74 6 Überblick bei Zimmerling, S. 96 ff. 747 Zur Praxis der Prügelstrafe bei den einheimischen in den afrikanischen Kolonien vgl. Martin Schröder, S. 13-17.

™ Karstedt, S. 62/63. Zimmerling, S. 103. 7 50 Wolter, S. 222. 749

7

51 Vgl. Martin Schröder, S. 7/8. 52 Wolter, S. 221.

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12 Fischer

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Die Strafvollstreckung durch Leibesstrafen, aber auch durch andere Strafen wurde erstmals einheitlich durch die schon erwähnte Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 753 geregelt. Ebenso wie die Verfügung des Reichskanzlers vom 27. Februar 1896 war ihr Erlaß eine Konsequenz aus den Skandalen des Richters Wehlan und des Kolonialbeamten Leist 7 5 4 . Die Verfügung vom 22. April 1896 definierte die zulässigen Mittel der Strafvollstreckung abschließend; demnach war körperliche Züchtigung (Prügel- und Rutenstrafe), Geldstrafe, Gefängnis mit Zwangsarbeit, Kettenhaft und Todesstrafe (§ 2 der Verfügung) zulässig. Insbesondere schuf die Verfügung weitreichende Rechtssicherheit hinsichtlich der Anwendung der - als notwendiges Übel anerkannten - Leibesstrafe. Sie konnte als Prügelstrafe mit einem von dem jeweiligen Gouverneur genehmigten Züchtigungsinstrument 755 oder in minderschweren Fällen als Rutenstrafe mit einer leichten Rute oder Gerte erfolgen (§ 6 Abs. 1 der Verfügung). Die Anwendung der Prügelstrafe wurde verboten gegenüber Arabern, Indern (relevant in Deutsch-Ostafrika) und Frauen, in Deutsch-Südwestafrika 756 auch bei „Personen (Einheimische) besseren Standes", in Togo 757 auch gegenüber „alten Leuten". Bei männlichen Jugendlichen unter 16 Jahren durfte nur die Rutenstrafe angewendet werden (§§ 3 - 5 der Verfügung). Faktisch wurde damit die Prügelstrafe auf erwachsene, männliche „schwarzafrikanische" Einheimische beschränkt. In der Praxis der Strafrechtspflege für Einheimische wurde dies nicht immer eingehalten: zu schweren diplomatischen Verwicklungen und einer scharfen Zurechtweisung durch das Reichskolonialamt führte die Verurteilung eines Bürgers schwarzer Hautfarbe der Vereinigten Staaten, William Prurey, am 7. September 1907 in Deutsch-Südwestafrika durch den Bezirksamtmann von Swakopmund wegen gefährlicher Körperverletzung zu eine Strafe von 6 Monaten Gefängnis und 25 Stockschlägen. Diese Strafart war für die einheimische Bevölkerung vorgesehen und durfte auf einen Staatsbürger eines völkerrechtlich anerkannten Staates nicht angewendet werden, was der zuständige Bezirksamtmann angesichts der Hautfarbe des Angeklagten offensichtlich verkannte 758 . Auch Willkürentscheidungen bei der Verhängung der Höhe der Leibesstrafe sollten verhindert werden: gemäß § 6 Abs. 3 der Verfügung duften nie mehr als 25 Stockschläge bzw. 20 Rutenschläge in einem Termin erteilt werden. Allerdings 753 Vgl. Fn. 730. 754 Vgl. oben Fn. 741 und Martin Schröder, S. 52/53. 755 Diesbezügliche Ausführungsbestimmungen ergingen in den afrikanischen Schutzgebieten: so wurde in Deutsch-Südwestafrika durch den Runderlaß vom 22. Dezember 1905 (DKGG 9, S. 284) ein „Schambock" genannter, 80-100 cm langer Stock zugelassen, in Deutsch-Ostafrika durch Verfügung vom 6. Juli 1906 (DKGG 10, S. 274) ein ca. 100 cm langer und am Schlagende 1 cm dicker, „Kiboko" genannter Stock; in Kamerun und Togo ergingen ähnliche Verfügungen; vgl. auch Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 333. 756 Verordnung des Landeshauptmannes vom 8. November 1896, DKGG 2, S. 294. 757 Dienstanweisung des Gouverneurs vom 10. Januar 1906, DKGG 10, S. 9. 758 Ausführlich bei: Zimmerling, S. 135.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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konnte die Vollziehung der Strafe in zwei Terminen geschehen; der zweite Vollzug durfte frühestens 2 Wochen nach dem ersten Vollzug stattfinden (§ 6 Abs. 4 der Verfügung). Diese „geteilte" Vollstreckung wurde als nicht sachgerecht für die einheimische Bevölkerung angesehen, da „der Neger nach 2 Wochen bei seinem kurzen Gedächtnis die weitere Strafe als ungerecht empfindet und kaum begreift, warum er trotz Wohlverhaltens in der Zwischenzeit nochmals gestraft wird" 7 5 9 . In der Praxis setzte es sich daher durch, die Prügelstrafe einmalig zu vollziehen, dabei aber in der Regel die Höchststrafe (25 Schläge) zu verhängen 760. Die Vollstreckung der Prügelstrafe erfolgte unter der Aufsicht eines Europäers, der durch den Richter (Bezirksamtmann) hierzu bestimmt wurde, niemals durch den Bezirksamtmann selbst (§ 7 der Verfügung); die Vollstreckung hatte unter der Aufsicht eines Arztes - soweit vorhanden - zu erfolgen, der den Straftäter vor der Vollstreckung ärztlich zu untersuchen hatte (§ 7 und § 8). Die Durchführung der Prügelstrafe konnte mit Rücksicht auf den körperlichen Zustand des Delinquenten - ζ. B. sobald sich Blut zeigte - abgebrochen werden und wurde dann auch nicht wiederholt 761 . Erwähnenswert ist die - durch Verordnungen der jeweiligen Gouverneure festgelegte 762 - Praxis, daß die in der Verfügung vom 22. April 1896 genannten Strafen, insbesondere die Prügelstrafe, auch dann angewendet werden konnte, wenn eine Verurteilung aufgrund eines Straftatsbestandes erfolgte, der durch eine Verordnung des Gouverneurs eingeführt worden war und diese Verordnung eine weitere Bestimmung über die Strafe nicht enthielt. Diese rechtsstaatlich bedenklicher Praxis sah man wegen der Nichtgeltung der Reichsverfassung und der Verfassungen der Bundesstaaten in den Schutzgebieten als zulässig an. Bei solchen „Blankett-Tatbeständen" konnte somit in der Regel die Art der Strafe nach Lage des jeweiligen Einzelfalles verhängt werden. Dies und die Tatsache, daß in der kolonialen Wirklichkeit trotz der Verordnung vom 22. April 1896 die Prügelstrafe oftmals nicht vom Bezirksamtmann, sondern von subalternen Beamten, Unteroffizieren, Sekretären, Zollassistenten, Regierungsgeologen, Forstassessoren oder Regierungsärzten angeordnet wurde, führte zu einer erhöhten Mißbrauchsgefahr und in der Folge auch zu Exzessen763.

759 Doerr, Kolonialstrafrecht, S. 334. 760 Erbar, S. 46, „diese Praxis in Togo brachte den Deutschen an der westafrikanischen Küste den Ruf der „twentyfiver" ein"; ob aber tatsächlich „Prügelexzesse" an der Tagesordnung waren, wie sie von Sebald, S. 297 ff., der die deutsche Kolonialvergangenheit eher einseitig aus der Sicht der ehemaligen DDR darstellt, beschrieben wurden, erscheint zweifelhaft. 761 Vgl. ζ. B. für Deutsch-Ostafrika: Verfügung des Gouverneurs vom 6. Juli 1906, DKGG 10, S. 274. 762 So ζ. B. in Kamerun die Verordnung des Gouverneurs, betreffend Strafmittel gegen Eingeborene, vom 28. Juni 1902, in: Landesgesetzgebung für Kamerun, Nr. 402, S. 817. 763 Martin Schröder, S. 64-66, 84. 12*

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

Für schwere Verbrechen war auch die Todesstrafe vorgesehen; diese konnte gemäß § 9 der Kaiserlichen Verordnung vom 9. November 1900 764 durch Enthaupten, Erschießen und Erhängen vollstreckt werden. Gemäß § 11 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 stand die Vollstreckung der Todesstrafe unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Gouverneurs 765. Freiheitsstrafen wurden in den meisten Fällen als nutzlos angesehen, da eine Gefängnisstrafe mit voller Verköstigung von den oft unter Nahrungsmangel leidenden Einheimischen in der Regel nicht als Strafe angesehen wurde 766 . Daher wurde häufig gleichzeitig mit einer Freiheitsstrafe auch Zwangsarbeit verhängt. Neben der Freiheitsstrafe mit Zwangsarbeit konnte auch als härtere Strafe die Kettenhaft verhängt werden; dies bedeutete, daß die Strafgefangenen im Gefängnis und während der Durchführung der Zwangsarbeit aneinandergekettet wurden 767 . Wegen der klimatischen Verhältnisse in den Tropen bedeutete eine Freiheitsstrafe, verbunden mit Zwangsarbeit, eine viel stärkere körperliche Belastung und Gesundheitsgefährdung, so daß in der kolonialen Realität keine Freiheitsstrafen mit Zwangsarbeit von mehr als 5 Jahren ausgesprochen wurden 768 . Freiheitsstrafen über 6 Monate bedurften gemäß § 10 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 der Genehmigung des Gouverneurs. Als mildeste Strafe konnten Geldstrafen verhängt werden; insbesondere in den Schutzgebieten Afrikas hatte sich auch bei der einheimischen Bevölkerung ein reger Geld- und Warenaustausch entwickelt, so daß Geldstrafen als Strafübel empfunden wurden. Angesichts der bescheidenen finanziellen Einkommensverhältnisse empfanden Einheimische schon geringere Geldbeträge als Strafübel; durch Erlaß des Reichskolonialamtes wurde auch die Verhängung von Geldstrafen über weniger als einer Mark zugelassen769. Geldstrafen über mehr als 300 Mark, in Deutsch-Ostafrika mehr als 200 Rupien, bedurften der Genehmigung des Gouverneurs (§ 10 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896). In Togo bestand als weiteres Strafmittel die Verurteilung von Straftätern zur Zwangsansiedlung in sogenannten „Besserungssiedlungen" 770. Ab 1903 wurden zwei solcher Besserungssiedlungen eingerichtet; dort hatten die Verurteilten unter Aufsicht des örtlichen Bezirksleiters (Bezirksamtmann oder Stationschef) als selbständige Bauern oder Handwerker zu arbeiten, bis eine „dauernde Besserung" ein764 RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318. 765 ζ . B. Runderlaß des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, betreffend die Vollstreckung der Todesstrafe an Eingeborenen vom 9. Januar 1904, DKGG 8, S. 30. 766 Karstedt, S. 59. 767 Zimmerling, S. 88. 768 Zimmerling, S. 88. 769 Erlaß des Reichskolonialamtes vom 12. Juli 1907, DKGG 11, S. 323. 770 Die zunächst fehlende Rechtsgrundlage wurde erst 1909 geschaffen: Runderlaß des Gouverneurs betreffend die Begründung von Besserungssiedlungen, vom 23. Oktober 1909, Landesgesetzgebung für Togo, Nr. 112, S. 208.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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getreten war - eine Formulierung, die geeignet war, die Verurteilten beliebig lange festzuhalten 771.

(4) Koloniales Militärstrafrecht für Einheimische Ebenso wie die europäischen Schutztruppensoldaten unterstanden auch die einheimischen Angehörigen der Schutztruppen besonderen Regelungen hinsichtlich des Strafrechts. Die ausführlichsten Regelungen traf die Kolonialverwaltung wohl im Hinblick auf die große Anzahl der einheimischen Schutztruppensoldaten - in Deutsch-Ostafrika. Dort wurde grundsätzlich für einheimische Schutztruppenangehörige neben dem StGB auch das Reichsmilitärstrafgesetzbuch (RMStGB) und die Reichsmilitärstrafgerichtsordnung für anwendbar erklärt 772 . Allerdings modifizierte das koloniale Verordnungsrecht diese Regelungen hinsichtlich der Anwendung auf einheimische Soldaten: einerseits sollten die Straftatsbestände des RMStGB und des StGB weit ausgelegt und sehr milde angewendet werden, da man die nur bedingte Übertragbarkeit des als streng angesehenen deutschen Militärstrafrechts erkannt hatte; andererseits wurde für afrikanische Schutztruppenangehörige als zulässige Strafart (auch für Disziplinarstrafen) Prügelstrafe und Kettenhaft vorgesehen (diese Strafen sah man als angemessenere Strafsanktion für Einheimische an, siehe oben A. III. 3. b) bb) (3)) 7 7 3 . Da sich die Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika fast durchweg - auch hinsichtlich der Mannschaften - aus Deutschen zusammensetzte, bestand in diesem Schutzgebiet keine Notwendigkeit für Regelungen des Militärstrafrechts für einheimische Schutztruppensoldaten. In Kamerun hingegen, wo einheimische Soldaten den überwiegenden Teil der Mannschaften stellten, war eine Regelung des Militärstrafrechts für Einheimische erforderlich, die im Jahre 1905 durch eine Verfügung des Reichskanzlers erfolgte 774 Diese sah wie in Deutsch-Ostafrika die Geltung des RMStGB, des RStGB und der Reichsmilitärstrafgerichtsordnung vor, auch hier sollten wegen der Verhältnisse in den Schutzgebieten Straftatbestände weit ausgelegt werden; ähnlich der Regelungen in Deutsch-Ostafrika wurde als angemessene Strafsanktion für die einheimische Bevölkerung die Verhängung von Prügelstrafe und Kettenhaft vorgesehen.

771 Erbar, S. 48/49. 772 Runderlaß des Gouverneurs vom 6. August 1904, DKGG 8, S. 208; vgl. Friedrich Doerr, Deutsches Kolonialstrafrecht, ZfK (10) 1908, S. 321 (323); zuletzt geändert durch die Verordnung des Reichskanzlers, betreffend die strafrechtlichen und Disziplinarverhältnisse der farbigen Angehörigen der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, vom 14. März 1914, DKB1. 1914, S. 265. 773

Vgl. Verordnung des Reichskanzlers vom 14. März 1914. 774 Verfügung des Reichskanzlers, betreffend strafrechtliche und Disziplinarverhältnisse bei den farbigen Mannschaften der kaiserlichen Schutztruppe für Kamerun vom 22. März 1905, DKGG 9, S. 85.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht cc) Öffentliches

Recht, soweit fir die einheimische Bevölkerung relevant

Bei den meisten einheimischen Völkerschaften der deutschen Schutzgebiete waren staatliche Strukturen nur wenig ausgeprägt, so daß in der Regel auch kein besonderes Öffentliches Recht erforderlich war. Staatliche Autorität erstreckte sich, so bei den Bakwiri in Kamerun oder den Wagogo in Deutsch-Ostafrika, über Gebiete, die nicht über das jeweilige Dorf hinausgingen, so daß der Dorfälteste zusammen mit dem Gemeinderat die höchsten Autoritäten darstellten 775. Dementsprechend bestand hier auch kein Bedarf an einem umfangreichen öffentlich-rechtlichen Regelwerk. Größere Stammesverbände, so ζ. B. die Stämme der Banakas und Bapukus in Kamerun, hatten eine ausgebildetere politische Organisation. Sie wurden von einem König oder Häuptling regiert, unter dessen Kontrolle in jedem Dorf „Hauptleute" die lokale Herrschaft ausübten776. Noch weiter entwickelte Stämme, wie die Waschambala und Msalala in Deutsch-Ostafrika, standen unter der einheitlichen Herrschaft eines Königs bzw. Oberhäuptlings, der seine Befugnisse an „Distriktshäuptlinge" delegierte, die wiederum die Dorfältesten überwachten. Gleiches galt für den Stamm der Herero in Deutsch-Südwestafrika, der von einem Oberhäuptling (bis 1905 Samuel Maherero) regiert wurde 777 . Nahezu intakte und weit ausgebildete staatliche Strukturen fand man bei den Königreichen Ruanda, Burundi und Bukoba in Deutsch-Ostafrika sowie in Kamerun bei den Fürstentümern am Tschadsee und im Hochland von Adamaua; alle diese Staatsgebilde waren durch die autoritäre Herrschaft einer Einzelperson gekennzeichnet, die wiederum vom jeweiligen deutschen Residenten beeinflußt wurde. Aber selbst Stämme mit fortgeschritteneren Strukturen hatten nur ansatzweise staatliche Strukturen nach europäischem Muster; darüber hinaus wurde die Verwaltung des Schutzgebietes selbst, das Münzwesen, das Militär und der Städtebau von der deutschen Kolonialverwaltung auch mit Wirkung für die einheimische Bevölkerung geregelt. Öffentlich-rechtliche Fragen im Hinblick auf die Einheimischen wurden daher nur von Bedeutung hinsichtlich der Besteuerung (Steuern, die nur von Einheimischen erhoben wurden) sowie im Hinblick auf Ansätze einer Selbstverwaltung der einheimischen Stämme. (1) Die Besteuerung der einheimischen Bevölkerung Die Erhebung von Steuern bei der einheimischen Bevölkerung hatte für die Kolonialverwaltung den Zweck, die Einheimischen an den Gebrauch von Geld zu ge77 5

Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika, ZfK (5) 1903, S. 237 (242). ™ Schreiber, S. 237 (242). 777 Schreiber, S. 243; nach dem Aufstand der Herero unter Maherero 1903-1905 wurde der Stamm zerschlagen, Maherero mußte nach Südafrika fliehen.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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wohnen und sie zu veranlassen, nicht mehr nur für den Eigenbedarf, sondern für den Markt zu produzieren 778. Die Einführung von Geld ersetzte die bis dahin vorherrschende Tauschwirtschaft zum überwiegenden Teil und machte die Herausbildung einer arbeitsteiligen Wirtschaft möglich; die Kolonialverwaltung wollte durch die Einführung einer Besteuerung den Anreiz dafür schaffen, mehr zu produzieren, aber auch mehr zu konsumieren. Neben der Zahlung von Geld war aber die Abgeltung der Steuerpflicht ebenso durch Steuerarbeit möglich; in diesem Fall erbrachten Einheimische ihre Steuer in der Form von Arbeitsleistungen für öffentliche Zwecke, wie Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude779. Die Steuerarbeit konnte aber auch auf Plantagen verrichtet werden; die Unternehmer hatten dann den Lohn an das Bezirksamt als lokale Finanzbehörde abzuführen 780. Wie schon oben bei A. III. 3. a) cc) (3) erwähnt, zählte die Kopfsteuer zu der bedeutendsten und verbreitetsten Steuer, die bei der einheimischen Bevölkerung erhoben wurde; lediglich in Deutsch-Ostafrika wurde sie - wegen der Seßhaftigkeit der dort lebenden Bevölkerung - durch die Hüttensteuer ersetzt, in DeutschSüdwestafrika führte die koloniale Verwaltung die Kopfsteuer nicht ein 7 8 1 . Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika wurde die Hüttensteuer ab 1911 übergangsweise durch eine Herdsteuer und ab 1912 durch eine allgemeine Kopfsteuer ersetzt; Hintergrund dieser Maßnahme war die Tatsache, daß die Einheimischen größere Hütten bauten, in denen alle Familienmitglieder Platz fanden, und damit den Steuersatz von 3 Rupien pro Hütte nur einmal zu zahlen hatten 782 . In Deutsch-Ostafrika wurde außerdem für die einheimischen Bevölkerung, einschließlich der Araber und Inder, eine Erbschaftsteuer einschließlich einer Schenkungsteuer erhoben 783 . Der Steuersatz belief sich auf 5% des Nachlasses bei Verwandten ersten Grades, sonst auf 10%. Die Steuer wurde vom Bezirksamtmann oder Stationsleiter, der auch die Feststellung des Nachlasses regelte, eingezogen 7 8 4 . Auch Schenkungen unter Lebenden wurden von der Steuerpflicht umfaßt; hierbei war der Schenker zur Anmeldung verpflichtet, in der Praxis dürfte jedoch 77 8 Bernd Arnold, Steuer- und Lohnarbeit im Südwesten von Deutsch-Ostafrika 1891 — 1916,1994, S. 227. 77 9 Arnold, S. 230. 780 Arnold, S. 231; wie die meisten Autoren ist auch Arnold der Ansicht, daß die Besteuerung in Deutsch-Ostafrika der Hauptgrund für den Maij-Maij Aufstand von 1905-1907 war, vgl. S. 229. 781 Werner Maas, Deutsches Koloniales Steuerrecht, 1942, S. 69. 782 Arnold, S. 123/124. 783 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Erbschaftsteuer und die Regelung von Nachlässen in Deutsch-Ostafrika, vom 4. November 1893, DKGG 2, S. 46. ™ Gaul, S. 92.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

ein Schenkungsfall schwer nachweisbar gewesen sein. Als weitere Steuer, die nur die einheimische Bevölkerung betraf, ist die Tembosteuer 785 zu erwähnen 786. Mit dieser - nur in den Küstengebieten Deutsch-Ostafrikas erhobene Steuer - wurde eine halbe Rupie pro Palme und Jahr für die Zapfung von Palmwein erhoben 787 . In den Residenturgebieten Ruanda, Burundi und Bukoba wurde von einer Besteuerung der Bevölkerung (in Form einer Kopfsteuer) aufgrund der relativen Unabhängigkeit der einheimischen Herrscher und des wenig entwickelten Handels in diesen Regionen zunächst abgesehen; erst mit Intensivierung des Handels und einer Abkehr vom Tauschhandel zum modernen Warenverkehr unter Verwendung von Geld wurde auch hier eine Besteuerung sinnvoll. In Ruanda und Burundi wurde demzufolge erst 1914 mit der Erhebung einer Kopfsteuer begonnen und diese bis zum Einmarsch belgischer Truppen im Jahre 1916 durchgeführt 788. Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika existierte, wie schon erwähnt, keine Kopfsteuer für das gesamte Schutzgebiet; ab 1910 wurde lediglich durch Bezirkssatzungen für einzeln Bezirke und Gemeindeverbände eine Steuer eingeführt 789 , die sich an dem monatlichen Einkommen des Einheimischen orientierte und damit die wichtigsten Elemente einer Einkommensteuer enthielt 790 . Daneben betrafen auch die schon unter A. III. 3. a) cc) (3) erwähnte Wagensteuer, Hundesteuer sowie die Lizenzabgabe zum Ausschank von Spirituosen gleichermaßen die einheimische Bevölkerung 791 . Kamerun In Kamerun wurde erstmals ab 1903 ein Kopfsteuer für jeden männlichen Einheimischen in Höhe von 3 Mark jährlich erhoben, für jede neben der ersten Frau vorhandene weitere Frau waren zusätzlich 2 Mark jährlich zu zahlen 792 . Weiterhin bestand eine ab 1907 eingeführte Wohnungssteuer, die aber 1913 zusammen mit der Kopfsteuer durch die Verordnung des Gouverneurs vom 22. Februar

785 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Besteuerung der Palmweinbereitung für die Küstenbezirke vom 6. Juni 1900, DKGG 5, S. 86. 786 Tembo war ein Palmwein, der nur von der einheimischen Bevölkerung konsumiert wurde, Anmerkung des Verfassers. 787

Gaul, S. 100. Innocent Kabagema, Ruanda unter deutscher Kolonialherrschaft 1899-1916, 1993, S. 158-162. 789 Maas, S. 69. 788

790 Bei einem Monatslohn von bis zu 40 Mark waren monatlich 0,50 Mark, zwischen 40 Mark und 80 Mark war 1 Mark monatlich, bei mehr als 80 Mark war 1,50 Mark zu zahlen, vgl. Maas, S. 76/77. 79 1 Vgl. Gaul, S. 118 ff.; 125 ff. 792 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Kopfsteuer im Verwaltungsbezirk Douala, vom 16. Mai 1903, DKGG 7, S. 113.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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19 1 3 7 9 3 wieder abgeschafft wurde. Die „Eingeborenen-Steuerverordnung" führte zu einer Neuregelung der Besteuerung der einheimischen Bevölkerung mit Elementen einer Einkommensbesteuerung: nun hatte jeder erwachsene männliche Einheimische eine Steuer von 10 Mark jährlich zu zahlen, bei einem Jahreseinkommen von mehr als 400 Mark wurde noch ein Zuschlag erhoben 794 . Auch bei der einheimischen Bevölkerung wurde für das Halten von Hunden eine Hundesteuer erhoben. Die Steuern konnten in Geld, Naturalien oder ersatzweise in einer Arbeitsleistung für öffentliche Bauvorhaben oder für den europäischen Unternehmer (Plantagenbesitzer) erbracht werden, der dann die Steuer abzuführen hatte 795 . Die Steuer wurde zunächst durch die einheimischen Häuptlinge eingetrieben, die dafür 10% des Steueraufkommens bei rechtzeitiger Abgabe und 5% bei verspäteter Abgabe an das Bezirksamt erhielten 796 . Daneben konnten aber auch besondere Steuererheber vom Bezirksamtmann bestellt werden 797 . Als Steuerquittung dienten Steuerzettel, die ab 1908 vom Gouvernement ausgeben wurden und als Nachweis für die ordnungsgemäße Zahlung der Steuern dienten 798 . Togo In Togo wurde zunächst - ohne rechtliche Grundlage - jeder männliche erwachsene Einheimische zu einer Steuerarbeit herangezogen, die in 30 unentgeltlichen Arbeitstagen pro Jahr bestand; die Steuer war somit in Form der Arbeitsleistung und nur subsidiär in Geld oder Naturalien zu erbringen 799 . Die Arbeitsleistung bestand im Bau von Straßen, Brücken, öffentlichen Gebäuden und der Eisenbahnlinie in das Landesinnere. Erst 1907 wurde die Besteuerung auf eine rechtliche Grundlage gestellt 800 und gleichzeitig die Zahl der jährlichen unentgeltlichen Arbeitstage auf 12 gesenkt sowie die Steuerzahlung in Geld oder landwirtschaftlichen Erzeugnissen zugelassen. Wie bei A. III. 3. a) cc) (3) schon erwähnt, führte die Kolonialverwaltung ab 1909 in den Stadtbezirken Lomé und Anécho (bis 1905 Klein-Popo) im wirtschaftlich weiter entwickelten Küstengebiet für die einheimische Bevölkerung eine Einkommensteuer ein 8 0 1 , da dort der Zahlungsverkehr in Bargeld bereits 793

Eingeborenen-Steuerverordnung des Gouverneurs vom 22. Februar 1913, DKB1. 1913, S. 505-506. 79 4 Maas, S. 78. 79

5 Siehe oben; vgl. Gaul, S. 107.

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Théophile Owona, Die Souveränität und Legitimität des Staates Kamerun, Diss. 1990,

S. 131. 797

Maas, S. 73. für den gleichen Zweck wurden in Französisch-Aquatorialafrika runde Metallmarken ausgegeben, vgl. Maas, S. 47. 799 Erbar, S. 184/185. 800 Verordnung des Gouverneurs betreffend die Heranziehung der Eingeborenen zu Steuerleistungen, vom 20. September 1907, Landesgesetzgebung für das Schutzgebiet Togo, Nr. 246, S. 413 ff. 798

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

allgemein verbreitet war 8 0 2 . Die Besteuerung richtete sich nach Einkommensklassen, die stets um 300 Mark stiegen; in der niedrigsten Klasse bis 300 Mark Jahreseinkommen wurden 6 Mark (2% des Einkommens) jährlich erhoben und bis 600 Mark 9 Mark jährlich. In den höheren Klassen entwickelte sich der Steuersatz nicht linear, sondern leicht progressiv; in der höchsten Klasse (Jahreseinkommen über 3600 Mark) fiel eine Steuer von 180 Mark (5% des Einkommens) an 8 0 3 . Die einheimische Bevölkerung an der Küste unterlag, ebenso wie die europäische Bevölkerung, der Erhebung der Hundesteuer, ferner hatten Einheimische Lizenzgebühren für die Schankerlaubnis und für die Gummihandelslizenz zu entrichten(siehe oben A. III. 3. a) cc) (3)). Deutsch-Neuguinea In Deutsch-Neuguinea wurde ab 1907 eine Kopfsteuer für jeden männlichen erwachsenen Einheimischen in Höhe von 5 Mark jährlich erhoben 804 , die die örtlichen Häuptling eintrieben und an die Kolonialverwaltung abführten. Die Steuer konnte in Geld, Naturalien oder in Arbeitsleistungen für öffentliche Bauten oder Straßen erbracht werden 805 . Die Steuererhebung beschränkte sich jedoch auf die Gebiete, die unter der Kontrolle der deutschen Kolonialverwaltung stand und als „befriedet" galten; damit betraf die Besteuerung lediglich einen Teil des BismarckArchipels und das Küstengebiet von Neuguinea, die Bevölkerung des noch weitgehend unerschlossenen Hinterlandes von Neuguinea unterlag dagegen keinerlei Besteuerung. Gewerbetreibende Einheimische hatten die oben bei A. III. 3. a) cc) (3) dargestellte Handels- und Gewerbesteuer zu entrichten. Marshall-Inseln Auf den Marshall-Inseln existierte seit 1888 die „Koprasteuer", die die Einheimischen der Marshall-Inseln zur Ablieferung von insgesamt umgerechnet ca. 160 Tonnen Kopra (getrocknetes Kokosmark) jährlich an die Kolonialverwaltung verpflichtete; für das Einsammeln und die Ablieferung des Kopra waren die örtlichen Häuptlinge verantwortlich 806 . Ferner hatten gewerbetreibende Einheimische Lizenzgebühren für Wandergewerbelizenzen und Schanklizenzen zu entrichten.

soi Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Besteuerung der Eingeborenen in Lomé und Anécho vom 15. März 1909, DKGG 13, S. 163; unwesentlich geändert durch die Änderungsverordnung des Gouverneurs vom 27. Mai 1910, DKB1. 1910, S. 756. 802 Erbar, S. 188. 803 Maas, S. 80. 804 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Jahreskopfsteuer von den Eingeborenen, vom 18. März 1907, DKGG 11, S. 145. 805 Gaul, S. 137. 806 Verordnung des Kaiserlichen Kommissars, betreffend die Erhebung von persönlichen Steuern, vom 17. April 1888, DKGG 1, S. 620.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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Palau-Inseln, Marianen, Karolinen Auf den Marianen, Karolinen und Palau-Inseln wurde bei der einheimischen Bevölkerung - ebenso wie in Deutsch-Neuguinea - eine Kopfsteuer erhoben 807 , die aber erst 1910 auf eine Rechtsgrundlage gestellt wurde 808 . Samoa In Samoa wurde von jedem männlichen, erwachsenen Einheimischen (Samoaner oder Angehöriger anderer Südseeinseln) eine Kopfsteuer von 4 Mark jährlich erhoben 8 0 9 . Die einheimische Bevölkerung wurde ferner von der „Händlersteuer" (eine Art Gewerbesteuer), einer Grundsteuer in Höhe von 1 % des Wertes (ausgenommen Wohnhäuser von Einheimischen) und einer Hundesteuer betroffen 810 . Tsingtau (Kiautschou) Im Schutzgebiet Kiautschou fand die schon bei A. III. 3. a) cc) (3) ausführlich dargestellte Grundsteuer und Wertzuwachssteuer für Grundbesitz auch auf die chinesische Bevölkerung Anwendung 811 ; ferner betrafen die in A. III. 3. a) cc) (3) erwähnte Hundesteuer und die Lizenzgebühren für den Betrieb von Hotels, Gaststätten, chinesischer Theater und Pfandhäuser, für den Verkauf chinesischer Getränke und Medikamente sowie den Betrieb von Lotterien und Ausspielungen überwiegend die chinesische Bevölkerung 812 .

(2) Eigene Verwaltungsstrukturen der einheimischen Bevölkerung Deutsch-Ostafrika In Deutsch-Ostafrika wurden die vorgefundenen einheimischen - in der Regel hierarchischen - Verwaltungsstrukturen übernommen und in die untere Ebene der deutschen Kolonialverwaltung eingebunden. In den weit entwickelten Küstengebieten wurden die Wulat (im Singular Wali, die meist arabischen Vorsteher der Städte und Dörfer) sowie die Akiden (meist Araber, die einzelne Küstengebiete für den Sultan von Sansibar beaufsichtigten) mit einer festen Besoldung als untere Verwaltungsbeamte für die einheimische Bevölkerung eingesetzt und mit der Einziehung der Steuern sowie der Gerichtsbarkeit in Bagatellsachen (siehe oben) be807 Maas, S. 78. 808 Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea vom 7. Oktober 1910, DKB1. 1911, S. 4. 809 Rechtsgrundlage bildete die Verordnung des Gouverneurs vom 1. März 1900, die sich auf die in der Generalakte der Samoa-Konferenz von 1889 geregelten Steuern bezog, vgl. ferner Gaul, S. 157. βίο Gaul 158/159. su Weicker, S. 112. 812 Gaul S. 166-169.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

auftragt 813 . Den Akiden unterstanden die Jumben (Dorfälteste), die ehrenamtlich tätig waren. Im weniger entwickelten Landesinneren wurde die Herrschaft der einheimischen Häuptlinge zwar beibehalten, eine Einbindung in die Verwaltung oder eine Übertragung von Verwaltungskompetenzen erfolgte jedoch nicht. Die Residenturgebiete (Ruanda, Burundi und Bukoba) schließlich verfügten weiterhin über eigene, angestammte Staats- und Verwaltungsstrukturen, in die - nach den Grundsätzen der „indirect rule" - kaum eingegriffen wurde. Der einheimische Herrscher (oft mit dem Suaheli Wort „Sultan" bezeichnet) besaß Autorität gegenüber den Häuptlingen, die lokale Gebiete und Dorfschaften regierten; diesen wiederum standen Dorfälteste und Unterhäuptlinge vor, allerdings kann von einer straffen Verwaltung insbesondere der unteren Instanzen nicht gesprochen werden 814 . Die Versuche der deutschen Kolonial Verwaltung ab 1911, in Ruanda einzelne „Regierungshäuptlinge" als direkte Mittler zwischen der Residentur und der einheimischen Bevölkerung einzusetzen, stießen auf den Widerstand der einheimischen Häuptlinge und Unterhäuptlinge und blieben daher auf Einzelfälle beschränkt 815. Im übrigen beschränkte sich der deutsche Einfluß auf die Einrichtung von Militärposten, die Beeinflussung der Politik durch den Residenten sowie der Zahlung von „Tribut" durch die einheimischen Herrscher an die deutsche Kolonialverwaltung (Ruanda und Burundi) bzw. auf die Stellung von Arbeitskräften für öffentliche Bauten und Straßen (Bukoba) 816 . Deutsch-Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika wurden einigen einheimischen Häuptlingen durch die Schutzverträge 1884 817 die Erhebung von Steuern und damit ihre Finanzhoheit zugesichert; diese erstreckte sich laut der Verträge auch auf die europäischen Bewohner, was aber in der Praxis keine Auswirkungen hatte 818 . Eine weitgehende Selbständigkeit der einheimischen Häuptlinge aufgrund der Schutzverträge wurde zunächst anerkannt. Nach den großen Aufständen von 1904-1907 wurden jedoch die Rechte der aufständischen Stämme 819 aus den Schutzverträgen - mit Ausnahme der Rehobot-Bastards, die sich dem Aufstand nicht angeschlossen hatten - für erloschen erklärt. Die Selbstverwaltung der einheimischen Stämme, insbesondere der Herero und Nama, wurde aufgehoben, die Enteignung von Land und Großvieh durchgeführt 820 und mit der Verordnung vom 18. August 1907 821 die Stämme un813 · v. Hoffmann, Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der deutschen Schutzgebiete, 1911, S. 88/89. 814 Kabagema, S. 125. 815 Kabagema, S. 133. 816 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 90. 817 Ζ. B. Vertrag vom 28. Oktober 1884 mit dem Kapitän (Häuptling) von Bethanien, vgl. Gaul, S. 44. 818 Gaul, S. 44. 819 Die Herero und Nama (Hottentotten), Anmerkung des Verfassers. 820 Bley, S. 210.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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ter die Aufsicht des Bezirksamtmannes, später eines „Eingeborenenkommissars" gestellt. Bei Einheimischen, die auf Privatfarmen („Werften") arbeiteten, konnte die Aufsicht auch durch den Arbeitgeber ausgeführt werden (vgl. oben A. III. 3. b) aa) (2)). Lediglich der Mischlingsstamm der Rehobot-Bastards behielt seine Selbstverwaltungsrechte: die Leitung des Stammes übte ein 9-köpfigen Gemeinderat aus, der für je ein Jahr gewählt wurde; als oberste Autorität schlug der Gemeinderat einen Gemeindevorsteher vor, den der Gouverneur ernannte 822. Kamerun In Kamerun hatten die einheimischen Häuptlinge aufgrund der Schutzverträge weiterhin das Recht zur Erhebung von Steuern, auch hinsichtlich der europäischen Bevölkerung 823 . Wie schon bei A. III. 3. a) cc) (3) dargelegt, basierte die Erhebung der Kumiabgabe auf dieser durch die Schutzverträge garantierten Finanzhoheit; die Kumiabgabe wurde aber durch die Erhebung der Spirituosenhandelssteuer abgelöst, was zum Erlöschen der Finanzhoheit der einheimischen Häuptlinge führte. Die Häuptlinge hatten aber noch weiterhin hoheitliche Befugnisse bei der Durchführung der Steuereintreibung bei der einheimischen Bevölkerung. Togo In Togo erforderte die Zersplitterung der einheimischen Bevölkerung in eine Vielzahl von Stämmen die Einbindung der einheimischen Häuptlinge in die deutsche Verwaltungshierarchie und die Beibehaltung ihrer Autorität, um die Anweisungen der Kolonialverwaltung gegenüber ihrem Stamm durchzusetzen. Zu den Verwaltungskompetenzen der Häuptlinge gehörte neben der Gerichtsbarkeit in Bagatellsachen (siehe oben) die Steuereintreibung, wobei ihnen 5% des Steueraufkommens zustand, sowie die Auswahl der Arbeitskräfte für öffentliche Baumaßnahmen 824 . Ferner hatten die Häuptlinge die Aufgabe, ansteckende Krankheiten zu melden und die Durchführung von Straßenreinigung und Wegebau sicherzustellen; gegen Dörfer, die sich ihrer Verpflichtung zur Straßenreinigung und zu Instandsetzung entzogen, konnte der Häuptling Geldstrafen bis zu 3 Mark verhängen 825. Zur Unterstützung des Häuptlings wurden ihnen vom zuständigen Bezirksamt ein oder mehrere einheimische „Häuptlingspolizisten" unterstellt, die nach einer Ausbildung durch die Station oder das Bezirksamt in ihr Dorf zurückkehrten und dort als 821 Verordnung des Gouverneurs betreffend Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen vom 18. August 1907, DKGG 11, S. 345. 822 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 81. 82 3 Gaul, S. 43/44. 824

Jürgen Theres, Die Evolution der politisch-administrativen Strukturen in Togo Eine Fallstudie zur administrativen Anthropologie, Diss. 1988, S. 102; äußerlich gekennzeichnet wurden diese von der Kolonialverwaltung anerkannten Häuptlinge mit von der Verwaltung verliehenen Häuptlingsmützen, die den Mützen der Postbeamten im Deutschen Reich ähnelten, vgl. Erbar, S. 52, Fn. 233. 82 5 Erbar, S. 54.

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Α. Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

uniformierte Polizisten die Weisungen des Häuptlings ausführten 826. Das in den Schutzverträgen begründete Recht der Häuptlinge von Anécho, einen Exportzoll in Höhe von einem Shilling pro Tonne Palmkerne oder Faß Palmöl zu erheben, was eine begrenzte Finanzhoheit auch gegenüber Europäern bedeutete827, wurde ab 1907 durch regelmäßige Zahlungen der Kolonial Verwaltung an die Häuptlinge abgelöst. Im Gegensatz zu den zersplitterten Stämmen des Südens verfügten die gut organisierten Stämme des Nordens über eine feste Hierarchie, so daß die politischadministrativen Strukturen für die Zwecke der Kolonialverwaltung genutzt werden konnten 828 . Deutsch-Neuguinea In Deutsch-Neuguinea wurden von der Kolonialverwaltung keine festgefügten hierarchischen Herrschaftsstrukturen bei der einheimischen Bevölkerung vorgefunden, wie es aus Afrika bekannt war. Es fehlten nicht nur geschlossenen Stammesverbände, sondern vielfach auch geschlossene Dorfverbände unter der Leitung eines Dorfältesten 829, lediglich Familien- und Sippenverbände bildeten die einzigen, für eine Übernahme begrenzter hoheitlicher Befugnisse jedoch unbrauchbaren Strukturen 830. Der Aufbau einheimischer Verwaltungsstrukturen auf unterer Ebene als Mittlerinstanz zwischen der Kolonialverwaltung und der einheimischen Bevölkerung wurde jedoch als unerläßlich zur Kontrolle und Befriedung der Bevölkerung angesehen. Daher schuf die Kolonialverwaltung selbst eine Verwaltungsorganisation für die einheimische Bevölkerung, indem sie das von Einheimischen bewohnte und schon unter der faktischen Kontrolle der deutschen Kolonialverwaltung stehende Gebiet in Verwaltungseinheiten einteilte und für jeden Bezirk besonders vertrauenswürdige Einheimische als „Regierungshäuptlinge" („Luluai") einsetzte831. Die Luluai erhielten als Zeichen ihrer Autorität eine Mütze, außerdem ein Bild von Kaiser Wilhelm I I . 8 3 2 . Sie hatten neben der Gerichtsbarkeit über Bagatellsachen in den ihnen unterstellten Verwaltungseinheiten die Kopfsteuer einzutreiben, übten Polizeibefugnisse aus und waren für die Ausführung der Weisungen des Stationsleiters bzw. Bezirksamtmannes verantwortlich, insbesondere auch für die Durchführung des Straßenbaus 833. Den Luluai unterstanden weitere vertrauenswürdige Einheimische als Hilfspolizisten („Tultul"), die nach kurzer Ausbildung durch das Bezirksamt zum örtlichen Luluai geschickt wurden und seine Weisungen auszuführen hatten; ferner bildete die Kolonialverwaltung zur Unterstützung der Luluai ab 1905 einheimische „Heilgehilfen" aus, die vorher an den Krankenhäu826 827 828 829 830

Erbar, S. 58. Gaul, S. 43. Theres, S. 103. v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 95/96. Hahl, S. 79.

831 Hahl, S. 79. 832 John Dademo Waiko, A short history of Papua New Guinea, 1993, S. 45. 833 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 96.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

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sern des Gouvernements eine medizinische Schulung erhalten hatten; diese Heilgehilfen waren für die tägliche medizinische Versorgung im jeweiligen Dorf verantwortlich 834 . Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln Im Inselgebiet der Karolinen, Marianen, Palau-Inseln und Marshall-Inseln machte sich die Verwaltung die vorgefundenen Stammesstrukturen zunutze und schaltete die Häuptlinge als Mittler zwischen Kolonialverwaltung und der Bevölkerung ein. Lediglich auf den Marianen, wo schon die spanische Kolonialverwaltung die kulturell entwickelte spanisch-einheimische Mischlingsbevölkerung („Chamorro") unmittelbar verwaltet hatte, wurde die unmittelbare Verwaltung unter Umgehung von einheimischen Häuptlingen durchgeführt und die Dorfältesten als festbesoldete Gemeindebeamte von der Kolonialverwaltung ernannt, um als Mittler zur Bevölkerung zu dienen 835 . Samoa In Samoa wurde der einheimischen Bevölkerung eine weitgehende Selbstverwaltung gewährt, lediglich das samoanische Königtum wurde durch die Verträge zwischen Großbritannien, den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reich abgeschafft. An der Spitze der samoanischen Selbstverwaltung stand ein Oberhäuptling („Le Alii Sili", hierbei handelte es sich um den ehemaligen König von Samoa, Mataafa) 836 , der als Mittler zwischen Gouverneur und Bevölkerung fungierte. Als Vertretungsorgan der Bevölkerung gab es einen Rat aus Vertretern der Bevölkerung („Malo"), bestehend aus einem Oberhaus („Taimua") und einem Unterhaus („Faipule"), ab 1905 wurde das Taimua aufgelöst 837. Auf lokaler Ebene wurden zunächst die einheimischen Distrikte unter der Leitung eines Distriktshäuptlings beibehalten, ab 1905 wurde diese Einteilung jedoch abgeschafft und die samoanische Selbstverwaltung auf die Ebene der Ortschaften verlagert; nun bildete der vom Gouverneur eingesetzte einheimische Dorfälteste („Pule Nuu") die unterste Verwaltungsinstanz für die einheimische Bevölkerung, der von einheimischen Polizisten („Leo Leo") unterstützt wurde 838 . Tsingtau (Kiautschou) Im Schutzgebiet Kiautschou wurde die Verwaltung hinsichtlich der chinesischen Bevölkerung unmittelbar durch das Gouvernement wahrgenommen; als Mittler zur 834 Hahl, S. 79. 835 Hahl, S. 49; Radlauer, S. 190; die Einsetzung von einheimischen Gemeindebeamten entsprach der Praxis zur Zeit der spanischen Herrschaft (Einsetzung von „Gobernadorcillos" = kleine Gouverneure), vgl. Gerd Hardach, König Kopra: Die Marianen unter deutscher Herrschaft 1899-1914, 1990, S. 85. 836 Radlauer, S. 192. 837 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 106. 838 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 107.

1 9 2 Α . Der Untersuchungsgegenstand: die deutschen Kolonien und ihr Recht

chinesischen Bevölkerung fungierte ein Kommissar für chinesische Angelegenheiten, bei dem es sich (bis 1909) um den schon erwähnten engagierten Admiralitätsrat Wilhelm Schrameier handelte 839 . Darüber hinaus wurde auf Drängen der chinesischen Kaufleute 1902 die Bildung eines Ausschusses (das „chinesische Komitee") zugelassen, der die Beteiligung der Kaufleute an der Verwaltung ermöglichte. Das chinesische Komitee war als Selbstverwaltungsorgan der chinesischen Bevölkerung vorgesehen und sollte interne Streitigkeiten, insbesondere Erb- und Familienstreitigkeiten selbst regeln 840 . Das chinesische Komitee bestand aus 12 Mitgliedern (in der Regel Kaufleute), von denen 6 aus Schantung (die chinesische Provinz, zu der auch - formell - das Schutzgebiet Kiautschou gehörte) und 3 aus anderen chinesischen Provinzen stammten; bei den restlichen 3 Mitgliedern handelte es sich um chinesische Geschäftsführer europäischer Unternehmen in Tsingtau (sogen. „Compradors") 841 . Der Kommissar für chinesische Angelegenheiten konnte an den Sitzungen des Komitees teilnehmen und fungierte als Mittler zum Gouvernement. Nachdem sich das chinesische Komitee als machtvolles Instrument der Interessenvertretung der chinesischen Kaufleute erwiesen hatte (ζ. B. durch die Organisation von Boykottbewegungen 1908 gegen Erhöhungen von Lade- und Löschgebühren im Hafen von Tsingtau), wurde es 1910 aufgelöst und durch 4 Vertrauensleute ersetzt, die auf Vorschlag der chinesischen Kaufmannsgilden ernannt wurden 842 . Auf lokaler Ebene wählte die chinesische Bevölkerung weiterhin ihre Dorfältesten und stellte Wald- und Nachtwächter ein; für größere Dorfverbände und die städtischen Distrikte wurden vom Kommissar für chinesische Angelegenheiten chinesische Vertrauensleute bzw. Distriktsvorsteher sowie Steuereintreiber ernannt, die dem Kommissar unmittelbar unterstanden 843.

(3) Das Schulwesen Für die einheimische Bevölkerung, die den weitaus überwiegenden Teil der Bewohner stellte, wurde die Einrichtung von Schulen als ein Schwerpunkt der Kolonialisierung angesehen und als Mittel zur Hebung der Kultur der Einheimischen im Sinne einer „Zivilisierung" betrachtet. Außerdem war die Kolonialverwaltung auf die Mitarbeit von Einheimischen mit einer gewissen Schulbildung, insbesondere deutschen Sprachkenntnissen 844, angewiesen845. Vorreiter in der Schulausbil839 Als ehemaliger Dolmetscher für Chinesisch war er auch mit den Sitten und Gebräuchen der Chinesen vertraut und daher der geeignete Ansprechpartner für die Bevölkerung, vgl. Weicker, S. 110/111. 840 Leutner, S. 179.

841 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 134. 842 Leutner, S. 180. 843 v. Hoffmann, Gerichtsverfassung, S. 136. 844 Vgl. zum Deutschunterricht in den Schulen für Einheimische: Vera Ebot Boulleys, Deutsch in Kamerun, Bamberg, 1998, S. 72-82.

III. Das Recht der deutschen Schutzgebiete

193

dung für die einheimische Bevölkerung waren die Missionen, die schon vor der deutschen^i^ölonialisierung die Errichtung von Schulen als flankierende Maßnahme zur Missionierung einsetzten. Nach dem Beginn der deutschen Kolonisierung, mit der die Missionsschulen weiteren Auftrieb erhielten, begann die deutsche Verwaltung mit dem Aufbau staatlicher Regierungsschulen mit überwiegend einheimischem Lehrpersonal. Bei den Schularten handelte es sich überwiegend um Elementarschulen (1911: 2548 Schulen); daneben bestanden im Jahre 1911 lediglich 109 gehobene Schulen 846 . Eine allgemeine Schulpflicht für einheimische Kinder bestand in keinem Schutzgebiet. Als herausragendes Beispiel verfügte Kiautschou seit 1909 auch über eine deutsch-chinesische Hochschule mit den Fakultäten Staatswissenschaft, Technik, Medizin und Land- und Forstwirtschaft 847. Die Hochschule hatte - trotz der deutschen Leitung und der deutschen Unterrichtssprache - die Rechte einer chinesischen Staatshochschule und vermittelte ihren Absolventen den Zugang zum chinesischen Staatsdienst848. Im Jahre 1911 besuchten insgesamt 149.528 einheimische Kinder die Schulen der Schutzgebiete, davon 83.111 die Schulen der evangelischen Mission, 59.461 die Schulen der katholischen Mission und 6556 die Regierungsschulen. An diesen Schulen lehrten 781 europäische und 3414 einheimischen Lehrkräfte. Die qualifiziertesten Lehrkräfte arbeiteten an den Regierungsschulen, die auch das beste Unterrichtsmaterial hatten und von der Verwaltung durch öffentliche Mittel unterstützt wurde 849 . Wie in den Kolonien anderer europäischer Staaten auch, hatte die Schulausbildung für die einheimische Bevölkerung große Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der Schutzgebiete. Zwar stellte sie zunächst einen Stützpfeiler der Kolonialverwaltung dar, indem sie den Grundstein für die Entstehung einer besser ausgebildeten einheimischen Bevölkerungsgruppe legte, die mehr Verantwortung übernehmen konnte. Das wachsende intellektuelle Potential der einheimischen Bevölkerung trug aber auch dazu bei, daß sie im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die europäische Kolonialherrschaft mehr und mehr in Frage stellte.

845 Carl Mirbt, Die Schulen für Eingeborene in den deutschen Schutzgebieten, KolMBl/ ZfK (16) 1914, S. 218 (220). 84 6 Mirbt, S. 222. 847

Zum Fach Staatswissenschaft gehörten auch die Fächer Völkerrecht, allgemeines Staats- und Verwaltungsrecht und Etatsrecht, vgl. Statut für die Hochschule von Tsingtau, vereinbart zwischen der Kaiserlich deutschen und der Kaiserlich chinesischen Regierung vom August 1909, DKGG 13, S. 668 848 Bis 1914 hatten jedoch nur 31 Studenten das Studium an der deutsch-chinesischen Hochschule absolviert, vgl. Huang, S. 189. 849 Mirbt, S. 225. 13 Fischer

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von Versailles 1919 Im Verlauf des ersten Weltkriegs wurden die deutschen Schutzgebiete militärisch von den Ententemächten (Großbritannien bzw. dessen Dominions - Kolonien mit Selbstverwaltung - Südafrika, Australien und Neuseeland, Frankreich, Belgien und Japan) besetzt; lediglich die deutschen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika konnte sich bis zum Ende des Krieges 1918 behaupten1. Schon am 27. August 1914 besetzten britische und vor allem französische Kolonialtruppen das Schutzgebiet Togo gegen den Widerstand der schwachen deutschen Polizeitruppe. Zwei Tage später, am 29. August 1914, kapitulierte Samoa kampflos vor neuseeländischen Truppen, am 17. September 1914 auch DeutschNeuguinea vor australischen Streitkräften 2, die das Gebiet des Schutzgebietes südlich des Äquators (einschließlich der Insel Nauru) besetzten3. Nach dem Kriegseintritt Japans Ende August 1914 wurde Kiautschou von japanischen Truppen eingeschlossen und die Festung Tsingtau belagert; am 7. November 1914 ergab sich Tsingtau den japanischen Belagerern 4. Japanische Truppen besetzten am 29. September 1914 die Marshall-Inseln (Jaluit), danach von 7. Oktober bis 12. Oktober 1914 die Karolinen, am 8. Oktober 1914 die Palau-Inseln5 und schließlich am 14. Oktober 1914 die Marianen 6.

1 Ausführlich zu den nachfolgend erwähnten Kampfhandlungen in den Schutzgebieten: Georg Wegener: Das deutsche Kolonialreich, 1937, S. 173 ff.; ferner: „Kriegschronik der Schutzgebiete" (ohne Verfasser), DKB1. 1918, S. 265 ff. 2 Bei dem einzigen Gefecht in der Nähe von Rabaul kamen sechs Australier, auf deutscher Seite ein Deutscher und ca. 30 melanesische Polizeisoldaten ums Leben, vgl. Hiery, S. 303. 3 Nach Jacob verbarg sich sich ein deutscher Offizier, Major Detzner, der sich zur Zeit der Besetzung durch australische Truppen auf einer Forschungsreise im Dschungel von Neuguinea befand, dort mit einigen einheimischen Polizeisoldaten bis Kriegsende, vgl. Ernst Gerhard Jacob, Deutsche Kolonialkunde, 1940, S. 58. 4 Jacob, Kolonialkunde, S. 59. 5 Zusammenfassend: DKB1. 1918, S. 265. 6

Mit der schnellen und mit Großbritannien nicht abgesprochenen Besetzung durch japanische Truppen sollten vollendete Tatsachen geschaffen werden, vgl. Gerd Hardach, König Kopra: Die Marianen unter deutscher Herrschaft 1899-1914, 1990, S. 200.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

195

Ein großer Teil des deutschen Kolonialreiches (bis auf die drei Schutzgebiete Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika und Kamerun), darunter alle Gebiete im Pazifik, war damit schon Ende 1914 verlorengegangen. Am 9. Juli 1915 kapitulierte die Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika vor südafrikanischen Streitkräften. In Kamerun zogen sich die Reste der Schutztruppe zusammen mit Gouverneur Ebermaier im Februar 1916 auf das Gebiet von Rio Muni (dem heutigen Äquatorial-Guinea), eine Kolonie des neutralen Spanien, zurück und wurden dort bis Kriegsende interniert; die Stadt Mora, der letzte Stützpunkt der Schutztruppe im Norden, kapitulierte am 15. Februar 1916. Lediglich in Deutsch-Ostafrika konnte sich die Schutztruppe unter dem Kommando von General von Lettow-Vorbeck bis Kriegsende behaupten und kapitulierte am 14. November 1918, nachdem sie von der Vereinbarung des Waffenstillstandes in Europa erfahren hatte7. In dem daraufhin ausgehandelten Friedensvertrag von Versailles (VV) vom 28. Juni 19198 verzichtete das Deutsche Reich auf seine gesamten Schutzgebiete zugunsten der Ententemächten (Art. 119 VV); in einigen Sonderregelungen (Art. 156-158 VV) verpflichtete sich das Deutsche Reich, seine Rechte auf das Gebiet Kiautschou (das formal den Status eines Pachtgebietes, nicht den einer Kolonie hatte) sowie auf die Eisenbahn- und Bergwerkskonzessionen aufgrund des Pachtvertrages mit China vom 6. März 1898 an Japan abzutreten. Die Regelungen des VV hatten jedoch nicht nur zum Inhalt, die Schutzgebiete der Verwaltung durch das Deutsche Reich zu entziehen; vielmehr wurde das Deutsche Reich und seine Bundesstaaten umfassend hinsichtlich aller Vermögensrechte in den Schutzgebieten enteignet (Art. 120 i.V. m. Art. 257 VV). Die noch weitergehende Regelung des Art. 121 i.V.m. Art. 297 b) VV stellte es den Mandatsmächten frei, auch alle Deutschen sowie alle deutschen Gesellschaften in den Schutzgebieten zu enteignen; diese Enteignungen wurden stets - mit der Ausnahme Südwestafrika auch durchgeführt. Die Enteignungsregelung war für die jeweilige Mandatsmacht mit keinerlei Schadensersatzrisiken verbunden, da gemäß Art. 297 i) VV für die Entschädigung der enteigneten Personen und Gesellschaften das Deutsche Reich aufzukommen hatte9. Lediglich hinsichtlich der enteigneten deutschen Missionsgesellschaften sah Art. 438 VV vor, daß diese weiter unter der treuhänderischen Verwaltung einer Missionsgesellschaft gleicher Konfession betrieben werden sollten. 7

Zum Kriegs verlauf in Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Deutsch-Ostafrika vgl. Wegener, S. 173 ff. 8 RGBl. 1919, S. 687-1331; auszugsweise abgedruckt in Anhang II; die Vereinigten Staaten hatten den Versailler Vertrag (einschließlich der Satzung des Volkerbundes - die Vereinigten Staaten nahmen damit auch von der Mitgliedschaft im Völkerbund Abstand) allerdings nicht ratifiziert, sondern schlossen am 25. August 1921 einen bilateralen Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich, vgl. RGBl. 1921, S. 1317; siehe auch Johannes Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien in Afrika und der Südsee, S. 558. 9 Da die Entschädigungszahlung in die Zeit der Inflation von 1923 fiel, blieb dem Deutschen Reich allerdings die volle Abgeltung des Schadens erspart, vgl. Wackerbeck, S. 196. 13*

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

Die deutsche Zivilbevölkerung konnte gemäß Art. 122 VV nach dem Willen der jeweiligen Mandatsmacht ausgewiesen (von dieser Ermächtigung wurde wiederum - außer in Südwestafrika - ausgiebig Gebrauch gemacht) und ihre Wiedereinreise beschränkt werden. Beide Regelungen - Enteignung und Ausweisung der am Kriegsgeschehen unbeteiligten Zivilbevölkerung - hatten den Charakter einer völkerrechtswidrigen Bestrafung einer zivilen Bevölkerung und entsprachen dem revanchistischen Geist der Zeit und des Versailler Vertrages. Als Rechtfertigung für den völligen Entzug der Kolonien diente die Behauptung, daß sich das Deutsche Reich als unfähig erwiesen habe, Kolonien zu verwalten; diese Behauptungen wurde durch sogenannte „Blaubücher", die in einseitiger Weise die Behandlung der Einheimischen durch die deutsche Kolonialpolitik als grausam darstellten, unterstützt 10 . Gegen diese als „koloniale Schuldlüge" bezeichnete Bewertung der deutschen Kolonialzeit durch die Ententestaaten agitierten zunächst deutsch-nationale Kreise, in der nationalsozialistischen Zeit wurde der „Kampf 4 gegen die „koloniale Schuldlüge" in der Absicht der Wiedergewinnung der deutschen Kolonien 11 intensiviert 12 Bis zum Abschluß des Versailler Vertrages standen die deutschen Schutzgebiete unter der Militärverwaltung der jeweiligen alliierten Mächte. Art. 22 VV, bei dem es sich gleichzeitig um einen Bestandteil der Satzung des neugegründeten Völkerbundes handelte13, stellte die deutschen Schutzgebiete - bis auf Kiautschou, für das die schon erwähnte Sonderregelung galt - unter die Mandatsherrschaft der Ententestaaten; in der Regel wurden die Mandate an diejenige Macht verliehen, die das Schutzgebiet militärisch besetzt hatte.

1. Die Verwaltung durch die Mandatsmächte In den meisten Fällen wurden die Territorien der Schutzgebiete zwischen den Mandatsmächten aufgeteilt. So erhielt Frankreich den weitaus größten Teil von Togo und Kamerun, Großbritannien hingegen nur schmale Gebietsstreifen an der Westgrenze von Togo und Kamerun. Deutsch-Ostafrika wurde bis auf die ehemali10 Vgl. Schiefel, S. 173. 11

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gab es Überlegungen zur Schaffung einer nationalsozialistisch geprägten Kolonialverfassung zukünftiger deutscher Kolonien, so sollte der „Führer" eine der im SGG geregelten Schutzgewalt des Kaiser vergleichbare Machtbefugnis erhalten, vgl. Lothar Kühne, Grundfragen des nationalsozialistischen Reichskolonialrechts, Berlin, 1941, S.117, 121. 12 Wolter, S. 212; die Wiedergewinnung der ehemaligen deutschen Kolonien blieb ein erklärtes Ziel des Nationalsozialisten, als Rechtfertigung wurde nicht nur die nationalsozialistische „Lebensraum"-Ideologie herangezogen, sondern auch die „koloniale Schuldlüge" und die Mängel der gegenwärtigen Mandatsverwaltung, vgl. Kühne, S. 20/21. 13 Art. 1 - 2 6 des VV bildete gleichzeitig auch die Satzung des Völkerbundes, vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 558.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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gen Residenturgebiete Ruanda und Burundi als „Tanganyika Territory" unter die britische Mandatsherrschaft gestellt; Ruanda und Burundi wurde als belgisches Mandat vom benachbarten Belgisch-Kongo aus verwaltet. Lediglich Deutsch-Südwestafrika wurde nicht aufgeteilt, sondern gänzlich von der Südafrikanischen Union verwaltet. Australien erhielt das Mandat über Deutsch-Neuguinea und die Inseln südlich des Äquators, Japan das Mandat über die Inseln nördlich des Äquators; lediglich Nauru wurde (wohl wegen der reichen Phosphatvorkommen) unter eine gemeinsame Mandatsherrschaft von Großbritannien, Australien und Neuseeland gestellt, aber von Australien verwaltet. Ferner erhielt Neuseeland die Mandatsherrschaft über Samoa. Die Aufteilung zwischen Australien und Neuseeland entsprach der „subimperialistischen" Politik dieser Länder, deren Militärbefehlshaber schon 1912 im Rahmen einer internen Vereinbarung die Aufteilung der deutschen Kolonialbesitzungen im Falle eines Krieges gegen das deutsche Reich vereinbart hatten 14 ; durch die Mandatsvergabe wurden diese Ambitionen zementiert.

a) Die Einteilung in A-, B- und C-Mandate (Art. 22 des Versailler Vertrages) Der Mandatsgedanke, so wie er sich in den Bestimmungen des Versailler Vertrages manifestierte, ging auf den amerikanischen Präsidenten Wilson zurück, der schon 1917 als Grundsatz der amerikanischen Kriegsziele das Selbstbestimmungsrecht der Völker postulierte und im Januar 1918 mit seinen „14 Punkten" diesen Grundsatz bekräftigte 15. Die anderen alliierten Kolonialmächte - insbesondere Großbritannien, Frankreich und Japan - hatten weniger das Selbstbestimmungsrecht der Völker vor Augen, als vielmehr die Durchsetzung von Annexionen, die als „Kriegsbeute" und als moralische Entschädigung (eine finanzielle Entschädigung war nach dem Versailler Vertrag darüber hinaus zu leisten) dienen sollte. Nicht nur die idealistischen Ziele des Selbstbestimmungsrechts der Völker, sondern auch die rein praktische Erwägung, daß im Falle einer Annexion der Schutzgebiete ihr Wert auf die deutschen Reparationen hätte angerechnet werden müssen, bewog die Alliierten Anfang 1919, von einer Annexion Abstand zu nehmen und nicht nur Gebiete des Osmanischen Reiches (Palästina, Jordanien, Irak, Syrien, Libanon), sondern auch die deutschen Schutzgebiete unter Mandatsherrschaft zu stellen16. Dem Mandatsgedanken lag die Ansicht zugrunde, daß Völkerschaften in Afrika und Asien, die noch nicht als reif für eine Selbstregierung nach europäischem Muster angesehen werden konnten, von einer schon „entwickelten" Macht für eine Übergangszeit treuhänderisch verwaltet werden sollten, um die betreffende Bevölkerung schrittweise beim Aufbau eines Staates, einer Regierung und einer Verwal-

14 Hiery, S. 303. ι5 Günter Winkelmann, Territoriale Autonomie und Selbstverwaltung der Weißen in Südwestafrika, 1936, S. 92. 16 Winkelmann, S. 93.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

tung nach europäischem Vorbild zu unterstützen; die Mandatsverwaltung sollte unter dem Zeichen der Fremdnützigkeit stehen und als Hauptziel das Wohl der einheimischen Bevölkerung vor Augen haben17. Die genauen Kriterien, die das Mandatsgebiet und seine Bevölkerung zu erfüllen hatte, um in die Unabhängigkeit entlassen zu werden (gewissermaßen ,,Reife"-Kriterien), wurden jedoch erst im Beschluß des Völkerbundrates vom 4. September 1931 formuliert 18 : hierzu gehörten eine gefestigte Regierung und Verwaltung des Mandatsgebiets ebenso wie eine gesetzmäßige Ordnung, Gerichtsorganisation sowie die „Fähigkeit, den öffentlichen Frieden im ganzen Gebiet aufrechtzuerhalten". Der daraufhin in die Unabhängigkeit entlassene neue Staat hatte aber auch gewisse Garantien zu übernehmen: neben der Garantie von Religions- und Gewissensfreiheit hatte er die Vorrechte der Mandatsmacht zu garantieren und die von der früheren Mandatsmacht abgeschlossenen Verträge einzuhalten. Faktisch sollten diese Regelungen der jeweiligen Mandatsmacht Einflußmöglichkeiten für die Zeit nach Unabhängigkeit des Mandatsgebietes sichern. Beachtenswert bleibt es aber dennoch, daß 1931, also zu einer Zeit, als die klassischen europäischen Kolonialmächte keineswegs an die Entlassung ihrer eigenen Kolonien in den Unabhängigkeit dachten, in bezug auf die Mandatsgebiete die Unabhängigkeit eines „farbigen" Staates durchaus in Betracht gezogen wurde. Angesichts des formal treuhänderischen Charakters der Mandatsherrschaft der Alliierten ist der schon erwähnte Verzicht des Deutschen Reiches auf die Schutzgebiete gemäß Art. 119 VV zugunsten der Ententestaaten lediglich ein Durchgangsstadium (für die Übergangszeit der militärischen Besetzung durch die Ententemächte), da die Mandate gemäß Art. 22 Abs. 2 VV den Mandatsmächten vom Völkerbund anvertraut wurden und daher dieser als verfügungsberechtigt hinsichtlich dieser Gebiete angesehen wurde. Art. 22 Abs. 2 VV war somit gegenüber Art. 119 W e i n e Spezialregelung 19. Dem Mandatsgedanken hinsichtlich der Entwicklung der einheimischen Bevölkerung entsprechend war vorgesehen, daß sich die Intensität der Mandatsherrschaft nach der Entwicklungsstufe richten solle (vgl. Art. 22 Abs. 3 VV). Demzufolge wurden die Mandatsgebiete in Art. 22 Abs. 4 - 6 VV in drei Kategorien von Gebieten unterschiedlichen Entwicklungsgrades eingeteilt. Zu den Mandatsgebieten mit der höchsten Entwicklungsstufe wurden gemäß Art. 22 Abs. 4 VV die - auch als Α-Mandate bezeichneten - Gebiete des ehemaligen Osmanischen Reiches gezählt; hierzu gehörten Syrien und Libanon, die unter französische Mandatsherrschaft fielen, und Irak, Palästina und Transjordanien (das 17 Karl Strupp, „Mandate", in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 4, Fritz StierSimlo/Alexander Elster (Hrsg.), 1927, S. 15. 18 Beschluß des Völkerbundrates über die Regeln für die Entlassung eines Landes aus dem Mandatsverhältnis, vom 4. September 1931, in: Wilhelm G. Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Iuris Gentium, Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 3/2,1815-1945,1992, S. 1149. 19 Strupp, S. 16.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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heutige Jordanien), die britisches Mandat wurden. Bei den Mandaten dieser Entwicklungsstufe bestand die Aussicht, daß sie in absehbarer Zeit selbständige Staaten werden konnten; daher wurden diese Gebiete zwar nicht unmittelbar von der Mandatsmacht verwaltet; Verwaltung, Militärwesen und die Außenpolitik blieben aber unter der Kontrolle der jeweiligen Mandatsmacht. Als Gebiete minderer Entwicklungsstufe, für die folglich die Übernahme der Verwaltung durch eine Mandatsmacht erforderlich war, wurden gemäß Art. 22 Abs. 5 VV die sogenannten B-Mandate eingestuft. Art. 22 Abs. 5 stellte die Übernahme der Verwaltung aber unter die Bedingung, daß die Mandatsmacht Gewissens· und Religionsfreiheit zu garantieren hatte; ferner sollte Sklaven- und Alkoholhandel verhindert, die Anlage von Befestigungen und die militärische Ausbildung der Einheimischen20 unterlassen und der Handel der anderen Volkerbundsmitglieder im Mandatsgebiet sichergestellt werden. Zu den B-Mandaten zählten die unter französischer und britischer Mandatsherrschaft stehenden Schutzgebiete Kamerun und Togo sowie das unter britischer und belgischer Mandatsherrschaft stehende Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika. Schließlich sah Art. 22 Abs. 6 VV für Gebiete, die als noch weniger entwickelt angesehen wurden (als Kriterium hierfür hob Art. 22 Abs. 6 die schwache Bevölkerungsdichte, geringe Ausdehnung, große Entfernung nach Europa und die Nähe zur Mandatsmacht hervor), die sogenannten C-Mandate, ausdrücklich vor, daß diese Gebiete in die Gesetzgebung und Verwaltung der Mandatsmacht eingegliedert werden konnten. Die bereits erwähnten, für die B-Mandate vorgesehenen Bedingungen (Religionsfreiheit, Verhinderung des Sklaven- und Alkoholhandels, etc.) galten auch für die Verwaltung der C-Mandate. Aus der Tatsache, daß die verwaltungsmäßige Eingliederung ausdrücklich nur für die C-Mandate vorgesehen war, dürfte der Schluß zu ziehen sein, daß eine solch weitgehende Eingliederung für die B-Mandate nicht zulässig war 21 . Zu C-Mandaten wurden neben Deutsch-Südwestafrika die gesamten ehemaligen deutschen Schutzgebiete im Pazifik (zum Sonderstatus von Kiautschou siehe unten) erklärt. Entsprechend dem treuhänderischen Grundgedanken des Mandatsmodells übte der Völkerbund die Oberaufsicht über die Mandatsgebiete aus; dies manifestierte sich nicht nur in der gemäß Art. 22 Abs. 7 und 9 VV vorgesehenen Pflicht, jährlich einen Mandatsbericht an die aus 9 Mitgliedern bestehende ständige Mandatskommision zu erstatten, sondern auch in der Stellungnahme hinsichtlich dieser Berichte durch den Rat und die Vollversammlung des Völkerbundes 22. Darüber hinaus hatte

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Außer für Zwecke der „Landesverteidigung"; mit diesem unklaren Begriff konnte eine Bewaffnung der Einheimischen jedoch in jeder Weise gerechtfertigt werden. 21 Für diese Gebiete sollte Gesetzgebung und Verwaltung gesondert, unabhängig von der des Mandatsstaates, organisiert werden, vgl. Winkelmann, S. 95. 22 Strupp, S. 16.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

der Rat des Völkerbundes gemäß Art. 22 Abs. 8 VV die Möglichkeit, hinsichtlich der Verwaltung der Mandatsgebiete mitzubestimmen. Aus der treuhänderischen Stellung der Mandatsmacht ergab sich weiterhin, daß die Mandatsgebiete weder staatsrechtlich noch völkerrechtlich zum Gebiet der Mandatsmacht gehörten; die Mandate wurden vielmehr als noch in der Entfaltung begriffene „staatsartige Gebilde" (aber noch nicht als Staaten) angesehen, die unter der Souveränität des Völkerbundes standen23. Als Folge dieser staatsrechtlichen Trennung von der Mandatsmacht hatten die Mandatsbewohner eine eigene Staatsangehörigkeit, die als von der Staatsangehörigkeit des Mandatars verschieden angesehen wurde, wobei aber nach Maßgabe des Rechts der Mandatsmacht die Möglichkeit der Naturalisation bestand24.

b) Die einzelnen Mandatsgebiete Deutsch-Ostafrika (Tanganyika) Das Mandat über das ehemalige Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika, jedoch ohne die Gebiete Ruanda und Burundi, wurde am 20. Juli 1922 durch Mandatsvertrag mit dem Völkerbund Großbritannien verliehen 25 und von diesem Zeitpunkt an als „Tanganyika Territory" verwaltet. Die seit dem Ende des ersten Weltkriegs andauernde militärische Besetzung wurde damit in eine treuhänderische Verwaltungsform umgewandelt. Schon vorher jedoch, am 25. September 1919, hatte Großbritannien trotz der Kenntnis der bevorstehenden Mandatsverwaltung ein ca. 500 Quadratkilometer großes, von ca. 500 Menschen bewohntes Gebiet („Kionga-Dreieck") im Mündungsdelta des Flusses Rovuma, des südlichen Grenzflusses zu Porugiesisch-Moçambique, an Portugal abgetreten und damit zumindest gegen den Geist der Regelungen des Versailler Vertrages hinsichtlich der Mandatsverwaltung verstoßen 26. Versuche der britischen Mandatsverwaltung, das Mandatsgebiet - entgegen den Grundsätzen des Art. 22 VV - mit den angrenzenden britischen Kolonien Uganda und Kenya zu vereinigen, wurden 1931 aufgegeben; allerdings wurde 1928 eine Postunion mit Uganda und Kenya begründet 27. Deutsch-Ostafrika (Ruanda und Burundi) Die Grenze zwischen dem Tanganyika Territory und den belgisch besetzten Gebieten Ruanda und Burundi wurde schon durch das sogen. Orts-Milner Abkommen 23 Dies gilt für die B- und C-Mandate, die die ehemaligen deutschen Schutzgebiete betrafen, vgl. Winkelmann, S. 98. 24 Strupp, S. 17. 25 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 558. 2 6 Vgl. Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Kolonialpolitisches Quellenheft, 1935, S. 138. 27

Gemeinsame Briefmarken für Uganda, Kenya und Tanganyika mit dem Kopf des englischen Königs, vgl. Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Deutsche Kolonialpolitik in Dokumenten, 1938, Anhang, S. 562.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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vom 30. Mai 1919 festgelegt und Belgien damit die vorläufige Verwaltung bis zur endgültigen Bestätigung durch den Völkerbund übertragen 28. Diese Bestätigung erfolgte am 31. August 1923 durch Abschluß des Mandats Vertrages mit dem Völkerbund 29 . Belgien verwaltete das Gebiet unter dem Namen Ruanda-Urundi durch einen in Usumbura (heute als Bujumbura Hauptstadt von Burundi) ansässigen Vizegouverneur, der dem Gouverneur von Belgisch-Kongo unterstand 30. Außerdem wurde Ruanda-Urundi - abgesehen von Ausnahmen - den Gesetzen von BelgischKongo unterworfen 31; alle diese Maßnahmen führten dazu, daß das Mandatsgebiet damit faktisch zu einer weiteren Provinz von Belgisch-Kongo wurde, was dem treuhänderischen Gedanken des Versailler Vertrages und dem Charakter als BMandat ebenfalls widersprochen haben dürfte 32 . Deutsch-Südwestafrika Deutsch-Südwestafrika wurde als C-Mandat gemäß Art. 22 Abs. 6 VV bereits im Mai 1919 vorbehaltlich einer Bestätigung durch den Völkerbund der Südafrikanischen Union anvertraut. Diese erfolgte durch den Mandatsvertrag mit dem Völkerbund vom 17. Dezember 1920, der inhaltlich den Regelungen des Art. 22 VV entsprach 33. Als Folge der Tatsache, daß es sich um ein C-Mandat handelte, „hatte die Mandatsmacht im Rahmen des Mandats volle Verwaltungs- und Gesetzgebungsbefugnis über das Territorium wie über einen integrierenden Bestandteil der Südafrikanischen Union" (vgl. Art. 2 des Mandatsvertrages) 34. Dies bildete die Grundlage dafür, daß das Recht der Südafrikanischen Union mit einigen Modifikationen in Südwestafrika angewendet werden konnte. Trotz der weitreichenden Verwaltungsbefugnisse hatte Südafrika die Verwaltung nach treuhänderischen Gesichtspunkten durchzuführen, eine Disposition über Teile des Mandatsgebietes war demzufolge nicht statthaft; die durch Proklamation des High Commissioner of South Afrika vom 21. März 1921 verfügte Unterstellung des im äußersten Nordosten gelegenen Caprivi-Zipfels (zur deutschen Kolonialzeit Residenturgebiet) unter die Verwaltung des Protektorates Britisch-Betschuanaland (heute Botswana) wurde auf Druck des Völkerbundes hin rückgängig gemacht und der Caprivi-Zipfel wieder dem Mandatsgebiet unterstellt 35. Umgekehrt wurde - ohne Beanstandungen des Völker28 Roger Louis, Ruanda-Urundi 1884-1919, 1963, S. 251; bei Orts und Milner handelte es sich um die beim Abschluß der Vereinbarung beteiligten belgischen bzw. britischen Verwaltungsbeamten. 29

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 558. 30 Thomas Laely, Autorität und Staat in Burundi, 1995, S. 277. 31

Célestin Muyombano, Ruanda - die historischen Ursachen des Bürgerkriegs, 1995, S. 23. Laely, S. 277, bezeichnet die Situation von Ruanda-Urundi als „Unter-Kolonie". 33 Hugo Blumhagen, Die Rechtsentwicklung in Deutsch-Südwestafrika unter dem Mandat der Südafrikanischen Union, 1939, S. 14/15. 34 Winkelmann, S. 99. 32

3

5 Durch die Proklamation Nr. 196/1929 vom 23. August 1929, vgl. Winkelmann, S. 104.

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bundes - das südafrikanische Gebiet Walfischbay mit Wirkung vom 1. Oktober 1922 in den Verwaltungsdistrikt Swakopmund und damit in das Mandatsgebiet eingegliedert 36. Kamerun Kamerun wurde als B-Mandat bereits am 7. Mai 1919 zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt, die endgültige Rechtsgrundlage erhielt die Mandatsverwaltung durch die Mandatsverträge mit dem Völkerbund vom 20. Juli 192237. Während ein nur ca. 88 000 Quadratkilometer großer Grenzstreifen im Westen Kameruns von der britischen Kolonie Nigeria aus verwaltet wurde, kam der überwiegende Teil Kameruns unter französische Mandatsverwaltung, die von dem neuen Verwaltungssitz Yaoundé aus geleitet wurde 38 . Hinsichtlich der östlichen Gebiete des Schutzgebietes, die erst durch das Marokko-Abkommen von 1911 dem deutschen Schutzgebiet zugesprochen wurden („Neu-Kamerun" mit ca. 284.000 qkm und ca. 1,5 Mio. Einwohnern), verzichtete das Deutsche Reich gemäß Art. 125 VV auf die Rechte aus dem Marokko-Abkommen, so daß diese Gebiete wieder dem französischen Kolonialgebiet einverleibt und vorläufig einem französischen Zivilkommissar unterstellt wurden 39 . Das Gebiet von Neu-Kamerun war damit nicht von den Treuhandsregelungen des Art. 22 VV umfaßt, Art. 125 VV stellte für diese Gebiete eine Spezialregelung dar. Obwohl die Verwaltung als „integraler Bestandteil" der Mandatsmacht nur für die C-Mandate ausdrücklich vorgesehen war (Art. 22 Abs. 6 VV), enthielt Art. 9 der Mandatsverträge für Kamerun gleichfalls die Regelung, daß Großbritannien und Frankreich Kamerun „als einen integralen Teil ihres Territoriums (d. h. angrenzender Kolonialgebiete) verwalten konnten40. Diese Regelung stellte Kamerun faktisch einem C-Mandat gleich und läßt Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 22 Abs. 5 VV, der die Voraussetzungen für ein B-Mandat normiert, aufkommen. Die faktische Inkorporation durch Großbritannien und Frankreich in die jeweils eigenen Kolonialreiche führte zu Kritik der ständigen Mandatskommission, die gemäß Art. 22 Abs. 9 VV die jährlichen Mandatsberichte bearbeitete, so daß sich die britische Regierung zu der Klarstellung verpflichtet sah, daß die verwaltungsmäßig Angliederung an Nigeria „weder eine Verschmelzung noch eine Eingliederung bedeute und daher dem Buchstaben und dem Geist des Mandates nicht widerspreche" 41.

36 Winkelmann, S. 103/104. 37 Théophile Owona, die Souveränität und Legitimität des Staates Kamerun, Diss. 1990, S. 104. 38 Owona, S. 104, Fn. 261. 59 Owona, S. 151. 40

Carlson Anyangwe, The Cameroonian Judicial System, 1987, S. 63. Report on the Administration under Mandatee of the British Cameroons for 1924, Colonial Office, 1925, S. 3. 41

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Togo Togo wurde durch Vereinbarung vom 7. März 1919 zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt und sollte jeweils als B-Mandat verwaltet werden; die rechtlichen Rahmenbedingungen hierfür wurden durch den Mandatsvertrag mit dem Völkerbund vom 20. Juli 1922 geschaffen 42. Der westliche Teil wurde demgemäß von Großbritannien über die benachbarte britische Kolonie Goldküste (das heutige Ghana) verwaltet, der östliche Teil als verwaltungsmäßig eigenständiges Mandatsgebiet durch Frankreich. Obwohl der Mandatsvertrag in Art. 9 die Möglichkeit einer verwaltungsmäßigen Eingliederung in das Territorium der Mandatsmacht „wie einen Bestandteil seines Mandatsgebietes" vorsah (was einer Behandlung als C-Mandat gleichkommt), enthielt diese Regelung auch den Hinweis, daß dies nicht dem Sinn des Art. 22 VV widersprechen dürfe 43 ; damit sollte zwar formal die Beibehaltung der Regelung des Art. 22 Abs. 5 VV (B-Mandat) für Togo sichergestellt werden, faktisch aber wurde die Regelung des Mandatsvertrages weit ausgelegt und die Eingliederung in Verwaltungsorganisation und Gesetzgebung der jeweiligen Mandatsmacht auch hier vollzogen. Deutsch-Neuguinea Das Mandat über Deutsch-Neuguinea und die Inseln des deutschen Kolonialbesitzes südlich des Äquators bis auf Nauru und Samoa wurde durch Mandatsvertrag mit dem Völkerbund vom 17. Dezember 1920 auf Australien übertragen; dem Mandatsvertrag zufolge konnten diese Gebiete in die Verwaltungsorganisation und Gesetzgebung von Australien - in Übereinstimmung mit dem Charakter der Gebiete als C-Mandat im Sinne von Art. 22 Abs. 6 VV - integriert werden 44. Die Einrichtung der zivilen Mandatsverwaltung löste die unter der australischen Militärverwaltung bestehende Rechtsunsicherheit ab; so waren seit der Besetzung die Arbeitsschutzvorschriften hinsichtlich der einheimischen Plantagenarbeiter - nicht zuletzt auf Betreiben der deutschen Plantagenbesitzer - außer Kraft gesetzt worden; auch das System der Verwaltung durch die Mithilfe einheimischer Regierungshäuptlinge (Luluai) wurde von der Militärverwaltung vernachlässigt 45. Unter der australischen Mandatsverwaltung - die getrennt blieb von dem australischen Papua-Territorium, das an den Süden des Mandatsgebietes angrenzte - wurden die Folgen der Vernachlässigung durch die vorherige Militärverwaltung beseitigt. Sehr zügig wurde die Enteignung der deutschen Siedler und der deutschen Handelsunternehmen durch ein schon 1920 eingerichtetes „Expropriation Board" durchgeführt; in der gleichen Zeit wurden die Deutschen ausgewiesen46. 42 Jürgen Theres, Die Evolution der politisch-administrativen Strukturen in Togo - eine Fallstudie zur administrativen Anthropologie, Diss. 1988, S. 110. 43 Theres, S. 111. 44 Vgl. Mandatsvertrag, Art. 2, in: The Laws of the Territory of New Guinea 1921 -1945 (annotated), Bd. 1, Sydney, 1947, S. 3. 4 5 John Dademo Waiko, A Short History of Papua New Guinea, 1993, S. 84. 46 Waiko, S. 86; siehe unten, Β. I. 2. a)

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Samoa Das ehemalige Schutzgebiet Samoa wurde durch Mandatsvertrag mit dem Volkerbund vom 17. Dezember 1920 Neuseeland als C-Mandat zugesprochen; gemäß Art. 288 VV verzichtete das Deutsche Reich zusätzlich auf die im britisch-amerikanisch-deutschen Samoa-Vertrag vom 2. Dezember 189947 garantierten Vorrechte für deutsche Händler und Handelsschiffe in allen Häfen der Samoa-Inseln (einschließlich des amerikanischen Ost-Samoa). Nauru Ebenfalls vom 17. Dezember 1920 datiert der Mandatsvertrag für Nauru, das unter die Mandatsverwaltung von Großbritannien gestellt wurde; allerdings hatten aufgrund eines dreiseitigen Vertrages zwischen Großbritannien, Australien und Neuseeland die beiden letzteren Staaten ebenfalls erhebliche Einflußmöglichkeiten auf die Verwaltung von Nauru 48 . Großbritannien, Australien und Neuseeland profitierten insbesondere von der Ausbeutung der reichhaltigen Phosphatminen, deren Erlöse zu je 42% an Großbritannien und Australien und zu 16 Prozent an Neuseeland gingen 49 ; diese wirtschaftliche Ausbeutung der Rohstoffe eines anvertrauten Gebietes dürfte - selbst wenn bei der Gewinnverteilung später auch die einheimische Bevölkerung berücksichtigt wurde - dem treuhänderischen Auftrag der Mandatsverwaltung nicht entsprochen haben. Palau-Inseln; Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln Durch Mandatsvertrag vom 17. Dezember 1920 wurde Japan die Inseln nördlich des Äquators (Karolinen, Marianen, Palau-Inseln und Marshall-Inseln), zugesprochen 50 . Die japanische Verwaltung der Insel war durch eine völlige Einbeziehung in das japanische Rechtssystem gekennzeichnet, nur unwesentliche Abweichungen hiervon aufgrund lokaler Besonderheiten wurden geduldet; die Japanisierung der Inselgebiete - sogar die den Insulanern völlig fremde japanische Sprache sollte eingeführt werden 51 - widersprach nicht nur dem Geist, sondern auch dem Buchstaben des Art. 22 Abs. 6 VV.

c) Die Mandatsgebiete als Treuhandgebiete der Vereinten Nationen ab 1946 Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 hatte der Völkerbund seine Tätigkeit faktisch eingestellt; auch die jährlichen Mandatsberichte wurden nicht mehr 47 In Art. 3 des britisch-amerikanisch-deutschen Samoa-Vertrages vom 2. Dezember 1899, DKGG 4, S. 147. 48 Vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 614; Einzelheiten siehe unten, Β. 1.2. a). 49 Robert D. Craig /Frank P. King, Historical Dictionary of Oceania, 1981, S. 203. 50

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 558. 51 Craig/King, S. 183.

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gemäß Art. 22 Abs. 9 VV an die Mandatskommission übermittelt 52. Nach der Gründung der Vereinten Nationen (UN) 1945 und der formellen Auflösung des Völkerbundes im April 1946 wurde ein Treuhandrat der UN als eines der sechs Hauptorgane der UN gegründet, der gemäß Art. 75 ff. UN-Charta die Aufgabe hatte, die treuhänderische Verwaltung von Gebieten durch andere Staaten zu überwachen; es bestand jedoch keine Verpflichtung, ein Mandatsgebiet dem UN-Treuhandrat zu unterstellen 53. Diese treuhänderische Verwaltung sollte sich nach Art. 76 UN-Charta durch eine klarere Formulierung der politischen Ziele von den eher verschwommenen Vorgaben des Art. 22 VV unterscheiden. So sollte die Fähigkeit der Bevölkerung zur Selbstverwaltung, die Entwicklung demokratischer Organe und die Perspektive einer Volksbefragung durch den Staat, der die treuhänderische Verwaltung übernommen hatte, vorangetrieben werden (Art. 76 (b) UNCharta). Im Unterschied zur früheren Mandats Verwaltung unter der Aufsicht des Völkerbund beschränkte sich nun die Kontrolle des Treuhandrates nicht lediglich auf die Entgegennahme von Berichten; vielmehr unternahmen Delegationen des Treuhandrates auch Inspektionen vor Ort und stellten so eine wirksamere Kontrolle der Verwaltung sicher 54. Hintergrund dieser verstärkten internationalen Kontrolle in Gebieten, die die klassischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich zu ihrem Einflußbereich zählten, waren die Bestrebungen der beiden aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen Weltmächte USA und Sowjetunion, die Entkolonialisierung voranzutreiben 55. Die treuhänderische Verwaltung nach Art. 75 ff. UN-Charta betraf lediglich die ehemaligen Β-Mandate und C- Mandate und somit nur noch die ehemaligen deutschen Schutzgebiete, während die ehemaligen A-Mandate (Gebiete des ehemaligen Osmanischen Reiches), also Irak, Jordanien, Palästina (ab 1948 Israel), Syrien und Libanon, sofort oder wenige Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs ihre Unabhängigkeit erlangten 56. Tanganyika (Deutsch-Ostafrika) 1946 wurde Tanganyika zum Treuhandgebiet der UN erklärt und durch Großbritannien treuhänderisch verwaltet. Schon 1954 entstand, nicht zuletzt aufgrund der Förderung durch Großbritannien, die erste afrikanische Massenpartei für die einheimische Bevölkerung 57. Auch das Gebiet Ruanda-Urundi wurde ab 1946 weiterhin von Belgien verwaltet, nun jedoch treuhänderisch unter der Aufsicht der UN; hier trieb die UN-Aufsicht ebenfalls den Entkolonialisierungsprozeß voran, so daß die belgische Verwaltung schon 1952 regionale Räte der einheimischen Bevölke58

rung einsetzte . 52

William U. Crowell, The Evolution of South African Control over South West Africa (Namibia), Diss. 1975, S. 173. 53 Anyangwe, S. 65; der diesbezügliche Art. 77 Nr. 1 UN-Charta war eine Sollvorschrift. 54 Laely, S. 333. 55

Anyangwe, S. 65. 56 Vgl. Theres, S. 120. 57 Karlheinz Graudenz/Hanns Michael Schindler, Deutsche Kolonialgeschichte in Daten und Bildern, 1984, S. 148.

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(Deutsch-) Südwestafrika Südafrika, die Mandatsmacht von Südwestafrika, wies die Errichtung einer UNTreuhandschaft im November 1946 zurück und beantragte gleichzeitig die Erlaubnis, Südwestafrika annektieren zu dürfen. Nach der Ablehnung durch die UN im Dezember 1946 bestand Südafrika zwar nicht weiter auf der Annexion, allerdings weigerte sich Südafrika weiterhin, Südwestafrika dem Treuhandsystem der UN zu unterstellen 59. Die südafrikanische Regierung begründete dies mit dem Hinweis, daß Art. 77 Nr. 1 UN-Charta keine zwingende Verpflichtung zur Unterstellung unter den Treuhandrat enthalte, die UN kein Rechtsnachfolger des Volkerbundes sei und daher auch nicht über die Mandatsgebiete verfügen könne. Südafrika erklärte sich lediglich auf freiwilliger Basis zur Zusammenarbeit mit der UN bereit und übermittelte - wie zur Zeit der Mandatsverwaltung - jährliche Verwaltungsberichte, nun aber an den Treuhandrat der UN 6 0 . Während sich die UN aufgrund eines Beschlusses des Internationalen Gerichtshof in Den Haag von 1950 auf den Standpunkt stellte, daß Südwestafrika weiterhin unter einem internationalen Mandat (des aufgelösten Volkerbunds) stehe, bestand nach Ansicht von Südafrika aufgrund der Auflösung des Völkerbundes weder eine Mandatsverpflichtung gemäß Art. 22 VV noch eine Verpflichtung zur Unterstellung unter den UN-Treuhandrat 61 . Die südafrikanische Regierung vermied es zwar, die Annexion von Südwestafrika zu proklamieren; faktisch wurde sie jedoch durchgeführt 62. Die Generalversammlung der UN entzog Südafrika durch Resolution vom 27. Oktober 1966 das - noch immer bestehende - Mandat des Völkerbundes. 1967 gründete die UN dann einen „UN-Rat für Südwestafrika", der zusammen mit einem ebenfalls neu ernannten Hochkommissar für Südwestafrika - auf dem Papier - die Verwaltung des Gebietes übernehmen sollte; faktisch blieb Südwestafrika jedoch weiterhin fest in Südafrika eingebunden63. Kamerun In Kamerun ging die Mandatsverwaltung ohne große Veränderungen in die Treuhandschaftsverwaltung über. Die unter britischem Mandat stehenden westlichen Gebiete und der unter französischem Mandat stehende Teil wurden ab Dezember 1946 als Treuhandgebiete unter der Aufsicht der UN verwaltet, Frankreich war anfangs zurückhaltend und wurde nur durch internationalen Druck zur Unterstellung unter die UN-Treuhandschaft bewegt64. Wie schon unter der Mandatsverwaltung blieben die verwalteten Gebiete auch weiterhin völlig in das Rechtssystem 58 Laely, S. 333/334. 59 Crowell, S. 175-179. 60 Pabst, S. 36; die Zusendung der Berichte erfolgte jedoch 1947 zum letzten Mal, vgl. Pabst, S. 39. 61 Ruth First, South West Africa, 1963, S. 185/186. 62 Pabst, S. 36.

63 John J. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia, 1994, S. 534/535. 64 Anyangwe, S. 65, Fn. 4.

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der Treuhänder eingegliedert; der britisch verwaltete Teil wurde besonders eng an Verwaltung und Gesetzgebung von Nigeria angebunden, was wegen der engen Stammesbindungen der Menschen beiderseits der Grenzen auch sinnvoll war 65 . Die schon erwähnten Besuche der UN-Kommissionen gaben der einheimischen Bevölkerung - insbesondere im französischen Teil - oftmals Gelegenheit, Petitionen einzureichen und den Wunsch nach baldiger politischer Unabhängigkeit auszudrücken 66. Togo Auch die französisch verwalteten Mandatsgebiete von Togo wurden im Dezember 1946 der UN-Treuhandschaft unterstellt und von Frankreich weiterhin treuhänderisch verwaltet 67. Die nach 1919 unter britischem Mandat stehenden westlichen Grenzgebiete des deutschen Schutzgebietes jedoch blieben der britischen Kolonie Goldküste - ohne Treuhandstatus - angegliedert und bilden auch heute einen Teil der Republik Ghana. (Deutsch-) Neuguinea Das australische Mandatsgebiet Neuguinea wurde schon 1942, während des zweiten Weltkriegs, im Zuge des Widerstandes gegen die vorrückenden japanischen Truppen mit dem australischen Territorium Papua verwaltungsmäßig zusammengeschlossen68. Nach Kriegsende wurde dem Zusammenschluß durch ein australisches Gesetz vom Juli 1945 eine formale Grundlage gegeben. Neuguinea wurde zwar 1946 der Aufsicht des UN-Treuhandrates unterstellt, jedoch zusammen mit dem südlichen Teil der Insel Neuguinea (Papua) einheitlich wie ein australisches Territorium (assoziierter Teil von Australien, kein Bundesstaat) verwaltet; 1949 billigte die Generalversammlung der UN diese Vereinigung mit Papua69. Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln Die Inselgebiete der Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln und Palau-Inseln, die nach der Vertreibung der japanischen Truppen von amerikanischen Truppen besetzt waren, wurden 1947 unter die Aufsicht des UN-Treuhandrates gestellt, der die USA mit der treuhänderischen Verwaltung beauftragte 70. Verantwortlich für die Zivilverwaltung dieses „Trust Territory of the Pacific Islands" war zunächst der US-Marineminister, ab 1951 der US-Innenminister; in der Folgezeit wurde das Inselgebiet in die Verwaltungsbezirke Marianen, Palau, Yap, Truk, Ponape und 65 Owona, S. 224/225; Anyangwe, S. 66/67. 66 Heinrich Krauss, Die moderne Bodengesetzgebung in Kamerun 1884-1964, 1966, S. 79. 67 Theres, S. 119. 68 Ann Turner, Historical Dictionary of Papua New Guinea, 1994, S. 10. 69 Turner, S. 10/11. 70 Robert D. Craig /Frank R King, Historical Dictionary of Oceania, 1981, S. 48, 58, 174 und 183.

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Marshall-Inseln eingeteilt71. Entsprechend dem Treuhandauftrag förderte die USVerwaltung die Entwicklung der Bevölkerung hin zur politischen Selbständigkeit; ein bedenklicher Verstoß gegen den Treuhandsgedanken war jedoch die Durchführung von Atomwaffentests ab 1947 auf den zu den Marshall-Inseln gehörenden Atollen Eniwetok und Bikini nach vorheriger Zwangsumsiedlung der Bevölkerung. Nauru Die Phosphatinsel Nauru war 1942 von japanischen Truppen besetzt und 1945 von australischen Truppen zurückerobert worden; 1947 wurde Nauru unter die gemeinsame Treuhandschaft der ehemaligen Mandatsmächte Großbritannien, Australien und Neuseeland gestellt, die wie zur Zeit der Mandatsherrschaft gemeinsam an der Phosphatförderung partizipierten. Die Entwicklung zur Selbständigkeit der einheimischen Bevölkerung verlief sehr rasch, und schon im Dezember 1951 übernahm die einheimische Bevölkerung einige Verwaltungskompetenzen72. Samoa Samoa wurde ab 1946 von der ehemaligen Mandatsmacht Neuseeland unter der Aufsicht des UN-Treuhandrates als Treuhandgebiet verwaltet.

d) Sonderfall Kiautschou Nach der militärischen Eroberung durch Japan im November 1914 wurden alle deutschen Unternehmen im Schutzgebiet Kiautschou sowie das Eigentum des Gouvernements entschädigungslos von Japan beschlagnahmt73; außerdem wurden - neben den deutschen Kriegsgefangenen, die nach Japan überführt wurden - die meisten deutschen Zivilisten ausgewiesen74. Gemäß Art. 156 VV verzichtete das Deutsche Reich zugunsten Japans auf alle Rechte aus dem Pachtvertrag vom 6. März 1898 mit China, also insbesondere auf das Gebiet von Kiautschou (Art. 156 Abs. 1 VV), die Eisenbahnkonzessionen und die Bergwerkskonzessionen in der Provinz Schantung (Art. 156 Abs. 2 VV), ferner auf die dortigen Unterseekabel (Art. 156 Abs. 3 VV). Schließlich wurde gemäß Art. 157 VV die Enteignung aller Rechte und Ansprüche des Deutschen Reiches im Pachtgebiet Kiautschou bestätigt. Von wirtschaftlicher Bedeutung war diese Regelung insbesondere im Hinblick auf die teilweise fertiggestellte Eisenbahnlinie von Tsingtau in das Landesinnere, während die Bergwerkskonzessionen faktisch keinen Wert mehr hatten, da der Craig /King, S. 183. 72 Craig /King, S. 202/203. 73 Leutner, S. 391. 74 Ernst Gerhard Jacob, Deutsche Kolonialkunde, 1940, S. 59.

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Bergbaubetrieb durch deutsche Unternehmen 1911 wegen mangelnder Rentabilität eingestellt worden war 75 . Das aufgrund der Konzessionen tätige deutsche Eisenbahnunternehnlen, die Schantung-Eisenbahngesellschaft, war schon 1914 von Japan enteignet worden; da die Bahn jedoch im Privateigentum stand, zog Japan als Kaufpreis für die Bahn von seinen Kriegsentschädigungsforderungen gegen das Deutsche Reich den Betrag von 53 Millionen Mark ab, das Deutsche Reich wiederum zahlte der Eisenbahngesellschaft ein Entschädigung76. Gegen die Übertragung des Pachtgebietes Kiautschou und der Eisenbahnkonzession erhob China (das durch seinen Kriegseintritt gegen das Deutsche Reich 1917 ebenfalls zu den „Siegermächten" gehörte) Einspruch und erreichte in der Konferenz von Washington im Januar 1922, daß Kiautschou im Februar 1922 an China zurückgegeben wurde 77 . Für die ebenfalls auf der Konferenz von Washington vereinbarte Übertragung der Eisenbahnkonzession hatte China allerdings als Kaufpreis 40 Millionen Yen an Japan zu zahlen78. Nachdem 1923 das Deutsche Reich in einer Erklärung freiwillig auf alle seine Rechte an Kiautschou verzichtet hatte, wurde Tsingtau 1938 von japanischen Truppen im Zuge ihres Vormarsches in China wieder besetzt und unter dem Namen Saito in das japanische Reich eingegliedert 79.

2. Die Entwicklung der deutschen Rechtsordnung in den Mandatsgebieten nach dem ersten Weltkrieg a) Die Rechtsordnung in den Mandatsgebieten 1919-1946: generelle Außerkraftsetzung des deutschen Rechts Grundsätzlich gaben die Regelungen des Versailler Vertrages den Mandatsmächten die Möglichkeit, die Rechtsordnung der ihnen anvertrauten Gebiete zu verändern und auch die vorhandene deutsche Kolonialrechtsordnung abzuschaffen 80. Dies wurde für die C-Mandate in Art. 22 Abs. 6 VV ausdrücklich festgehalten, indem der jeweiligen Mandatsmacht „ . . . die Verwaltung nach den Gesetzen des Mandatars und als integrierender Bestandteil seines Gebietes..." zugestanden wurde. Keine ausdrückliche Regelung hinsichtlich der Frage des bestehenden Rechts und der Übertragung des Rechts der Mandatsmacht enthielt Art. 22 Abs. 5 VV hin75 76 77 78 79

Leutner, S. 388-391. Leutner, S. 391. Jacob, Kolonialkunde, S. 59. Leutner, S. 391. Graudenz/Schindler, S. 264.

80

Ausführlich zum Mandatsrecht, insbesondere den zwischenstaatlichen Verträgen und Notenwechseln nach 1919 bei Axel v. Freytagh-Loringhoven, Das Mandatsrecht in den Deutschen Kolonien, Quellen und Materialien, 1938. 14 Fischer

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

sichtlich der Β-Mandate (Ostafrika, Kamerun und Togo), allerdings wurde grundsätzlich ebenso wie bei den C-Mandaten eine faktische rechtliche und verwaltungsmäßige Integration der Β-Mandate vorgenommen. (Deutsch-)Ostafrika (Tanganyika) In Deutsch-Ostafrika blieben während der Besetzung durch britische Truppen bis 1920 die Verordnungen, Verfügungen und Erlasse des deutschen Kolonialrechts, die im August 1914 in Kraft waren, in Übereinstimmung mit den Regeln der Haager Landkriegsordnung 81 insoweit gültig, als sie nicht im Widerspruch zu Regelungen der provisorischen Militärverwaltung standen; diese vorläufige Weitergeltung wurde noch im April 1919 bestätigt82. Nach der Übernahme des Gebietes als britisches Mandat Tanganyika Territory (das ehemalige Deutsch-Ostafrika ohne Ruanda und Burundi), ein B-Mandat gemäß Art. 22 Abs. 5 VV, wurde das Rechtssystem, die Gerichtsbarkeit und die Verwaltung durch den „Tanganyika Order in Council 1920" vom 25. September 1920 umfassend neu geregelt und das deutsche Recht außer Kraft gesetzt83. Nach der Tanganyika Order in Council setzte sich nun das geltende Recht aus einigen indischen Gesetzen zusammen, so ζ. B. hinsichtlich des Zivil- und Zivilprozeßrechtes, sowie aus einigen englischen Gesetze (ζ. B. Seehandelsrecht); insbesondere aber wurde das vom kontinentaleuropäischem Recht völlig verschiedene System des Common Law (hierzu gehört das Case Law, also das in der englischen Gerichtspraxis entwickelte Recht, das Prinzip des Vorranges bestimmter Urteile, sogen. „Precedents" gegenüber Gesetzesrecht, sowie das Billigkeitsrecht der sogen. „Doctrines of Equity") neu eingeführt 84. Ergänzt wurden die Rechtsquellen durch eine wachsende Zahl von Ordinances (Verordnungen), Orders (Verfügungen) und Rules (Erlasse) der britischen Mandatsverwaltung 85 . Das Arbeitsrecht für die einheimische Bevölkerung wurde durch eine Reihe von Verordnungen zwischen 1923 und 1927 (Master and Servants Ordinances 1923 to 1927) geregelt, die aber in ihren wesentlichen Inhalten dem Dienstvertragsrecht zur deutschen Kolonialzeit entsprachen (ζ. B. Schriftform des Dienstvertrages, zeitliche Begrenzung der Arbeitsverpflichtung, Erlaubnisschein für Arbeiteranwerber sowie die Leibesstrafe/Prügelstrafe für Verletzungen des Arbeitsvertrages) 86;

81 Die Beibehaltung der Gesetze eines besetzten Gebietes entspricht der Regelung des Art. 43 des Abkommens über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Haager Landkriegsordnung) vom 18. Oktober 1907, RGBl. 1910, S. 107. 82 Law Reports of Cases determined by the High Court of Tanganyika, Bd. 1, 1921 -1952, 1953, Einführung, S. 6. 83 84 85

Law Reports of Tanganyika, S. 7. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 560/561. Law Reports of Tanganyika, Einleitung, S. 8. Vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 564.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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allerdings wurde bezüglich der Vollstreckung der Prügelstrafe der erwähnte „Kiboko" durch einen Rattanstock ersetzt 87. Das Grundstücksrecht regelte nunmehr die Land Registry Ordinance No. 15 vom 20 April 192388. Demnach wurde das gesamte Land im Mandatsgebiet zu staatlichem Land (Public Land) erklärt, vorbehaltlich bestehender Rechte, die auch durch Eintragungen in den bisherigen deutschen Grundbüchern nachgewiesen werden konnten; diese Berufung auf bestehende Rechte galt jedoch nicht für deutsche Staatsangehörige. Allerdings wurden die deutschen Grundbücher nicht weitergeführt, sondern durch ein „Land Registry" (Registratur von Grundbesitztiteln) in Daressalam ersetzt 89. Auch die Gerichtsorganisation wurde völlig neu aufgebaut: zwar blieb die grundsätzliche Zweiteilung in eine Gerichtsbarkeit für Europäer und für Einheimische erhalten; für Europäer bestanden aber nun Untergerichte (Subordinate Courts) mit einer Unterteilung in drei Klassen entsprechend ihrer Zuständigkeit, denen jeweils ein Verwaltungsbeamter als Richter vorstand 90. Ein Subordinate Court 3. Klasse war für Zivilsachen bis 50 Pfund Sterling und Strafsachen mit einer Straferwartung von bis zu 6 Monaten Freiheitsstrafe, ein Subordinate Court 2. Klasse für Zivilsachen mit einem Streitwert bis 100 Pfund Sterling und für Urteile in Strafsachen bis zu 12 Monaten und ein Subordinate Court 1. Klasse für Zivilsachen mit einem Streitwert bis 200 Pfund Sterling und für Urteile in Strafsachen bis zu 24 Monaten zuständig91. Als Obergericht für das gesamte Mandatsgebiet wurde mit Wirkung vom 3. Januar 1921 der High Court of Tanganyika eingerichtet, der erstinstanzlich für das gesamte Mandatsgebiet zuständig war, jedoch kleinere und mittlere Rechtsfälle an die Subordinate Courts - entsprechend der erwähnten Zuständigkeit der Gerichte 1 . - 3 . - Klasse - delegierte, ferner hatte er deren Tätigkeit als Berufungsinstanz zu überwachen 92; der High Court hatte seinen Sitz in Daressalam und war mit einem Chief Justice (Oberrichter) und zwei Beisitzern besetzt93. Ferner regelte der Order in Council die Einrichtung eines Sondergerichtes (Special Tribunal), das für das gesamte Mandatsgebiet zuständig war und unter der Leitung des Chief Justice Zivilrechtsstreitigkeiten aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Order in Council (also vor dem 25. September 1920) zu entscheiden hatte 94 . Hierbei handelte es sich auch um Zivilstreitigkeiten aus deutscher Zeit, so daß das Special Tribunal deutsches Recht anzuwenden hatte 95 . Die Aufgaben des Special Tribunals wurden 87 Report on the Administration under Mandate of Tanganyika Territory 1924, Colonial Office (Hrsg.), 1925, S. 10. 88 Tanganyika Territory Ordinances - Enacted During the Year 1923, Bd. 4, 1924, S. 92. 89 Vgl. hierzu auch Wilhelm Anting, Deutsch-Ostafrika gestern und heute, 1936, S. 119. 90 Anting, S. 112/113.

91 Report on the Administration 1925, S. 8. 92 Law Reports of Tanganyika, Einleitung, S. 7. 93 Anting, S. 113. 94 Report on the Administration 1925, Colonial Office (Hrsg.), 1926, S. 17. 1*

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

schon 1930 als „praktisch beendet" bezeichnet96. Zuständig für Berufungen gegen Urteile des High Court war der Court of Appeal for Eastern Africa in Nairobi (Kenia), der ebenfalls für Berufungen aus den britischen Kolonien bzw. Protektoraten Uganda, Kenia und Sansibar zuständig war; gegen die Entscheidungen des Court of Appeal war bei Streitwerten von 650 Pfund Sterling aufwärts die Berufung an das „Judicial Committee of the Privy Council" in London möglich 97 . Für Rechtsstreitigkeiten unter der einheimischen Bevölkerung wurde ab 1925 ein Gerichtszug in zwei Instanzen eingerichtet; in erster Instanz bestanden Native Courts 2. Klasse mit der Zuständigkeit in Zivilsachen von bis zu 200 Shilling und von Strafurteilen bis zu 1 Monat Freiheitsstrafe, sowie Native Courts 1. Klasse mit einer Zuständigkeit von bis zu 600 Shilling in Zivilsachen und von Strafurteilen bis zu 6 Monaten Freiheitsstrafe; bei Familien-, Erbschafts- und Personenstandsangelegenheiten bestand eine umfassende Zuständigkeit98. Ähnlich wie zur deutschen Kolonialzeit handelte es sich bei den Richtern dieser Native Courts um die einheimischen Stammesoberhäupter (Sultane), in den ersten Jahren der Mandatsherrschaft aber auch um die schon zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft eingesetzten einheimischen Richter (Akiden, Kadi, Liwali) 9 9 . Die Urteile der Native Courts unterlagen der Aufsicht des zuständigen Distriktsleiters (District Officer); gegen dessen Entscheidungen konnte Beschwerde beim Chef der Provinz (Provincial Commissioner) und beim Gouverneur eingelegt werden 100 . Mit dem Tanganyika Order in Council wurde auch ein neuer Verwaltungsaufbau eingeführt: dem britischen Gouverneur in Daressalam, der die Leitung der Verwaltung im Mandatsgebiet hatte, stand als beratendes Gremium ein aus höchsten Beamten bestehender Verwaltungsrat (Executive Council) zur Seite, außerdem ein aus Beamten und angesehenen Persönlichkeiten bestehender gesetzgebender Rat (Legislative Council), der den Erlaß von Verordnungen (Ordinances) durch den Gouverneur beeinflussen konnte 101 . Ab 1926 wurde das Mandatsgebiet in Provinzen unter der Leitung eines Provincial Commissioners und in Distrikte unter der Leitung eines District Officers eingeteilt; vorher bestanden lediglich 22 Distrikte 102 . Auch die Kommunalverfassung der Ostafrikanischen Städteordnung vom 18. Juli 1910 hinsichtlich der Stadtgemeinden Daressalam und Tanga wurde durch die 95

Vgl. Urteil des Special Tribunal vom 16. Oktober 1923, Mahomed Visram vs. Rajabali Rawji and Co., in: Law Reports of Tanganyika, S. 711 / 712; hier wendete der britische Richter § 196 Abs. 1 Nr. 1 BGB an. 96 Law Reports of Tanganyika, Einleitung, S. 7. 97 Gerstmeyer, Frühere Deutsche Kolonien, S. 560. 98 Anting, S. 114. 99 Gerstmeyer, S. 560. 100 Law Reports of Tanganyika, Einführung, S. 8. ιοί Gerstmeyer, S. 559. 102 Report on the Administration 1924, S. 5.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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Tanganyika Order in Council aufgehoben und statt dessen die Einrichtung von Stadtgemeinden („Townships") durch den Gouverneur vorgesehen 103; bis 1938 wurden 27 neue Townships in Tanganyika gegründet 104. Zwar entsprach der Wirkungskreis der neuen Townships dem - typischen - kommunalen Wirkungskreis der früheren deutschen Stadtgemeinden (Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, wie die Zuständigkeit für Ortsstraßen, Kultur, Abfall, etc.) 105 . Die Stadtverwaltungsbehörden der Townships wurden jedoch nicht von den Gemeindebewohnern gewählt, sondern vom Gouverneur ernannt; die Stadtgemeinden hatten so den Charakter von Verwaltungsbehörden, nicht von Körperschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit, so daß von einer kommunalen Selbstverwaltung wie zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft nicht gesprochen werden kann 106 . Im Hinblick auf die Verwaltung der einheimischen Bevölkerung zeigte sich unter der britischen Mandatsverwaltung ab 1926 eine größere Tendenz zur einheimischen Selbstverwaltung nach den Grundsätzen der von Lord Lugard entwickelten „Indirect Rule", die im britischen Kolonialreich weit verbreitet war. Damit wurde nicht nur den allgemeinen, auch in den anderen britischen Kolonien geltenden Verwaltungsgrundsätzen, sondern auch dem Postulat des Art. 22 Abs. 5 VV bezüglich einer Förderung der einheimischen Bevölkerung hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung Rechnung getragen 107. Demzufolge wurde 1924 das „Systeme of indirect Native Administration" eingeführt und abweichend von der nur punktuellen Selbstverwaltung einiger Häuptlinge zur deutschen Kolonialzeit nun für das gesamte Mandatsgebiet den einheimischen Sultanen oder Häuptlingen als „Native Authorities" Verwaltungsbefugnisse wie die Steuereintreibung oder örtliche Polizeigewalt eingeräumt; hierzu gehört auch die schon erwähnte Gerichtsbarkeit als „Native Court" 108 . Die deutschen Siedler wurden schon 1921 enteignet (vgl. Art. 121 VV i.V.m. Art. 297 b) VV) und ihr Eigentum, insbesondere Grundbesitz und Handelsgesellschaften, durch einen Treuhänder (Custodian) versteigert 109; die ehemals deut103 Heinz Franz, Die kommunale Selbstverwaltung der Weißen in Deutsch-Ostafrika vor und nach dem Weltkriege, 1939, S. 75. 104 Theodor Gunzert, Die Rechtsentwicklung in Deutsch-Ostafrika unter britischem Mandat, 1938, S. 78. 105 Franz, S. 77. 106 Franz, S. 78. io? Ralph A. Austen, Northwest Tanzania under German and British Rule Colonial Policy and Tribal Politics 1889-1939, 1968, S. 147, 153.

ι 0 8 Report on the Administration 1924, 1925, S. 7; Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 559. 109 Enemy Property Disposal Ordinance No. 3 vom 15. Januar 1920, vgl. DKBl. 1921, S. 17; Enemy Property (Retention) Ordinance No. 4 vom 21. Januar 1921, Tanganyika Territory Ordinances - Enacted During the Year 1921, Bd. 2, 1923, S. 6; zur Verrechnung der Versteigerungseriöse mit britischen Entschädigungsforderungen vgl. Ordinance des Administrators No. 10 vom 16. Februar 1920, vgl. DKBl. 1921, S. 20.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

sehen Plantagen wurden bei der nachfolgenden Versteigerung von britischen Plantagenunternehmen erworben 110 . Ergänzend zur Enteignung wurde der Erwerb von Grundeigentum durch Deutsche von der Genehmigung des Gouverneurs abhängig gemacht und damit faktisch erschwert 111. Weiterhin wurden auch die deutschen Gesellschaften zwangsweise aufgelöst 112 und ihr Eigentum durch einen staatlich bestellten Treuhänder - wie die ehemals deutschen Grundstücke - versteigert; in Ausnahmefällen wurden Nachfolgegesellschaften deutscher Gesellschaften gegründet 113 . Auch die deutschen Missionen wurden 1922 enteignet, ihr Eigentum jedoch entsprechend der Vorgaben des Art. 438 VV einem Treuhänder übergeben, bei dem es sich in der Regel um eine andere Missionsgesellschaft handelte114. Die gesamte deutsche Bevölkerung des Schutzgebietes - auch die Missionare wurde ab 1920 ausgewiesen (vgl. Art. 122 VV); die letzten Deutschen verließen 1922 das Mandatsgebiet115. Gleichzeitig wurde die Einwanderung von Deutschen in das Mandatsgebiet von der Genehmigung des Gouverneurs abhängig gemacht und damit praktisch unterbunden; ab 1925 wurde allerdings die Einwanderung von Deutschen wieder zugelassen, die Beschränkungen hinsichtlich des Grundstückserwerbs aufgehoben 116 und die ersten deutschen Missionen im gleichen Jahr wieder von deutschen Missionaren übernommen 117. In den Jahren nach 1925 wanderten jährlich wieder ca. 250 Deutsche in das Mandatsgebiet ein, so daß 1931 wieder 1.973 Deutsche in Tanganyika lebten und 502 landwirtschaftliche Betriebe von Deutschen bewirtschaftet wurden 118 . Deutsch-Ostafrika (Ruanda und Burundi) Im Gebiet Ruanda-Urundi, das 1916 von belgischen Truppen besetzt wurde, vollzog sich der endgültige Ubergang vom provisorisch verwalteten, militärisch okkupierten Territorium zum belgisch verwalteten Mandatsgebiet langsamer. Wegen langwieriger Verhandlungen über die Grenzziehung zwischen Ruanda-Urundi und dem Tanganyika Territory übernahm Belgien - obwohl der Mandatsvertrag mit dem Völkerbund schon am 31. August 1923 abgeschlossen wurden war 1 1 9 no John Iliffe,

A modern History of Tanganyika, 1979, S. 263.

m Ex-Enemies (Land Holding) Ordinance No. 20 vom 22 Juni 1923, Tanganyika Terr. Ord. 1923, Bd. 4, 1924, S. 159. h 2 Companies (Winding Up) Ordinance No. 19 vom 14. Mai 1921, Tanganyika Terr. Ord. 1921, Bd. 2,1923, S. 112. h 3 So wurde 1925 die Usagara-Company als Nachfolgegesellschaft der DO AG gegründet, vgl. Iliffe, S. 264. 114 German Missions Ordinance No. 31 vom 27. Oktober 1922, in: The Laws of the Tanganyika Territory, Bd. 2, 1928, Sir Alison Russell (Hrsg.), 1929, S. 1019. us Iliffe , S. 262. 116 Reports on the Administration 1925, S. 58. 117 Arnold, S. 212. us Zahlen aus: Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Kolonialpolitisches Quellenheft, 1935, S. 120/121.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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erst im Oktober 1924 förmlich das Völkerbundsmandat 120. Im Jahre 1925 wurde die verwaltungsmäßige Einheit mit der benachbarten Kongo-Kolonie (Congo Belge) auch formell hergestellt, Ruanda-Urundi bildete nun ein „Vice-Gouvernement Général" der Kongo-Kolonie. Unter der Leitung des Vizegouverneurs stand der Verwaltung von Ruanda und Burundi je ein Resident vor; diese führten die Aufsicht über „Administrateurs de Territoire", die die „Territoires" (kleinere Verwaltungseinheiten, vergleichbar mit Provinzen) verwalteten. Den Administrateurs unterstanden schließlich die einheimischen Häuptlinge und Unterhäuptlinge („Chefs" und „Sous-Chefs") 121 ; grundsätzlich ließ dieser neue Verwaltungsaufbau eher hierarchische Strukturen erkennen und zeigte wenig Ähnlichkeit zum Prinzip der „Indirect Rule", die im benachbartem Tanganyika Territory praktiziert wurde 122 . Neben den neuen belgischen Verwaltungsstrukturen übten die Könige von Ruanda und Burundi unter der Aufsicht der belgischen Verwaltung weiterhin ihre Autorität gegenüber den Häuptlingen und Unterhäuptlingen aus 123 . Schon 1922 wurde auch das Recht der Kongo-Kolonie weitgehend durch Verordnungen des Vizegouverneurs von Ruanda-Urundi für anwendbar erklärt 124 , so daß bis 1925 das deutsche Kolonialrecht durch belgisches Recht ersetzt wurde 125 . Allerdings konnten auch danach die Gerichte in Zivil- und Handelssachen nach deutschem Recht entscheiden, sofern die Parteien dies wünschten126. 1927 wurde auch das Gesellschaftsrecht und das Grundstücksrecht der Kongo-Kolonie eingeführt; das Grundstücksrecht basierte von nun an auf dem schon erwähnten TorrensSystem 127 . Da die Anzahl der Europäer in Ruanda und Burundi unter der belgischen Herrschaft zugenommen hatte, wurde nun auch die Einrichtung einer Gerichtsorganisation notwendig; es wurde - zuständig für Europäer und Einheimische - für Ruanda und Burundi jeweils ein Territorialgericht eingerichtet mit einer erstinstanzlichen zivilrechtlichen Zuständigkeit von 2.500 belgischen Francs für Europäer bzw. einer unbeschränken Zuständigkeit für Einheimische, für das gesamte Mandatsgebiet bestand ein „Tribunal de Première Instance" mit einer erstinstanzlichen Zuständigkeit für Europäer bei Streitwerten von bis zu 7.500 belgischen Francs; es konnte aber

119

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 558. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 564. 121 Laely, S. 280. 122 Laely, S. 279. 120

123 Muyombano, S. 30. 124 Arrêté Royal vom 16. Juli 1922, Übersicht bei Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 564. 125 Laely, S. 278. 126 Ordonance-Loi Nr. 45 vom 30. August 1924, Übersicht bei Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 565 127 Nachweise bei Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 565; zum Torrens-System siehe oben, A. III. 3. a) aa) (3).

216

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

auch über Streitwerte in unbegrenzter Höhe entscheiden, sofern im Urteil die Berufung zugelassen wurde 128 . Die Gerichte der Einheimischen (Häuptlingsgerichte) wurden sowohl in Ruanda (Tribunaux Indigènes und Tribunal d'Appel) als auch in Burundi (Tribunaux des Chefferies) beibehalten, allerdings wurde ihre Zuständigkeit auf Streitigkeiten mit Einheimischen anderer Kolonien bzw. Streitigkeiten zwischen Häuptlingen beschränkt 129. Als Hauptaufgabe sah die belgische Verwaltung die Entwicklung des Mandatsgebietes hinsichtlich des Ausbaus der Infrastruktur und einer flächendeckenden medizinischen Versorgung. Allerdings kam es auch zur Erforschung und Ausbeutung der Bodenschätze und der Einrichtung von Kaffeeplantagen, was wegen des damit verbundenen Eingriffs in die gesellschaftlichen Strukturen und die Stabilität von Ruanda und Burundi von der deutschen Kolonialverwaltung bzw. dem deutschen Residenten vermieden worden war. Die in der deutschen Kolonialzeit in Ruanda und Burundi überwiegend tätigen protestantischen Missionare wurden durch katholische Missionen unter der Leitung eines Bischofs ersetzt (hierbei handelte es sich um einen Verstoß gegen Art. 438 V V ) 1 3 0 . (Deutsch-)Südwestafrika In Deutsch-Südwestafrika blieb nach der Besetzung durch südafrikanische Truppen das deutsche Recht unter Beachtung der Regeln der Haager Landkriegsordnung in Kraft, sofern nicht kriegsrechtliche Bestimmungen andere Regelungen erforderlich machten 131 . Nach dem Versailler Vertrag konnte Deutsch-Südwestafrika gemäß Art. 22 Abs. 6 VV als C-Mandat weitgehend organisatorisch in Südafrika eingegliedert werden. Grundlage für das Rechtssystem unter der Mandatsherrschaft bildete die Administration of Justice Proclamation vom 24. Dezember 1919, die am 1. Januar 1920 in Kraft trat und - da sie vor Abschluß des Mandatsvertrages erlassen wurde - noch unter Kriegsrecht erging 132 . Demnach galt im Mandatsgebiet ab 1. Januar 1920 zum einen das Römisch-Holländische Recht (Roman-Dutch Common Law) so wie es an diesem Stichtag in der Kapprovinz der Südafrikanischen Union in Kraft war (also modifiziert durch die Systematik des englischen Common Law). Dies bedeutete, daß im Rahmen der Systematik des Common Law (die Gerichtspraxis des Case Law, der Vorrang bestimmter Urteile, sogen. „Precen-

128

Ordonnance-Loi Nr. 10 vom 28. April 1917 und Ordonnace-Loi Nr. 45 vom 30. August 1924, vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 564. 129 Vgl. Gerstmeyer, S. 565. 130 Muyombano, S. 26. 131 Hugo Blumhagen, Die Rechtsentwicklung in Deutsch-Südwestafrika unter dem Mandat der Südafrikanischen Union, Berlin, 1939, S. 11. 132 Administration of Justice Proclamation Nr. 21, vom 24. Dezember 1919, vgl. Blum}tagen, S. 40; gesetzliche Vorschriften der Verwaltungsinstanzen ergingen in Form von „Proclamations", vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 591.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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dents" und das Billigkeitsrecht der „Equity") nicht nur die Rechtsnormen (Statutes) der Kapprovinz 133 , sondern auch die Grundsätze des römisch-rechtlich geprägten Gemeinen Rechts zur Anwendung kamen 134 . Zum geltenden Recht zählten ebenfalls die Proklamationen, die zur Zeit der militärischen Besetzung bzw. unter Kriegsrecht erlassen wurden 135 , Gesetze des Unionsparlaments der Südafrikanischen Union, die ausdrücklich für das Mandatsgebiet erlassen wurden, sowie Verordnungen des Generalgouverneurs der Südafrikanischen Union 1 3 6 . Ferner hatte der ab 1919 als Chef der Verwaltung von Südwestafrika ernannte Administrator mit Sitz in Windhuk eine vom Generalgouverneur der Südafrikanischen Union abgeleitete Rechtssetzungsbefugnis, die auch die Befugnis umfaßte, durch sogen. „Proclamations" Gesetze des Unionsparlamentes von Südafrika auf das Mandatsgebiet zu erstrecken 137. Außerdem hatte die 1926 konstituierte Gesetzgebende Versammlung (Legislative Assembly, dt. Landesrat, näheres hierzu siehe unten) die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen (Ordinances) 138. Das deutsche Kolonialrecht wurde damit, soweit es dem neu eingeführten Recht widersprach, weitgehend verdrängt, teilweise auch ausdrücklich durch Verordnungen der Gesetzgebenden Versammlung aufgehoben 139 (vgl. aber Β. I. 2. b) bezüglich der Weitergeltung deutschen Rechts). Als Folge dieser völligen Neuordnung des Rechts in Südafrika bestimmte sich nun das Bürgerliche Recht und das Handelsrecht nach dem Roman-Dutch Common Law; Einzelregelungen im Konkursrecht 140 und im Gesellschafts-, Familien- und Erbrecht wurden - nach überwiegend britisch-südafrikanischem Vorbild - von der Gesetzgebenden Versammlung erlassen; bemerkenswert ist hinsichtlich des Gesellschaftsrechts, daß es auch die weiterhin bestehenden GmbH nach deutschem Recht erfaßte 141. Das Grundstücksrecht wurde neu geregelt durch die Deeds Registry Proclamation Nr. 8 vom 1. Februar 1920, mit der das südafrikanische Grundstücksrecht ein133 Vgl. Urteil des High Court of South West Africa vom 5. April 1939, Zingel v. Doli, in: Decisions of the High Court of South-West Africa 1937-1945, J. Goldblatt (Hrsg.), 1973, S. 13; hier wurde hinsichtlich einer Veijährungsfrage „Section 3 of Act 6 of 1861 of the Cape of Good Hope" angewendet. 134 Vgl. Urteil des High Court of South West Africa vom 3. September 1940, Ex parte Kraatz, in: Decisions of the High court of South West Africa, S. 26; in dieser Nachlaßsache ging es um die Anwendung des römischen Rechts (Novellen) hinsichtlich eines fideicomissum. 135 Das Kriegsrecht wurde erst durch die „Indemnity and Withdrawal of Martial Law Proclamation Nr. 76 vom 31. Dezember 1920 mit Wirkung ab 1. Januar 1921, also ein Jahr nach Einführung des südafrikanischen Rechts, aufgehoben, vgl. Blumhagen, S. 13. 136 Vgl. Blumhagen, S. 43. 137 Vgl. Winkelmann, S. 102; jeweils ein Administrator stand auch an der Spitze der südafrikanischen Provinzen. 138 Vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien S. 592. 139 Blumhagen, S. 42. 140 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 593. 141 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 600.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

geführt wurde; die deutschen Grundbücher wurden nicht weitergeführt, sondern ein „Deeds Registry" („Urkundenregister", die Bezeichnung rührt daher, daß die beurkundeten Kaufverträge als Nachweis der Eigentumsberechtigung dort verwahrt wurden) eingeführt, das Eigentumszertifikate über den Nachweis von Grundeigentum ausstellte142. Das Arbeitsrecht - insbesondere hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse mit der einheimischen Bevölkerung - wurde durch die „Master and Servants Proclamation" Nr. 34 vom 1. September 1920 umfassend neu geregelt 143 . Teile des materiellen Rechts, ζ. B. die Befristung von Arbeitsverträgen auf höchstens ein Jahr, die zwingende Schriftform der Verträge, das Verbot der Lohnzahlung in Naturalien und die Verhängung von Leibesstrafen durch das Gericht gegen einheimische Arbeitnehmer (Prügelstrafen) bei „Bruch" des Arbeitsvertrags entsprachen jedoch dem deutschen kolonialen Arbeitsrecht 144. Das Strafrecht im Mandatsgebiet orientierte sich ebenfalls nach den Grundsätzen des Roman-Dutch Common Law der Südafrikanischen Union, 1935 wurden durch „Proclamation" des Administrators die südafrikanischen Gesetze hinsichtlich des materiellen Strafrechts und des Verfahrensrechts eingeführt 145 ; auch im Strafrecht wurde die Leibesstrafe (Prügelstrafe) gegen Einheimische weiterhin angewendet146. Die umfassende Einführung des neuen Rechts erforderte auch eine diesem Recht entsprechende Gerichtsorganisation. Diese neue Gerichtsorganisation für die europäische Bevölkerung wurde durch die schon erwähnte Administration of Justice Proclamation 1919 eingeführt; demnach blieb es bei einer grundsätzlichen Trennung der Gerichtsbarkeit für Europäer und Einheimische. In Zivilstreitigkeiten von Europäern mit Streitwerten bis zu 200 Pfund Sterling fungierte der leitende Verwaltungsbeamte eines Verwaltungsbezirks (Magisterial District) als „Magistratsgericht" (Magistrates' Court) 147 . Für erstinstanzliche Sachen mit höherem Streitwert und als Berufungsinstanz gegen die Urteile der Magistratsgerichte war der High Court of South-West Africa unter der Leitung eines Oberrichters zuständig; dieser hatte seinen Sitz in Windhuk, konnte aber seine Sitzungen auch außerhalb als „Circuit Court" abhalten 148 . Auch in Strafsachen waren die Magistrates' Courts (Verwaltungsbeamte) erstinstanzlich für die Aburteilung aller Straftaten außer Kapital142 Blumhagen, S. 50. 143

Dieses Gesetz galt bis in die Siebziger Jahre, vgl. Grotpeter, S. 310. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 602. 145 Criminal Procedure and Evidence Proclamation Nr. 30 von 1935, Nachweise bei Blumhagen, S. 46. Vgl. Urteil des High Court of South West Africa vom 28. August 1942, Rex vs. Goraseb, in: Decisions of the High Court of South West Africa 1942, J. Goldblatt (Hrsg.), 1973, S. 43. 144

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Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 592. i 4 « Blumhagen, S. 44.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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verbrechen zuständig; außerdem bestand örtlich auch eine erstinstanzliche Zuständigkeit von Friedensrichtern (Justices of the Peace) für Strafsachen, die Freiheitsstrafen bis zu einem Monat und Geldstrafe bis zu 10 Pfund Sterling verhängen konnten; Berufungsinstanz bzw. erste Instanz in Kapitalverbrechen war wiederum der High Court 149 . Gegen die Entscheidungen des High Courts konnte Berufung bei der Berufungsabteilung des Obersten Gerichtshofes von Südafrika in Bloemfontein eingelegt werden 150 . Angehörige der einheimischen Bevölkerung unterstanden, wie auch zur deutschen Kolonialzeit nach den Aufständen der Jahre 1904-07, keinerlei Gerichtsbarkeit durch ihre einheimischen Häuptlinge. Vielmehr war für Strafsachen von Einheimischen sowie bei Zivilrechtssachen einschließlich Ehesachen ein „Eingeborenenkommissar" (Native Commissioner) zuständig, der als „Court of Native Commissioner" entschied und je nach Bedarf einheimische Beisitzer mit beratender Stimme beiziehen konnte; auch die Anwendung von einheimischem Gewohnheitsrecht blieb dem Native Commissioner freigestellt 151 . Gegen die Entscheidungen des Native Commissioners konnte Berufung beim High Court eingelegt werden, der bis zu 2 rechtskundige Einheimische beiziehen konnte 152 . Nachdem sich die südafrikanische Mandatsherrschaft konsolidiert hatte, entschloß sich die südafrikanische Mandatsverwaltung, die europäische Bevölkerung von Südwestafrika an der Gesetzgebung stärker zu beteiligen; schon Ende 1921 wurde ein 9-köpfiger beratender Beirat (Advisory Council, dt. Landesbeirat) eingerichtet, der den Administrator beim Erlaß vom Proklamationen (Verordnungen) in Fragen der Steuerpolitik und sonstiger, für das Mandatsgebiet bedeutsamen Fragen, zu beraten hatte 153 . Eine umfassende Neuordnung der inneren Verfassung des Mandatsgebietes, die eine beschränkte Selbstverwaltung der europäischen Bevölkerung zum Inhalt hatte, wurde durch den South West Africa Constitution Act Nr. 42 vom 5. August 1925 154 vorgenommen. Als Vertretung der europäischen Bevölkerung von Südwestafrika wurde eine 18-köpfige Gesetzgebende Versammlung (Legislative Council, Landesrat, siehe oben) mit dem Sitz in Windhuk vorgesehen; 12 Mitglieder wurden durch die europäische Bevölkerung (alle britisch-südafrikanischen Staatsangehörigen, hierunter fiel nach dem Londoner Abkommen von 1923 auch die deutsche Bevölkerung in Südwestafrika, siehe unten) gewählt, die restlichen 6 Mitglieder vom Administrator ernannt. Die Gesetzgebende Versammlung hatte die Zuständigkeit, ausgehend von den ihr vom Administrator vorgelegten Entwürfen Vorschriften mit Gesetzeskraft in Form von Verordnungen (Ordi149 Blumhagen, S. 45/46. 150

Appellate Division of the Supreme Court of South Africa, vgl. Gerstmeyer, S. 593. 151 Blumhagen, S. 98. 152

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 59. 153 Advisory Council Proclamation Nr. 1 vom 13. Januar 1921, vgl. Winkelmann, S. 106/ 107. 154 Vgl. Winkelmann, S. 106/107.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

nances) zu erlassen. Bestimmte Sachgebiete wie Fragen zur einheimischen Bevölkerung, Bergwesen, Justizverwaltung, Beamten- und Militärwesen waren der Zuständigkeit des Gesetzgebenden Versammlung allerdings entzogen. Grundsätzlich blieb es bei der Allzuständigkeit des Administrators auch bei den Angelegenheiten, mit denen die Gesetzgebende Versammlung befaßt war, da die Verordnungen des Administrators Vorrang vor den Verordnungen der Gesetzgebende Versammlung hatten 155 . Neben der Gesetzgebenden Versammlung regelte der Constitution Act auch die Einführung eines 5-köpfigen Executive Committee (Vollstreckungsausschuß), der aus dem Administrator als Vorsitzendem und 4 Mitgliedern der Gesetzgebenden Versammlung bestand und die Verordnungen der Gesetzgebenden Versammlung auszuführen hatte 156 . Ferner wurde der schon vorhandene Advisory Council neu organisiert und bestand nun aus 8 Mitgliedern; hierbei handelte es sich um die 5 Mitglieder des Executive Committee sowie 3 vom Administrator ernannte Personen, von denen mindestens ein Mitglied mit „Eingeborenen"- Fragen besonders vertraut sein mußte. Der Advisory Council hatte den Administrator in den Fragen zu beraten, für die die Gesetzgebende Versammlung nicht zuständig war; alle drei Organe konstituierten sich erst im März 1926 157 . Das Mandatsgebiet wurde für die lokale Verwaltung in 18 Verwaltungsbezirke (Magisterial Districts) unter der Leitung eines Verwaltungsbeamten (Magistrate) aufgeteilt; neben den Verwaltungsaufgaben übte der Magistrate auch richterliche Funktionen aus 158 (siehe oben). Zahlreiche Aufstände der einheimischen Bevölkerung, so des Stammes der Bondelzwarts, einem Teilstamm der Nama, der sich 1922 erhob 159 , aber auch der Stämme der Rehobot Bastards, Herero und Damara, die 1925 rebellierten, erschwerten der Mandatsmach die Kontrolle des Landes; die Aufstände wurden mit hohem militärischem Aufwand niedergeschlagen, was vom Völkerbund kritisiert wurde 160 . Die deutschen Bezirksverbände wurden faktisch mit der militärischen Besetzung 1915, formell jedoch erst Ende 1920 aufgelöst; die deutschen Gemeinderäte wurden dagegen erst 1918 mit Wirkung zum 1. Januar 1919 aufgelöst 161 ; 1920 wurden neue Gemeinderäte für die größeren Gemeinden (Windhuk, Lüderitzbucht, Swa155 Blumhagen, S. 18/19. 156

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 592, Blumhagen, S. 20. 157 Proklamation des Generalgouverneurs von Südafrika Nr. 57 vom 19. März 1926, Nachweise bei Winkelmann, S. 112; zum Advisory Council vgl. ferner Blumhagen, S. 20. 158 Blumhagen, S. 23. 159 Die Bondelzwarts erhoben sich wegen der Erhebung einer Hundesteuer, vgl. Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, 1984, S. 237. 160 Drechsler, S. 238; vgl. auch Tony Emmett, Populär Resistance in Namibia 1922-1925, in: Namibia 1884-1984 Readings on Namibia's History and Society, 1988, S. 224. 161 Werner Bertelsmann, Die Minderheitenrechte der deutschsprachigen Bevölkerung in Südwestafrika, Diss. 1970, S. 15.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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kopmund, Keetmanshoop, Omaruru, Okahandja und Karibib) gebildet, die Gemeinderatsmitglieder - die Hälfte davon Deutsche - wurden nun allerdings nicht mehr von den Gemeindebürgern gewählt, sondern vom Administrator auf ein Jahr ernannt 162 . Zwar wurde durch eine Änderung schon 1922 die Wahl der Hälfte der Gemeinderäte durch die Gemeindebürger zugelassen163, eine umfassende Neuordnung des Kommunalrechts erfolgte aber erst 1935. Die Neuregelung sah vor, daß nun jede der 8 Gemeinden von einem Gemeinderat regiert wurde, der aus 6 Mitgliedern bestand; 3 Mitglieder wurden von den Gemeindebürgern gewählt, die anderen 3 Mitglieder vom Administrator ernannt, der im übrigen auch die Aufsicht über die Gemeinde führte 164 . Die Diamanten-Regie-Gesellschaft, die zur deutschen Kolonialzeit ein Monopol auf den Diamanten verkauf hatte, wurde 1921 durch das „Diamond Board of South-West Africa" ersetzt, das unter der Aufsicht des Administrators von Südwestafrika stand 165 . Das Diamond Board übertrug 1920 die ausschließlichen Schürfrechte im Diamantenschürfgebiet an der Südküste an die kurz zuvor gegründeten Gesellschaft Consolidated Diamond Mines of South-West Africa Limited, die als Tochterunternehmen des südafrikanischen Diamantenkonzerns De Beers von Sir Ernest Oppenheimer selbst gegründet wurde 166 . Die Konzessions- und Schürfrechte der meisten deutschen Gesellschaften wurden aufgehoben, lediglich die Otavi Minen- und Eisenbahngesellschaft behielt ihre Schürfrechte weiterhin, während die Kaoko Land- und Minengesellschaft ihre Schürfrechte immerhin bis 1928 ausüben konnte; bis auf eine Ausnahme behielten alle Gesellschaften jedoch ihre Eigentumsrechte an Grundeigentum 167. Als einzige Mandatsmacht führte die südafrikanische Mandatsverwaltung keine umfassende Enteignung des Vermögens der deutschen Zivilbevölkerung (entsprechend der Ermächtigung der Art. 121 VV i.V.m. 297 b) VV) durch; auch die in den anderen Mandatsgebieten praktizierte Ausweisung der gesamten deutschen Bevölkerung (vgl. Art. 122 VV) wurde unterlassen und lediglich bis 1920 insgesamt 4941 Deutsche (überwiegend Soldaten, Polizisten, Beamten und andere „unerwünschte" Personen) ausgewiesen, dazu kamen 1433 Deutsche, die freiwillig Südwestafrika verließen; ca. 6000 Deutsche konnten im Mandatsgebiet bleiben 168 . Mit

162

Municipal Proclamation Nr. 22 vom 1. Juli 1920, Nachweise bei Winkelmann, S. 165. 163 Winkelmann, S. 165. 164 Municipal Ordinance Nr. 24 von 1935, erlassen von der Gesetzgebenden Versammlung, Nachweise bei Blumhagen, S. 23/24. 165 Grotpeter, S. 103. 166 Grotpeter, S. 72. 167 Vgl. Proklamation Nr. 59 vom 24. November 1920, Nachweise bei Blumhagen, S. 64/65; die Konzession der Otavi-Gesellschaft wurde 1936 noch einmal um 21 Jahre verlängert; als einzige deutsche Gesellschaft konnte die Otavi-Gesellschaft den Bergbaubetrieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufnehmen, vgl. Wackerbeck, S. 222 und oben A. II. 4. b).

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

dieser Politik sollte offensichtlich die Verringerung des Anteils der europäischen Bevölkerung gegenüber der einheimischen Bevölkerung verhindert werden. Auch die deutschen Schulen setzten den Unterricht ab 1921 (nach der Rückkehr einiger ausgewiesener Lehrer) in vollem Umfang fort; ergänzend zu der für die deutschen Kinder schon bestehenden Schulpflicht wurde die allgemeine Schulpflicht für alle europäischen Kinder 1926 eingeführt 169 . Die Einwanderung von Deutschen wurde ab 1924 wieder zugelassen170, gleichzeitig wurde ab 1928 aber die Ansiedlung von Buren aus Angola unterstützt, um den Anteil der Deutschen an der europäischen Bevölkerung zu vermindern 171 . Hinsichtlich der Staatsangehörigkeit der zahlreichen deutschen Siedler in Südwestafrika 172 wurde zwischen Südafrika und dem Deutschen Reich im Londonder Abkommen vom 23. Oktober 1923 ein völkerrechtlich einmaliges Doppelstaatsbürgerschaftsrecht geschaffen und das Heimatrecht der Deutschen garantiert. Von nun an besaßen Deutsche, die 1924 ihren Wohnsitz in Südwestafrika hatten, die südafrikanische Staatsbürgerschaft (sogenannte automatische Naturalisation), bei Betreten deutschen Hoheitsgebietes lebte die deutsche Staatsbürgerschaft wieder auf 1 7 3 . Diese faktische Doppelstaatsangehörigkeit schuf Probleme hinsichtlich des Militärdienstes; einige Deutsche aus Südwestafrika leisteten ihren Wehrdienst in Deutschland ab und bis zu 500 von ihnen sollen in der deutschen Wehrmacht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben 1 7 4 . 1942 wurde durch Gesetz die gesamte deutsche Bevölkerung von Südwestafrika ausgebürgert und damit - wohl völkerrechtswidrig - alle Deutschen in Südwestafrika kollektiv staatenlos175. Diese Regelung wurde jedoch 1949 aufgehoben und den Deutschen die südafrikanische Staatsangehörigkeit gewährt 176 . Erwähnenswert ist ferner, daß die südafrikanische Verwaltung den in Südwestafrika ansässigen Angehörigen der deutschen Minderheit, die im ersten Weltkrieg als Soldai s Blumhagen, S. 28; Bertelsmann, S. 15; 1913 lebten in Deutsch-Südwestafrika 14.830 Europäer, darunter 12.292 Deutsche, vgl. Bertelsmann, Fn. 77. 169 Education Proclamation Nr. 16 von 1926, Nachweise bei Blumhagen, S. 24; für deutsche Kinder bestand schon seit 1906 die allgemeine Schulpflicht aufgrund der Schulpflichtverordnung vom 20. Oktober 1906, DKB1. 1906, S. 797, die auch nach dem ersten Weltkrieg weiterhin Gültigkeit hatte; 1933 wurden 586 deutsche Schulkinder an 12 deutschen Schulen unterrichtet, vgl. Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Kolonialpolitisches Quellenheft, 1935, S. 119. 170 1933 lebten wieder ca. 13600 Deutsche in Südwestafrika, vgl. Jacob, Quellenheft, S. 119/120. 171 Blumhagen, S. 39. 172 Für 1930 wurden ca. 13600 Deutsche in Südwestafrika geschätzt, vgl. Jacob, Quellenheft, S. 137. 173 Martin Pabst, Frieden für Südwest? Experiment Namibia, 1991, S. 34. 1 74 Bertelsmann, S. 65. 175 Naturalisation and Status of Aliens Amendment Act 35/1942 vom 30. April 1942, Union Legislation Affecting South-West Africa, Windhuk, 1942, S. 2 - 7 ; vgl. auch HansGeorg Steinmann, Die Staatsangehörigkeit der Deutschen aus Südwest-Afrika/Namibia, MDR 1994, S. 1066 (1067), der auch die Folgen für die deutsche Verwaltungspraxis hinsichtlich von Einbürgerungen aufzeigt. Bertelsmann, S. 97.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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ten der Schutztruppe gegen Südafrika gekämpft hatten, eine Pension („Ehrensold") gewährte 177 . In den dreißiger Jahren betrieb Südafrika, unter anderem durch eine massive Einwanderungspolitik, die Eingliederung Südwestafrikas als fünfte Provinz; ein Teil der deutschen Minderheit in Südwestafrika wiederum geriet unter den Einfluß von nationalsozialistisch orientierten Gruppierungen, die immer stärker politisch agitierten und schließlich 1934 von der Mandatsregierung (dem Administrator) verboten wurden. Als Reaktion auf die Agitation der nunmehr verbotenen nationalsozialistischen Gruppierungen in Südwestafrika unterband im Jahre 1937 die südafrikanische Mandatsverwaltung die Einwanderung von Deutschen178. Nach der faktischen Besetzung durch die südafrikanische Polizei im April 1939 kam es noch einmal zu regionalen Aufstandsversuchen deutscher nationalsozialistischer Siedler 1 7 9 . Nach Beginn des zweiten Weltkrieges verloren die Deutschen ihre Minderheitenrechte, zahlreiche männliche deutsche Siedler wurden interniert, 1946 jedoch wieder freigelassen 180. Kamerun In Kamerun standen die von britischen und französischen Truppen besetzten Gebiete zunächst unter gemeinsamer Militärverwaltung 181 . Im März 1916, nach der vollständigen Besetzung des Schutzgebietes, wurde das Land in Besatzungszonen aufgeteilt. Die britische Besatzungszone umfaßte einen 60-80 km breiten Streifen an der Grenze zu Nigeria, der allerdings an einer Stelle (bei der nigerianischen Stadt Yola) unterbrochen war, so daß dort das französische Besatzungsgebiet direkt an Nigeria grenzte 182 ; der restliche Teil des Mandatsgebietes stand unter französischer Verwaltung, die ihren Sitz in der neuen Hauptstadt Yaoundé hatte. Nach den Regelungen des Versailler Vertrages stand der französisch verwaltete Teil von Kamerun (ohne Neukamerun) als B-Mandat unter französischer Verwaltung, der britisch verwaltete westliche Grenzstreifen als B-Mandat unter britischer Verwaltung. 177 German War Veterans Pensions Ordinance Nr. 31 von 1958, in: Union Legislation Affecting South West Africa and Proclamations, Ordinances and Principal Government Notices issued in South West Africa during 1958, Windhuk, 1959, S. 619 ff. ι™ Blumhagen, S. 57. 179 Mathias Oldhaver, Die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe in Namibia - Ihre Bedeutung als Faktor in den deutsch-namibischen Beziehungen, 1997, S. 49/50. 180 Pabst, S. 34/35.

181 Mark W. DeLancey/H. Mbella Mokeba, Historical Dictionary of Cameroon, 2. Aufl., 1990, S. 65. 182 Owona , S. 150; bei dem territorial unterbrochenen Nordteil dieses Streifens (später „British Northern Cameroons") handelt es sich um ehemalige Gebiete des nigerianischen Sultanats Jola, die durch deutsch-britische Grenzverträge von Jola getrennt wurden und nun wieder mit dem ursprünglichen Staats- und Stammesgebiet vereinigt wurden; diese Gebiete bleiben auch dauerhaft bis heute bei Nigeria, während der südliche Grenzstreifen (unter Mandatsherrschaft als „British Southern Cameroon" bezeichnet) mit dem französischen Teil die heutige Republik Kamerun bildet, vgl. dazu unten Β. II. 3.

224

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

Das französische Mandatsgebiet bildete als „territoire du Cameroun" ein Territorium mit administrativer und finanzieller Autonomie unter der Leitung eines „Commissaire de la République", die zum deutschen Schutzgebiet gehörenden Gebiete von Neu-Kamerun gehörten nicht zum Mandatsgebiet (vgl. Art 125 VV), sondern wurden verwaltungsmäßig in das französische Kolonialreich integriert (Französisch-Äquatorialafrika). Entsprechend der Haager Landkriegsordnung blieb das deutsche Recht nach der vollständigen Besetzung 1916 bis in die ersten Jahre der französischen Mandatsherrschaft in Kraft 1 8 3 . Durch ein Dekret vom 22. Mai 1924 wurden im französischen Teil Kameruns alle Gesetze und Dekrete, die vor dem 1. Januar 1924 in Französisch-Aquatorialafrika in Kraft waren, in Kraft gesetzt und damit das deutsche Recht, soweit es nicht schon durch widersprechende Ubergangsregelungen vor 1924 faktisch außer Kraft gesetzt wurde, gänzlich verdrängt 184 . Dies bedeutete, daß das in Französisch-Äquatorialafrika geltende Recht, bei dem es sich überwiegend um das französisch Recht des Mutterlandes (ζ. B. Code Civil, Code de Commerce) handelte, nun auch in Kamerun galt. Neu erlassene Rechtsnormen des französischen Mutterlandes mußten für Kamerun ausdrücklich für anwendbar erklärt werden (wie es für Französisch-Äquatorialafrika auch erforderlich war); die Erklärung, welche Gesetze des französischen Mutterlandes für Kamerun Gültigkeit hatten, war allein dem französischen Staatspräsidenten vorbehalten, während sich die gesetzgeberischen Befugnisse des Commissaire de la République auf Verwaltungs Vorschriften beschränkte185. Das Arbeitsrecht hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse der einheimischen Bevölkerung mit europäischen Arbeitgebern entsprach im großen und ganzen dem Arbeitsrecht zur deutschen Kolonialzeit, insbesondere hinsichtlich der Vorschriften über die Dauer des Arbeitsverhältnisses, Schriftform, Lohnzahlung und Prügelstrafen bei „Verstoß" gegen den Arbeitsvertrag 186. Neben der Übernahme des französischen Zivil- und Handelsrechts wurde auch das Grundstücksrecht in enger Anlehnung an den Code Civil geregelt, insbesondere wurde die Führung der Grundbücher eingestellt und in der Folge kein ähnliches Register (etwa nach dem Torrens-System) eingefühlt, sondern die Eigentumsrechte an Grundbesitz von einer „Grundstücksbehörde" 187 durch Aushändigung einer Urkunde („Livret Foncier") an den Berechtigten verbrieft (sogenanntes Verfahren der „Constatation"). Zum Nachweis von Eigentumsansprüchen wurden auch die Eintragungen in die deutschen Grundbücher herangezogen, die bei der „Grundstücksbehörde" verwahrt wurden 188 . Wie zur deutschen Kolonialzeit gehörte herrenloses 183 Anyangwe, S. 224/225. 184 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 572. 185 Anyangwe, S. 97. 186 Nachweise bei Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 575/476. 187 „Bureau de la Conservation de la Propriété foncière et des droits fonciers", vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 574. 188 Krauss, S. 69.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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Land, einschließliclvdes in der deutschen „Kronlandverordnung" 189 zu „Kronland" erklärtem Land, dem Staat 190 . Auch das Strafrecht folgte nun dem französischen Vorbild, das Strafprozeßrecht (Code d'Instruction Criminelle) wurde jedoch formell erst 1931 eingeführt 191 . Die Gerichtsorganisation wurde neu aufgebaut, grundsätzlich aber die Trennung zwischen der Gerichtsbarkeit für Europäer (nun überwiegend Franzosen) und für Einheimische beibehalten. Für Europäer war aufgrund eines Dekretes vom 31. Juli 1927 192 als erste Instanz ein einziges „Tribunal de Première Instance" in Douala unter dem Vorsitz eines Berufsrichters, oft aber auch eines Verwaltungsbeamten 193 zuständig. Dieses Gericht befaßte sich erstinstanzlich mit allen Zivilsachen ungeachtet der Höhe des Streitwertes (jedoch nur bis zu 500 Francs endgültig, d. h. ohne Berufungsmöglichkeit), in Strafsachen war es für die Aburteilung aller Straftaten zuständig, auch von Kapitalverbrechen. Der örtliche leitende Verwaltungsbeamte 194 hatte sich als Friedensrichter („Juge de paix") mit kleineren Zivil- und Handelssachen zu befassen. Das Friedensgericht von Garoua im Norden hatte einen örtlich vom Tribunal de Première Instance in Douala abgegrenzten erweiterten erstinstanzlichen Zuständigkeitsbereich 195, gleiches galt ab 1931 für das Friedensgericht mit erweiterter Zuständigkeit in Yaoundé für den Südosten Kameruns. Im Hinblick auf die Urteile der nicht erweiterten Friedensgerichte nahm das Tribunal de Première Instance auch die Aufgaben der Berufungsinstanz wahr 196 . Als Berufungsgericht in Zivilsachen mit der Zuständigkeit für ganz Kamerun bestand ein Obergericht mit dem Sitz in Douala, das in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei Verwaltungsbeamten als Beisitzer urteilte; als „Cour Criminelle" urteilte das Obergericht auch in Strafsachen als Berufungsinstanz in der Besetzung mit 7 Richtern, davon 2 Berufsrichtern, einem Richter der unteren Instanz und 4 Beisitzern (davon waren wiederum 2 Verwaltungsbeamte) 197. Für die einheimische Bevölkerung wurde eine mehrstufige Gerichtsorganisation aufgebaut, die auch teilweise das einheimische Recht anwenden sollte; zu diesem Zweck wurden ab 1922 das einheimische Eherecht von der französischen Verwaltung gesammelt und zusammengestellt198. Auf unterster Ebene übertrug die Man189 Siehe oben, A. III. 3. a) aa) (3). 190 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 574. 191 Anyangwe, S. 101. 192 Nachweise bei August Full, Kamerun, KolRd 1932, S. 308 ff. 193 Anyangwe, S. 100. !94 Hierbei konnte es sich um den Verwaltungschef eines Unterbezirks (Subdivision) oder eines übergeordneten Verwaltungsbezirks handeln, im letzteren Fall handelte es sich in der Regel um ein erweitertes Friedensgericht; zum Verwaltungsaufbau im einzelnen siehe unten. 195 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 572. 196 Full, Kamerun, S. 308 197 Full, Kamerun, S. 309. 198 Full, Kamerun, S. 311. 15 Fischer

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

datsverwaltung dem jeweiligen Häuptling eines Dorfes die erstinstanzliche Zuständigkeit für die Schlichtung von Zivilrechtsstreitigkeiten zwischen Einheimischen als „Sühnerichter" („Juge de Conciliation"), nicht jedoch, wie zur deutschen Kolonialzeit, auch die Zuständigkeit für leichte Straftaten 199. Nach einem erfolglosen Schlichtungsversuch des Juge de Conciliation war die erste Instanz bei streitigen Zivilsachen, ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwertes, das Gericht erster Instanz („Tribunal de Premier Degré"). Dieses Gericht tagte unter dem Vorsitz des örtlichen Verwaltungsbeamten eines Unterbezirks („Subdivision", siehe unten) zusammen mit zwei einheimischen Beisitzern, in Strafsachen war es nur für leichtere Vergehen zuständig 200 . Als weitere Instanz bestand für jeden größeren Verwaltungsbezirk ein Gericht zweiter Instanz („Tribunal de Second Degré") mit örtlich begrenzter Zuständigkeit unter dem Vorsitz des örtlichen leitenden Verwaltungsbeamten eines Verwaltungsbezirks („Circonscription", siehe unten) und zwei angesehenen Einheimischen als Beisitzern 201 . Das Gericht zweiter Instanz war als Berufungsinstanz für Zivilsachen, in Strafsachen aber als erste Instanz für Verbrechen und schwere Vergehen und als Berufungsinstanz für die Strafurteile des Tribunal de Premier Instance zuständig 202 . Als höchste Gerichtsinstanz für Einheimische in Kamerun hatte die „Bestätigungskammer" („Chambre de Homologation") mit dem Sitz in Douala über die Strafurteile der Gerichte zweiter Instanz zu entscheiden; als reine Rechtsfrageninstanz konnte dieses Gericht die vorgelegten Urteile nur aufheben und an das vorher erkennende Gericht zurückverweisen 203. Das Chambre de Homologation setzte sich zusammen aus dem Präsidenten des Obergerichts für Europäer sowie einem Verwaltungsbeamten und einem angesehenen Einheimischen als Beisitzer 2 0 4 . Mit Dekret vom 29. Dezember 1922 wurde der Commissaire de la République zur Ausgestaltung des Anwaltsberufes ermächtigt. Diese Ausgestaltung des Anwaltsberufes erfolgte erst 1927 und orientierte sich an den Regelungen des französischen Mutterlandes, jedoch ohne die Unterscheidung zwischen formellem Parteivertreter (avoué) und vor Gericht auftretendem Anwalt (avocat) 205 . Die Praxisrelevanz dieser Regelungen war anfangs noch gering: 1927 gab es lediglich 3 Anwälte, in der Folgezeit waren unter den wenigen Anwälten nur sehr wenige Einheimische, so daß Anwälte in Kamerun weniger eine Anlaufstelle für Afrikaner darstellten 206. Nach einer nur unwesentlichen Änderung des Anwaltsrechts im Jahre 1936 hatte das Anwaltsrecht von 1922/1927 bis 1972 Geltung, 1972 erfolgte eine umfassende 199 Anyangwe, S. 104. 200 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 573. 201 Full, Kamerun, S. 310. 202 Full, Kamerun, S. 310. 203 Anyangwe, S. 106. 204 Full, Kamerun, S. 310. 205 Axel Dörken, Stellung und Funktion des Rechtsanwaltes in Kamerun, 1982, S. 20/21. 206 Dörken, S. 30.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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Reform des Anwaltsrechts, das nun für das gesamte Staatsgebiet von Kamerun (also auch für den ehemals britisch verwalteten Teil) Gültigkeit hatte 207 . Die Leitung der Verwaltung des Mandatsgebietes unterstand, wie schon erwähnt, einem Kommissar (Commissaire de la République), der dem französischen Kolonialminister unmittelbar unterstellt war 2 0 8 . Neben der Verwaltungstätigkeit, bei der er von einem Verwaltungsrat („Conseil d'Administration") unterstützt wurde, hatte der Kommissar auch die Befugnis zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften; ferner war er für die formelle Bekanntgabe der vom französischen Staatspräsidenten für Kamerun für anwendbar erklärten französischen Gesetze zuständig. Für die lokale Verwaltung wurde das Mandatsgebiet in Verwaltungsbezirke („Circonscription") und diese wiederum in Unterbezirke („Subdivison") eingeteilt; die Leitung dieser Verwaltungseinheiten hatten jeweils französische Verwaltungsbeamte („Administrateurs"), die auch richterliche Befugnisse ausübten209. Zu den Selbstverwaltungsbefugnissen der einheimischen Häuptlinge zählten nicht nur ihre - wenn auch begrenzten - richterlichen Aufgaben (Tribunaux de Conciliation, siehe oben); die Häuptlinge waren auch - unter der Aufsicht der Verwaltungsbeamten - für die Steuererhebung und die Rekrutierung von einheimischen Arbeitskräften für öffentliche Arbeiten 210 zuständig; wie in den anderen französischen Kolonien konnte jedoch auch hier nicht von echten Selbstverwaltungsbefugnissen im Sinne der „Indirect Rule" gesprochen werden. Ausgehend von der Ermächtigung des Art. 122 VV wurden auch im französischen Mandatsgebiet Kamerun die wenigen deutschen Siedler und Pflanzer - die meisten Plantagen befanden sich im britischen Mandatsteil - ausgewiesen und hinsichtlich ihrer Plantagen und Gesellschaften enteignet (Art. 121 VV i.V.m. Art. 297 b) V V ) 2 1 1 . Unter der Mandats Verwaltung und später unter der Treuhandverwaltung kam es zu einem rapiden Aufschwung der Wirtschaft; Französisch-Kamerun wurde zu einem wichtigen Produzenten für Kakao, Kaffee und Bananen; eine steigende Zahl von französischen Einwohnern, verbunden mit höheren Investitionen, trugen zu einer beginnenden Industrialisierung bei 2 1 2 . Das britische Mandatsgebiet sollte nach dem Willen der Mandatsmacht Großbritannien entgegen seines Charakters als Β-Mandat so verwaltet werden, als ob es sich um einen Teil des britischen Protektorates Nigeria handelte 213 . Demzufolge 207 Dörken, S. 22. 208 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 572. 209 Full, Kamerun, S. 308/309. 210 Für diese Arbeiten wurde im offiziellen Sprachgebrauch der Begriff Zwangsarbeit („Travail Forcé") durch den Begriff („Travail Obligatoire") ersetzt, vgl. Owona, S. 192. 211 Vgl. Verordnung des französischen Staatspräsidenten vom 11. August 1920 hinsichtlich der Liquidation deutschen Vermögens in Togo und Kamerun, veröffentlicht im Journal Officiel vom 28. August 1920, vgl. deutsche Übersetzung in DKB1. 1921, S. 23. 212 DeLancey/Mokeba, S. 6. 213 British Cameroons Order in Council Nr. 1621 vom Juni 1923, vgl. Anyangwe, S. 221. 1*

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

wurde 1924 durch eine Verordnung des Gouverneurs von Nigeria 214 der britische Mandatsteil in eine nördliche und eine südliche Hälfte geteilt; der nördliche Teil wurde den nigerianischen Provinzen Bornu und Adamaua angegliedert, zu denen eine enge historische und ethnologische Bindung bestand, der Südteil wurde separat als Kamerun-Provinz verwaltet 215 . Durch die gleiche Verordnung wurde das bis zum Inkrafttreten dieser Verordnung (28. Februar 1924) geltende deutsche Recht in vollem Umfang außer Kraft gesetzt und durch das geltende Recht in Nigeria ersetzt; dieses umfaßte insbesondere das Common Law und die Grundsätze des englischen Billigkeitsrecht (Equity), die Rechtsvorschriften und Verordnungen, die vor dem 1. Januar 1900 in England in Kraft waren, sowie die nach dem 1. Januar 1900 in Nigeria erlassenen Rechtsvorschriften und Verordnungen 216. Mit der Einführung des englischen Grundstücksrechts wurden die deutschen Grundbücher nicht mehr weitergeführt und Eigentumsansprüche an Grundstücken nunmehr in einem Landregister (Land Registry) registriert, das für den britischen Mandatsteil zuständige Register hatte seinen Sitz in Calabar. Das Arbeitsrecht für die einheimische Bevölkerung zeigte keine wesentlichen Änderungen zum früheren deutschen kolonialen Arbeitsrecht, insbesondere wurden Prügelstrafen bei „Verstößen" gegen den Arbeitsvertrag weiterhin angewendet 2 1 7 . Das Strafrecht entsprach dem - durch Common Law geprägtem - Strafrecht von Nigeria 218 . Auch die Gerichtsorganisation für diesen Mandatsteil orientierte sich an dem neu eingeführten Common Law, behielt aber die Trennung zwischen Europäern und Einheimischen bei. Für Europäer entsprach die Gerichtsorganisation der des britischen Protektorats Nigeria: demzufolge war der an der Spitze einer Provinz stehende Resident (Verwaltungsbeamte) der Kamerun-Provinz bzw. der Nordprovinzen Bornu und Adamaua als Präsident eines Provinzialgerichts in Zivilsachen und Strafsachen unbeschränkt zuständig 219 . Die dem Residenten unterstehenden Distriktsbeamten („Commissioners") konnten in Zivilsachen selbständig erstinstanzlich bis zu einem Streitwert von 50 Pfund Sterling entscheiden, in Strafsachen konnten sie Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren oder Geldstrafen bis zu 50 Pfund Sterling verhängen 220. Der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) für Nigeria mit dem Sitz in Lagos war nicht nur als Berufungsinstanz für die Urteile der Provinzialge214 Durch die Britisch Cameroons Administration Ordinance Nr. 3 vom 28. Februar 1924, vgl. Report on the Administration under Mandatee of the British Cameroons for 1924, Colonial Office (Hrsg.), 1925, S. 4/5. 215 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 577. 216 Anyangwe, S. 222. 217 218

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 586, 590. Criminal Code of Nigeria, vgl. Report on the Administration under Mandate 1924,

S. 18. 2 19 Full, Kamerun, S. 312. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 5 .

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229

richte zuständig - in diesem Fall entschied das Gericht unter dem Vorsitz eines Chief Justice (Oberrichter) in der Besetzung mit 2 oder 3 Mitgliedern - sondern auch erstinstanzlich für Rechtsstreitigkeiten, die in den Zuständigkeitsbereich der Provinzialgerichte fielen. In letzterem Fall fällte ein Einzelrichter des Supreme Court ein Urteil im Rahmen einer Rundreise vor Ort, allerdings kamen diese Fälle im Mandatsgebiet selten vor 2 2 1 . Das Supreme Court war auch zuständig für erstinstanzliche Fälle, die ihm von den Commissioners unterbreitet worden waren; eine Zurückverweisung an den Commissioner war aber wiederum möglich. Gegen Entscheidungen des Supreme Court war in Zivilsachen ab einem Streitwert von mehr als 500 Pfund Sterling die Berufung an das „Judicial Committee of the Privy Council" in London möglich 222 . Das Gerichtssystem wurde 1934 reformiert, die erstinstanzliche Zuständigkeit des in High Court umbenannten Supreme Court eingeschränkt und die untere Gerichtsbarkeit durch die Einrichtung von Magistrates' Courts gestärkt; weitere Reformen 1943 und 1954 führten zur Einrichtung eines Federal Supreme Court in Lagos 223 . Die Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung wurde - wie im übrigen Nigeria auch - nahezu vollständig den einheimischen Häuptlingen und Rechtskundigen überlassen. Unter der Aufsicht des jeweiligen Residenten der Provinz wurden Gerichte mit 4 verschiedenen Zuständigkeitsstufen (A - D) eingerichtet; ein Gericht der Stufe A (volle Zuständigkeit in Zivil- und Strafsachen, Todesurteile allerdings nur mit der Genehmigung des Gouverneurs) bestand im britischen Mandatsgebiet Kamerun allerdings nur im Distrikt Dikwa im Norden, der zur Provinz Adamaua gehörte: dort übten der König (Scheich) von Dikwa (engl. Sheikh-inCouncil) und der Chief Kadi (Kadi = islam. Richter) diese weitreichende Gerichtsbarkeit der Stufe A aus und wandten überwiegend das dort verwurzelte islamische Recht an 2 2 4 . Die übrigen Gerichte hatten eine Zuständigkeit von bis zu 100 Pfund Sterling in Zivilsachen (Stufe B), bis zu 5Q Pfund Sterling (Stufe C) sowie bis zu 25 Pfund Sterling (Stufe D). Alle Gerichte der Stufen A bis D standen unter der Aufsicht des zuständigen Verwaltungsbeamten, der die Urteile binnen eines Monates aufheben und ein anderes Gericht mit der Entscheidung beauftragen konnte 225 . Der Verwaltungsaufbau des britischen Mandatsgebietes entwickelte sich unterschiedlich: der südliche Teil bildete eine eigene Provinz für sich (Cameroons Province) unter der Leitung eines Residenten; diese Provinz wurde wiederum in 4 Unterbezirke (Divisions) aufgeteilt, die von District Officers (die als Commissioners auch richterliche Befugnisse hatten) geleitet wurden. Demgegenüber wurden die nördlichen Gebiete in bestehende Provinzen des Protektorates Nigeria eingegliedert: der Unterbezirk (Division) Dikwa am Tschadsee wurde Teil der Provinz Bor221 Anyangwe, S. 70/71. 222 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 579. 223 Anyangwe, S. 72-74. 224 Report on the Administration under Mandate 1924, S. 19; Full, Kamerun, S. 313. 225 Full, Kamerun, S. 313.

230

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

nu, während die Unterbezirke Benuë und Gashaka nun in die Provinz Adamaua eingegliedert wurden; alle drei Unterbezirke standen unter der Leitung eines District Officers, der dem jeweiligen Residenten unterstellt war 2 2 6 . Die völlige Angliederung des Mandatsgebietes als Randgebiet von bestehenden, größeren Provinzen Nigerias ließ bei den Einwohnern den Eindruck entstehen, die „Kolonie einer Kolonie" zu sein 227 . Nach der Unabhängigkeit von Kamerun 1960 wurde demzufolge nur die südliche Kamerun-Provinz mit dem französischen Teil wiedervereinigt, die eingegliederten nördlichen Gebiete blieben - nachdem ein Referendum der dortigen Bevölkerung sich dafür ausgesprochen hatte - dauerhaft Teil von Nigeria. Im Unterschied zur eher direkten Verwaltung zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft wurde im britischen Mandatsgebiet die in den britischen Kolonien weit verbreitete „Indirect Rule" eingeführt; dies äußerte sich nicht nur in der schon erwähnten Durchführung der Rechtspflege durch die einheimischen Häuptlinge, sondern auch in der weitgehenden Selbständigkeit der Häuptlinge bei der Steuererhebung und der Verwendung der dabei erzielten Einkünfte 228 . Der Ermächtigung des Art. 122 VV folgend, wies die britische Mandatsverwaltung die im Mandatsgebiet lebenden Deutschen aus, ferner wurde entsprechend der Ermächtigung des Art. 121 VV i.V.m. 297 b) VVihr Grundbesitz enteignet und auf einen staatlichen Treuhänder übertragen. Die ehemaligen deutschen Pflanzungen am Kamerunberg wurden jedoch 1925 bei einer Auktion in London von Deutschen zurückgekauft und im Zuge der gleichzeitig einsetzenden Wiedereinwanderung von Deutschen nach Kamerun wieder bewirtschaftet 229, nach Beginn des Zweiten Weltkrieges allerdings wurden die deutschen Plantagenbesitzer wiederum enteignet230. Togo Togo wurde nach der raschen militärischen Besetzung im August 1914 in eine östliche britische Besatzungszone, die an die britische Kolonie Goldküste (heute Ghana) grenzte, und in eine westliche französische Besatzungszone, benachbart zur französischen Kolonie Dahomey (heute Benin), aufgeteilt. Nach Art. 22 Abs. 5 VV wurde Togo als B-Mandat von Großbritannien und Frankreich verwaltet und entsprechend der Besatzungszonen zwischen beiden Staaten aufgeteilt. Das französische Mandatsgebiet behielt zunächst seine verwaltungsmäßige Unabhängigkeit als „Territoire du Togo" und wurde von einem „Commissaire de la

226 227 228

Gerstmeyer, S. 577. DeLancey/Mokeba, S. 6. Nachweise bei Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Kolonialpolitisches Quellenheft, 1935,

S. 158. 229

Jacob, Quellenheft, S. 158. 30 DeLancey/Mokeba, S. 6.

2

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

231

République Française" regiert, der direkt dem französischen Kolonialminister unterstellt war 2 3 1 ; ab 1936 wurde das Mandatsgebiet dem Gouverneur von Französisch· Westafrika unterstellt 232 . Das deutsche Recht wurde zwar während der Besetzung nicht ausdrücklich aufgehoben, aber wegen der vollständigen Ausweisung der deutschen Bevölkerung faktisch gegenstandslos. Formell wurde das französische Recht in vollem Umfang - ähnlich wie in Kamerun - erst durch ein Dekret vom 22. Mai 1924 im französischen Mandat Togo eingeführt; dies umfaßte alle Rechtsnormen, die vor dem 1. Januar 1924 in Französisch-Westafrika Gültigkeit hatten, insbesondere auch Code Civil und Code de Commerce, aber auch französisches Strafrecht 233. Auch das deutsche Grundstücksrecht wurde durch das französische Liegenschaftsrecht ersetzt und die Grundbücher nicht weitergeführt, sondern das schon erwähnte, in den übrigen französischen Kolonien vorherrschende Torrens-System eingefühlt, so daß demzufolge Eigentumsrechte in einem Liegenschaftsregister (bei einem „Conservateur de la Propriété Foncière") „immatrikuliert" (eingetragen) werden mußten, allerdings wurden Eintragungen in den früheren deutschen Grundbüchern als ausreichender Eigentumsnachweis anerkannt 234. Das Arbeitsrecht der einheimischen Bevölkerung wies keine substantiellen Änderungen zum Arbeitsrecht unter der deutschen Kolonialverwaltung auf, so daß hier auf die zum französischen Mandatsgebiet Kamerun gemachten Ausführungen verwiesen werden kann. Die Gerichtsverfassung wurde unter französischer Mandatsverwaltung neu geregelt, die Trennung zwischen Europäern und den Europäern gleichgestellten (naturalisierten) Einheimischen einerseits und Einheimischen andererseits wurde aber beibehalten. Für Europäer war in allen Zivilsachen und Strafsachen das „Tribunal de Premier Instance" in Lomé unter dem Vorsitz eines Einzelrichters zuständig, in Strafsachen entschied es als „Cour d'Assises" in der Besetzung von einem Richter und zweier Beisitzer 235 . Bei Streitwerten von mehr als 1500 Francs und bei schweren Straftaten war eine Berufung an das Berufungsgericht (Cour d'Appel) für Französisch-Westafrika in Dakar möglich, hiergegen wiederum konnte Revision beim Kassationsgericht (Cour de Cassation) in Paris eingelegt werden 236 . Die Gerichtsbarkeit für die einheimische Bevölkerung wurde 1922 eingeführt und lag grundsätzlich in den Händen der französischen Verwaltungsbeamten; Einheimische konnten nur als Beisitzer an den Entscheidungen mitwirken, einheimische Häuptlinge konnten lediglich als freigewählte Schiedsrichter in Zivilsachen 231 Theres, S. 34. 232 Theres, S. 34. 233 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 566. 234 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 568/569. 235 August Full, Fünfzig Jahre Togo, 1935, S. 105; Gerstmeyer, nien, S. 566. 236 Full, Togo, S. 105.

Frühere deutsche Kolo-

232

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

richterliche Befugnisse wahrnehmen 237. Davon abgesehen war in erstinstanzlichen Zivilsachen der Verwaltungsbeamte eines Unterbezirks (Subdivision) als „Tribunal de Subdivision" in Zivilsachen mit einem Streitwert von bis zu 1500 Francs und für kleinere Straftaten zuständig 238 . Der Verwaltungsbeamte eines übergeordneten Verwaltungsbezirks (Cercle) entschied als „Tribunal de Cercle" in Zivilsachen erstinstanzlich bei Streitwerten über 1500 Francs und als Berufungsinstanz bezüglich der Urteile der Tribunaux de Subdivision bei einem Streitwert über 300 Francs, ferner (als „Tribunal de Race") bei allen Vergehen und Verbrechen, die nicht zur Zuständigkeit der Tribunaux de Subdivision gehören 239 . Als Berufungsinstanz gegen die Urteile der Tribunaux de Cercle in Zivilsachen war das Berufungsgericht (Tribunal d'Appel) in Lomé zuständig. Das gleiche Gericht war in Strafsachen unter der Bezeichnung „Bestätigungsgericht" (Tribunal de Homologation) zuständig für Berufungen gegen Urteile über Freiheitsstrafe von mehr als 6 Monaten 240 . Die Verwaltung des französischen Mandatsgebietes stand unter der Leitung eines Kommissars („Commissaire de la République Française"), der durch einen Verwaltungsrat (Conseil d'Administration) unterstützt wurde; auf lokaler Ebene wurde das Mandatsgebiet in Cercles (Kreise) und Subdivisions (Unterbezirke), jeweils unter der Leitung eines französischen Verwaltungsbeamten (Commandant de Cercle), eingeteilt 241 . Auf der Ebene der Cercles wurde ein Beratungsorgan aus angesehenen einheimischen Häuptlingen (Conseil des Notables) zur Unterstützung des örtlichen Verwaltungsbeamten geschaffen; damit sollte die Akzeptanz der französischen Verwaltung bei der einheimischen Bevölkerung erhöht werden. Die Notabein konnten die Höhe der Kopfsteuer und die Verrichtung von Steuerarbeit festlegen, über die Gebühren zum Erwerb von Gewerbescheinen sowie über Hygienemaßnahmen beraten; die Themen ihrer Beratung wurden ihnen jedoch vom Commandant de Cercle vorgegeben 242. Die lokalen Häuptlinge (Chef de Canton), aber auch die Oberhäuptlinge des weniger entwickelten Nordens (Chef Supérieur) wurden von der französischen Kolonialverwaltung eingesetzt und damit die traditionelle Autorität durch die Autorität der französischen Mandats Verwaltung ersetzt 243 . Grundsätzlich waren die Mitwirkungsmöglichkeiten der einheimischen Häuptlinge neben der ebenfalls geringen Mitwirkungsmöglichkeiten im Conseil des Notables - gering und beschränkte sich auf die schon erwähnte Beisitzertätigkeit bei Ge237 238 239 240

Full, Togo, S. 106. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 567. Full, Togo, S. 105; Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 567. Full, Togo, S. 107.

241 Theres, S. 116. 242 Edward Graham Ν orris, S. 195. 243 Morris, S. 196/197.

Die Umerziehung des Afrikaners Togo 1895-1938, 1993,

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

233

richtsverhandlungen, die Eintreibung von Steuern und die Rekrutierung von Arbeitskräften für öffentliche Arbeiten 244 . Im französischen Mandatsteil wurde die deutsche Zivilbevölkerung, unter Verstoß gegen die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts, schon kurz nach der Besetzung durch französische Truppen nach Europa deportiert und die deutschen Unternehmen enteignet, die letzten deutschen Missionare verließen 1918 Togo 245 . Die vollständige Liquidation des deutschen Eigentums in Togo erfolgte durch Verordnung des französischen Staatspräsidenten vom 11. August 1920 246 . Gegen die französische Mandatsherrschaft regte sich in Togo Widerstand: insbesondere der im Süden ansässige Stamm der Ewe hatte in der deutschen Kolonialzeit von der florierenden Wirtschaft an der Togoküste profitiert und stellte einen Großteil der einheimischen Händler und Angestellten; nun wurden ihre Positionen von Einwanderern aus der französischen Kolonie Dahomey verdrängt, die neben den notwendigen französischen Sprachkenntnissen auch das Vertrauen der Mandatsmacht besaßen. Mit der 1929 erfolgten Gründung des „Bundes der Deutschen Togoländer" - der auch von privaten Geldgebern im Deutschen Reich unterstützt wurde - erhielten die Anhänger einer Rückkehr unter deutsche Kolonialherrschaft eine Interessenvertretung, die auch Ausdruck der damals vorherrschenden Ablehnung der französischen Mandatsherrschaft war 2 4 7 . Die französische Verwaltung hatte große Schwierigkeiten, den Franc als Zahlungsmittel in Togo durchzusetzen, da bis in die Mitte der 30er Jahre der Maria-Theresientaler und die Mark als beliebtes Zahlungsmittel bei der Bevölkerung frei zirkulierten 248 . Eingaben des „Bundes der Deutschen Togoländer" an den Völkerbund mit der Bitte um die Rückkehr unter deutsche Kolonialherrschaft blieben erfolglos; der Widerstand des Bundes führte 1939 zum Verbot und zur Ausweisung eines Teils der Anhänger in die benachbarte Goldküste, wo sie von den Briten interniert wurden 249 . Das britische Mandatsgebiet Togo wurde verwaltungsmäßig umfassend in den britischen Kolonialbesitz an der Goldküste (heute Ghana) eingegliedert und dabei aufgeteilt: die südliche Hälfte wurde als ein Teil der Ostprovinz der Kolonie Goldküste (Gold Coast Colony) verwaltet, die nördliche Hälfte wurde in das britische

244 Theres, S. 116/117. 245 Sebald, S. 614, 618/619. 246 Vgl. Verordnung des französischen Staatspräsidenten vom 11. August 1920 hinsichtlich der Liquidation deutschen Vermögens in Togo und Kamerun, veröffentlicht im Journal Officiel vom 28. August 1920, vgl. deutsche Übersetzung in DKB1. 1921, S. 23. 247 Samuel Decalo, Historical Dictionary of Togo, 3. Aufl., 1986, S. 75. 248 Decalo, S. 148. 249 Decalo, S. 75, die pro-deutsche Stimmung in Togo hielt aber - insbesondere nach dem französischen Zusammenbruch 1940 - während des gesamten Krieges an; noch 1960 anläßlich der Unabhängigkeitsfeiern von Togo wurde der letzte deutsche Gouverneur von Togo, Adolf Friedrich von Mecklenburg, als Ehrengast gefeiert, vgl. Decalo, S. 148.

234

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

Protektorat der „Nördlichen Territorien der Goldküste" (Northern Territories of the Gold Coast) eingegliedert 250. Ab 1923 wurde das wegen der Ausweisung der deutschen Bevölkerung 251 faktisch schon außer Kraft gesetzte deutsche Recht auch formell durch das Recht der Goldküste ersetzt 252 . Hierbei handelte es sich um das Common Law, die Grundsätze des englischen Billigkeitsrecht (Equity), englische Gesetze und Verordnungen, die vor dem 24. Juli 1874 in Kraft waren, sowie Rechtsnormen der Goldküste, die nach diesem Zeitpunkt erlassen wurden 253 . Demzufolge ersetzte das englische Grundstücksrecht die deutschen Regelungen (vgl. hierzu die Ausführungen zum britischen Mandatsgebiet Kamerun). Das Recht der Arbeitsverträge von Angehörigen der einheimischen Bevölkerung einschließlich der Regelungen hinsichtlich der Prügelstrafe wies keine substantiellen Änderungen zur Rechtslage zur Zeit der deutschen Kolonialverwaltung auf 2 5 4 . Die Gerichtsverfassung entsprach jener der Goldküste, wie unter der deutschen Kolonialverwaltung bestand eine Trennung der Gerichtsbarkeit für Europäer und Einheimische. Im südlichen Teil des Mandatsgebietes wurde die Gerichtsbarkeit für die europäische Bevölkerung in die Gerichtsverfassung der Kolonie Goldküste integriert und wich von der Gerichtsverfassung des nördlichen Teils, die auch diesbezüglich dem nördlichen Protektorat angegliedert wurde, ab. Im Süden war demzufolge als erste Instanz in Zivilsachen bis zu einem Streitwert von 100 Pfund Sterling und für kleinere Strafsachen (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder 100 Pfund Geldstrafe) der örtliche Verwaltungsbeamte eines Distriktes als District Commissioner's Court zuständig, die übrige erstinstanzliche Zuständigkeit in Zivilsachen sowie für mittelschwere Vergehen und Verbrechen (ζ. B. fahrlässige Tötung) lag bei dem Verwaltungsbeamten einer Provinz als (Provincial Commissioner's Court) 255 . Als erste Instanz bei schweren Verbrechen und als Berufungsinstanz gegen die Urteile der unteren Instanzen war das Obergericht (Supreme Court) der Kolonie Goldküste unter der Leitung eines Oberrichters (Chief Justice) mit dem Sitz in der Hauptstadt Accra zuständig; gegen dessen Urteile konnte Berufung bei dem seit 1928 bestehenden West African Court of Appeal in Accra oder - sofern der Streitwert 500 Pfund Sterling überstieg - beim Judicial Committee of the Privy Council in London eingelegt werden 256 . 250

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 570. 251 Das deutsche Eigentum in diesem Teil von Togo wurde nach einer Bekanntmachung

der britischen Kolonial Verwaltung der Goldküste vom 20. November 1920 enteignet (vgl.

Art. 121 VV i.V.m. Art. 297 b) VV) und

Anfang

1921 in Accra (Hauptstadt der Kolonie

Goldküste) versteigert, vgl. DKB1. 1921, S. 17.

252 British Sphere of Togoland Order in Council 1923, vgl. Report on the Administration under Mandatee of British Togoland, 1924, Colonial Office (Hrsg.), 1925, S. 12 ff. 253 Full, Togo, S. 103. 254 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 571. 255 Report on the Administration under Mandate 1924, S. 13/14.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

235

Im nördlichen Teil lag die Zuständigkeit des District Commissioner's Court in Zivilsachen bis 50 Pfund Sterling und des Provincial Commissioners's Court bis 300 Pfund Sterling; das Supreme Court hatte jedoch im nördlichen Protektorat keine Zuständigkeiten als Obergericht (d. h. als Berufungsinstanz), diese wurden vielmehr vom höchsten Verwaltungsbeamten der Nordterritorien unter der Bezeichnung „Chief Commissioner's Court" wahrgenommen. Lediglich schwere Straftaten kamen vor einen Richter des Supreme Court, der als Circuit Judge vor Ort verhandelte 257. Gegen Entscheidungen des Chief Commissioner's Court war ebenfalls die Berufung beim West African Court of Appeal oder beim Judicial Committee of the Privy Council möglich 258 . Die einheimischen Häuptlinge übten als Native Courts zusammen mit den Stammesältesten die erstinstanzliche Zivilgerichtsbarkeit für Einheimische, im südlichen Teil auch die Strafgerichtsbarkeit in Bagatellsachen unter der Aufsicht der District Commissioners aus, in den nördlichen Territorien bestand für die Strafgerichtsbarkeit zunächst die Zuständigkeit der District Commissioners 259, ab 1932 erhielten auch die Native Courts in den nördlichen Territorien die Zuständigkeit für kleinere Strafsachen 260. Die Mandatsgebiete wurden dem britischen Kolonialbesitz an der Goldküste verwaltungsmäßig angegliedert. Der südliche Teil wurde als Distrikt Ho unter der Leitung eines District Commissioners ein Teil der Ostprovinz der Kolonie Goldküste; die Gebiete des nördlichen Teils, die in das nördliche Protektorat integriert wurden, bildeten nun teilweise die Distrikte Ost-Dagomba und Kete-Kratchi, teilweise wurden einige Gebiete den schon bestehenden Distrikten Kusasi und SüdMamprussi angegliedert 261. Die Selbstverwaltungsbefugnisse der Einheimischen zeigten sich insbesondere bei den weitgehenden gerichtlichen Befugnissen ihrer Häuptlinge im Rahmen der Zivilgerichtsbarkeit nach einheimischem Recht, ferner stellten die Oberhäuptlinge (Head Chiefs) und die Dorfhäuptlinge (Village Chiefs), die von den britischen Verwaltungsbeamten ernannt wurden, ein wichtiges Bindeglied zur einheimischen Bevölkerung dar 2 6 2 . (Deutsch-)Neuguinea Nach der Besetzung durch australische Truppen kam das Gebiet von DeutschNeuguinea südlich des Äquators unter australische Militärverwaltung; während 256 257 258 259 260

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 570. Full, Togo, S. 103. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 570. Report on the Administration under Mandate 1924, S. 14/15. Full, Togo, S. 104.

261 Report on the Administration under Mandate 1924, S. 12. 262 Full, Togo, S. 104; Report on the Administration under Mandate 1924, S. 15.

236

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

dieser Zeit wurde das deutsche Recht - neben einzelnen von der Militärverwaltung erlassenen Vorschriften - aufrechterhalten 263. Der Völkerbundrat übertrug am 17. Dezember 1920 auf Australien das Mandat, das ehemalige Deutsch-Neuguinea südlich des Äquators (außer Nauru) als C-Mandat gemäß Art. 22 Abs. 6 VV zu verwalten; demzufolge konnte das Mandatsgebiet hinsichtlich der Gesetzgebung und Verwaltung weitgehend in Australien integriert werden. Grundlage der Mandatsverwaltung durch Australien bildete der vom australischen Parlament am 30. September 1920 erlassene New Guinea A c t 2 6 4 , der am 9. Mai 1921 in Kraft trat und als Verfassung des Mandatsgebietes angesehen wurde 265 . Neuguinea wurde von diesem Zeitpunkt an unter der Leitung eines australischen Administrators verwaltet, bei dem es sich um den Leiter der bisherigen Militärverwaltung handelte 266 Das formal noch geltende deutsche Recht wurde ab 9. Mai 1921 durch Regelungen, die aufgrund des New Guinea Act erlassen wurden, aufgehoben und das Recht des Mandatars eingeführt 267 . Hierbei handelte es sich im einzelnen um die Grundsätze des englischen Common Law sowie das durch die Rechtsprechung entwikkelte Billigkeitsrecht (Equity), die am 6. Mai 1921 geltenden Gesetze und Verordnungen des australischen Bundesstaates Queensland, sowie die für das Mandatsgebiet erlassenen Regelungen des australischen Parlaments und des Generalgouverneurs von Australien. Ferner hatten nun einige ausdrücklich genannte Gesetze von Australien sowie Verordnungen für das australische Papua-Territorium (das südlich des Mandatsgebiet gelegene Britisch-Neuguinea, Hauptstadt Port Moresby) im Mandatsgebiet Gültigkeit; weiterhin blieben auch die Regelungen der früheren Militärverwaltung weiter gültig, sofern sie nicht durch das neu eingeführte Recht gegenstandslos wurden - was bis 1929 überwiegend geschehen war 2 6 8 . Demzufolge entsprach das Seehandelsrecht und das Warenzeichenrecht dem - englisch geprägten - Recht von Australien, das Erbrecht dem Recht von Queensland und das Handels- und Gesellschaftsrecht dem Recht des Papua-Territoriums. Das Arbeitsrecht hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse mit der einheimischen Bevölkerung (insbesondere hinsichtlich der Plantagenarbeiter) wurde nach der australischen Besetzung zunächst durch eine am 14. Juli 1915 von der Militärverwaltung in Kraft gesetzten Vorschrift modifiziert; diese Verordnung basierte auf einem Entwurf der deutschen Kolonialverwaltung, der dem Gouvernementsrat An-

263

Ann Turner, Historical Dictionary of Papua New Guinea, 1994, S. 31. 264 The Laws of the Territory of New Guinea 1921-1945 (annotated), Bd. 1, „Administration and Government" bis „Courts", Sydney, 1947, S. 5 ff. 265 Albert Hahl, Deutsch-Neuguinea, 1936, S. 73. 266 Lucy Philip Mair, Australia in New Guinea, 2. Aufl., 1970, S. 13. 267 Laws Repeal and Adopting Ordinance des Generalgouverneurs des Australischen Bundes (Australien) vom 6. Mai 1921, vgl. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 609; Hahl, S. 75. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 6 .

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

237

fang 1914 vorgelegt worden war 2 6 9 , und enthielt vorwiegend Änderungen hinsichtlich der Prügelstrafe bei den (meist melanesischen) Plantagenarbeitern, die Garantie eines Mindestlohnes und Regelungen hinsichtlich der Anwerbung von Arbeitskräften; insgesamt beinhaltete der Entwurf eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse der melanesischen Arbeiter. Beeinflußt von dem Wunsch der deutschen Plantagenbesitzer und Handelsunternehmen nach einer Profitmaximierung (nun nicht mehr durch Arbeiterschutzverordungen der deutschen Kolonialverwaltung beschränkt), aber auch in dem Bewußtsein, aus Neuguinea ein „profitables Unternehmen" zu schaffen, ersetzte die australische Militärverwaltung schon 1917 die Verordnung von 1915 durch neue, auslegungsfähigere Regelungen, die insbesondere den garantierten Mindestlohn herabsetzten und die Anwerbung von Arbeitskräften der staatlichen Kontrolle fast völlig entzogen270. Insgesamt verschlechterte sich die Lage der Plantagenarbeiter während der Zeit der Militärverwaltung, da die australischen Militärbehörden die Kontrolle der deutschen Kolonialbehörden nur unzureichend ersetzen konnte 271 . Nach einem kurzfristigen Verbot der Prügelstrafe 1919 wurde sie 1920 im Rahmen einer Neuordnung des Arbeitsrechts wieder eingeführt 272 . Grundsätzlich entsprachen die nun geltenden Regelungen hinsichtlich der Anwerbung von Arbeitskräften, der Garantielöhne und des Verbots der Naturalleistung von Löhnen, der Schriftform des Vertrages und der Prügelstrafe den Regelungen unter deutscher Kolonialherrschaft 273. Allerdings zeigte das Arbeitsrecht auch Verschärfungen, die einer Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung Vorschub leistete; so war die Beschäftigung von einheimischen Kindern erlaubt, ferner konnten Plantagenarbeiter durch Arbeitsverträge von bis zu 3 Jahren Dauer gebunden werden 274 . Das Liegenschaftsrecht wurde durch eine Verordnung des Generalgouverneurs von Australien von 1924 für das Mandatsgebiet neu geregelt: das deutsche Grundstücksrecht wurde abgeschafft und das Grundbuch durch das Liegenschaftsregister nach dem in den britischen Kolonien weit verbreiteten Torrens-System ersetzt 275 . Die Gerichtsverfassung unter der Mandatsherrschaft wurde 1921 neu geordnet 2 7 6 , dabei aber die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Europäern und Ein-

269 Zu der für Anfang 1915 geplante E i n f ü h r u n g durch die deutsche Kolonial Verwaltung kam es jedoch wegen der Besetzung durch australische Truppen nicht mehr, vgl. Hahl, S. 76; die Tatsache, das der deutsche Entwurf die Grundlage für die Verordnung der Militärbehörden bildete, wurde auch offiziell bestätigt, vgl. Mair, S. 180. 270 Hiery, S. 305. 271 Turner, S.W. 272 Native Labour Consolidation Ordinance vom 1. Dezember 1920, vgl. Hahl, S. 77. 273 274 275 276 Hahl,

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 612/613. Mair, S. 181. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 609/610. Judiciary Ordinance des Generalgouverneurs von Australien vom 6. Mai 1921, vgl. S. 75.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

heimischen beibehalten. Für erstinstanzliche Zivilsachen mit einem Streitwert bis 100 Pfund Sterling und kleine und mittlere Straftaten wurden für jeden Verwaltungsbezirk (Districts) District Courts unter dem Vorsitz des leitenden Verwaltungsbeamten (District Officer) eingeführt; dies entsprach der Sache nach den Gerichtsbefugnissen eines Bezirksamtmannes in seinem Bezirk zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft 277. Als Besonderheit wurde auch ein Gericht mit der ausschließlichen Zuständigkeit für Bergbauangelegenheiten („Warden's Court") eingerichtet. Für alle übrigen erstinstanzlichen Sachen und als Berufungsinstanz war der Central Court in Rabaul unter dem Vorsitz eines Berufsrichters zuständig; Berufung gegen dessen Urteile konnte beim High Court von Australien eingelegt werden 2 7 8 . Die Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung in Straf- und Zivilsachen wurde nach der Besetzung durch australische Truppen nun nicht mehr durch einheimische Autoritäten (Luluai) 279 , sondern überwiegend durch den leitenden Verwaltungsbeamten (District Officer) des jeweiligen Verwaltungsbezirks (District) als „Court for Native Affairs" ausgeübt; statt des District Officers konnten auch andere Persönlichkeiten als Richter vom Administrator bestellt werden. Die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an der Gerichtsbarkeit beschränkte sich auf die Befugnis der Dorfältesten (wobei es sich um Luluai, also von der Verwaltung ernannte Dorfälteste / Regierungshäuptlinge handelte) in einigen weiter entwickelten Teilen der Inseln Neu-Britannien (Neu Pommern) und Neu Irland (Neu-Mecklenburg) im Bismarck-Archipel, über geringfügige Streitigkeiten zu entscheiden280. An der Spitze der Verwaltung des Mandatsgebietes stand ein vom Generalgouverneur von Australien eingesetzter Administrator, dem ein aus Verwaltungsbeamten bestehender beratender Beirat (Advisory Council) zur Seite stand. Die Rechtsetzungsbefungnis des Administrators beschränkte sich auf den Erlaß von Ausführungsbestimmungen (Regulations) hinsichtlich der Verordnungen des Generalgouverneurs. Weitere gesetzgebende Körperschaften bestanden zunächst nicht, so daß die entscheidenden Befugnisse hinsichtlich der Verwaltung und Gesetzgebung im Mandatsgebiet beim Generalgouverneur von Australien lagen 281 . Durch eine Änderung des New Guinea Acts vom 28. November 1932, der in dieser geänderten Form am 2. Mai 1933 in Kraft trat, wurde die Selbstverwaltung des Mandatsgebietes gestärkt. Nun wurde ein 9-köpfiger Verwaltungsrat (Executive Council) eingeführt, der den Advisory Council ersetzte. Der Executive Council setzte sich aus 8 Verwaltungsbeamten („Official Members") und einem Mitglied der gleichzeitig eingerichteten gesetzgebenden Versammlung zusammen und hatte die Aufgabe, 277 278 279 280

Hahl, S. 75. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 608. Siehe aber unten, Β. I. 2. b) ee). Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 608/609.

281 Mair, S. 13.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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den Administrator bei allen Fragen zu beraten, die ihm vom Administrator vorgelegt wurden; allerdings konnte der Administrator sich über die Beschlüsse des Executive Councils hinwegsetzten, mußte dies aber gegenüber dem Generalgouverneur rechtfertigen 282. Gleichzeitig mit der Einführung des Executive Council wurde die Verordnungsbefugnis des Generalgouverneurs auf eine neugeschaffene 16köpfige gesetzgebende Körperschaft (Legislative Council) übertragen, der sich zusammensetzte aus dem Administrator, den 8 „Official Members" des Verwaltungsrates und 7 weiteren Europäern des Mandatsgebietes, die vom Administrator bestimmt wurden 283 . Für die lokale Verwaltung wurde das Mandatsgebiet in Verwaltungsbezirke (Districts) unter der Leitung von District Officers eingeteilt, die, wie schon erwähnt, auch die Gerichtsbarkeit ausübten284; die Einteilung der Districts entsprach im wesentlichen der Bezirkseinteilung zu deutschen Kolonialzeit 285 . Die begrenzte Selbstverwaltung der einheimischen Bevölkerung durch Luluai (von der Verwaltung ernannte Dorfälteste / "Regierungshäuptlinge") wurde zwar beibehalten, aber vernachlässigt und demgegenüber der Aufbau einer Verwaltung der einheimischen Bevölkerung durch einen Stab von australischen Verwaltungsbeamten forciert; der verwaltungsmäßige Zusammenschluß mit dem ebenfalls durch Australien verwalteten Papua-Territorium kam demgegenüber vor Beginn des zweiten Weltkrieges nicht mehr zustande286. Wie in den meisten anderen Mandatsgebieten wurde auch in Neuguinea 1921 entsprechend der Ermächtigung des Art. 122 W e i n großer Teil der deutschen Zivilbevölkerung ausgewiesen und Einreisebeschränkungen für Deutsche eingeführt 287 , die erst 1931 wieder aufgehoben wurden; 1933 zählte man wieder ca. 380 Deutsche in Neuguinea, davon ca. 280 Missionare 288 . Die deutschen Pflanzungsgesellschaften sowie das Eigentum der ausgewiesenen Zivilbevölkerung wurden 1920 enteignet 289 und die Plantagen durch eine Enteignungsbehörde (Expropriation Board) an den Meistbietenden, meist einer der großen britischen oder australischen Pflanzungsgesellschaften, versteigert 290. Auch die deutschen Missionen wurden 1926 enteignet und einem Treuhänder übergeben, bei dem es sich - ent282 New Guinea Act 1932, Section 12, in: The Laws of the Territory of New Guinea, Bd. 1, S. 8. 283 New Guinea Act 1932, Section 19, in: The Laws of the Territory of New Guinea, Bd. 1, S. 10. 284 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 607. 285 Hahl, S. 75. 286 Mair, S. 34,14/15. 287 Deportation Ordinance des australischen Oberbefehlshabers vom 13. April 1921, in: The Laws of the Territory of New Guinea, Bd. 2, S. 1999; die deutschen Kolonialbeamten konnten noch während des Krieges über Australien nach Deutschland zurückkehren, vgl. Hiery, S. 304. 288 Ernst Gerhard Jacob (Hrsg.), Deutsche Kolonialpolitik in Dokumenten, 1938, S. 563. 289 Vgl. Expropriation Ordinance vom 1. September 1920, vgl. DKB1. 1921, S. 27. 290 Turner, S. 8, 31.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

sprechend der Vorgaben des Art. 438 VV - um eine andere Missionsgesellschaft der gleichen Konfession handelte, bei katholischen Missionen hatte der apostolische Vertreter in Australien ein Mitspracherecht 291. Unter der Mandatsherrschaft kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Durch das restriktivere Arbeitsrecht für die einheimischen Plantagenarbeiter konnten die Plantagen mehr Kopra, Kakao, Gummi, Kaffee, Palmöl und Tee erwirtschaften; auch die ersten Goldfunde 1926 trugen zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur beschleunigten Erschließung des Landes bei 2 9 2 . Erst 1933 wurde durch Goldprospektoren das zentrale, dicht besiedelte Hochland von Neuguinea entdeckt, ein Gebiet, das zwar nominell zum Einflußbereich von Deutsch-Neuguinea gehörte, tatsächlich aber völlig unerforscht war 2 9 3 . Im März 1942 wurde der größte Teil des Mandatsgebietes von japanischen Truppen besetzt und im April 1942 der restliche unter australischer Kontrolle befindliche Teil des Mandatsgebietes zusammen mit dem Papua-Territorium unter eine einheitliche (militärische) Verwaltung gestellt 294 , nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Verwaltungseinheit unter einer Zivilverwaltung fortgesetzt. Nauru Nach der militärischen Besetzung der Insel Nauru 1914 durch australische Truppen stand die Insel zunächst unter australischer Militärverwaltung, durch Mandatsvertrag vom 17. Dezember 1920 wurde Nauru als C-Mandat gemäß Art. 22 Abs. 6 VV auf Großbritannien übertragen; die Verwaltung als C-Mandat ermöglichte die weitgehende Integration in die Verwaltung des Mandatars 295. Durch eine vertragliche Vereinbarung zwischen Großbritannien, Australien und Neuseeland wurde die Verwaltung auf einen australischen Administrator übertragen und die Ernennung eines neuen Administrators von der Zustimmung der Regierungen der drei beteiligten Staaten abhängig gemacht. Dieser Einfluß von Großbritannien, Australien und Neuseeland auf die Verwaltung von Nauru erklärt sich daraus, daß die Kosten der Verwaltung von den Einnahmen aus dem Abbau der Phosphatlager auf der Insel, an denen alle drei Staaten prozentual beteiligt waren, bestritten werden sollten 2 9 6 . Trotz der Beteiligung dieser drei Staaten war jedoch der Einfluß Australiens am größten, insbesondere hinsichtlich Rechtsordnung, Verwaltung und Gerichtsverfassung. So wurde mit Wirkung zum 23. September 1922 nicht nur das deutsche Recht beseitigt, sondern gleichzeitig als neues geltendes Recht neben dem engli291

German Missions Ordinance vom 23. Februar 1926, in: The Laws of the Territory of New Guinea, Bd. 1, S. 183. 292 Turner, S. 33; die Goldfunde führten aber auch zu „goldrauschähnlichen" Auswüchsen zu Lasten der einheimischen Bevölkerung, vgl. Mair, S. 193. 29 3 Turner, S. 32. 294 295

Australian New Guinea Administrative Unit (ANGAU), vgl. Turner, S. 33. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 614. Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 6 4 .

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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sehen Common Law und Billigkeitsrecht (Law of Equity) auch das australische Zivil- und Handelsgesetze sowie vereinzelte Gesetze und Verordnungen des australischen Bundesstaates Queensland (soweit am 1. Juli 1921 in Kraft) sowie des australischen Papua-Territoriums eingeführt 297 . Die Übertragung des - ebenfalls englisch geprägten - Grundstücksrechts hatte keinerlei Bedeutung, da das Land schon zur deutschen Kolonialzeit nach einheimischem Recht im Eigentum der einheimischen Bevölkerung stand und sich daran auch unter der Mandatsherrschaft nichts änderte; Land zur Phosphatgewinnung wurde wie zur deutschen Kolonialzeit von den einheimischen Eigentümern gepachtet 298 . Das Arbeitsrecht entsprach dem Arbeitsrecht im australischen Mandatsgebiet Neuguinea. Die Insel wurde von einem australischen Administrator verwaltet, der auch zum Erlaß von Verordnungen mit Gesetzeskraft befugt war, die jedoch unter dem Vorbehalt der Genehmigung der australischen Regierung standen. Dem Administrator stand ein Advisory Council beratend zur Seite, eine lokale Verwaltung existierte wegen der geringen Ausmaße der Insel nicht. Abweichend von der Zweiteilung der Gerichtsbarkeit unter deutscher Kolonialherrschaft unterlagen nun Europäer und Einheimische der gleichen Gerichtsbarkeit, bei Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung von Einheimischen wurde jedoch einheimisches Recht angewendet, soweit es nicht grundsätzlichen europäischen Rechtsprinzipien entgegenstand. Für kleinere Straftaten und Zivilstreitigkeiten bis zu einem Streitwert von 15 Pfund Sterling wurde ein District Court unter der Leitung eines Beamten eingerichtet, für Berufungen gegen dessen Urteile sowie alle weiteren erstinstanzlichen Fälle bestand ein Central Court unter dem Vorsitz des Administrators (eines Verwaltungsbeamten), gegen dessen Urteile keine Berufung möglich war 2 9 9 . Insgesamt hatte bei der (bis zur Besetzung durch japanische Truppen 1942 bestehenden) Mandats Verwaltung von Nauru die Ausbeutung der Phosphatminen Vorrang und drängte die Frage der Entwicklung der Insel in den Hintergrund. Samoa Samoa wurde 1914 von neuseeländischen Truppen besetzt und die deutschen Kolonialbeamten in Neuseeland interniert 300 . Der Völkerbund übertrug das Mandat durch Mandatsvertrag vom 17. Dezember 1920 auf Neuseeland, Samoa wurde als C-Mandat i. S. d. Art. 22 Abs. 6 VV von diesem Zeitpunkt an durch einen neusee-

297 Laws Repeal and Adopting Ordinance Nr. 8 des Administrators vom 23. September 1922, Nachweise bei Hahl, S. 38. 29 8 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 615. 299

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 614. 300 Hiery, S. 304.

16 Fischer

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

ländischen zivilen Administrator verwaltet. 1921 wurde das gesamte deutsche Recht in Samoa aufgehoben und durch in Neuseeland geltendes Recht ersetzt 301 . Auch das deutsche Grundstücksrecht wurde aufgehoben und durch neuseeländisches Grundstücksrecht ersetzt, Grundeigentum wurde nun bei einem Grundstücksregister (Registrar of Land) registriert. Dies galt aber nur für öffentliches Land (Kronland) und Grundstücke von Europäern, während die durch die Verordnung des Gouverneurs vom 25. Februar 1903 302 eingerichtete Land- und Titelkommission (nunmehr in „Native Land and Titles Commission" umbenannt)303 die Streitigkeiten um Landrechte zwischen samoanischen Familien und Clans wie zur deutschen Kolonialzeit schlichtete 304 ; 1937 erfolgte eine neuerliche Umbenennung in „Native Land and Titles Court" 305 . Die spärlichen arbeitsrechtlichen Regelungen hinsichtlich der Plantagenarbeiter betrafen fast ausschließlich die angeworbenen chinesischen Arbeiter, nicht die einheimische samoanische Bevölkerung. In der Regel wurden chinesische Arbeiter für eine dreijährige Tätigkeit angeworben und nach Ablauf wieder zurückgebracht; zur Vertretung der Interessen der chinesischen Arbeiter wurde ein „Chinesenkommissar" eingesetzt, der bei kleineren Rechtsstreitigkeiten die Gerichtsbarkeit über die Chinesen ausübte, wobei er dabei als Beamter des High Court of Western Samoa (siehe unten) fungierte 306 . Neu aufgebaut wurde auch die Gerichtsorganisation, grundsätzlich unterstand die einheimische Bevölkerung der Gerichtsbarkeit für Europäer, sofern nicht bei kleineren Rechtsstreitigkeiten eine Zuständigkeit der schon zur deutschen Zeit tätigen traditionellen einheimischen Richter (Faamasino) bestand. Als einziges Gericht wurde ein High Court of Western Samoa eingerichtet, der in allen erstinstanzlichen Straf- und Zivilsachen in der Besetzung von einem oder mehreren Berufsrichtern entschied, allerdings wurden zur Erledigung von Bagatellsachen auch Verwaltungsbeamte (Commissioners) beauftragt, bei Prozessen, an denen Einheimische beteiligt waren, war der Secretary for Native Affairs im „Native Department" 301

Durch den Samoa Act 1921 wurde englisches Recht (Common Law und Law of Equity), das am 14. Januar 1840, dem Gründungstag der Kolonie Neuseeland, in Kraft war, ferner einige neuseeländische Gesetze und Verordnungen, in Samoa eingeführt, ferner galten Gesetze und Verordnungen, die vom Administrator des Mandatsgebietes erlassen wurden, vgl. Report by the New Zealand Government to the General Assembly of the United Nations of the Administration of Western Samoa for the Year ending 31 March 1950, Department of Island Territories (Hrsg.), 1950, S. 22/23. 302 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Ernennung einer Land- und Titelkommission, vom 25. Februar 1903, DKB1. 1903, S. 200, ersetzt durch die Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Land- und Titelkommission, vom 23. Januar 1911, DKB1. 1911, S. 620; vgl. Hiery, S. 114. 3 05 Craig/King, S. 333. 304

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 617, 718. 05 Report by the New Zealand Government 1950, S. 24. 506 Gerstmeyer, S. 620. 3

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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der zentralen Verwaltung zuständig. Gegen Urteile des High Court (in Strafsachen bei schweren Straftaten, in Zivilsachen bei einem Streitwert von über 200 Pfund Sterling) war die Einlegung einer Berufung beim Supreme Court von Neuseeland zulässig, eine weitere Berufung war nicht möglich. Bei kleineren Zivilrechtsstreitigkeiten (bis zu einem Streitwert von 5 Pfund Sterling) und Strafsachen (ζ. B. Diebstahl mit einem Schaden von weniger als 2 Pfund Sterling) unter ausschließlicher Beteiligung Einheimischer bestand die Zuständigkeit einheimische Richter (Faamasino)307. Die Verwaltung des Mandatsgebietes Samoa stand unter der Leitung eines neuseeländischen Administrators in der samoanischen Hauptstadt Apia, der vom Generalgouverneur von Neuseeland ernannt wurde und dem neuseeländischen Außenministerium unterstand. Rechtsvorschriften konnten vom Administrator (als Ordinances), vom Generalgouverneur (als Orders in Council) und in beschränktem Maße auch von einem Legislative Council, der sich aus Beamten und anderen angesehenen Europäern zusammensetzte, erlassen werden 308 . Die Selbstverwaltungsbefugnisse der einheimischen Bevölkerung blieben wie zur deutschen Kolonialzeit erhalten; auf der Ebene der Dörfer lag die Verwaltung weiterhin in den Händen der gewählten einheimischen Orts Vorsteher (Pulenuu). Der Administrator wurde in den Angelegenheiten der einheimischen Bevölkerung von zwei angesehenen Häuptlingen (Fautuas) sowie von einem Gremium aus einheimischen Vertretern (Native Council) beraten. Diese Vertreter (Faipule) repräsentierten die verschiedenen Landschaften von Samoa und wurden vom Administrator ernannt . Entsprechend der Ermächtigungen des Versailler Vertrages wurde die gesamte deutsche Zivilbevölkerung ausgewiesen und ihr Eigentum (Grundbesitz, Geld, Forderungen) enteignet310. Palau-Inseln, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln Das Inselgebiet, also die Karolinen, Marianen, Palau-Inseln und Marshall-Inseln wurde 1914 von japanischen Truppen erobert 311 . Unmittelbar nach der Besetzung wurde eine Militärverwaltung mit dem Hauptsitz in Truk (Karolinen) aufgebaut 312. Durch Mandatsvereinbarung vom 20. Dezember 1920 erhielt Japan das militärisch besetzte Inselgebiet als C-Mandat und damit die Befugnis zur weitgehenden Ein307 Report by the New Zealand Government 1950, S. 23. 308 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 615. 309 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 617. 310 Vgl. Bekanntmachung des Administrators von West-Samoa von 1920, vgl. DKB1. 1921, S. 21. 311 Hardach, S. 200. 312 Grant Κ. Goodman/Felix Moos (Hrsg.), The United States and Japan in the Western Pacific: Micronesia and Papua New Guinea, 1981, S. 37. 1*

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

gliederung in das japanische Rechts- und Verwaltungssystem. Hiervon machte Japan ausgiebig Gebrauch: durch kaiserliche Verordnung wurde 1923 das japanische Zivilgesetzbuch, das gesamte Handelsrecht und das Strafgesetzbuch im Mandatsgebiet eingefühlt und gleichzeitig das formell noch geltende, faktisch aber längst gegenstandslos gewordene deutsche Recht aufgehoben 313. Zwar wurde damit auch das deutsche Liegenschaftsrecht außer Kraft gesetzt, ein neues Grundstücksregister jedoch nicht eingeführt und die zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft erworbenen Grundstücksrechte grundsätzlich anerkannt; Grundbesitz durfte nunmehr jedoch nur noch von der japanischen Regierung erworben werden, selbst die Landpacht bedurfte der Genehmigung der japanischen Behörden 314 . Das Mandatsgebiet stand noch bis Anfang 1922 unter japanischer Militärverwaltung und damit unter der Aufsicht des japanischen Marineministeriums, erst 1922 wurde es der Zivilverwaltung unterstellt und von nun an durch ein neu gegründetes „Südseebüro" (Nanyo Cho) verwaltet 315 . Die Leitung des Südseebüros und damit des Mandatsgebietes unterstand einem Direktor (im Range eines Generals), der Koror (Palau-Inseln) zu seinem Verwaltungssitz wählte; der Direktor des Südseebüros war wiederum dem Premierminister von Japan, bei einigen Verwaltungsressorts (Post, Finanzen, Landwirtschaft) den japanischen Ressortministern unmittelbar unterstellt 316 . Der Direktor des Südseebüros war zum Erlaß von Rechtsverordnungen befugt, die wichtigsten Rechtsvorschriften für das Mandatsgebiet wurden jedoch als Kaiserliche Verordnungen (des Kaisers von Japan) erlassen 317. Die Einteilung des Mandatsgebietes in 6 Distrikte (Saipan, Yap, Palau, Truk, Ponape und Jaluit), die schon 1915 durch die japanische Militärverwaltung unter Orientierung an die deutschen Bezirke und Stationsgebiete vorgenommen wurden, bestand unverändert auch unter der Mandatsherrschaft, die Stationen der Distrikte firmierten jedoch nun als Zweigniederlassungen 318 des Südseebüros unter der örtlichen Leitung eines japanischen Verwaltungsbeamten 319. Ahnlich wie zur Zeit der deutschen Kolonialverwaltung fungierten die einheimischen Dorfhäuptlinge als Bindeglied zwischen den lokalen Verwaltungsbehörden und der einheimischen Bevölkerung. Die einheimischen Gemeindevorsteher und Dorfhäuptlinge wurden vom jeweiligen Leiter der örtlich zuständigen Zweignie-

313

Verordnung des Kaisers von Japan Nr. 26 vom 26. Januar 1923, vgl. Gerstmeyer, here deutsche Kolonien, S. 606; Goodman/Moos, S. 38. 314 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 606/607. 315 Goodman/Moos, S. 38.

Frü-

3

16 Hahl, S. 44-46.

317

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 605. Trotz der handelsrechtlich anmutenden Bezeichnung handelte es sich um einen Teil der japanischen Verwaltung. 319 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 605. 318

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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derlassung ernannt und fest besoldet; sie hatten die Aufgabe, die Weisungen der lokalen Verwaltungen auszuführen und der japanischen Mandatsverwaltung regelmäßig Bericht zu erstatten, insbesondere hinsichtlich der Verbreitung von Krankheiten, des Auftretens von Schädlingen in der Landwirtschaft, größeren Unglücksfällen, etc. 320 . Nennenswerte Kompetenzen, die als Selbstverwaltung bezeichnet werden konnten, hatten die einheimischen Gemeindevorsteher aber nicht, so daß sich die Tendenz zur unmittelbaren Verwaltung durch die japanische Mandats Verwaltung zur eher mittelbaren Verwaltung unter deutscher Kolonialherrschaft deutlich abhebt. Die unmittelbare Verwaltung durch die japanische Mandatsmacht erforderte jedoch mehr Personal; während die deutsche Kolonial Verwaltung mit ca. 25 Deutschen das gesamte mikronesische Inselgebiet kontrollieren konnte, benötigte die japanische Mandats V e r w a l t u n g ca. 600 V e r w a l t u n g s b e a m t e 3 2 1 . Die Tendenz zur unmittelbaren Verwaltung im japanischen Mandatsgebiet zeigte sich auch im Aufbau der Gerichtsbarkeit: als Gerichte erster Instanz in Zivil- und Strafsachen wurden drei Lokalgerichte in Palau, Saipan und Ponape eingerichtet, die für Japaner (und Europäer) und Einheimische gleichermaßen zuständig waren. Das gerichtliche Verfahren folgte grundsätzlich dem japanischen Prozeßrecht, ebenso wie das materielle Recht; lediglich bei ausschließlicher Beteiligung Einheimischer am Verfahren konnte einheimisches Recht angewendet werden 322 . Dort, wo sich kein Lokalgericht befand, war als Richter der Leiter der Zweigstelle des Südseebüros in einfachen Zivil- und Strafsachen zuständig; als Berufungsgericht gegen Entscheidungen der Lokalgerichte und der örtlichen Verwaltungschefs wurde ein mit 3 Richtern besetztes Obergericht in Koror (Palau-Inseln) eingesetzt; die Entscheidungen des Obergerichts waren endgültig 323 . Die nach dem Ende des ersten Weltkrieges noch verbliebene deutsche Bevölkerung wurde 1920 ausgewiesen (Art. 122 V V ) 3 2 4 . Die japanische Mandats Verwaltung war geprägt von der wirtschaftlichen Ausbeutung des Mandatsgebietes; japanische Handelsgesellschaften, die sich überwiegend in der Hand des japanischen Staates befanden, wie die „Südsee-Entwicklungsgesellschaft" (Nanyo Kohatsu Company) oder die Südsee-Handelsgesellschaft (Nanyo Boeki Company), kontrollierten die Plantagenwirtschaft, den Einzelhandel, die Fährverbindungen zwischen den Inseln und den Fischfang. Eine staatseigene Gesellschaft betrieb den Abbau der reichhaltigen Phosphatlager auf den Palau-Inseln325. Flankiert wurde die wirtschaftlich intensive Nutzung durch eine aggressive japanische Siedlungspolitik im Mandatsgebiet: die Einwanderung von Japanern insbesondere auf den Marianen sollte den japanischen Handelsgesell320 Hahl, s. 50. 321 Goodman/Moos, S. 38. 322 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 605/606. 323 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 605. 324 Hardach, S. 203. 325 Goodman/Moos, S. 39.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

Schäften verläßliche japanische Arbeitskräfte bringen und wurde durch die japanische Regierung, die umfangreichen Grundbesitz ankaufte und an japanische Siedler zuteilte, weiter unterstützt. In den Schulen wurde ausschließlich auf japanisch unterrichtet und damit die kulturelle Überfremdung weiter gefördert. Als Ergebnis einer aggressiven Siedlungspolitik lebten 1935 neben den ca. 50.000 Einheimischen schon ca. 40.000 Japaner im Mandatsgebiet326. Ab Ende der dreißiger Jahre wurden die mikronesischen Inseln auch militärisch ausgebaut - ein klarer Verstoß gegen Art. 22 Abs. 6 VV - und die Japanisierung durch die Stationierung von japanischen Soldaten noch unterstützt 327. Insgesamt entsprach die japanische Verwaltung des mikronesischen Inselgebietes nicht dem Geist einer treuhänderischen Mandatsverwaltung im Sinne des Versailler Vertrages; der Vergleich mit einer japanischen Provinz Verwaltung dürfte wohl zutreffend sein 328 .

b) Spuren der deutschen Rechtsordnung nach 1919 aa) Übernahme von Teilen des deutschen kolonialen Steuersystems in Ostafrika /Tanganyika

Im britischen Mandatsgebiet Tanganyika, dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika, wurde auch nach der generellen Abschaffung des deutschen Rechts durch die Tanganyika Order in Council 1920 die Häuser- und Hüttensteuer beibehalten; in den nun neu gegründeten Stadtgemeinden (Townships) bildete die Häusersteuer eine der Haupteinnahmequellen329; ferner wurden in den Stadtgemeinden wie zur Zeit der deutschen Kolonialverwaltung die zu besteuernden Häuser in verschiedene Klassen (Hütten nach Art der Einheimischen oder der Inder bzw. Häuser von Europäern) eingeteilt 330 . Die von der einheimischen Bevölkerung ungeliebte Hüttensteuer außerhalb der Stadtgemeinden wurde 1934 abgeschafft und durch eine als „Native Tax" bezeichnete Steuer ersetzt; hier richtete sich die Besteuerung nun nach dem Einkommen und dem Viehbestand des Einheimischen - eine Vorstufe der modernen Einkommensteuer, die zunächst nur in den am weitesten entwickelten Gebieten eingeführt wurde, später in allen ländlichen Regionen des Mandatsgebietes 331 . In den Stadtgemeinden blieb die Häusersteuer auch weiterhin bestehen; 326 Hahl, S. 51; besonders augenfällig war dieses Mißverhältnis auf den Marianen, wo sich 1937 die Bevölkerung zu 90% aus eingewanderten Japanern, aber nur zu 9% aus Einheimischen zusammensetzte, vgl. Hardach, S. 204. 32 7 Hardach, S. 204. 328 Hahl, S. 45. 329

Die Stadtgemeinden im britischen Mandatsgebiet Tanganyika hatten jedoch, wie schon erwähnt, kaum Selbstverwaltungsbefugnisse;, vgl. auch Arning, S. 76. 330 Municipal House Tax Ordinance vom 22. September 1922, Nachweise bei Franz, S. 79.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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städtische Gebäude konnten mit einer jährlichen Steuer von bis zu 15% ihres Ertragswertes besteuert werden 332 . Die städtische Häusersteuer wurde als „Urban House Tax" auch nach der Unabhängigkeit im Jahre 1961 als Pendant zur Erhebung einer Grundsteuer auf ländliche Grundstücke weiterhin erhoben 333 ; sie existiert in Tansania auch heute noch 334 . Wie schon erwähnt, bestanden seit 1924 eigene Gerichte der einheimischen Bevölkerung (Native Courts), deren Urteile faktisch wie zur deutschen Kolonialzeit von den einheimischen Stammesoberhäuptern (Sultane), aber auch von den wie zur deutschen Kolonialzeit fest besoldeten einheimischen Beamten (Akiden, Kadi, Li wali) gefällt wurden 335 . Auch die Funktion des örtlich zuständigen Verwaltungsbeamten (District Officer) als Aufsichts- und Berufungsinstanz hinsichtlich der Tätigkeit der Native Courts gleicht den Aufsichtsbefungissen des Bezirksamtmannes oder Stationsleiters unter deutscher Kolonialherrschaft 336 Faktisch behielt die einheimische Bevölkerung ihre Selbstverwaltungsbefugnisse hinsichtlich der unteren Gerichtsbarkeit auch unter der Mandatsherrschaft. Nach der Unabhängigkeit von Tanganyika 1961 bzw. von Tansania 1964 337 wurde eine einheitliche Gerichtsbarkeit (ohne Trennung zwischen Europäern und Einheimischen) nach britischem Vorbild aufgebaut 338, allerdings unterliegt auch im neuen Staat Tansania die Unabhängigkeit der Justiz weiterhin der Einflußnahme der Exekutive, nun jedoch durch die Parteifunktionäre des herrschenden Einparteiensystems 339. Von den Gerichten des Mandatsgebietes wurde deutsches Recht für Altfälle für eine Ubergangszeit (bis ca. 1930) angewendet; hierzu wurde ein Spezialgericht (Special Tribunal) beim High Court eingerichtet 340.

331

Peter A. Dumbuya, Tanganyika under International Mandatee 1919-1946, 1995,

S. 239. 332

Gunzert, S. 78, 84.

333

Ausführlich Eugene C. Lee, Local Taxation in Tanganyika, 1965, S. 73. Laura S. Kurtz , Historical Dictionary of Tanzania, 1978, S. 168.

334 335

Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 560; Arning: Deutsch-Ostafrika gestern und heute, 1936, S. 116. 33 6 Arning, S. 116. 337

Tanganyika und Sansibar (1963 unabhängig) schlossen sich 1964 zu Tansania zusammen, vgl. Kurtz , Einführung, S. 29. 338 Z. B. durch den Magistrates' Court Act von 1963, vgl. Harrison George Mwakyembe, Tanzania's Eighth Constitutional Amendment and ist Implications on Constitutionalism, Democracy and the Union Question, Münster, 1995, S. 138. 339 Mwakyembe, S. 131. 340 Vgl. das schon erwähnte Urteil des Special Tribunal: Mahomed Visram vs. Rajabali Rawji, vom 16. Oktober 1923, in: Law Reports of Cases determined by the High Court of Tanganyika, Bd. 1, 1921 -1952, 1953, S. 711; hier wendete das Gericht § 196 BGB an.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

bb) Südwestafrika:

Weitergeltung

von Regelungen des deutschen Kolonialrechts,

insbesondere des kolonialen Bergrechts

Auch im Mandatsgebiet Südwestafrika wurde das deutsche Recht umfassend durch das Recht der Mandatsmacht ersetzt (vgl. die Administration of Justice Proclamation von 1919, siehe oben). Die südafrikanische Mandatsverwaltung verzichtete - im Unterschied zu den Mandatsverwaltungen in den übrigen ehemaligen deutschen Schutzgebieten - auf die Enteignung und Ausweisung der deutschen Zivilbevölkerung 341 . Motiviert wurde diese milde Behandlung der Bevölkerung durch die Erkenntnis der südafrikanischen Mandatsverwaltung, daß das Wirtschaftsleben in Südwestafrika überwiegend von der deutschen Bevölkerung getragen wurde und eine Ausweisung und Enteignung das Gebiet schwer geschädigt hätten. Auch der Druck der burischen „Nationalen Partei" auf die südafrikanische Regierung, die als „englandhörig" angesehen wurde, dürfte hierzu beigetragen haben 3 4 2 . Ausgehend von diesem pragmatischen Ansatz der Mandatspolitik hatte die südafrikanische Mandatsverwaltung weniger Berührungsängste, abweichend von der Praxis der anderen Mandatsmächte einige Einzelregelungen des deutschen Kolonialrechts ausdrücklich in das neue Mandatsrecht zu integrieren 343. In die Rechtsordnung des Mandatsgebiets Südwestafrika wurde 1920 durch eine Regelung des Administrators ausdrücklich die Kaiserliche Bergverordnung vom 8. August 1905 344 , die das Prinzip der Bergbaufreiheit für Europäer vorsah (nicht jedoch für die einheimische Bevölkerung, die dafür eine amtliche Genehmigung benötigte), integriert, lediglich redaktionelle Änderungen wurden vorgenommen („Mark" wurde ζ. B. durch „Shilling" ersetzt) 345 . Neben der Kaiserlichen Bergverordnung wurden auch bergrechtliche Nebenbestimmungen346 sowie Sonderregelungen für den Diamantenbergbau 347 des deutschen Kolonialrechts in das Mandats341 Siehe oben, Β. I. l.a). 342 Vgl. Bertelsmann, S. 16. 343 vollständiger Überblick über die im Jahre 1938 noch nicht aufgehobenen deutschen Verordnungen und Verfügungen in Südwestafrika vgl. bei Blumhagen, S. 115-117. 344 DKGG 9, S. 221. 345 Vgl. Concessions Modification and Mining Law Amendment Proclamation Nr. 59 von 1920, die die Kaiserliche Verordnung für anwendbar erklärte, vgl. Blumhagen, S. 61 /62; vgl. auch die Mining Law Amendment (Further Amendment) Proclamation Nr. 11 von 1923, in: The Laws of South West Africa 1923 - Proclamations and Principal Government Notices issued in South West Africa 1923, Administrator of South West Africa (Hrsg.), 1924, S. 18, in der die kaiserliche Bergverordnung von 1905 ausdrücklich als „the principal law" bezeichnet wird. 346 ζ . B. Verfügung des Gouverneurs, betreffend die Einrichtung des Berggrundbuches, vom 30. Mai 1910, DKB1. 1910, S. 650; Kaiserliche Verordnung, betreffend die Berechtigung zur Aufsuchung und Gewinnung von Mineralien im Meeresboden, vom 13. Oktober 1910, DKB1. 1910, S. 1095. 347 ζ . B. Kaiserliche Verordnung, betreffend den Handel mit südwestafrikanischen Diamanten, vom 16. Januar 1909, DKGG 13, S. 13; Kaiserliche Verordnung, betreffend die Be-

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recht von Südwestafrika übernommen. Zwar wurde das übernommene deutsche Schürfrecht im Laufe der Zeit durch Regelungen des Administrators immer mehr abgeändert; Ansätze zu einer grundsätzlichen Revision des Bergrechts (einschließlich des Rechts des Diamantenbergbaus) wurden aber erst 1938 in Angriff genommen. Ein Entwurf der Mandatsverwaltung vom 17. August 1938 sah unter anderem ausführliche Regelungen zur Überwachung des Bergbaus durch einen vom Administrator ernannten Berginspektor vor, Regelungen der Kaiserlichen Bergverordnung wie die Unterscheidung zwischen „Edelmineralien" und „Gemeinen Mineralien" sowie der Grundsatz der Schürffreiheit (für Europäer, nicht jedoch für die einheimische Bevölkerung) wurden jedoch inhaltlich beibehalten. Erst nach dem zweiten Weltkrieg, im Jahre 1954, wurde das gesamte Bergrecht von Südwestafrika neu geordnet und in einer Verordnung zusammengefaßt, von der Kaiserlichen Bergverordnung von 1905 findet sich inhaltlich jedoch der Grundsatz der Schürffreiheit wieder 3 4 8 . Die Mines, Works and Minerals Ordinance von 1954 wurde vollständig durch die Mines, Works and Minerals Ordinance von 1968 ersetzt, die jedoch den Grundsatz der Schürffreiheit übernahm 349. Abweichend von der Regelung der kaiserlichen Bergverordnung von 1905, die für Einheimische die Schürffreiheit nicht gänzlich untersagte, sondern von der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung abhängig machte, bestand nach der Neuregelung von 1968 für Angehörige der einheimischen Bevölkerung Schürffreiheit nur in den Reservaten der Einheimischen, nicht jedoch in den übrigen Gebieten 350 ; die Politik der Rassentrennung („Apartheid") wurde damit auch auf dem Gebiet des Bergrechts verwirklicht. Die Mines, Works and Minerals Ordinance von 1968 regelte auch das Schürfen auf dem Meeresboden 351 und die Einrichtung eines Registers für Schürfrechte („Claims Register) 352 und ersetzte damit inhaltlich die diesbezüglichen Regelungen des kolonialen Bergrechts 353. Nach der Unabhängigkeit von Namibia im Jahre 1990 wurde auch das Bergrecht einschließlich des Rechts der Diamantenförderung neu geregelt; die Mines, Works and Minerals Ordinance Nr. 20 von 1968 wurde durch den Minerals (Prospecting and Mining) Act Nr. 33 vom 16. Dezember 1992 354 ersetzt, Steuerung der Diamantenabbaubetriebe in Deutsch-Südwestafrika, vom 30. Dezember 1912, DKB1. 1913, S. 25. 348 Mines, Works and Minerals Ordinance Nr. 26 von 1954, vgl. Verweisung in: Union Legislation Affecting South West Africa, 1959, S. 615. 349 Section (Paragraph) 20 ff. der Mines, Works and Minerals Ordinance Nr. 20 vom 27. Mai 1968, in: Official Gazette of South West Africa, vom 31. Mai 1968, 1968, S. 967 ff. 350 Section (Paragraph) 21 der Ordinance Nr. 20 von 1968. 351 Section (Paragraph) 62 der Ordinance Nr. 20 von 1968. 352 Section (Paragraph) 29 und 77 der Ordinance Nr. 20 von 1968. 353 Kaiserliche Verordnung, betreffend die Berechtigung zur Aufsuchung und Gewinnung von Mineralien im Meeresboden, vom 13. Oktober 1910, DKB1. 1910, S. 1095, und die Verfügung des Gouverneurs, betreffend die Einrichtung des Berggrundbuches, vom 30. Mai 1910, DKB1. 1910, S. 650. 354 Vgl. Government Gazette of the Republic of Namibia, vom 31. Dezember 1992, Nr. 564, 1992, S. 1 ff.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

aber auch hier findet sich der Grundsatz der Schürffreiheit - nunmehr für jeden Bürger von Namibia, unabhängig von der Hautfarbe - wieder 355 . Demzufolge hat sich zumindest das Element der Schürfreiheit aus dem deutschen kolonialen Bergrecht inhaltlich bis heute in Namibia erhalten 356 . Die Besteuerung der Diamantenbetriebe wurde zwar 1931 neu geregelt, inhaltlich entsprach sie aber weitgehend der Kaiserlichen Verordnung vom 30. Dezember 1912; nunmehr wurde der Gewinn aus der Diamantenförderung mit 60% (66% nach der deutschen Verordnung) besteuert und ein Ausfuhrzoll in Höhe von 10% des Werts der Diamanten neu eingeführt 357 . Nach unwesentlichen Änderungen im Jahre 1941 wurde die Materie nach der Unabhängigkeit von Namibia durch den schon erwähnten Minerals (Prospecting and Mining) Act Nr. 33 von 1992 geregelt; die Erhebung des Ausfuhrzolls wurde gestrichen und durch eine Lizenzgebühr in Höhe von 10% des Werts der Diamanten ersetzt 358 . Die Monopolisierung des Diamantenverkaufs durch eine Gesellschaft, so wie es schon die Kaiserliche Verordnung vom 16. Januar 1909 359 vorgesehen hatte, wurde beibehalten und, wie schon erwähnt, die deutsche Diamanten-Regie-Gesellschaft 1921 durch das „Diamond Board of South-West Africa" ersetzt, das unter der Aufsicht des Administrators von Südwestafrika stand; eine umfassende Neuregelung der „Diamantenindustrie" erfolgte 1939 und festigte die Kontrolle der südafrikanischen Regierung und ihrer Diamantenbetriebe über das Diamond Board und damit die Diamantenförderung in Namibia 360 . Diese Monopolisierung der Diamantenförderung und des Diamantenhandels unter südafrikanische Kontrolle und unter maßgeblicher Mitwirkung des De Beers - Konzerns bestand im wesentlichen unverändert bis zur Unabhängigkeit von Namibia. Nach der Unabhängigkeit von Namibia ging auch die Kontrolle über die Diamantenförderung und den Diamantenhandel auf die neue namibische Regierung über; der schon erwähnte Minerals (Prospecting and Mining) Act Nr. 33 von 1992 ersetzte den Diamond Board of South West Africa durch den Minerals Board of Namibia, der nun unter unmittelbarer Kontrolle des zuständigen namibischen Ministers steht 361 . Auch in anderen Rechtsgebieten orientierte sich die Mandatsverwaltung inhaltlich an Regelungen der deutschen Kolonialverwaltung. So wurde mit der Erhebung 355

Vgl. Section (Paragraph) 25 des Act Nr. 33 von 1992, Government Gazette of Namibia,

S. I f f . 356

So im Ergebnis auch Oldhaver, S. 42. 57 Diamond Taxation Proclamation Nr. 29 von 1931, vgl. Blumhagen, S. 62, 81; Gerstmeyer, S. 598. 3 58 Vgl. Section (Paragraph) 114 ff. des Act. Nr. 33 von 1992, Government Gazette of Namibia, S. 1 ff. 3 59 DKGG 13, S. 13. 3

360

Diamond Industry Protection Proclamation Nr. 17 von 1939, Nachweise in: Official Gazette of South West Africa vom 31. Mai 1968, S. 973. 361 Vgl. Section (Paragraph) 9 ff. des Act Nr. 33 von 1992, Government Gazette of Namibia, S. 1 ff.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedens vertrag von 1919

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einer Radsteuer („Wheel Tax") an die Erhebung einer Wagensteuer durch die deutsche Kolonialverwaltung angeknüpft 362. Die Wheel Tax wurde auch auf Kraftfahrzeuge ausgedehnt363 und besteht, trotz mehrfacher Änderungen 364, auch heute noch, so daß die deutsche Wagensteuer von 1895 als Vorläufer der heute in Namibia bestehenden Kraftfahrzeugsteuer gelten kann. Weiterhin orientierte sich das Mandatsrecht hinsichtlich der Behandlung der einheimischen Bevölkerung zum Teil an den deutschen (nach den Aufständen von 1904-1907 verschärften) Vorschriften. Die Freizügigkeit der einheimischen Bevölkerung, die durch die nach den Aufständen erlassene Verordnung vom 18. August 1907 365 eingeschränkt wurde (ζ. B. Paßpflicht für Einheimische), blieb auch unter der Mandatsherrschaft eingeschränkt, die diesbezüglichen Regelungen lehnten sich an die deutsche Verordnung an 3 6 6 . Die in dieser Regelung normierte Kontrolle und Freizügigkeitsbeschränkung der einheimischen Bevölkerung war dazu geeignet, sich als ein Hilfsmittel für die nach dem zweiten Weltkrieg von der südafrikanischen Regierung auch in Südwestafrika ab 1962 mehr und mehr praktizierten Politik der Rassentrennung („Apartheid") zu entwickeln 367 . Mit der ab 1977 beginnenden schrittweisen Aufhebung der Politik der Rassentrennung wurden auch die Regelungen, die nach dem Vorbild der deutschen Regelungen die Einschränkung der Freizügigkeit der einheimischen Bevölkerung vorsahen, aufgehoben 368. Die in einer weiteren Verordnung des Gouverneurs vom 18. August 1907 enthaltene Regelung, daß Angehörige der einheimischen Bevölkerung (ausgenommen Angehörige der Rehobot-Bastards) nur mit Genehmigung des Gouverneurs Grund-

362 Blumhagen, S. 82; vgl. Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika, betreffend eine Wege- und Wagenabgabe in Südwestafrika, vom 30. Dezember 1895, DKGG 2, S. 205; abgeändert durch die Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika, betreffend die Wagenabgabe in Deutsch-Südwestafrika, vom 27. Oktober 1901, DKGG 6, S. 406. 363 Motor Vehicle and Wheel Tax Ordinance Nr. 17 von 1937, Nachweise bei Blumhagen, S. 82. 364 Vgl. Motor Vehicle and Wheel Tax Amendment Ordinance Nr. 6 von 1959, in: Union Legislation, 1959,1960, S. 110. 3

65 Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Paßpflicht der Eingeborenen, vom 18. August 1907, DKB1. 1907, S. 1182. 366 Vgl. Vagrancy Proclamation Nr. 25 von 1920, Native Administration Proclamation Nr. 11 von 1922, Nachweise bei Blumhagen, S. 88/89. 367

Hier ist anzumerken, daß die ersten „Apartheids-Gesetze" in Südwestafrika schon vor dem zweiten Weltkrieg erlassen wurde, so ζ. B. die Immorality Proclamation Nr. 19 von 1934, die den Geschlechtsverkehr zwischen männlichen Europäern und einheimischen Frauen unter Strafe stellte, Nachweise bei Blumhagen, S. 101; die Immorality Proclamation von 1934 galt bis 1977 und wurde dann im Rahmen der schrittweisen Abschaffung der Politik der Rassentrennung aufgehoben, vgl. Official Gazette of South West Africa vom 14. Oktober 1977, S. 1. 368 Vgl. General Law Amendment Proclamation des General-Administrators, Nr. 5 von 1977, Official Gazette of South West Africa vom 21. Oktober 1977, S. 1 ff.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

besitz und Großvieh erwerben konnten 369 (was faktisch einem Erwerbsverbot sehr nahe kam, da diese Genehmigung selten erteilt wurde), wurde auch unter der Mandatsherrschaft beibehalten und inhaltlich in die Natives Administration Proclamation von 1922 integriert 370 . Die Erwerbsbeschränkung der einheimischen Bevölkerung wurde zusammen mit der gesamten Natives Administration Proclamation von 1922 im Zuge der schrittweisen Aufhebung der Politik der Rassentrennung (Apartheid) in Namibia im Jahre 1977 aufgehoben 371. Wie zur Zeit der deutschen Kolonialverwaltung blieb die Verwaltung des Mandatsgebiets auf das Gebiet der Polizeizone beschränkt, die sich von den Ausmaßen her mit der Polizeizone zur Zeit der deutschen Verwaltung deckte; das Ein- und Ausreiseverbot in die Gebiete außerhalb der Polizeizone (Ovamboland im Norden und Caprivi-Zipfel im Nordosten) wurde ebenfalls beibehalten, die einschlägigen deutschen Verordnungen hatten weiterhin Geltung 372 . Die Abschottung der nördlichen und nordöstlichen Gebiete wurde auch nach dem zweiten Weltkrieg beibehalten; in den siebziger und achtziger Jahren diente sie dazu, die Operationen des südafrikanischen Militärs gegen die Anhänger der Widerstandsbewegung SWAPO (South West African People's Organization) zu unterstützen 373. Das Arbeitsrecht für die einheimische Bevölkerung wurde zwar durch die schon erwähnte „Master and Servants Proclamation Nr. 34 von 1920 umfassend neu geregelt, inhaltlich übernommen in das Mandatsrecht (im Rahmen der schon erwähnten Native Administration Proclamation Nr. 11 von 1922) wurde jedoch - um wie zur Zeit der deutschen Verwaltung die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung zu gewährleisten - die Verordnung des Gouverneurs vom 18. August 1907 374 , insbesondere hinsichtlich der Regelung, daß ein Dienstvertrag eines Einheimischen erst nach der Aushändigung eines amtlichen Dienstbuches an den Arbeitgeber wirksam wurde 375 . Diese arbeitsrechtliche Regelung wurde als ein Teil der Native Administration Proclamation von 1922 mit dieser zusammen nach dem Ende der Politik

369 Verordnung des Gouverneurs, betreffend Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen, vom 18. August 1907, DKB1. 1907, S. 1181. 370 Native Administration Proclamation Nr. 11 von 1922, Nachweise bei Blumhagen, S. 89, 116; Emmen, S. 229. 371 General Law Amendment Proclamation des General-Administrators, Nr. 5 von 1977, Official Gazette of South West Africa, vom 21. Oktober 1977, S. 1 ff. 372 Es handelte sich hier um die Verordnung des Gouverneurs, betreffend den Verkehr in und nach dem Ambolande , vom 25. Januar 1906, DKB1. 1906, S. 222; Verordnung des Gouverneurs, betreffend den Verkehr in und nach dem Caprivi-Zipfel vom 16. Oktober 1908, DKGG 13, S. 436. 373 Vgl. auch die schon erwähnte Mines, Works and Minerals Ordinance von 1968, in: Official Gazette of South West Africa 1968, wo die Polizeizone ausdrücklich erwähnt wird. 374 Verordnung des Gouverneurs, betreffend Dienst- und Arbeitsverträge mit Eingeborenen des südwestafrikanischen Schutzgebietes, DKB1. 1907, S. 1179. 375 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 602.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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der Rassentrennung in Namibia 1977 aufgehoben 376, so daß sich im heutigen Arbeitsrecht von Namibia, das 1992 umfassend neu geregelt wurde, keinerlei Spuren der diesbezüglichen deutschen Verordnung finden lassen 377 . Inhaltlich übernommen von der südafrikanischen Mandatsverwaltung wurde ferner die zum Schutz der Einheimischen erlassene Verordnung des Gouverneurs vom 30. Oktober 1908 378 , mit der Kreditgeschäfte mit Angehörigen der einheimischen Bevölkerung grundsätzlich verboten und unter den Erlaubnisvorbehalt der Regierung gestellt wurden 379 ; neu geregelt wurde das Verbot von Kreditgeschäften mit Einheimischen im Jahre 1927, allerdings ohne wesentliche inhaltliche Änderungen 380 . Auch diese Regelung wurde 1977 durch die schon erwähnte General Law Amendment Proclamation aufgehoben 381. Schließlich wurde auch die Schulpflichtverordnung vom 20. Oktober 1906 382 nicht ausdrücklich aufgehoben und der Unterricht an den deutschen Schulen auch nach dem ersten Weltkrieg (nach einer durch die Ausweisung einiger Lehrer bedingten kurzen Unterbrechung) für alle deutschen Kinder weitergeführt 383. Weitere deutsche kolonialrechtliche Regelungen wurden zwar unter der Mandatsherrschaft nicht ausdrücklich aufgehoben, jedoch durch die Einführung von entgegenstehendem Mandatsrecht gegenstandslos, so ζ. B. das Schutzgebietsgesetz oder die Kaiserliche Verordnung vom 3. Juni 1908 (diese Verordnung regelte unter anderem die Gerichtsbarkeit über die einheimische Bevölkerung und wurde durch die Administration of Justice Proclamation Nr. 21 von 1919 gegenstandslos)384. Der High Court of South West Africa wandte deutsches Zivilrecht für Altfälle bis in die vierziger Jahre hinein weiterhin an 3 8 5 . 376 General Law Amendment Proclamation des General-Administrators, Nr. 5 von 1977, Official Gazette of South West Africa vom 21. Oktober 1977, S. 1 ff. 377 Vgl. Labour Act Nr. 6 vom 26. März 1992, in: Government Gazette of Namibia, vom 8. April 1992, Nr. 388, S. 1 ff. 378 Verordnung des Gouverneurs, betreffend Kreditgeschäfte Eingeborener, vom 30. Oktober 1908, DKB1. 1909, S. 4. 379 Die Natives Administration Proclamation Nr. 11 von 1922 erklärte die Verordnung vom 30. Oktober 1908 ausdrücklich für anwendbar, Nachweise bei Blumhagen, S. 94/95. 380 Prohibition of Credit to Natives Proclamation Nr. 18 von 1927, Nachweise bei Blumhagen, S. 96/97. 381 General Law Amendment Proclamation des General-Administrators, Nr. 5 von 1977, Official Gazette of South West Africa vom 21. Oktober 1977, S. 1 ff. 38 2 Verordnung des Gouverneurs vom 20. Oktober 1906, DKB1. 1906, S. 797. 383

Vgl. Übersicht bei Blumhagen, S. 117; Bertelsmann, S. 17/18. Überblick über die Gesamtheit der 1938 formell noch in Südwestafrika geltenden deutschen Vorschriften: Blumhagen, S. 115-117. 385 Im Urteil des High Court vom 12. November 1942, Ex Parte Karibib Municipalitiy, in: Decisions of the High Court of South West Africa, 1942, S. 46, zitierte der Richter die §§ 15, 19, 20 und 23 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und Zwangs Verwaltung (ZVG); im Urteil des High Court vom 4. Dezember 1945, In Re Estate Struys, in: Decisions of the High 384

254

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg cc) Spuren des deutschen Bodenrechts in Kamerun

Im französischen Mandatsgebiet Kamerun wurde das deutsche Recht umfassend und vollständig durch französisches Recht ersetzt, das deutsche Recht hatte nach der Übernahme durch französische Truppen 1916 keinen Einfluß mehr auf die Rechtsentwicklung in Kamerun 386 . Trotzdem werden Eigentumstitel hinsichtlich von Grundeigentum, die zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft in das Grundbuch eingetragen wurden, theoretisch noch heute als wirksam anerkannt und können zum Teil bis in die Zeiten der deutschen Kolonialverwaltung zurückverfolgt werden 387 . Das in Kamerun wie auch in den anderen Schutzgebieten verfolgte Prinzip, alle Land- und Grundstücksfragen zu kontrollieren (durch Beschränkung von Grundstücksveräußerungen Einheimischer oder durch das Aneignungsrecht bei „Kronland") 3 8 8 , wurde nach der Unabhängigkeit von Kamerun wieder aufgegriffen und in die Landreform von 1974 eingearbeitet 389. Das neue Grundstücksrecht bezeichnete den Staat als „Wächter des gesamten Landes" 390 ; ferner wurden auch für das „Staatsland" (ähnlich dem Kronland) besondere Regelungen getroffen 391. Im Ergebnis übernahm in dieser Hinsicht der post-koloniale Staat Kamerun die gleichen Funktion wie die (deutsche) koloniale Verwaltung 392 .

dd) Beibehaltung der „Häuptlingsgerichte" im britischen Mandatsgebiet Togo bis 1932

Im ehemaligen Schutzgebiet Togo wurde zwar - in beiden Mandatsteilen - das deutsche Recht umfassend durch das Recht der Mandatsmächte bzw. ihrer Kolonien ersetzt. Im britischen Mandatsteil, das von der britischen Kolonie Goldküste (heute Ghana) verwaltet wurde, ließ die Mandatsverwaltung die Einrichtung und Zuständigkeit der Häuptlingsgerichte aber so, wie sie für den ehemaligen Bezirk Court, 1945, S. 32, wendete der Richter zur Auslegung eines deutschen Testaments aus dem Jahre 1912 die §§ 2074, 2162 und 2177 BGB an, erwähnte ferner die §§ 1967 und 2147 BGB und die entsprechende Kommentierung des BGB von Staudinger. 386 Anyangwe, S. 42; vgl. jedoch Parallelen zur Kronlandverordnung, siehe unten. 387

Anyangwe, S. 42. 388 Vgl. Kronlandverordnung für das Schutzgebiet Kamerun vom 15. Juni 1896, DKGG 2, S. 232. 389

Cyprian Fisiy, Techniques of Land Acquisition - The Concept of „Crown Lands" in Colonial and Post Colonial Cameroon, in: Land Law and Land Ownership in Africa, Robert Debusmann, Stefan Arnold (Hrsg.), 1996, S. 243/244. 390 Vgl. Verordnung (Ordonnance) Nr. 7 4 - 1 betreffend Regelungen für den Grundbesitz vom 6. Juli 1974, in: Revue Camérounaise de Droit 1975, S. 82, 1975. 391 Vgl. Verordnung Nr. 7 4 - 2 betreffend Regelungen für das „Staatsland" vom 6. Juli 1974, Nachweise bei Fisiy, S. 244. 39 2 Vgl. Fisiy, S. 244.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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Misahöhe vorgesehen war, unberührt 393 . Neben der erstinstanzlichen Zuständigkeit in Zivilsachen behielten die Häuptlingsgerichte, wie zur Zeit der deutschen Kolonialverwaltung bestehend aus dem Häuptling bzw. Oberhäuptling als Vorsitzendem und 4 Beisitzern, auch die Zuständigkeit für kleinere Strafsachen 394. Wie zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft blieb es auch im nördlichen britischen Mandatsteil (nunmehr Teil des nördlichen Protektorates) dabei, daß dort die Häuptlingsgerichte keine Zuständigkeit in Strafsachen hatten und meist nur in Ehe- und Familienstreitigkeiten urteilten. Mit der Übernahme dieser Zuständigkeiten aus deutscher Zeit beabsichtigte die britische Mandatsverwaltung, der einheimischen Bevölkerung für eine Übergangszeit die ihnen vertraute einheimische Gerichtsorganisation zu lassen. Erst 1932 wurden die aus deutscher Zeit stammenden Zuständigkeiten der einheimischen Gerichte (Native Courts) entsprechend dem fortschreitendem Ausbau der „Indirect Rule" durch Regelungen der britischen Mandatsverwaltung ersetzt: einheimische Prozeßformen wie der „Königseid" (feierliche Form der Klageerhebung, Kläger zahlt bei Unterliegen eine Buße) wurden als zulässig erachtet, die Native Courts im südlichen Mandatsteil (Ostprovinz der Goldküste) erhielten die Zuständigkeit auch für stammesfremde Einheimische, ferner erhielten die Native Courts in den nördlichen Gebieten die Zuständigkeit für kleinere Strafsachen 395. Die Häuptlingsgerichte entsprachen nun den mit verhältnismäßig weitreichenden Zuständigkeiten im Sinne der „Indirect Rule" ausgestatteten Native Courts, wie sie für die britischen Kolonien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich waren.

ee) Beibehaltung der (begrenzten) Selbstverwaltung der einheimischen Bevölkerung in Neuguinea bis 1975

In Neuguinea wurde, wie in den anderen Schutzgebieten, das deutsche Recht vollständig durch das Recht der Mandatsmacht ersetzt, wobei es sich hier um ein Gemisch aus britischem Recht, dem Recht des australischen Bundesstaates Queensland sowie dem Recht des australischen Territoriums Papua handelte. Nur sehr wenige Reste des deutschen Kolonialrechts fanden Eingang in die Rechtsordnung des Mandatsgebietes; der 1915 von der australischen Militärverwaltung in Kraft gesetzte Entwurf einer Arbeiterverordnung für die einheimischen Plantagen-

393

Vgl. Report on the Administration under Mandate 1924, der darauf hinweist, daß die Native Courts die Gerichtsbarkeit in der Weise ausüben können, wie sie vor 1923 (Außerkraftsetzung des deutschen Rechts) bestand; zur Zuständigkeit der Häuptlinge in Zivilsachen im Bezirk Misahöhe (Streitwert von bis zu 200 Mark) vgl. DKB1. 1901, S. 314/315; vgl. ferner Full, Togo, S. 104. 394 Gerstmeyer, Frühere deutsche Kolonien, S. 570. 39 5 Full, Togo, S. 104.

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Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

arbeiter wurde schon 1917 durch neue, für die Plantagenarbeiter ungünstigere Regelungen ersetzt (siehe oben, Β. I. a)). Bemerkenswert ist jedoch, daß die - zunächst unter der Militärverwaltung vernachlässigte - begrenzte Selbstverwaltung der einheimischen Bevölkerung (einschließlich der unteren Gerichtsbarkeit) durch Luluai (von der Verwaltung ernannte Dorfälteste / "Regierungshäuptlinge") von der Mandatsverwaltung übernommen wurde und auch die Funktionen der Tultul (Dorfpolizisten) und der „Heilgehilfen" als Assistenten der Luluai beibehalten wurden 396 . Die Mandatsverwaltung baute die lokale Verwaltung durch Luluai dadurch noch aus, daß weitgehend erschlossene Gebiete unter einzelnen Oberhäuptern zusammengefaßt wurden, die die Aufsicht über die Luluai ausübten397. Diese Selbstverwaltung der einheimischen Bevölkerung durch Luluai, die sich deutlich von der Tendenz der australischen oder französischen Kolonialverwaltung zu direkter Verwaltung abhob, überdauerte in Neuguinea bis zum Beginn der Unabhängigkeit von Papua-Neuguinea im Jahre 1975 398 und wurde erst dann durch die Einräumung beträchtlicher Selbstverwaltungsbefugisse der 19 Provinzregierungen ersetzt. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Tatsache, daß die Einteilung des Mandatsgebietes in Verwaltungsbezirke (Districts) unter der Leitung von District Officers zu Beginn der Mandatsverwaltung im wesentlichen der Bezirkseinteilung zur deutschen Kolonialzeit entsprach; mit der fortschreitenden Erschließung des Landes und der Errichtung neuer Verwaltungsposten wurde bis Ende der dreißiger Jahre jedoch die Grenzziehung und Distriktseinteilung modifiziert 399 .

ff) Beibehaltung der Land- und Titelkommission in Samoa

Unter der neuseeländischen Mandatsherrschaft wurde, wie schon erwähnt, die aufgrund der Verordnung des Gouverneurs vom 25. Februar 1903 400 eingerichtete Land- und Titelkommission beibehalten und lediglich in „Native Land and Titles Commission" umbenannt401. Der Name der 1937 in „Native Land and Titles Court" umbenannten Kommission 402 wurde gleichzeitig mit der Unabhängigkeit 396 Hahl, S. 79. 397 Hahl, S. 79. 398 Hiery, S. 116. 399 Bis 1937 wurden 10 Proclamations zur Revision der Distriktsgrenzen erlassen, vgl. The Laws of the Territory of New Guinea 1921 -1945 (annotated), Bd. 2, 1947, S. 2006. 400

Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Ernennung einer Land- und Titelkommission, vom 25. Februar 1903, DKB1. 1903, S. 200, ersetzt durch die Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Land- und Titelkommission, vom 23. Januar 1911, DKB1. 1911, S. 620; vgl. Hiery, S. 114. 401 Craig/King, S. 333. 402 Vgl. Report by the New Zealand Government, S. 24; hier wurde der Native Land and Titles Court als Nachfolger der deutschen Land- und Titelkommission bezeichnet.

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

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1962 nochmals in „Land and Titles Court" geändert; die Verfassung von 1962 sah den „Land and Titles Court" als zuständiges Gericht für Landstreitigkeiten vor 4 0 3 , so daß auch heute noch dieses Gericht zuständig ist zur Schlichtung der zahlreichen Streitigkeiten um Landtitel bzw. Landrechte zwischen den samoanischen Clans und Familienverbänden 404.

gg) Beibehaltung der richterlichen Befugnis der Verwaltungsbeamten in den japanischen Mandatsgebieten (Pazifikinseln)

Im japanisch verwalteten Inselgebiet der Marianen, Karolinen, Palau-Inseln und Marshall-Inseln wurde das japanische Recht umfassend eingeführt und sollte zur Assimilation der Inseln als japanische Provinz beitragen, eine Orientierung an deutsches Recht oder deutsche Verwaltungseinrichtungen erfolgte nicht. Allerdings entsprach die Zuständigkeit der örtlichen Zweigstellenleiter des Südseebüros in einfachen Zivil- und Strafsachen inhaltlich der zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft bestehenden Zuständigkeit des örtlichen Bezirksamtmannes oder Stationsleiters zur Durchführung der unteren Gerichtsbarkeit; diesbezüglich läßt sich somit erkennen, daß die japanischen Mandats Verwaltung hinsichtlich der gerichtlichen Befugnisse von Verwaltungsbeamten sich an den vorgefundenem Beispiel der deutschen Kolonialverwaltung orientierte 405 . Diese Kontinuität aus der deutschen Kolonialzeit endete jedoch mit dem Ende der japanischen Herrschaft auf den Pazifikinseln, die faktisch mit der militärischen Rückeroberung ab 1944 einsetzte. Im Rahmen der ab 1947 beginnenden Verwaltung der Pazifikinseln durch die USA als Treuhandgebiet der UN wurde für das Treuhandgebiet eine gesonderte Gerichtsbarkeit aufgebaut; auch auf der Ebene der unteren Gerichtsbarkeit, die von District Courts ausgeübt wurde, urteilten nun nicht mehr Verwaltungsbeamte, sondern Richter, die allerdings vom Hochkommissar (High Commissioner, höchste Verwaltungsinstanz des Treuhandgebietes) zusammen mit dem obersten Richter des Treuhandgebietes (Chief Justice) ernannt wurden 406 . Stellte die Entwicklung unter der US-Treuhandsverwaltung schon einen wichtigen Schritt hin zur Trennung zwischen unterer Gerichtsbarkeit und Verwaltung dar, so wurde die Trennung zwischen Exekutive und Jurisdiktion auch in den Verfassungen der in den achtziger Jahren unabhängig gewordenen Nachfolgestaaten des Pazifik-Treuhandgebietes (Palau, Mikronesien, Marshall-Inseln) fest-

403 James Wightman Davidson, Samoa Mo Samoa, 1967, S. 379/380. 404 Craig /King, S. 333/334. 405 Hahl, S. 47. 406 Report on the Administration of the Trust Territory of the Pacific Islands by the United States to the United Nations for the Period July 1, 1951 to June 30, 1952, United States Department of the Interior (Hrsg.), 1953, S. 20. 17 Fischer

258

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

geschrieben, so ζ. B. in der Verfassung der Föderierten Staaten von Mikronesien vom 10. Mai 1979 407 .

hh) Kiautschou: Spuren des deutschen Städteplanungsrechts

in Taiwan

Kiautschou und die Stadt Tsingtau wurden 1922 nach kurzzeitiger japanischer Herrschaft vollständig, auch hinsichtlich des Rechtssystems, in die Republik China eingegliedert, deutsches Sonderrecht für das ehemalige Pachtgebiet bestand nicht mehr. Trotzdem waren die Regelungen der Landordnung von Kiautschou 408 , die mit einer Grundsteuer von 6%, einer Wertzuwachssteuer von 33 1/3% auf Spekulationsgewinne bei Grundstücken und einem staatlichen Vorkaufsrecht die Grundstücksspekulation verhindern und damit die Ziele der im Deutschen Reich umstrittenen Bodenreformbewegung (Adolf Damaschke) wenigstens in Tsingtau verwirklichen wollte, beispielgebend für die Rechtsentwicklung in China. Schon 1912 besuchte der „Vater" und spätere Präsident der chinesischen Republik, Sun Yatsen, Kiautschou und zeigte sich sehr beeindruckt von der staatlichen Bodenpolitik, insbesondere der Idee der Wertzuwachssteuer, wie sie aufgrund der Landordnung praktiziert wurde 409 . Nach dem ersten Weltkrieg wurde in China die Reform des Bodenrechts in Angriff genommen; 1924 wurde Wilhelm Schrameier, der maßgeblich an der Landordnung von Kiautschou mitgewirkt hatte, als Berater von Präsident Sun Yatsen nach Kanton eingeladen, um zunächst das Bodenrecht von Kanton nach dem Vorbild von Tsingtau zu reformieren; Schrameiers 1914 erschienenes Buch „Aus Kiautschous Verwaltung" war schon 1923 in einer chinesischen Übersetzung erschienen 410. Die Vorbereitungen für eine Reform des chinesischen Bodenrechts wurden auch nach dem Tod von Sun Yatsen 1925 fortgesetzt, die Reform der Bodengesetzgebung für die Stadt Kanton jedoch nicht verwirklicht. Die Entwürfe von Schrameier beeinflußten jedoch die chinesische Gesetzgebung und führten 1930 zur Verabschiedung eines „Allgemeinen Bodengesetzes" durch die nunmehr herrschende nationalistische Partei (Kuomintang). Mit diesem Gesetz sollten die bodenreformatorischen Ziele mit Hilfe einer Grundsteuer und einer Wertzuwachssteuer verwirklicht werden, wegen der Kriege mit Japan und des Bürgerkriegs mit den Kommunisten kam dieses Bodengesetz auf dem Festland zwischen 1930 und 1949 jedoch so gut wie nicht zur Anwendung 411 . Erst 1949, nach der Flucht der Kuomintang auf die Insel Taiwan, konnte die nationalchinesische Regierung die Reform der Bodengesetzgebung erneut in Angriff nehmen, allerdings 407

Vgl. Art. 11 „Judiciary" der Verfassung der Föderierten Staaten von Mikronesien, in: Code of the Federated States of Micronesia, Bd. 1, S. C - 12,1982. 4 08 Landordnung von Kiautschou vom 2. September 1898, DKGG 5, S. 198. 409 Leutner, S. 497. Wilhelm Matzat, Der Zusammenhang der Bodenpolitik von Tsingtau und Taiwan, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, 1992, S. 29 (32). 4 n Matzat, S. 29 (32). 410

I. Das Recht der deutschen Schutzgebiete nach dem Friedensvertrag von 1919

259

nun beschränkt auf Taiwan. 1954 wurde in Taiwan das Gesetz über den „Ausgleich des städtischen Bodenbesitzrechtes" erlassen, das einige Parallelen zur Landordnung des Wilhelm Schrameier für Kiautschou enthielt. Zum einen wurde eine Grundsteuer in Höhe von 1,5% eingeführt, die jedoch deutlich unter dem Grundsteuersatz der Landordnung (6%) lag 4 1 2 ; zum anderen sah das Gesetz zur Unterbindung von Grundstücksspekulationen die Erhebung einer Wertzuwachssteuer in Höhe von 40 bis 80% des Veräußerungsgewinns vor, der diesbezügliche Steuersatz von 33 1/3% der Landordnung 413 wurde damit noch übertroffen. Abweichend von der Landordnung konnte der Grundeigentümer den Grundwert seines Landes, der als Grundlage für die Grundsteuer diente, selbst einschätzen. Eine Parallele zur Landordnung von Kiautschou (der Regelung, daß der Staat ein Vorkaufsrecht für Grundbesitz haben sollte) zeigte sich aber wieder in Fällen, in denen der Eigentümer eine besonders niedrige Grundwertschätzung vornahm, um Grundsteuer zu sparen, und dieser Grundwert mehr als 20% unter einem bestimmten Richtwert lag: hier hatte die Regierung ein Vorkaufsrecht zu diesem (niedrigen) Grundwert 4 1 4 . Nicht übernommen aus der Landordnung wurde die Bebauungspflicht für städtische Grundstücke entsprechend einem allgemeinen Nutzungsplan415, der Hauptunterschied zur Landordnung des Wilhelm Schrameier lag jedoch in der schon erwähnten Selbsteinschätzung des Grundwertes durch den Eigentümer 416 . Es ergibt sich somit die bemerkenswerte Konsequenz, daß die Ideen der deutschen Bodenreformer um Adolf Damaschke, die um die Jahrhundertwende in Deutschland heftig umstritten waren und im „Versuchsfeld" Kiautschou in Form der Landordnung eingeführt wurden, über den Umweg der Republik China Eingang in das heutige Bodenrecht der Republik Taiwan gefunden haben. Damit hatte die von der deutschen Kolonialverwaltung durchgeführte Stadtplanung von Tsingtau Vorbildcharakter für das heutige Städteplanungsrecht von Taiwan.

412 413 414 415 416 17*

Vgl. § 8 der Landordnung, DKGG 5, S. 198. Vgl. § 6 der Landordnung. Matzat, S. 33; vgl. § 6 Abs. 3 der Landordnung. Dies war in § 3 Abs. 2 der Landordnung geregelt. Matzat, S. 33.

260

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete ein Überblick 1. Tansania, Ruanda, Burundi (ehem. Deutsch-Ostafrika) Im britischen Mandatsgebiet - nach 1946 Treuhandsgebiet - Tanganyika unterstützte die britische Verwaltung die afrikanische Selbstverwaltung im Sinne der Indirect Rule, allerdings nur auf der untersten Stufe der Verwaltungshierarchie auf der Grundlage von Stammeseinheiten1. Die fehlende Mitbestimmung der afrikanischen Bevölkerung an der Politik des gesamten Mandatsgebietes, aber auch der sich verstärkende Einfluß weißer Siedler (insbesondere britischer Siedler aus dem benachbarten Kenia) führte schon 1929 zur Gründung einer politischen Gegenbewegung der einheimischen Bevölkerung (Tanganyika African Association), die ab 1948 die Idee der nationalen Einheit und Unabhängigkeit verkörperte 2. Diese Bewegung wandelte sich 1954 um in die erste politische Partei (TANU - Tanganyika African National Union) unter der Führung von Julius Nyerere 3. Die TANU, die nationalistische und sozialistische Elemente in sich vereinigte, entwickelte sich rasch zu einer Massenbewegung mit dem Ziel der staatlichen Unabhängigkeit; am 9. Dezember 1961 entließ Großbritannien Tanganyika in die Unabhängigkeit, erster Präsident wurde Julius Nyerere. Tanganyika vereinigte sich mit dem am 10. Dezember 1963 unabhängig gewordenen Sansibar am 26. April 1964 zur Vereinigten Republik von Tanganyika und Sansibar, die im Oktober 1964 in „Tansania" umbenannt wurde (die Bezeichnung entstand aus der Zusammenziehung der Worte „Tanganyika" und „Sansibar") 4. Tansania wurde unter der Präsidentschaft von Julius Nyerere Mitglied des britischen Commonwealth of Nations und der Vereinten Nationen, der seit 1964 bestehende Status einer föderativen Präsidialrepublik (mit einer eigenen Regionalverfassung für Sansibar) wurde durch die Verfassung von 1977 festgeschrieben 5. Die Hauptstadt wurde 1973 von Daressalam in das Landesinnere nach Dodoma verlegt 6. Unter der Regierungszeit von Nyerere entwickelte sich die TANU zu einer sozialistischen Einheitspartei, die eine Afrikanisierung des Landes anstrebte, so unter anderem die Einführung von Suaheli als Landessprache und die Stärkung des landwirtschaftlichen Sektors. Die Verstaatlichung großer Teile der Wirtschaft als Teil einer allgemein eingeführten sozialistischen Planwirtschaft führen ebenso wie der 1

Karl Engelhard: Tansania - Geographische Strukturen, Entwicklungen, Probleme, 1994, S. 34/35. 2 Engelhard, S. 36. 3 Graudenz/Schindler, S. 148. 4 Kurtz, Einführung, S. 29. 5 v. Baratta, Mario (Hrsg.), Fischer Weltalmanach 2000, Frankfurt/Main, 1999, Spalte 774 „Tansania". 6 Engelhard, S. 214.

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein Überblick

261

weitgehend fehlgeschlagene Aufbau von selbständigen landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften zu einer ständigen Wirtschaftskrise; darüber hinaus fehlt es immer noch an einer allgemeinen Schulpflicht, die Analphabetenrate beträgt über 30% 7 . Die dominierende Rolle der Einheitspartei TANU, die 1977 im Zuge der Afrikanisierung in CCM (Suaheli für Chama Cha Mapinduzi = Revolutionspartei) umbenannt wurde, beeinflußte auch das grundsätzlich nach britischem Vorbild geprägte Rechtssystem von Tansania. Sowohl in bezug auf die Magistrates' Courts auf unterer Ebene, aber auch hinsichtlich des High Court of Tanganyika, Nachfolger des unter britischer Mandatsherrschaft eingerichteten High Court of Tanganyika, besteht eine latente Einflußnahme auf die Ernennung der Richter, aber auch im Hinblick auf die Rechtsprechung8. Gleiches gilt für den 1977 eingerichteten Tanzania Court of Appeal, der die aus der britischen Mandatszeit übernommene Rolle des Court of Appeal for Eastern Africa in Nairobi als oberstes Berufungsgericht in Tansania übernahm9. Die aus der britischen Mandatsmacht stammende Unabhängigkeit der Justiz ist in Tansania demzufolge derzeit nicht uneingeschränkt gewährleistet. An die deutsche Kolonialzeit erinnert, neben den schon erwähnten geringen Spuren rechtlicher Natur, insbesondere die Infrastruktur des Landes - zwei der drei wichtigsten Eisenbahnlinien stammen aus deutscher Zeit. Aber auch die Plantagenwirtschaft (Kaffee, Tee, Baumwolle, Tabak), eine der Haupteinnahmequellen des Landes, läßt sich auf die deutsche Kolonialzeit zurückführen 10. In Ruanda, nach dem zweiten Weltkrieg unter belgischer Treuhandverwaltung, entwickelten sich 1959 die ersten politischen Parteien der einheimischen Bevölkerung. Der latente Gegensatz zwischen den Volksgruppen der Tutsi und der Hutu zeigte sich schon im Vorfeld der Unabhängigkeit und mündete 1961 in der Absetzung des Tutsi-Königs (die Herrschaft der Tutsi-Könige war vom deutschen Residenten als Teil der Indirect Rule gestützt worden) durch Parteien, die die Hutu-Bevölkerung repräsentierten und sich später zu einer Einheitspartei zusammenschlossen11. Nach der am 1. Juli 1962 erklärten Unabhängigkeit stand Ruanda unter der wechselnden Herrschaft von Präsidenten, die jeweils der Bevölkerungsgruppe der Hutu angehörten. Die darauffolgenden Jahrzehnte waren gekennzeichnet von Massakern zwischen den beiden Bevölkerungsteilen, Bürgerkrieg und wirtschaftlicher Stagnation12. Die Einheitspartei der Hutu instrumentalisierte auch die von der belgischen Mandatsverwaltung übernommenen Verwaltungsstrukturen und das Rechtssystem 7 Graudenz/Schindler,

S. 149.

8 Mwakyembe, S. 138-143. 9 Mwakyembe, S. 136. 10 Graudenz/Schindler, S. 150. 11

Muyombano, S. 41. 12 Graudenz/Schindler,

S. 150/151.

262

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

im Sinne der Diskriminierung der Tutsi; obwohl formal immer noch belgisch geprägt, entfernte sich das Rechtssystem immer weiter von rechtsstaatlichen Prinzipien 13 . Nach den Massakern des Jahres 1994 und der Machtübernahme durch die Tutsi-Minderheit entwickelte sich Ruanda zu einem Krisengebiet, das auch den benachbarten Kongo (das ehemalige Belgisch-Kongo, bis 1997 bekannt unter dem Namen Zaire) mit einbezog. Von der deutschen Kolonialherrschaft sind keine Spuren geblieben. Dies dürfte insbesondere daran liegen, daß sich die deutsche Kolonialverwaltung über den örtlichen Residenten nur wenig in die Belange der einheimischen Bevölkerung einmischte und die Einführung von Verwaltungsstrukturen und eines anderen Rechtssystem unterlassen hatte; prägend für Ruanda war demzufolge das von der belgischen Mandatsverwaltung eingeführte Verwaltungs- und Rechtssystem. In Burundi verlief die Entwicklung parallel zu Ruanda: nachdem sich unter der belgischen Treuhandverwaltung in den fünfziger Jahren die ersten politischen Parteien der einheimischen Bevölkerung gebildet hatten, wurde Burundi am 1. Juli 1962 gleichzeitig mit Ruanda in die Unabhängigkeit entlassen. Der Gegensatz zwischen Tutsi und Hutu prägte auch hier die Entwicklung des Landes. Schon wenige Jahre nach der Unabhängigkeit dominierte der Stamm der Tutsi die von der belgischen Mandatsverwaltung übernommene Verwaltungsstruktur und das Rechtssystem14. Unter dem Einfluß der Einheitspartei der Tutsi wurde das formell belgisch geprägte Rechtssystem und die ursprünglich demokratisch geprägte Lokalverwaltung zu einem Herrschaftsinstrument der Tutsi umgeformt 15. Massaker, Bürgerkriege und Unterentwicklung prägen das Bild von Burundi bis heute. Wie in Ruanda, erinnert auch in Burundi nichts mehr an die kurze deutsche Kolonialherrschaft; die unter der belgischen Mandatsherrschaft aufgebauten Verwaltungsstrukturen und das Rechtssystem überlagerten jede eventuell noch vorhandene Prägung durch die deutsche Kolonialherrschaft.

13

Muyombano, S. 50. 14 Laely, S. 350/351. 15 Laely, S. 440-442.

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein Überblick

263

2. Namibia (ehem. Deutsch-Südwestafrika) Nach dem zweiten Weltkrieg verwaltete Südafrika das ehemalige Mandatsgebiet Südwestafrika weiter, ohne jedoch die Aufsicht der UN im Rahmen eines Treuhandmandates zu akzeptieren 16. Auch der Entzug des Volkerbundmandates 1966 durch die UN-Vollversammlung und die zunehmende Achtung von Südafrika wegen der Politik der Rassentrennung („Apartheid"), die ab 1962 auch in Südwestafrika eingeführt wurde, hinderten Südafrika nicht daran, Südwestafrika (das seit 1966 den von der UN verliehenen Namen Namibia trägt) faktisch wie ein Teil des eigenen Staatsgebiets zu verwalten 17. Seit den sechziger Jahren formierten sich Parteien der einheimischen Bevölkerung, die zum Teil mit der südafrikanischen Verwaltung zusammenarbeiteten, so die DTA (Demokratische Turnhallen-Allianz, benannt nach den Versammlungen in der ehemaligen deutschen Turnhalle von Windhuk). Andere Gruppierungen wollten als Widerstandsbewegung die Unabhängigkeit von Namibia mit militärischen Mitteln erkämpfen - so die überwiegend aus Angehörigen der Ovambo bestehende SWAPO (South West African People's Organization) deren Alleinvertretungsanspruch von der UN-Vollversammlung anerkannt wurde 18 . Im Jahre 1977 erhielt Namibia - nach einem vorherigen Referendum der weißen Bevölkerung - beschränkte Selbstverwaltungsbefugnisse (jedoch nur der weißen Bevölkerung) unter einem General-Administrator 19; Trotz der faktisch fortbestehenden südafrikanischen Einflußnahme begann die namibische Selbstverwaltungsregierung schon im gleichen Jahr mit dem schrittweisen Abbau der Politik der Rassentrennung20. Nach jahrzehntelangen militärischen Auseinandersetzungen zwischen südafrikanischen Truppen und der SWAPO und langwierigen Verhandlungen wurde im Februar 1990 eine demokratische Verfassung verabschiedet21 und Namibia (zusammen mit dem Gebiet Walfischbay) am 21. März 1990 in die Unabhängigkeit entlassen; Präsident wurde der Chef der SWAPO, Sam Nujoma 22 . Die südafrikanische Regierung erlaubte der bis dahin in Südafrika internierten deutschen Minderheit 1948 die Rückkehr und gab ihr auch ihr Eigentum zurück; in den folgenden Jahrzehnten wurde der deutsche Bevölkerungsteil von der südafrikanischen Verwaltung, die angesichts der zunehmenden internationalen Isolierung nach Verbündeten suchte, umfassend gefördert und konnte seine kulturelle Identität bewahren 23. 16 Siehe oben, Β. I. c). 17 Oldhaver, S. 55. is Graudenz/Schindler, S. 81. 19 Official Gazette of South West Africa vom 18. März 1977, S. 1 ff. 20 Zur Aufhebung einiger „Apartheids"-Gesetze im Jahre 1977 siehe oben, Β. I. 2. b) bb). 21 Government Gazette of Namibia, vom 21. März 1990, Nr. 2, 1990, S. 1 ff. 22 v. Baratta, Spalte 547 „Namibia". 23 Oldhaver, S. 57.

264

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

Das Rechtssystem und die Gerichtsorganisation nach dem zweiten Weltkrieg zur Zeit der faktischen Verwaltung durch Südafrika entsprach dem System, das unter der Mandatsherrschaft eingeführt wurde. Am 1. Februar 1982 wurde ein Obergericht für Namibia (Supreme Court of Namibia) als Rechtsmittelinstanz für Urteile des High Court eingeführt, die Möglichkeit der Einlegung einer Revision beim Court of Appeal von Südafrika bestand jedoch weiterhin bis zur Unabhängigkeit von Namibia 24 . Nach der Unabhängigkeit wurde die Gerichtsorganisation von Namibia in der Verfassung von 21. März 1990 geregelt, entsprach aber grundsätzlich dem bisherigen Zustand: für erstinstanzliche Straf- und Zivilsachen besteht grundsätzlich die Zuständigkeit des High Court of Namibia (Art. 80 der Verfassung), kleinere Rechtsstreitigkeiten fallen in die Zuständigkeit der schon aus der Mandatszeit bekannten Magistrates' Courts (Art. 83 der Verfassung) 25. Gemäß Art. 79 der Verfassung ist als oberstes Gericht von Namibia der Supreme Court of Namibia als Revisionsinstanz gegen die Urteile des High Court zuständig; wie in Art. 78 Abs. 4 der Verfassung erwähnt, entsprechen die Zuständigkeiten von Supreme Court und High Court von Namibia denen der gleichnamigen Gerichte zur Zeit der südafrikanischen Verwaltung vor der Unabhängigkeit. Das bisherige, vor der Unabhängigkeit geltende Recht blieb weiterhin geltendes Recht (Art. 140 der Verfassung)26. Die Spuren der deutschen Kolonialzeit sind auch heute noch deutlich erkennbar. Neben dem Bergrecht von Namibia, das inhaltlich teilweise auf der kaiserlichen Verordnung von 1905 beruht, geht auf die deutsche Kolonialzeit auch die Entdekkung und Bestimmung der meisten Minerallagerstätten und der Aufbau eines modernen Eisenbahn- und Telefonnetzes zurück 27 ; auch Gebäude, Straßennamen, Museen und Denkmäler in Städten wie Windhuk, Swakopmund und Lüderitzbucht erinnern an die deutsche Kolonialherrschaft ebenso wie die Stadtwappen einiger Städte28. Der Grund hierfür dürfte nicht nur in der Existenz der deutschen Bevölkerungsgruppe liegen, sondern auch in der Tatsache, daß die südafrikanische Verwaltung die deutsche Minderheit als eine weitere „weiße", den Buren auch sprachlich ähnliche Bevölkerungsgruppe ansah; im übrigen wurde auch die Einführung der Politik der Rassentrennung (Apartheid) durch die vorgefundenen Strukturen der deutschen Kolonialherrschaft (ζ. B. die eingeschränkte Freizügigkeit und Schürffreiheit für Einheimische, siehe unten) erleichtert, auch wenn die Apartheid sicherlich (wie in Südafrika) ohne die deutsche „Vorarbeit" hätte durchgeführt werden können 29 . 24 Grotpeter, S. 501/502. 25 Government Gazette of Namibia, S. 44; zur Einrichtung des High Court vgl. High Court Act in: Government Gazette of Namibia vom 8. Oktober 1990, S. 1 if. 26 Government Gazette of Namibia vom 21. März 1990, S. 69. 27 Oldhaver, S. 42. 28 Ζ. B. von Windhuk, Swakopmund, Karibib, Omaruru und Otjiwarongo, vgl. Bertelsmann, S. 144. 29 Vgl. Oldhaver, S. 43.

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein berblick

265

3. Kamerun Im Verlauf der Treuhandsverwaltung durch Großbritannien (Westkamerun) und Frankreich (Ostkamerun) nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten sich bei der einheimischen Bevölkerung politische Bewegungen, die mehr Selbstbestimmung und Unabhängigkeit forderten; das von Großbritannien verwaltete Gebiet erhielt 1954 den Status der lokalen Autonomie 30 . Frankreich gewährte dem größeren, französisch verwalteten Teil erst nach dem Beginn eines Rebellenkrieges im Jahre 1958 die Autonomie 31 . Der französische Teil Kameruns erhielt am 1. Januar 1960 als „Republik Kamerun" die Unabhängigkeit, Hauptstadt wurde Yaoundé32. Im britisch verwalteten Kamerun führte 1961 eine Volksabstimmung zur Teilung des britischen Treuhandgebietes: die Bevölkerung des nördlichen Teils entschied sich für eine Angliederung an Nigeria, der südliche Teil für die Vereinigung mit der Republik Kamerun, die am 1. Oktober 1961 durchgeführt wurde 33 . Die Verfassung der neuen „Bundesrepublik Kamerun" berücksichtigte das Nebeneinander von frankophonen und anglophonen Bevölkerungsgruppen und bestand demzufolge aus zwei Bundesstaaten (Westkamerun und Ostkamerun); eine neue Verfassung im Jahre 1972 (1984 nur unwesentlich modifiziert durch eine weitere neue Verfassung) hob die föderale Struktur auf und schuf eine zentralistische „Republik Kamerun" 34 . Die wiederholten Verfassungsänderungen und die Aufhebung des föderalen Prinzips führten nicht nur zu einer Dominanz der frankophon geprägten Bevölkerungsmehrheit in Kamerun, sondern auch zu einer Festigung der Einparteienherrschaft mit einem „übermächtigen Präsidenten" 35. Trotz der Vereinheitlichung der Verwaltung lassen sich weiterhin drei Provinzen klar der anglophonen Bevölkerungsgruppe und vier Provinzen der frankophonen Bevölkerungsgruppe zuordnen; 1976 wurden die unterschiedlichen Schulsysteme vereinheitlicht 36. Die anfängliche förderale Struktur spiegelte sich auch im Rechtssystem und Gerichtsaufbau wieder. Nach der Gründung der Bundesrepublik Kamerun 1961 behielt zunächst jeder Bundesstaat das übernommene britische bzw. französische Rechtssystem sowie die diesbezügliche Gerichtsorganisation (Native Courts und ein später eingerichteter High Court und Court of Appeal im anglophonen Teil, Tribunaux de Premier und Second Degré und vier neu eingerichtete Cour d'Appel im frankophonen Teil); als höchstes Gericht in jedem Bundesstaat wurde ein Obergericht (Supreme Court bzw. Cour Surprême) eingerichtet, als oberstes Gericht für ganz Kamerun fungierte ein Cour de Justice Fédérale (Bundesgerichts30

Anyangwe, S. 61. * Graudenz/Schindler, S. 215. 32 DeLancey/Mbella Mokeba, S. 67. 33 Anyangwe, S. 61. 34 DeLancey/Mbella Mokeba, S. 67. 3 5 Owona, S. 269. 3

36

Graudenz/Schindler,

S. 216.

266

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

hof) 37 . Gleichzeitig mit der Verfassungsreform von 1972 wurde auch die Gerichtsorganisation vereinheitlicht. Grundsätzlich wurde jedoch die dezentrale Struktur der Gerichtsorganisation beibehalten, die bestehenden erstinstanzlichen Gerichte blieben bestehen und urteilten weiterhin nach britisch bzw. französisch geprägtem Recht 38 . Neu eingeführt wurde als oberste Rechtsmittelinstanz für jede der sieben Provinzen ein Cour d'Appel bzw. Court of Appeal und als oberstes Gericht für Kamerun der Cour Surprême / Supreme Court mit dem Sitz in Yaoundé, zuständig für Rechtsmittel gegen Urteile der Court of Appeal sowie bei Verwaltungs- und Verfassungsrechtsstreitigkeiten 39. Wie in anderen jungen afrikanischen Staaten dürfte auch in Kamerun die Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit der Justiz durch das bestehende Einparteiensystem beeinflußt werden. Das Rechts- und Verwaltungssystem und die Gerichtsorganisation sind ausschließlich durch die britische und französische Mandatsherrschaft geprägt, die deutsche Kolonialherrschaft hat hier keinerlei Spuren hinterlassen (abgesehen vom Bestehen einiger Grundstückstitel aus deutscher Zeit und der Tatsache, daß auch im modernen Kamerun der Staat den Grundstücksverkehr kontrolliert) 40 . An die deutsche Kolonisation erinnert jedoch nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung und Infrastruktur des Landes (einige ehemalige deutsche Plantagen leisten noch heute einen erheblichen Anteil am Bananen- und Kaffeexport) 41; auch das Konzept einer einheitlichen Nation „Kamerun" in einem Gebiet mit unterschiedlichsten Stämmen ist ein Vermächtnis der deutschen Kolonialzeit 42 . 4. Togo In Togo entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg eine stärker werdende Unabhängigkeitsbewegung der einheimischen Bevölkerung. Nachdem sich schon 1946 eine Territorial Versammlung als Mitbestimmungsorgan im französisch verwalteten Teil unter maßgeblicher Mitwirkung der im Süden dominierenden Ewe bildete, erhielt das französische Treuhandsgebiet 1956 den Status einer autonomen Republik, der ähnlich einem föderalen Bundesstaat mit Frankreich verbunden sein sollte 43 . Im britischen Mandatsteil verlief die Entwicklung anders: dort hatte sich 1956 die Bevölkerung im Rahmen eines Referendums für die Angliederung an die 1957 unabhängig werdende Republik Ghana (die frühere Kolonie Goldküste) entschieden44. Das französische Treuhandsgebiet wurde am 27. April 1960 als Repu37

Anyangwe, S. 157. Anyangwe, S. 164. 39 Anyangwe, S. 167-171. 40 Siehe oben, Β. I. 2. b) cc). 38

41 Graudenz/Schindler, 42

Anyangwe, S. 61. 43 Theres, S. 120, 123.

44

Sebald, S. 648.

S. 216.

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein Überblick

267

blik Togo mit der Hauptstadt Lomé in die Unabhängigkeit entlassen45. Nach anfänglich demokratischer Herrschaft durch eine von dem Stamm der Ewe dominierten Regierung entwickelte sich eine Einparteienherrschaft, die 1963 nach einem Staatsstreich durch eine andere Einparteienherrschaft (zeitweise unter Präsident Grunitzky, Sohn eines deutschen Offiziers und einer Einheimischen) abgelöst wurde 46 . Der heutige, nicht dem Ewe-Volk angehörende Präsident Eyadema regiert seit 1967 mit quasi-diktatorischen Vollmachten und stützt sich insbesondere auf die Einheitspartei und das Militär 4 7 . Rechtssystem und Gerichtsorganisation entsprechen dem unter französischer Mandatsherrschaft eingeführten System, in den fünfziger Jahren wurde allerdings das Tribunal de Premier Instance durch Tribunaux Coutumiers („Eingeborenengerichte") ersetzt, nach der Unabhängigkeit wurde zusätzlich ein Verwaltungsgericht und ein Oberster Gerichtshof (Haute Cour de la Justice) eingerichtet 48. Die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtes sind durch den Einfluß der Einheitspartei wesentlich eingeschränkt 49. Rechts- und Verwaltungssystem ebenso wie die Gerichtsorganisation sind durch die französische Mandatsherrschaft geprägt. An die deutsche Kolonialzeit erinnert die ausgebaute Plantagenwirtschaft, die mit der Produktion von Kaffee, Kakao, Baumwolle und Ol- und Kokospalmenerzeugnissen einen wichtigen Exportfaktor darstellt und damit Togo dringend benötigte Deviseneinnahmen verschafft; auch das Eisenbahnnetz (1-Meter Schmalspurbahn) und das verhältnismäßig dichte Straßennetz stammen aus deutscher Zeit 5 0 .

5. Papua-Neuguinea (ehem. Deutsch-Neuguinea) In Neuguinea wurde die 1942 erfolgte kriegsbedingte Vereinigung mit dem australischen Papua-Territorium auch nach dem Ende des zweiten Weltkriegs aufrechterhalten; Australien erhielt 1946 von der UN das Mandat zur treuhänderischen Verwaltung 51. Den Unabhängigkeitsbestrebungen der einheimischen Bevölkerung entsprechend wurde schon 1951 die erste Gesetzgebende Versammlung unter Beteiligung der einheimischen Bevölkerung eingerichtet, der Schritt zur

45 Zu Irritationen bei der französischen Verwaltung führte es, daß der frühere deutsche Gouverneur von Togo, Adolf Friedrich von Mecklenburg, zu den Unabhängigkeitsfeiern als Ehrengast eingeladen wurde, vgl. Decalo, S. 148. 4 6 Theres, S. 38/39. 4

? Decalo, S. 8/9. » Theres, S. 123, 137. 49 Theres, S. 155. so Graudenz/Schindler,

4

51

S. 180.

v. Baratta, Spalte 608 „Papua-Neuguinea".

268

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

Autonomie und Unabhängigkeit wurde jedoch noch als zu früh angesehen, vielmehr legte die australische Verwaltung einen Schwerpunkt auf den Aufbau des Schul- und Gesundheitswesens und die Erschließung des Landes52. Die zunehmende weltweite Entkolonialisierung zu Beginn der sechziger Jahre setzte auch die australische Verwaltung unter Zugzwang: die Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung wurden 1964 durch die Einführung einer Gesetzgebenden Versammlung mit erweiterten Kompetenzen (House of Assembly) gestärkt. Nach den ersten Wahlen unter Beteiligung der noch jungen politischen Parteien erhielt Papua Neuguinea 1973 den Status der Selbstverwaltung; lediglich die Außen-, Rechts- und Sicherheitspolitik wurde noch von Australien bestimmt53. Am 16. September 1975 endete die Treuhandsverwaltung durch Australien: Papua-Neuguinea (in PidginEnglisch: Papua-Niugini) mit Port Moresby (vor dem zweiten Weltkrieg Verwaltungshauptstadt des Papua-Territoriums) als Hauptstadt wurde als Mitglied des Commonwealth in die Unabhängigkeit entlassen. Das in der Verfassung von 1975 verankerte Prinzip der parlamentarischen Demokratie funktionierte, Ministerpräsidenten werden in demokratischer Weise durch Parlamentswahlen abgelöst. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde in der Verfassung von 1975 garantiert und bisher weitgehend gewährleistet; das Rechtssystem basierte auf dem bisher unter australischer Verwaltung geltenden Recht. Die Gerichtsorganisation orientierte sich ebenfalls am bisherigen Aufbau: während für kleinere Strafsachen und Zivilrechtsstreitigkeiten die Zuständigkeit der District Courts und Local Courts bestand (für Grundstücksstreitigkeiten gab es darüber hinaus ein Land Court), befaßte sich das National Court mit umfangreicheren Straf- und Zivilsachen. Neu eingerichtet wurde nach der Unabhängigkeit das oberste Gericht (Supreme Court, zuständig als Rechtsmittelinstanz und als Verfassungsgericht 54. Die noch aus deutscher Zeit stammende einheimische Selbstverwaltung (Ernennung von Luluai) wurde nach der Unabhängigkeit durch die Einräumung beträchtlicher Selbstverwaltungsbefugnisse der 19 Provinzregierungen ersetzt. Aufgrund der umfangreichen Prägung des Rechts-, Verwaltungs- und Gerichtssystems von Papua-Neuguinea durch australisches Recht lassen sich hier keine Spuren aus der deutschen Kolonialherrschaft entdecken. Aus deutscher Zeit stammt die Plantagenwirtschaft an der Küste, die als Exportfaktor aber gegenüber den Exporten von Gold, Kupfer, Holz und Erdöl an Bedeutung verloren hat 55 , sowie einige geographische Bezeichnungen (ζ. B. „Bismarck-Archipel").

52 53 54 55

Turner, S. 10/11. Turner,S. 13/14. Turner, S. 125. v. Baratta, Spalte 608 „Papua-Neuguinea".

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein Überblick

269

6. Nauru Auf der Insel Nauru, die ab 1947 wieder von Großbritannien, Australien und Neuseeland mit einem Treuhandmandat der UN verwaltet wurde, äußerte die einheimische Bevölkerung schon Ende der vierziger Jahre den Wunsch nach Selbstbestimmung und völliger Kontrolle der Phosphatförderung. Nachdem Vertreter der einheimischen Bevölkerung schon 1951 einige Funktionen der Verwaltung übernommen hatten, setzte die einheimische Bevölkerung bis 1967 eine wachsende finanzielle Beteiligung an den Erträgen der Phosphatförderung durch 56 . Am 31. Januar 1968 wurde Nauru als Mitglied des Commonwealth in die Unabhängigkeit entlassen. Die ca. 11.000 Einwohner des Staates - die Hauptstadt Yaren zählt nur ca. 4.000 Einwohner - leben überwiegend von den Erträgen aus der Phosphatförderung 57. Das Parlamentarische System ebenso wie das Rechts- und Verwaltungssystem entspricht dem übernommenen britisch-australischen System, Spuren aus der deutschen Kolonialzeit haben sich demgegenüber nicht erhalten. Rückblickend wird die deutsche Kolonialverwaltung als positiv bewertet, da sie sich kaum in innere Angelegenheiten der einheimischen Bevölkerung einmischte und sich von der kulturellen Überfremdung und der rücksichtslosen wirtschaftlichen Ausbeutung der Phosphatlager unter der Mandatsherrschaft abhob58.

7. Samoa Samoa, das seit 1946 unter neuseeländischer Treuhandverwaltung stand, wurde entsprechend dem Wunsch der samoanischen Bevölkerung am 1. Januar 1962 als Mitglied des Commonwealth in die Unabhängigkeit entlassen. Nach der Verfassung von 1962 besteht in Samoa (in der Landessprache: Samoa i Sisifo) eine Parlamentarische Monarchie, ausschlaggebend für die politische Entscheidungsfindung sind die in der Gesetzgebenden Versammlung („Fono") vertretenen Clanführer 59. Rechts- und Verwaltungssystem entsprechen der unter neuseeländischer Verwaltung eingeführten Rechtskultur und lassen sich (bis auf die Land- und Titelkommission) 60 nicht auf die deutsche Kolonialzeit zurückführen. Im Rückblick hatte die samoanische Bevölkerung seit der Mandatsherrschaft ein fast enthusiastisches Bild der deutschen Kolonialherrschaft, das aber zum Teil auch 56 57 58 59 60

Craig /King, S. 202/203. v. Baratta, Spalte 552 „Nauru". Hiery, S. 314. v. Baratta, Spalte 679 „Samoa". Siehe oben, Β. I. 2. b) ff).

270

Β. Das Recht der deutschen Kolonien nach dem ersten Weltkrieg

mit der ab 1920 eintretenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse für die Samoaner zu erklären ist: kurz nach der Übernahme der Mandatsherrschaft starb ca. ein Viertel der samoanischen Bevölkerung an der aus Neuseeland eingeschleppten Grippe 61 .

8. Marianen, Palau-Inseln, Mikronesien (Karolinen), Marshall-Inseln Das Inselgebiet der Palau-Inseln, Karolinen, Marianen und Marshall-Inseln wurde nach der Vertreibung der japanischen Truppen ab 1947 von den USA mit einem Treuhandmandat der UN als „Trust Territory of the Pacific Islands" verwaltet. Angesichts des Wiederaufbaus der durch den zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Inseln entwickelten sich die politischen Aktivitäten der einheimischen Bevölkerung nur langsam, und erst 1965 entstand ein Vertretungsorgan der einheimischen Bevölkerung des gesamten Treuhandgebietes („Congress of Micronesia") 62 . Die Bevölkerung der Marianen entschied sich 1975 für die Angliederung an die USA als „Commonwealth of the Northern Marianas"; nach Verabschiedung einer Verfassung 1978 und der Proklamation der beschränkten inneren Selbstverwaltung 1986 wurde das UN-Treuhandmandat am 22. Dezember 1990 aufgehoben 63. Die ebenfalls seit 1947 unter treuhänderischer Verwaltung durch die USA stehenden Palau-Inseln erhielten 1981 eine Verfassung als Präsidialrepublik und wurden am 1. Oktober 1994 in die Unabhängigkeit entlassen, gleichzeitig endete das UN-Treuhandmandat; die USA bleiben jedoch weiterhin für die Außen- und Verteidigungspolitik zuständig (freier Assoziierungsvertrag mit den USA). Hauptstadt ist Koror auf der gleichnamigen Insel 64 . Für das Gebiet der Karolinen wurde eine den demokratischen Traditionen der USA entsprechenden Verfassung ausgearbeitet und am 10. Mai 1979 die „Föderierten Staaten von Mikronesien proklamiert 65 ; im Einvernehmen mit den USA wurde die Unabhängigkeit am 3. Dezember 1986 erklärt und das UN-Treuhandmandat am 22. Dezember 1990 aufgehoben; die USA bleiben weiterhin für die Verteidigungspolitik zuständig (freier Assoziierungsvertrag mit den USA). Hauptstadt ist

61

Hiery, S. 312; noch nach dem zweiten Weltkrieg erhielten ehemalige Samoa-Deutsche Care-Pakete aus Samoa, vgl. Hiery, S. 313. 62 Hardach, S. 207. 63 v. Baratta, Spalte 756 „Vereinigte Staaten von Amerika - Nördliche Marianen". 64 Daten vgl. v. Baratta, Spalte 844 „Palau". 65 Vgl. Verfassung der Föderierten Staaten von Mikronesien, in: Code of the Federated States of Micronesia, Bd. 1, S. C - 3,1982.

II. Die heutigen Nachfolgestaaten der Schutzgebiete - ein Überblick

271

Kolonia auf der Insel Pohnpei (Ponape); neben Pohnpei bestehen die Bundesstaaten Chuuk (Truk), Yap und Kosrae 66. Die Marshall-Inseln erhielten 1979 eine Verfassung, die die Einführung eines parlamentarischen Systems nach westlichem Vorbild zum Inhalt hatte. Weitere Schritte zur Unabhängigkeit waren der Assoziierungsvertrag mit den USA, der diesen weiterhin die Zuständigkeit für die Verteidigungspolitik überließ, und die einseitige Unabhängigkeitserklärung am 3. November 1986; das UN-Treuhandmandat wurde am 22. Dezember 1990 aufgehoben. Hauptstadt ist Dalap-Uliga-Darrit auf dem Majuro-Atoll 67 . Rückblickend ist die deutsche Kolonialherrschaft auf den Marianen, Palau-Inseln, Karolinen, und Marshall-Inseln bei der Bevölkerung in positiver Erinnerung geblieben; insbesondere die geringe Zahl der Deutschen und die Zurückhaltung der deutschen Kolonialverwaltung angesichts der massiven kulturellen Überfremdung zur Zeit der japanischen Mandatsverwaltung trugen zu diesem positiven Eindruck bei 68 .

9. Qingdao (ehem. Tsingtau) Die Stadt Qingdao (früher Tsingtau) wurde nach dem Ende des zweiten Weltkriegs 1945 wieder ein Teil Chinas, ab 1949 der Volksrepublik China. Heute zählt die Hafenstadt Qingdao ca. 6,9 Millionen Einwohner (1999) 69 und ist das Wirtschaftszentrum der chinesischen Provinz Shandong (früher Schantung). Die Wirtschaftsfaktoren von Qingdao, insbesondere die Hafenanlagen, die Herstellung von Seide und Stickereien sowie eine Brauerei lassen sich ebenso auf deutsche Ursprünge zurückführen wie die auf die Landordnung zurückgehende Stadtplanung und die Universität, die auf die 1909 gegründete deutsch-chinesische Hochschule zurückgeht 70; ohne die deutsche koloniale Fremdherrschaft hätte sich Tsingtau nicht so schnell zu einer der wichtigsten Häfen und Handelsmetropolen Chinas entwickelt 71 .

66

v. Baratta, Spalte 533 „Mikronesien". v. Baratta, Spalte 519 „Marshall-Inseln". 68 Bei der einheimischen Bevölkerung auf den Marianen war die deutsche Sprache bis in die fünfziger Jahre verbreitet und wurde selbst von einigen amerikanischen Verwaltungsbeamten im Verkehr mit den Einheimischen verwendet, vgl. Hiery, S. 315. 69 WirtschaftsForum, Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main, Heft 5/1999, S. 26 (28). 70 Hierzu auch Graudenz/Schindler, S. 264. 7 1 So auch Huang, S. 298. 67

C. Auswertung und Schlußbetrachtung I. Auswertung Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, die sich mit dem Recht in den ehemaligen deutschen Schutzgebieten und der Entwicklung des deutschen Rechts nach dem Ende der deutschen Kolonialverwaltung beschäftigt hat, lassen sich in vier Thesen zusammenfassen. 1. These: Getrennte Rechtsordnung in den deutschen Schutzgebieten für Europäer („Weiße") und die einheimische Bevölkerung („Eingeborene") Wie schon ausführlich im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt wurde, bestanden für die in den deutschen Kolonien wohnende Bevölkerung zwei getrennte Rechtsordnungen; die Zuordnung des jeweils anwendbaren Rechts richtete sich nach dem Personalstatut, also der Frage, ob eine Person als Europäer (Weiße) oder als Einheimischer (Eingeborener) angesehen wurde. Die Tatsache, daß man der einheimischen Bevölkerung das europäische Recht nicht zugestand, hing damit zusammen, daß man - aus dem Überlegenheitsgefühl der damaligen Zeit heraus - die einheimische Bevölkerung nicht als reif und gleichberechtigt ansah, sondern gleichsam als „Kinder" betrachtete, denen die Einsicht in abendländische Kultur und abendländisches Recht fehlten, so daß sie erzogen und auf den „rechten Weg" der Zivilisation gebracht werden sollten. Diese Überlegenheit der Europäer wurde hergeleitet aus den unterschiedlichen Kulturstufen, aber auch aus den Rasseunterschieden; die im ausgehenden 19. Jahrhundert populäre Ansicht von der Überlegenheit der weißen Rasse fand sich wenige Jahrzehnte wieder in der Rassenideologie des Dritten Reichs. Nicht zu unterschätzen sind aber auch die positiven Aspekte dieser Trennung: mit der - weitgehenden - Beibehaltung der einheimischen Rechtsordnung blieb die einheimische Bevölkerung vor einer allzu schnellen Konfrontation mit der europäischen „Zivilisation" und einer kulturellen Überfremdung verschont; gerade der Verlust der kulturellen Identität der Bevölkerung zählt zu den Ursachen der gegenwärtigen schwerwiegenden politischen und ökonomischen Problemen der Entwicklungsländer. Im übrigen wäre es ein falscher Schluß, die Rechtsrealität in den deutschen Schutzgebieten mit Schlagwörtern wie „Apartheid" oder ähnlichem zu belegen. Die unterschiedliche Behandlung der einheimischen Bevölkerung - so sehr es un-

I. Auswertung

273

seren heutigen Vorstellungen von Demokratie und Gleichheit widerspricht - entsprach lediglich dem, was in jeder Kolonie der damaligen Zeit an der Tagesordnung war. Die rechtliche Ungleichbehandlung der einheimischen Bevölkerung wurde von allen Kolonialmächten betrieben, den Charakter einer Rassentrennung in allen Lebensbereichen wie zur Zeit der Politik der Apartheid in Südafrika hatte dies jedoch noch nicht.

2. These: Quasi-koloniale Einverleibung der ehemaligen deutschen Kolonien im Rahmen der Mandatsherrschaft Die Mandatsherrschaft nach dem ersten Weltkrieg sollte - nach dem Wortlaut des Versailler Vertrages und dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker - im Interesse der einheimischen Bewohner der ehemaligen deutschen Kolonien ausgeübt werden. Statt dessen ermöglichten es die Mandatsregelungen des Versailler Vertrages den „Siegermächten" des ersten Weltkrieges, sich entsprechend der Forderungen der öffentlichen Meinung die deutschen Kolonien als Kriegsbeute einzuverleiben. Der Deckmantel der Mandatsherrschaft diente in den meisten Fällen somit dazu, die deutschen Kolonien dem eigenen Kolonialreich einzugliedern bzw., wie im Falle von Australien und Neuseeland, die selbst noch in einem gewissen kolonialen Abhängigkeitsverhältnis zu Großbritannien standen, sich als „subimperialistische" Macht ein eigenes bescheidenes Kolonialreich aufzubauen. Ungeachtet der völligen Eingliederung der Mandatsgebiete in das jeweilige Kolonialreich ist es darüber hinaus bemerkenswert, daß das Interesse der Mandatsmacht (da ja auch stets Kolonialmacht war) an den Mandatsgebieten im Unterschied zu ihren „richtigen" Kolonie fehlte, da es sich dem Buchstaben nach ja doch „nur" um treuhänderisch verwaltete Territorien handelte. So wurden manche Mandatsgebiete wiederum von einer mehr oder weniger selbständigen Kolonie verwaltet, als Beispiel sei hier nur die Verwaltung von Ruanda und Burundi durch Belgisch-Kongo und des westlichen Teils von Togo durch die britische Kolonie Goldküste erwähnt.

3. These: Ersetzung der Rechtsnormen der deutschen Kolonien im Rahmen der Mandatsherrschaft ohne objektive Erwägung vorteilhafterer Regelungen Die deutsche Bevölkerung wurde aufgrund des Versailler Vertrages - völkerrechtlich fragwürdig - aus allen Mandatsgebieten außer Südwestafrika ausgewiesen. Da die deutsche Bevölkerung nun fehlte, konnte auch das deutsche Recht (das zur deutschen Kolonialzeit das die Funktion des „Rechts für Europäer" wahrnahm) durch das jeweilige Recht der Mandatsmacht ersetzt werden, das nun für die eingewanderten Staatsangehörigen der Mandatsmacht die Funktion des „europäischen Rechts" übernahm. 18 Fischer

274

C. Auswertung und Schlußbetrachtung

Die Mandatsmächte ersetzten jedoch auch das Recht der ansässigen einheimischen Bevölkerung, soweit es durch deutsches Kolonialrecht schon modifiziert worden war, durch jeweils eigenes Recht. Diese Vorgehensweise ist aus der Sicht der damaligen Zeit verständlich, aus heutiger Sicht jedoch schwer nachvollziehbar. Die Behandlung der ehemaligen deutschen Kolonien als Kriegsbeute und der zu jener Zeit vorherrschende nationalistische Zeitgeist führte dazu, daß jede Mandatsmacht ihr eigenes Rechtssystem, so kompliziert oder fremdartig es für die einheimische Bevölkerung des Mandatsgebietes auch sein mochte, als das bei weitem beste Recht ansah. Die vorhandenen deutschen Rechtsstrukturen wurden demgegenüber als Recht des ehemaligen Feindes abgelehnt, ohne daß - auch im Hinblick auf den treuhänderischen Gedanken der Mandatsherrschaft, der grundsätzlich die Wahl des objektiv „besten", für die einheimische Bevölkerung passendsten Rechtssystems erfordert hätte - Teile des deutschen Rechts beibehalten worden wären. Beispielsweise wurde das bewährte deutsche Grundbuch mit seinen Vorzügen (öffentlicher Glaube, Übersichtlichkeit, eindeutiger Eigentumsnachweis) in allen ehemaligen deutschen Kolonien durch die Registersysteme der Mandatsmächte ersetzt, die der einheimischen Bevölkerung - soweit sie schon das deutsche Grundbuchsystem kannte, etwa in den Städten - nicht nur fremdartig erscheinen mußten, sondern auch die Vorzüge des deutschen Grundbuchwesens nicht besaßen. Selbst in Südwestafrika, wo die deutsche Bevölkerung ansässig blieb, wurde das Grundbuch durch ein „Deeds Registry" ersetzt, also ein Register, das die Registrierung von Grundbesitztiteln aufgrund von beurkundeten Grundstückskaufverträgen (Deed = Urkunde) vornahm und auf dieser Grundlage die Eigentümerstellung bestimmte; die Nachteile im Vergleich zum deutschen Grundbuchrecht liegen hier auf der Hand.

4. These: Fast keine Spuren des deutschen Kolonialrechts in der Rechtsordnung der heutigen Nachfolgestaaten der ehemaligen deutschen Kolonien Ausgehend von der vorher dargelegten umfassenden Abschaffung der deutschen Rechtsordnung in den ehemaligen deutschen Kolonien sind heute kaum Spuren in der Rechtsordnung der heutigen Nachfolgestaaten zu entdecken. Dies dürfte mit der Tatsache zusammenhängen, daß die deutsche Bevölkerung, deren Existenz auch das Überleben der deutschen Rechtsordnung in den Kolonien gefördert hätte, in fast allen Gebieten ausgewiesen wurde; dort, wo die deutsche Bevölkerung bleiben durfte, also in Südwestafrika, finden sich denn auch heute noch die meisten Spuren des deutschen Kolonialrechts. Ein weiterer Grund für das fast völlige Fehlen von Spuren des deutschen Kolonialrechts liegt in der schon erwähnten umfassenden Abschaffung des deutschen Kolonialrechts ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerungen, die sich an die Regelungen des deutschen Kolonialrechts zum Teil schon gewöhnt hatten. Das wohl deutlichste Beispiel für eine sogar mehrfache übergangslose „Auswechslung" der Rechtsordnung bietet wohl das Gebiet der Pazifikinseln (Palau, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln): die spanische

II. Schlußbetrachtung

275

Rechtsordnung wurde völlig ersetzt durch deutsches Kolonialrecht, dieses umfassend durch japanisches Recht verdrängt, das wiederum durch die Recht der USA ersetzt wurde, das noch heute die Rechtssysteme der heutigen Nachfolgestaaten prägt. Im Gegensatz hierzu lassen sich in vielen Rechtsordnungen weltweit Spuren der Rechtsordnungen aus verschiedenen Epochen auch später, zum Teil noch in der heutigen Zeit nachweisen; so prägte in Südafrika die bis 1806 dauernde holländische Kolonialzeit auch das Rechtssystem, das sich zusammen mit dem später eingeführten britischen Common Law zum noch heute geltenden „Roman-Dutch Common Law" vermischte. Die ältere Rechtsordnung wurde zwar durch eine jüngere Rechtsordnung überdeckt, blieb aber grundsätzlich weiter erhalten. Ähnliche Überreste der holländischen Kolonisation in Gestalt der Roman-Dutch-Rechtsordnung lassen sich im übrigen auch in den heutigen, überwiegend durch Common Law geprägten Rechtsordnungen von Guyana und Sri Lanka nachweisen. Auch in der gegenwärtigen deutschen Rechtsordnung haben sich solche Reste einer vergangenen „Epoche" erhalten; so galten im Gebiet der ehemaligen DDR auch nach der Wiedervereinigung weiterhin Regelungen des DDR-Rechts, beispielsweise die Gesamtvollstreckungsordung oder das Rechtsanwaltsgesetz. Bei der ersatzlosen Beseitigung einer gesamten Rechtsordnung handelt es sich daher um ein eher seltenes und ungewöhnliches Phänomen, das sich von der Rechtsentwicklung der Rechtsordnungen der meisten Länder unterscheidet.

II. Schlußbetrachtung Rückblickend erscheint die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft nicht besser, aber auch nicht schlechter als die Verwaltung durch andere Kolonialmächte wie Großbritannien oder Frankreich. Es lag im Geist der damaligen Zeit, des vom Imperialismus geprägten ausgehenden 19. Jahrhunderts, die einheimische Bevölkerung nicht als gleichrangig anzusehen; die Behandlung durch die europäischen Kolonisatoren schwankte denn auch zwischen einer strengen, „väterlichen" Fürsorge und der Degradierung der Bevölkerung zu bloßen Arbeitssklaven. Die deutsche Kolonialzeit ist im allgemeinen in Bewußtsein der einheimischen Bevölkerung mit den Stichworten „streng, aber gerecht" präsent. Dies ist nur zum Teil auf die Qualitäten der deutschen Kolonialverwaltung zurückzuführen. Denn vor allem der Vergleich mit der späteren Verwaltung durch die verschiedenen Mandatsmächte, insbesondere der wenig sensiblen Aufpfropfung einer völlig fremden Rechtsordnung und die unterschwellige Vernachlässigung der Mandatsgebiete (z.T. charakterisierbar als „Kolonie einer Kolonie"), lassen die deutsche Kolonialzeit in der Erinnerung mancher Chronisten positiver erscheinen, als sie tatsächlich war. Hervorstechend im Vergleich mit der Kolonialverwaltung durch andere Kolonialmächte war 18*

276

C. Auswertung und Schlußbetrachtung

wohl die - typisch deutsche - Tendenz zur Normierung; insbesondere aus der vorhergehenden Darstellung unter A. dürfte ausreichend ersichtlich geworden sein, daß die deutschen Kolonisatoren schon in den ersten Jahren der Kolonisierung besondere rechtliche Regelungen schufen mit dem wohlmeinenden Ziel, Rechtssicherheit zu schaffen; mit dem fortschreitenden Ausbau der Kolonialherrschaft wuchs jedoch auch die Flut der Regelungen. Die deutsche Kolonialidee kam fast zu spät, um sich noch „einen Platz an der Sonne" zu ergattern, und sie bezahlte für ihre kaum vorhanden Erfahrung bei der Kolonialisierung mit schweren Rückschlägen in den ersten Jahrzehnten, die in den Aufständen der Jahre 1903-1907 in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika gipfelten. Die Erfahrungen, für die Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich oder Portugal Jahrhunderte Zeit hatten, sammelte Deutschland in wenigen Jahrzehnten - Ansätze zur praktischen Umsetzung dieser Erfahrungen zeigten sich jedoch schon in der Kolonialreform ab 1907. Wenn auch die von der deutschen Kolonialverwaltung eingeführte Rechtsordnung nicht bis in unsere Tage überdauerte, so sind doch die kulturellen, ökonomischen und soziologischen Spuren der Kolonialzeit noch heute präsent. Die Entstehung von Monokulturen in der Plantagenwirtschaft schuf für die heutigen Staaten einen wichtigen Einnahmezweig für die Exportwirtschaft; gleichzeitig begünstigte sie aber auch die Vernachlässigung der Landwirtschaft - ein Problem der meisten Entwicklungsländer, das in Nahrungsmittelknappheit, Landflucht und Slumbildung in den Städten mündet. Das Stadtbild einiger wichtiger Städte trägt noch heute den Stempel deutscher Planung, während das Eisenbahn- und Straßennetz mancher Nachfolgestaaten mehr oder weniger noch aus deutscher Zeit stammt. Insgesamt verlief der wohl unvermeidliche Schritt in die „Zivilisation" europäischer Prägung unter deutscher Herrschaft wohl glimpflicher als unter der Herrschaft anderer Kolonialmächte, allerdings führte die Übernahme nach 1919 als Quasi-Kolonien durch andere Kolonialmächte dazu, daß die „Zivilisation" mit allen ihren negativen Folgen unerwartet und ungebremst die einheimische Bevölkerung traf. Welchen Einfluß hatten die deutschen Kolonien auf Deutschland und die Deutschen? Die Auswirkungen auf die Rechtsordnung in Deutschland waren eher gering; immerhin trug die Schaffung der Rechtsform der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) entscheidend zur Schaffung der neuen Gesellschaftsform der GmbH in Deutschland bei. Die Existenz der Kolonien hatte dagegen weitreichende psychologische Auswirkungen: für die breite Bevölkerung in Deutschland waren die Kolonien nicht nur als ferne, exotische Länder in Erinnerung, aus denen die „Kolonialwaren" stammten und die als „ferne Länder voller Geheimnisse und Abenteuer" in zeitgenössischen Jugendbüchern beschrieben wurden. Die Existenz eigener Kolonien gab den

II. Schlußbetrachtung

277

Deutschen zu jener Zeit auch das Selbstbewußtsein, gleichrangig mit den anderen großen europäischen Kulturnationen als Großmacht, auch als „Weltmacht", zu rangieren. Das frühe Ende der deutschen Kolonialgeschichte führte nicht nur dazu, daß dieses Kapitel - nach einer Zeit des Revisionismus im Dritten Reich - in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es bewahrte Deutschland vielmehr auch vor der nach dem zweiten Weltkrieg einsetzenden Entkolonialisierung mit ihren Kriegen und politischen Turbulenzen, die Großbritannien in Kenia, Frankreich in Indochina und Algerien, Belgien im Kongo und Portugal in Angola und Mosambik so schmerzhaft erlebten und eine Einwanderungswelle der Bevölkerung der ehemaligen Kolonien zur Folge hatte.

Summary Germany was less influenced by its colonial epoque than other "classic" colonial powers like Great Britain or France; the reason is that the German colonial engagement was of short and ephemere duration. After the unification of the German Reich 1871 leading to a common national enthusiasm the public opinion's demand for the establishment of German colonies increased, in particular supported by the German industry and christian and missionary organisations. In 1884, first steps toward the acquisition of German colonies were undertaken, and in 1899, the German colonial empire reached ist climax with the acquisition of Samoa. In the beginning, some German colonies were established and administered by trading companies, empowered with certain public law authority by the German government (charter companies). As a result of the increasing financial expenses for the development of the colonies and the insufficient protection against local uprisings, the administration was taken over step by step by governmental institutions and administrators. As a consequence of the initially planned administration by trading companies, a new legal type of German corporation, the "Deutsche Kolonialgesellschaft" (German colonial corporation) was developed in order to enable the investment of trading companies in remote areas by the use of the flexible legal requirements of this new type of corporation. The German colonial corporation can be regarded as predessessor of the legal form of the German limited liablity company (GmbH) developed few years later. The legal constitution in the German colonies was separated. Whereas the European inhabitants were subject to the German domestic penal and civil law, the native population's legal customs were untouched by the German colonial authorities in most parts. The native legal customs were only modified if they were regarded as "uncivilised" or if the native population had to be protected against misuse and overreaching by the European population. After the first world war, the administration of the German colonies was taken over by Great Britain and its dominions, France, Belgium and Japan under a mandate of the League of Nations. Although this mandate was intended to be of a trust-like character, the former German colonies were mostly fully incorporated into the colonial empire of the "trustee".

Summary

279

During the administration under mandate, the former German legal system was nearly fully replaced by the colonial legal system of each administrating nation. However, in the former German colony of South-West Africa (administered by the Union of South Africa), some remains of the German legal system prevailed for several decades and can be tracked even in our days.

Anhang

284

Anhang

Entwurf: Hans-Jörg Fischer (2000) Kartographie: Geogr. Inst. d. Universität Koblenz Karte 2: Deutsch-Ostafrika (1910)

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Entwurf: Hans-Jörg Fischer (2000) Kartographie: Geogr. Inst. d. Universität Koblenz Karte 3: Deutsch-Südwestafrika (1910)

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Anhang

schad-See

• Maroua

• Bongor

^

FRANZÖSISCHÄQUATORIALAFRIKA (ab 1911: Neu-Kamerun)

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Karte 4: Kamerun (1910)

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Karte 5: Togo (1910)

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Anhang

Anhang

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Entwurf: Hans-Jörg Fischer (2000) Kartographie: Geogr. Inst. d. Universität Koblenz Karte 7: Kiautschou und Umgebung (1910)

19 Fischer

Anhang II: Gesetze und Verordnungen a) Schutzgebietsgesetz vom 25. Juli 1900 Schutzgebietsgesetz (SGG) in der Fassung des Änderungsgesetzes1 vom 25. Juli 1900 (RGBl. 1900, S. 809), bekanntgemacht am 10. September 1900 (RGBl. 1900, S. 812 und Heinrich Triepel, Quellensammlung zum deutschen Reichsstaatsrecht, 1901, S. 315), in Kraft getreten am 1. Januar 1901 (vgl. kaiserliche VO, betr. die Rechtsverhältnisse in den deutschen Schutzgebieten vom 9. November 1900, RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318 siehe unten, Anhang b) §1 Die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten übt der Kaiser im Namen des Reiches aus.

§2 Auf die Gerichtsverfassung in den Schutzgebieten finden die Vorschriften der §§ 5, 7 - 1 5 , 17, 18 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900 (RGBl. 1900, S. 213) mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, daß an die Stelle des Konsuls der von dem Reichskanzler zur Ausübung der Gerichtsbarkeit ermächtigte Beamte und an die Stelle des Konsulargerichts das in Gemäßheit der Vorschriften über das letztere zusammengesetzte Gericht des Schutzgebietes tritt. §3 In den Schutzgebieten gelten die im § 19 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit bezeichneten Vorschriften der Reichsgesetze und preußischen Gesetze. Die Vorschriften der §§ 20-22, des § 23 Abs. 1 - 3 und 5, der §§ 26, 29-31, 33-35, 37-45, 47, 48, 52-75 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit finden entsprechende Anwendung. §4 Die Eingeborenen unterliegen der im § 2 geregelten Gerichtsbarkeit und den im § 3 bezeichneten Vorschriften nur insoweit, als dies durch Kaiserliche Verordnung bestimmt wird. Den Eingeborenen können durch Kaiserliche Verordnung bestimmte andere Teile der Bevölkerung gleichgestellt werden.

1 Gesetz betreffend Änderungen des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete vom 17. April 1886, 7. Juli 1887, 15. März 1888 (RGBl. 1888, S. 75), 2. Juli 1899 (RGBl. 1899, S. 265).

Anhang

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§5 Die Militärgerichtsbarkeit wird durch dieses Gesetz nicht berührt.

§6 Durch Kaiserliche Verordnung kann: 1. in Vorschriften über Materien, welche nicht Gegenstand des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich sind, Gefängnis bis zu einem Jahre, Haft, Geldstrafe und Einziehung einzelner Gegenstände angedroht werden; 2. vorgeschrieben werden, daß in Strafsachen a) die Mitwirkung einer Staatsanwaltschaft mit der Maßgabe eintritt, daß, soweit die Staatsanwaltschaft zuständig ist, die Vorschriften der §§ 56, 65 und des § 71 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit außer Anwendung bleiben, b) eine Voruntersuchung stattfindet, deren Regelung der Verordnung vorbehalten bleibt, c) der § 9 Abs. 2 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit keine Anwendung findet; 3. angeordnet werden, daß in Strafsachen, wenn der Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens eine Handlung zum Gegenstande hat, welche zur Zuständigkeit der Schöffengerichte oder zu den in den §§ 74, 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichneten Vergehen gehört, in der Hauptverhandlung eine Zuziehung von Beisitzern nicht erforderlich ist; 4. die Gerichtsbarkeit in den zur Zuständigkeit der Schwurgerichte gehörenden Sachen den Gerichten der Schutzgebiete in der Weise übertragen werden, daß für diese Sachen, soweit nicht auf Grund der Nr. 2 etwas anderes bestimmt wird, die Vorschriften Anwendung finden, welche für die im 3 8 Abs. 2 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit bezeichneten Strafsachen gelten; 5. an Stelle der Enthauptung eine andere, eine Schärfung nicht enthaltende Art der Vollstrekkung der Todesstrafe angeordnet werden; 6. die nach dem Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit begründete Zuständigkeit des Reichsgerichts einem Konsulargericht oder einem Gerichtshof in einem Schutzgebiet übertragen und über die Zusammensetzung des letzteren Gerichtshofes sowie über das Verfahren in Berufungs- und Beschwerdesachen, die vor einem dieser Gerichte zu verhandeln sind, mit der Maßgabe Anordnung getroffen werden, daß das Gericht aus einem Vorsitzenden und mindestens vier Beisitzern bestehen muß; 7. für die Zustellung, die Zwangsvollstreckung und das Kostenwesen die Anwendung einfacherer Bestimmungen vorgeschrieben werden; 8. für die gerichtliche und notarielle Beurkundung von Rechtsgeschäften mit Ausschluß der Verfügungen von Todeswegen ein einfacheres Verfahren vorgeschrieben sowie die Zuständigkeit der Notare eingeschränkt werden; 9. die Verlängerung aller zur Geltendmachung von Rechten und zur Erfüllung von Pflichten gesetzlich freigestellten Fristen angeordnet werden.

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292

Anhang §7

(1) Auf die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes in den Schutzgebieten finden die §§ 2 - 9 , 11, 12 und 14 des Gesetzes vom 4.Mai 1870 (Bundes-Gesetzbl. S. 599, Reichs-Gesetzbl. 1896 S. 614) entsprechende Anwendung. Die Ermächtigung zur Eheschließung und zur Beurkundung des Personenstandes wird durch den Reichskanzler erteilt. (2) Die Form einer Ehe, die in einem Schutzgebiete geschlossen wird, bestimmt sich ausschließlich nach den Vorschriften des bezeichneten Gesetzes. (3) Die Eingeborenen unterliegen den Vorschriften der Abs. 1, 2 nur insoweit, als dies durch Kaiserliche Verordnung bestimmt wird. Den Eingeborenen können durch Kaiserliche Verordnung bestimmte andere Teile der Bevölkerung gleichgestellt werden.

§8 Die Befugnisse, welche durch den deutschen Konsuln im Auslande nach anderen als den beiden in den §§2 und 7 bezeichneten Gesetzen zustehen, könne durch den Reichskanzler Beamten in den Schutzgebieten übertragen werden.

§9 (1) Ausländern, welche in den Schutzgebieten sich niederlassen, sowie Eingeborenen kann durch Naturalisation die Reichsangehörigkeit von dem Reichskanzler verliehen werden. Der Reichskanzler ist ermächtigt, diese Befugnis einem anderen Kaiserlichen Beamten zu übertragen. (2) Auf die Naturalisation und das durch dieselbe begründete Verhältnis der Reichsangehörigkeit finden die Bestimmungen des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 (Bundes-Gesetzbl. S. 355, Reich-Gesetzbl1896, S. 615) sowie Artikel 3 der Reichsverfassung und § 4 des Wahlgesetzes für den Deutschen Reichstag vom 31. Mai 1869 (Bundes-Gesetzbl. S. 145) entsprechende Anwendung. (3) Im Sinne der § 21 des bezeichneten Gesetzes sowie der Anwendung des Gesetzes wegen Beseitigung der Doppelbesteuerung vom 13. Mai 1870 (Bundes-Gesetzbl. S. 119) gelten die Schutzgebiete als Inland.

§ 10 (1) Durch Kaiserliche Verordnung können Eingeborene der Schutzgebiete in Beziehung auf das Recht zur Führung der Reichsflagge (Gesetz, betreffend das Flaggenrecht der Kauffarteischiffe, vom 22. Juni 1899, Reichsgesetzbl. S. 319) den Reichsangehörigen gleichgestellt werden. (2) Die Führung der Reichsflagge infolge der Verleihung dieses Rechts hat nicht die Wirkung, daß das betreffende Schiff als deutsches Seefahrzeug im sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 und § 3 Abs. 1 des See-Unfallversicherungsgesetzes vom 30. Juni 1900 (Reichs-Gesetzbl. S. 716) gilt.

Anhang

293

§11 (1) Deutschen Kolonialgesellschaften, welche die Kolonisation der deutschen Schutzgebiete, insbesondere den Erwerb und die Verwertung von Grundbesitz, den Betrieb von Landoder Plantagenwirtschaft, den Betrieb von Bergbau, gewerblichen Unternehmungen und Handelsgeschäften in denselben zum ausschließlichen Gegenstand ihres Unternehmens und ihren Sitz entweder im Reichsgebiet oder in einem Schutzgebiet oder in einem Konsulargerichtsbezirke haben oder denen durch Kaiserliche Schutzbriefe die Ausübung von Hoheitsrechten in den deutschen Schutzgebieten übertragen ist, kann auf Grund eines vom Reichskanzler genehmigten Gesellschaftsvertrags (Statuts) durch Beschluß des Bundesrats die Fähigkeit beigelegt werden, unter ihrem Namen Rechte, insbesondere Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundstücken zu erwerben, Verbindlichkeiten einzugehen, vor Gericht zu klagen und verklagt zu werden. In solchen Fällen haftet den Gläubigern für alle Verbindlichkeiten der Kolonialgesellschaft nur das Vermögen derselben. (2) Das Gleiche gilt für deutsche Gesellschaften, welche den Betrieb eines Unternehmens der im Abs. 1 bezeichneten Art in dem Hinterland eines deutschen Schutzgebiets oder in sonstigen dem Schutzgebiete benachbarten Bezirken zum Gegenstand und ihren Sitz entweder im Reichsgebiet oder in einem Schutzgebiet oder in einem Konsulargerichtsbezirke haben. (3) Der Beschluß der Bundesrats und im Auszuge der Gesellschaftsvertrag sind durch den Reichsanzeiger zu veröffentlichen.

§ 12 Der Gesellschaftsvertrag hat insbesondere Bestimmungen zu enthalten: 1. über den Erwerb und den Verlust der Mitgliedschaft; 2. über die Vertretung der Gesellschaft Dritten gegenüber; 3. über die Befugnisse der die Gesellschaft leitenden und der die Leitung beaufsichtigenden Organe; 4. über die Rechte und Pflichten der einzelnen Mitglieder; 5. über die Jahresrechnung und Verteilung des Gewinns; 6. über die Auflösung der Gesellschaft und die nach derselben eintretende Vermögens Verteilung.

§ 13 Die Gesellschaften, welche die im § 11 erwähnte Fähigkeit durch Beschluß des Bundesrats erhalten haben, unterstehen der Aufsicht des Reichskanzlers. Die einzelnen Befugnisse desselben sind in den Gesellschaftsvertrag aufzunehmen.

§ 14 Den Angehörigen der im Deutschen Reiche anerkannten Religionsgemeinschaften werden in den Schutzgebieten Gewissensfreiheit und religiöse Duldung gewährleistet. Die freie und öffentliche Ausübung dieser Kulte, das Recht der Erbauung gottesdienstlicher Gebäude und

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Anhang

der Einrichtung von Missionen der bezeichneten Religionsgemeinschaften unterliegen keinerlei gesetzlicher Beschränkung noch Hinderung. §15 (1) Der Reichskanzler hat die zur Ausführung des Gesetzes erforderlichen Anordnungen zu erlassen. (2) Der Reichskanzler ist befugt, für die Schutzgebiete oder für einzelne Teile derselben polizeiliche und sonstige die Verwaltung betreffende Vorschriften zu erlassen und gegen die Nichtbefolgung derselben Gefängnis bis zu drei Monaten, Haft, Geldstrafe und Einziehung einzelner Gegenstände anzudrohen. (3) Die Ausübung der Befugnis zum Erlasse von Ausführungsbestimmungen (Abs. 1) und von Verordnungen der im Abs. 2 bezeichneten Art kann vom Reichskanzler der mit einem Kaiserlichen Schutzbriefe für das betreffende Schutzgebiet versehenen Kolonialgesellschaft sowie den Beamten des Schutzgebiets übertragen werden.

§ 16 Für Schutzgebiete, in denen das Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 (Reichs-Gesetzbl. S. 197) und das Gesetz, betreffend die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes im Auslande, vom 4. Mai 1870 noch nicht in Kraft gesetzt sind, wird der Zeitpunkt, in welchem die §§ 2 - 7 dieses Gesetzes in Kraft treten, durch Kaiserliche Verordnung bestimmt.

b) Kaiserliche Verordnung, betreffend die Rechtsverhältnisse in den deutschen Schutzgebieten vom 9. November 1900 Kaiserliche VO, betr. die Rechtsverhältnisse in den deutschen Schutzgebieten vom 9. November 1900, RGBl. 1900, S. 1005 und Triepel, S. 318 §1 Das Gesetz, betreffend Änderungen des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete (RGBl. 1888, S. 75, RGBl. 1899, S. 365), vom 25. Juli 1900 (RGBl. 1900, S. 809) tritt in den Schutzgebieten am 1. Januar 1901 in Kraft.

§2 Den Eingeborenen werden im Sinne des § 1 und des § 7 Abs. 3 des Schutzgebietsgesetzes die Angehörigen fremder farbiger Stämme gleichgestellt, soweit nicht der Gouverneur (Landeshauptmann) mit Genehmigung des Reichskanzlers Ausnahmen gestimmt. Japaner gelten nicht als Angehörige farbiger Stämme. §3 Die in § 19 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900 (RGBl. 1900, S. 213) bezeichneten, dem bürgerlichen Rechte angehörenden Vorschriften bleiben au-

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ßer Anwendung, soweit sie die Rechte an Grundstücken, das Bergwerkseigentum, sowie die sonstigen Berechtigungen betreffen, für welche die sich auf Grundstücke beziehenden Vorschriften gelten. Soweit diese Verhältnisse noch nicht durch Kaiserliche Verordnung geregelt sind, ist der Reichskanzler und mit dessen Genehmigung der Gouverneur (Landeshauptmann) bis auf weiteres befugt, die erforderlichen Bestimmungen zu treffen. §4 Die Vorschriften der Gesetze über den Schutz von Werken der Literatur und Kunst, von Photographien, von Erfindungen, von Mustern und Modellen, von Gebrauchsmustern und von Warenbezeichnungen finden Anwendung. §5 (1) In Strafsachen tritt, sofern es sich um Verbrechen oder Vergehen handelt, die Mitwirkung einer Staatsanwaltschaft bei der Hauptverhandlung in erster Instanz, bei der Einlegung von Rechtsmitteln und bei dem Verfahren in zweiter Instanz ein. (2) Der Staatsanwalt wird von dem Gouverneur (Landeshauptmann), in dem Inselgebiete der Karolinen, Palau und Marianen von dem durch den Gouverneur zu bestimmenden Beamten bestellt. Die Auswahl erfolgt aus der Zahl der Beamten des Schutzgebietes. Sofern dies nicht ausführbar ist, können andere geeignete Personen als Staatsanwälte bestellt werden. Der Staatsanwalt untersteht der Aufsicht und Leitung desjenigen Beamten, welcher ihn bestellt hat. (3) Soweit der Staatsanwalt zuständig ist, bleiben die Vorschriften des § 65 und des § 71 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit außer Anwendung.

§6 (1) In Strafsachen findet die Hauptverhandlung ohne die Zuziehung von Beisitzern statt, wenn der Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens eine Handlung zum Gegenstande hat, welche zur Zuständigkeit der Schöffengerichte oder zu den in den §§ 74, 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichneten Vorgängen gehört. (2) Diese Vorschrift findet für das Schutzgebiet von Kiautschou keine Anwendung. §7 Die Gerichtsbarkeit in den zur Zuständigkeit der Schwurgerichte gehörenden Sachen wird den Gerichten erster Instanz übertragen. Für diese Sachen finden die Vorschriften Anwendung, welche für die im § 8 Abs. 2 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900 bezeichneten Strafsachen gelten.

§8 (1) Die nach dem Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900 begründete Zuständigkeit des Reichsgerichts wird für das Schutzgebiet von Togo der Gerichtsbehörde zweiter Instanz im Schutzgebiete Kamerun, für das Schutzgebiet von Kiautschou dem Kaiserlichen Konsulargericht in Schanghai, für das Inselgebiet der Karolinen, Palau und Maria-

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nen der Gerichtsbehörde zweiter Instanz im Schutzgebiete von Deutsch-Neuguinea, für die übrigen Schutzgebiete der in einem jeden derselben errichteten Gerichtsbehörde zweiter Instanz mit der Maßgabe übertragen, daß das Gericht aus dem zur Ausübung der Gerichtsbarkeit zweiter Instanz ermächtigten Beamten und vier Beisitzern besteht. (2) Auf die Beisitzer und den Gerichtsschreiber finden die Vorschriften des § 11 Abs. 1 und der §§ 12, 13 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit entsprechende Anwendung. (3) Auf das Verfahren in der Berufungs- und Beschwerdeinstanz finden, soweit für dieses nicht besondere Vorschriften getroffen sind, die das Verfahren in erster Instanz betreffenden Vorschriften entsprechende Anwendung. Der § 9 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit bleibt außer Anwendung. (4) In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in Konkurssachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit erfolgt die Entscheidung über das Rechtsmittel der Beschwerde unter Mitwirkung der Beisitzer, wenn die angefochtene Entscheidung unter Mitwirkung von Beisitzern ergangen ist. (5) In den im § 7 bezeichneten Strafsachen ist die Verteidigung auch in der Berufungsinstanz notwendig. In der Hauptverhandlung ist die Anwesenheit des Verteidigers erforderlich; der § 145 der Strafprozeßordnung findet Anwendung.

§9 (1) Die Todesstrafe ist durch Enthaupten, Erschießen oder Erhängen zu vollstrecken. (2) Der Gouverneur (Landeshauptmann) bestimmt, welche der drei Vollstreckungsarten im einzelnen Falle stattzufinden hat.

§ 10 (1) Für die Zustellungen, die Zwangsvollstreckungen und das Kostenwesen können einfachere Bestimmungen zur Anwendung kommen. (2) Der Reichskanzler und mit dessen Genehmigung der Gouverneur (Landeshauptmann) sind befugt, die erforderlichen Anordnungen zu treffen.

§11 (1) Der Reichskanzler ist befugt, Notare zu ernennen. (2) Die Zuständigkeit der Notare wird auf die Beurkundung von Rechtsgeschäften unter Lebenden beschränkt.

§12 Der Gouverneur (Landeshauptmann) ist befugt, im Gnadenwege einen Strafaufschub bis zu sechs Monaten zu bewilligen.

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§13 Die Verordnung, betreffend die Rechtsverhältnisse in Deutsch-Ostafrika, vom 1. Januar 1891 (RGBL 1891, S. 1), ( . . . ) , die Verordnung, betreffend die Rechtsverhältnisse in den Schutzgebieten von Kamerun und Togo, vom 2. Juli 1888 (RGB1. 1888, S. 211, ( . . . ) , die Verordnung, betreffend die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes für die Schutzgebiete von Kamerun und Togo, vom 21. April 1886 (RGBl. 1886, S. 128, ( . . . ) , sowie die Verordnung, betreffend die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft bei den Gerichten der Schutzgebiete, vom 13. Januar 1897 (RGBl. 1898, S. 1) treten außer Kraft. § 14 Diese Verordnung tritt zu dem in § 1 bestimmten Zeitpunkte in Kraft.

c) Konsulargerichtsgesetz in der Fassung vom 7. April 1900 Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit (KGG) vom 7. April 1900 (RGBl. 1900, S. 213 und Triepel, S. 303)2

(...) §5 Die (Konsular) Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten wird durch (den Konsul [§ 2 des Gesetzes, betreffend die Organisation der Bundeskonsulate, vom 8. November 1867]) die Bezirksrichten durch (das Konsulargericht) die Bezirksgerichte und durch (das Reichsgericht) die Obergerichte ausgeübt. §7 der (Konsul) Bezirksrichter

ist zuständig:

1. für die durch das Gerichtsverfassungsgesetz, die Prozeßordnungen und die Konkursordnung den Amtsgerichten zugewiesenen Sachen; 2. für die durch Reichsgesetze oder η Preußen geltende allgemeine Landesgesetze den Amtsgerichten übertragenen Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

§8 (1) Das (Konsular-) Bezirksgeûcht besteht aus dem (Konsul) Bezirksrichter dem und zwei Beisitzern. 2

als Vorsitzen-

Die abgedruckten Vorschriften des Konsulargerichtsgesetzes finden gemäß §§2 und 3 Schutzgebietsgesetz in den Schutzgebieten entsprechende Anwendung. Die zu ersetzenden Worte stehen in Klammern, die einzufügenden Worte sind durch Kursivschrift gekennzeichnet. Für Kiautschou ist statt Bezirksrichter/Bezirksgericht einzusetzen: Kaiserlicher Richter bzw. Kaiserliches Gericht; vgl. Gerstmeyer, Kommentar zum SGG und Konsulargerichtsgesetz, 1910, S. 64.

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(2) In Strafsachen sind in der Hauptverhandlung vier Beisitzer zuzuziehen, wenn der Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verbrechen oder ein Vergehen zum Gegenstande hat, das weder zur Zuständigkeit der Schöffengerichte noch zu den in den §§ 74, 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichneten Handlungen gehört. §9 (1) Ist in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten die Zuziehung von zwei Beisitzern nicht ausführbar, so tritt an die Stelle des (Konsular-) Bezirksgerichts der (Konsul) Bezirksrichter. (2) Ist in Strafsachen die vorgeschriebene Zuziehung von vier Beisitzern nicht ausführbar, so genügt die Zuziehung von zwei Beisitzern. (3) Die Gründe, aus denen die Zuziehung von Beisitzern nicht ausführbar war, müssen in dem Sitzungsprotokoll angegeben werden.

§ 10 Das (Konsular-) Bezirksgencht ist zuständig: 1. für die durch das Gerichtsverfassungsgesetz und die Prozeßordnungen den Schwurgerichten, den Landgerichten in erster Instanz sowie den Schöffengerichten zugewiesenen Sachen; 2. für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die Entscheidungen des (Konsuls) Bezirksrichters in Strafsachen.

§11 (1) In den vor das (Konsular-) Bezirksgericht gehörenden Sachen steht den Beisitzern ein unbeschränktes Stimmrecht zu. (2) In den im § 10 Nr. 1 bezeichneten Sachen nehmen die Beisitzer nur an der mündlichen Verhandlung und an den im Laufe oder auf Grund dieser Verhandlung ergehenden Entscheidungen teil; die sonst erforderlichen Entscheidungen werden von dem (Konsul) Bezirksrichter erlassen.

§ 12 (1) Der (Konsul) Bezirksrichter ernennt für die Dauer eines jeden Geschäftsjahrs aus den achtbaren Gerichtseingesessenen oder in Ermangelung solcher aus sonstigen achtbaren Einwohnern seines Bezirks vier Beisitzer und mindestens zwei Hilfsbeisitzer. (2) Die Gerichtseingesessenen haben der an sie ergehenden Berufung Folge zu leisten; die §§ 53, 55, 56 des Gerichtsverfassungsgesetzes finden entsprechende Anwendung. § 13 (1) Die Beeidigung der Beisitzer erfolgt bei ihrer ersten Dienstleistung in öffentlicher Sitzung. Sie gilt für die Dauer des Geschäftsjahrs. Der Vorsitzende richtet an die zu Beeidigenden die Worte: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, die Pflichten

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eines Beisitzers des (deutschen Konsulargerichts) Kaiserlichen Bezirksgerichts [Obergerichts] getreulich zu erfüllen und Ihre Stimme nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben". (2) Die Beisitzer leisten den Eid, indem jeder einzeln, unter Erhebung der rechten Hand, die Worte spricht: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe." Ist ein Beisitzer Mitglied einer Religionsgemeinschaft, der das Gesetz den Gebrauch gewisser Beteuerungsformen an Stelle des Eides gestattet, so wird die Abgabe einer Erklärung unter der Beteuerungsformel dieser Religionsgesellschaft der Eidesleistung gleichgeachtet. Über die Beeidigung ist ein Protokoll aufzunehmen. §14 Das (Reichs-) Obergcûcht ist zuständig für die Verhandlung und endgültige Entscheidung über die Rechtsmittel 1. der Beschwerde und der Berufung in den vor dem (Konsul) Bezirksrichter oder dem (Konsular-)Ztezzrfagerichte verhandelten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und in Konkurssachen; 2. der Beschwerde und der Berufung gegen die Entscheidungen des (Konsular-) Bezirksgerichts in Strafsachen; 3. der Beschwerde gegen die Entscheidungen des (Konsuls) Bezirksrichters genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

in den Angele-

§15 Eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft findet, soweit nicht in diesem Gesetz ein Anderes vorgeschrieben ist, in den vor den (Konsul) Bezirksrichter oder das (Konsular-) Bezirksgericht gehörenden Sachen nicht statt. §17 (1) Die Personen, Die zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft zuzulassen sind, werden von dem (Konsul) Bezirksrichter bestimmt. Die Zulassung ist widerruflich. (2) Gegen eine Verfügung des (Konsuls) Bezirksrichters, durch die der Antrag einer Person auf Zulassung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft abgelehnt oder die Zulassung zurückgenommen wird, findet Beschwerde an den Reichskanzler statt. (3) Das Verzeichnis der zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft zugelassenen Personen ist in der für (konsularische) gerichtliche Bekanntmachungen ortsüblichen Weise, jedenfalls durch Anheftung an die Gerichtstafel bekannt zu machen. §18 Die Vorschriften der §§ 157 bis 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes und des § 2 des Reichsgesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit finden auf die Leistung der Rechtshilfe unter den bei der Ausübung der (Konsular) Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten mitwirkenden Behörden sowie unter diesen Behörden und den Behörden im

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Reichsgebiet oder in den (deutschen Schutzgebieten) Konsulargerichtsbezirken mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, daß für die im § 160 Abs. 1 des Gerichts Verfassungsgesetzes vorgesehen Entscheidung, sofern die Rechtshilfe von dem (Konsul) Bezirksrichter versagt oder gewährt wird, das (Reichsgericht) Obergericht in erster und letzter Instanz zuständig ist.

§ 19 In den (Konsulargerichtsbezirken) Schutzgebieten gelten (für die der Konsulargerichtsbarkeit unterworfenen Personen), soweit nicht in diesem Gesetz ein Anderes vorgeschrieben ist: 1. die dem bürgerlichem Rechte angehörenden Vorschriften der Reichsgesetze und der daneben innerhalb Preußens im bisherigen Geltungsbereiche des preußischen Allgemeinen Landrechts in Kraft stehenden allgemeinen Gesetze sowie die Vorschriften der bezeichneten Gesetze über das Verfahren und die Kosten in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in Konkurssachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit; 2. die dem Strafrecht angehörenden Vorschriften der Reichsgesetze sowie die Vorschriften dieser Gesetze über das Verfahren und die Kosten in Strafsachen. §20 (1) Die im § 19 erwähnten Vorschriften finden keine Anwendung, soweit sie Einrichtungen und Verhältnisse voraussetzen, an denen es für (den Konsulargerichtsbezirk) das Schutzgebiet fehlt. (2) Durch Kaiserliche Verordnung können die hiernach außer Anwendung bleibenden Vorschriften, soweit sie zu den im § 19 Nr. 1 erwähnten gehören, näher bezeichnet, auch andere Vorschriften an deren Stelle getroffen werden. §21 Durch Kaiserliche Verordnung könne die Rechte an Grundstücken, das Bergwerkseigentum sowie die sonstigen Berechtigungen, für welche die sich auf Grundstücke beziehenden Vorschriften gelten, abweichend von den nach § 19 maßgebenden Vorschriften geregelt werden. §22 Durch Kaiserliche Verordnung kann bestimmt werden, inwieweit die Vorschriften der Gesetze über den Schutz von Werken der Literatur und Kunst, von Photographien, von Erfindungen, von Mustern und Modellen, von Gebrauchsmustern und von Warenbezeichnungen in den Konsulargerichtsbezirken Anwendung finden oder außer Anwendung bleiben. §23 (1) Soweit die im § 19 bezeichneten Gesetze landesherrliche Verordnungen oder landesherrliche Genehmigung vorsehen, treten an deren Stelle in den (Konsulargerichtsbezirken) Schutzgebieten Kaiserliche Verordnungen oder die Genehmigung des Kaisers.

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(2) Die nach diesen Gesetzen im Verwaltungsstreitverfahren zu treffenden Entscheidungen werden für die (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete in erster und letzter Instanz von dem Bundesrat erlassen. (3) Soweit in diesen Gesetzen auf Anordnungen oder Verfügungen einer Landes-Zentralbehörde oder einer höheren Verwaltungsbehörde verwiesen wird, treten an deren Stelle in den (Konsulargerichtsbezirken) Schutzgebieten Anordnungen oder Verfügungen des Reichskanzlers oder der von diesem bezeichneten Behörde. (5) Bis zum Erlasse der im Abs. 1 vorgesehenen Kaiserlichen Verordnungen sowie der im Abs. 3 vorgesehenen Anordnungen oder Verfügungen des Reichskanzlers finden die innerhalb Preußens im bisherigen Geltungsbereiche des preußischen Allgemeinen Landrechts geltenden landesherrlichen Verordnungen sowie die dort geltenden Anordnungen oder Verfügungen der Landes-Zentralbehörden entsprechende Anwendung.

§26 Durch Kaiserliche Verordnung kann bestimmt werden, inwieweit die (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete im Sinne der in den §§ 19, 22 bezeichneten Gesetze als deutsches Gebiet oder Inland oder als Ausland anzusehen sind.

§29 (1) Die Einrückung einer öffentlichen Bekanntmachung in den Deutschen Reichsanzeiger ist nicht erforderlich, sofern daneben eine andere Art der Veröffentlichung vorschrieben ist. Der Reichskanzler kann Ausnahmen von dieser Vorschrift anordnen. (2) Der Reichskanzler kann bestimmen, daß an die Stelle der Einrückung einer öffentlichen Bekanntmachung in den Deutschen Reichsanzeiger eine andere Art der Veröffentlichung tritt.

§30 Neue Gesetze erlangen in den (Konsulargerichtsbezirken, die in Europa, in Ägypten oder an der asiatischen Küste des Schwarzen oder Mittelländischen Meeres liegen, mit dem Ablaufe von zwei Monaten, in den übrigen Konsulargerichtsbezirken) Schutzgebieten mit dem Ablaufe von vier Monaten nach dem Tage, an dem das betreffende Stück des Reichs-Gesetzblatts oder der Preußischen Gesetz-Sammlung in Berlin ausgegeben worden ist, verbindliche Kraft, soweit nicht für das Inkrafttreten ein späterer Zeitpunkt festgesetzt ist oder für die (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete reichsgesetzlich ein Anderes vorgeschrieben wird.

§31 Auf Vereine, die ihren Sitz in einem (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete haben, finden die Vorschriften der §§ 21, 22, des § 44 Abs. 1 und der §§55 bis 79 des Bürgerlichen Gesetzbuchs keine Anwendung.

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Anhang §33

Durch Kaiserliche Verordnung kann für (einen Konsulargerichtsbezirk) ein Schutzgebiet oder für einen Teil eines solchen angeordnet werden, daß statt der in den §§ 256, 247, 288 des Bürgerlichen Gesetzbuchs und im § 352 des Handelsgesetzbuchs aufgestellten Zinssätze ein höherer Zinssatz gilt.

§34 Inhaberpapiere der im § 795 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Art, die in einem (Konsulargerichtsbezirke von einer der Konsulargerichtsbarkeit unterworfenen Person) Schutzgebiete ausgestellt worden sind, dürfen nur mit Genehmigung des Reichskanzlers in den Verkehr gebracht werden.

§35 Durch Anordnung des Reichskanzlers kann bestimmt werden, wer in den (Konsulargerichtsbezirken) Schutzgebieten an die Stelle der Gemeinde des Fundortes in den Fällen der §§ 976, 977 und an die Stelle der öffentlichen Armenkasse einer Gemeinde im Falle des § 2072 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu treten hat.

§37 Durch Kaiserliche Verordnung können für die innerhalb der (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete belegenen Grundstücke die Grundsätze bestimmt werden, nach denen die Sicherheit einer Hypothek, einer Grundschuld oder einer Rentenschuld im Sinne des § 1807 des Bürgerlichen Gesetzbuchs festzustellen ist.

§38 In Falle des § 2249 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann das Testament durch mündliche Erklärung vor drei Zeugen nach § 2250 errichtet werden; der § 2249 Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.

§39 Durch Kaiserliche Verordnung können für die (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete die der Landesgesetzgebung vorbehaltenen Bestimmungen über die Hinterlegung und die Hinterlegungsstellen getroffen werden.

§40 (1) In Handelssachen finden die Vorschriften der im § 19 bezeichneten Gesetze nur soweit Anwendung, als nicht das im (Konsulargerichtsbezirke) Schutzgebiete geltende Handelsgewohnheitsrecht ein Anderes bestimmt. (2) Handelssachen im Sinne des Abs. 1 sind die von einem Kaufmanne vorgenommenen Rechtsgeschäfte der im § 1 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs bezeichneten Art sowie die Ange-

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legenheiten, die eines der im § 101 Nr. 3a, d, e, f des Gerichtsverfassungsgesetzes aufgeführten Rechtsverhältnisse zum Gegenstande haben. §41 In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten richtet sich das Verfahren vor dem (Konsul) Bezirksrichter sowie vor dem (Konsulargerichte) Bezirksgerichte nach den Vorschriften über das Verfahren vor den Amtsgerichten mit der Maßgabe, daß auch die Vorschriften der §§ 348 bis 354 der Zivilprozeßordnung Anwendung finden. §42 In Rechtsstreitigkeiten, die die Nichtigkeit einer Ehe zum Gegenstande haben, werden die Verrichtungen der Staatsanwaltschaft von dem (Konsul) Bezirksrichter einer der zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft zugelassenen Personen, einem anderen achtbaren Gerichtseingesessenen oder sonst im (Konsular-) Gerichtsbezirke befindlichen Deutschen oder Schutzgenossen übertragen. Das Gleiche gilt in Entmündigungssachen sowie im Aufgebotsverfahren zum Zwecke der Todeserklärung. §43 In den nach § 7 Nr. 1 zur Zuständigkeit des (Konsuls) Bezirksrichters gehörenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten findet, sofern der Wert des Streitgegenstandes die Summe von 300 Mark nicht übersteigt, ein Rechtsmittel nicht statt. §44 Der (Konsul) Bezirksrichter ist zur Abänderung seiner durch sofortige Beschwerde angefochtenen Entscheidung auch außer den im § 577 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung bezeichneten Fällen befugt. §45 (1) Das Rechtsmittel der Berufung wird bei dem (Konsul) Bezirksrichter eingelegt. Die Einlegung erfolgt durch Einreichung der Berufungsschrift. Auf die Einlegung findet die Vorschrift des § 78 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung keine Anwendung. Die Berufungsschrift ist der Gegenpartei unter Beachtung der Vorschriften des § (179) 210a der Zivilprozeßordnung von Amtswegen zuzustellen. Der (Konsul) Bezirksrichter hat die Prozeßakten mit dem Nachweise der Zustellung dem (Reichs-) Obergerichte zu übersenden. (2) Das (Reichs-)Ob